Michel Foucault Wahnsinn und Gesellschaft Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft
Suhrkamp
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Michel Foucault Wahnsinn und Gesellschaft Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft
Suhrkamp
T i t e l der O r i g i n a l a u s g a b e : »Histoire de la folie« A u s dem Französischen v o n Ulrich K o p p e n D i e deutsche A u s g a b e w u r d e im Einverständnis mit dem A u t o r geringfügig g e k ü r z t .
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft: e. Gesdiithte d. Wahns im Zeitalter d. Vernunft / Michel Foucault. [Aus d. Franz. von Ulridi Koppen]. - I. A u f l . Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. (Suhrkamp-Taschenhuch Wissenschaft; 39) Einheitssadit.: Histoire de la folie (dt.> ISBN 3-518-27639-$ NE: GT suhrkamp taschenbuch wissensAafb 39 Erste A u f l a g e 1973 ® 1961 b y Librairie P i o n , Paris © dieser A u s g a b e S u h r k a m p V e r l a g , F r a n k f u r t am M a i n 1969 A l l e R e d i t e vorbehalten S u h r k a m p Taschenbuch V e r l a g Drude: N o m o s Verlagsgesellschaft, B a d e n - B a d e n Umschlag nach E n t w ü r f e n v o n W i l l y Fleckhaus u n d R o l f S t a u d t 7
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Inhalt
Vorwort 7 Erster Teil 1. Stultifera Navis 19 2. Die große Gefangenschaft 68 3. Erfahrungen mit dem Wahnsinn 99 4. Die Irren 129 Zweiter
Teil
Einleitung 157 1. Der Irre im Gürten der Arten 170 2. Die Transzendenz des Deliriums 206 3. Gestalten d s Wahnsinns 255 I. Die Gruppe der Demenz 25 6 II. Manie und Melancholie 268 m. Hysterie und Hypochondrie 285 4. Patienten und Ärzte 308 Dritter Teil Einleitung 349 1. Die große Furcht 358 2. Die neue Trennung 391 3. Vom rechten Gebrauch der Freiheit 43 5 4. Die Entstehung des Asyls 482 Schluß Der anthropologische Kreis 539 Bibliographie
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Vorwort
Pascal sagt: »Die Menschen sind so notwendig verrückt, daß nicht verrückt sein nur hieße, verrückt sein nach einer anderen Art von Verrücktheit.« Und Dostojewskij schreibt einmal: »Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, daß man seinen Nachbarn einsperrt.« Die Geschichte dieser anderen A r t des Wahnsinns ist zu schreiben, dieser anderen Art, in der die Menschen miteinander in der Haltung überlegener Vernunft verkehren, die ihren Nachbarn einsperrt, und in der sie an der gnadenlosen Sprache des Nicht-Wahnsinns einander erkennen. Wir müssen den Augenblick dieser Verschwörung wiederfinden, bevor er im Reich der Wahrheit endgültig errichtet und durch den lyrischen Protest wiederbelebt worden ist. Man muß in der Geschichte jenen Punkt Null der Geschichte des Wahnsinns wiederzufinden versuchen, an dem der Wahnsinn noch undifferenzierte Erfahrung, noch nicht durch eine Trennung gespaltene Erfahrung ist. Die Beschreibung dieser »anderen Art« des Wahnsinns vom Ursprung ihrer Kurve an wird sich als nötig erweisen, die auf beiden Seiten ihrer Bewegung die Vernunft und den Wahnsinn als künftig äußerliche, für jeden Austausch taube und beide gewissermaßen als tote Dinge herunterfallen läßt. Dabei handelt es sich um ein zweifellos heikles Gebiet, bei dessen Durchforschen man auf den Vorteil endgültiger Wahrheiten verzichten muß und sich stets nur durch das leiten lassen darf, was wir vom Wahnsinn wissen können. Keiner der Begriffe der Psychopathologie darf - selbst und vor allem im impliziten Spiel der Retrospektionen eine organisatorische Rolle spielen. Konstitutiv ist lediglich die Geste, die den Wahnsinn abtrennt, und nicht die Wissenschaft, die in der nach der einmal vollzogenen Trennung wiedereingetretenen Ruhe entsteht. Ursprünglich ist dabei die Zäsur, die die Distanz zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft herstellt. Der Griff, in den die Vernunft die Nicht-Vernunft nimmt, um ihr ihre Wahrheit des Wahnsinns, des Gebrechens oder der Krankheit zu entreißen, leitet sich entfernt davon her. Wir werden also von dieser primitiven Auseinandersetzung sprechen müssen, ohne einen Sieg anzunehmen und ohne ein Recht auf einen Sieg zu haben. Wir werden auch von den oft in der Geschichte
