Wade Harper ist Telepath. Er kann die Gedanken anderer Leute lesen. Diese Fähigkeit hat er bisher geheimgehalten, denn ...
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Wade Harper ist Telepath. Er kann die Gedanken anderer Leute lesen. Diese Fähigkeit hat er bisher geheimgehalten, denn er will nicht als Paria dastehen in einer Welt von Menschen, denen seine Kräfte unheimlich vorkommen müssen. Auf einer Geschäftsfahrt mit dem Wagen empfängt er die letzten Gedankenfragmente eines sterbenden Polizisten. Drei Männer und eine Frau haben ihn aus seinem Streifenwagen gelockt und zusammengeschossen. Harper kommt zu spät. Der Schwerverwundete stirbt in seinen Armen. Das ist der Auftakt zu einer der spannendsten Menschenjagden. Harper erfährt, daß eine Expedition von der Venus zurückerwartet wird. Und er weiß, daß die Expedition vorzeitig zurückgekommen ist und daß die drei Männer, die den Polizisten erschossen haben, diese Raumfahrer sein müssen. Allerdings sind keine Menschen von der Venus auf die Erde zurückgekommen...
Ferner liegen vor in der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 31 Science-Fiction-Romane: Poul Anderson: Feind aus dem All (2990) Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Der Stich der Wespe (2965) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882) H. Beam Piper: NULL-ABC (2888) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917) Im Reich der Giganten (2937) Fredric Brown: Sternfieber (2925) L. Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit (2931) Der Turm von Zanid (2952) Der Raub von Zei (2977) Die Rettung von Zei (3000) Richard S. Shaver: Im Zauberbann der Venus (2944) Wilson Tucker: Die letzten der Unsterblichen (2959) Die Unheilbaren (2981) C. C. MacApp: Söldner einer toten Welt (2968)
Ullstein Buch Nr. 3007 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M–Berlin–Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: Call him dead Übersetzung von Otto Kühn Umschlagillustration: Jerry Podwil/Fawcett Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1955 by Street & Smith Publications, Inc. Übersetzung © 1973 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M–Berlin–Wien Printed in Germany 1973 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03007-6
Eric Frank Russell
So gut wie tot Science-Fiction-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
1 Er war ein kräftiger Mensch, untersetzt, mit breiten Schultern und buschigen Augenbrauen. Den Blick fest auf die Fahrbahn gerichtet, raste er der Gefahr entgegen. Es war der 1. April 1980. Seine Gedanken wurden plötzlich unterbrochen, als er mit seinen außergewöhnlichen Geisteskräften eine Stimme wahrnahm. »Es tut so weh! O Gott, die Schmerzen!« Die Straße war breit, schnurgerade und an beiden Seiten von Bäumen gesäumt. Vor ihm, in etwa drei Kilometer Entfernung, fuhr ein Tanklastzug die Steigung hinauf. Ein Blick in den Rückspiegel verriet ihm, daß die Fahrbahn hinter ihm leer war. »Es tut weh!« kam die Stimme wieder. Sie wurde schwächer. »Ich hatte keine Chance.« Er nahm den Fuß vom Gaspedal, wendete und fuhr zurück bis zur Einmündung des ausgefahrenen Weges, der in den Wald hineinführte. Vorsichtig fuhr er auf dem Waldweg weiter. Er wußte, die Stimme war aus dieser Richtung gekommen. Hundert Meter weiter machte der Weg eine Biegung nach rechts, dann eine scharf nach links. Gleich hinter der zweiten Biegung stand ein Wagen. Harper stieg aus und ließ die Wagentür offen. Er blickte das andere Fahrzeug an und konzentrierte sich. »Betty«, kam die schwache Stimme wieder. »Es waren drei – eine Kugel im Bauch. Dunkel, alles ist dunkel. Ich kann nicht aufstehen. Forst muß es erfahren. Wo bist du, Forst?« Harper ging an dem Fahrzeug vorbei. Nach weni-
gen Schritten sah er den Verwundeten neben dem Weg liegen. Hastig rannte er zu seinem Wagen zurück, um den Verbandskasten und die kleine Flasche Whisky zu holen, die er immer bei sich hatte. Behutsam hob er den Kopf des Verwundeten etwas an und ließ ihn aus der Flasche trinken. Er wußte, dem Mann war nicht mehr zu helfen. Seine einzige Hoffnung war die, noch möglichst viel zu erfahren, bevor der Lebensfunke des Sterbenden für immer erlosch. Mit seinen telepathischen Kräften nahm er die Gedankenfetzen des anderen wahr. »Ein großer Blonder. Hat sofort geschossen – andere sind ausgestiegen – haben mich neben den Weg geschleift – Betty, ich sterbe...« Die Gedanken hörten auf. Harper legte den Kopf des Toten auf den feuchten Waldboden. Er merkte sich die Nummer auf der Plakette an der Polizeiuniform des Toten. Dann ging er zu dem Streifenwagen und setzte sich auf den Beifahrersitz. Nachdem er den Hörer des Funktelefons abgenommen hatte, drückte er auf einige der Tasten. »Hallo«, sagte er. »Hallo!« Die Antwort kam sofort. »Zentrale, Sergeant Forst.« »Hier Wade Harper. Können Sie mich hören?« »Zentrale«, wiederholte die Stimme ungeduldig. Harper drehte an den Knöpfen. Man schien ihn in der Zentrale nicht zu hören. »Hallo«, wiederholte er. »Hallo, können Sie mich hören?« »Ja, ich höre Sie. Was ist los?« »Mein Name ist Wade Harper. Ich sitze in einem Streifenwagen. Ich habe die Leiche eines Ihrer Kollegen gefunden.« Dann sagte er die Nummer auf der Plakette durch.
Die Stimme aus dem Hörer klang lauter. »Das ist Bob Aldersons Nummer. Wo sind Sie?« Harper sagte es ihm. Dann fügte er hinzu: »Man hat ihn in den Bauch und in den Hals geschossen. Es muß eben erst passiert sein. Als ich zu ihm kam, lebte er noch. Er starb gleich darauf.« »Hat er noch etwas gesagt?« »Ja. Er erwähnte einen blonden Mann. Der hat die Schüsse abgegeben. Weitere Angaben hat er nicht mehr machen können.« »Bleiben Sie, wo Sie sind, Harper. Wir kommen.« Harper legte den Hörer auf und ging zu dem Toten. Der letzte Gedanke des Sterbenden hatte einer Frau namens Betty gegolten... Es dauerte nicht lange, da kam ein Streifenwagen der Polizei den Waldweg herauf und hielt hinter Harpers Wagen. Kurze Zeit später hielten noch drei weitere Polizeifahrzeuge am Tatort. Während die Beamten die Spuren sicherten, unterhielt sich Captain Ledsom mit Harper. Den Captain interessierte natürlich als erstes, wie es kam, daß Harper den Sterbenden gefunden hatte. Harper nahm zu einer Notlüge Zuflucht, da er unter allen Umständen verschweigen mußte, daß er über telepathische Fähigkeiten verfügte. »Nun ja, Captain, die Erklärung ist recht einfach: Ich mußte mal austreten und fuhr in diesen Waldweg hinein.« »Da sind Sie aber ziemlich weit gefahren.« »Schon. Aber ich suchte eine Stelle, wo ich mit meinem Wagen wenden konnte.« »Was hat Alderson gesagt, bevor er starb?« »Er erwähnte den Namen Betty und...«
»Betty ist seine Frau«, unterbrach ihn der Captain. »Sie hatten erst vor kurzem geheiratet.« »Er sagte auch, ein blonder Mann habe ihn erschossen. Ich konnte seinen Worten entnehmen, daß sich noch weitere Personen in der Nähe befanden, die ihn vom Weg gezerrt haben. Einzelheiten nannte er nicht. Sein Konzentrationsvermögen ließ stark nach.« »Schade«, sagte der Captain. Er wandte sich an einen Polizisten, der herangekommen war. »Was ist?« »Captain, aus den Reifenspuren geht hervor, daß Alderson einem Wagen folgte. Das verfolgte Fahrzeug hielt an, und Alderson parkte seinen Wagen dahinter und stieg aus. Er muß sofort niedergeschossen worden sein. Der Täter muß mindestens einen Komplicen gehabt haben.« Er streckte die Hand aus. »Diese zwei Patronenhülsen haben wir gefunden.« »Pistolenmunition, Kaliber .32«, stellte der Captain fest, während er die Messinghülsen untersuchte. »Hat man Aldersons Wagen zur Seite gefahren und dann wieder auf den Weg zurück?« »Nein«, antwortete der Polizist. »Dann müssen sie auf dem Waldweg weitergefahren sein.« Nachdenklich rieb er sein Kinn. »Dieser Weg führt etwa fünfundzwanzig Kilometer durch den Wald. Er macht einen großen Bogen und mündet etwa fünfzehn Kilometer von dieser Stelle hier entfernt wieder auf die Landstraße. Falls die Täter die Landstraße noch nicht erreicht haben, stecken sie noch im Wald.« »Weit können sie nicht gekommen sein, bei diesen schlechten Wegverhältnissen«, sagte Harper. »Auch wenn sie wie die Idioten gefahren sind.« »Ich lasse die Einmündung in die Landstraße sper-
ren«, sagte der Captain und setzte sich in einen der Streifenwagen, um die Anweisung über Funk durchzugeben. Dann wandte er sich an Harper: »Und nun zu Ihnen, Mr. Harper. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir Sie und Ihren Wagen durchsuchen?« »Natürlich nicht«, entgegnete Harper freundlich. Sie durchsuchten seinen Wagen gründlich, dann tasteten sie seinen Körper ab und fanden die kleine automatische Pistole, die er in der rechten Jackentasche trug. Captain Ledsom nahm sie, zog das Magazin heraus und runzelte die Stirn. »Was ist denn das für ein komisches Spielzeug? Zwanzig Patronen im Magazin, und die Geschosse sind so groß wie Streichholzköpfe. Wo haben Sie das Ding her?« »Die habe ich mir selbst gemacht. Für Entfernungen bis zu fünfzig Metern ist sie ideal.« »Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Haben Sie auch einen Waffenschein?« »Ja.« Harper holte den Waffenschein aus der Brusttasche seiner Jacke und reichte ihn dem Captain. Ledsom warf einen Blick darauf, und seine Brauen gingen in die Höhe. »Sind Sie bei der Bundespolizei?« »Nein. Das FBI hat zwar den Waffenschein ausgestellt, aber wenn Sie mehr erfahren wollen, müssen Sie sich schon direkt an Washington wenden.« »Das ist nicht mein Bier«, antwortete der Captain und reichte Harper die Pistole und den Waffenschein zurück. »Dieses Spielzeug ist bestimmt nicht die Tatwaffe. Und nur die interessiert uns. Ist Ihnen irgend etwas aufgefallen, haben Sie etwas gesehen oder gehört, bevor Sie Alderson fanden oder danach?« »Nein, nichts.«
»Auch kein Motorengeräusch?« »Nichts dergleichen.« »Keine Schüsse?« »Nein.« »Hm.« Captain Ledsom war mit diesen Antworten offensichtlich nicht zufrieden. »Demnach müssen der oder die Täter einen Vorsprung von mindestens drei Minuten vor Ihnen haben. Sie sind der einzige Zeuge, und ich brauche eine schriftliche Aussage von Ihnen. Es tut mir leid, aber Sie müssen mich zur Dienststelle begleiten.« »Ich tue es gern, Captain. Ich helfe, wo ich helfen kann.« Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, verließ Harper die Polizeistation und stieg in seinen Wagen. Er fuhr sehr schnell. Drei Straßensperren passierte er unbeanstandet. Offensichtlich hatte der Captain den Polizisten an den Sperren entsprechende Anweisungen erteilt. Während der Fahrt rekonstruierte er im Geist den Fall, wie er sich bis jetzt zugetragen hatte. Demnach mußte der Wagen der Täter und der Streifenwagen des erschossenen Polizisten aus der entgegengesetzten Richtung gekommen sein, denn Harper hatte, nachdem er den Hilferuf des Sterbenden aufgefangen hatte, auf der Landstraße gewendet und war in den Waldweg eingebogen. Er blickte auf seine Armbanduhr. Zwanzig Minuten nach sechs. Zehn Minuten nach vier hatte er Alderson gefunden, also vor etwas mehr als zwei Stunden. Die Täter konnten also in der Zwischenzeit gut und gern hundertfünfzig Kilometer zurückgelegt haben. Auch wenn die Polizei dies berücksichtigt und im Umkreis bis ZN dreihun-
dert Kilometern Straßensperren errichtet hatte, würde dies wenig nützen. Es gab keine Beschreibung der Täter. Niemand wußte, was für einen Wagen sie fuhren. Und daß ein blonder Mann die Schüsse abgefeuert hatte, reichte für eine Identifizierung des Täters bei weitem nicht aus. Nur wenn die Täter in einem gestohlenen Fahrzeug fuhren, und diese Tatsache von einem der Polizisten an den Straßensperren bemerkt wurde, bestand Aussicht, daß die Fahndung Erfolg hatte. Ein Stück voraus entdeckte Harper eine Tankstelle. Sie lag auf der anderen Straßenseite, also an der Fahrbahn, auf der nach Harpers Überlegungen die beiden Fahrzeuge, das der Mörder und der Streifenwagen Aldersons, entlanggekommen sein mußten. Harper überquerte die Gegenfahrbahn und hielt an der Zapfsäule. Zwei Tankwarte traten an seinen Wagen. »Eine Frage«, sagte Harper. »Hatten Sie den ganzen Nachmittag über Dienst?« Beide nickten. »Hat einer von Ihnen beiden zufällig einen Funkstreifenbeamten namens Bob Alderson gesehen, als er mit seinem Wagen hier entlangkam?« Der eine der beiden Tankwarts entgegnete: »Ich kenne Bob Alderson. Heute morgen ist er zweimal hier vorbeigefahren.« »Aber nicht zwischen drei und vier Uhr nachmittags?« »Nein.« Der Mann überlegte. »Jedenfalls habe ich ihn nicht gesehen.« »Ich auch nicht«, sagte der andere. Ihre Gedanken verrieten Harper deutlich, daß sie
die Wahrheit sagten. Eigentlich hätten sie gar nicht den Mund aufzumachen brauchen, um ihm zu antworten. Er konnte die Antwort in ihren Gedanken lesen. »Gibt es hier noch jemand, der ihn vielleicht gesehen haben könnte?« »Nur der alte Satterthwaite. Soll ich ihn mal fragen?« »Ich bitte darum.« Der eine Tankwart ging hinter das Tankstellengebäude. Harper wußte die Antwort auf seine Frage, bevor der Mann zurückkehrte. »He, Satty. Da ist einer, der will wissen, ob du heute nachmittag Bob Alderson gesehen hast.« »Nein, nichts gesehen.« Der Mann kam zurück. »Pech. Satty hat ihn nicht gesehen.« »Könnte ein Kollege von Ihnen ihn gesehen haben, der inzwischen dienstfrei hat?« »Nein.« Der Mann wurde langsam neugierig. »Soll ich Bob ausrichten, daß Sie nach ihm gefragt haben, falls er noch vorbeikommen sollte?« »Er wird nicht mehr kommen«, entgegnete Harper. »Wieso?« »Jemand hat ihn gegen vier Uhr erschossen. Er ist tot.« Der Tankwart wurde blaß. »Die Polizei wird Ihnen früher oder später dieselben Fragen stellen.« Harper blickte die Straße entlang. »Wissen Sie, wo Alderson gelegentlich mal Pause machte, wenn er Streife fuhr?« »Im Star Café, um eine Tasse Kaffee zu trinken.« »Wo ist das?«
»Sechs Kilometer weiter, an der Kreuzung.« »Danke.« Harper fuhr weiter. Nach drei Kilometern schneller Fahrt kam er an eine weitere Tankstelle, die an seiner Straßenseite lag. Er fuhr von der Straße herunter und stellte dieselben Fragen wie vorhin. »Ja, hab ich«, antwortete der junge Tankwart. »Wann es war, könnte ich nicht genau sagen, aber es muß ungefähr drei Stunden her sein.« »Hat er einen anderen Wagen verfolgt?« Der junge Mann überlegte, dann sagte er: »Ja, jetzt, wo Sie mich danach fragen, könnte das der Fall gewesen sein.« »Was war los?« »Ein grüner Thunderbug raste vorbei, und kurz darauf, in etwa tausend Meter Abstand, Aldersons Streifenwagen.« »Aber daß er den Thunderbug verfolgte, können Sie nicht mit Sicherheit sagen?« »Daran hatte ich nicht gedacht, als die beiden Wagen vorbeifuhren. Auf dieser Straße fahren die meisten Wagen ziemlich schnell. Aber jetzt, wo Sie es erwähnen, könnte es sehr gut möglich gewesen sein, daß Bob Alderson den Thunderbug verfolgte.« »Haben Sie erkennen können, wer in dem Wagen saß?« »Darauf habe ich nicht geachtet.« »Hat noch jemand anders die beiden Wagen gesehen? Befand sich jemand in Ihrer Nähe, oder waren Sie allein?« »Nein. Ich war allein.« Harper bedankte sich und fuhr weiter. Eines hatte er zumindest erfahren: Das gesuchte Fahrzeug könnte
ein grüner Thunderbug gewesen sein. Im Star Café erfuhr Harper von einer süßen kleinen Kellnerin, daß Alderson dort zu Mittag gegessen hatte und gegen halb zwei weitergefahren sei. Ja, sagte sie, sie habe ihn selbst gesehen. Nein, er sei an keinem der anderen Gäste interessiert gewesen und auch hinter niemand hergefahren. Nein, einen großen blonden Mann mit einem grünen Thunderbug habe sie auch nicht gesehen. In welche Richtung Alderson gefahren sei, wisse sie nicht, aber sie wolle ihre Kolleginnen fragen, ob die vielleicht etwas beobachtet hatten. Als sie zurückkam, sagte sie Harper, Dorothy, eine Kollegin, habe beobachtet, wie Alderson auf der Kreuzung nach links abgebogen sei. Harper bog ebenfalls nach links ab. Eine Viertelstunde später sprach er mit dem Besitzer eines Straßenrestaurants, der gesehen hatte, wie Aldersons Streifenwagen kurz nach drei Uhr vorbeigerast war. Der Zeuge sagte aus, er sei ans Fenster gegangen, weil ihm lautes Motorengeräusch aufgefallen sei. Nicht rechtzeitig genug allerdings, um das erste Fahrzeug erkennen zu können, aber Aldersons Streifenwagen habe er noch gesehen. Ja, es könne gar keinen Zweifel daran geben, daß Alderson jemand verfolgt hatte. Wahrscheinlich Jugendliche, die sich den Teufel um die Höchstgeschwindigkeit scherten. Harper setzte seine Fahrt fort. Nach zwölf Kilometern wurde er endlich fündig. Wieder hielt er an einer Tankstelle. Ein Mann, er mochte zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt sein, berichtete ihm: »Es war kurz nach drei, da fuhr ein Thunderbug vor. Der Fahrer sagte, ich solle den Tank voll machen. Außer ihm
befanden sich noch zwei Männer und eine junge Frau im Wagen. Einer der Männer saß vorn, das Mädchen und der andere hinten. Während ich volltankte, beobachtete ich das Mädchen durch die Heckscheibe. Sie blickte zu mir heraus und machte ein so entsetztes Gesicht, daß ich glaubte, jeden Moment müsse sie zu schreien anfangen. Aber sie schien sich nicht zu trauen. Es war schon komisch.« »Haben Sie etwas unternommen?« »Nein, nichts. Jedenfalls nicht gleich. Ich war allein, und der Jüngste bin ich auch nicht mehr. Die drei hätten mich fertigmachen können, wenn sie gewollt hätten.« »Und dann?« »Der Fahrer zahlte, und sie fuhren weiter. Sie hatten nicht gemerkt, wie nervös ich geworden war. Ich habe mich mächtig zusammenreißen müssen, um mich nicht zu verraten, weil ich keinen Ärger mit ihnen haben wollte. Aber als sie wegfuhren, fiel mir ein, daß ich mir ihre Zulassungsnummer merken sollte.« »Und?« fragte Harper, der hoffte, seinem Ziel einen großen Schritt näherzukommen. »Es war zu spät. Ohne meine Brille sehe ich nicht sehr weit, und der Wagen beschleunigte sehr schnell.« Der alte Mann schüttelte enttäuscht den Kopf. »Aber wenige Minuten später kam ein Streifenwagen vorbei. Er fuhr langsam, und ich winkte ihm. Er hielt an, und ich erzählte dem Polizisten von dem Mädchen. Er sagte, er wolle der Sache nachgehen. Dann gab er Gas und fuhr hinter dem Thunderbug her.« Aus seinen kurzsichtigen Augen blickte er Harper fragend an. »Hat er sie erwischt?« »Leider war es umgekehrt. Sie haben ihn erwischt.
Haben ihn in den Hals und in den Bauch geschossen. Er ist kurz darauf gestorben.« »Mein Gott!« Der alte Mann war echt erschüttert. Er schien sich selbst Vorwürfe zu machen. »Und ich habe ihn hinter denen hergeschickt.« »Es ist nicht Ihre Schuld. Sie haben nur getan, was jeder andere an Ihrer Stelle auch getan hätte.« Nach einer Weile fuhr Harper fort: »Haben die Männer im Auto erwähnt, wohin sie fuhren?« »Sie sagten lediglich ein Wort. Es war der Fahrer, ein großer blonder Mensch, der das Fenster herunterdrehte und sagte: Volltanken. Ich fragte ihn, ob ich auch den Ölstand kontrollieren sollte, aber er schüttelte nur ungeduldig den Kopf. Von den anderen hat keiner etwas gesagt. Das Mädchen machte auf mich den Eindruck, als würde sie gern eine Menge erzählen, wenn sie nur könnte, aber sie schien nicht den Mut zu haben, den Mund aufzumachen.« »Wie sahen die Leute aus? Können Sie mir eine möglichst genaue Beschreibung geben?« Der Mann befeuchtete die Lippen und sagte: »Der Blonde saß am Steuer, wie ich schon sagte. Er war groß, kräftig, etwa Ende zwanzig. Blondes Haar, blaue Augen, ausgeprägtes Kinn, glattrasiert. Er sah gut aus, machte einen intelligenten Eindruck. Er hätte einem leicht sympathisch sein können, wenn er nicht einen so gemeinen Blick gehabt hätte. Er wirkte auf mich gefährlicher als eine Giftschlange.« »Irgendwelche besonderen Kennzeichen?« »Sind mir keine aufgefallen. Doch, etwas ist mir aufgefallen – er war blaß. Die anderen übrigens auch. Die Haut war weiß wie bei Leuten, die längere Zeit irgendwo eingesperrt waren.« Er blickte Harper viel-
deutig an. »Nach allem, was vorgefallen ist, verstehe ich jetzt, warum sie so blaß waren.« »Ich auch. Sie müssen im Gefängnis gewesen sein. Vielleicht hat man sie entlassen, oder sie sind ausgebrochen. Wahrscheinlich letzteres.« »Da können Sie recht haben.« »Machten sie auf Sie den Eindruck, als wären sie angetrunken?« fragte Harper, der hoffte, auf diesem Weg etwas weiterzukommen. »Die waren so nüchtern wie Sie und ich.« »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?« »Der Bursche, der neben dem Fahrer saß, war ebenfalls kräftig und ungefähr genauso alt wie dieser. Schwarzes Haar, graue Augen, glattrasiert. Seine Haut war ebenfalls blaß, und auch seine Augen waren bösartig und gemein. Den dritten, der hinten saß, habe ich nicht deutlich sehen können.« »Und das Mädchen?« »Um die zwanzig, einundzwanzig, braune Augen, braunes Haar, vollschlanke Figur, möchte ich sagen. Keine Schönheit, aber sonst ganz nett. Sie trug einen hellbraunen Gabardinemantel, darunter eine gelbe Bluse und eine Bernsteinkette um den Hals. An der einen Hand hatte sie einen Ring mit einem Opal.« »Und wie waren die Männer angezogen?« »Sie trugen alle das gleiche: Dunkelgrüne Jacketts, graue Hemden, dunkelgrüne Krawatten. Sah fast aus wie eine Uniform. Aber eine, die ich nicht kenne. Oder Sie?« »Nein«, mußte Harper zugeben. »Gefängniskleidung scheint es aber auch nicht gewesen zu sein. Vielleicht ist es Sportkleidung, die sie aus einem Geschäft gestohlen haben.«
Er stellte dem alten Mann noch einige weitere Fragen, dann erkundigte er sich nach dem Telefon. »Der Apparat steht hinten«, sagte der alte Mann und ging voraus. »Landpolizeistation, Captain Ledsom am Apparat.« »Hab ich heute ein Glück«, sagte Harper. »Sie sind genau der Mann, den ich sprechen möchte.« »Wer ist dort?« »Harper. Erinnern Sie sich noch?« »Ist Ihnen etwas eingefallen, was Sie vergessen haben, uns zu sagen?« »Als wir uns unterhielten, sagte ich Ihnen alles, was ich wußte. Inzwischen habe ich aber etwas mehr erfahren.« »Was denn?« »Der Wagen, den Sie suchen, ist ein grüner Thunderbug, neueres Modell, mit drei Männern und einer jungen Frau. Ich kann Ihnen auch eine Beschreibung der Leute geben bis auf einen der Männer.« Captain Ledsom schrie fast in den Apparat, als er fragte: »Woher haben Sie das alles?« Harper mußte lächeln und berichtete es dem Captain. »Sie hätten Polizist werden sollen«, sagte Ledsom. »Ich schicke einen Wagen. Vielleicht können meine Leute noch einige weitere Einzelheiten erfahren. Und Sie erzählen mir inzwischen, was Sie wissen.« Harper berichtete alles, was er von dem alten Tankwart erfahren hatte. Er schloß mit den Worten: »Auf zwei Fragen, die mir sehr wichtig erscheinen, habe ich allerdings noch keine Antwort. Erstens: Sind drei Männer, auf die diese Beschreibung zutrifft, vor
kurzem aus dem Gefängnis ausgebrochen? Und zweitens: Wurde eine junge Frau, wie beschrieben, kürzlich als vermißt gemeldet.« Ledsom lachte leise. »Darum werden wir uns kümmern, und um noch einiges mehr.« »Zum Beispiel?« »Woher die Kleidung der Männer stammt, woher das Geld, das sie ausgeben, und wem der Wagen gehört, den sie fahren. Wie sind sie zu der Pistole gekommen?« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Wir werden einen Hubschrauber losschicken, vielleicht findet er das Fahrzeug. Wenn wir Glück haben, erfahren wir doch noch die Kennzeichen des Thunderbug. Ich wette zehn zu eins, daß das Fahrzeug gestohlen ist.« »Ich könnte ja weiterfahren und noch einige Fragen stellen. Vielleicht haben die Leute irgendwo angehalten, um zu essen. Auf der anderen Seite habe ich mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Schließlich zahle ich regelmäßig meine Steuern.« »Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen«, sagte Captain Ledsom. »Niemand hat Sie gebeten, der Polizei die Arbeit abzunehmen. Natürlich wissen wir Ihre Hilfsbereitschaft zu schätzen. Wenn uns jeder so unterstützen würde wie Sie...« »Schon gut, Captain«, sagte Harper. »Und viel Erfolg.« Er legte den Hörer auf. Dann wandte er sich an den Alten. »Die schicken einen Wagen. Vielleicht sollten Sie noch einmal gründlich über alles nachdenken, bevor die Polizei eintrifft. Möglicherweise haben Sie etwas übersehen.« Er ging zu seinem Wagen, um die unterbrochene
Fahrt fortzusetzen. Für ihn war der Fall erledigt, dachte er. Er hatte sich schon lange nicht mehr so gründlich geirrt.
2 Als er tags darauf dieselbe Strecke, die er gekommen war, wieder zurückfuhr, wurde er etwa fünfzig Kilometer von der Stelle entfernt, wo er den sterbenden Polizisten gefunden hatte, von einem Streifenwagen der Polizei überholt und an den Straßenrand gewinkt. Als die beiden Fahrzeuge standen, stieg einer der Polizisten aus. Harper empfing die Gedanken des Mannes, als dieser auf ihn zukam: »Möglich ist alles, und wenn es der Fall ist, dann kommt er uns diesmal nicht so leicht davon.« »Ist was?« fragte Harper. »Sind Sie Wade Harper?« »Ja.« »Vor einer halben Stunde wurde Ihr Name über Funk an alle Wagen durchgegeben. Captain Ledsom möchte mit Ihnen sprechen.« »Das habe ich gestern schon getan«, sagte Harper. »Aber heute ist ein anderer Tag«, entgegnete der Polizist ungerührt. »Kann ich über Funk mit ihm sprechen?« »Er möchte Sie sehen.« »Warum denn?« Der andere zuckte die Achseln. Seine Gedanken verrieten Harper, daß er es wirklich nicht wußte. In seinen Augen war Harper lediglich eine verdächtige Person, weil sein Name über Funk durchgegeben worden war. Darüber hinaus entnahm Harper den Gedanken des Polizisten, daß dieser und sein Kollege Harper notfalls mit Gewalt zwingen würden, mit ihnen zu kommen.
Nachdem sie die Polizeistation erreicht hatten, betrat Harper Captain Ledsoms Büro. Er ließ sich so heftig auf einen Stuhl fallen, daß das Möbel krachte. Angriffslustig starrte er den Captain an, und den Gedanken des Polizisten entnahm er, daß dieser seine Ansichten über Harper inzwischen grundlegend geändert hatte. »So, hier bin ich also.« Ledsom beugte sich vor. »Dieses Mal nehmen wir die Unterhaltung auf Band auf.« Er schaltete das Gerät ein. »Wo waren Sie vorgestern nacht?« Harper beantwortete die Fragen des Captain in allen Einzelheiten. Dann fing der Captain mit seinen Fragen noch einmal ganz von vorn an. Harper las in den Gedanken des Beamten wie in einem Buch. Wenn er lügt, braucht er ein gutes Gedächtnis. Vielleicht finde ich Widersprüche in seiner Aussage. »Um noch einmal auf diese kleine Spielzeugpistole zu sprechen zu kommen«, sagte Ledsom. »Sie haben nicht zufällig noch eine zweite Waffe bei sich, eine vom Kaliber .32?« »Nein, zufällig nicht.« »Im Wald, ungefähr fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo Alderson starb, ist ein ziemlich tiefer Tümpel. Ist Ihnen das aufgefallen?« »Ich bin nicht in den Wald hineingegangen.« »Wußten Sie, daß es dort einen Tümpel gab?« »Nein.« Captain Ledsom warf Harper einen durchdringenden Blick zu. »Sie sagten vorhin, Sie hätten sich auf einer Geschäftsreise befunden, als Sie den Sterbenden fanden. Eigentlich hatten Sie am Tatort und durch unser Verhör schon genügend Zeit verloren. Wieso
haben Sie dann noch mehr Zeit geopfert, um auf eigene Faust in dieser Sache Nachforschungen anzustellen. Hatten Sie einen besonderen Grund?« »Der arme Kerl ist mir praktisch unter den Händen gestorben. Irgendwie fühlte ich mich verpflichtet.« Ledsom blieb unerschütterlich. »Ist das der einzige Grund?« »Der hauptsächlichste.« »Und welches waren dann die mehr nebensächlicheren Gründe?« »Ich hatte an diesem Tag bereits genug Zeit verloren. Ein, zwei Stunden mehr änderten daran auch nichts mehr.« »Und andere Gründe hatten Sie nicht?« »Doch, noch einen«, gab Harper zu. »Sagen Sie ihn mir.« »Es verschaffte mir eine gewisse persönliche Befriedigung, durch eigene Anstrengungen eine Spur zu finden, die zu den Mördern führen könnte.« »Sofern tatsächlich welche im Spiel waren.« Der Captain schaltete das Tonbandgerät aus. Er dachte eine Weile nach, dann fuhr er fort: »Bis vor zwei Stunden zweifelte ich nicht an einer Existenz von Mördern. Jetzt habe ich meine Zweifel.« Er blickte Harper scharf an, wartete auf dessen Reaktion. »Wir lassen den Tümpel auspumpen. Vielleicht finden wir die Pistole und erfahren, wer damit geschossen hat.« »Womit Sie mich meinen.« »Das habe ich nicht gesagt.« »Man sieht es Ihnen doch an, Captain, daß Sie das glauben.« Harper machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich mache Ihnen überhaupt keinen Vorwurf, daß Sie zunächst jeden verdächtigen. So, wie
die Dinge liegen, wäre es durchaus möglich gewesen, daß ich Alderson getötet habe. Es fehlt eigentlich nur die Tatwaffe und ein Motiv. Sie werden große Mühe haben, mir ein Motiv nachzuweisen. Ich habe bis zum bewußten Augenblick Alderson nie in meinem Leben gesehen. Und glauben Sie vielleicht, ich hätte diese drei Männer und das Mädchen in dem grünen Thunderbug erfunden? Oder daß ich die Zeugen bestochen habe, meine Aussage zu bestätigen?« »Nein, es stimmt alles, was Sie gesagt haben. Wir haben Beweise.« »Na also.« »Aber vor zwei Stunden haben wir das Mädchen aufgegriffen. Sie sagt etwas anderes, als Sie behaupten. Einer muß lügen.« Harper blickte den Captain nachdenklich an. »Das Mädchen haben Sie also gefunden. Ist es ein Geheimnis, was sie ausgesagt hat?« Ledsom dachte darüber nach, kam dann zu dem Schluß, daß er es Harper ruhig sagen könnte. »Sie hat den Überlandbus verpaßt und es per Anhalter versucht. Die drei Männer in dem grünen Thunderbug nahmen sie mit. Sie wollten ihr einen kleinen Schreck einjagen und behaupteten, sie würden sie entführen. An der Tankstelle hatte sie echt Angst, aber kurz danach setzten sie die Männer dort ab, wohin sie ursprünglich gewollt hatte, und es entpuppte sich alles nur als ein großer, wenn auch nicht gerade geschmackvoller Scherz.« »Und was sagt sie über Alderson?« »Sie hat ihn nicht gesehen, weiß nichts von ihm.« »Aber er hat den Wagen verfolgt.« »Ich weiß. Das Mädchen sagt, der Blonde sei wie
ein Irrer gefahren. Vielleicht hat Alderson sie überhaupt nicht eingeholt.« »Und das glauben Sie?« fragte Harper. »Ohne Beweise glaube ich gar nichts. Aber die Aussage des Mädchens läßt Ihre zumindest zweifelhaft erscheinen.« »Na schön, Sie werden also meine Aussage überprüfen lassen. Dann tun Sie das aber auch im Falle des Mädchens.« »Wir sind bereits dabei, und wir werden die Ermittlungen so schnell wie möglich abschließen. Das Mädchen kennt weder die Namen der drei Männer, noch weiß sie sonst etwas über sie, was uns nicht schon bekannt wäre. Die Zulassungsnummer des Wagens hat sie sich nicht gemerkt. Da man ihr nichts getan hat, sah sie auch keine Veranlassung, sich die Nummer zu merken.« »Das ist ja prima!« »Was wir weiter erfahren haben, klingt überzeugend«, fuhr Ledsom fort. »Das Mädchen stammt aus guter Familie. An dem, was sie sagt, ist nicht zu rütteln. Sie ist von zu Hause weggegangen, hat tatsächlich den Bus verpaßt, zwei Zeugen haben beobachtet, wie sie in den Thunderbug stieg. Und sie ist auch tatsächlich an dem Zeitpunkt, wie sie behauptet, an ihrem Ziel eingetroffen.« »Da kann man nur gratulieren«, sagte Harper mit leichtem Sarkasmus in der Stimme. Captain Ledsom blickte ihn eine Weile an, dann fuhr er fort: »Sie können mir eines glauben, Harper: Wenn die Polizeidienststelle in Ihrem Heimatort Sie nicht über den grünen Klee gelobt hätte, säßen Sie jetzt längst nicht mehr hier in meinem Büro, sondern
im Untersuchungsgefängnis.« »Das kann ich mir denken.« »Und weil dem so ist, verrate ich Ihnen auch, daß niemand aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, auf den die Beschreibung auch nur eines dieser drei Männer zuträfe.« »Und was ist mit Militärgefängnissen? Dem Tankwart ist die gleichaussehende Kleidung der drei Männer aufgefallen. Sie erinnerte ihn an Uniformen.« »Uniformen dieser Art gibt es nicht.« »Nicht bei uns. Vielleicht waren sie Ausländer.« »Das Mädchen bestreitet das. Sie sprachen wie Einheimische, und sie kannten sich in der Gegend aus wie in ihrer eigenen Hosentasche.« »Haben Sie bei den Behörden angefragt, ob es nicht doch eine Uniform geben könnte, die so aussieht?« »Nein. Das Mädchen gibt zwar zu, daß ihr der militärische Schnitt der Kleidung aufgefallen ist, aber sie meint, es könnten die Jacken der Ausgehuniform der Infanterie gewesen sein, die man mit anderen Knöpfen versehen und grün gefärbt hat. Auf diesem Weg kommen wir also nicht weiter. Es kommt immer wieder vor, daß überschüssige Heeresbestände auf den Markt geworfen werden.« »Was ist mit dem Wagen? Sie meinten doch, er könne gestohlen sein?« »Wir haben uns sämtliche Verlustmeldungen von Thunderbugs im ganzen Land besorgt. Zehn Fahrzeuge sind als gestohlen gemeldet worden. Davon vier grüne. Wir haben die Kennzeichen an sämtliche Polizeistationen durchgegeben. Bis jetzt ist noch keiner aufgetaucht.« »Um noch einmal auf die Aussage des Mädchens
zurückzukommen«, sagte Harper. »Wenn sie lügt, und ich weiß, daß sie das tut dann muß sie einen sehr zwingenden Grund dafür haben. Vielleicht hat man sie eingeschüchtert. Möglicherweise haben ihr die Männer gedroht, sie würden zurückkommen und ihr den Hals abschneiden falls sie die Wahrheit sagte.« »Irrtum«, sagte Ledsom, und es klang sehr überzeugt. »Ich bin in diesem Beruf kein heuriger Hase, und ich weiß, wenn ein Zeuge Angst hat. Sie hatte garantiert keine. Ihre Verwunderung darüber daß wir sie wegen dieser Sache verhörten, war eindeutig echt. Von dem Mord wußte sie nichts.« »Mich verdächtigt man ja auch. Und nach allem, was ich weiß müßte mir angst und bange werden. Glauben Sie, daß ich Angst habe?« »Nein«, gab Ledsom zu. »Ich sollte aber Angst haben, falls ich es getan habe. Aber ich war es nicht.« »Einer hat es getan. Das ist das einzige, was wir genau wissen.« Ledsom beobachtete ihn. »Ich könnte Sie vierundzwanzig Stunden festhalten, und ich würde es auch tun, wenn ich wüßte, daß ich während dieser Zeit etwas finde, was ich Ihnen anhängen könnte. Aber es wird länger als zwei Tage dauern, den Tümpel leerzupumpen. Ich lasse Sie also gehen. Aber Gnade Ihnen Gott, wenn wir eine Waffe finden, die Ihnen gehört.« »Sie machen mir wirklich angst, Captain.« Harper ging in denkbar schlechter Stimmung hinaus. Auf den über tausend Kilometern bis nach Hause begegneten ihm mindestens fünfzig Thunderbugs. Aber die drei Männer waren spurlos verschwunden.
3 Harper beschäftigte sechs Leute in seinem Betrieb. Die waren durch die Bank kurzsichtig, aber ihre außergewöhnliche Fingerfertigkeit erlaubte es ihnen, mit Hilfe einer starken Lupe wahre Wunder auf dem Gebiet der Mikro-Feinmechanik zu vollbringen. Als Chef stand Harper ein winziger Büroraum zur Verfügung, in den außer zwei Schreibtischen und ihm nur noch seine Sekretärin hineinpaßte, die fast zehn Zentimeter kleiner war als er und Moira hieß. Harper saß an seinem Schreibtisch und betrachtete durch das starke Vergrößerungsglas eine winzige Pinzette aus Spezialglas, als die Tür aufging und Riley mit zwei Schritten – mehr waren in dem kleinen Raum nicht nötig – in die Büromitte trat. Er war Zivilfahnder bei der Kriminalpolizei, was man ihm auch auf den ersten Blick ansah. »Guten Morgen, Leutnant«, grüßte Harper, blickte kurz auf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Guten Morgen, du haariger Sohn eines Neandertalers.« Und weil kein Platz war in dem kleinen Büro für einen weiteren Stuhl, setzte sich Riley mit der einen Hälfte seines Hinterteils auf Harpers Schreibtisch. Er beugte sich vor und blickte durch das Vergrößerungsglas. »Verblüfft mich immer wieder, wie du mit deinen haarigen Pfoten mit diesem Kleinkram hantieren kannst.« »Was soll daran so verblüffend sein? Du stocherst ja auch mit deinen Fingern in den Zähnen herum.« »Laß gefälligst meine Angewohnheiten aus dem Spiel.« Der Freund blickte Harper anklagend an. »Be-
schäftigen wir uns lieber mit deinen.« Harper seufzte, legte die Pinzette in ein Samtetui und steckte es in die Schreibtischschublade. Er schob das Vergrößerungsglas beiseite und blickte auf. »Welche meiner Angewohnheiten meinst du?« »Daß du immer dort auftauchen mußt, wo etwas los ist.« »Was kann ich denn dafür?« »Ich weiß nicht. Aber komisch ist es schon. Du bist immer dort, wo der Hund mit dem Schwanz wedelt.« »Könntest du dich etwas genauer ausdrücken?« »Wir haben einen Anruf bekommen. Da will einer wissen, ob du noch hier bist.« »Wie du siehst, bin ich noch hier. Das kannst du ihm ja sagen.« »Ich wollte natürlich erfahren, wieso ihn das interessiert«, sagte Riley. »Und er hat es dir gesagt. Er hat dir auch gesagt, daß er im Schlamm nichts gefunden hat.« »Im Schlamm? In was für einem Schlamm?« »Im Schlamm auf dem Grund des Tümpels.« Harper lächelte. »Er hat dich auch gefragt, ob du weißt, ob ich eine Pistole Kaliber .32 besitze.« »Stimmt. Es war Captain Ledsom von der Landpolizei. Er hat mir alles berichtet.« »Worauf du den Fall für ihn gelöst hast«, sagte Harper. »Das nicht«, entgegnete Riley. »Aber du wirst ihn lösen.« »Tatsächlich?« Harper rieb sein Stoppelkinn, und es klang, als striche ein Stück Holz über ein Reibeisen. »Moira, schmeiß den Kerl hinaus.« »Lassen Sie ihn die Dreckarbeit selber tun«, sagte
Riley. Und wieder zu Harper gewandt: »Oder bezahlst du sie auch als Rausschmeißer?« Er wandte den Kopf in Moiras Richtung. »Wieviel verdienen Sie hier?« Moira lachte und sagte: »Jedenfalls nicht genug.« »Ausbeuter«, sagte Riley. »Sei vorsichtig mit deinen Ausdrücken«, entgegnete Harper. »Du scheinst die falschen Zeitungen zu lesen.« »Ich gehe nur mit der Zeit«, sagte Riley. »Aber kommen wir zur Sache. Du wirst den Unternehmer für eine Weile an den Nagel hängen und Sherlock Holmes spielen.« »Warum?« »Einmal, weil ich Ledsom gesagt habe, du würdest den Fall klären, wenn man dir nur anständig ins Kreuz träte. Und er sagte, das Treten solle ich besorgen – möglichst oft und fest.« »Und zum anderen?« »Weil eine Belohnung ausgesetzt worden ist für Hinweise, die zur Überführung und Festnahme des oder der Mörder führen. Wenn ich so sehe, in was für alte Gurken du deine Füße steckst und was für Lumpen du trägst, möchte ich sagen, daß du das Geld brauchen kannst.« »Ist das alles?« »Noch lange nicht. Das Beste habe ich mir bis zuletzt aufgehoben.« Er grinste von einem Ohr bis zum anderen wie ein Haifisch. »Vor einer Stunde hat jemand Captain Ledsom angerufen und mit heiserer Stimme gesagt, er habe Alderson gesehen, wie er mit einem haarigen, gedrungenen Individuum eine hitzige Auseinandersetzung geführt habe. Die Beschrei-
bung des Individuums paßt genau auf dich. Weißt du, was das bedeutet?« »Man wirft mich den Hunden zum Fraß vor«, sagte Harper nachdenklich. Riley nickte. »Wir würden dich festnehmen und dich in den Schwitzkasten stecken, bis du gestehst, wenn nicht zwei Tatsachen dagegen sprächen. Die eine ist, daß wir dich schon zu lange kennen, um dich für den Täter zu halten. Und der andere Grund ist der, daß uns der anonyme Anrufer nicht zur Verfügung steht, dich zu identifizieren.« »Das stinkt doch.« »Es gibt eben Leute, die wollen anonym bleiben«, entgegnete Riley. »Das überrascht mich nicht. Ich habe mich viel zu oft in Dinge eingelassen, die mich im Grunde nichts angehen. Du siehst ja, was es mir einbringt.« »Du hast dir die Suppe selber eingebrockt. Jetzt löffle sie auch aus.« »Woher soll ich denn die Zeit nehmen«, beklagte sich Harper. »Wenn sie dich ins Gefängnis stecken, dauert's noch länger«, sagte Riley. »Wenn Ledsom uns ersucht, dich festzunehmen, müssen wir das tun.« »Glaubst du, daß das passieren könnte?« »Das weiß der Himmel. Kommt ganz darauf an, was sie noch an Beweismaterial finden.« »Es könnten höchstens Indizien sein, keine Beweise.« »Das hilft dir auch nicht viel, sobald du im Gefängnis sitzt. Bist du also bereit, an dem Fall zu arbeiten, oder willst du warten, bis ich mit einem Haftbefehl komme?«
»Wie hoch ist die Belohnung?« »Fünftausend Dollar.« »Laß mich nachdenken.« »Falls du vielleicht damit rechnest, daß die Belohnung heraufgesetzt wird, kannst du lange warten«, warnte ihn Riley. »Als ich mit Ledsom am Telefon sprach, hatte ich den Eindruck, mit dem ist nicht zu spaßen.« »Tja«, sagte Harper, »wenn das so ist...« Als nächstes rief Harper Captain Ledsom an und ließ sich Namen und Adresse des Mädchens geben, das mit den drei Männern in dem grünen Thunderbug gesessen hatte. Jocelyn Whittingham wohnte in einer ruhigen Villengegend mit altem Baumbestand. Die Straße war breit. Zu beiden Seiten wuchsen Alleebäume. Alles wirkte gediegen und honorig. Harper ging die sechs Stufen hinauf, die vorn Gehsteig zur Haustür führten, und drückte auf die Klingel. Ein großer, gut gekleideter Jugendlicher von etwa achtzehn Jahren öffnete. Er blickte Harper neugierig an. »Wissen Sie, ob Miss Jocelyn Whittingham zu Hause ist?« fragte Harper, wobei er sich bemühte, seiner Stimme einen amtlichen, autoritären Klang zu geben. »Nein.« Die Gedanken des Jungen verrieten Harper, daß er die Wahrheit sagte, aber auch mehr: Joyce will niemand sehen. Was ist das für einer? Sieht aus wie ein Affenmensch. Ob er von der Polizei ist? Oder ein Reporter? Joyce hat genug Fragen beantwortet. Warum lassen sie sie nicht in Ruhe? »Wissen Sie, wann sie zurückkommt?«
»Nein.« Das war gelogen. Das Mädchen hatte dem Jungen gesagt, sie würde gegen sechs Uhr zurückkommen. »Hm!« brummte Harper und blickte die Straße hinauf und hinunter, wie einer, der sich nicht ganz schlüssig ist, was er als nächstes tun soll. Und dann fragte er ganz beiläufig, um den Gedankengang des Jungen in eine andere Richtung zu drängen: »Schon mal einen Bullen abgeknallt?« Doch die Gedanken des Jungen drückten kein Schuldgefühl aus. Die Frage hatte ihn lediglich verblüfft, und er konnte sich keinen Reim darauf machen. »Was soll ich getan haben?« »Schon gut«, sagte Harper. Er hatte auf den Busch geklopft, aber es war nichts herausgekommen. »Ich habe nur laut gedacht. Wann glauben Sie, daß ich Miss Whittingham sprechen könnte?« »Das weiß ich nicht.« Dieselbe Lüge noch einmal. »Schade.« Harper tat so, als sei er unentschlossen. »Was wollen Sie eigentlich von ihr?« fragte der Jüngling. »Ach«, sagte Harper, »das ist eine rein persönliche Sache.« »Jedenfalls ist sie nicht da, und ich weiß auch nicht, wenn sie zurückkommt.« »Vielleicht sollte ich zwischen sechs und sieben Uhr noch mal vorbeischauen.« »Wie Sie wollen.« Der Ausdruck des Jungen war gleichgültig, aber seinen Gedanken entnahm Harper, daß er wünschte, der ungebetene Besucher möge verschwinden oder tot umfallen.
»Also schön, dann versuche ich es später noch einmal.« Der Junge nickte und schloß die Tür. Die Sache interessierte ihn nicht. Er hatte noch nicht einmal nach Harpers Namen gefragt. Er hatte mit dem Fall nichts zu tun, und was seine Schwester tat, war ihm gleichgültig. Harper schlug die Zeit tot, indem er während der nächsten Stunde in der Stadt spazierenging. Zuvor hatte er seinen Wagen, der nach der langen Fahrt hierher ziemlich staubig geworden war, zum Waschen gebracht und gesagt, man solle auch gleich das öl wechseln und die Radlager schmieren. Zwanzig Minuten vor sechs kehrte er zu Fuß in die Villengegend zurück, wo die Whittinghams wohnten, und wartete an der Bushaltestelle, die etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt lag, auf die Rückkehr des Mädchens. Captain Ledsom hatte ihm nur eine ziemlich oberflächliche Beschreibung von Jocelyn Whittingham geben können, aber die wenigen Angaben genügten ihm. Er brauchte das Mädchen nur richtig anzusprechen, und ihre Gedanken würden ihm alles verraten, was er über ihre Identität wissen wollte. Schwieriger würde es allerdings sein, mit ihr näher ins Gespräch zu kommen, wenn sie dies nicht wollte. Er hatte keine Möglichkeit, sie gegen ihren Willen dazu zu zwingen. Während er wartete, gingen zwei junge Frauen an ihm vorbei, aber da sie keine Anstalten machten, die sechs Stufen zum Eingang des Whittingham-Hauses hinaufzugehen, unterließ er es, sie auf gedanklichem Wege zu identifizieren. Wenige Minuten später kam ein drittes Mädchen
die Straße entlang. Auch sie ging am Haus vorbei und bog weiter hinten um die Ecke. Dann hielt der Bus an der Haltestelle. Vier Fahrgäste stiegen aus. Der Bus fuhr weiter. Einer der Fahrgäste, ein großer, hagerer, kränklich aussehender Mann musterte ihn neugierig. »Der nächste Bus kommt erst in einer halben Stunde.« »Ja, ich weiß«, sagte Harper. Der Mann zuckte mit den Schultern, überquerte die Straße und betrat ein Haus. Harper ging ein Stück die Straße hinunter, weil er nicht wollte, daß ihn der Hagere möglicherweise durch das Fenster beobachtete. Fünf Minuten vor sechs kam ein Mädchen eilig die Straße herauf. Ihre Absätze klapperten laut auf dem Pflaster des Gehsteigs. Sie war etwa mittelgroß, mit einem frischen, jugendlichen Gesicht und einer vollschlanken Figur, etwa zwanzig Jahre alt. Ohne Harper bemerkt zu haben, stieg sie die sechs Stufen zu der Haustür hinauf und suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Schlüssel. Die Entfernung zwischen ihr und Harper betrug knapp siebzig Meter. Er versuchte, ihre Gedanken zu erfassen. Das Ergebnis war wie ein Schock für ihn. Im selben Augenblick, als er Gedankenkontakt aufnahm, merkte sie das. Er spürte ihre Reaktion ganz deutlich. Sie ließ die Handtasche fallen, bückte sich, um sie aufzuheben, und da begann er auch schon, auf sie zuzulaufen. In verzweifelter Hast suchte sie weiter nach dem Schlüssel. Seine Schritte klangen laut in der Stille der Allee. Dann hatte sie den Schlüssel gefunden, steckte ihn ins Schlüsselloch. Der Schweiß brach Harper auf dem breiten Gesicht aus, als er während
des Laufens mit der rechten Hand unter die linke Achsel griff. Sie drehte den Schlüssel im Schloß um. Knapp zehn Meter von der jungen Frau entfernt blieb Harper stehen, hob die kleine Pistole und schloß die Finger fest um den Griff der Waffe, in den der Abzug eingebaut war. Es klang, als würde ein Luftgewehr in blitzschneller Folge abgefeuert werden. Eine Garbe streichholzgroßer Geschosse erreichte ihr Ziel mit tödlicher Genauigkeit. Jocelyn Whittingham ließ den Schlüssel los und sank ohne ein Geräusch auf die Knie. Ihr Kopf fiel gegen die Tür, und sie stürzte um. Harper stand da und schwitzte. Er sah, wie das Blut aus dem Haar rann und ihr Gedankenstrom für immer versiegte. Er blickte sich um. Niemand war zu sehen. Kein Zeuge hatte den Zwischenfall beobachtet. Das unterdrückte Geräusch der Feuergarbe hatte keine Aufmerksamkeit erregt. Er ließ die Tote liegen, wo sie hingefallen war, und ging mit raschen Schritten die Straße hinauf. Die Muskeln seines schweißfeuchten Gesichts waren angespannt, als er seinen Wagen aus der Werkstatt holte und die Stadt verließ.
4 Die Polizei hatte schnell geschaltet. Harper war etwas mehr als vierhundert Kilometer weit gekommen, da suchte man ihn bereits über Funk und Fernsehen. Sein Name stand in allen Zeitungen. Er aß gerade in einem kleinen Lokal zu Abend, als ihm die Schlagzeile der Zeitung auffiel. ›Mörder auf der Flucht‹ lautete die Schlagzeile. Es folgte eine ziemlich genaue Personenbeschreibung von ihm, Angaben über seinen Wagen und das polizeiliche Kennzeichen. Er fluchte leise, als er das las. Etwa zwanzig Gäste befanden sich in dieser Raststätte an der Landstraße, vorwiegend Fernfahrer. Die meisten von ihnen lasen dieselbe Zeitung wie Harper oder hatten sie bereits gelesen. Einige von ihnen waren mit ihren Angelegenheiten so beschäftigt, daß sie von Harper gar keine Notiz nahmen. Andere wieder blickten gelegentlich in seine Richtung, ohne zu ahnen, daß der gesuchte Mörder mit ihnen im selben Raum saß. Ihre Gedanken verrieten ihm, daß keinem etwas Verdächtiges aufgefallen war. Das war aber auch das einzige, was er mit Bestimmtheit sagen konnte. Draußen, für jeden zu sehen, stand sein Wagen. Das Nummernschild schien plötzlich die Größe einer Plakatwand bekommen zu haben. Drei Männer näherten sich dem Heck des Wagens, ohne einen Blick auf das Kennzeichen zu werfen, gingen vorbei und stiegen in eine Limousine. Harper durfte sich nicht darauf verlassen, daß er auch weiterhin Glück haben würde. Daß er von der Polizei gesucht wurde, war
das geringere Übel. Andere, die an dem, Fall ein Interesse hatten, konnten gleichermaßen hinter ihm her sein. Die drei Männer in dem grünen Thunderbug zum Beispiel. Bis nach Washington, dem Ziel seiner Fahrt, waren es noch fast tausend Kilometer. Als er die Raststätte verließ und losfuhr, brach die Nacht herein. Es war Vormittag, als er schließlich in Washington eintraf. Er parkte seinen Wagen in einem Außenbezirk und fuhr mit dem Bus in die Stadt. Aus einer Telefonzelle rief er sein Büro an. Entweder war der Fernseher in seinem Büro defekt, oder er war nicht eingeschaltet, jedenfalls erschien kein Bild auf dem Schirm in der Zelle. Moira meldete sich. »Harper Industries. Guten Morgen.« »Moira«, sagte er, »hier spricht der Chef.« Er hörte, wie sie nach Luft schnappte. »Was haben Sie denn?« fragte er. »Wir telefonieren doch schließlich nicht zum erstenmal miteinander.« »Nein, Mr. Harper. Natürlich Mr. Harper.« Sie suchte verzweifelt nach Worten. »Ich habe nur noch nicht mit Ihrem Anruf gerechnet.« »So?« Er grinste wie ein hungriger Wolf, während er in den dunkel gebliebenen Bildschirm blickte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich anrufen würde.« »Das schon, Mr. Harper, aber –« »Was aber?« Das Aber wollte ihr nicht einfallen. Ihre Zunge war wie gelähmt. »Sie haben also die Zeitung schon gelesen. Wie dem auch sei – gibt's etwas Neues?« »Etwas Neues?«
»Hören Sie zu, Moira. Vergessen Sie mal für den Augenblick die Polizisten, die an meinem Schreibtisch sitzen. Passen Sie auf: War heute etwas in der Post, um das ich mich persönlich kümmern müßte?« »Nein, Mr. Harper.« »Es liegt also nichts vor, was ich selbst in die Hände nehmen müßte?« »Nein.« »Gut. Dann lassen Sie mich jetzt mit einem der Polizisten sprechen.« Das brachte sie nun vollends aus dem Gleichgewicht. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, hier sind keine –« »Aber, aber, wer schwindelt denn da?« sagte er streng. Da gab sie es auf. Er hörte, wie sie sich an jemand in seinem Büro wandte: »Er weiß, daß Sie hier sind, und möchte mit Ihnen sprechen.« Er hörte ein Brummen, das ziemlich verächtlich klang. Plötzlich leuchtete der Bildschirm auf, und Harper blickte in ein feistes Gesicht. Bevor der andere sprechen konnte, sagte Harper: »Wenn ich anrufe und bekomme mein Büro nicht auf den Bildschirm, dann weiß ich, daß jemand dort ist, der nicht gesehen werden will. Ich weiß auch, daß Moira mich hinhalten sollte, damit man feststellen kann, von wo aus ich anrufe. Aber ihr vergeudet bloß eure Zeit und das Geld der Steuerzahler. Sagen Sie Riley, daß er ein netter Kerl ist, trotz seiner Fehler.« Die Miene des Polizisten in Harpers Büro wurde zusehends finsterer. »Jetzt passen Sie mal auf, Harper –« »Passen Sie lieber selber auf«, entgegnete Harper
ungeduldig. »Vielleicht glauben Sie, daß Sie meinen Stuhl umsonst anwärmen, wenn ich Ihnen sage, daß ich aus Washington anrufe. Ich bin auf dem Weg zur FBI-Zentrale, um mich zu stellen.« Das Gesicht auf dem Bildschirm drückte Unglauben aus. »Ehrlich?« »Sie können ja beim FBI anrufen. Etwa in einer Viertelstunde. Dann wird man Ihnen sagen, daß ich dort bin.« Er legte den Hörer auf, das Bild auf dem Fernsehschirm erlosch, und er ging auf den Gehsteig hinaus. Er war zwei Querstraßen weit gekommen, da fiel ihm ein gutgekleideter junger Mann auf, groß gewachsen, mit schwarzem Haar, der ihn beim Vorübergehen scharf musterte. Der junge Mann ging noch etwa zehn Meter weiter, dann drehte er sich um und folgte Harper. Harper setzte seinen Weg unbeirrt fort. Er lächelte, während er die Gedanken seines Verfolgers überprüfte. Robert Slade, zweiunddreißig Jahre alt, FBIAgent. Ihm war aufgefallen, daß der Harper, dem er auf der Straße begegnet war, große Ähnlichkeit mit dem gesuchten Harper hatte. Das Zusammentreffen war rein zufällig gewesen, aber der junge Mann wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, im geeigneten Moment zur Festnahme zu schreiten. Harper bog in eine Querstraße ein. Drei Straßen weiter kamen ihm Zweifel, ob er auf dem richtigen Weg war. Er kannte sich in Washington nicht besonders gut aus. An der Straßenecke blieb er stehen, zündete sich eine Zigarette an und sah sich dabei über die Streichholzflamme hinweg nach seinem Verfolger um. Der junge Mann tat so, als interessiere er
sich brennend für die Auslage eines Geschäfts. Harper ging hin und berührte Slade am Ellbogen. »Entschuldigen Sie, ich suche die FBI-Zentrale. Können Sie mir den Weg zeigen.« Das überraschte Slade mehr, als wenn Harper ihm eine Revolvermündung gegen den Bauch gedrückt hätte. »Ich... äh... ja, natürlich.« Seinen Augen sah man an, daß er plötzlich Zweifel bekommen hatte, ob Harper auch wirklich der Gesuchte war. Seine Gedanken verrieten Harper: Wenn das kein Zufall ist, was ist es dann? »Sie sind doch Robert Slade, nicht wahr?« fragte Harper freundlich. Der andere trat einen Schritt zurück. »Ja. Und wer sind Sie?« »Würde es Ihrer Karriere nützen, wenn Sie eine Festnahme machten?« »Wie soll ich das verstehen?« »Ich suche Ihre Zentrale, kenne aber den Weg nicht. Sie können ihn mir zeigen. Von mir aus können Sie es als eine Verhaftung bezeichnen. Ich bin Wade Harper.« Slade holte tief Luft. »Sie machen Witze.« »Warum? Sehe ich nicht wie Harper aus?« »Doch doch. Aber vielleicht haben Sie es bloß satt, mit ihm verwechselt zu werden. Wenn dem so ist, können wir Ihnen leider nicht helfen.« »Das läßt sich schnell aufklären. Meine Fingerabdrücke sind in Ihrer Kartei.« Er griff unter die linke Achsel. »Hier ist meine Waffe. Sagen Sie den Leuten im Büro, sie sollen sie nicht verlieren. Ich möchte sie zurückhaben.«
»Danke.« Verblüfft steckte Slade die kleine Pistole ein und zeigte dann die Straße hinunter. »Hier geht's lang.« Nebeneinander setzten sie den Weg fort. Slade machte keine Anstalten, Harper Handschellen anzulegen. Besonders wachsam schien er auch nicht zu sein. Er hatte noch immer seine Zweifel, ob dieser Harper auch der gesuchte Harper war. Auch neigte er mehr zu der Ansicht, daß ihm diese seltsame Festnahme so gut wie nichts einbringen würde. Denn sein freiwilliger Gefangener war so selbstsicher, daß er gar nichts anderes als unschuldig sein mußte. Sie erreichten den großen Verwaltungsbau und gingen hinein. Slade führte Harper in ein kleines Zimmer und sagte: »Warten Sie bitte hier«, und ging wieder hinaus. Harper setzte sich in einen der bequemen Sessel und vertrieb sich die Zeit, indem er Slades nächste Schritte auf gedanklichem Weg verfolgte. Er ging durch einen kurzen Korridor, betrat ein Büro und sprach dort mit jemand. »Ich habe gerade Wade Harper hereingebracht. Er sitzt im Wartezimmer 4.« »Allein?« »Ja.« »Haben Sie den Verstand verloren? Er könnte hinausgehen, ohne daß ihn jemand daran hindert.« »Er war auf dem Weg hierher, als ich ihn traf«, wandte Slade ein. Er war zu ehrlich, diese Festnahme als sein eigenes Verdienst hinzustellen. »Er kam freiwillig.« »Unglaublich. Da ist was faul an dieser Sache.« Eine Pause, dann: »Bringen Sie ihn her.« Harper stand auf, ging durch den Gang und stand vor der Tür, als Slade sie öffnete, um ihn holen zu
kommen. Dies war bereits die dritte große Überraschung, die Slade an diesem Tag erlebte. Schweigend trat er zur Seite, während Harper selbstbewußt das Büro betrat, sich setzte und den Mann mit dem hageren Gesicht hinter dem Schreibtisch betrachtete. Dieser erwiderte seinen Blick und verriet sich, ohne es zu wissen. William Pritchard, neununddreißig Jahre alt, Abteilungsleiter. »Guten Morgen, Mr. Pritchard«, sagte Harper so heiter und gut aufgelegt, daß es scheinen mußte, als habe er keine einzige Sorge auf dieser Welt. Pritchard blickte ihn groß an, mobilisierte seine Verstandeskräfte und sagte: »Sie werden schon überall gesucht. Wegen Mordes an Jocelyn Whittingham.« »Ja, ich weiß. Ich habe es in der Zeitung gelesen.« Da hat einer einen Bock geschossen, dachte Pritchard, den Harpers selbstsicheres Auftreten stark beeindruckt hatte. Er hat ein Alibi. Er räusperte sich und fragte: »Nun, was haben Sie dazu zu sagen?« »Eine Menge – aber Ihnen sage ich's nicht.« »Warum nicht mir?« »Glauben Sie, ich habe persönlich gar nichts gegen Sie. Aber ich möchte gern mit Sam Stevens sprechen.« »Gehen Sie mal und sehen Sie, ob er da ist«, sagte Pritchard, nachdem er erst gezögert hatte. Slade ging hinaus, kam zurück und sagte: »Stevens ist in Seattle.« Das Telefon klingelte. Pritchard hob ab und sagte: »Ja? Woher wissen Sie das? So, er hat es Ihnen selbst gesagt? Nein, er hat Sie nicht angelogen. Er ist hier. Sitzt mir genau gegenüber.« Er legte auf und blickte Harper an. »Mit Stevens können Sie nicht sprechen. Er ist nicht hier.«
»Schade. Er hätte mich an jemand weiter oben weiterreichen können. Ich möchte so weit hinauf, wie irgend möglich.« »Warum?« »Darüber verweigere ich die Auskunft.« Pritchard runzelte mißbilligend die Stirn und lehnte sich nach vorn. »Haben Sie jetzt diese Whittingham erschossen oder nicht?« »Ja, ich habe sie erschossen.« »Gut. Sind Sie bereit, ein Geständnis zu unterschreiben?« »Nein.« »Sie geben also zu, sie erschossen zu haben, weigern sich aber, ein Geständnis abzulegen?« »Das ist richtig.« »Wollen Sie das wenigstens begründen?« fragte Pritchard und musterte ihn nachdenklich. »Ich habe meine Gründe. Schließlich habe nicht ich sie umgebracht.« »Aber sie ist tot. Wußten Sie das nicht?« Harper winkte ab, so als ob diese Tatsache belanglos wäre. »Sie haben sie erschossen, aber Sie haben sie nicht getötet«, sagte Pritchard. »Soll ich das so verstehen? Obwohl Sie ihr ein Dutzend Stahlkügelchen ins Gehirn gejagt haben, wollen Sie keinen Mord begangen haben?« »So ist es.« Jetzt war das Maß voll. Harper las es in Pritchards und Slades Gedanken. Sie dachten beide dasselbe: Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit. Harper seufzte und sagte: »Sam Stevens ist der einzige in diesem Verein, den ich kenne. Vor zwei Jahren
war er einmal bei mir in der Firma Er kam mit einer Liste von Unternehmen, die für die nationale Sicherheit von besonderer Bedeutung sind. Und deren Erzeugnisse einer besonderen Geheimhaltung unterliegen. Er brachte mir einen Waffenschein und einen Stoß amtlicher Verordnungen, deren wichtigste die ist, daß im Falle eines Krieges meine Firma und alles, bis zur letzten Büroklammer, Staatseigentum wird.« »Und?« fragte Pritchard, der damit nicht viel anfangen konnte. »Die Sache mit dieser Whittingham hat mehr oder weniger damit zu tun. Sie gehört in das Gebiet nationale Sicherheit. Deshalb werde ich nur mit jemandem sprechen, der auch weiß, wovon ich rede.« Das fällt in Jamesons Ressort, dachte Pritchard automatisch. »Zum Beispiel Jameson«, sagte Harper seelenruhig. Die beiden schauten ihn an, als habe er ein Staatsgeheimnis beim Neujahrsempfang des diplomatischen Corps zum Besten gegeben. »Oder sein Chef«, sagte Harper, den der Hafer stach. Pritchard hatte sichtlich Mühe, ein gestrenges Gesicht zu machen und sagte: »Eben sagten Sie noch, Stevens sei das einzige Mitglied unserer Organisation, das Sie kennen. Woher haben Sie also den Namen Jameson? Und woher wußten Sie eigentlich meinen Namen?« »Meinen kannte er auch«, warf Slade ein. »Das verrate ich nur jemand, der bei euch ganz oben sitzt«, sagte Harper. »Jetzt langt's mir!« sagte Pritchard, stand auf und ging zur Tür. Zu Slade sagte er: »Passen Sie auf die-
sen Hellseher auf, während ich mit Jameson spreche.« Eilig ging er hinaus. Harper wandte sich an Slade: »Würden Sie mir bitte ein Blatt Papier geben?« Slade nahm einen Bogen Papier aus einem Schreibmaschinentisch und reichte ihn Harper. Er beobachtete, wie Harper das Blatt auf den Schreibtisch legte und seinen Kugelschreiber aus der Tasche holte. Das Geständnis, dachte er. Harper ignorierte die wenig schmeichelhaften Gedanken des Mannes und konzentrierte sich. Er wartete eine Weile, dann begann er schnell zu schreiben. Dann legte er den Kugelschreiber weg. Sekunden später betrat Pritchard wieder das Büro. »Er weigert sich, Sie zu empfangen«, verkündete er in einem Ton, als habe er alles vorausgeahnt. »Ich weiß.« Harper reichte ihm den Bogen Papier. Pritchard las und die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu treten. Dann rannte er hinaus, als habe er Hornissen in der Hose. Slade starrte erst auf die Tür, dann blickte er Harper an. »Das war nur die Aufzeichnung ihrer Unterhaltung«, sagte ihm Harper. »Wollen Sie wetten, daß er mich jetzt empfängt?« »Nein«, sagte Slade, der sich fühlte wie einer, der ausgezogen war, das Gruseln zu lernen. »Ich bin ein schlechter Verlierer.« Jameson erwies sich als ein Mann in den mittleren Jahren, stark wie ein Ochse, mit einem dichten weißen Haarschopf. Seine blauen Augen blickten kalt, und seine Art verriet, daß ihm seit Jahren der Umgang mit der Macht vertraut war. Er saß steif in sei-
nem Sessel und hielt mit einem Zeigefinger den Bogen Papier auf seinem Schreibtisch fest, als habe er Angst, dieser könnte plötzlich Flügel bekommen und davonfliegen. Er kam auch gleich zur Sache. »Was haben Sie gemacht?« »Ich habe gezielt und abgedrückt, und da ist sie umgefallen.« »Das meine ich nicht.« Er trommelte ungeduldig mit dem Zeigefinger auf den Schreibtisch. »Ich meine diese Aufzeichnung hier.« »Ach das.« Harper tat so, als begriffe er erst jetzt, auf was der Mann anspielte. Dabei hatte er sehr wohl gewußt, was Jameson meinte, als er die erste Frage stellte. »Ich habe mitgehört, so wie es der Feind macht, wenn er erfahren möchte, was wir vorhaben.« »Sie können gehen«, sagte Jameson zu Pritchard. »Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.« Er wartete, bis die Tür geschlossen war. Dann konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf Harper. »Wollen Sie allen Ernstes behaupten, daß die Agenten der Gegenseite in der Lage sind, nach Belieben unsere Gedanken zu lesen?« »Nein.« »Warum haben Sie dann diese Andeutung überhaupt gemacht?« »Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, was theoretisch möglich ist: Wenn einer zu etwas in der Lage ist, dann sind es andere wahrscheinlich auch. Diese Überlegung beschäftigt mich schon seit Jahren. Allerdings habe ich bisher noch keine Beweise für meine Theorie gefunden.« »Sie meinen damit etwas, wozu Sie selbst in der Lage sind? Was ist es?«
»Das hier«, sagte Harper und zeigte auf den Bogen Papier. Jameson war kein Dummkopf. Er hatte von Anfang an so etwas vermutet, es als Tatsache jedoch nicht akzeptieren können, weil es so ungeheuerlich war. Es war und blieb schwer verdauliche Kost. Er entschloß sich, aufs Ganze zu gehen. »Nur ein Telepath wäre dazu in der Lage.« »Kein anderer«, gab Harper ihm recht. »Aber bis heute ist noch kein Fall von Telepathie bekanntgeworden«, sagte Jameson, dem es noch immer schwerfiel zu glauben, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Harper zuckte lediglich mit den Schultern. Jameson drückte auf die Taste seiner Sprechanlage. »Ist Miss Keyes da? Rufen Sie sie an den Apparat. Miss Keyes? Spannen Sie bitte einen Bogen in Ihre Maschine und schreiben Sie achtundzwanzig mehrstellige Zahlen, die Sie selbst auswählen können, in einer Reihe untereinander. Bringen Sie mir das Blatt herüber, sobald Sie fertig sind.« Er ließ den Schalter los und blickte Harper herausfordernd an. Dann schob er Harper einen Zettel zu und sagte: »Jetzt versuchen Sie's mal.« »Jetzt soll ich aus den vielen Leuten, die ich nicht kenne, jemand heraussuchen, der völlig sinnlose Zahlen in die Maschine tippt«, beschwerte sich Harper. »Die ersten Zahlen könnten mir allerdings entgehen. Ich muß mich erst herantasten.« »Macht nichts. Tun Sie, was Sie können. Wenn Sie mir von achtundzwanzig nur sieben Zahlen aufschreiben können, dann haben Sie mich davon überzeugt, daß noch immer Zeichen und Wunder geschehen.«
Harper schrieb achtzehn Zahlen auf und von der neunzehnten nur die ersten beiden Ziffern. Kommentarlos nahm Jameson das Blatt Papier entgegen und wartete auf Miss Keyes. Sie erschien auch gleich darauf, reichte Jameson ihre Liste und ging wieder, ohne sich zur Sache geäußert zu haben. Hätte man ihr gesagt, sie solle die Haube ihrer Schreibmaschine als Hut benützen, sie hätte es getan, ohne mit der Wimper zu zucken. Jameson verglich die beiden Zahlenreihen. Nach einer Weile sagte er: »Das ist schlimmer, als wenn jemand anriefe und sagte, im Pentagon ticke eine Zeitbombe. Die Zeit, wo jeder seine Gedanken für sich behalten konnte, ist vorbei.« »Ich weiß.« »Wie ist das passiert?« »Dieselbe Frage könnten Sie jemand stellen, der eine Hasenscharte hat. Er würde Ihnen auch keine Antwort geben. Ich weiß nur, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin. Die ersten Jahre glaubte ich, alle anderen seien genauso wie ich. Als Kind brauchte ich ziemlich lange, dahinterzukommen, daß es nicht so war. Ich war sozusagen der einzig Sehende in einem Volk von Blinden. Da erfuhr ich auch, was es heißt, gefürchtet zu werden und daß Angstgefühle in Haß umschlagen können.« »Aber es muß doch einen Grund geben«, sagte Jameson. »Ist der so wichtig?« »Wichtig genug. Sie verdanken Ihr Talent einer Reihe von besonderen Umständen. Wenn wir in der Lage wären, die Anordnung dieser Umstände zu rekonstruieren, könnten sie wahrscheinlich bei anderer
Gelegenheit wiederholt werden. Dies wiederum könnte uns Aufschluß darüber geben, ob es von Ihrer Art noch mehr gibt, und, falls dem so sein sollte, wer sie sind.« Harper antwortete mit ruhiger Stimme und sehr nüchtern: »Ich halte das nicht für wichtig. Jedenfalls jetzt nicht mehr.« »Und warum nicht?« »Weil Jocelyn Whittingham, als ich Gedankenkontakt mit ihr aufnahm, mir im gleichen Moment eine Beleidigung an den Kopf warf. Und deshalb habe ich sie erschossen.« »Und weil man Sie beleidigt hat, haben Sie gleich einen Mord begangen?« »Ja. Angesichts der Art des Ausdrucks hatte ich gar keine andere Wahl!« »Wie hat sie Sie genannt?« »Erdschwein«, sagte Harper, und der Blick seiner Augen war eisig.
5 Zwei volle Minuten lang saß Jameson da wie gelähmt. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, und für den Augenblick hatte er ganz vergessen, daß sein Gegenüber sie lesen konnte, wie in einem offenen Buch. Dann fragte er: »Sind Sie auch ganz sicher?« »Nur ein Telepath weiß genau, was der andere denkt«, sagte Harper. »Und ich sage Ihnen noch etwas: Ich habe geschossen, weil ich genau wußte, daß ich sie nicht töten konnte. Das wäre physikalisch unmöglich gewesen.« »Wie soll ich das verstehen?« fragte Jameson. »Niemand – nicht nur ich – hätte Jocelyn Whittingham etwas antun können; denn sie lebte gar nicht mehr.« »Kommen Sie«, sagte Jameson, »der uns vorliegende Polizeibericht...« »Ich habe etwas anderes getötet«, sagte Harper, und die Wirkung seiner Worte war vernichtend. »Das Ding, das ich umgebracht habe, hatte vorher Jocelyn Whittingham liquidiert.« Jamesons Gedanken begannen wieder Purzelbäume zu schlagen. Harper fuhr fort: »Bis jetzt kennen Sie nur die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen. Das ist nicht genug. Hören Sie sich an, wie ich die Sache sehe.« »Bitte«, sagte Jameson, der für jede Gelegenheit dankbar war, seine Gedanken auf Sachprobleme konzentrieren zu können. Harper begann mit seinem Bericht an der Stelle, wo er zum erstenmal den Gedan-
kenruf des sterbenden Alderson aufgefangen hatte. Dann schilderte er alles, was er in diesem Zusammenhang erlebt hatte. Er fuhr fort: »Kein normaler Mensch merkt es oder ist sich bewußt, daß seine Gedanken abgelesen werden. Wenn ich Ihnen nicht gesagt hätte, daß ich Telepath bin, und wenn es mir nicht gelungen wäre, Sie von der Wahrheit meiner Worte zu überzeugen, hätten Sie keine Veranlassung gehabt, zu vermuten, daß ich jeden Ihrer Gedanken lesen kann. Oder?« »Nein.« »Als ich aber«, fuhr Harper fort, »Jocelyn Whittinghams Gedanken zu lesen versuchte, spürte das Gehirn in ihrem Körper die Berührung, wußte sofort, woher sie kam, und reagierte mit Panik und wütendem Haß. In diesem Augenblick erkannte ich alles, was in diesem Gehirn vor sich ging, und ich wußte, daß das kein menschliches Gehirn war. Diese Berührung dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber das war genug. Das war kein irdisches Wesen. Ich konnte das so deutlich unterscheiden wie eine Kreuzotter von einem neugeborenen Baby.« »Wenn es nicht menschlich war«, fragte Jameson, der seine Zweifel nicht unterdrücken konnte, »was war es dann?« »Das weiß ich nicht.« »Welche Form und Gestalt hatte es?« »Die Gestalt und Form von Jocelyn Whittingham. Wie hätte es anders sein sollen. Es hatte sich ihren Körper angeeignet.« Das war zuviel für Jameson. Er konnte es einfach nicht glauben. Harper wußte genau, was der Mann dachte. Er kam ihm zuvor, indem er fragte: »Haben
Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, wer den Streifenpolizisten Alderson getötet hat und warum?« »Vielleicht wissen Sie's?« »Drei Männer in einem Thunderbug. Drei Männer, denen Alderson vermutlich in die Quere kam, als sie dabei waren, von Jocelyn Whittingham Besitz zu ergreifen.« »Besitz zu ergreifen?« »Starren Sie mich nicht so entgeistert an. Ich weiß ja auch nicht, was wirklich vorgefallen ist. Ich weiß nur, daß etwas passiert sein muß und auch passiert ist, sonst wäre ja alles, was nachher kam, nicht geschehen.« Jameson machte ein ratloses Gesicht. »Drei Männer«, fuhr Harper fort und betonte jedes Wort. »In grünen Anzügen. Den gleichen grünen Krawatten, grauen Hemden. Drei Männer in Uniformen, die keiner kennt. Und warum kennt niemand diese Uniformen?« »Weil es gar keine Uniformen waren«, vermutete Jameson. »Die sahen nur so aus, wirkten nur so, weil sie einen uniformähnlichen Schnitt hatten.« »Oder aber weil es Uniformen waren, die gar niemand kennen kann«, schlug Harper vor. »Weil sie noch nicht öffentlich vorgestellt worden sind. Weil alles noch streng geheim ist.« »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Jameson. »Wir haben Männer auf den Mond geschickt, und keiner denkt sich mehr etwas dabei. Heute werden Raumflüge mit – wenn überhaupt – mäßigem Interesse zur Kenntnis genommen, dann geht man zur Tagesordnung über. Es gibt einfach nichts mehr, das uns überraschen könnte.«
»Sie sagen mir nichts Neues«, entgegnete Jameson ungeduldig. »Schließlich lebe ich in der Gegenwart. Kommen Sie zur Sache.« »Bestehen Pläne, Expeditionen zur Venus oder zum Mars zu schicken? Hat man bereits bemannte Raketen auf die Reise geschickt, und falls dem so ist, wann? Wann sollen die Leute zurückkehren? Könnten es drei Männer in grünen Uniformen und grauen Hemden gewesen sein?« »Du meine Güte!« rief Jameson aus, dem Harpers Vermutungen immer phantastischer erschienen. »Drei Männer sind ausgeschickt worden, um irgend etwas zu erkunden. Sie haben etwas gefunden, womit keiner gerechnet hat. Unfreiwillig kehren sie zurück, und bringen etwas mit, was nicht hierher gehört. Das jedenfalls ist meine Theorie. Was halten Sie davon?« »Wenn ich den entsprechenden Stellen mit dieser Schauergeschichte komme, werden sie mich für verrückt erklären.« »Ich verstehe Ihre Bedenken. Ihre Gedanken sind sehr klar. Ihnen ist nicht bekannt, daß eine Expedition in den Weltraum geschickt worden ist. Sie wissen noch nicht einmal andeutungsweise davon. Und zweitens glauben Sie kein Wort von dem, was ich gesagt habe. Hab ich recht?« »Es hätte ja doch keinen Zweck, Sie jetzt anzulügen.« »Dann betrachten Sie es doch mal von dieser Seite: Sie können es zwar nicht wissen, aber ich weiß es genau, daß ich für den Bruchteil einer Sekunde Gedankenberührung mit einem völlig fremdartigen Gehirn hatte, das einen menschlichen Körper in Besitz ge-
nommen hatte. Diese Wesenheit kann nicht aus dem Nichts entstanden sein. Sie muß auf irgendeine Weise zur Erde gelangt sein. Jemand muß sie mitgebracht haben. Und als Träger kommt niemand anders als die bewußten drei Männer in Frage.« »Fahren Sie fort«, sagte Jameson. »Wir wissen nicht, wie lange die drei schon ihr Unwesen treiben. Vielleicht eine Woche lang, vielleicht auch ein ganzes Jahr.« Er blickte sein Gegenüber vorwurfsvoll an. »Jocelyn Whittingham muß also nicht die erste gewesen sein, und bei weitem nicht die letzte. Die drei können inzwischen schon an die hundert Leute umgekrempelt haben und im Augenblick dabei sein, sich um hundert weitere zu kümmern, während wir hier sitzen und nicht von der Stelle kommen. Wenn wir so weitermachen, haben sie vielleicht schon die Hälfte der Bevölkerung der Erde versklavt, bis wir endlich aufwachen.« Jameson war es alles andere als wohl in seiner Haut. Unentschlossen blickte er auf das Telefon. »Brockman von der Abteilung für Sonderaufgaben«, sagte Harper. »Das ist der Mann, an den Sie gerade denken.« Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Also gut, rufen Sie ihn an. Vielleicht sagt er Ihnen etwas, was er mir unter keinen Umständen verraten hätte. Fragen Sie ihn, ob eine Weltraumexpedition unterwegs ist und wann man mit ihrer Rückkehr rechnet.« »Ich wette, daß er auf die Frage nicht eingehen wird, sondern wissen will, warum ich frage«, protestierte Jameson. »Ich kann ihm doch nicht sagen, was Sie vermuten.« »Die Frage, die Sie von ihm erwarten, wird er nur
stellen«, sagte Harper mit Bestimmtheit, »wenn es keine solche Expedition gibt. Aber wenn tatsächlich eine unterwegs ist, und wenn alles strengster Geheimhaltung unterliegt, wird ihm bei Ihrer Frage der Schnurrbart abfallen, falls er einen hat. Dann wird er hier angerannt kommen und wissen wollen, durch welche Lücke in der Geheimhaltung Sie davon erfahren haben. Versuchen Sie's mal und hören wir uns an, was er sagt.« Von Zweifeln geplagt hob Jameson den Hörer ab und sagte mit resignierter Stimme: »Verbinden Sie mich mit der Abteilung für besondere Angelegenheiten. Mr. Brockman.« Nachdem die Verbindung hergestellt war, begann Jameson so gehemmt zu sprechen, als habe man ihn gezwungen, einem Vorgesetzten die Festnahme von Schneewittchen und sämtlichen sieben Zwergen zu melden. »Wir sind hier auf eine ungewöhnliche Sache gestoßen. Ihnen Einzelheiten zu schildern, wäre zu zeitraubend. Wir würden aber der Lösung des Falles ganz erheblich näher kommen, wenn Sie uns sagen könnten, ob zur Zeit ein streng geheim gehaltenes Raumversuchsprogramm läuft.« Er hörte eine Weile zu, und sein Gesicht wurde immer länger. »Ja, es ist von großer Wichtigkeit. Ich brauche diese Auskunft. Ganz egal, von welcher Stelle. Ja, seien Sie so nett. Danke.« Er legte den Hörer auf. »Er weiß auch nichts«, sagte Harper. »Richtig.« »Ist es einer, der unterrichtet sein sollte?« »Ich nahm es an. Aber wenn eine Sache wirklich ganz geheim bleiben soll, dann wissen nur sehr we-
nige davon. Zu denen gehört Brockman offensichtlich nicht. Brockman versprach zurückzurufen, sobald er etwas erfahren habe.« »Wir könnten kostbare Zeit sparen, wenn wir das Weiße Haus anriefen und den Präsidenten fragten. Sie können mir nicht weismachen, daß er keine Ahnung hat.« Jameson war schockiert. Ziemlich ungehalten fuhr er Harper an: »Ich weiß schon, was ich tue.« »Na schön. Aber je länger es dauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß ich auf einmal ganz ungewöhnliche, unmenschliche Gedanken von Ihnen wahrnehme.« Harper lächelte säuerlich. »Und da ich meine Pistole nicht mehr habe, würde ich Sie mit den bloßen Händen erwürgen müssen; sofern mir das gelingt, ohne daß Sie meinen Körper übernehmen.« »Halten Sie den Mund!« befahl Jameson und sah aus, als wolle er sich jeden Augenblick übergeben. Er schielte zum Telefon hinüber, das auch prompt anschlug. Das Geräusch kam so plötzlich und unerwartet, daß Jameson in seinem Sessel zusammenzuckte. Er riß den Hörer von der Gabel. »Was ist?« Dann wechselte der Ausdruck auf seinem Gesicht so schnell wie die Einstellungen bei einem Film über die Tennisweltmeisterschaft. Er legte den Hörer zurück, stand auf und sagte: »Wir sollen sofort hinüberkommen.« »Und wir wissen auch warum, nicht wahr?« Jameson gab keine Antwort. Er ging mit Harper hinaus und bestieg einen Wagen, dessen Fahrer wie ein Preisboxer aussah, den man in einen Maßanzug gesteckt hatte. Die Fahrt war kurz. Sie fuhren in den zwanzigsten Stock eines modernen Wolkenkratzers
aus Glas und Beton hinauf und betraten ein Büro, in dem vier Männer saßen, die alle sehr ernst dreinblickten. Sie starrten Harper an, ohne ihn zu erkennen, obwohl sein Bild inzwischen in allen Zeitungen stand und über das Fernsehen in alle Wohnstuben gesendet wurde. Aber offensichtlich lasen sie weder Zeitungen noch sahen sie fern. Das älteste Mitglied der Vierergruppe funkelte Jameson böse an und fragte ungehalten: »Was soll das für ein Raumversuchsprogramm sein?« Jameson hatte offensichtlich keine Lust, den Kopf hinzuhalten für eine Sache, in die er gegen seinen Willen hineingezogen worden war, und deutete auf seinen Begleiter: »Dies ist Wade Harper. Er wird von der Polizei als Mörder gesucht. Vor etwa einer Stunde kam er zu uns. Der Grund meiner Frage liegt in seiner Aussage.« Vier Augenpaare richteten sich wie auf Kommando auf Harper. »Aussage?« Die Männer waren nervös. Harper merkte es deutlich. Er kannte auch den Grund. Sie waren im höchsten Maße beunruhigt über die Tatsache, daß streng geheime Informationen nach außen gedrungen waren. Er wandte sich an den ältesten und sagte, nachdem er durch Gedankenkontakt dessen Namen und noch mehr erfahren hatte: »Mr. King, ich weiß aus zuverlässiger Quelle, daß wir vor achtzehn Monaten eine bemannte Versuchsrakete zur Venus geschickt haben. Drei erfahrene Raumpiloten befanden sich an Bord. Für die Rückkehr wurden zwei Termine bestimmt. Hätte sich herausgestellt, daß die Lebensbedingungen auf dem Planeten für Menschen ungeeig-
net sind, wäre das Schiff bereits vergangenen November wieder zur Erde zurückgekehrt. Für den Fall aber, daß es Menschen möglich sein sollte, es mit Hilfe geeigneter Geräte eine Weile auf der Oberfläche der Venus auszuhalten, war vorgesehen, daß die Raumfahrer verschiedene Versuche und Erkundigungen vornehmen und Mitte Juni, also in etwa fünf Wochen, zur Erde zurückkehren sollten. Erst nach ihrer Rückkehr sollte die Geheimhaltung aufgegeben und die Öffentlichkeit von diesem Unternehmen unterrichtet werden.« Mr. King zuckte nicht einmal mit der Wimper, während er Harper zuhörte. Desto heilloser war jedoch das Durcheinander seiner Gedanken. Mit erzwungener Ruhe fragte er: »Und woher wissen Sie das alles?« Jameson hatte bis jetzt mit wachsendem Erstaunen Harpers Ausführungen zugehört. Nun schien er aus einer Trance zu erwachen und sich zu erinnern, was er über Harper und dessen außergewöhnliche Fähigkeiten wußte. »Dieser Mann ist ein Telepath, Mr. King«, platzte er heraus. »Er bezieht sein Wissen aus Ihren Gedanken.« »Soso.« King war keiner, der etwas auf Anhieb glaubte. »Warum haben Sie dann vor zwanzig Minuten Brockman angerufen?« »Zu jenem Zeitpunkt vermutete ich das alles nur«, schaltete sich Harper ein. »Aber jetzt weiß ich es.« Er blickte King eine Weile an und fügte hinzu: »Im Augenblick denken Sie gerade, daß, wenn es solche gedankenlesenden Ungeheuer wirklich gibt, es ein Segen für die Welt wäre, diese möglichst schnell aus dem Weg zu räumen.«
»Sie wissen zuviel«, sagte King. »Wenn es so etwas gäbe, wäre keine Regierung auf der Welt funktionstüchtig.« »Mich gibt es schon seit Jahren, aber die Weltrevolution hat noch nicht stattgefunden.« »Aber dafür schleppt ein Abteilungsleiter des FBI eine unter Mordverdacht stehende Person vor eine der obersten Regierungsinstanzen«, sagte King, und es klang wie eine Anklage wegen Verächtlichmachung des Staates. »Ich muß schon sagen, das ist ein mir völlig neuartiges und unbekanntes Verfahren. Hoffentlich hat man daran gedacht, Sie nach Waffen zu durchsuchen.« Jameson bekam einen roten Kopf und schaltete sich ein. »Entschuldigen Sie, Mr. King, aber hier scheint es um wesentlich mehr zu gehen, als um ein Ihnen neuartiges und unbekanntes Verfahren.« »Um was denn noch?« »Die Expedition ist bereits zurückgekehrt«, sagte Harper. Die vier fuhren auf, als hätte man sie mit Nadeln gestochen. King fragte: »Wann soll sie zurückgekehrt sein? Wo ist sie gelandet?« »Ich weiß es nicht.« Die Männer sanken erleichtert in ihre Sessel zurück. Jetzt waren sie davon überzeugt, daß Harper in eine ganz bestimmte Anstalt gehörte. »Wie wollen Sie es dann wissen?« »Er ist auf eine Spur gestoßen, die die Mannschaft hinterlassen hat«, sagte Jameson. Harper widersprach ihm und wählte seine Worte sorgfältig: »Nein, das ist nicht ganz so. Ich glaube nämlich, daß die Mannschaft tot ist.«
»Die Mannschaft ist also tot, und Sie haben keine Ahnung, wo das Schiff gelandet sein soll?« fragte King. »Trotzdem behaupten Sie, Sie wüßten, daß das Schiff zurückgekehrt ist.« »Ich wette eine Million Dollar gegen Ihren letzten Hosenknopf.« »Das Schiff soll also die ganze Strecke allein zurückgekommen sein? Irgendeine Strömung im Weltall hat es zur Erde zurückgebracht und hier irgendwo angeschwemmt. Und kein Mensch weiß etwas davon, nur Sie?« »Ihren Sarkasmus können Sie sich sparen. Er hilft uns kein bißchen weiter, und außerdem öden Sie mich an«, sagte Harper, dessen Geduld jetzt am Ende war. »Eine Bande von Venus-Wesen hat das Schiff zur Erde gebracht. Was sagen Sie jetzt?« King sagte gar nichts. Seine Gedanken wiesen die von Harper geäußerte Vermutung zurück, formulierten Einwände und Gegenargumente. Aber Harper kam ihm zuvor und stellte sein Ultimatum. Er wandte sich an Jameson. »Tragen Sie eine Waffe?« »Ja.« »Dann holen Sie sie am besten jetzt heraus.« »Warum?« »Wenn jetzt nicht sofort etwas unternommen wird, laufe ich Amok.« »Lieber nicht!« warnte ihn Jameson. »Lieber sterbe ich hier von Ihrer Kugel, als daß ich mich später anderswo umbringen lasse und jemand von der Venus mit meinem Körper herumspaziert.« Aus den Blicken der Männer sprach Ungläubigkeit, vermischt mit echter Angst.
6 Es dauerte lange, bis King wiederkam. Er war begleitet von einem kräftig gebauten, militärisch streng wirkenden Mann, den er als Benfield vorstellte. Dieser zeigte Harper drei große Fotografien, während er zu ihm sagte: »Kennen Sie diese Burschen?« »Nein.« »Sind Sie ganz sicher?« »Hundertprozentig sicher. Sie sind mir völlig fremd.« »Würden Sie sagen, daß Ihre Beschreibung auf die drei Männer zutrifft, von denen die Rede ist?« »Eine Ähnlichkeit ist vorhanden. Ich könnte es mit größerer Gewißheit sagen, wenn dies Farbaufnahmen wären. Die Farbe der Uniformen, zum Beispiel, wäre sehr wichtig.« »Es sind dunkelgrüne Uniformen mit Silberknöpfen, dazu graue Hemden und grüne Krawatten.« »Stimmt – bis auf die Silberknöpfe.« »Also gut. Wir werden der Sache nachgehen. Wer ist der Zeuge, der diese Männer gesehen haben will?« Harper berichtete von dem alten Tankwart, und Benfield machte sich Notizen. Benfield wandte sich an Jameson. »Den nahmen wir uns als erstes vor. Wenn er die drei Männer positiv identifiziert, lasse ich von den Fotos Abzüge machen, damit Ihre Leute die Spur zurückverfolgen können. An Ihr Außenbüro lasse ich die Fotos über Funk durchgeben. Ihre Leute müssen dann entscheiden, ob das Ganze nur schlechtes Theater ist. Wie lange wird das dauern?«
»Etwa zwei, drei Stunden«, antwortete Jameson. »Besser wär's, Sie würden es in zwei Minuten schaffen«, meinte Harper. »Und was halten Sie davon, jetzt die Fahndung nach mir abstellen zu lassen?« »Das werden wir entscheiden, sobald wir mehr wissen. Wenn sich die Sache als aufgelegter Schwindel erweist, lassen wir Sie auf Ihren Geisteszustand untersuchen.« »Das wird lustig werden«, versicherte ihm Harper. »Ich fürchte, Ihren Psychiater müssen Sie dann für eine Weile in die Klappsmühle stecken.« Benfield ging nicht darauf ein. »Stecken Sie ihn irgendwo hin, wo er uns nicht entkommen kann«, befahl er Jameson. »Und halten Sie ihn fest, bis wir Nachricht haben.« Harper protestierte. »Sie glauben doch nicht, daß ich weglaufe, wo ich aus freien Stücken zu Ihnen gekommen bin.« »Nein. Daß Sie weglaufen werden, darüber mache ich mir keine Gedanken – Sie werden gar keine Gelegenheit dazu erhalten.« Er warf Jameson noch einen warnenden Blick zu, dann ging er hinaus und nahm die Fotos mit. Harper saß in Jamesons Büro und langweilte sich. »Danke für das Mittagessen. Wenn es so weitergeht, werden Sie mich auch zum Abendessen einladen müssen.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Zwanzig Minuten vor vier. Warum erhalten Sie die Berichte nicht direkt? Es sind doch Ihre Leute, oder?« »Sie haben anderslautende Befehle.« »Ja, ich weiß. Befehl von ganz oben. Sie denken gerade darüber nach, daß Sie in dieser Angelegenheit
wenig tun können, obwohl sie in Ihre Zuständigkeit fällt. Das FBI ist für nahezu alles zuständig, solange es nichts mit der Raumfahrt zu tun hat. Und Sie wissen nicht, was noch daraus werden kann.« »Wir werden es schon noch rechtzeitig erfahren.« »Es dauert aber ziemlich lange.« Zwei Minuten lang brütete Harper schweigend vor sich hin. Als er dann wieder sprach, ließ sich die Unruhe in seiner Stimme nicht überhören. »Und was ist, wenn der alte Tankwart inzwischen tot ist und niemanden mehr identifizieren kann?« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Jameson, indem er Harper mißtrauisch anblickte. »Nicht von ungefähr. Die drei könnten entsprechende Schlüsse gezogen haben und umgekehrt sein, um ihm den Mund zu verschließen.« »Und aus welchem Grund sollten sie das tun? Die Aussage von Miss Whittingham hat jeden Verdacht von ihnen genommen. Es wäre das Dümmste, was sie tun können, wenn sie sich erneut Verdacht aussetzen würden. Sie würden nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken.« »Sie sehen die ganze Sache falsch«, sagte Harper. »Und in zwei Punkten unterliegen Sie einem Irrtum.« »In welchen Punkten?« »Erstens: Sie gehen davon aus, daß, wenn die drei schuldig sind, sie sich wie jeder andere Mensch benehmen würden, der einen Polizisten getötet hat. Aber würden sie das wirklich tun? Dieses Verbrechen bedeutet für sie nicht dasselbe wie für einen Menschen. Nach meinem Dafürhalten haben sie sich bei diesem Mord genauso wenig Gedanken gemacht wie ein sturer Bauer, der einen ihm fremden Vogel auf
seinem Feld sieht, nach Hause geht, seine Flinte holt und das Tier über den Haufen schießt. Dieser Vogel könnte das letzte Exemplar seiner Gattung gewesen sein und außerordentlich wertvoll. Aber glauben Sie, daß sich dieser Bauer etwas daraus macht?« »Sie widersprechen sich selbst. Warum sollten sie hingehen und den alten Tankwart töten, wenn ihnen die ganze Geschichte ziemlich gleichgültig ist«, wandte Jameson ein. »Gleichgültig ist sie ihnen auf keinen Fall. Ich wollte damit nur sagen, daß der Tod des Funkstreifenbeamten Alderson diesen drei Männern nur deshalb so wenig bedeutet, weil ihnen etwas anderes sehr viel wichtiger erscheint.« »Was zum Beispiel?« »Die Befürchtung, daß man sie zu früh identifizieren könnte. Ihnen geht es in erster Linie darum, nicht als Raumfahrer erkannt zu werden. Alles andere, auch der Polizistenmord, ist Nebensache. Sollte sich herausstellen, daß sie die Besatzung des bewußten Raumschiffes sind, würde sofort eine großangelegte Suchaktion nach ihnen gestartet werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wollen sie aber noch nicht erkannt und gesucht werden. Sie brauchen Zeit, um das Vorhaben auszuführen, weswegen sie auf die Erde gekommen sind.« »Da Sie über alles so genau Bescheid zu wissen scheinen«, bemerkte Jameson in ironischem Tonfall, »können Sie mir vielleicht verraten, was für ein Vorhaben es ist.« »Das wissen die Götter. Aber es ist in jedem Fall eine schmutzige Sache. Sonst würden sie es nicht so heimlich tun. Ehrliche Absichten brauchen keine Ge-
heimnistuerei. Wer sich in den Schatten herumdrückt, plant Böses.« »Jetzt machen Sie denselben Fehler, den Sie mir vorhin vorgehalten haben«, sagte Jameson. »Sie beurteilen sie nach menschlichen Gesichtspunkten. Und unter diesem Blickwinkel lassen sich doch Absichten fremder Wesen nicht beurteilen, oder?« Harper brummte ungehalten. »Soweit ihre Handlungen eine Auswirkung auf uns haben, müssen wir sie unter unserem Blickwinkel sehen. Es mag durchaus sein, daß sie aus venusischer Sicht gesehen die größten Abenteurer und Helden aller Zeiten sind. Aber wenn ich als Mensch dieser Erde aufgrund ihres Treibens auch nur den Nagel meiner kleinen Zehe verliere, sind sie in meinen Augen nichts anderes als gemeine Halunken.« »In diesem Punkt stimme ich Ihnen vorbehaltlos zu.« »Also gut. Zurück zum eigentlichen Thema. Der alte Mann an der Tankstelle hat nicht gesehen, wie sie Alderson umgebracht haben, kann sie also auch nicht als seine Mörder identifizieren. Er kann lediglich durch seine Aussage einen entsprechenden Verdacht gegen sie erhärten. Der Tat überführen kann man sie damit jedoch nicht.« Harper lehnte sich nach vorn und blickte Jameson beschwörend an. »Aber er kann eines tun, nämlich das, worauf Ihre Leute gerade hinarbeiten: Er kann sich die drei Fotos ansehen, sagen, daß dies die drei Burschen sind, und auf diese Weise die Fahndung nach ihnen auslösen. Es gibt nur eine Methode, ihn daran nachhaltig zu hindern, indem man ihm den Mund für immer verschließt, bevor es zu spät ist.«
»Diese Theorie ist einleuchtend«, sagte Jameson, »hat allerdings einen schwachen Punkt.« »Welchen?« »Presse, Funk und Fernsehen haben Einzelheiten über die Ermordung von Alderson und der Whittingham veröffentlicht. Von Küste zu Küste weiß inzwischen jeder, daß Sie wegen des Mordes an dem Mädchen gesucht werden und verdächtig sind, auch den Polizisten getötet zu haben. Unsere drei Raumfahrer wissen das, und auch, daß sie von uns mit keinem der beiden Fälle in Zusammenhang gebracht werden. Sollte im Rahmen Ihrer Aussage die Rede auch auf sie kommen, so könnte diese Beschreibung genauso gut auch auf Tausende anderer Männer zutreffen. Nirgendwo findet sich ein Hinweis darauf, daß einem Zeugen drei Fotos vorgelegt werden sollen, die in den geheimsten Geheimarchiven Washingtons aufbewahrt werden. Nichts auf der ganzen Welt könnte unsere drei Gesuchten auf den Gedanken bringen, daß es so sein könnte.« »Doch. Weil ich nämlich die Whittingham erschossen habe.« »Das verstehe ich nicht« gab Jameson stirnrunzelnd zu. »Passen Sie auf. Ich habe Ihnen von den Tatsachen berichtet, so wie ich sie sehe. Aus irgendeinem Grunde haben sie das Mädchen mitgenommen, weil sich Gelegenheit dazu bot und weil sie ihre Fähigkeiten an ihr ausprobieren wollten. Welches auch die Gründe gewesen sein könnten, sie haben aus dem Mensch Whittingham ein Wesen gemacht, wie sie es sind. Sie hörte auf, Jocelyn Whittingham zu sein, spielte aber nach außen hin die Rolle des Mädchens weiter. Fra-
gen Sie mich nicht, wie sie das angestellt haben, weil ich es nicht weiß und es auch nicht erraten kann.« »Und?« »Stellt sich also die große Frage: War es ihnen möglich, bevor sie das Mädchen sozusagen umgekrempelt haben, ihre Identität als Mensch der Erde festzustellen? Oder haben sie das nicht getan, weil es ihnen vielleicht unwichtig erschienen sein mag oder weil sie einfach nicht dazu in der Lage waren, diese Identität zu erfassen?« »Fahren Sie fort«, sagte Jameson. »Wenn ihnen Jocelyn Whittinghams Identität unbekannt geblieben ist, wenn sie also gar nicht wissen, wer dieses Mädchen war, das sie im Wagen mitgenommen haben, dann wird die Nachricht von ihrem Tod ihnen gar nichts bedeuten. Dann bleibt das für sie ein Mord wie viele andere, die begangen werden und die mit ihnen gar nichts zu tun haben. Wenn ihnen aber Jocelyn Whittinghams Identität bekannt ist –« »Spannen Sie mich nicht auf die Folter«, bat Jameson. »Dann wird der Tod des Mädchens bei ihnen Alarmstufe eins auslösen. Sie werden wissen wollen, warum sie getötet worden ist. Sie werden erfahren wollen, ob sie sterben mußte, weil man sie als VenusWesen durchschaut hat, und wenn sie das annehmen, dann werden sie auch brennend gern erfahren wollen, wie das möglich war und wer sie durchschaut hat. Ihnen ist klar, daß man die als Venus-Wesen identifizierte Jocelyn Whittingham sogleich mit der Venus-Raumfahrtexpedition in Verbindung bringen wird. Und dann werden sie natürlich versuchen, die
Fäden zu kappen, indem sie einige Kehlen durchschneiden.« »Zum Beispiel Ihre.« »Genau. Ich liege sozusagen schon auf dem Opferblock. Die Medien haben meinen Namen in alle Welt hinausposaunt, sie brauchen also nur noch zu kommen und das Opfer abzuschlachten. Sofern sie Gelegenheit dazu bekommen. Und es wird kein schneller Tod sein. Sie werden sich Zeit lassen, mich ins Jenseits zu schicken, viel Zeit.« »Wie kommen Sie darauf?« »Ich vermute, daß diese Venus-Wesen nur eine Waffe haben. Aber es ist eine sehr gefährliche. Sie können sich als Menschen ausgeben, und niemand ist in der Lage, die Maskerade zu durchschauen – bis auf ein so ausgefallenes Exemplar wie ich es bin. Es ist für sie lebenswichtig, festzustellen, wie ich das angestellt habe. Bevor sie das nicht genau wissen, können sie nichts unternehmen. Sie müßten ständig befürchten, entdeckt zu werden. Gegenmaßnahmen können sie erst ergreifen, wenn sie wissen, mit wem oder was sie es zu tun haben. Sie müssen also die Wahrheit aus mir herausholen, ganz egal wie und ohne Rücksicht auf das Opfer. Um das zu erreichen, werden sie jedes Risiko eingehen. Andernfalls werden sie ständig in Ungewißheit leben, entdeckt und durchschaut zu werden. Das können sie sich nicht leisten.« »Telepathen gibt es nicht wie Sand am Meer«, sagte Jameson. »In diesem Sinne haben Sie sich selbst ausgedrückt.« »Das wissen Sie, und das weiß ich. Aber die anderen wissen es nicht. Die Venus-Wesen müssen annehmen, daß zum Beispiel jeder rothaarige Mensch
für sie eine Gefahr darstellt. Und es gibt verdammt viele Rothaarige hier im Lande. Sie müssen also unbedingt herausbringen, wie es möglich war, daß man ihnen auf die Spur gekommen ist.« Das Telefon summte, und Jameson griff nach dem Hörer. Harper stand auf und blickte den anderen erwartungsvoll an. »Dasselbe noch mal«, sagte Jameson, während er den Hörer auflegte und nach seinem Hut griff. »Wir sollen sofort hinüberkommen. Da hätten wir gleich dort bleiben können.« »Der Stein ist ins Rollen gekommen«, bemerkte Harper, während die beiden Männer das Büro verließen. Draußen bestiegen sie den Wagen. »Hätte es sich bei den drei Fotos um eine Fehlanzeige gehandelt, würde man es Ihnen am Telefon gesagt haben. Nicht ohne den üblichen Rüffel von der höheren Instanz.« Jameson saß neben ihm und sagte kein Wort. Sein Gesicht wirkte wie versteinert.
7 Dieses Mal warteten nur zwei Männer auf sie. Das strenge Gesicht des einen mit der lederartigen Haut kannte man fast überall auf der Welt. General Conway war großgewachsen, grauhaarig, eine distinguierte Persönlichkeit. Der andere war Benfield. Sein Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen. »So!« sagte General Conway mit tiefer Stimme, wobei er Harper kalt fixierte. »Sie sind also der Gedankenleser.« »Das hört sich so an, als ob Sie mich mit Hellsehern und Kartenschlägern in einen Topf werfen«, sagte Harper, der sich durch die Anwesenheit des Generals keineswegs eingeschüchtert fühlte. »Womit Sie gar nicht so unrecht haben«, stimmte der General zu während er Harper von unten bis oben musterte. Am längsten blieb sein Blick an den starken, dicht behaarten Handgelenken hängen. Was er dabei dachte, war alles andere als schmeichelhaft für Harper. Zwar mochte der Mann kräftig und vermutlich auch intelligent sein, aber sein Unglück war, daß er viel zu sehr wie ein Gorilla aussah, als daß er in eine Uniform gepaßt hätte. Hilfsbereit ergänzte Harper den Gedankengang des Generals. »Das ist noch gar nichts. Sie sollten mich mal nackt sehen. Da sehe ich aus wie ein schwarzer Bettvorleger aus Lammfell.« Der General schien sichtlich zu Eis zu erstarren. Jameson sah aus, als stünde er kurz vor dem Herzinfarkt. Benfield war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und zeigte keine Reaktion.
»Wenn Sie wissen, was ich denke, brauchen wir uns überhaupt nicht zu unterhalten«, erklärte der General, den es ärgerte, daß jemand in seine Privatsphäre eingedrungen war. »Was verraten Ihnen meine Gedanken?« »Daß der Teufel los ist«, erwiderte Harper ohne zu zögern. »Und daß man entschieden hat, daß ich geistig gesund bin.« Der andere nickte. »Der von Ihnen benannte Zeuge hat bestätigt, daß die drei Männer in dem Wagen dieselben sind, die vor achtzehn Monaten mit einem Raumschiff zur Venus gestartet sind. Das FBI hat bei seinen Untersuchungen zwei weitere Personen ermittelt, die die Aussage des ersten Zeugen bestätigen.« Er lehnte sich gegen die Schreibtischkante, verschränkte die Arme und blickte Harper eindringlich an. »Dies ist eine sehr ernste Angelegenheit von größter Tragweite.« »Es wird noch schlimmer werden«, versprach Harper. »Sofern das ein Trost für Sie ist.« »Ich finde Bemerkungen dieser Art unter den gegebenen Umständen höchst unpassend«, tadelte ihn der General. »Wir messen der Sache die Bedeutung zu, die sie verdient. Sämtliche Exekutivorgane des Landes sind zur Zeit damit befaßt, die Spur des Thunderbug zurückzuverfolgen, in der Hoffnung, den Landeplatz des Schiffes zu finden.« »Weder das Schiff noch der Wagen sind wichtig. Wichtig sind diese drei losgelassenen –« »Auch hinter denen sind wir her«, unterbrach ihn Conway. »Polizei und Militär sind in Alarmbereitschaft versetzt worden. Erkennungsdienstliches Material wird an alle Dienststellen verteilt. Die Suche
nach den drei Raumfahrern hat Vorrang vor allen anderen Ermittlungen. Unglücklicherweise können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht an die Öffentlichkeit treten, da die Gefahr einer Panik nicht auszuschließen ist, was katastrophale Folgen haben würde.« »Einverstanden«, sagte Harper. »Dann kann ich also endlich gehen.« »Ganz im Gegenteil, jetzt bleiben Sie erst recht hier. Nachdem wir Sie haben, möchten wir Sie auch behalten. Wir befinden uns im Kriegszustand, und ich erkläre Sie hiermit als dienstverpflichtet.« »Dann beantrage ich hier in aller Form, uk gestellt zu werden.« »Antrag abgelehnt«, fauchte der General, zu sehr des Ernstes der Lage bewußt, als daß er gemerkt hätte, daß Harper nur Spaß machte. Er ging hinter den Tisch, setzte sich, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Unsere Luftwaffe hat alle einsatzfähigen Maschinen aufgeboten, den Landeplatz des Raumschiffes zu finden. Alle Privatmaschinen sind aufgefordert worden, sich an der Suche zu beteiligen. Wir haben die Leichen des Mädchens und des Funkstreifenbeamten beschlagnahmen lassen und sie einem Team von Ärzten und Wissenschaftlern übergeben, die sie untersuchen sollen. Alles Menschenmögliche ist bereits veranlaßt oder wird in Kürze veranlaßt werden. Im Augenblick stellt sich die Frage: Was fangen wir mit Ihnen an.« »Mit mir?« »Ja. Eine Menge Fragen sind noch unbeantwortet. Erstens: Haben Sie eine Erklärung für Ihre telepathischen Kräfte? Können Sie sagen, wie diese entstanden sind?«
»Nein.« »Sie waren also plötzlich da?« »Soweit ich mich erinnere, wurde ich mit diesem Talent geboren.« »Hm!« Conway war mit der Antwort nicht zufrieden und fuhr fort: »Wir stellen Nachforschungen über das Leben Ihrer Eltern und Großeltern an. Wir müssen einfach, sofern das möglich ist, feststellen, wieso Sie das sind, was Sie sind.« »Was mich betrifft«, bemerkte Harper, »sind mir die Ursachen ziemlich gleichgültig. Sie haben mich nie interessiert.« »Aber uns interessieren sie. Wir wollen so schnell wie möglich herausbekommen, ob es von Ihrer Art noch weitere gibt, und, wenn dem so ist, wie viele. Außerdem müssen wir eine Methode entwickeln, diese Personen ausfindig zu machen und ihre Talente in den Dienst der Regierung zu stellen, bis diese Sache ausgestanden ist.« »Und später, wenn alles vorüber ist, werden Sie Ihre Notstandsmaßnahmen auch auf diese Leute ausdehnen«, sagte Harper. »Dann werden Sie sich nämlich einen Weg ausdenken müssen, sie unter Verschluß zu halten, bis sie wieder gebraucht werden.« »Jetzt hören Sie mal –« »Ich weiß, was Sie denken, vor mir können Sie das nicht verbergen. Ich weiß, daß sich die Staatsgewalt in einem Dilemma befindet. Ein Telepath bedeutet eine Bedrohung für diejenigen, die an der Macht sind, ist aber gleichzeitig eine Waffe gegen einen Feind, wie er uns zur Zeit bedroht. Sie können das eine nicht verhüten wollen, ohne das andere aufzugeben. Aufgabe der Gedankenautonomie, oder geistige Verskla-
vung unter den venusischen Eindringlingen. Sie stekken in einer Sackgasse, die gar keine ist, sondern nur eingebildet und eine Folge der Denkweise des nichttelepathischen Geistes.« Conway machte keinen Versuch, sich mit Harper über die rigorose Enthüllung seiner Gedanken zu streiten. Er saß schweigend da, hörte Harper mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck zu und sprach erst, nachdem Harper seine Ausführungen beendet hatte. »Worauf stützen Sie Ihre Behauptungen, diese, wie Sie sagen, Sackgasse sei bloß eingebildet?« »Weil alle die zahllosen, von sich maßlos überzeugten Menschen auf dieser verrückten Welt unweigerlich den Schluß ziehen, daß jeder, der wesentlich anders ist als sie selbst, automatisch ein Bösewicht sein muß. Es stärkt das lädierte Selbstbewußtsein, wenn man die Dinge unter diesem Gesichtswinkel betrachtet. Jeder Mensch ist sein eigenes Vorbild an Tugend und Güte.« Harper blickte den General finster an und fuhr mit Ironie in der Stimme fort: »Die Moralbegriffe eines Telepathen sind genauso gut wie die eines jeden anderen Menschen, vielleicht noch ein bißchen besser, weil er es schwerer hat, mit den an ihn herangetragenen Versuchungen fertigzuwerden. Ich taste nicht die Gedanken anderer Menschen ab, sofern dies nicht unumgänglich ist. Und ich höre auch nichts, was ich nicht hören will, wenn man mich nicht gedanklich anbrüllt.« Der General war klug genug, Harpers unverblümte Ansichten so zu akzeptieren, wie sie gemeint waren. Er war sogar beeindruckt und machte kein Hehl daraus. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah Harper jetzt in einem anderen Licht.
»Wir haben uns inzwischen sehr eingehend über Sie informiert. Sie haben also die letzten Gedanken des Funkstreifenpolizisten Alderson über eine Entfernung von ungefähr sechshundert Metern vernommen. Ohne daß Sie gelauscht haben, nehme ich an.« »Ich hörte seinen Todesschrei. Auf der Wellenlänge der Gedanken ist das so laut wie ein mit menschlichen Stimmbändern erzeugtes Brüllen. Es war gar nicht zu überhören.« »Sie haben in der Vergangenheit der Polizei wertvolle Hinweise auf gesuchte Verbrecher gegeben. Inzwischen ist klar geworden, wieso Ihnen das möglich war. Aber lauschen tun Sie nicht?« »Der menschliche Geist kann Schuldgefühle nicht unterdrücken. Und Angstgefühle sind so deutlich wahrnehmbar wie das Brüllen eines Stiers.« »Gibt es Gedanken, die so verhalten oder leise sind, daß sie Ihrer Aufmerksamkeit entgehen?« »Ja – normale, alltägliche, unschuldige Gedanken.« »Und denen hören Sie nicht zu?« »Warum um alles in der Welt sollte ich? Wenn Sie in ein Restaurant gehen, versuchen Sie dann etwa auch, jedes in Ihrer Umgebung gesprochene Wort mitzubekommen? Interessiert Sie, wenn Sie sich in einer größeren oder kleineren Gruppe von Menschen bewegen alles was da gesprochen und gesagt wird? Wollte ich mich bemühen, jeden einzelnen Gedanken aufzufangen, würde ich sehr bald in der Irrenanstalt landen. Ununterbrochenes und nie endendes Gedankengeplätscher ist eine Qual für einen Telepathen, wenn er sich nicht dagegen verschließt.« Conway war inzwischen zu drei Vierteln von der
absoluten Aufrichtigkeit Harpers überzeugt. Er hatte sein Denkschema ganz erheblich justieren müssen. Er begann wieder mit den Fingern auf den Schreibtisch zu trommeln, blickte erst Benfield fragend an und dann Jameson. Die beiden machten sofort Gesichter, als seien sie nicht zuständig oder als ginge sie die ganze Sache überhaupt nichts an. »Wenn ich richtig verstanden habe«, fuhr Conway fort, »dann ist Ihnen bis heute kein anderer Telepath begegnet.« »Nein«, entgegnete Harper, der dies bedauerte. »Aber wenn zwei Telepathen aneinander vorübergingen, mit abgeschirmter Rezeption, würde doch keiner von der Existenz des anderen etwas erfahren?« »So ist es vermutlich. Aber spüren könnte ich es nicht. Falls unsere gedankliche Ausstrahlung intensiver ist als die eines normalen Menschen –« »Ja, aber die Tatsache, daß Sie bis heute noch keinen anderen Telepathen gefunden haben, schließt nicht aus, daß es in dieser Stadt fünfzig oder hundert weitere Telepathen gibt.« »Ich halte das für unwahrscheinlich, möchte aber die Wahrscheinlichkeit nicht von vornherein ausschließen.« »Kennen Sie den Wirkungsradius Ihrer Fähigkeiten?« fragte Conway. »Der Radius beträgt etwa achthundert Meter. Er schwankt von Zeit zu Zeit. Es gab Fälle, da konnte ich Gedanken empfangen, deren Ursprung dreimal so weit entfernt lag. Manchmal sinkt der Radius auf hundert Meter oder sogar darunter ab.« »Kennen Sie den Grund dieser Schwankungen? Liegt es an der Umgebung? Gebäuden, die Gedanken
abschirmen, oder an etwas Ähnlichem?« »Ich habe noch keine Versuche dieser Art angestellt und kann es auch nicht mit Gewißheit sagen. Die jeweilige Umgebung hat allerdings keinen Einfluß auf meine Fähigkeit, Gedanken zu empfangen.« »Aber eine Theorie haben Sie, wie solche Schwankungen zustande kommen können?« stieß Conway nach. »Ja«, gab Harper zu. »Ich nehme an, daß der Wirkungsradius meiner Fähigkeit, Gedanken zu empfangen, von der Ausstrahlungskraft der jeweils anderen Person abhängt. Je höher die Leistung ist, mit der er seine Gedanken aussendet, desto größer ist mein Wirkungsradius. Sendet eine Person mit schwächerer Leistung, reduziert dies die Entfernung. Wie ich bereits angedeutet habe, wird man dies nur aufgrund von wissenschaftlich durchgeführten Untersuchungen genau feststellen können.« »Wären Sie bereit, sich solchen Tests zu unterziehen?« »Nein«, sagte Harper entschlossen. »Warum nicht?« »Das Problem, mit dem wir uns zur Zeit zu beschäftigen haben, lautet nicht: Was soll man mit den Telepathen anstellen? Unsere Probleme sind vielmehr die eingedrungenen Venusier. Als Versuchskaninchen gebe ich mich nicht her. Kümmern Sie sich lieber um die Leute, hinter denen Sie her sind. Die haben schon eine Menge Unheil gestiftet, und das haben sie auch in Zukunft vor. Ich habe lediglich den Fehler begangen, der Öffentlichkeit einen Dienst erweisen zu wollen.« »So, wie Sie es auffassen, war das gar nicht ge-
meint«, versuchte der Offizier Harper zu besänftigen. »Wir wissen Ihre Handlungsweise sehr wohl zu schätzen. Das einzige Negative daran ist nur, daß wir noch nicht zufrieden sind. Wir brauchen auch weiterhin Ihre Unterstützung. Wir sind auf Ihr Talent und Ihre volle Unterstützung angewiesen. Tatsache ist, daß unsere Abhängigkeit von Ihnen so groß ist, daß wir es für unser Recht ansehen, Ihre Mitarbeit zu verlangen.« »Und was verlangen Sie von mir?« »Wir müssen alles über Sie wissen, und später werden wir sogar Ihre Mitarbeit brauchen.« »Also gut, fangen Sie an. Keiner soll sagen können, Wade Harper habe nicht leiden können, ohne zu klagen.« Conway wandte sich an Benfield. »Schalten Sie das Aufnahmegerät ein.« Dann sagte er zu Harper: »Was nun folgt, ist von größter Wichtigkeit. Ich möchte, daß Sie meine Fragen so präzise wie möglich beantworten. Was hat Sie dazu veranlaßt, Jocelyn Whittingham zu erschießen?« »Eine schwierige Frage«, entgegnete Harper. »Es ist nicht einfach, Ihnen die Antwort darauf verständlich zu machen. Es wäre genauso, als wollte ich einem Menschen, der blind geboren wurde erklären, wie eine Rose aussieht.« »Versuchen Sie es trotzdem.« »Also probieren wir es mit einem Vergleich; Sie befinden sich mit Ihrer Frau im Schlafzimmer. Auf Ihrem Nachtkästchen entdecken Sie ein Ihnen unbekanntes Schmucketui. Sie sind neugierig und öffnen es. In dem Etui befindet sich eine giftige Viper. Die Schlange sieht Sie im selben Augenblick. Das Reptil
stößt auf Sie zu. Trotz Ihrer großen Überraschung handeln Sie augenblicklich. Sie schleudern das Reptil auf den Fußboden und zertreten es. So ähnlich war es bei Jocelyn Whittingham.« »Ich verstehe.« Conway blickte ihn nachdenklich an. Dann fragte er: »Können Sie jetzt Ihre Erklärung etwas mehr auf den konkreten Fall ausrichten?« »Sie ging die Treppe von der Straße zum Hauseingang hinauf. Ich wußte: Sie war die Person, die ich suchte. Ich schickte einen Gedanken aus, sie zu identifizieren. Im Augenblick der Gedankenberührung wußte ich, was ich berührt hatte. Sofort –« »Was hatten Sie berührt?« unterbrach ihn Conway. »Etwas Nichtmenschliches. Genauer kann ich es nicht beschreiben. Es war so, als hätte ich ahnungslos mit der Hand irgend etwas völlig Fremdartiges berührt. Das Gedankenfeld eines nichtmenschlichen Wesens. Es fühlte meine Berührung im gleichen Augenblick. Das war eine weitere Bestätigung meines Verdachts, wenn es einer solchen überhaupt bedurft hätte, denn kein normaler Mensch ist in der Lage, Gedankenberührung zu spüren. In diesem Sekundenbruchteil erkannte ich mehrere Dinge auf einmal. Erstens wußte sie nicht, woher diese Gedankenberührung kam. Über einen Richtungssinn, so wie ich ihn besitze, verfügte sie nicht. Aber sie schloß ganz zutreffend darauf, daß ich es sein mußte, da sie mich deutlich sehen konnte und ich inzwischen begonnen hatte, auf sie zuzulaufen.« »Sie hat es aus Ihren Handlungen geschlossen, genau gewußt hat sie es nicht?« stellte Conway klar. »Wollen Sie damit andeuten, daß sie nicht fähig war, die Gedanken anderer zu lesen?«
»Nichts deutete darauf hin. Da war nur dieses hochempfindliche Wahrnehmungsvermögen, das, so vermute ich jedenfalls, unter nicht erdähnlichen Verhältnissen entwickelt worden sein mußte. Sie wußte mit hundertprozentiger Gewißheit, daß eine ihr fremdartige und feindlich gesonnene Gedankenkraft ihre Tarnung durchdrungen hatte. Ihre panische Gedankenreaktion war die, daß sie unter allen Umständen die Flucht ergreifen mußte, daß sie die anderen warnen mußte, weil diese von der Gefahr nichts ahnten, entdeckt werden zu können.« »Aha!« sagte Conway mit aufkeimender Hoffnung. »Sie kannte also den Aufenthaltsort dieser anderen. Sie wußte, wie man sich mit ihnen in Verbindung setzt.« »Wenn dem so war«, sagte Harper, »dann haben es mir ihre Gedanken allerdings nicht verraten. Es ging alles zu schnell. Wir standen beide unter dem Schock des ersten Zusammentreffens. Ihre Gedanken schrien: Flucht, Flucht, Flucht!, während mir meine den Befehl gaben: Halt sie auf, halt sie auf... töte sie, töte sie! Ich schoß sie nieder, ohne jede menschliche Regung. Ich hatte völlig vergessen, daß sie eine Frau war, das heißt, daß sie bis vor kurzem eine Frau gewesen war. Jetzt war sie etwas ganz anderes, etwas Fremdartiges, das unschädlich gemacht werden mußte, ohne Rücksicht auf die Folgen. Ich zielte auf ihren Kopf und schoß das Magazin meiner Waffe leer. Ich nahm wahr, wie der fremdartige Gedankenstrom versiegte und völlig aufhörte. Das zeigte mir, daß diese Wesen sterben können wie jedes andere Lebewesen.« »Dann sind Sie weggegangen, ohne sich die Leiche anzusehen?«
»Ja. So schnell ich nur konnte. Mir blieb keine Zeit, mich noch länger in dieser Gegend aufzuhalten. Ich wollte nicht, daß mich die Polizei erwischte, denn die hätte keine Kenntnis von den Zusammenhängen gehabt, und ich wäre unweigerlich in eine Irrenanstalt eingewiesen worden.« »Wäre es nicht einfacher gewesen, Sie hätten uns angerufen?« »Was glauben Sie wohl, wie weit ich damit gekommen wäre? Mein Anruf wäre niemals bis zu Ihnen durchgedrungen, und irgendeiner Ihrer Untergebenen hätte versucht, mich möglichst lange am Telefon festzuhalten, um der Polizei Gelegenheit zu geben, mich einzukreisen. Es war schon schwer genug, persönlich zu den richtigen Leuten vorzudringen. Und dabei hatte ich noch Glück. Das Tor zum Paradies kann nicht schwieriger zu erreichen sein.« Keinem der Leute, die ihm zuhörten, gefiel diese letzte Bemerkung, aber sie mußten zugeben, daß sie nicht unberechtigt war. General Conway räusperte sich, kam zu dem Schluß, daß es keine Möglichkeit gab, den Instanzenweg zu verkürzen, und fuhr fort: »Sie haben also Kontakt mit einem fremdartigen Wesen hergestellt. Soweit wir wissen, sind Sie der einzige, dem das bisher geglückt ist. Zumindest können Sie darüber berichten. Können Sie Ihren Erklärungen noch etwas hinzufügen, das uns unter Umständen hilft, die Natur dieser Gefahr zu durchschauen?« »Ich habe dieses Wesen selbst nicht gesehen. Lediglich seine Tarnung, seine Verkleidung als Mensch. Es genau zu beschreiben ist mir daher nicht möglich.« »Ich verstehe. Aber dennoch müssen Sie doch irgendeinen Eindruck gewonnen haben.«
Harper dachte darüber nach und gab zu: »Ja, das stimmt.« »Dann beschreiben Sie uns diesen Eindruck. Und mag er noch so ungenau und flüchtig sein, wir brauchen alles, was wir an Daten zusammentragen können.« »Ich wußte – warum, das könnte ich nicht sagen –, daß es ein ganz natürlicher Vorgang war, wenn dieses fremde Wesen einen anderen Körper sozusagen übernimmt. Um es deutlicher auszudrücken: Ich wußte mehr oder weniger instinktiv, daß das Wesen mit Jocelyn Whittinghams Körper durch seine natürlichen Eigenschaften dazu in der Lage war, dies zu tun, daß es mit diesem Vorgang völlig vertraut und voll im Besitze dessen war, was es sich angeeignet hatte. Die Whittingham war Mensch von der kleinen Zehe bis zum winzigsten Haar auf ihrem Kopf – bis auf eine Einzelheit. Der Lebensfunke war ausgetauscht worden.« »Was darauf schließen läßt, daß es sich bei diesem fremden Wesen um eine parasitäre Lebensform handelt«, sagte Conway. »Es existiert normalerweise in Symbiose mit einer anderen Lebensform.« »Ja. Und es besitzt sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiet.« »Was wiederum vermuten läßt, daß es mit der Übernahme eines anderen Körpers gleichzeitig Zugang zu dem im Gehirn des gastgebenden Körpers gespeicherten Wissen erhält, also über alle Kenntnisse dieses Körpers verfügt, über sein Gedächtnis, seine Erinnerung und so weiter.« »Zweifellos. Anders könnte es gar nicht überleben. Es würde sich im Körper des anderen sofort verraten.«
Der General wandte sich an Benfield und sagte: »Daraus läßt sich schließen, daß es auf der Venus Lebensformen gibt, von denen einige die idealen Gastkörper dieses Parasiten sind. Außerdem schließen wir daraus, daß dieser Parasit in der Lage ist, sich auch in einer höherentwickelten Lebensform einzunisten, als er es von Haus aus gewöhnt ist. Er verfügt über eine enorme Anpassungsfähigkeit und kann, um es einmal so auszudrücken, sich auf der Leiter des Entwicklungsprozesses stufenlos bewegen.« Benfield nickte. Conway fuhr fort: »Der Parasit ist entweder mikroskopisch klein, oder von der Beschaffenheit eines Bazillus. Das ist allerdings nur eine Vermutung. Ich überlasse es den Fachleuten, darüber Gewißheit zu erlangen.« »Es würde uns ein gutes Stück weiterhelfen, wenn sich feststellen ließe, auf welche Weise das Mädchen vom Eindringling beherrscht wurde«, sagte Harper. »Vielleicht gibt ihr Körper Aufschluß darüber.« »Das wurde bereits veranlaßt. Wir haben die Leiche beschlagnahmen lassen, ohne Rücksicht auf die Proteste ihrer Angehörigen.« Harper blickte den General überrascht an. Die Erregung spiegelte sich in seinen Augen. »Wer hat am heftigsten dagegen protestiert?« Conway wollte zu dem vorher Gesagten noch etwas hinzufügen, wurde aber durch Harpers offensichtliche Erregung daran gehindert. »Warum fragen Sie das?« »Wir Venusier müssen doch zusammenhalten.« »Wollen Sie mit dieser seltsam klingenden Bemerkung andeuten –«
»Genau. Genau das, was Sie denken.« Conway preßte die Lippen zusammen, griff nach dem Telefon und befahl: »Alle Angehörigen dieser Whittingham sind sofort an einen sicheren Ort zu bringen. Nein, nicht zu verhaften. Eine Anklage liegt nicht vor. Sagen Sie den Leuten, es geschieht zu ihrem eigenen Schutz. Häh? Falls sie einen Rechtsanwalt einschalten und Haftbeschwerde einlegen, schicken sie ihn gleich zu mir.« »Ich fürchte, damit kommen wir nicht weiter«, bemerkte Harper. »Falls einer oder mehrere von den Whittinghams nicht mehr von dieser Welt sind, dann helfen Sie ihnen auf diese Weise, einen venusischen Brückenkopf auf der Erde zu bilden.« »Dieses Risiko müssen wir eingehen.« »Nicht unbedingt. Stecken Sie jeden von ihnen einzeln in einen Raubtierkäfig und lassen Sie ihnen das Essen mit langen Stangen hineinschieben. Sie dürfen auf keinen Fall mit den Leuten in Berührung kommen, die auf sie aufpassen sollen.« »Das wäre ein flagranter Verstoß gegen ihre Rechte als freie Bürger eines freien Landes. Damit kämen wir nur durch, wenn wir mit unserem Problem an die Öffentlichkeit treten und unsere Handlungsweise rechtfertigen würden. Dazu müßten wir die Katze aus dem Sack lassen, und das wollen wir nicht. Noch nicht.« Er blickte Harper an, als wollte er ihn fragen: Und welche Lösung schlagen Sie vor? Harper hatte eine. »Sagen Sie den Whittinghams die Wahrheit. Sagen Sie ihnen, daß Jocelyn gestorben ist, weil sie von einer neuartigen, ungeheuer bösartigen und ansteckenden Krankheit befallen war. Man müsse sie unter Qua-
rantäne stellen, bis sich herausgestellt habe, daß sie nicht auch infiziert seien.« »Das soll ich den Leuten sagen, wo sie doch wissen, daß Jocelyn erschossen wurde?« »Sagen Sie ihnen, daß ich die Krankheit habe. Mörderischer Wahnsinn habe mich befallen, und ich hätte Jocelyn berührt und angesteckt. Es sei ihr Glück, daß sie es nicht überlebt habe. Bei allen, die ihre Leiche nachher berührt hätten, müsse erst festgestellt werden, daß sie nicht ebenfalls angesteckt worden seien. Lügen Sie das Blaue vom Himmel herunter, aber schüchtern Sie diese Leute gründlich sein. Irgendeine Bestimmung im Seuchengesetz muß eben entsprechend ausgelegt werden, um die juristische Grundlage dafür zu liefern, diese Leute unter Quarantäne zu stellen. Dann kann keiner kommen und sagen, hier würden die einfachsten Menschenrechte verletzt. Keiner wird riskieren wollen, sich selber anzustecken. Und im Grunde ist es gar keine Lüge, die Sie propagieren müssen.« »Gar keine schlechte Idee«, sagte Conway und griff wieder nach dem Telefon. Nachdem er zuerst seine Anweisungen erteilt hatte, sagte er: »Professor Holzberger kann Ihnen die nötige medizinische Begründung liefern. Sie muß überzeugend sein, wir wollen allerdings nicht so dick auftragen, daß alles in Panik ausbricht.« Er legte auf und sagte zu Harper: »Und was jetzt?« »Sobald wir Gelegenheit haben, möchte ich mir die Leute ansehen. Stelle ich fest, daß sie nicht besessen sind, lassen Sie sie pro forma ärztlich untersuchen, dann schicken Sie sie nach Hause. Die werden so froh sein, ungeschoren davongekommen zu sein, daß sie
völlig vergessen zu protestieren.« »Und wenn einer von ihnen besessen ist?« »Das werde ich auf Anhieb wissen. Er übrigens auch. Er muß unter allen Umständen unter Verschluß gehalten werden. Nachdem ihr die anderen nach Hause geschickt habt, führt ihr an ihm eine Vivisektion durch. Das können Sie ruhigen Gewissens tun. Für die Menschheit ist er längst gestorben. Es wäre genauso, wie wenn Sie eine Leiche auseinandernähmen. Vielleicht gelingt es den Chirurgen, den Fremdkörper zu isolieren, der sich bei ihm eingenistet hat.« Conway saß da und runzelte die Stirn. Jameson sah aus, als müsse ihm jeden Augenblick das Mittagessen hochkommen. Benfield schien auch nicht gerade glücklich zu sein über die Aussichten, die die Zukunft noch barg. Er stellte sich vor, wie es sein mußte, wenn der eigene Körper plötzlich anderen Befehlen gehorcht. Das Läuten des Telefons befreite Conway aus der Verlegenheit, auf Harpers Vorschlag eine passende Antwort zu geben. Er griff nach dem Hörer, hörte zu, dann gab es ihm einen Ruck, und er fragte: »Wer? Wann ist das passiert? Ja, ja, tun Sie das auf alle Fälle.« Er legte auf. »Ist etwas?« fragte Harper. »Sie wissen doch, was los ist. Sie haben meine Gedanken gelesen, während Sie registrierten, was mir soeben gemeldet wurde.« »Ich habe nicht zugehört. Ich war mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ich kann nicht beides gleichzeitig tun, nachdenken und auf die Gedanken anderer Leute achten.« »Einer der Zeugen ist tot; der alte Mann von der Tankstelle.«
»Ermordet?« »Ja. Es geschah schon vor zwei Stunden, aber sie haben ihn erst vor einer Viertelstunde gefunden. Der oder die Täter haben einen beachtlichen Vorsprung.« Conway blickte Jameson fragend an. »Ich bin in dieser Sache nicht ganz kompetent. Sie haben in solchen Dingen mehr Erfahrung. Könnte das Zufall sein?« »Wie wurde er umgebracht?« stellte Jameson die Gegenfrage. »Als sie ihn fanden, lag er neben den Benzinpumpen. Man hatte ihm mit einem einzigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand den Schädel zertrümmert. Man berichtet mir, es habe so ausgesehen, als wenn er nach dem Füllen des Tanks vor dem Kassieren niedergeschlagen worden wäre.« »Könnte man auf Raubmord schließen? Hat man seine Taschen geleert oder die Kasse geplündert?« »Nein.« »Hm! Das will nicht heißen, daß die Täter nicht doch hinter seinem Geld her waren«, sagte Jameson. »Vielleicht sind sie aufgescheucht worden und mußten fliehen. Vielleicht waren es Jugendliche, die sich mit einem gestohlenen Wagen auf einer Spritztour befanden und denen das Benzin auszugehen drohte. Die haben ihm vielleicht nur eins über den Schädel geben wollen, weil sie nicht bezahlen konnten, ohne jedoch die Absicht zu haben, ihn zu töten.« Er machte einen spitzen Mund, während er nachdachte, dann fuhr er fort: »Diese einsam gelegenen Tankstellen waren schon immer stärker gefährdet als andere. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß dies ein Zufall ist, der mit unserem Fall nichts zu tun hat. Wir würden wahrscheinlich nur Zeit verlieren und nichts er-
reichen, wenn wir ihm eine besondere Bedeutung zumäßen.« Conways Aufmerksamkeit wandte sich Harper zu. »Wie sehen Sie die Sache?« »Wenn die Venusier den alten Mann erschlagen haben, um ihm den Mund zu stopfen, dann sind sie zu spät gekommen. Er hat die drei Piloten identifiziert und durch seine Aussage die Großfahndung ausgelöst. Aber daß dies alles schon geschehen war, wußten sie nicht, als sie ihn umbrachten.« »Sie glauben also, es waren die drei Gesuchten, und ein Zufall scheidet aus?« »Nein«, sagte Harper, »nicht ganz. Jameson hat uns gesagt, wie er die Sache sieht. Ich möchte nur die andere Möglichkeit aufzeigen. Wenn die drei die Identität des Mädchens kennen, das sie umgekrempelt haben, dann haben sie inzwischen auch erfahren, daß sie tot ist. Das muß ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein. Daß zwei und zwei vier sind, gilt wahrscheinlich auch auf der Venus. Die drei addieren also die Fakten und kommen zum richtigen Ergebnis: Jemand muß der Whittingham auf die Schliche gekommen sein. Fragt sich nur, wer?« »Folglich –?« »Sie wissen, daß im ganzen Land zur Jagd auf sie geblasen werden wird, sofern es ihnen nicht gelingt, die Spur zu verwischen. Auch das dürfte nur noch ausreichen, ihnen einen Zeitgewinn einzubringen, aber mehr als einen Zeitgewinn brauchen sie nicht. Gelingt es ihnen, den Zeitpunkt ihrer Gefangennahme lang genug hinauszuschieben, haben sie gewonnen. Zahlreiche Leute haben sie in dem Thunderbug ge-
sehen – aber nur zwei in Begleitung des Mädchens. Und nicht nur das. Diese zwei hatten Gelegenheit, sie sich genauer anzusehen. Es sind dies Alderson und der Alte von der Tankstelle. Ersterer konnte sich keine Fotos mehr ansehen, weil er längst tot war. Letzteren ebenfalls in diesen Zustand zu versetzen, kann den Absichten der drei nur dienlich gewesen sein. So etwa würden sie die Sache sehen. Jedes denkende Wesen, ganz egal woher es stammt, denkt in erster Linie an sich und seine eigene Sicherheit.« »Warum haben sie dann den Tankwart nicht schon früher unschädlich gemacht?« fragte Conway. »Wenn sie die Täter waren, dann sind sie drei bis vier Stunden zu spät gekommen.« »Vergessen Sie nicht, daß die drei die Nachricht von Jocelyn Whittinghams Tod wahrscheinlich nur aus der Zeitung, über den Rundfunk oder im Fernsehen erfahren haben können. Ich bin, nachdem ich sie erschossen hatte, auf dem schnellsten Weg hierhergekommen. Erst dann wurde die Fahndung nach ihnen ausgelöst. Inzwischen hatten sich die drei bereits auf den Weg zur Tankstelle gemacht. Ich nehme an, daß es ein ziemlich weiter Weg war, und selbst in unserer modernen Welt braucht man Zeit, um Entfernungen zu überbrücken. Außerdem durften sie die Vorsicht nicht außer acht lassen.« »Möglich wär's«, sagte Conway, der von Harpers Ausführungen nicht völlig überzeugt war, und blickte zu Benfield hinüber. »Was meinen Sie?« »Ich glaube, wir sollten nach dem Prinzip verfahren, nichts außer acht zu lassen.« »Das ist die richtige Einstellung«, lobte Harper. »Bei diesem Riesenaufgebot an Polizei und Militär
wird es doch nichts ausmachen, wenn wir ein paar Leute auf diesen Mordfall ansetzen. Die paar Leute würden uns auch nicht vor dem Untergang bewahren.« Conway hatte kein Verständnis für diese Art von Humor, die ihm zu sehr nach Sarkasmus schmeckte. Aber Harpers Bemerkung erfüllte ihren Zweck, indem sie den General zum Handeln veranlaßte. Als er zum Telefon griff, merkte man ihm an, daß er den Apparat am liebsten an die Wand geworfen hätte. »Williams, es betrifft den Mord an der Tankstelle. Gehen Sie der Sache nach. Ich bin für eine gründliche Untersuchung. Ja, dieser Fall hat Priorität. Er könnte mit unserer Großfahndung zusammenhängen. Wenn das der Fall ist, dann muß sich mindestens eine der gesuchten Personen heute in der Gegend aufgehalten haben. Halten Sie mich persönlich auf dem laufenden.« Er legte auf und blickte die anderen im Raume herausfordernd an. »Das wär's also. Mehr können wir nicht tun, bis die erste Festnahme erfolgt ist. Hoffentlich kriegen wir ihn lebend.« »Und hoffentlich führt uns der eine auf die Spur der anderen«, ergänzte Benfield. »Unter den gegebenen Umständen bin ich sogar bereit, mich als Köder anzubieten«, sagte Harper. »Wie wir Sie einsetzen werden, darüber bestimme ich«, entgegnete Conway etwas ungehalten. »Schließlich sind Sie unsere einzige wirkungsvolle Waffe. Ihr erster Auftrag wird es sein, die Angehörigen von Jocelyn Whittingham zu überprüfen. Wenn das geschehen ist, entscheiden wir, was als nächstes kommt.« »Dann laßt uns gehen.« Harper winkte General
Conway vertraulich zu, worauf dieser unwillkürlich hörbar einschnappte, was wiederum Harper zu einem Lächeln reizte. Nachdem Jameson und er draußen waren und beide unten in den Wagen stiegen, sagte Jameson: »Sie sollten den alten Haudegen wirklich nicht so provozieren. Er hat Sorgen genug.« »Ich wollte ihm damit nur klarmachen, daß ich den allergrößten Wert auf meine persönliche Entscheidungsfreiheit lege«, sagte Harper mit Schärfe in der Stimme. »Ganz besonders in einem Augenblick, wo man dabei ist, dieses Recht empfindlich einzuschränken. Und ich neige nun mal nicht dazu, vor Ehrfurcht in die Hosen zu machen, auch wenn die Welt daran zu Grunde gehen sollte.« Jameson hatte dem nichts entgegenzusetzen. Sie befanden sich wieder in Jamesons Büro. »Das Beste wird sein, Sie begeben sich so schnell wie möglich in die Stadt, in der die Whittinghams leben«, sagte Jameson. »Sie werden ein Flugzeug nehmen oder einen Helikopter. Setzen Sie sich. Ich kümmere mich inzwischen um ein Transportmittel.« »Sie können übrigens ein weiteres tun und meinen guten Ruf wieder herstellen«, schlug Harper vor. »Lassen Sie die Fahndung nach mir einstellen. Diese Situation gefällt mir nicht, auch wenn ich nichts zu befürchten habe. Irgendein übereifriger Polizist könnte mir über den Weg laufen und versuchen, mich festzunehmen.« »Das alles wird zum gegebenen Zeitpunkt in die Wege geleitet werden. Zwei meiner Leute werden Sie begleiten, dann kann Ihnen nichts passieren.«
»Fürchten Sie etwa, ich könnte es allein nicht schaffen?« »Conway hat's befohlen.« »Also schön.« Als Jameson hinausging, rief Harper ihm nach: »Und ich möchte meine Pistole wieder haben. Sie ist schließlich mein Eigentum.« Zwei Minuten später kehrte Jameson zurück und gab ihm seine Waffe sowie einen Umschlag. »Lesen Sie das durch, während ich Ihnen einen Hubschrauber besorge. Die Flugzeuge sind alle unterwegs.« Er ging wieder hinaus. Harper steckte die Pistole in das Lederhalfter unter seiner linken Achsel, dann öffnete er den Umschlag und zog drei große Hochglanzfotos heraus. Auf der Rückseite eines jeden standen Angaben zur Person. Er sah sich die drei Männer genau an, dann las er ihre Beschreibung. Der erste war William Gould, 28, Testpilot, ein blondhaariger, kräftig gebauter junger Mann mit angenehmen Gesichtszügen. Er wog, das stand auf der Rückseite des Fotos, fünfundachtzig Kilo, und auf seiner linken Schläfe hatte er eine kleine, halbmondförmige Narbe. Der zweite Mann hieß Cory McDonald, 24, war schwarzhaarig und schlank, ausgebildeter Testpilot und Computerfachmann, fünfundsiebzig Kilo schwer, ohne besondere Kennzeichen. Das dritte Foto war das eines ernst in die Kamera blickenden, fünfundzwanzig Jahre alten Mannes, der Earl James Langley hieß und Testpilot und AstroNavigator war. Er hatte schwarzes Haar, wog neunundsiebzig Kilo und hatte ein kleines Muttermal auf dem rechten Schenkel und weiße Narben auf beiden Kniescheiben.
»Gould, McDonald und Langley«, sagte Harper zu sich selbst, während er die Fotos betrachtete und sich die Gesichter einprägte. »Gould, McDonald und Langley. Drei anständige junge Männer, die auszogen, einen Planeten zu erobern, und mit dem Teufel im Leib zurückgekehrt sind. Schade drum.« Er fühlte, wie die Wut in ihm hochstieg, als er auf die Fotos blickte. Das Schicksal, das diesen drei jungen Männern widerfahren war, war gemein und brutal. Sie waren ihres Geistes und ihrer eigenen Gedanken beraubt worden. Wenn man sie erwischte, würde man auch ihre Körper vernichten. Sie hatten sich in den Dienst der Menschheit gestellt und waren dabei zugrunde gegangen. Harper zweifelte keinen Augenblick daran, daß er jeden von ihnen wie einen tollwütigen Hund erschießen würde, sollten sie ihm jemals begegnen. Genauso wie er Jocelyn Whittingham erschossen hatte. Für ihn war es einfacher als für die anderen, auf so kaltblütige Weise zu töten. Seine Fähigkeiten erlaubten es ihm, sie so zu sehen, wie sie waren: Ein nach außen hin menschlich wirkender, innerlich jedoch geistig ausgehöhlter Körper, besessen und gesteuert von einer fremden Wesenheit. »Verdammt!« fluchte er laut vor sich hin. »Verdammt!« »Was fluchen Sie denn so durch die Gegend?« fragte Jameson, der gerade hereinkam. »Drei anständige Burschen – und überlegen Sie bloß, was man mit ihnen angestellt hat.« »Zerbrechen Sie sich mal darüber nicht den Kopf. Wir haben ganz andere Sorgen. Überlegen Sie nur, was die anderen Menschen alles antun können.«
»Ich weiß. Aber ich neige dazu, beklagenswerte Dinge zu beklagen.« Er steckte die Fotos wieder in den Umschlag und reichte ihn Jameson. »Gibt es davon kleinere Abzüge? Die hier sind zu groß, um sie in die Tasche zu stecken.« »Wir sind gerade dabei, einige Tausend davon anzufertigen. Sie werden welche bekommen.« Jameson blickte zur Tür. Zwei Männer traten ein. Sie waren jung, schlank, gut angezogen. Beide wirkten zuverlässig und kompetent. Jameson stellte sie vor. »Dan Norris und Bill Rausch. Sie werden es schwer haben, die beiden abzuschütteln.« »Sind das meine Begleiter?« »Ja.« »Hoffentlich langweile ich Sie nicht zu sehr«, sagte Harper. »Wann können wir aufbrechen?« »Sofort«, sagte Jameson. »Ein Heereshubschrauber wartet bereits auf dem Dach.« Begleitet von den beiden schweigenden Sicherheitsbeamten fuhr Harper mit dem Aufzug ins oberste Stockwerk des Gebäudes. Auf dem Dach wartete ein großer Transporthubschrauber, der Platz für dreißig Personen bot. Dreieinhalb Stunden später landeten sie im Garten einer modernen Krankenhausanlage. Ein Sicherheitsbeamter empfing sie, als sie ausstiegen, und stellte sich als Vern Pritchard vor. »Befinden sich die Whittinghams hier?« fragte Harper. »Ja. Die Familie besteht aus fünf Leuten. Sie haben die Geschichte von der akuten Ansteckungsgefahr ohne Murren akzeptiert und sind ohne zu protestieren mitgekommen. Sie fürchten, daß sie in ihren Kör-
pern etwas Entsetzliches ausbrüten und können es kaum erwarten, Gewißheit zu erlangen.« »Hat keiner versucht zu fliehen?« »Nein«, entgegnete Pritchard. »Oder einen Außenstehenden anzurufen?« »Nein.« »Wo befinden sie sich jetzt?« Pritchard zeigte mit der Hand. »In diesem Komplex da drüben.« Harper blickte nachdenklich zu dem Gebäude hinüber, das etwa vierhundert Meter entfernt war. Dann sagte er: »Die sind in Ordnung. Sie können sie gehen lassen.« Pritchard machte ein ungläubiges Gesicht und protestierte: »Aber Sie haben sie ja noch gar nicht gesehen!« »Das brauche ich auch nicht.« »Wie Sie wollen. Ich habe Befehle, Ihre Anweisungen zu befolgen. Ich nehme an, Sie wissen, was Sie tun.« »Richtig. Und ich sage, die sind sauber. Sie können sie gehen lassen.« »Zu Befehl.« Pritchard wußte nicht recht, woran er war. Um sich jedoch für den Fall abzusichern, daß er keinen Fehler machte, wandte er sich an Harpers Begleiter: »Sie beide haben gehört, was er gesagt hat. Sie sind Zeugen.« Die beiden Männer nickten und folgten Harper, der wieder in den Hubschrauber kletterte, während Pritchard zu dem Krankenhausgebäude hinüberging. Der Hubschrauber hob ab und machte sich auf den Rückflug. »Ein Glück, daß nicht alle wissen, was mit mir los
ist«, sagte Harper, was bei den beiden Sicherheitsbeamten einander identische Gedankenfragen auslöste. Ihre Gedanken verrieten ihm, daß sie es ebenfalls nicht wußten. Jameson hatte ihnen nur das unbedingt Notwendige mitgeteilt. Die Behörden versuchten, zwei ungewöhnliche Phänomene vor der Menschheit geheimzuhalten. Sie brauchten den Telepathen, um die außerirdischen Eindringlinge zu bekämpfen. Falls letztere vernichtet waren, würde man entscheiden, wie man der Gefahr begegnen konnte, die der Telepath darstellte.
8 Moira stand wie gelähmt da, als er mißmutig sein kleines Büro betrat, sich hinter seinen Schreibtisch setzte und die Post sortierte, die sich darauf angesammelt hatte. Nach einer Weile blickte er auf und sagte brummig: »Was ist denn? Was haben Sie? Sie tun so, als hätten Sie einen Geist gesehen.« »Nein, Mr. Harper.« Ihre Knie gaben nach und sie setzte sich. Die ganze Zeit schien sie zu lauschen, ob sich nicht das Geräusch von Polizeisirenen näherte, um rechtzeitig in Deckung gehen zu können, bevor die Schießerei anfing. »Und machen Sie endlich den Mund zu. Sie sehen ja aus wie ein frühgotischer Wasserspeier. Wo ist der Bericht der Gesundheitsbehörde über die Zunahme der Ungezieferbelästigung? Die warten dringend auf eine Antwort.« Sie rannte zu einem Aktenschrank, riß die Rollschublade heraus, nahm einen Hängeordner und gab ihn ihm. Ihren konfusen Gedankengängen konnte Harper entnehmen, daß sie sich in der Gesellschaft des schlimmsten Verbrechers aller Zeiten befand und daß gegen diesen Zustand so schnell wie möglich etwas unternommen werden mußte. »Mr. Riley war schon ein paarmal hier«, sagte sie in einem Ton, der als Warnung gedacht war, und in der Hoffnung, daß er sie richtig verstehen würde. »Er sagte, er wolle heute noch einmal anrufen.« »Das trau ich diesem Ungeheuer durchaus zu.« Er blätterte durch die Akte, und sein Gesichtsausdruck
wurde immer finsterer. »Unglaublich! Sechs Wochen habe ich gesagt, nicht sechs Tage. Schreiben Sie, Moira. Sehr geehrte Herren, in Beantwortung Ihrer Anfrage vom gestrigen Tage –« Sie griff nach dem Bleistift und begann hastig zu stenografieren. Er diktierte noch zwei Sätze weiter, wobei er wußte, daß sie ihr Stenogramm nachher nicht würde entziffern können. Er hörte auf zu diktieren und sagte in väterlichem Tonfall: »Kapieren Sie doch endlich, daß ich kein Verbrecher bin und auch nicht gesucht werde. Während ich weg war, habe ich nur hundert Bäuche aufgeschlitzt, und die Leute hatten es alle verdient. Ich werde weder von der Polizei noch von anderen Behörden gesucht. Ganz im Gegenteil. Man behütet mich wie das kostbarste Gut auf der ganzen Erde. Jetzt reißen Sie sich zusammen und konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit. Also noch einmal. Sehr geehrte Herren, in Beantwortung Ihrer Anfrage –« Diesmal klappte es mit der Stenogrammaufnahme. Nachdem Harper zu Ende diktiert hatte, spannte sie einen Bogen in die Schreibmaschine und wollte gerade zu schreiben anfangen, als draußen vor der Bürotür Schritte laut wurden. »Das ist er«, sagte Harper mit unheilschwangerer Stimme. »Verstecken Sie sich unter Ihrem Schreibtisch, wenn die Schießerei losgeht.« Moira saß wie erstarrt, die Hände über der Tastatur der Schreibmaschine. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, ihre schlimmsten Befürchtungen könnten sich bewahrheiten. In ihrem überreizten Zustand glaubte sie jeden Augenblick zu hören, wie er seine Pistole zog.
Sekunden später flog die Tür auf und Riley kam hereingestürmt wie ein Walroß, wie das so seine Art war. Mit zwei Schritten war er vor dem Schreibtisch. Sein Gesichtsausdruck war verkniffen. Er stürzte beide Handflächen auf den Schreibtisch, lehnte sich vor und funkelte Harper böse an. »Und jetzt«, sagte Riley mit heiserer Stimme, »wirst du mir sagen, was hier los ist. Erst wirst du wegen Mordes gesucht, dann plötzlich nicht mehr. Können die sich denn nicht entscheiden, ob du gefährlich bist oder nicht?« »So ist das eben im Leben –« »Ach sei doch still! Ich bin noch gar nicht fertig. Warum nimmt mir das FBI plötzlich meine vier besten Funkstreifenbesatzungen weg? Weshalb läßt man dieses Gebäude vom Keller bis zum Dachboden bewachen, setzt Leute in die gegenüberliegenden Häuser und postiert Wagen an allen Kreuzungen der Umgebung? Warum –« »Wie kommst du eigentlich dazu, aus Moira ein Nervenbündel zu machen, kaum daß ich für einen Tag weg bin?« fragte Harper. »Ich?« Es sah aus, als würde Riley jeden Augenblick der Schaum vor den Mund treten. »Versuch nicht, vom Thema abzulenken. Damit wirst du keinen Erfolg haben. Warum –« »Ich kann mir ganz gut vorstellen, was hier während meiner Abwesenheit los war. Du hast sie bloß anzuschauen brauchen, und das macht jeden nervös«, sagte Harper ungerührt. Riley bekam einen roten Kopf und begann zu schreien: »Ah, so ist das also. Ich verstehe. Du willst nicht sprechen. Und du weißt genau, daß ich dich
nicht dazu zwingen kann. Das macht dir auch noch Spaß. Jetzt ist das eingetreten, worauf du schon so lange gewartet hast. Du kannst mir beweisen, was für ein kleiner Wicht ich doch bin.« Er machte eine Pause und fuhr dann etwas leiser fort: »Würden Eure Lordschaft mir die Gunst erweisen, eine Frage stellen zu dürfen? Nur eine ganz kleine Frage, bitte?« »So sprecht denn«, sagte Harper, wobei er sich bemühte, ein Gesicht zu machen, das er eines englischen Adligen für würdig hielt. »An wen muß ich mich also wegen Auskünften wenden?« »An General Conway.« »Mach Witze!« rief Riley. »Ist es wirklich so schlimm?« »Unglücklicherweise ja. Und wenn man es für richtig gehalten hat, dich im dunkeln tappen zu lassen, dann steht es mir erst recht nicht zu, dich aufzuklären. Wenn ich dir etwas sagte, wäre das als Amtsanmaßung zu verstehen, und soweit ich unterrichtet bin, gilt diese Art der Anmaßung als etwas ganz Abscheuliches. Es ist nichts Geringeres als eine Todsünde. In ihrem Gefolge würden die schlimmsten Dinge über die Menschheit hereinbrechen: Anarchie, Gottlosigkeit, Sittenverfall und was es an üblen Dingen noch alles geben mag. Aber das brauche ich dir ja gar nicht zu erzählen. Du stehst ja selber täglich auf der Schattenseite des Lebens.« Er griff nach einem Brief der bisher unbeantwortet gebliebenen Korrespondenz auf seinem Schreibtisch. »Und wenn du jetzt hinausgehst, dann mach die Tür leise zu. Ich habe das Büro nur gemietet und bin dem Hausbesitzer für alle Schäden an der Einrichtung haftbar.«
Riley bleckte seine großen Zähne. »Bei mir geht alles drunter und drüber. Zwei Einbrüche, ein Raubüberfall und eine Brandstiftung in der vergangenen Nacht. Und man verlangt von mir, daß ich alles ignoriere. Ich habe mich ausschließlich auf die Suche nach drei Männern namens McDonald, Langley und Gould zu konzentrieren. Und dann nimmt man mir noch vier Streifenwagen weg. Vorrang vor allem anderen haben diese drei Brüder, obwohl ich nicht einmal weiß, was man ihnen zur Last legt.« »Die haben Vorrang«, sagte Harper und nickte zustimmend. Riley beugte sich noch etwas tiefer herab und flüsterte: »Komm sei doch mal nett zu mir, sag mir, was die drei ausgefressen haben.« »Da mußt du Conway fragen.« »Du bist ein wahrer Freund«, sagte Riley, stapfte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu, daß es dröhnte. Vier Tage vergingen, ohne daß sich etwas ereignete. Harper hatte Gelegenheit, seiner eigentlichen Arbeit nachzugehen und die Firma vor dem Ruin zu bewahren, aber allmählich begann er sich zu langweilen. Die Fische bissen nicht an. Entweder reizte sie der Köder nicht, oder aber sie hatten sich verzogen. Vielleicht war seine Idee gar nicht so brillant gewesen, wie er anfangs geglaubt hatte. Vielleicht hatte er seiner eigenen Person zu große Bedeutung beigemessen. Vielleicht waren die Pläne der Venusier inzwischen so weit gediehen, daß sie keine Angst mehr zu haben brauchten, vorzeitig entdeckt zu werden. Vielleicht hatten sie sich auch auf der Erde schon so gut eingenistet, daß ihnen Harper und seinesgleichen
völlig gleichgültig geworden waren. Die Tatsache, auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden, hing Harper inzwischen zum Hals heraus. An jeder Straßenecke, an der er vorbeikam, lehnte ein Sicherheitsbeamter. Wenn er in ein Restaurant essen ging, saßen am Nebentisch Beamte vom FBI. Selbst in der Toilette war er nicht allein. Als er am Morgen des fünften Tages in sein Büro kam, hatte sich etwas ereignet, das die Monotonie des Alltags schlagartig verscheuchte. Er hatte kaum die Zeitung aufgeschlagen, als ihm auf der ersten Seite ein Bericht ins Auge fiel. Savannah, Ga. Zu einem heftigen Schußwechsel kam es gegen Mitternacht außerhalb der Stadt, als Sicherheitsbeamte des FBI das Anwesen des Farmers Rankovic stürmten. Zwei Menschen wurden getötet, vier weitere verhaftet. Zwei Personen soll die Flucht gelungen sein. Die zuständigen Behörden lehnen es ab, Einzelheiten bekanntzugeben, solange die Ermittlungen laufen. Es war jedoch in Erfahrung zu bringen, daß das Unternehmen von der FBI-Zentrale in Washington geleitet wurde. Dieser Bericht unterschied sich erheblich von anderen einschlägigen Berichten dieser Art. Normalerweise hätte eine solche Schießerei Schlagzeilen gemacht, hier jedoch wurde sie heruntergespielt. Es wurden keine Namen genannt, bis auf den des Farmers. Außerdem hatte sich der Zwischenfall zu einer Zeit ereignet, als alle Polizeikräfte auf eine ganz bestimmte Sache angesetzt waren, und nur auf diese. Der Zwischenfall konnte also nur damit etwas zu tun haben. Zehn Minuten später hatte Harper Gewißheit, als Jameson aus Washington anrief: »Haben Sie es schon gehört?«
»Ich habe es gerade in der Zeitung gelesen.« »Normalerweise hätte man bereits in den Frühnachrichten darüber berichtet, aber wir haben interveniert. Es ist nicht einfach, die Nachrichtenagenturen zu veranlassen, die Sache herunterzuspielen. Die wollen natürlich wissen, warum uns so sehr daran liegt, und wir dürfen es ihnen nicht sagen.« »Was ist passiert?« fragte Harper, der aufmerksam das Gesicht des anderen auf dem kleinen Bildschirm des Telefons beobachtete. »Ich kann nicht in die Einzelheiten gehen, obwohl ich über eine direkte Leitung mit Ihnen spreche. Einer unserer Leute ist auf Langleys Spur gestoßen und hat sie bis zur Rankovic-Farm verfolgt. Während unser Mann sich mit uns in Verbindung setzte, muß Langley die Farm aber wieder verlassen haben. Jedenfalls war er nicht mehr dort, als der Angriff erfolgte. Der Fuchs hatte den Bau verlassen, aber das Nest war noch warm.« »Pech.« »Es hat zwei Tote gegeben. Ihre Leichen sind schon auf dem Weg nach Washington, wo sie untersucht werden sollen.« Jameson fuhr fort: »Von den vier Festgenommenen streiten drei energisch ab, an der Schießerei teilgenommen zu haben. Sie sagen, sie seien rein zufällig im Haus gewesen, als die ersten Schüsse fielen, und hätten sich versteckt, bis alles vorüber war. Unsere Untersuchungen haben ergeben, daß diese drei keine Waffe abgefeuert haben.« »Und der vierte?« »Er ist der Bruder eines der Männer, die bei der Schießerei umgekommen sind. Er sagt, er habe im Bett gelegen, als der Krawall losging. Er habe sich an-
gezogen, sei hinuntergelaufen ins Erdgeschoß, von wo aus er zusammen mit seinem Bruder und dem anderen Mann die Schüsse auf unsere Leute erwidert habe. Er schwört heilige Eide, keiner von ihnen habe wissen können, daß sie auf Polizisten schossen.« »Klingt glaubhaft«, bemerkte Harper. »Als unsere Leute mit Tränengas schossen, gab er auf. Die anderen beiden waren inzwischen tot. Die vier Festgenommenen haben Langley aufgrund des Fotos identifiziert. Sie wissen nur, daß er zwei Nächte auf der Farm verbracht hat und kurz vor elf Uhr, also eine knappe Stunde vor dem Feuerüberfall, von der Farm verschwunden ist.« »Das hört sich an, als sei er gewarnt worden.« »Das ist unwahrscheinlich. Er hatte einfach Glück. Aber ich rufe nicht nur deshalb an, um Ihnen das alles zu erzählen. Es steckt noch mehr dahinter. Wir hatten das Anwesen umstellt, klopften an die Tür und verlangten Einlaß. Ohne Warnung wurde von innen durch die Tür geschossen. Obwohl also Langley zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Haus war, befand sich jemand darin, der sich nicht erwischen lassen wollte. Was schließen Sie daraus?« »Daß sich Langley einen Kumpel geschaffen hat«, bemerkte Harper. »Ja, und vielleicht nicht nur einen. Zusammen mit Langley hat ein Mann namens Waggoner die Farm verlassen. Der Mann ist uns unbekannt. Wir wissen nur, daß er und Langley jetzt zusammen sind. Wir haben eine ziemlich genaue Beschreibung von ihm erhalten, und die Fahndung gilt jetzt natürlich auch ihm.« »Über die anderen beiden haben Sie nichts erfah-
ren?« fragte Harper. »McDonald und Gould? Nein. In dieser Gegend sind sie nicht gesehen worden. Offensichtlich hat sich die Gruppe getrennt. Sie wollen uns die Suche schwerer machen.« Er machte eine Pause, und Harper konnte auf dem Bildschirm erkennen, daß Jameson etwas zu Rate zog, was auf seinem Schreibtisch lag. »Ich möchte, daß die vier Festgenommenen sofort getestet werden. Vielleicht sind sie nicht das, was sie zu sein vorgeben.« »Soll ich hinkommen?« »Nein. Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir schicken Ihnen die vier mit dem Flugzeug. Sie brauchen sie nur scharf anzuschauen, um zu sagen, ob sie besessen sind oder nicht.« »Das ist kein Problem.« »Danke. Und da ist noch etwas. Bisher hat man Sie in Ruhe gelassen. Wie Sie selber sagten, hinge alles davon ab, ob ihnen die Identität der erschossenen Whittingham bewußt gewesen sei, und ob die Ermordung des Tankwarts mit unserem Fall etwas zu tun habe oder rein zufällig gerade zu diesem Zeitpunkt erfolgt sei. Bis heute weist nichts darauf hin, daß die drei wissen, daß sie gesucht werden. Auch nicht, daß wir wissen, daß ihr Schiff vorzeitig auf die Erde zurückgekehrt ist. Deshalb –« »Hat man das Schiff inzwischen gefunden?« unterbrach ihn Harper. »Nein, weder das Schiff noch eine Spur davon. Es ist unmöglich, es so gründlich zu zerstören, daß man nichts mehr davon finden kann. Es würde Monate dauern, die Rakete in ihre Einzelteile zu zerlegen. Neuerdings vermutet man, daß sie es irgendwo in
der Arktis versteckt oder ins Meer versenkt haben. Wahrscheinlich letzteres. In diesem Fall müssen die drei mit einem Schlauchboot an Land gerudert sein. Wir lassen gerade die Küsten des Landes danach absuchen.« »Gute Idee. Aber Sie erwähnten vorhin, man habe mich bisher in Ruhe gelassen.« »Ich wollte damit sagen, daß sie wahrscheinlich erst gestern nacht erfahren haben, daß wir hinter ihnen her sind. Inzwischen werden sie jedoch gemerkt haben, daß wir fieberhaft nach ihnen suchen. Sie werden sich also fragen, wer oder was die Fahndung ausgelöst hat, und dabei könnten sie, wenn auch verspätet, auf Ihre Person stoßen. Sie sollten also von jetzt an besonders vorsichtig sein.« »Ich werde es Norris sagen«, meinte Harper. »Er ist mein Kindermädchen.« »Das brauchen Sie nicht zu tun. Wenn er dieses Gespräch nicht selbst mithört, wird es ihm in Kürze derjenige sagen, der mithört. Ihr Telefon wird rund um die Uhr abgehört.« »Geschieht das nur zu meinem persönlichen Schutz?« fragte Harper. »Natürlich«, sagte Jameson ohne zu zögern. Er unterbrach die Verbindung, und der Bildschirm wurde dunkel. »Lügner!« brummte Harper und starrte gegen die Wand. »Ihr habt ganz einfach Angst vor mir, und meine Sicherheit kommt erst an zweiter Stelle.« Kurz vor Feierabend trafen die vier Festgenommenen ein. Norris führte sie in die Werkstatt und stellte sie an die Wand. Sie waren mit Handschellen aneinander
gefesselt. Die Tatsache, daß man sie gerade hierher gebracht hatte, war ihnen allen ein Rätsel. Ein halbes Dutzend Sicherheitsbeamte waren mit ihnen gekommen und ließen sie keinen Augenblick aus den Augen. Norris betrat Harpers Büro und sagte: »Sie sind da. Was ist?« »Nichts«, sagte Harper. »Sie sind so normal, daß es schon langweilig ist.« »Okay.« Norris ging hinaus, kam aber bald darauf wieder zurück. »Ich habe drei wegbringen lassen, einer ist noch da. Jameson möchte etwas mehr über ihn wissen. Der Kerl gibt zu, an der Schießerei teilgenommen zu haben, sagt aber, er habe keine Ahnung gehabt, daß er auf Polizisten geschossen habe. Sagt er die Wahrheit?« Harper schob einige Briefe auf seinem Schreibtisch beiseite, mit denen er sich beschäftigt hatte, lehnte sich zurück und schien nachzudenken. Er öffnete seine Gedanken, lauschte, registrierte die Unruhe, die den anderen beherrschte und ihn zu keinem klaren Gedanken befähigte. Er unternahm also einen Vorstoß in die Erinnerung des anderen und stellte fest, daß er die Wahrheit gesagt hatte. »Es stimmt. Er hat einen Schreck bekommen und in Panik gehandelt.« »Das wollten wir nur wissen.« Harper sah Norris nach, als dieser hinausging, dann seufzte er, legte die Briefe auf seinem Schreibtisch in die Schublade und blickte auf die Uhr. Es war Zeit, für heute Schluß zu machen. Um drei Uhr am nächsten Nachmittag trat der Gegner zum erstenmal in Erscheinung. Harper machte
gerade Pause. Er hatte seine Beine auf den Schreibtisch gelegt und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Als Telepath verfügte er über zwei verschiedene Fähigkeiten. Er verglich diese beiden Funktionen seines Geistes gern mit denen des Radios und des Radars. Die Radio-Funktion ermöglichte es ihm, zuzuhören und die Programme zu empfangen, die in der näheren Umgebung ausgestrahlt wurden. Setzte er dagegen seine Radar-Funktion ein, so konnte sein Geist einen Impuls aussenden, der in der Lage war, im Gehirn eines von ihm angepeilten anderen Menschen die gewünschte Reaktion auszulösen. Beim passiven Zuhören ließ er sich wahllos berieseln, und in neunundneunzig von hundert Fällen waren die auf ihn einströmenden Gedanken völlig belanglos. Sie waren so unbedeutend, daß er sie im Grunde gar nicht wahrnahm. Wenn er jedoch hinter etwas ganz Bestimmtem her war, konnte er dem anderen Gehirn einen Denkanstoß geben, und er erfuhr auf diese Weise, was er wissen wollte. Ob er nun die eine Methode anwandte oder die andere, kein menschliches Gehirn merkte je etwas davon. Grundlegend anders war die Sache jedoch im Falle eines venusischen Gehirns. Zum erstenmal hatte er das erfahren, als er mit dem Wesen Gedankenkontakt aufnahm, das sich in Jocelyn Whittinghams Körper eingenistet hatte. Venusische Gehirne waren anders als menschliche. Er konnte ihre Gedankenaussendungen mit seiner Radio-Funktion abhören, ohne daß sie etwas davon merkten. Sobald er jedoch einen Gedankenimpuls aussandte, also die Radar-Funktion einsetzte, merkten sie diesen Eingriff und gingen in Abwehrstellung.
Telepathische Kräfte hatten ihre Grenzen. Das wußte keiner besser als er. Selbst bei seinen Mitmenschen mußte er die Radar-Funktion häufig durch eine persönliche Unterhaltung kaschieren, um durch das gesprochene Wort eine Gedankenreaktion auszulösen. Andernfalls hätte sich die betreffende Person gewundert, wieso ihre Gedanken plötzlich und ohne sichtbare Veranlassung Wege einschlugen, die gar nicht vorgesehen waren. Die Folge eines solchen Umweges über das gesprochene Wort waren oft überflüssige und nutzlose Gedanken, die dem anderen durch das Gehirn zuckten. Diese Methode ließ sich jedoch nicht anwenden, wenn er es mit einem dieser venusischen Eindringlinge zu tun hatte. Erschwert wurde die Situation noch dadurch, daß Harper sozusagen als Zielscheibe diente. Er konnte seine Radio-Funktion einsetzen und lauschen, in der Hoffnung, zufällig den Gedanken eines sich nähernden Feindes aufzuschnappen. Aber mit der Radar-Methode mußte er ganz besonders behutsam umgehen. Schickte er den Gedankenimpuls zu früh aus, würde der andere Gelegenheit haben zu entkommen und seinen Artgenossen die Erkenntnis vermitteln, daß ihre Tarnung zwar das menschliche Auge täuschen konnte, nicht aber den Gedanken. Sandte er den Gedankenimpuls jedoch zu spät aus, könnte das Prekäre der Situation es erforderlich machen, etwas zu töten, was sie gern lebendig in die Hände bekommen wollten. Harper wippte den Stuhl hin und her, der nur auf zwei Beinen stand und unter dem Gewicht des schweren Mannes erbärmlich knarrte. Die letzten beiden Tage hatte er nicht mehr gelauscht. Es wäre zu
anstrengend gewesen. Er konnte ganz einfach nicht mit den Gedanken lauschen und sich gleichzeitig auf seine Arbeit oder etwas anderes konzentrieren. Außerdem hatte er gar keine Veranlassung dazu gesehen. Es genügte, wenn er in kurzen Abständen seinen Geist für ein, zwei Sekunden seiner Umgebung öffnete, sich also auf Stichproben beschränkte. Und während er auf dem Stuhl hin- und herwippte, machte er wieder eine dieser routinemäßigen Stichproben. Mit dumpfen Gepolter landete der Stuhl auf seinen vier Beinen. Bei diesem Geräusch blickte Moira auf, wandte sich jedoch wieder ihrer Arbeit zu, als sie feststellte, daß sein Blick nicht auf sie gerichtet war. Wieder lauschte er, konzentrierte sich auf etwas, das noch sehr weit entfernt war, tausend Meter und mehr, Teil des allgemeinen Gedankenwirrwarrs der Umgebung. Es kam langsam näher. Es bewegte sich mit der Geschwindigkeit eines Menschen, der zu Fuß ging. Die Gedanken unterschieden sich deutlich von denen eines menschlichen Gehirns. Sie waren fremdartig, wie statische Störungen im Funkverkehr. »Norris!« brüllte er. Moira gab es einen Ruck. Sie ließ den Hängeordner fallen, kniete sich nieder, um die Papiere wieder aufzuheben. Die Tür flog auf, und Norris blickte herein. »Was ist los?« »Ich glaube, es ist so weit.« »Ist es –?« »Es kommt zu Fuß. Auf dem Gehsteig. In normalem Tempo.« »Sie bleiben hier!« befahl Norris. Dann rannte er davon.
Harper trat ans Fenster und blickte hinaus. Die Straße lag etwa drei Meter unter ihm. Er schob das Schiebefenster in die Höhe und lehnte sich hinaus, um besser sehen zu können. Daß er auf diese Weise ein ausgezeichnetes Ziel bot, störte ihn wenig. Als Toter nützte er ihnen wenig. Sie wollten wissen, auf welche Weise er sie orten konnte. Und eine Leiche verrät keine Geheimnisse. Unten wimmelte es geradezu von Fußgängern. Sein Richtungssinn sagte ihm, daß der Gedanke, den er wahrgenommen hatte, von links kam, etwa vierbis fünfhundert Meter entfernt war. Auf diese Entfernung war es ihm jedoch noch nicht möglich, zwischen den vielen Leuten die eine Person zu bestimmen. Die Quelle der fremdartigen Gedanken kam immer näher. Dreihundert Meter, zweihundert, hundertfünfzig. Inzwischen war es ihm möglich, seine Aufmerksamkeit auf drei Personen zu konzentrieren: eine Frau, ein dicklicher Herr, offensichtlich wohlhabender Geschäftsmann, und ein schlaksiges Individuum mit einem primitiven Gesicht und einem nachlässigen Gang. Norris trat hinter ihn und sagte: »Wir sind bereit. Können Sie jetzt –?« Harper beachtete ihn nicht. Er sandte einen starken Gedankenimpuls in die Richtung der drei Personen. Fast gleichzeitig spürte er das Ergebnis: Entsetzen, Angstgefühl, den verzweifelten Wunsch zu fliehen und die anderen zu warnen. Die Frau ging weiter, ohne eine Reaktion zu zeigen. Der schlaksige Schlurfer schlurfte schlaksig weiter. Nur der Dickliche blieb stehen, wie vom Schlag ge-
rührt. Er blickte sich suchend um, machte kehrt und ging so schnell das möglich war, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, in die Richtung, aus der er gekommen war. Harper flankte einfach durch das Fenster hinaus. Er hörte das Geräusch, das Norris verursachte, dann einen Aufschrei von Moira, noch bevor er mit den Füßen voran auf dem Gehsteig landete. Er fand sein Gleichgewicht wieder, riß die Pistole heraus und rannte hinter dem dicklichen Mann her. Der Verfolgte hatte inzwischen aus den Reaktionen der Fußgänger geschlossen, daß hinter ihm etwas im Gange war. Flucht war das Gebot der Stunde. Er machte sich nicht erst die Mühe, sich umzudrehen, um sich zu überzeugen. Er begann zu laufen, was die Beine hergaben. Für seine plumpe Statur entwickelte er eine beachtliche Geschwindigkeit. Jemand mit einem großen Paket kam Harper in die Quere, und dieser fauchte: »Aus dem Weg, du Trottel!« während er den so Bezeichneten kurzerhand zur Seite stieß und weiter rannte. Hinter ihm schrie eine Befehlsstimme etwas, was er nicht verstand. An der Straßenecke, etwa sechshundert Meter voraus, stieß jemand mit Macht in eine Trillerpfeife. Die Sirene eines Funkstreifenwagens begann zu heulen. Aus einer Toreinfahrt traten zwei Sicherheitsbeamte und stellten sich, die Dienstrevolver in den Händen, dem Flüchtling in den Weg. Von der anderen Straßenseite rannten zwei weitere herüber. Alle brüllten auf den Mann ein, er solle stehenbleiben. Der aber dachte nicht daran. Ohne auf die auf ihn gerichteten Revolver zu achten, schlug er einen Haken und rannte in den Eingang eines großen Ver-
waltungsgebäudes. Fünf Sekunden später folgte ihm Harper. Er keuchte vor Anstrengung. Zwei Sicherheitsbeamte kamen gleich hinter ihm. Vier weitere sprangen aus einem Wagen, der mit kreischenden Reifen vor dem Gebäude zum Stehen kam. Harper blieb innerhalb der Tür stehen. Der dickliche Mann befand sich nicht in der Halle. Einer von mehreren Aufzügen fuhr gerade nach oben. Zwei der Sicherheitsbeamten rasten die Treppe hinauf. Zwei weitere drängten sich in einen der anderen Aufzüge und entschwanden Harpers Blicken. Harper zielte auf die Steuerknöpfe neben der geschlossenen Tür des Aufzugs, in dem der dickliche Mann nach oben fuhr. Dann jagte er mehrere Geschosse in das elektronische Gehirn der Maschine. Er hatte gehofft, den Aufzug zwischen zwei Stockwerken anhalten zu können, aber aus Sicherheitsgründen war dieser so eingerichtet, daß die Kabine bei Stromausfall oder irgendeinem anderen Defekt ins jeweils nächsttiefere Stockwerk zurücksank. Die Gedanken, die von oben herabkamen, verrieten ihm, daß der Flüchtling im dritten Stock ausgestiegen war. Die zwei Sicherheitsbeamten, die die Treppen hinaufgerannt waren, befanden sich ganz in seiner Nähe. Harper wußte, was nun geschehen würde, noch bevor der Fall eintrat. Er konnte nichts unternehmen, es zu verhindern. Der Schweiß brach ihm aus, als er die Treppe hinaufraste. Er nahm drei Stufen auf einmal. Als er sich auf der Treppe zwischen dem zweiten und dritten Stock befand, geschah es. Auf die heftige Detonation folgte das Klirren von Glasscheiben und das harte, trockene Explosionsgeräusch von Schüssen. Mit ver-
doppelter Anstrengung legte er das letzte Stück Wegs zurück. Noch während er von der Treppe auf den Flur des dritten Stocks sprang, vernahm er den letzten Gedankenschrei des fremdartigen Wesens und den verzweifelten Gedankenstrom eines sterbenden Menschen. Er wußte, daß er zu spät kam. Im Flur des dritten Stocks sah es aus wie nach einem Bombenangriff. Einer der drei Sicherheitsbeamten hatte eine Maschinenpistole. Ein anderer drückte ein blutiges Taschentuch gegen das linke Ohr. Der dritte starrte auf den Körper des vierten, der in stark verrenkter Stellung auf dem Boden lag. Brust und Gesicht des Liegenden waren rot vom Blut. Zehn Meter vom Aufzug entfernt lag die Leiche des dicklichen Mannes. Es war kein schöner Anblick. Der Feuerstoß aus der Maschinenpistole hatte ihn auf kürzeste Entfernung erwischt und den Körper nahezu in Fetzen gerissen. Überall lagen Glasscherben, und stellenweise war der Putz von der Decke und den Wänden gestürzt. Immer mehr neugierige Gesichter blickten aus den Türen der Büros auf diesen Flur.
9 Der Mann mit dem blutenden Ohr beugte sich über den Sicherheitsbeamten, der auf dem Boden lag, und schob die Hand unter dessen Jacke, um nach dem Herzschlag zu fühlen. »Tot«, sagte er mit rauher Stimme. Er richtete sich auf. »Wenn er etwas langsamer gelaufen wäre, würde er vielleicht noch leben. Und wenn ich nicht vier Stufen hinter ihm gewesen wäre, hätte ich auch noch etwas abgekriegt.« »Wir fuhren an ihm vorbei, als sein Aufzug anhielt«, sagte der Mann mit der Maschinenpistole zu Harper. »Wir drückten auf den Nothalt und kamen im vierten Stock zum Stehen. Im gleichen Augenblick trat er aus dem Aufzug und warf die Handgranate in Richtung der beiden Kollegen, die von unten heraufkamen. Ich sah ihn laufen und schoß hinter ihm her, bevor er noch Gelegenheit hatte, weitere Granaten zu werfen.« Dann kam eine ganze Gruppe von Männern die Treppe heraufgestürmt. Norris und Rausch führten sie an. Harper merkte, daß er noch immer seine Pistole in der Hand hielt, und steckte sie weg. Norris blickte sich mit zusammengekniffenem Mund um. Dann untersuchte er den toten Sicherheitsbeamten. »Dem scheint nicht mehr zu helfen zu sein. Aber bringt ihn 'runter zum Krankenwagen, für den Fall, daß ihm noch geholfen werden kann.« Er wandte sich an die anderen. »Was ist passiert?« Sie berichteten, und einer von ihnen schloß mit der Bemerkung: »Es war aussichtslos, ihn lebend zu erwischen.«
Jemand nahm sein Taschenmesser und stocherte damit in der Wand herum. Er holte einen scharfkantigen Metallsplitter aus dem Putz. Nachdem er ihn eine Weile von allen Seiten angesehen hatte, sagte er: »Sieht aus wie eine Infanteriehandgranate.« Er gab den Splitter Norris. »Was halten Sie davon?« »Sie könnten recht haben. Wir werden in allen Waffen- und Munitionsdepots anrufen müssen, um festzustellen, ob dort eingebrochen worden ist. Durchsucht ihn. Mal sehen, was er noch bei sich hat.« Sie durchsuchten die Kleidungsstücke des dicklichen Mannes, aber sie fanden keine Waffen. Nicht einmal eine kleine Westentaschenpistole. Er hatte nur die eine Handgranate besessen. Sie fanden eine teure Armbanduhr, eine altmodische Krawattennadel mit einem großen Brillanten und eine dicke Brieftasche. Seine Kleidung, einschließlich der Schuhe, waren von bester Qualität. An Geld schien es ihm nicht gemangelt zu haben. Statt zu Fuß hätte er mit dem Privathubschrauber kommen und auf dem Dach des Gebäudes aussteigen können, in dem sich Harpers Büro befand. Außer der Uhr, der Brillantnadel, der Brieftasche und zwei Taschentüchern aus feinem Damast hatte er nichts bei sich. Das war ungewöhnlich. Selbst aus den Kleidungsstücken waren sämtliche Etiketten, die Aufschluß auf ihre Herkunft hätten geben können, sorgfältig herausgetrennt worden. Auch in den Schuhen fand man nur die Angabe ihrer Größe. In der dicken Brieftasche befand sich nur Geld. Norris konnte das einfach nicht glauben. Immer wieder durchsuchte er die Brieftasche, aber außer Geld fand er nichts. »Es wird schwierig sein und uns wertvolle
Zeit kosten, ihn zu identifizieren«, sagte er. »Und wir müssen herausbekommen, wer er ist, wenn wir an die Leute herankommen wollen, mit denen er in Verbindung stand. Irgendwann und irgendwo muß er mit mindestens einem unserer drei Gesuchten zusammengetroffen sein. Sonst wäre er heute noch der, der er einmal war.« Plötzlich wandte er sich in hoffnungsvoller Erwartung an Harper. »Oder wissen Sie schon etwas über ihn?« »Nein«, entgegnete Harper mit aufrichtigem Bedauern. Es überstieg seine Fähigkeiten bei weitem, einem toten Gehirn noch irgend welche Informationen zu entlocken. Und obwohl er in diesem Fall gar keine Gelegenheit gehabt hatte, im Gehirn des dicklichen Mannes, als er noch lebte, zu forschen, ob er etwas über dessen Identität erfahren könne, hatte er doch große Zweifel, ob ihm dies gelungen wäre. Ein venusisches Wesen betrachtete sich ganz von selbst als Venusier und identifiziert sich nicht mit der menschlichen Person, die es übernommen hat. Das war einer der Gründe, weshalb es so schwierig war, sie in ihrer Tarnung als Mensch zu erkennen. »Wir werden uns mit dem begnügen müssen, was wir gefunden haben«, sagte Norris und gab die Brieftasche einem seiner Mitarbeiter. »Lassen Sie eine Liste der Seriennummern aller größeren Geldscheine anfertigen und verteilen Sie diese an sämtliche Banken in der Stadt. Vielleicht läßt sich auf diese Weise feststellen, an wen der eine oder andere Schein ausgegeben wurde.« Rausch hatte inzwischen die Armbanduhr untersucht. Jetzt schloß er das Gehäuse und gab die Uhr einem seiner Männer. »Vielleicht kommen wir hier-
mit etwas weiter. Das ist eine von diesen modernen Entwicklungen, die erst seit kurzer Zeit auf dem Markt und sehr teuer sind. Setzen Sie sich mit dem Hersteller oder seiner Niederlassung hier in der Stadt in Verbindung. Vielleicht läßt sich auf Grund der Seriennummer des Werks feststellen, an welchen Juwelier sie geliefert wurde und an welchen Kunden der sie verkauft hat.« Der Mann nahm die Uhr und lief die Treppe hinunter. Rausch hatte sich inzwischen die Brillantnadel vorgenommen. Er drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und wandte sich an Norris: »Viel wird dabei nicht herauskommen, aber wir müssen es versuchen.« Er winkte einen weiteren Mann heran. »Klappern Sie damit alle Juweliergeschäfte in der Stadt ab. Sollte sich jemand erinnern, an wen er das Schmuckstück verkauft hat, rufen Sie mich an.« »Falls seine Fingerabdrücke jemals registriert worden sind, werden wir in kürzester Zeit wissen, wer es ist«, meinte Norris, obwohl er starke Zweifel hatte, daß es diese Unterlagen gab. »Und jemand soll mit seinen Schuhen die Runde durch die besseren Schuhgeschäfte machen. Zumindest müßte sich herausbringen lassen, um was für ein Fabrikat es sich handelt.« »Darf ich mal sehen?« fragte Harper. Er drehte sie zwischen den Händen, betrachtete sie von hinten und vorn, von oben und unten, bog die Sohlen hin und her und prüfte das Leder. Dann reichte er sie zurück. »Handgearbeitet und nach Maß.« Norris nickte und rief: »Wo ist der Fotograf?« Dieser drängte sich nach vorn und nahm die Kamera aus dem Futteral. Er betrachtete die Leiche mit
der berufsmäßigen Gleichgültigkeit eines Atelierfotografen, von dem erwartet wird, daß er ein einigermaßen menschenähnliches Bild zustande bringt. »Machen Sie das Gesicht zurecht, bevor Sie ihn aufnehmen«, befahl Norris. »Er soll möglichst nett aussehen. Ich brauche ein scharfes Brustbild im 3-DEffekt. Ich möchte es über den Bildschirm verbreiten lassen. Vielleicht erkennt ihn jemand. Ich brauche das Bild so schnell wie möglich.« Er wandte sich an Harper. »Mehr können wir im Augenblick hier nicht tun. Ich bringe Sie wieder in Ihr Büro.« Harper machte keine Anstalten zu gehen. Er rieb sein Kinn und blickte Norris mit einem matten Lächeln an. »Im Kreise der hier so reichlich vertretenen Fachleute fällt es mir schwer, einen Vorschlag zu machen.« »Lassen Sie hören«, sagte Norris. »Und Sie nehmen mir auch nicht übel, wenn ich mich als Amateurdetektiv betätige?« »Natürlich nicht.« »Dann möchte ich hiermit die Frage stellen«, sagte Harper, »wieviele erwachsene Menschen sich wohl außerhalb ihrer vier Wände aufhalten, ohne einen Wohnungsschlüssel in der Tasche zu haben?« »Das ist eine berechtigte Frage. Er hatte keinen einzigen Schlüssel bei sich. Ich glaube, er hat alles abgelegt, bevor er sich auf den Weg zu Ihnen machte, was auf seine Person hingewiesen haben könnte. Sehr gründlich war er allerdings dabei nicht, was die Tatsache beweist, daß er die Uhr, die Brillantnadel und die Brieftasche bei sich behalten hat. Oder aber es genügte ihm, uns lediglich für einige Zeit vor ein Rätsel zu stellen.«
»Mir ist außerdem aufgefallen, daß die Sohle seines rechten Schuhs stärker abgewetzt ist als die des linken«, fuhr Harper fort. »Und er sieht aus wie ein Mann, der schon lange Zeit im Wohlstand lebt. Das beweist die dicke Brieftasche. Wenn es ihm jemals an etwas gefehlt haben sollte, dann muß das schon lange, lange her sein. Und trotzdem ist er zu Fuß gegangen.« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Unser Dickerchen besitzt einen Wagen. Und er fährt ihn selbst. Er ist der Typ, zu dem am besten ein eleganter Straßenkreuzer paßt. Und warum fuhr er mit dem nicht vor? Antwort: Aus nur ihm bekannten Gründen hat er den Wagen irgendwo geparkt und ist das letzte Stück des Wegs zu Fuß gegangen. Zugeschlossen kann er den Wagen nicht haben, sonst müßte er die Schlüssel bei sich gehabt haben. Und warum hat er ihn nicht zugeschlossen? Weil jemand darin sitzt und auf ihn wartet, und der Schlüssel im Zündschloß steckt. Könnte diese Person noch im Wagen sitzen und warten? Antwort: Sofern er nicht den Wagen in unmittelbarer Nähe geparkt hat, so daß der oder die darin Sitzende Zeuge des Geschehens hatte werden können, wird diese Person noch keine Ahnung haben von dem, was sich hier ereignet hat.« »Gehen wir hinunter und alarmieren wir die Funkstreife. Ich habe genug Wagen zur Verfügung, um die ganze Umgebung abzukämmen.« »Moment, Moment!« sagte Harper. »Nicht immer führt der kürzeste Weg zum Ziel. Sie werden Hunderte von parkenden Wagen finden, in denen Leute sitzen. Wie wollen Sie den richtigen finden, wenn nicht zufällig Langley, McDonald oder Gould darin sitzen?«
»Es könnte ja wirklich einer von den dreien sein«, entgegnete Norris, der endlich mit der Suche beginnen wollte. »Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum dieser Dicke hier den Rest des Weges zu Fuß ging. Keiner dieser anderen drei würde es wagen, sich in aller Öffentlichkeit zu bewegen.« »Also gut, dann lassen Sie eben alle geparkten Autos nach Langley und Genossen durchsuchen. Findet man keinen der drei, dann haben Ihre Leute eben Pech gehabt. Auf diese Weise finden wir den Gesuchten bestimmt nicht, wenn es nicht Langley, McDonald oder Gould sein sollte.« »Aber Sie würden ihn finden?« »Unter der Voraussetzung, daß ich dicht genug an ihn herankomme. Ich schlage vor, daß wir uns alle im Umkreis von dreitausend Metern parkenden Autos ansehen. Unser Dickerchen ist bestimmt nicht zu Fuß gegangen, weil er ein begeisterter Anhänger der Trimm-dich-Bewegung ist. Als er unten auf der Straße kehrt machte und davonlief, tat er es mit der festen Absicht, uns zu entkommen. Und damit hätte er niemals rechnen dürfen, wenn er nicht einen Wagen in der Nähe gehabt hätte.« »Ich glaube, Sie haben recht«, gab Norris zu. »Gehen wir!« Die Männer verteilten sich auf mehrere der Wagen, die unten auf der Straße warteten. Norris saß am Steuer, Rausch neben ihm. Harper saß hinten mit einem weiteren Sicherheitsbeamten. Norris wollte gerade anfahren, da fiel ihm etwas ein, und er blickte über die Schulter auf den Sicherheitsbeamten neben Harper. »Wir sind fremd in der Stadt. Sie steigen am besten aus und machen einem Beamten von der
Stadtpolizei Platz, der sich hier auskennt.« »Ich bin hier zu Hause. Ich kann Sie führen«, sagte Harper. »Fahren Sie. An der zweiten Kreuzung biegen Sie rechts ab.« Kurz darauf erreichten sie einen Parkplatz für etwa zweihundert Fahrzeuge. Harper ortete sieben Personen, die in den Fahrzeugen saßen oder sich in der Nähe herumtrieben. Keiner von ihnen reagierte auf seinen Gedankenimpuls. »Jetzt nach links«, befahl er. »Ein Stück weiter gibt es noch ein paar kleinere Abstellplätze und etwa fünfzehnhundert Meter entfernt ein großes Parkhaus.« Sie fuhren langsam dahin, damit sich Harper die Fahrzeuge vornehmen konnte, die zu beiden Seiten der Straße parkten. Nichts erregte seinen Verdacht. Nach fünfzehnhundert Metern erreichten sie den Eingang der riesigen unterirdischen Parkgarage. Darin war Platz für etwa tausend Fahrzeuge. Sechs Rampen führten in die Tiefe. Sie fuhren hinunter. Die Tiefgarage war hell erleuchtet. Mächtige Betonsäulen trugen die Decke. Vor ihnen erstreckten sich schier endlose Reihen von abgestellten Fahrzeugen. Ein Parkwächter kam auf sie zu. Er war neugierig geworden, nachdem er das Fahrzeug als Funkstreifenwagen erkannt hatte. Norris steckte den Kopf aus dem Fenster. »Schnell!« rief Harper und richtete sich auf dem Sitz auf. »Da fährt er. Durch den mittleren Ausgang!« Norris trat aufs Gas, daß der schwere Wagen einen Sprung machte. Fast hätte er den Parkwächter über den Haufen gefahren. Sie rasten durch den breiten Mittelgang der Tiefgarage. Dann erreichten sie die
Ausfahrtsrampe und befanden sich wieder im Tageslicht. Die Gedanken des fremden Wesens kamen von links, wurden aber schon schwächer. Es waren die Gedankengeräusche eines angsterfüllten Gehirns, das nur einen Wunsch hatte, zu fliehen und den Artgenossen mitzuteilen, daß seine Ausstrahlungen wahrgenommen werden konnten. Mit heulender Sirene bogen sie auf die breite Straße ein. Wie aufgescheuchte Hühner stoben die anderen Fahrzeuge auseinander und machten dem schwarzen Polizeiwagen Platz, der mit einer Geschwindigkeit dahergesaust kam, als säße ein Verrückter am Steuer. Norris klammerte sich ans Lenkrad und drückte den Gashebel bis zum Anschlag nieder. Rausch nahm ein Mikrofon vom Armaturenbrett und hielt es an den Mund. »Verfolgen schwarzen Roadking auf der Bailey Avenue in südlicher Richtung. Befehl an alle Wagen im Bereich südliche Bailey Avenue, südlicher Greer Avenue und Mason Turnpike: Stoppt schwarzen Roadking.« »Wenn unsere lahme Ente einen Roadking einholen kann, dann glaube ich auch wieder an Wunder«, bemerkte Harper. Die Sicherheitsbeamten achteten nicht auf ihn. Der Mann, der neben ihm saß, zog seinen Revolver und ließ die Waffe auf den Knien ruhen. »Wagen 41 unterwegs zur Bailey Avenue Süd«, meldete sich die unbeteiligte Stimme eines Funkstreifenpolizisten aus dem Lautsprecher des Funksprechgeräts. Harper spähte durch die Windschutzscheibe nach
vorn. Er schätzte, daß der verfolgte Roadking mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, über hundert Meter Vorsprung gewann. Er hielt sich verzweifelt an der Rückenlehne des Vordersitzes fest, als Norris in einem waghalsigen Manöver einen Stadtomnibus überholte. »Wagen 11 auf der Mason Avenue«, meldete sich eine weitere Stimme. »Wagen 4 auf der Mason Avenue Ecke Perkins Street«, sagte eine dritte Stimme. Der fliehende Roadking kam jetzt in Sicht. Der Abstand zu dem Fahrzeug war sehr groß. Plötzlich schien es, als wolle er mit hoher Geschwindigkeit in eine Querstraße einbiegen, fuhr dann aber geradeaus auf der Bailey Avenue weiter. Gleich darauf wurde auch der Grund für dieses abgebrochene Manöver sichtbar. Ein Streifenwagen kam aus der Querstraße und fuhr mit hoher Geschwindigkeit hinter dem flüchtenden Wagen her. Dieses Fahrzeug befand sich jetzt etwa in der Mitte zwischen dem fliehenden Roadking und dem Wagen, in dem Harper saß. Aber auch diesem schnelleren Fahrzeug war es nicht möglich, den Vorsprung, den der Roadking hatte, zu verringern. »Wagen 28 an der Kreuzung Mason und Bailey«, kam eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Das ist die richtige Stelle«, sagte Norris. »Jetzt kriegen sie ihn.« »Sie werden sich ihm in den Weg stellen müssen, wenn sie ihn anhalten wollen, und bei der Geschwindigkeit wird es einen mächtigen Knall geben«, sagte Rausch, der das Mikrofon hatte sinken lassen und angespannt durch die Windschutzscheibe voraus
blickte. »Es gibt keine Möglichkeit, ihn ohne Unfall zum Stehen zu bringen, es sei denn, wir folgen ihm –« Harper sah, daß die beiden Sicherheitsbeamten abgelenkt waren, beugte sich über die Rückenlehne des Vordersitzes und brüllte in das Mikrofon, das Rausch hielt: »An alle, an alle! Sofort von der Waffe Gebrauch machen!« »He, was soll das?« Rausch riß das Mikrofon weg und wandte sich stirnrunzelnd um. In diesem Augenblick eröffnete Wagen 28 das Feuer. Der vor ihnen fahrende Funkstreifenwagen verringerte das Tempo und fuhr am Rande der Straße etwas langsamer weiter. Sie konnten nun Wagen 28 sehen, der mitten auf der Kreuzung, etwa fünfzehnhundert Meter entfernt, stand. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, jagte der Roadking in einem Bogen um den die Kreuzung blockierenden Funkstreifenwagen herum. Dann begann er zu schleudern, machte einen Satz über den Gehsteig und hinein in ein großes Schaufenster. Der Krach des Aufpralls hörte sich an wie eine Explosion. Kleidungsstücke aus der Auslage flogen durch die Luft. Ein Hemd flatterte mit ausgebreiteten Ärmeln bis mitten auf die Straße. Aus Wagen 28 sprangen zwei Funkstreifenbeamte und rasten auf das Wrack zu. »Das war's«, brummte Norris, nahm das Gas weg und bremste den Wagen langsam ab. Über die Schulter gewandt, fauchte er Harper an: »Leiten Sie jetzt dieses Unternehmen?« »Ja. Und falls Sie das bis jetzt nicht gewußt haben sollten, dann wissen Sie es jetzt.« »Unsere Befehle lauten –«
»Ihre Befehle können Sie sich an den Hut stecken«, sagte Harper brutal. »Ich schätze Ihre Mitarbeit, und dasselbe erwarte ich von Ihnen.« Er öffnete die Tür, als der Wagen zum Stehen kam, stieg aus, rannte zu dem Roadking hinüber, wobei er schon jetzt wußte, daß der Lebensfunke des fremden Wesens in dem menschlichen Körper erloschen war. Aber wenigstens waren diesmal keine normalen Menschen ums Leben gekommen. Die zwei Beamten aus dem Funkstreifenwagen bahnten sich einen Weg durch die Ausstellungsstükke des verwüsteten Fensters. Dann begannen sie an der Tür des Roadking zu zerren. Harper wollte ihnen gerade helfen, als ein dürrer Mensch aus dem Laden gerannt kam, heftig mit den Armen gestikulierte und begann, an Harpers Jacke zu zerren. »Sehen Sie sich das an!« sagte er mit lauter, schriller Stimme. »Jetzt sehen Sie sich das einmal an! Was soll ich denn anfangen?« »Da hätte ich einen Vorschlag für Sie«, entgegnete Harper, während er den Mann musterte. »Aber den behalte ich am besten für mich.« »Das ist ja eine üble Sache, eine ganz üble«, fuhr der hagere Mensch fort. »Jemand wird für den Schaden aufkommen müssen. Jemand –« »Verklagen Sie den Toten in dem Wagen«, entgegnete Harper. »Er ist Ihnen ins Fenster gefahren. Uns brauchen Sie keinen Vorwurf zu machen.« Dann half er den beiden Funkstreifenbeamten, die Leiche hinter dem Steuer hervorzuziehen. Der protestierende Ladenbesitzer wandte sich inzwischen an Norris, der herangekommen war. »Erst gestern abend habe ich das Fenster neu dekoriert. Es
ist eine Schande! Ich könnte in die Luft gehen. Ich weiß gar nicht, was –« Er brach ab und machte ganz große Augen, als er die Leiche sah, die aus dem Schaufenster getragen und auf den Gehsteig gelegt wurde. »Das ist ja Mr. Baum!« »Kennen Sie den Toten?« fragte Norris. »Ja, natürlich. Es ist Mr. Baum. Mr. Philip Baum. Erst letzte Woche habe ich ihm einen neuen –« Harper blickte auf die rundlichen, ihm vertraut erscheinenden Gesichtszüge des Toten. »Hatte er einen Bruder?« »Ja«, entgegnete der hagere Geschäftsmann, der den Blick nicht von der Leiche lassen konnte. »Mr. Ambrose Baum. Etwa drei, vier Jahre älter als sein Bruder Philip. Ist das nicht entsetzlich? Mr. Baum! Mein Schaufenster! Sehen Sie es sich bloß an! Mir wird ganz schlecht.« »Wo wohnen die Brüder Baum?« fragte Norris. »In Reevesboro. Ich –« Er brach ab, als er plötzlich sah, wie eine der automatischen Schaufensterpuppen langsam in die Knie ging, zu klicken und zu rattern begann und die computergesteuerten Glasaugen verdrehte. Der Anblick war in der Tat grauenerregend. »Alexander hat es auch erwischt. Er ist hin. Mich würde mal interessieren, wer mir den Schaden ersetzen wird.« »Schalten Sie Ihre Versicherung ein«, schlug Norris vor. »Und wo wohnen die Baums in Reevesboro?« »Pinewalk Avenue, glaube ich. Die Hausnummer kann ich Ihnen nicht sagen. Werden Sie im Telefonbuch finden.« »Bringen Sie uns Ihr Telefonbuch, dann sehen wir gleich nach.«
»Nicht nötig«, meldete sich einer der Funkstreifenbeamten zu Wort, der die Taschen des Toten durchsucht hatte. Er richtete sich auf und hielt einige Ausweiskarten in der Hand. »Das habe ich gefunden. Er heißt Philip Kalman Baum und wohnt 408 Pinewalk Avenue, Reevesboro. Der Wagen ist auf den Namen Ambrose Baum zugelassen, selbe Adresse.« Der zweite Beamte fügte hinzu: »Den macht keiner mehr lebendig. Hat den Brustkorb eingedrückt. Das Lenkrad hat nicht nachgegeben.« Norris wandte sich an den Sicherheitsbeamten, der während der Verfolgungsjagd neben Harper im Wagen gesessen hatte. »Übernehmen Sie hier das Kommando. Sie wissen, was zu tun ist. Und kein Wort an die Presse. Wenn die Burschen maulen, verweisen Sie sie an die hiesige Dienststelle des FBI.« Er winkte Harper zu. »Kommen Sie mit, wir brauchen Sie.« Harper, Norris und Rausch fuhren in dem Funkstreifenwagen weg. Die Menge neugieriger Gaffer wurde immer größer. »Wir werden Hilfe brauchen«, sagte Norris, der wieder fuhr. »Blasen Sie die Jagd nach dem Roadking ab und stellen Sie fest, welche Wagen sich in der Nähe befinden. Sie sollen uns nach Reevesboro folgen.« Rausch nahm das Mikrofon und gab die Meldung durch. Sogleich meldete sich eine Stimme: »Wagen 4 auf Mason Turnpike, Ecke Perkins Avenue.« »Folgen Sie uns nach Reevesboro«, ordnete Rausch an. Sie kamen auf die zwölfspurige Autobahn und fuhren mit Höchstgeschwindigkeit. In Reevesboro fanden sie das gesuchte Haus ohne Schwierigkeiten. Norris parkte am Straßenrand, der
ihnen folgende Funkstreifenwagen gleich dahinter. Er stieg aus und ging zu den beiden Beamten in dem Funkstreifenwagen. »Sie passen hier draußen auf, für den Fall, daß jemand aus dem Haus zu fliehen versuchen sollte.« »Wir verschwenden nur unsere Zeit«, sagte Harper, der inzwischen festgestellt hatte, daß sich in dem Haus kein fremdartiges Wesen verbarg. »Das entscheide ich«, entgegnete Norris. Er ging mit Rausch auf das Haus zu. »Kommen Sie mit!« Eine grauhaarige Frau öffnete auf ihr Klingeln. Sie war Ende fünfzig, Anfang sechzig, mit verarbeiteten Händen und einem ängstlichen Gesicht. »Das ist das Haus der Brüder Baum«, sagte Norris, der gleich zur Sache kam. »Ja«, sagte die Frau. »Aber die beiden Herren sind zur Zeit nicht hier. Ich weiß auch nicht, wann sie zurückkommen.« »Sie kommen nicht mehr«, sagte Norris. Die Frau legte ihre runzelige Hand vor den Mund und blickte ihn entgeistert an. »Hat... ist etwas passiert?« »Leider ja. Sind Sie mit den Herren verwandt?« »Ich bin die Haushälterin«, sagte sie. »Und Sie sind –« »Leben in dem Haus Verwandte der Brüder Baum?« unterbrach sie Norris. »Nein, nein. Die beiden Herren sind überzeugte Junggesellen. Sie haben keine Verwandten, die hier in der Nähe wohnen. Im Haus leben nur eine junge Hausangestellte und ich.« Sie schluckte krampfhaft. »Sind sie verletzt?« »Sie sind tot. Wir sind von der Polizei und möchten
uns gern umsehen.« »Tot?« flüsterte sie, trat einen Schritt zurück und ließ Norris, Harper und Rausch ein. Ihr Verstand war nicht in der Lage, die neue Situation so schnell zu begreifen. »Aber doch nicht beide?« »Beide. Tut mir leid.« Norris zog drei Fotos aus seiner Brieftasche und zeigte sie der Frau. »Kennen Sie einen von diesen Männern?« Sie schneuzte sich, wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen und sah sich die Fotos an. »Nein, ich kenne sie nicht.« »Sind Sie ganz sicher?« »Ganz sicher.« Sie fragten auch das Hausmädchen, ein dümmlich dreinschauendes, dickliches Wesen. Aber die kannte keinen der drei Männer. Von der Haushälterin erfuhren sie, daß die Brüder Baum Juweliere waren und drei Geschäfte unterhielten. Wo, das wußte die Frau nicht. Sie wußte allerdings, daß sie in der Stadt ein kleines Lagerhaus gemietet hatten, in dem sie hauptsächlich Großhandelsgeschäfte abwickelten. Sie waren gerade dabei, die einzelnen Zimmer zu durchsuchen, als irgendwo im Haus das Telefon läutete. »Das Telefon!« brüllte Norris. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe zum Wohnzimmer hinunter, die anderen hinter ihm her. Er blickte auf den Apparat. »Gibt es hier noch einen zweiten?« Die anderen schüttelten den Kopf. »Das ist schlecht. Jetzt gibt es keine Möglichkeit, festzustellen, von wo aus angerufen wird.« Er nahm sein Taschentuch, legte es über das Fernsehauge des
Telefons, dann nahm er den Hörer ab. Der Bildschirm leuchtete auf, aber es erschien kein Bild. Das bedeutete, daß das Fernsehauge am anderen Ende ebenfalls abgedeckt war. »Hallo?« sagte Norris. »Var silvin, Wend?« fragte eine mißtrauische Stimme. »Hier bei Baum«, sagte Norris und runzelte die Stirn. »Was gibt es?« Klick! Die Verbindung war unterbrochen. Norris wählte eine Geheimnummer. »Stellen Sie fest, woher der Anruf gekommen ist – es ist dringend!« Er wartete etwa eine Minute lang, dann hörte er zu und legte schließlich den Hörer auf. Er wandte sich an die anderen: »Aus dem Lagerhaus der Brüder Baum. Offensichtlich hatten sie mit ihm vereinbart, sich dort mit ihm zu treffen. Als die Zeit um war und sie nicht kamen, wurde dieser Unbekannte vermutlich ungeduldig und rief hier an. Wir haben einen Fehler gemacht. Wir hätten sofort einen Wagen zu diesem Lagerhaus schicken sollen.« »Dann fahrt los«, sagte Rausch. »Ich bleibe hier.« Sobald sie im Wagen saßen, dirigierte Norris über Funk zwei Streifenwagen zum Lagerhaus.
10 Das Lagerhaus war ein altes, aus roten Ziegeln erbautes Gebäude, das durch sechs vergitterte Fenster und eine große Stahltür gesichert war. Zwei Streifenwagen standen vor dem Tor. »Drei Mann befinden sich auf der Rückseite«, meldete einer. »Die Eingänge sind geschlossen. Auf unser Läuten wurde nicht geantwortet. Hier scheint alles leer zu sein.« »Dann werden wir die Tür aufbrechen.« Es dauerte eine Weile, bis man sich Einlaß verschafft hatte, ohne allzu großen Schaden anzurichten. Keine Menschenseele war zu erblicken. Im ersten Stockwerk waren einige Glaskästen mit Juwelen ausgestellt; in der nächsten Etage waren volle und leere Kartons aufgestapelt. In einer Ecke befand sich ein kleines Büro mit Glaswänden. Norris trat ein und sah sich um. Dann sagte er zu einem Polizisten: »Lassen Sie den Spurensicherer kommen. Wenn wir Glück haben, finden wir vielleicht heraus, wer hier gewartet hat.« Zu Harper gewandt, fuhr er fort: »Man muß schon ein Berufsverbrecher sein, um an ein Auslöschen der Fingerabdrücke zu denken. Die Leute aber, hinter denen wir her sind, fallen nicht in diese Kategorie.« Er trat an den Tisch und öffnete eine Schublade. Ihr Inhalt war nicht bedeutungsvoll und bestand nur aus Rechnungen und anderen Geschäftspapieren. Auch eine kleine Stahlkassette enthielt nichts von Bedeutung. »Darf ich mir eine Bemerkung erlauben?« fragte
Harper. »Ich habe herausgefunden, daß die Baums und ihr Freund eine Vorliebe für einen bestimmten Geruch hatten.« »Wie kommen Sie auf diese Idee?« »Ambrose verbreitete diesen Duft, und Philip ebenfalls. Hier rieche ich ihn wieder.« Norris weitete die Nasenlöcher und schnüffelte. »Ihr Geruchssinn muß besser entwickelt sein als der meine. Ich rieche nichts.« »Das ist bei den Menschen ebenso unterschiedlich wie bei den Hunden«, meinte Harper grinsend. »Wir müssen jedenfalls jemand suchen, der nach Eukalyptus riecht.« »Nach Eukalyptus? Da stellen Sie uns aber eine Aufgabe«, spottete Norris. »Immerhin scheint es etwas zu bedeuten.« Harper ließ sich nicht beirren. »Dreimal an einem einzigen Tag habe ich Eukalyptus gerochen. Vielleicht gibt es jemand, der diesen Geschmack leidenschaftlich liebt.« »Sie kommen aber auch auf die ausgefallensten Ideen.« »Wenn man weiterkommen will, muß man auch denken«, meinte Harper. Er steckte die Hände tief in die Hosentaschen und sah sich um. »Warum sollte nicht jemand für Eukalyptus schwärmen? Es gibt viele Tiere, die eine Vorliebe dafür haben.« »Diese Tiere fressen aber nur Blätter«, rief Norris ärgerlich aus. »Wir hingegen verfolgen etwas, das größere Klauen und Zähne hat als ein Tier.« Norris ging ans Telefon und wählte eine Nummer, wobei er darauf achtete, daß er etwaige Fingerabdrücke nicht verwischte. »Es handelt sich um einen vielleicht lächerlichen Verdacht«, sagte er in die Mu-
schel. »Doch immerhin... Nehmen Sie sich alle Leute vor, die nach Eukalyptus riechen.« Er legte auf. »Es ist zwar Wahnsinn, aber die Sache ist schon so verrückt, daß man vor etwas mehr Verrücktheit nicht zurückschrecken darf.« »Welchen fachlichen Schluß ziehen Sie eigentlich aus der Tatsache, daß sich hier jemand für Eukalyptus begeistert?« fragte Harper. »Vorerst noch gar keinen.« »Ich für mein Teil möchte annehmen, daß die Venusier von Natur aus Vegetarier sind und eine Vorliebe für eine Pflanze haben, die unserem Eukalyptus ähnlich ist. Wahrscheinlich haben sie hier etwas gefunden, das sie an ihre teure Heimat erinnert.« »Wovon sprechen Sie eigentlich?« »Es tut mir leid...« Harper zuckte die Achseln. »Ich vergaß, daß man Ihnen ja nur einen Teil der Geschichte erzählt hat. Aber sie werden sicher auch bald den Rest erfahren.« Norris verstand jetzt überhaupt nichts mehr. »Haben Sie diesen Duft auch gerochen, als Sie auf das Mädchen feuerten?« »Nein, aber da kam ich auch nicht nahe genug an sie heran und hielt mich zudem nur kurze Zeit bei ihr auf. Da ihr Fall der erste war, blieb mir nicht die Zeit, mich um diese Einzelheiten zu kümmern; außerdem ist mir der Verdacht eben erst gekommen.« »Hm.« Norris überlegte eine Weile, ging dann noch mal an den Apparat und rief in Baums Wohnung an, wo er mit Rausch sprach. »Wir hatten kein Glück. Der Vogel war schon ausgeflogen«, sagte er. »Hören Sie, Harper glaubt hier Eukalyptus gerochen zu haben. Ich habe nichts davon
bemerkt. Sie vielleicht?« »Ja, ich habe es gerochen«, bestätigte Rausch, »habe mir aber nichts dabei gedacht.« Norris legte auf und meinte: »Ich glaube, ich muß mir mal meine Nase untersuchen lassen.« »Das wäre keine schlechte Idee«, sagte Harper anzüglich. »Ambrose und Philip rochen nach Eukalyptus, das steht fest. Und wer sich hier in diesem Raum aufhielt, roch gleichfalls nach Eukalyptus. Vielleicht sind die Venusier nur zufällig über Eukalyptus gestolpert. Ihre Vorliebe für Eukalyptus gibt uns aber einen kleinen Vorteil. Wenn man schon nicht erraten kann, was in dem Kopf eines Verdächtigen vorgeht, so kann man wenigstens seinen Atem riechen.« Dann warteten sie auf das Eintreffen der Männer des Erkennungsdienstes, die alle vorhandenen Fingerabdrücke registrierten. Die meisten stammten allerdings von den Brüdern Baum. Als die Arbeit beendet war, sagte Norris: »Lassen Sie die Abdrücke sofort untersuchen und geben Sie mir das Ergebnis bekannt.« Er drehte sich Harper zu. »Für den Augenblick können wir nichts unternehmen. Wir wollen in Ihr Büro zurückkehren.« Am nächsten Morgen gab es einige Neuigkeiten. Norris steckte den Kopf in Harpers Büro und bat ihn, herauszukommen, denn er wollte ihn nicht in Moiras Gegenwart sprechen. »Etwas beginnt sich zu rühren«, kündete er an. »In der vergangenen Nacht wurde zweimal in Baums Haus angerufen, doch der Anrufer brach sofort die Verbindung ab. Beide Anrufe kamen von öffentlichen Telefonzellen. Das bedeutet also, daß Baums Verbin-
dungsmann sich noch immer in der Stadt herumtreibt.« »Vorausgesetzt, daß es nur einer ist. Es können aber auch zwölf oder mehr sein.« »Vielleicht. Die Fingerabdrücke aus dem Lagerhaus haben wir jedenfalls identifizieren können. Es sind die von McDonald.« »Dann war er es, der dort wartete.« Norris nickte. »Wir sind nur um Minuten zu spät gekommen. Weiter haben wir herausfinden können, daß er am Abend zuvor mit den Baums in einem Restaurant war. Er ist dann mit ihnen zusammen in Ambroses Wagen davongefahren und wurde seither nicht mehr gesehen. Zwei Kellner und ein Barkeeper haben ihn mit Sicherheit erkannt.« »Haben Sie feststellen können, wann er sich erstmals mit ihnen getroffen hat?« »Es war genau vor sechs Tagen.« »Also an dem von uns angenommenen Zeitpunkt.« »Wir lassen ihn gegenwärtig in der Stadt suchen«, sagte Norris. »Wenn er sich noch hier befinden sollte, werden wir ihn heute erwischen.« »Vielleicht macht es doch größere Schwierigkeiten, als Sie annehmen!« »Warum?« »McDonald braucht ja nicht unbedingt in einem Hotel oder einer Pension abgestiegen zu sein; ebensowenig wird er es nötig haben, im Freien zu schlafen.« »Wo soll er sich den befinden?« »Vielleicht in einem Privathaus, wo er sich zu einem Familienmitglied gemacht hat. Und Sie werden Mühe haben, die vielen Tausend Privathäuser zu durchsuchen.«
»Damit werden wir erst gar nicht beginnen. Es gibt bessere Wege.« »Tatsächlich?« »In jeder Straße wird geklatscht, und wir besitzen genügend viele Aufnahmen von McDonald, um sie den Klatschweibern zeigen zu können. Außerdem muß er sein Versteck ja auch einmal verlassen. Wenn er es war, der Rausch anrief, dann war er zu diesem Zeitpunkt unterwegs –. Solche Ausflüge wird er gewiß wiederholen.« »Vielleicht könnte man auch in einschlägigen Geschäften nachfragen lassen, ob sie einen außergewöhnlich großen Absatz an Eukalyptus hatten.« »Daran haben wir schon gedacht; vier Leute sind unterwegs.« Im Büro schrillte das Telefon, und Moira rief sie herein. »Mr. Norris oder Mr. Rausch wird verlangt!« Norris nahm den Hörer, lauschte eine Weile und kehrte dann zu Harper zurück. »Es war Jameson«, sagte er. »Hat sich wieder etwas ereignet?« »Ja, Langley ist tot!« »Hat man ihn also doch geschnappt!« »Heute bei Tagesanbruch – in einem gestohlenen Wagen. In seiner Begleitung befanden sich zwei Männer; Waggoner und ein gewisser Joe Scaife. Sie rasten in eine Straßensperre, ließen den Wagen stehen und verschwanden dann in den Wäldern. Sicherheitsbeamte und Polizisten machten sich sofort an die Verfolgung, denn man hatte den Wagen und seine Insassen erkannt. Jameson erzählt, daß sie geradezu verzweifelt um ihr Leben kämpften; es sei daher nicht möglich gewesen, sie lebend zu fangen. Langley und
Scaife wurden erschossen; Waggoner beging Selbstmord. Das geschah vor knapp einer Stunde. Jetzt stellt sich das große Problem: Was soll man den Reportern erzählen?« »Das alles macht einen recht betrüblichen Eindruck.« »Auch Waggoners Tat ist typisch. Wenn das so weitergeht, werden wir bald nur noch gegen Menschen kämpfen, die sich lieber selbst vernichten, als sich zu ergeben.« »Die Baums haben genauso gehandelt. Sie zogen den Tod der Verhaftung vor.« »So etwas ist doch ganz unmenschlich!« »Natürlich«, nickte Harper. »Aber Sie müssen sich jetzt endlich einmal darüber klarwerden, daß wir hier gegen Wesen kämpfen, die eine von der unseren sehr unterschiedliche Mentalität besitzen. Für uns darf es sich nicht nur darum handeln, den Kampf zu gewinnen; wir müssen vielmehr verhindern, daß sie sich selbst entleiben, müssen versuchen, wenigstens einen von ihnen am Leben zu halten und gefangenzunehmen.« »Unsere Befehle schreiben dasselbe vor«, sagte Norris düster. »Das ist aber leichter gesagt als getan. Wie würden Sie denn handeln, um einen von ihnen lebend zu fangen?« Harper überlegte. »Zunächst wäre es wichtig, ihn nicht wissen zu lassen, daß man ihm auf der Spur ist. Man müßte einfach sitzen und warten, bis sich die Gelegenheit bietet, ihn bewußtlos zu schlagen.« »Das hört sich seltsam an aus dem Munde des Mannes, der Ambrose Baum auf dem Gewissen hat.« »Ich konnte nicht anders handeln. Mit McDonald
aber ist es etwas anders, denn wir wissen, wie er aussieht.« Er runzelte die Stirn. »Wenn es nach mir ginge, was ja leider nicht der Fall ist, so würde ich nicht versuchen, ihn lebend oder tot zu schnappen, sondern ihn frei und unbehindert umherlaufen lassen.« »Warum das?« »Damit er mich zu den anderen führt.« »Er würde gewiß nicht lange den Lockvogel spielen. Wenn Sie glauben, daß Sie so etwas monatelang durchhalten können, haben Sie sich getäuscht.« »Und weshalb nicht?« »Weil es ja nicht den geringsten Nutzen hat, wenn er Sie zu den anderen führt. Trösten Sie sich aber; wenn wir ihn lebend fangen, wird er uns auch so das Versteck der anderen verraten, ob er nun will oder nicht.« »Tun Sie, was Sie wollen.« Harper kehrte in sein Büro zurück. »Ich muß mich um mein Geschäft kümmern«, rief er über die Schulter, »sonst geht es zugrunde.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Schon steckte Norris den Kopf durch die Tür. »Setzen Sie Ihren Hut auf. Sie werden verlangt.« »Jetzt? Ich habe eine wichtige Arbeit zu erledigen.« »Sie müssen mitkommen!« »Macht nur so weiter«, schimpfte Harper und wandte sich kopfschüttelnd Moira zu. »Wenn sich das nicht bald ändert, kann ich Ihnen mein Geschäft zum Geschenk machen. Herrlich ist das!« »Beeilen Sie sich doch!« drängte Norris. Harper folgte ihm und stieg unten mit dem Beamten in einen Wagen. »Angeblich hat man McDonalds Versteck gefunden«, wurde ihm mitgeteilt. Nach einer kurzen Fahrt hielt der Wagen am Ende
einer langen Allee; rechts und links standen moderne Bungalows. Norris deutete durch die Scheibe und sagte: »Es handelt sich um das rosa Haus drüben auf der linken Seite. Die Jungs halten sich versteckt. Wir werden langsam an dem Haus vorbeifahren. Schauen Sie es sich an und sagen Sie mir, was Sie davon halten.« Langsam rollten sie weiter und fuhren an dem Haus vorbei. Kein Mensch war zu sehen, doch Norris hielt erst an, als sie das Ende der Straße erreicht hatten. »Nun, was meinen Sie?« »Da ist nichts mehr zu machen.« Norris war enttäuscht. »Sind Sie Ihrer Sache sicher?« »Wir können ja noch einmal zurückfahren, wenn Sie das beruhigt.« Sie wendeten und fuhren zurück. »Ich kann nur wiederholen, daß das Haus leer ist«, sagte Harper nach einer Weile. »Wie sind Sie denn an die Adresse gekommen?« »Einer unserer Leute hat sie von einem Taxichauffeur erhalten, der McDonalds Foto erkannte und behauptete, ihn hierher gebracht zu haben.« »Folglich hat uns McDonald wieder einmal ein Schnippchen geschlagen und ist abgehauen«, stellte Harper nüchtern fest. »Er muß aber hier gewohnt haben, denn der Fahrer sah, wie er mit einem Schlüssel aufsperrte und das Haus betrat.« »Das mag sein. Tatsache aber ist, daß er sich im Augenblick nicht hier befindet. Vielleicht hält er sich in meinem Büro auf, wo er bereits Vorbereitungen für
meine Ankunft trifft. Was Moira gewiß mißfallen würde. Kehren wir um.« »Ihr Geschäft kann warten!« rief Norris wütend. »Und wenn Sie erst einmal tot sind, wird es noch länger warten müssen.« »Dann werde ich mir kaum noch Sorgen machen; denn im Grab braucht man meines Wissens ja auch nichts zu essen!« Doch ohne auf Harpers Proteste zu hören, fuhr Norris zum Nachbarhaus. Eine Frau stand vor der Tür und sah ihnen neugierig entgegen. »Können Sie uns sagen, wer nebenan wohnt?« fragte Norris. »Mr. und Mrs. Reed.« »Sonst niemand?« »Nein, sie haben keine Familie.« Sie überlegte eine Weile und fuhr dann fort: »Im Augenblick haben sie allerdings Besuch – einen Neffen, der sich bei ihnen einquartiert hat.« »Ist das vielleicht der Neffe?« fragte Norris und zeigte ihr McDonalds Foto. »Ja; er sieht jetzt allerdings etwas älter aus.« »Wie lange wohnt er schon hier?« »Seit etwa einer Woche. Ich glaube, daß ich ihn am vergangenen Donnerstag zum erstenmal gesehen habe.« Ihre scharfen Augen musterten Norris' Anzug und den Wagen. Der junge Mann schien sie zu beeindrucken. »Sind Sie von der Polizei?« »Wenn ich es wäre, hätte ich es Ihnen gesagt.« Norris wich ihr aus. »Wir wollten uns nur wegen Reeds Adresse vergewissern.« »Ja, das ist das richtige Haus«, bestätigte sie nochmals. »Aber jetzt ist niemand zu Hause. Sie sind
heute früh mit dem Wagen weggefahren und noch nicht wieder heimgekehrt.« »Um wieviel Uhr sind sie aufgebrochen?« »So gegen acht. Sie hatten es offenbar sehr eilig.« »Sie wissen nicht zufällig, wohin sie gefahren sind?« fragte Norris mit sehr geringer Hoffnung. »O nein. Ich habe sie nicht gefragt, und sie haben mir auch nichts gesagt. Es ist nicht meine Gewohnheit, mich um die Angelegenheiten anderer Leute zu kümmern.« »Das ist wirklich anständig von Ihnen«, sagte Norris und lächelte verbindlich. »Ja, dann bleibt uns weiter nichts übrig, als ein anderes Mal wiederzukommen.« »Der Himmel mag wissen, wann die Reeds zurückkommen«, murmelte sie wie im Selbstgespräch. »Sie haben eine Menge Gepäck mitgenommen, und deshalb glaube ich, daß sie eine weite Reise vorhaben. Nicht, daß es mich etwas anginge, beileibe nicht, aber manchmal kommt man einfach nicht darum herum, solche Dinge zu bemerken.« »Haben die Reeds vielleicht einen Bekannten in der Gegend, von dem man Näheres erfahren könnte?« »Nicht daß ich wüßte«, entgegnete sie. »Die Reeds sind noch niemals sehr gesellig gewesen, und seit ihr Neffe eintraf, haben sie sich noch mehr abgesondert. In den letzten Tagen haben sie mich so gut wie gar nicht beachtet, und das finde ich unerhört. Schließlich wohne ich schon seit zwölf Jahren mit ihnen Tür an Tür, aber sie taten, als ob ich eine Fremde sei. Ich habe mich wirklich gewundert und gefragt, was mit ihnen wohl los ist. Und ich bin davon überzeugt, daß der Neffe dahintersteckt.«
»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß es der Neffe ist?« fragte Harper. »Mrs. Reed. Ich hielt sie an und fragte sie, wer denn der junge Mann sei. Da warf sie mir einen bitterbösen Blick zu und brummte: ›Nur ein Neffe.‹ Sie tat geradezu, als ob ich sie gebeten hätte, mir hundert Dollar zu leihen. Natürlich war der junge Mann von da an Luft für mich; ich weiß ja, wann ich meinen Mund zu halten habe.« »Jedenfalls vielen Dank für Ihre Auskunft«, erwiderte Norris. Sie fuhren weiter, während die Frau vor der Haustür stehenblieb – offensichtlich enttäuscht, weil sie selbst viel gesagt und wenig erfahren hatte. »Wenn diese Frau sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmert«, sagte Harper nach einer Weile lächelnd, »dann müßten wir bedeutend mehr von jemand erfahren, der das nicht tut.« Norris lachte leise. »Was schlagen Sie jetzt im Fall McDonald vor?« fuhr Harper fort. »Wollen Sie das Haus durchsuchen?« »Das Haus der Reeds ist seit heute früh um neun Uhr ununterbrochen beobachtet worden. Aber«, Norris zuckte die Achseln, »wir trafen leider um eine Stunde zu spät ein. Jetzt wollen wir versuchen, die Nummer des Wagens der Reeds zu bekommen, damit wir nach ihm fahnden können. Zweitens müssen wir unter irgendeinem Vorwand das Haus durchsuchen; drittens müssen wir herausfinden, wie und wo McDonald die Reeds kennengelernt hat und ob er neben ihnen und den Baums noch weitere Kontakte hatte. Natürlich möchte ich auch gern wissen, wie er hierher kam, obwohl alle Straßen überwacht werden.«
»Vielleicht hatte er sich von Anfang an irgendwo in der Nähe versteckt.« »Das werden wir bald herausgefunden haben. Was halten Sie jetzt von der Sachlage?« »Nun, Langley hat es erwischt, und ich glaube, daß uns auch McDonald bald ins Garn gehen wird. Seltsam ist nur, daß man gar nichts von Gould erfährt.« »Das ist wahr; man könnte glauben, er sei vom Erdboden verschwunden«, gab Norris zu. »Das beweist aber nur, daß er mehr Glück hatte als die anderen.« »Es muß nicht unbedingt Glück sein; vielleicht ist er nur raffinierter als seine Freunde. Und wenn das der Fall ist, dann ist er der gefährlichste von den dreien.« »Auch er wird einmal über seine eigenen Füße stolpern«, versicherte Norris. »Das geschieht immer, wenn sich einer für schlauer hält als die anderen.« »Ich weiß, wie es ist, wenn man gejagt wird«, bemerkte Harper. »In dieser Hinsicht habe ich meine Erfahrungen. Und nach meiner Überzeugung ist ein Mann, der so gründlich untertauchen kann wie Gould, auch ungemein schlau.« »Damit ist er noch nicht in Sicherheit.« »Aber die Zeit vergeht schnell und arbeitet für ihn, während uns jede verlorene Stunde Nachteile bringt.« Er öffnete die Wagentür, als sie vor seinem Büro anhielten. »Sie, Norris, wissen nur das, was man Ihnen gesagt hat. Ich aber kann noch etwas hinzufügen.« »Und das wäre?« »Wenn Sie nicht schnell handeln, wenn Sie nicht in Kürze diese Burschen erledigen, dann werden Sie bald ebenso wie alle anderen Leute auf der Welt ein Kuckucksei in sich tragen! Lassen Sie sich das von mir gesagt sein!«
11 Es war am nächsten Morgen. Noch ehe Harper begonnen hatte, richtig zu arbeiten, wurde er schon wieder gestört. Er traf eben, von seiner Wohnung kommend, im Büro ein, als Norris herbeigestürzt kam. »Lassen Sie den Hut ruhig auf«, sagte er. »Sie müssen gleich wieder fort!« »Wohin denn?« »Das weiß ich nicht. Man hat mich nicht unterrichtet.« Norris hatte lediglich erfahren, daß ein Dienstwagen Harper abholen und dieser den ganzen Tag über abwesend sein würde, während ein Polizist in Harpers Büro Wache halten sollte. Diesmal beschwerte sich Harper nicht. Er gehorchte zwar nur widerwillig, fand sich aber doch langsam mit dieser außergewöhnlichen Lage ab. So ging er wieder hinaus und setzte sich in den Wagen, in dem sich nur der Fahrer befand. Als sie losfuhren, setzte sich sofort ein zweites Fahrzeug hinter ihnen in Bewegung, in dem vier Sicherheitsbeamte Platz genommen hatten. Gleich darauf tauchte aus der Nebenstraße ein dritter Wagen auf in dem ebenfalls vier Leute saßen: dieses Fahrzeug setzte sich an die Spitze der kleinen Kolonne. »Nun wird mir endlich jene Hochachtung erwiesen, die ich schon seit langer Zeit verdient habe«, sagte Harper. Der Fahrer antwortete nicht. Er konzentrierte sich
ganz darauf, dem ersten Wagen zu folgen. Offenbar gehörte er zu den Leuten, die das Wort Furcht nicht kennen und auch sonst nicht viele Worte machen. Der dritte Wagen blieb etwa sieben Meter hinter ihnen. »Hundert Dollar, wenn Sie die Bande abhängen!« Keine Antwort, nicht einmal ein Lächeln. Harper lehnte sich zurück, während seine Gedanken wie unsichtbare Finger das Gehirn des neben ihm Sitzenden abtasteten. Er fand heraus, daß der Chauffeur nichts wußte und nur die Anordnung erhalten hatte, unbedingt hinter dem ersten Wagen zu bleiben. Dabei sollte er sich durch nichts beirren lassen. Harpers Gedankenfühler tasteten weiter. Die Leute im ersten Wagen wußten, wohin die Prozession gehen sollte, und im gleichen Augenblick war auch er, Harper, unterrichtet. Er überlegte eine Weile und dachte über den Grund nach, gab es aber bald wieder auf. Nachdenklich blickte er durch die Scheibe auf die vorbeihuschenden Schaufenster und Passanten. Es war ihm bereits zur Gewohnheit geworden, seine Gedanken unablässig umherstreifen zu lassen. Sie hatten zwei Straßenkreuzungen hinter sich gelassen, als er die fremden Gedanken bemerkte – zwar nur sehr schwach, aber doch fühlbar. Es mußte aus einer der Seitenstraßen kommen, in vielleicht sechsoder achthundert Meter Entfernung – von einem Wesen, das menschliche Gedanken vermischt mit fremden ausstrahlte. Er richtete sich auf. »Schnell, wenden Sie; fahren Sie dorthin!« Der Chauffeur preßte die Lippen aufeinander, hupte und gab Gas. »Fahren Sie um die Ecke!« brüllte Har-
per ihn an, doch der Mann am Steuer reagierte nicht. So wurden die fremden Gedanken schwächer und schwächer, bis sie schließlich ganz verschwanden. »Verflucht noch mal«, fuhr Harper ihn an, »Sie haben die Chance Ihres Lebens verpaßt!« Keine Antwort. Da gab er es auf und ließ sich wieder zurücksinken. Er fragte sich, ob die wahrgenommenen Gedanken von McDonald oder einem seiner unbekannten Genossen gekommen waren. So etwas war einfach nicht zu beantworten, denn die Gedanken dieser Wesen enthüllten niemals ihre menschliche Persönlichkeit. Er wußte nur mit Bestimmtheit, daß ein Feind frei durch die Straßen ging, obwohl es in der Stadt von Polizei wimmelte. Seine Laune hatte sich kein bißchen gebessert, als der Wagen zwei Stunden später durch ein stark bewachtes Haupttor und über einen kleinen Hügel fuhr und schließlich vor einer Gebäudegruppe hielt, die von der Straße aus nicht zu erkennen war. Vor dem Eingang des größten Hauses stand ein Schild mit der Aufschrift: »Verteidigungsministerium – Biologische Forschungsanstalt.« Die vier Männer im ersten Wagen scharten sich sofort um Harper und eskortierten ihn durch die Tür – in der Art von Männern, die überzeugt sind, daß ihr Schützling die Flucht ergreifen werde, sobald man ihm nur den geringsten Spielraum ließe. Auch das sind Leute, denen man die Geschichte nur sehr lückenhaft erzählt hat und die naturgemäß übertreiben, dachte Harper verärgert. In einem Vorzimmer nahm er Platz, während drei Männer ihn aufmerksam beobachteten und der vierte den Raum verließ. Nach einer Weile kehrte er mit ei-
nem grauhaarigen Herrn in einem weißen Kittel zurück. »Schau einmal an, Wade Harper. Das ist aber nett!« »Was sollte an meinem Besuch denn so überraschend sein?« fragte Harper mißvergnügt. »Als wir uns vor vier Jahren das letztemal sahen, hast du dich nicht so angestellt.« Einer der vier Polizisten mischte sich jetzt ein und sagte: »Wenn Sie und Dr. Leeming sich schon kennen, dann ist eine Vorstellung nicht mehr nötig, und wir sind überflüssig.« Er winkte den anderen und verließ mit ihnen den Raum. Leeming erklärte: »Man hat mich gebeten, zusammen mit einem heute hier eintreffenden Experten eine Untersuchung durchzuführen, und man hat mir gleichzeitig zu verstehen gegeben, daß an den Entscheidungen dieses Experten nicht zu rütteln sei. Hingegen hat man mir nicht gesagt, wer dieser Spezialist sein würde.« Er trat einige Schritte zurück und musterte Harper vom Kopf bis zu den Füßen. »Und der Mann bist also du. Die vier Jahre haben dir aber nicht gutgetan. Du siehst älter und bissiger aus.« »Das würdest du auch, wenn du in meiner Haut stecktest«, erwiderte Harper böse. »Man hat mich wie eine königliche Hoheit hierhergebracht – Polizisten vor mir, Polizisten hinter mir, und wenn ich mich nicht täusche, flogen auch noch Hubschrauber über uns hinweg. Nun sagt mir mein Instinkt, daß man dieses ganze Theater nicht gemacht hat, damit ich hier einem Bazillus den Bart abrasiere. Auf der anderen Seite habe ich auch Geschäftssinn genug, um zu wissen, daß du mich nicht hergerufen hast, um mir einen Auftrag für Instrumente im Werte von minde-
stens zwölftausend Dollar zu geben. Was ist also los und was will man von mir?« »Ich werde es dir zeigen«, antwortete Dr. Leeming. »Komm bitte mit.« Der Wissenschaftler führte ihn durch verschiedene Gänge bis in einen langgestreckten Raum, der voll war von wissenschaftlichen Instrumenten. In aller Eile konnte Harper voller Befriedigung auch einige Apparaturen aus seiner eigenen Herstellung erkennen. Ein junger Mann mit Brille, weißem Mantel und sehr ernstem Gesicht sah nervös auf, als sie den Raum betraten. »Mein Assistent, Dr. Balir«, sagte Leeming. »Das ist Wade Harper.« Er deutete auf einen in der Nähe stehenden Mikromanipulator und die dazu gehörenden Teile. »Harper ist der Bursche, der diese Dinge herstellt.« Sichtlich beeindruckt sagte Balir: »Freue mich, Sie kennenzulernen.« »Dann sind Sie aber einer der ganz wenigen, die sich über meinen Anblick freuen«, bemerkte Harper trocken. »Kümmern Sie sich nicht um seine Grobheiten«, lachte Leeming. »Er spricht immer das aus, was ihm gerade in den Sinn kommt.« »Seit den lächerlichen Unsinnigkeiten der jüngsten Zeit fällt mir tatsächlich nichts Vernünftiges ein«, sagte Harper und sah sich um. »Warum bin ich hier?« Leeming ging an einen großen Tisch, holte eine Vergrößerung und reichte sie Harper, der das Foto aufmerksam musterte. Die Vergrößerung zeigte eine seltsame weiße Kugel mit einem sich durch die Mitte ziehenden farblosen Streifen.
»Ein Foto des Planeten Jupiter«, meinte Harper nachdenklich. Er war zu sehr in die Betrachtung der Aufnahme vertieft, um die Gedanken des anderen zu lesen. »Im Gegenteil«, antwortete Leeming. »Es ist etwas unendlich viel Kleineres, wenngleich fast ebenso massiv wie der Planet. Das ist die elektronenmikroskopische Darstellung eines Proteinmoleküls.« »Wenn du das Ding sezieren willst, bist du bei mir an der falschen Adresse. Es ist mir unmöglich, Dinge von solcher Winzigkeit zu behandeln. Es ist selbst für mich etwas zu klein.« »Das verlangen wir auch nicht«, entgegnete Leeming. »Wir wollen etwas ganz anderes.« Er legte die Aufnahme zurück und ging an einen großen Stahlsafe, der in die Wand eingelassen war. Er öffnete ihn sehr vorsichtig und entnahm ihm einen versiegelten, durchsichtigen Kunststoffbehälter, in dem sich ein Reagenzröhrchen befand, das zu einem Viertel mit einer klaren, farblosen Flüssigkeit gefüllt war. »Das hier«, sagte er, »ist dasselbe, was du auf der Aufnahme gesehen hast – nur in millionenfacher Auflage. Sagt dir das etwas?« Harper sah sich die Flüssigkeit an. »Nicht das geringste.« »Überlege gut und sieh es dir nochmals an«, schlug Leeming vor. »Das, was du hier in der Hand hältst, ist Leben.« »Leben?« »Ich meine damit, daß es noch die Fähigkeit besitzt, sich zu vermehren. Es ist ein Virus, das ich den Gehirnen und dem Rückenmark bestimmter Körper entzogen habe.«
»Ein erkennbares Virus?« »Nein.« »Kann man es filtrieren?« »Wir haben das nicht erst versucht. Wir haben es mit einem neuartigen Prozeß isoliert.« »Wenn es nicht tot ist, müßte man es doch hören können«, meinte Harper. »Genau das wollen wir von dir erfahren. Hat dieses Virus Sinne menschlicher Art? Man hat mir erklärt, daß du uns das sagen kannst.« Er runzelte die Stirn und fuhr fort: »Wenn du entscheidest, daß das Virus harmlos ist, dann bedeutet das, daß es durch unsere Behandlung harmlos wurde – oder aber, daß wir uns auf dem Holzweg befinden. In diesem Fall müssen wir wieder von vorn beginnen.« Harper lächelte. »Jedenfalls ist es nicht nötig, daß du dastehst und das Virus mit ausgestrecktem Arm hältst, als ob es eine tote Katze wäre, die du aus dem Wasser gefischt hast. Leg das Ding ruhig wieder in seinen Kasten und schließe ihn zu; das ändert nämlich nichts an meiner Urteilskraft. Wenn diese Sache tatsächlich verdächtig wäre, dann hätte ich es bereits im Vorzimmer gemerkt, und es wäre nicht notwendig gewesen, hier hereinzukommen.« Leeming legte den Kunststoffbehälter in den Stahlschrank zurück. »Dann sind wir jetzt auch nicht weiter als zuvor«, sagte er bedauernd. »Nicht unbedingt«, antwortete Harper. Er lehnte sich gegen einen Tisch und begann, die Gedanken der beiden Wissenschaftler zu lesen. »Man hat dir mitgeteilt, daß von der Venus drei Raumfahrer zurückgekehrt sind, die von einer geheimnisvollen Krankheit angesteckt waren, welche in gefährlicher Weise wei-
terverbreitet wird. Dann solltest du bei einigen Opfern den Krankheitserreger isolieren, seinen Ursprung entdecken und möglichst ein Mittel zu seiner Bekämpfung finden. Drücke ich mich richtig aus?« Leeming nickte. »Es handelt sich um eine streng geheime Untersuchung. Ich nehme aber an, daß man dich unterrichtet hat.« »Unterrichtet? Ich habe mir diese Information selbst besorgt.« Harper beugte sich etwas vor und blickte Leeming fragend an. »Bist du sicher, daß der Krankheitserreger in diesem Virus zu finden ist?« »Bis zu deiner Ankunft war ich davon überzeugt, jetzt aber nicht mehr.« »Was hatte dich zu dieser Überzeugung gebracht?« »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sorgfältig wir bei der Arbeit vorgegangen sind. Die Aufgabe war besonders schwer, weil wir alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen mußten, da eine große Ansteckungsgefahr bestand. Deshalb durften wir die Toten nicht anfassen. Unsere besten Fachleute haben Tag für Tag ihr Bestes gegeben, um nichts zu übersehen. Und alles, was wir jetzt vorzeigen können, ist ein uns unbekanntes Virus. Natürlich hatten wir so etwas erwartet, aber jetzt, nach deiner Erklärung, scheint es doch, daß wir uns umsonst bemüht haben.« »Das habe ich nicht behauptet.« »Du hast doch erklärt, daß dir dieses Virus nichts sagt.« »Das tat es auch nicht, zumindest nicht in seinem gegenwärtigen Zustand.« Harper zögerte und fuhr dann fort: »Ich kann Personen erkennen, die von dem Übel befallen sind. Ich kann die Symptome erkennen; du hast mich hingegen gebeten, die Viren zu testen.
Das sind zwei verschiedene Probleme.« »Vielleicht kannst du mir einen Rat geben«, sagte Leeming. »Ich kann lediglich Vermutungen äußern. Du mußt dann selbst entscheiden, ob sie richtig sind oder nicht.« »Bitte, heraus mit der Sprache.« »Schön. Man hat mich hierhergeschickt, weil einige Leute zu einer lächerlichen Schlußfolgerung gekommen sind.« »Wie meinst du das?« »Offenbar glaubt man, daß man auch ohne Wasser schwimmen kann.« »Drücke dich bitte etwas deutlicher aus.« »Man kann nichts entdecken, wenn man nichts hat, womit man arbeiten kann. Du kannst doch auch nicht ohne Beine laufen, ohne Mund reden und ohne Gehirn denken. Wenn diese Viren das sind, was du annimmst und was sie auch nach meiner Überzeugung sein können, dann sind sie gelähmt, festgebunden, eingeschlossen, geknebelt, geschlagen.« »Ich glaube, ich kann dich verstehen«, antwortete Leeming nach kurzer Überlegung. Er lächelte süßsauer. »Du scheinst uns nicht gerade für Intelligenzgrößen zu halten, was?« »Ich habe dich weder als geistesschwach noch als dumm bezeichnet. Ich habe nur meine eigene Hilflosigkeit angedeutet.« »Gut.« Leeming deutete auf den Stahlschrank. »Das aber ist nun nicht alles, was wir gewonnen haben. Es ist nur die Hälfte. Den Rest haben wir für einen Versuch benutzt.« »Du hast die Viren jemand eingeimpft?«
»Ja, einem Hund.« Harper blickte ihn fassungslos an und war einer Ohnmacht nahe. In seinem ganzen Leben hatte er noch niemals die Gedanken eines Tieres untersucht, hatte auch noch nie Gedankenausstrahlungen verspürt, die von Tieren ausgingen. Telepathisch waren Hunde und Katzen, Vögel und anderes Getier überhaupt nicht vorhanden. Sie befanden sich irgendwo ober- oder unterhalb der Frequenzen, die von menschlichen Gehirnen ausgestrahlt wurden. Er konnte ebenso wenig tierische Gedanken abhören, wie es möglich war, mit bloßem Auge ultraviolette Strahlen wahrzunehmen. »Was ist mit dem Tier geschehen?« »Es lebt. Es lebt immer noch. Willst du es einmal sehen?« »Gern«, erwiderte Harper. Harper telefonierte zunächst mit Jameson und sagte: »Ich befinde mich im Biologischen Forschungsinstitut, wie Sie wahrscheinlich schon wissen, denn ich nehme an, daß Sie meine Reise hierher organisiert haben. Ich hätte gern General Conway am Apparat, mit dem Dr. Leeming etwas Wichtiges zu besprechen hat.« »Warum wenden Sie sich dann an mich?« fragte Jameson. »Sie werden sich entsinnen, daß ich früher schon einmal versucht hatte, Conway zu erreichen; heute haben aber weder Leeming noch ich viel Zeit zu verschwenden. Deshalb wollte ich Sie bitten, uns jetzt direkt mit dem General zu verbinden, damit wir nicht von zu vielen Zwischenstellen aufgehalten werden.« »Schauen Sie, Harper...«
»Keine Einwände«, schnarrte dieser wütend. »Sie haben mich wahrhaft oft genug ausgenutzt, und jetzt nutze ich Sie eben auch einmal aus. Tun Sie also, worum ich Sie bitte, und beeilen Sie sich!« Er legte den Hörer ab, ließ sich auf einen Stuhl sinken, starrte das Telefon an und begann zu schimpfen. Leeming sah ihn fragend an: »Wer ist denn dieser Jameson?« »Ein großer Mann beim FBI.« »Und du gibst ihm Befehle?« »Es war das erstemal«, sagte Harper, »und wie ich ihn kenne, wird es auch das letztemal gewesen sein.« Er brütete eine Weile vor sich hin, wurde dunkelrot und sagte dann: »Ich sehe nicht ein, daß gewisse Leute nur Befehle erteilen sollen, während andere diese auszuführen haben. Es ist an der Zeit, die Rollen einmal zu tauschen, und wäre es auch nur vorübergehend. Schließlich leben wir doch in einem demokratischen Staat.« »Na, na, na«, protestierte Leeming. »Warum schimpfst du denn mit mir? Mir geht es doch auch nicht besser. Ich nehme die Dinge eben so hin, wie sie sind.« »Den Teufel tust du! Wenn es einem von euch Wissenschaftlern nicht mehr gefällt, dann können wir alle –« Er brach ab und kaute unruhig an seiner Unterlippe. »Kümmere dich nicht um mich«, sagte er dann sanfter. »Einmal im Monat packt mich die Wut, und da muß ich mir Luft machen, oder ich platze.« Er sah auf die Uhr. »Jameson hatte Zeit genug, etwas zu unternehmen, und da wir die Verbindung nicht bekommen, hat er auch nicht die Absicht, sie uns zu beschaffen. Ich möchte wetten, daß er nichts für uns tut.«
»Ich wette nicht, denn du kennst ihn besser als ich.« Harper ging ans Telefon. »Ich will mal sehen, was ich auf direktem Wege erreichen kann.« Er stellte eine Verbindung her, und ein jugendliches Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Mein Name ist Wade Harper«, sagte er. »Ich möchte gern General Conway sprechen. Es ist äußerst dringend.« »Einen Augenblick, bitte.« Das Gesicht verschwand, und es zeigten sich gleich darauf die Züge eines älteren und erfahrenen Mannes. »Worüber möchten Sie mit dem General sprechen?« fragte dieser. »Was geht Sie das an?« antwortete Harper böse. »Gehen Sie schleunigst zu Connie und fragen Sie ihn, ob er mit mir sprechen will oder nicht!« »Ich befürchte, daß ich das nicht tun werde, wenn ich nicht weiß, um was –« Der Mann warf einen Blick zur Seite und sagte dann schnell: »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.« Damit war er verschwunden. Wenige Sekunden später tauchte er wieder auf und machte einen recht verwunderten Eindruck. »Bleiben Sie am Apparat, Mr. Harper. Wir verbinden Sie weiter.« Harper grinste den leeren Bildschirm an und wandte sich an Leeming. »Es sieht aus, als ob ich meine Wette verloren hätte. Jameson hat sich gerührt, wenn auch ein wenig langsam.« »Das überrascht mich eigentlich.« »Auch ich bin überrascht, und ich würde etwas
Passendes dazu sagen, wenn ich nur die Zeit hätte, mir eine entsprechende Bemerkung auszudenken.« Auf dem Schirm wurden jetzt graue Flecken sichtbar, die sich zusammenfügten. Dann erschienen die ruhigen Züge General Conways auf der Fläche. »Was ist los, Mr. Harper?« Harper gab eine kurze Erklärung und reichte den Hörer dann an Leeming, der ihm in gedrängter Form eine Schilderung der Lage gab und damit schloß, daß er zur Fortsetzung seiner Versuche ein menschliches Versuchsobjekt brauche und hoffe, daß General Conway ihm bei der Beschaffung behilflich sein werde. »Ich mißbillige ein solches Vorgehen«, sagte Conway scharf. Leeming errötete. »In diesem Fall, General, dürfen Sie von uns keine Fortschritte erwarten. Damit ist weiteren Experimenten ein Riegel vorgeschoben.« »Unsinn, Mann! Ich achte Ihr Bestreben außerordentlich hoch und verstehe auch Ihren Vorschlag, kann aber nicht wertvolle Stunden damit verbringen, herauszufinden, auf welche legale Weise ich Ihnen einen Verurteilten beschaffen kann, zumal ich Ihre Absicht für sinnlos halte.« »Ich habe diese Bitte an Sie gerichtet, weil ich deren Erfüllung für ungemein wichtig ansehe«, beharrte Leeming. »Nein!« donnerte Conway. »Man hat Ihnen bereits die Leichen von vier Opfern geschickt. Heute fanden wir zwei weitere Tote, die wir Ihnen zusenden werden. Da sich die Gefahr offensichtlich ausbreitet und die Zahl der angesteckten Personen wächst, kann es nur eine Frage von Tagen sein, bis wir eines der Op-
fer lebend erwischt haben, das Ihnen dann zur Verfügung steht. Wollen Sie noch mehr?« »Das wär's«, sagte Leeming zu Harper, nachdem das Gespräch zu Ende war. Harper nickte und sah auf seine Uhr. »Bevor ich gehe, möchte ich noch gern etwas erfahren – vorausgesetzt, du bist bereit, es mir zu sagen.« »Was möchtest du denn wissen?« »Wie überträgt sich diese Krankheit?« »Auf dieselbe Weise, wie wir es mit dem Hund gemacht haben«, erläuterte der Wissenschaftler. »Durch Injektion. Miss Whittingham hat eine Injektion in den Arm mit dem Blut eines Erkrankten bekommen.« »Wir können aber nicht genau sagen, daß der Hund angesteckt ist?« »Nein, doch dafür wissen wir es von Miss Whittingham. Und wir haben auch festgestellt, daß sie eine Injektion bekam, ebenso zwei andere Opfer, an deren Körpern wir die Spuren der Injektion deutlich erkennen konnten. Meiner Überzeugung nach reagierten sie in derselben Weise wie der Hund. Ein paar Minuten völliger Verwirrung, dann Zusammenbruch und hierauf rasche und vollständige Wiederherstellung.« »Nun, die Tatsache, daß eine einfache Berührung nicht genügt, beruhigt mich etwas«, murmelte Harper. »Das heißt also, daß jemand erst geschnappt und festgehalten werden muß, bis man ihm eine Spritze verabreicht hat.« Leeming nickte und sagte: »Meine Ansicht hat aber nur dann Gültigkeit, wenn dieses Virus auch der
Krankheitserreger ist. Sollte das nicht der Fall sein, dann...« Er streckte die Hände aus. »Könntest du mir noch etwas über das Virus sagen?« »Es nistet sich im Gehirn und in der Wirbelsäule ein. Der Rest ist graue Theorie.«
12 Rausch saß im Büro, als Harper am nächsten Morgen eintraf. »Gestern abend haben wir bis um acht Uhr hier gesessen«, erzählte er, »da wir überzeugt waren, daß Sie zurückkehren würden. Wenn uns der Fahrer nicht mitgeteilt hätte, daß er Sie sicher in Ihrer Wohnung abgeliefert hat, wären wir vielleicht gezwungen gewesen, die ganze Nacht hier zu sitzen.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Es war zu spät, um noch ins Büro zu fahren«, meinte Harper und nahm den Hut ab. Er setzte sich hinter den Schreibtisch und griff nach der Post. »Wo ist Norris? Warum sind Sie gekommen? Ich dachte, Sie wollten das Haus der Brüder Baum bewachen?« »Wir haben die Hoffnung aufgegeben, dort jemand zu fangen. Die Nachricht vom Tod der Brüder Baum stand gestern in allen Abendzeitungen. In jenem Haus werden wir keinen mehr schnappen, und wenn wir ein ganzes Jahr warten.« »Das beweist, daß es immer noch Leute gibt, die es fertigbringen, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen.« Harper öffnete zwei Briefumschläge und überflog den Inhalt. »Sie, mein Lieber, gehen für meinen Geschmack viel zu scharf vor. Ja, diese Verbrecher...« Gedankenvoll blickte er auf. »Sofern man die Bande überhaupt als Verbrecher bezeichnen kann.« »Wie wollen Sie die Leute denn nennen?« »Ich möchte von einer Bedrohung sprechen. Oder einer Gruppe pockenkranker Menschen, die sich vor den Gesundheitsbehörden verstecken.« Er las den in der Hand gehaltenen Brief nochmals durch und legte
ihn dann in eine Mappe. »Wohin, sagten Sie, ist Norris gegangen?« »Ich habe überhaupt nichts gesagt, doch wenn es Ihnen Freude bereitet, dann sei Ihnen mitgeteilt, daß er sich auf eine wahrscheinlich erfolglose Reise begeben hat – eine weitere erfolglose Reise, möchte ich betonen!« »Eine weitere erfolglose Reise?« »Gestern, während Ihrer Abwesenheit«, erklärte Rausch, »hat man nicht weniger als acht angebliche McDonalds festgenommen! Und, wie zu erwarten war, konnte keiner von ihnen als der echte identifiziert werden. Vor einer halben Stunde ist Norris losgefahren, um einen Blick auf Nummer neun zu werfen.« »Wie will er ihn denn erkennen?« »Das ist nicht allzu schwer; er besitzt doch die Fingerabdrücke und andere Angaben. Seine Identifizierungsmöglichkeiten sind so groß, daß er ihn ohne jeden Zweifel aus einer großen Zahl Menschen herausfinden könnte. Nur haben wir bis jetzt noch nicht die Hand auf den richtigen Mann gelegt.« »Hat sich sonst etwas Wesentliches ereignet?« fragte Harper. »Ihr Freund Riley hat gestern nachmittag angerufen und wollte wissen, wohin Sie gefahren seien.« »Haben Sie es ihm gesagt?« »Wie konnten wir das? Wir haben es doch selbst nicht gewußt – und wenn wir unterrichtet gewesen wären, hätten wir es ihm gewiß nicht mitgeteilt.« »Hat er nicht gesagt, was er von mir wollte?« »Nein; wahrscheinlich rief er nur aus Neugierde an. Er sagte, daß er noch einmal anrufen oder vorbei-
kommen würde. Am Spätnachmittag tauchte Riley dann tatsächlich hier auf und hat ein wenig mit Ihrer Sekretärin geflirtet.« Harper ließ den Brief sinken und blickte Rausch scharf an. »Sagen Sie das bitte noch einmal! Er hat mit ihr geflirtet? Das halte ich für ausgeschlossen. So etwas hat er in seinem ganzen Leben nicht getan, denn er ist schwer verheiratet.« »Vielleicht läßt seine Frau die Zügel etwas lockerer.« Harper schüttelte den Kopf. »In zehn Minuten kommt Moira. Ich werde sie einmal fragen.« »Geht sie denn das Liebesleben Ihrer Sekretärin etwas an?« »Eigentlich nicht, denn wir sind nur geschäftlich liiert.« »Nun, Sie sind der Chef hier«, meinte Rausch kopfschüttelnd und verließ den Raum, kehrte aber nach einer Weile neugierig zurück, als er Moira kommen hörte. Harper wartete, bis das Mädchen an der Schreibmaschine Platz genommen hatte, und fragte dann: »Was ist zwischen Ihnen und Riley los?« Sie war verwundert: »Was meinen Sie damit, Mr. Harper?« »Ich habe ihm erzählt, daß Riley sich für Sie interessiert«, bemerkte Rausch und grinste. »Ach, das ist kein richtiges Interesse.« Sie errötete. »Er hat nur ein wenig mit mir gescherzt, aber das war natürlich nicht ernst gemeint.« »Das hat er noch nie getan?« »Nein, Mr. Harper. Ich nehme an, daß er sich ein
wenig die Zeit vertreiben wollte, weil Sie nicht da waren.« Harper beugte sich vor und sah sie an, las aber nicht ihre Gedanken. »Hat er versucht, sich mit Ihnen zu verabreden?« »Er hat mir eine Theaterkarte angeboten, die er von jemand bekommen hatte. Er sagte, er brauche sie nicht, und deshalb sollte ich sie nehmen.« »Und haben Sie sie genommen?« »Nein, es ging nicht, weil ich für gestern abend schon eine Verabredung hatte.« »War er enttäuscht?« »Eigentlich nicht.« Sie sah erst den zuhörenden Rausch an, dann warf sie Harper einen fragenden Blick zu. »Was bedeutet das alles?« »Gar nichts. Ich möchte nur wissen, ob Riley gestern nachmittag betrunken oder nüchtern war. Das wäre interessant, denn meiner Erinnerung nach war Riley noch niemals angesäuselt.« »Man muß doch nicht unbedingt betrunken sein, um mein Vorhandensein zu bemerken«, entgegnete Moira spitz. »Da haben Sie recht, Baby«, nickte Rausch. »Sie haben sich geirrt, Harper.« »Mischen Sie sich freundlichst nicht in meine Privatangelegenheiten«, antwortete dieser. Später begab sich Harper in die Werkstatt. Dort begegnete ihm Norris, der eben mit saurem Gesicht von einer erfolglosen Ausfahrt zurückkehrte. »Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen eine Ähnlichkeit mit dem gesuchten Mann besitzen.« »War es wieder einmal der falsche?« »Leider. Allerdings sah er McDonald so ähnlich,
daß man den Irrtum entschuldigen kann. Der Mann war in größter Eile, verlor die Nerven und geriet in Wut. Was ja immer verdächtig ist.« »Überlegen Sie mal«, sagte Harper. »McDonald ist mit viel Gepäck entkommen und hatte eine Stunde Vorsprung. Glauben Sie, daß er sich noch immer in der Stadt befindet?« »Nein. Die Chancen dagegen stehen hundert zu eins. Wir haben weder von ihm noch von den Reeds eine Spur gefunden. Deshalb denke ich, daß sie uns durch die Maschen geschlüpft sind. Trotzdem dürfen wir uns keine Gelegenheit entgehen lassen, mag sie auch noch so bescheiden sein. Man kann ja nicht wissen...« »Nun aber will ich Ihnen einmal etwas sagen. Wenn diese drei Leute entkommen sind, dann haben sie zumindest einen Verbindungsmann hier zurückgelassen!« »Woher wollen Sie das wissen?« fragte Norris erregt. »Weil ich gestern an einem solchen Burschen vorbeigekommen bin. Ich versuchte, meinen Fahrer zum Halten oder Wenden zu bewegen, aber der lehnte ab. Die Leute hatten ihre Befehle erhalten und führten diese aus, als ob sie Roboter seien. Daran kann man sehen, wie gründlich tierische Unterordnung die persönliche Initiative töten kann.« Norris gefiel die letzte Bemerkung gar nicht. »Haben Sie eine Ahnung, wer es war?« fragte er weiter. »Nicht die geringste. Wenn ich etwas gewußt hätte, hätte ich es Ihnen noch gestern abend gesagt und Ihnen damit einige Wege erspart. Ich kann lediglich einige Vermutungen äußern.«
»Dann vermuten Sie doch mal! Vielleicht haben Sie Glück.« »Meine Ansicht ist aber völlig aus der Luft gegriffen«, warnte Harper. »Ich kann jedoch den Gedanken nicht loswerden, daß ein Mann, der gejagt wird, am sichersten immer noch in der Stadt ist, wo jeder ihn sucht, ohne jedoch an einen Erfolg zu glauben. Der Gesuchte nutzt einfach die allgemeine Verwirrung und Erregung aus.« »Weiter«, drängte Norris. »Da nun mein Hiersein auf die Gegner eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt, da zusätzlich jedermann nach McDonald sucht...« »Sagen Sie es doch!« »... hat Gould die denkbar beste Möglichkeit, sich hier verborgen zu halten.« Er sah den anderen aufmerksam an. »Wer sucht eigentlich ihn hier in der Stadt?« »Alle – im ganzen Land.« »Ich spreche aber nicht vom ganzen Land, sondern nur von dieser Stadt. Und in dieser Stadt hat man sich nur auf die Suche nach McDonald konzentriert und rechnet überhaupt nicht mit Gould.« »Ob dieser Verdacht berechtigt ist, weiß ich nicht«, warf Rausch jetzt ein. »Es wäre aber vielleicht angebracht, wenn man Gould hier in der Stadt mit demselben Eifer suchen würde wie McDonald.« »Sehen Sie zu, daß sofort alle Maßnahmen in die Wege geleitet werden«, befahl Norris und wartete, bis Rausch hinausgegangen war. Dann fragte er: »Wie kommen Sie auf diesen Einfall?« »Zuschauer sehen immer mehr vom Spiel als die Teilnehmer. Außerdem wurde auch ich schon einmal
gesucht, Sie aber nicht. Es hilft eine ganze Menge, wenn man es versteht, sich in einen anderen hineinzuversetzen. Deshalb ist ein ehemaliger Verbrecher auch zu einem der besten Detektive geworden.« »Sie meinen Eugène Francois Vidocq? Ich werde ihn demnächst einmal besuchen«, versprach Norris. »Sofern ich nicht gerade im Gefängnis bin, um mich zu bilden.« »Sie werden ihn nicht mehr besuchen können. Er ist schon lange tot. Allerdings –« Er schwieg, denn seine Gedanken tasteten und stießen auf etwas Unheimliches. Da kam es wieder, das fremdartige Geräusch, wie Statik beim Funkverkehr. Norris war die Veränderung an Harper nicht aufgefallen. »Was wollten Sie sagen?« »Nichts Wichtiges.« Harper machte eine ungeduldige Handbewegung, ging in sein Büro zurück und setzte sich auf seinen Stuhl. Er griff unter den Arm und tastete nach der Pistole. »Moira«, sagte er dann ruhig, »nebenan liegt ein Paket für Schultz-Masters. Es wird dringend erwartet, und ich möchte, daß Sie es sofort zur Post bringen. Sehen Sie zu, daß Sie es noch vor der Mittagspause schaffen. Es genügt, wenn Sie nach dem Essen wiederkommen.« »Und was ist mit der Korrespondenz, Mr. Harper?« »Die kann bis zum Nachmittag liegenblieben. Gehen Sie jetzt, damit ich nicht lügen muß, fall jemand von Schultz-Masters anrufen sollte.« »Gut.« Sie holte das Paket und ging. Harper trat ans Fenster und blickte ihr nach. Sie schlug eine der Gefahr entgegengesetzte Richtung ein; das beruhigte
ihn. Sie war fürs erste in Sicherheit. In etwa drei Meter Abstand folgten ihr zwei gleichgültig aussehende Männer. Sie wußten, wohin sie ging, denn der nebenan sitzende Polizist hatte seine Kollegen bereits unterrichtet. Harper öffnete nicht das Fenster, wie er es bei der Annäherung von Ambrose Baum getan hatte. Er blieb hinter der Scheibe stehen und strengte seine Sinne an, ohne allerdings den Fehler zu begehen, einen eigenen Gedankenimpuls auszuschicken. Deshalb würde er jetzt auch keine Gedanken lesen können und sich mit dem bescheiden müssen, was der Träger des Virus freiwillig aussagte. Er wollte sich ganz mit dem begnügen, was er ohne jede Anstrengung gedanklich lesen konnte, gleichgültig, ob es nun wichtig war oder nicht. Der andere kam nur sehr langsam voran, und ebenso zögernd kamen seine Gedanken. Wahrscheinlich blieb er häufig stehen, um Schaufenster zu betrachten. Doch der Gedanke schien nicht von jemand zu stammen, der sich fürchtete. Die seltsamen Statikgeräusche waren die Sprache einer anderen Welt, die Gedankenform einer fremden Wesenheit. Obwohl Harper seine Aufmerksamkeit auf den Näherkommenden konzentrierte, brachte er es doch fertig, eigene Überlegungen anzustellen. Was würde geschehen, wenn dieser Fremde nun William Gould wäre? Wie konnte er hoffen, bis zu Harper vorzudringen, um dort seinen noch unbekannten Plan auszuführen? Es war wenig wahrscheinlich, daß man vorhatte, ihn zu töten, denn diese Wesen wollten auf alle Fälle erfahren, auf welche Art und Weise man sie erkennen
konnte. Wenn sie den einzigen Mann umbrachten, der ihnen dieses Geheimnis verraten konnte, dann würden sie genauso unwissend sein wie zuvor. Ihre Taktik würde also darin bestehen, Harper gefangenzunehmen, um die Wahrheit aus ihm herauszupressen. Wenn sie erst Bescheid wußten, würde der Rest sehr einfach sein. Sie würden ihn ebenso in ihren Besitz nehmen, wie sie es mit den anderen getan hatten, und dann würde er zu ihnen gehören, ganz zu ihnen, und nach ihren Wünschen handeln. Auch würden sie dann wissen, gegen wen sie zu kämpfen hatten und sich gegen ähnliche Gefahrenquellen zu sichern verstehen. Deshalb mußte der Ankömmling sehr wahrscheinlich erkunden, wie Harper am besten zu entführen sei. Folglich mußten sich anderswo noch mehrere dieser Wesen befinden, denn dieses Unternehmen konnte einer allein nicht ausführen. Der fremde Gedankenstrom war inzwischen stärker geworden, aber Harper beachtete ihn nicht mehr, sondern begann, die Gegend nach anderen gefährlichen Einflüssen abzutasten. Vielleicht befanden sich zwanzig oder mehr solcher Geschöpfe unterwegs; um ihn zu überwältigen. Doch er konnte keinen anderen Gegner ausfindig machen. Es kam nur einer, und sollte er Gefährten haben, dann blieben sie verborgen. Vielleicht aber hielten sie sich auch aus seinem Wahrnehmungsbereich entfernt – absichtlich oder zufällig. Diesmal verzichtete er darauf, Norris zu warnen, wie es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre. Er war entschlossen, diesen Fall selbst und auf eigene Faust zu erledigen. Bis jetzt war es den Behörden nur mög-
lich gewesen, einige Tote zu untersuchen, ein Virus zu isolieren und eine Aufnahme herzustellen. Wenn er jetzt handelte, konnte er vielleicht etwas Besseres liefern. Er dachte nicht an die ihn bedrohende Gefahr, die ihn vielleicht sein Leben kosten konnte. Er war ungeduldig – mehr ungeduldig als mutig. Der fremde Gedanke kam nun unter seinem Fenster vorbei. Harper versuchte nicht, den Mann zu erblicken. Er wollte alles vermeiden, was den Ankömmling warnen konnte. Würde er vorbeigehen, dann wollte Harper ihm nachlaufen; würde jener aber eintreten, dann wollte er selbst hier sitzen und den Dummen spielen. Doch der andere kam seelenruhig durch die Haustür und dachte plötzlich wie ein Mensch, als ob er umgeschaltet worden sei. Der Ankömmling war den unten wartenden Polizisten begegnet und hatte sich sofort den menschlichen Gewohnheiten und Gepflogenheiten angepaßt. Dies geschah mit der überraschenden Anpassungsfähigkeit einer Lebensform, die immer nur Masken trug, weil sie keinen eigenen Körper besaß. In diesem Augenblick wußte Harper auch, wer kam. Er las es in den Gedanken der Polizisten, die mit dem Ankommenden einige Worte wechselten. »Ist der Affenmensch da, oder jagt er wieder hinter dem Geld her?« »Er ist oben.« »Ist es erlaubt, daß ich zu ihm gehe?« »Gehen Sie nur!« Harper lächelte grimmig. Er registrierte die Gedanken der Polizisten, als sie den Feind durchließen.
Dann las er Norris' Gedanken, der auf einer Bank in der Werkstatt saß und den Besucher passieren ließ. Dann trat der Fremde ein, und Harper fragte mit gespielter Gleichgültigkeit: »Hallo, Riley, was führt dich denn hierher?« Riley setzte sich auf Moiras Platz, sah Harper durchdringend an und dachte: Man nimmt an, daß er uns auf geheimnisvolle Weise erkennen kann. Alles deutet auf diese Tatsache hin. Jetzt aber reagiert er nicht. Seltsam. Da scheint was faul zu sein! Laut sagte er: »Ich passe ein bißchen auf dich auf.« »Warum denn das?« »Fünftausend Dollar kann sich der Mann verdienen, der Aldersons Mörder findet. Ledsom hat das nicht vergessen – trotz der Suche nach den drei Burschen, von denen keiner weiß, was sie eigentlich getan haben.« »Auch ich habe es nicht vergessen. Fünftausend sind eine Menge Geld.« Harper nickte. »Und du willst mich für diese Summe verkaufen?« »Nein, denn ich glaube nicht, daß du es getan hast. Hingegen bin ich davon überzeugt, daß du viel mehr weißt, als du gesagt hast. Und wenn erst dieser ganze Zauber vorbei ist, wirst du dich doch sicher auch um die alte Sache kümmern?« »Und dann?« »Vielleicht brauchst du meine Hilfe. Oder ich die deine. Wir könnten uns die Belohnung gemeinsam verdienen.« »Ich hätte nie gedacht, daß du in deinem Alter noch zu einem Geschäftsmann – und zum Schürzenjäger werden könntest.« »Wieso das denn?«
Harper versuchte immer wieder, einige Gedanken des anderen zu erhaschen, und sagte: »Ich finde es geschmacklos, daß du hinter meinem Rücken mit Moira flirtest.« »Quatsch!« »Du hast ihr doch eine Theaterkarte angeboten!« Das war der Auslöser. Die Gedankenantwort auf seine Feststellung dauerte nur zwei, drei Sekunden, aber sie war ausführlich genug, um ein ganzes Bild zu zeichnen. Moira sitzt unschuldig auf Theaterplatz U 17. William Gould scheinbar ebenso unschuldig auf Platz U 18. Unterhaltung während der Pausen, gemeinsamer Heimweg – und Moira wäre nicht länger ein Mensch. Gould war jung und sah gut aus. Nur die Tatsache, daß Moira keine Zeit gehabt hatte, ins Theater zu gehen, hatte den Plan vereitelt. »Ich konnte die Karte nicht verwenden«, erwiderte Riley. »Was hätte ich denn tun sollen? Sie verfallen lassen?« »Du hättest sie ja deiner Frau geben können.« Ein anderes Gedankenbild erschien und bestätigte die Befürchtung, die Harper bereits gehegt hatte. Rileys Frau war kein Mensch mehr. Sie war die lebende Kolonie eines Virus, das den Drang hatte, sich auszubreiten. »Sie geht nicht gern allein aus«, behauptete Riley. »Warum hackst du eigentlich auf solchen Bagatellen herum? Warum darf Moira nicht dahin gehen, wohin sie will?« Dabei dachte er: Dieses plötzliche Interesse an Moira ist wichtig. Das ist verdächtig! Ich verstehe nur nicht, wie er Verdacht geschöpft haben kann. Aber es sieht nicht so aus, als ob er wüßte...
»In den Augen der Polizisten«, sagte Harper, »stelle ich so etwas wie eine öffentliche Gefahr dar. Und wenn dies der Fall sein sollte, teilt Moira mein Schicksal, denn sie arbeitet mit mir und steht mir am nächsten. Ich möchte nicht, daß sie meinetwegen in Schwierigkeiten gerät.« Er bemühte sich, den Argwohn des anderen zu besänftigen. Harper dachte, daß diese Auseinandersetzung so etwas wie ein gedankliches Schachspiel war. Jeder versuchte, einen Vorteil zu erringen und den anderen zu überrumpeln. Jetzt aber machte Riley eine gefährliche Bemerkung. »Deine Befürchtungen mögen begründet sein, aber ich bin weder Gould noch Langley oder McDonald. Warum sollte Moira Schwierigkeiten bekommen, wenn ich ihr etwas schenke.« Gegen Angriff half nur der Gegenangriff. Harper sah Riley ruhig an und sagte: »Ich beschimpfe doch nicht dich. Ich bin nur etwas beunruhigt, weil ich nicht weiß, wer dir diese Theaterkarte gegeben hat.« Sofort kam die Gedankenreaktion: Gould! »Das ist doch egal«, erwiderte Riley ausweichend. »Wie will der Mann, der mir die Karte gegeben hat, jemals erfahren, daß ich nicht selbst hingegangen bin, sondern sie verschenkt habe?« »Lassen wir dieses Thema«, meinte Harper mit einer flüchtigen Handbewegung. »Die Jagd nach diesen drei Kerlen hat mich so nervös gemacht, daß ich meine eigene Mutter verdächtigen würde.« Der andere schluckte die Erklärung, weil sie überzeugend klang. »Je rascher wir sie erwischen, desto glücklicher werde ich sein«, fuhr Harper fort. »Nimm beispiels-
weise mal diesen McDonald. Er war erst kürzlich in dieser Gegend. Jeder einigermaßen intelligente Polizist hätte ihn eigentlich erwischen müssen.« Die Reaktion kam schnell und so stark, so klar, als ob Harper sie schriftlich vor sich liegen habe. Gould, McDonald, die Reeds und zwei andere Unbekannte hielten sich in Rileys Haus versteckt. Sie warteten auf Harper, den Riley unter irgendeinem Vorwand mitbringen sollte. Hier also lag der wahre Grund für Rileys Besuch. »Wie kommst du eigentlich darauf, falls du mich damit gemeint haben solltest, daß ich Erfolg haben könnte, wo ein ganzes Regiment Polizisten versagt hat?« Harper mußte rasch antworten: »Weil du schließlich hier aus der Stadt bist. Die anderen kennen sich hier kaum aus: Du aber hast Informationen, die ihnen nicht zugänglich sind.« Er lächelte. »Du kennst alle erdenklichen Verstecke oder solltest sie wenigstens kennen – nach den vielen Dienstjahren, die du auf dem Buckel hast.« Die Erklärung war nicht überzeugend. »Warum hat man sich denn nicht auf die hiesige Polizei verlassen?« »Da mußt du einen anderen fragen«, meinte Harper achselzuckend. »Vielleicht hatte jemand den glorreichen Gedanken, daß Quantität auch gleichbedeutend mit Qualität sei.« »Bis jetzt haben sie es anscheinend zu nichts gebracht«, sagte Riley. Doch es war kein Spott hinter seinen Worten verborgen. Es war die versteckte Aufforderung an Harper, den Namen Baum zu erwähnen und anzudeuten, wie man die Brüder identifiziert
hatte. Wie man erfahren hatte, wer sie in Wirklichkeit waren. Rileys Gedanken arbeiteten rasch – gedrängt von dem Wesen, das sie beherrschte. Doch trotz großer Anstrengungen fand es keine zufriedenstellende Erklärung dafür, daß man es offensichtlich nicht als das zu erkennen vermochte, was es war, während man die anderen sehr schnell durchschaut hatte. Augenblicklich fand es nur eine einzige, nicht einmal befriedigende Erklärung für das seltsame Phänomen: daß nämlich Harpers Fähigkeiten nur unter gewissen Voraussetzungen und Umständen eingesetzt werden konnten, die gegenwärtig nicht bestanden. Aber auch Theorien brachten die Wahrheit nicht näher. Im Gegenteil – die gegenwärtige Situation machte das Rätsel nur noch größer. Welche Fähigkeiten mochten das sein, die sich nur zeitweilig einsetzen ließen? In den wenigen Sekunden, die Riley damit verbrachte, über dieses Problem nachzudenken, beschäftigte sich Harper mit seinen eigenen Nöten. Wie konnte er Riley mit äußerster Vorsicht dessen Wissen entlocken, ohne sich selbst zu verraten? Welche Fragen, welche Bemerkungen mußte er laut äußern, um befriedigende Gedankenreaktionen zu erhalten? Wie konnte er erfahren, auf welche Weise Riley überwältigt worden war, wieviel andere Leute inzwischen besessen waren, wie sie hießen, wo sie sich versteckt hielten und so weiter? »Nein«, sagte Harper laut, »es hat ihnen nichts eingebracht.« Riley setzte seine Bemühungen fort. »Bis auf die Tatsache, daß sie zwei Brüder namens Baum zur
Strecke gebracht haben. Einer unserer Stadtpolizisten hat darüber berichtet. Es war kein Autounfall, gleichgültig, was immer sie behauptet haben mögen. Es war das Ergebnis einer Aktion, bei der du, mein Lieber, ebenfalls die Hände im Spiel hattest.« Harper schwieg. »Vielleicht geht mich das alles nichts an«, fuhr Riley fort. »Aber wenn ich erfahren könnte, wie und warum die beiden Baums gestorben sind, könnte vielleicht über sie eine Spur zu McDonald führen.« »Wieso?« fragte Harper und sah ihm in die Augen. »Besteht da eine Verbindung?« »Das weißt du doch ganz genau. Das alles betrifft doch dieselbe schmutzige Angelegenheit.« »Wer behauptet das denn?« Im Gehirn des anderen entstand eine vorübergehende Verwirrung, da Zweifel aufkamen an dem, was er bisher als Wahrheit betrachtet hatte. »Stimmt es denn nicht?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, entgegnete Harper mit ausdruckslosem Gesicht. »Verdammt! Wer soll es denn wissen, wenn du es nicht weißt?« Das war wieder eine Falle. Man konnte eine ausweichende Antwort geben, ohne sich dabei in allzu große Unwahrheiten zu verstricken. Harper machte – bildlich gesprochen – einen Sprung über die Falle hinweg, wobei es ihm kalt über den Rücken lief. »Ich weiß nur, daß die beiden mit McDonald gesehen worden sind. Man wollte sie darüber vernehmen, doch statt sich einem Verhör zu stellen, flüchteten sie – und so kam eins zum andern.« Er machte eine Pau-
se und fügte schließlich hinzu: »Mir ist vollkommen unverständlich, warum sie die Flucht ergriffen. Sie hatten sich doch überhaupt nichts zuschulden kommen lassen. Mir ist unbegreiflich, daß sie davonrannten.« Riley war nun völlig verwirrt. Hier war die Kernfrage gestellt worden, und derjenige, der am ehesten eine Antwort wissen sollte, suchte selbst nach einer Lösung. Immer wieder suchte Riley nach einer Antwort; er kam zu der Überzeugung, daß die Baums geflohen waren, weil sie sich auf irgendeine Weise durchschaut gefühlt hatten. Wie waren sie entdeckt worden? Was war geschehen? Vielleicht war es möglich, den Besessenen durch Berührung zu erkennen. Wo mochte die Lösung dieses Rätsels liegen? Vielleicht, so überlegte Riley, ließen sich die Zweibeiner dieses Planeten in zwei Kategorien einordnen. Eine Gruppe war verwundbar, weil sie nach einer bestimmten, noch unbekannten Methode als Träger der fremden Wesen erkannt werden konnte. Jocelyn Whittingham beispielsweise hatte zu jener Gruppe gehört, ebenso die Baums und andere. Aus unbekannten Gründen schien der andere Menschentyp gegen Harpers Kräfte immun zu sein – und zu denen gehörte wohl Riley. Harper, der mit gleichgültigem Gesicht diese Gedanken aufnahm, dankte seinem Schöpfer für diese Informationen. Riley überlegte weiter: Wenn diese Ansicht richtig sein sollte, dann ist die Rettung in unmittelbarer Nähe. Wir müssen herausbekommen, welche Eigenschaften den einen Menschentyp immun machen und wie man die eine
Gruppe von der anderen unterscheiden kann. Wir werden dann nur mehr Angehörige der immunen Kategorie übernehmen. Mit den anderen geben wir uns später ab. Wir – die Mehrzahl! In Augenblicken der Konzentration dachte Riley in der Mehrzahl! Im tiefsten Inneren war Harper entsetzt über die schrecklichen Tatsachen, die ihm enthüllt wurden. Die Venus-Wesen stellten eine Einheit dar, und jedesmal, wenn ein menschlicher Körper von ihnen befallen wurde, bedeutete es, daß sich die Gefahr, die sie darstellten, potenzierte. Entschlossen, die sich bietende Gelegenheit auszunutzen, fuhr Harper fort: »Jemand hat einmal gesagt, der einzige Unterschied zwischen den Leuten im Gefängnis und denen draußen bestehe darin, daß man letzteren nichts hätte nachweisen können. Möglicherweise hatten auch die Gebrüder Baum etwas auf dem Kerbholz und glaubten nun irrtümlich, sie seien entdeckt worden, worauf sie die Flucht ergriffen.« »Das wäre möglich«, gab Riley zu, während seine Gedanken den Faden weiterspannen. Doch diese Vermutung entspricht nicht der Tatsache. Sie hatten keine Veranlassung zu fliehen; sie fürchteten sich nur davor, daß man ihren Zustand durchschauen könnte. Harper weiß, wer sie waren, will es aber nicht zugeben. Er schweigt sich über seine Fähigkeiten aus. Eine kurze Pause, und dann: Jedenfalls kann er im Augenblick seine Fähigkeiten nicht einsetzen, und der Grund muß herausgefunden werden. »Ich halte es für sinnlos, noch länger Mutmaßungen anzustellen«, sagte Harper laut. »Damit kommen wir nicht weiter, und ich habe noch zu tun.« »Kannst du mir denn über McDonald nichts sagen?«
»Nein. Du mußt ihn schon selber suchen! Wenn du ihn erwischst, kannst du eine Menge Geld verdienen. Außerdem kann er dich vielleicht zu Gould führen, der ja auch gesucht wird.« »Gould...« Riley starrte ihn an. Wissen sie es, oder vermuten sie nur, daß er sich in der Stadt befindet? fragten die Gedanken. Das Ergebnis war für Harper enttäuschend. Er registrierte nur kurz die Bilder von mehreren Leuten, ohne zu erfahren, wer sie waren, wo sie sich aufhielten und welche Rolle sie zu spielen hatten. »Wenn Gould und McDonald endlich gefaßt worden sind«, fuhr Harper lächelnd fort, »dann haben wir Gelegenheit, den Mörder Aldersons zu finden und die fünftausend Dollar Belohnung zu kassieren, auf die du doch so scharf bist.« Diese Bemerkung war ein kluger Schachzug, denn die Erwähnung von Alderson brachte die gewünschte Reaktion – Teile einer lebendigen Erinnerung. McDonald hielt Jocelyn Whittingham fest, während Gould ihr die Injektion in den Arm gab. Jocelyn wehrte sich, schrie und weinte. Plötzlich hielt ein Streifenwagen hinter ihnen; ein Polizist stieg aus und lief auf den Thunderbug zu. Langley zog eine Pistole und schoß, ehe der Polizist etwas unternehmen konnte. Das brachte Harper plötzlich auf einen anderen Gedanken. Alle Polizeikräfte des Landes waren mobilisiert worden, um drei Männer zu suchen – drei Männer, nicht nur zwei. Und doch hatte Riley nicht nach Langley gefragt, hatte nur von Gould und McDonald gesprochen. Wußte Riley über Langleys Tod Bescheid? Wie hatte er es erfahren? Laut sagte er zu Riley: »Wegen Langley braucht
man sich natürlich keine Sorgen mehr zu machen.« Riley sagte nichts. Er dachte nur: Klar, der ist doch erledigt. »Von wem weißt du das?« fragte Harper. »Was?« »Nun, daß Langley tot ist.« »Ich verstehe dich nicht. Keiner hat mir etwas über Langley gesagt.« »Ich habe seinen Namen genannt«, erinnerte ihn Harper. »Ich habe eben gesagt, daß man sich wegen ihm keine Sorgen mehr zu machen braucht. Du hast darauf nichts erwidert. Daher habe ich angenommen, daß du über seinen Tod unterrichtet bist, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie du es erfahren hast.« »Das ist ein Irrtum«, sagte Riley hastig. »Was du sagst, kommt für mich völlig überraschend.« Doch es war zu spät. Er war in Harpers Falle getappt. Obwohl Riley bei Langleys Tod viele hundert Kilometer von diesem entfernt war, hatte er es doch sofort gewußt. Auf für Harper unerklärliche Weise hatte er Langleys Tod empfunden – mit derselben Klarheit wie ein Mensch, der in einem fernen Tal ein Licht verlöschen sieht. Diese Wesen besaßen in dieser Hinsicht eine Eigenschaft, die nichts mit menschlichen gemein hatte. Harper suchte nach einer Möglichkeit, eine weitere Fangfrage zu stellen. Er blickte in Rileys Augen, die einen ganz normalen Eindruck machten und nichts von dem verrieten, was hinter ihnen vorging. Er feuchtete seine Lippen an und sagte: »Langley und sein Begleiter saßen in der Falle. Sie schossen um sich wie die Wahnsinnigen, so daß es unmöglich war, sie lebendig festzunehmen.«
Scheinbar überrascht hob Riley die Augenbrauen. »Jedermann weiß, daß sie gesucht werden, aber kein Mensch weiß, warum. Es muß sich doch um eine wirklich ernste Sache handeln, da sich sonst die ganze Geheimniskrämerei einfach nicht erklären läßt.« »Frage mich bitte nicht nach den Gründen. Ich habe darauf keinen Einfluß. Aber du wirst ja selbst wissen, daß es den Leuten an der Spitze oft gefällt, geheimnisvoll zu tun.« Der andere brummte verächtlich. Jetzt war der kritische Punkt erreicht. Jetzt mußte er ganz vorsichtig handeln. Mit ausdruckslosem Gesicht fuhr Harper fort: »Es ist ja nicht ausgeschlossen, daß Langley den Verstand verloren hatte. Wenn dem so ist, dann gefällt mir die ganze Sache immer weniger.« »Was befürchtest du denn?« »Ich fürchte mich zum Beispiel vor dem Wahnsinn.« Harper richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Und wovor fürchtest du dich?« Harper fühlte, hörte, sah es deutlich vor sich, empfand geradezu das Entsetzen des anderen, das so ausgeprägt war, daß es nicht geschildert werden konnte. Noch mehr sogar: Harper erkannte die Ursachen dieser Angst; die Dinge, die jenen so große Furcht einflößten, befanden sich hier auf der Erde und warteten nur darauf, daß man sie anwendete. Er mußte die Lippen fest zusammenpressen, um nicht laut aufzuschreien. Riley stand auf und runzelte die Stirn. »Warum stellst du mir eigentlich eine so komische Frage?« Vor einer Weile deutete er an, daß er keine Zeit habe, weil eine Menge Arbeit auf ihn warte. Trotzdem hat er sich
mit mir unterhalten. Er hat mehrmals versucht, mich auszufragen, und ich mußte sehr vorsichtig sein. Dabei scheint er zufrieden zu sein mit meinen Antworten, obwohl ich seinen Fragen immer wieder ausgewichen bin. Wie ist das nur möglich?
13 Harper kratzte sich unter der Achsel, um die Hand in der Nähe der Pistole zu haben, und erklärte: »Ich weiß gar nicht, weshalb ich dir diese Frage gestellt habe. Die Antwort interessiert mich überhaupt nicht. Wenn dir das Thema nicht gefällt, dann betrachte meine Frage bitte nicht als gestellt. Doch jetzt haben wir lange genug geredet; meine Arbeit erledigt sich nicht von selbst. Hau' also ab und laß mich arbeiten.« Es gelang ihm nicht, den Gedankengang des Feindes in eine andere Richtung zu lenken. Er hat eine Waffe, dachte Riley. Ich habe sie oft gesehen. Er hat die Hand in ihrer Nähe und kann seine Spannung nicht verbergen. Das wäre nicht so, wenn er ahnungslos wäre. Er weiß also etwas, obgleich er versucht, es vor mir zu verheimlichen. Und nach einer kleinen Pause: Ich kam in der Gestalt seines alten Freundes, aber er behandelt mich wie einen Feind. Harper grinste und nahm die Hand aus der Jacke, um sich den Kopf zu kratzen. Das war ein Fehler. Beim großen schwarzen Felsen von Karsim, er kann meine Gedanken lesen! Mit einem Krach, der den ganzen Raum erschütterte, stürzte der Schreibtisch um, als sich Harper darüberstürzte und nach Rileys Hand griff, die dieser eben in die Tasche gesteckt hatte. Ein kleiner ovaler Gegenstand war in der Tasche verborgen, aber es gelang Riley nicht, ihn herauszuziehen. Riley fluchte in einer unbekannten Sprache und versuchte mit der freien Hand, sich Harpers Griff zu entziehen. Und Riley war ein kräftiger Mann mit den
Erfahrungen eines alten Polizisten. Unwiderstehlich zerrte er Harper an sich, doch Harper leistete plötzlich keinen Widerstand mehr, sondern warf sich nach vorn. Ächzend sank Riley zurück. Zusammen stürzten sie zu Boden, wobei Harper auf seinen Gegner zu liegen kam. Rileys Augen blitzten vor Wut; sein Gesicht war feuerrot angelaufen, und er wehrte sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften, um sich den Gegner so lange vom Hals zu halten, bis er den in der Tasche steckenden Gegenstand ergriffen hatte. Er kämpfte mit der Verbissenheit eines verwundeten Tigers. In diesem Augenblick kam Norris mit dem Revolver in der Hand zur Tür herein und rief mit wütender Stimme: »Hört auf, ihr zwei...« Riley entwickelte plötzlich Riesenkräfte, sprang auf, schob Harper einfach zur Seite und versuchte, ihm einen Tritt gegen den Kopf zu geben. Dann warf er Norris einen haßerfüllten Blick zu, kümmerte sich aber nicht im geringsten um dessen Schußwaffe, sondern machte eine erneute Handbewegung zu seiner Tasche. Gleich darauf stürzte er schwer zu Boden, denn Harper hatte ihm die Füße unter dem Leib weggerissen. Rausch und zwei weitere Sicherheitsbeamte tauchten gerade in dem Augenblick auf, als Norris die Lippen fest zusammenpreßte und den Entschluß faßte, dem Kampf ein Ende zu machen. Die vier stießen Harper beiseite und packten Riley mit harten Fäusten. Sie zogen ihn in die Höhe, bis er auf den Füßen stand. Riley keuchte und bemühte sich, Empörung in seine Züge zu legen, als er sagte: »Der Idiot ist völlig
verrückt geworden. Ohne Warnung ging er plötzlich auf mich los.« Das klang so natürlich, daß sich Norris fragte, ob Harper nicht trotz aller Vorsichtsmaßnahmen doch etwas zugestoßen sein könnte. »Greifen Sie mal in seine rechte Jackentasche und sehen Sie nach, was er darin hat«, schlug Harper vor. Er saß auf einer Ecke des umgestürzten Schreibtisches und wischte sich die blutenden Lippen mit dem Taschentuch ab. Norris zog eine Handgranate aus Rileys Tasche und betrachtete sie. »Eigentum der Armee«, stellte er dann fest. »Dasselbe Fabrikat, das auch Baum benutzte.« Er warf Riley einen harten Blick zu. »Ungewöhnlich für einen Polizeibeamten, so etwas mit sich herumzuschleppen.« »Er ist kein Polizist mehr«, bemerkte Harper. »Bringen Sie ihn so rasch wie möglich zum Biologischen Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums. Dort wird er dringend gebraucht.« Diese Worte schienen dem Gefangenen eine plötzliche Angst einzujagen. Wohl hielt man seine Arme fest, nicht aber seine Beine. So versetzte er Norris einen Tritt in den Bauch, riß sich los und versuchte, nach der Handgranate zu greifen. Norris krümmte sich vor Schmerzen, hielt die Granate aber fest. Riley griff immer wieder nach ihr und stieß dabei fast winselnde Laute aus. Seine Gesichtszüge verzerrten sich auf unmenschliche Weise. Einer der Sicherheitsbeamten schlug ihn mit dem Totschläger nieder. »Hinterlistiger Bursche«, sagte der Mann.
Norris stand langsam auf. Sein Gesicht war weiß. Er reichte einem seiner Leute die Handgranate und sagte: »Bringen Sie das Ding an einen Ort, wo es keinen Schaden anrichten kann.« »Dasselbe gilt auch für den Besitzer«, sagte Harper. »Binden Sie ihn so fest, daß er sich nichts antun kann, und bringen Sie ihn rasch zum Labor.« »Ist er...?« »Ja, er ist – und zwar durch meine Schuld. Er durfte hier bei mir ein- und ausgehen, und das hat ihn die Seele gekostet.« Harper, Norris und Rausch standen auf dem Gehsteig und blickten den zwei Wagen nach, die sich rasch entfernten. »Er ist weg«, sagte Norris aufblickend. »Man wird ihn Dr. Leeming übergeben.« Etwas zweifelnd fügte er hinzu: »Hoffentlich war die von Ihnen getroffene Maßnahme auch richtig. Es wird eine Menge Staub aufwirbeln, wenn wir uns geirrt haben sollten.« »Sie haben nicht einmal die Hälfte der Arbeit hinter sich«, antwortete Harper. »Eine ganze Bande sitzt in Rileys Haus – und ich glaube, daß sie von seiner Gefangennahme wissen – seit jenem Augenblick, da er bewußtlos geschlagen wurde. Ich möchte wetten, daß sie sich schon auf der Flucht befinden. Sie müssen sich sehr beeilen, wenn Sie die Leute noch erwischen wollen.« »Wir können nicht mehr als unser Bestes tun«, erwiderte Norris unbeeindruckt und rührte sich nicht. »In Rileys Haus halten sich McDonald und noch einige andere auf«, drängte Harper. Ungeduldig blickte er Norris an. »Was ist? Wollen Sie handeln,
oder muß ich selbst gehen?« »Lassen Sie nur«, sagte Norris lächelnd. »Wir wissen genau, wo Riley wohnt, denn nach jedem seiner Besuche bei Ihnen wurde er verfolgt.« »Na, und?« »Nach seiner Festnahme haben wir fünf Wagen mit zwanzig Leuten zu seiner Wohnung geschickt. Sie werden jeden festnehmen, den sie dort vorfinden.« »Also haben Sie schon vorausgedacht?« »Das geschieht mitunter«, versicherte Norris lächelnd. »Sie können ja nicht ununterbrochen der Anführer sein. Das schafft keiner auf die Dauer, mag er auch noch so intelligent sein.« Harper kehrte in sein Büro zurück. Am späten Nachmittag kam Norris und berichtete: »Wir haben Mrs. Riley, Mrs. Reed und zwei Männer namens Farley und Moore erwischt. Moore war ein Geschäftsfreund der beiden Baums.« »Haben sie sich gewehrt?« »Und wie! Als unsere Leute hinkamen, war das Haus leer. Die Ratten waren davongelaufen, hatten aber nicht mehr die Zeit gehabt, unterzutauchen. Mrs. Riley, Farley und Moore wurden etwa drei Kilometer weiter auf der Straße aufgegriffen. Für jeden waren drei Mann nötig, um sie zu bändigen.« »Und die anderen?« »Mrs. Reed wurde in einem Laden geschnappt. Dabei benahm sie sich wie eine Wildkatze. Ihr Mann zog es vor, von einem Hochhaus zu springen; er wollte nicht lebend in unsere Hände fallen.« Norris starrte gedankenvoll vor sich hin. »Auch McDonald haben wir erwischt – in dem Au-
genblick, als er auf einem Parkplatz einen Wagen stehlen wollte. Und doch ist er uns entkommen. Er war bewaffnet und erschoß sich mit seiner Pistole.« »Und Gould?« »Was soll mit ihm sein?« »Er hat sich doch ebenfalls in Rileys Haus aufgehalten.« »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher!« »Auch ihn werden wir noch schnappen.« Er dachte kurz nach und fuhr dann fort: »Wir verfolgen jetzt die Spuren aller, die zur Bande gehört haben und holen uns alle, mit denen sie Kontakt hatten. Es werden mit Sicherheit einige hundert Leute sein. Jeder, der sich auch nur in ihrer Nähe befand, muß befragt werden. Halten Sie sich jedenfalls bereit, die Leute zu untersuchen, sobald wir sie herbeischleppen.« »Ich stehe Ihnen zur Verfügung.« »Das kann lange dauern.« »Ich werde es schon durchstehen. Ich fahre jetzt zu Dr. Leeming. Lassen Sie alle Verdächtigen ebenfalls dorthin schaffen. Sie werden sehen, welchen Anreiz das auf die anderen ausübt, die noch in Freiheit sind. Nur so haben wir eine Chance, alle mit einem Schlag zu fangen.« Vier Tage später, als man schon gehofft hatte, es werde sich nichts ereignen, kam es zum Angriff. Das Vorgehen war typisch für Wesen aus einer anderen Welt, die versuchten, ihre Existenz auch auf der Erde zu behaupten. Gegen Mittag hielt vor dem Haupteingang ein großer Wagen.
Der Fahrer trug die Uniform eines Sergeanten der Militärpolizei. Im Fond saß ein grauhaariger, älterer General. Der Sergeant zeigte dem Posten einen Passierschein mit vielen Stempeln und zahlreichen Unterschriften. Der Posten sah sich das Papier mit gleichgültiger Miene an, machte aber keine Anstalten, das Tor zu öffnen. Es roch nach Eukalyptus. »Mach mal schneller, Mann«, ereiferte sich der Sergeant. Obwohl die Nähe eines so hohen Offiziers dem Posten Herzklopfen verursachte, nahm er sich Zeit. Er war wiederholt sehr gründlich über seine Aufgaben unterrichtet worden und wußte, daß dieses Tor nicht einmal dem lieben Gott geöffnet werden durfte, sofern er zuvor nicht ein Signal gegeben hatte, wodurch in einem etwa vierhundert Meter entfernten Gebäude Harpers Aufmerksamkeit auf das Haupttor gelenkt wurde. Harper hörte das leise Schnarren der Signalanlage, lauschte und drückte auf einen Knopf. In dem Wachlokal ertönte ein schriller Pfiff und gleich darauf eine Alarmsirene. Entsetzt ließ der Posten den Passierschein fallen und richtete sein Gewehr auf den Sergeanten. Aus dem Wachlokal tauchten vier bewaffnete Polizisten auf, während mehr als ein Dutzend Sicherheitsbeamte auf den Wagen zustürzten. Wieder einmal ließen die Venus-Wesen ihre Todesverachtung erkennen. Ohne die Miene zu verziehen, ließ der Sergeant seinen Wagen gegen das Tor prallen. Das Fahrzeug explodierte. Zwei schwere Lastwagen kamen jetzt die Straße entlang gerast und fuhren durch die Öffnung, die die
Explosion geschaffen hatte. Die Polizisten feuerten hinterher, ohne jedoch etwas auszurichten. Die beiden Fahrzeuge kamen aber nicht weit. Dem einen versperrte ein achtzig Tonnen schwerer Panzer den Weg. Das andere Fahrzeug hielt an, und acht Männer versuchten in Deckung zu gehen. Es entspann sich ein kurzes, heftiges Gefecht zwischen den Verteidigern und den Eindringlingen, die mit Todesverachtung kämpften. Bereits fünf Minuten nach dem Kampf waren Patrouillen unterwegs, um die Umgebung zu durchkämmen. Harper saß in einem der Geländewagen. Zwei Stunden später deutete er auf einen Bauernhof. »Dort«, sagte er einfach. Harper mußte außer Reichweite bleiben, während die Soldaten und Polizisten den Angriff unternahmen. Bei Sonnenuntergang wurde die Aktion eingestellt. Weitere Feinde hatte man nicht gefunden. Mit vor Müdigkeit geröteten Augen, kehrte Harper auf das Institutsgelände zurück. »Gould war im ersten Lastwagen«, berichtete Norris. »Er ist tot. Wir müssen feststellen, wer die Toten und Verwundeten sind. Anschließend werden wir uns an ihre Bekannten wenden und sie Ihnen vorführen. Ich fürchte, daß wir Arbeit für unser ganzes Leben haben werden.« Leeming betrat den Raum. Er sagte zu Harper: »Ich möchte, daß du einmal mit mir kommst.« Er führte den Freund durch eine Reihe von Gängen, in denen an jeder Ecke ein Soldat stand, kam schließlich an eine Reihe vergitterter Zellen und
deutete auf eine von ihnen. »Was kannst du mir dazu sagen?« fragte er erregt und ängstlich zugleich. Harper warf einen Blick durch die Gittertür. Nur mit Hosen und Pantoffeln bekleidet, saß Riley apathisch auf der Kante seiner Pritsche. Seinen Augen fehlte jeglicher Glanz, aber auf seinen Zügen lag ein Ausdruck kindlichen Vergnügens. »Nun«, drängte Leeming, »ist das Virus besiegt?« »Ja«, antwortete Harper düster. »Du kannst positiv sagen, daß das Übel nicht mehr in ihm steckt?« »Ja.« Leeming zögerte nur kurze Zeit und sprach dann feierlich: »Das Mittel hilft also. Physisch sind an ihm nicht die geringsten Krankheitserscheinungen zu verzeichnen, auch nicht die geringsten Spuren einer Hirnhautentzündung. Und doch hat er einen hohen Preis dafür zahlen müssen.« »Wahnsinn!« antwortete Harper mit harter Stimme. Leeming starrte vor sich hin und bedachte die bitteren Folgen seines Sieges. »Sie sind tot«, verteidigte sich der Wissenschaftler. »Sie waren bereits tot, als man sie mir brachte. Ich kann keinen menschlichen Geist wieder ins Leben zurückrufen, der schon gestorben ist. Ich kann keine ausgehauchte Seele neu beleben. Auch die Wissenschaft hat ihre Grenzen.« »Ich weiß, ich weiß... Glaube ja nicht, daß ich dir oder irgendeinem anderen Vorwürfe mache.« Harper legte die Hand auf Leemings Schulter. »Und mach dir selbst keinen Vorwurf.« Er ging. Der Kampf war für die Erde gewonnen worden, weil sich – wie so oft – auch diesmal einige
wenige geopfert hatten. So war es immer gewesen, und so würde es auch immer sein. Es dauerte zwei Jahre, bis die letzten Nachwehen des Kampfes überwunden waren. Das war der Fall, als man ihn rief, um eine kleine Gruppe verschüchterter Leute zu überprüfen, die man aufgetrieben hatte – die letzten Bekannten, Verwandten und Freunde der Besessenen. Keiner von ihnen war angesteckt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Harper bereits über achthundert Personen überprüft, die meist von den Regierungen anderer Länder herübergeschickt worden waren. In der ersten Woche hatte Harper vier Personen entdeckt, die keine Menschen mehr waren. In der folgenden Woche war es nur eine Frau gewesen. Danach gab es keine mehr. Die Welt war von dem Übel befreit. Auch das vermißte Raumschiff war in hundert Metern Tiefe in der Nähe des Puget Sound gefunden worden. Noch immer war man dabei, einzelne Teile zu heben. Berühmte Wissenschaftler beschäftigten sich eifrig damit, Schutzmaßnahmen für eine zweite geplante Venusexpedition zu treffen. Harper dachte o f t a n die aufregenden Wochen z urück. Keine schwere Hand stieß mehr die Tür seines Büros auf, keiner schob seine Papiere zur Seite, um sich Platz zu machen und hinzusetzen, keiner beanspruchte seine Zeit. Riley befand sich in einem Sanatorium. Dort verrichtete er einfache Arbeiten und lachte wie ein Kind. Wenn die Schlafenszeit kam, wurde er vorsichtig in sein Bett geführt; wie alle anderen auch.
Harpers Unternehmen wuchs, und die Zahl seiner Angestellten erhöhte sich auf vierzig. Einer von ihnen, Weiß, war nicht nur ein außerordentlich fähiger Feinmechaniker, sondern auch ein Spitzel der Regierung – Conways Auge sozusagen. Er hätte den Mann natürlich entlassen können, aber dann hätte man einen anderen in Harpers Betrieb eingeschleust. Es gab einfach keine Möglichkeit, einer dauernden Beobachtung zu entgehen. Seine Post wurde überwacht, und oft vermutete er, daß auch sein Telefon angezapft wurde. Wenn er einmal schnell irgendwohin fliegen oder mit dem Wagen fahren mußte, folgte man ihm. Wenigstens einmal im Monat riefen Norris oder Rausch bei ihm an, um ihn daran zu erinnern, daß die Behörden ein langes Gedächtnis hatten. Außerdem bemühten sie sich nach wie vor, zu beweisen, daß Harper einzigartig war, daß er – sollte es tatsächlich einen zweiten Menschen seiner Fähigkeiten geben – mit diesem nicht zusammenkam. Ein Harper war genug. Zwei wären gefährlich. Zehn würden eine Krise bedeuten. Trotz seines größeren Wohlstandes war Harper immer schlecht gelaunt und fühlte sich einsam. Er kam sich vor wie ein seltenes Tier im zoologischen Garten, das dauernd angestarrt wird. Manchmal fühlte er auch, daß »die da oben« ihn liebend gern dahin wünschten, wo der Pfeffer wächst, sich dann aber seiner Leistungen für die Menschheit entsannen. Immerhin konnte es möglich sein, daß sie ihn noch einmal brauchten. Ja, sie fürchteten ihn, aber andere Dinge fürchteten sie noch mehr.
Es gab für ihn keinen anderen Ausweg, als sich in seine Arbeit zu vergraben und sonst an nichts zu denken. Das hatte er auch getan und damit sein Unternehmen hochgebracht. In der Geschäftswelt war er zu einem bekannten Mann geworden. Wieder vergingen zwei Jahre, als das Wunder geschah. Er wollte eben seinen Wagen vom Parkplatz fahren, als er einen fremden Gedanken aufnahm. Bestürzt blieb er stehen, als ob jemand ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzt habe. Instinktiv ortete er die Richtung, aus der der Gedanke kam – etwa sechs Kilometer entfernt in südlicher Richtung, eine Entfernung, die seine gewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit weit überstieg. Er legte die schwitzenden Hände auf die Fahrzeugtür, lauschte und suchte den Gedanken. Da kam er. Er war kein fremder, kein nichtmenschlicher Gedanke; er hatte ihn nur erschreckt, weil er neu und ungewöhnlich war, weil er einen Eindruck vermittelte, wie er ihn niemals verspürt hatte. Diese Gedanken kamen mit einer Kraft, wie sie kein normaler Mensch aufbringen konnte. Er konzentrierte sich, und sogleich kam der Gedanke zurück. Also setzte er sich in seinen Wagen und fühlte sich ganz schwach. Vor ihm flimmerte alles, und die Gegenstände waren nur umrißhaft zu erkennen, als er scheinbar träumend durch die Windschutzscheibe starrte. Schließlich ging er in ein Restaurant und bestellte sich etwas zu essen. Sie saß allein an einem Tisch – ganz am anderen Ende des Raumes. Eine Blondine, klein und ziemlich mollig. Sie mochte Mitte dreißig sein. Ihr Gesicht war
hübsch; auch hatte sie eine kleine Stupsnase. Nicht ein einziges Mal blickte sie ihn an; ebensowenig beachtete er sie, als er wieder ging. Danach trafen sie sich oft, ohne einander jedoch nahezukommen oder auch nur ein einziges gesprochenes Wort zu wechseln. Manchmal saß er in dem einen und sie in dem anderen Lokal, und beide waren fast einen Kilometer weit voneinander getrennt. Oder er saß in seinem Büro, während sie in einem Geschäft stand und ihren Gedanken nachhing. Sie warteten – warteten auf eine Gelegenheit, um die unablässigen Aufpasser irrezuführen. Diese Gelegenheit würde kommen, das wußten sie, denn Moira trug inzwischen einen Verlobungsring. Bald darauf kündigte. Moira und wurde mit Glückwünschen für ihr weiteres Leben und mit Hochzeitsgeschenken reichlich ausgestattet verabschiedet. Auf das Inserat, mit dem Harper eine neue Sekretärin suchte, meldeten sich zwanzig Mädchen. Harper empfing alle, erwies jeder die gleiche Höflichkeit, stellte die gleichen Fragen und bemühte sich, keine zu bevorzugen. Angestellt wurde Frances, eine mollige Blondine mit einer Stupsnase. Zehn Tage später erschien Norris, um Harper auf die übliche Weise wieder einmal einen Besuch abzustatten. Er sah sich die neue Sekretärin mit einem freundlichen Lächeln an und sagte sich in Gedanken, daß sie ganz hübsch sei – mehr aber auch nicht. Er unterhielt sich mit Harper, während dieser nur träumerisch vor sich hinstarrte. »Zum fünfzigstenmal – willst du mich heiraten?«
»Ja – zum fünfzigstenmal. Aber du mußt geduldig sein. Wir dürfen die Dinge nicht überstürzen.« »... und dann zeigte der Kerl dem Geschäftsführer der Bank eine Menge Papiere, die aussagten, daß er Buchprüfer war und von der Zentrale kam. Der Geschäftsführer fiel prompt darauf herein und...« Norris unterbrach sich und fragte: »Hören Sie mir überhaupt zu?« »Natürlich, Mann, erzählen Sie weiter! Ich bin richtig gespannt, wie es weitergeht.« »Ich mag nicht geduldig sein. Ich mag nicht warten. Ich will sofort und schnell heiraten.« »Du weißt doch selbst, daß wir vorsichtig sein müssen!« »Ich will Kinder haben, die sind wie wir.« »Geduld!« Sie spannte einen Bogen in die Schreibmaschine und begann lächelnd zu schreiben. »... und so hat's ihn erwischt«, schloß Norris seinen Bericht, der von dem gedanklichen Zwischenspiel nicht das geringste bemerkt hatte. »Erwischt es uns nicht alle einmal?« fragte Harper, der nur mühsam verbergen konnte, wie selig er war.