wiederholten äußerlichen Bewegungen zu sprechen haben, wobei wir alles, was endgültige Gestalt und Ruhe in der Wahrheit ausmachen kann, in der Schwebe lassen; und wir müssen von jener Geste des Einschnitts, jener eingenommenen Distanz, jener zwischen der Vernunft und dem, was sie nicht ist, hergestellten Leere sprechen, ohne uns je auf die Fülle zu stützen, die zu sein sie vorgibt. Dann und nur dann kann das Gebiet sichtbar werden, in dem der wahnsinnige Mensch und der Mensch der Vernunft bei ihrer Trennung noch nicht getrennt sind und in einer sehr ursprünglichen, sehr groben Sprache, die noch vorwissenschaftlich ist, den Dialog über ihren Bruch beginnen, der auf flüchtige Weise bezeugt, daß sie noch miteinander sprechen. An dieser Stelle sind Wahnsinn und Nichtwahnsinn, Vernunft und Niditvernunft konfus miteinander verwickelt, untrennbar von dem Moment, daß sie noch nicht existieren, und füreinander und in Beziehung zueinander in dem Austausch existierend, der sie trennt. Mitten in der heiteren Welt der Geisteskrankheit kommuniziert der moderne Mensch nicht mehr mit dem Irren. Auf der einen Seite gibt es den Vernunftmenschen, der den Arzt zum Wahnsinn deligiert und dadurch nur eine Beziehung vermittels der abstrakten Universalität der Krankheit zuläßt. Auf der anderen Seite gibt es den wahnsinnigen Menschen, der mit dem anderen nur durch die Vermittlung einer ebenso abstrakten Vernunft kommuniziert, die Ordnung, physischer und moralischer Zwang, anonymer Druck der Gruppe, Konformitätsforderung ist. Es gibt keine gemeinsame Sprache, vielmehr es gibt sie nicht mehr. Die Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts trifft die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und läßt all die unvollkommenen Worte ohne feste Syntax, die ein wenig an Gestammel erinnerten und in denen sich der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft vollzog, im Vergessen versinken. Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen errichten können. Ich habe nicht versucht, die Geschichte dieser Sprache zu schreiben, vielmehr die Archäologie dieses Schweigens. Die Griechen hatten eine Beziehung zu etwas, das sie hybris nannten. Diese Beziehung erschöpfte sich aber nicht in einer Verurteilung; die Existenz eines Trasymachos oder eines Kallikles zeigen es genügend,
selbst wenn uns ihr Gespräch schon mit der überzeugenden Dialektik des Sokrates bemäntelt überkommen ist. Aber der griechische Logos besaß nichts Gegenteiliges. Der abendländische Mensch hat seit dem frühen Mittelalter eine Beziehung zu etwas, das er vage benennt mit: Wahnsinn, Demenz, Unvernunft. Vielleicht verdankt die abendländische Vernunft einiges von ihrer Komplexität gerade dieser vagen Daseinsform, so wie die sophrosyne der sokratischen Redner einiges der drohenden hybris verdankt. Auf jeden Fall stellt das Verhältnis von Vernunft und Unvernunft für die Kultur des Abendlandes eine der Dimensionen ihrer Ursprünglichkeit dar; schon lange vor Hieronymus Bosch hat dieses Verhältnis die abendländische Kultur begleitet und wird ihr auch über Nietzsche und Artaud hinaus noch folgen. Was also bedeutet diese Gegenüberstellung unterhalb der Sprache der Vernunft? Wohin könnte uns eine Frage führen, die der Vernunft nicht in ihrem horizontalen Werdegang folgte, sondern die versuchte, dieser konstanten Vertikale in der Geschichte zu folgen, die durch die ganze europäische Kultur hindurch die Vernunft dem, was sie nicht ist, das Maß der eigenen Maßlosigkeit gegenüberstellt? Auf welches Gebiet würden wir uns begeben, das weder die Geschichte der Erkenntnis noch ganz einfach Geschichte ist, das weder von einer Wahrheitsteleologie noch von einer rationalen Kausalreihe beherrscht wird? Zweifellos auf ein Gebiet, wo es eher um die Grenzen als um die Wesenseinheit einer Kultur geht. Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben - dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind - , mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und wahrt sie in der Kontinuität der Geschichte; aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht. Da liegt die eigentliche Dichte, aus der sie sich formt. Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschieh-, te ist, zu befragen. Dann nämlich finden sich in einer Spannung, die immer auf dem Weg ist, sich zu lösen, die zeitliche Kontinuität einer dialektischen Analyse und - an den Toren der Zeit - die Aufdeckung einer tragischen Struktur miteinander konfrontiert.
Im Zentrum dieser Grenzerfahrungen der abendländischen Welt fällt selbstverständlich die Erfahrung mit dem Tragischen selbst auf. Nietzsche wies auf die Struktur des Tragischen hin, auf der die Geschichte des Abendlandes aufbaut und die nichts anderes ist als die Ablehnung, das Vergessen und das stumme Zurücksinken der Tragödie. Viele andere Erfahrungen gravitieren um diese eine, die im Mittelpunkt steht, weil sie das Tragisdie mit der Dialektik der Geschichte gerade in der Ablehnung der Tragödie durch die Geschichte verbindet. Jede Erfahrung an den Grenzen unserer Kultur zeichnet eine Grenzlinie ein, die zugleich eine ursprüngliche Abgrenzung bedeutet. In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient darstellt: der Orient, den man sich als Ursprung denkt, als schwindeligen Punkt, an dem das Heimweh und die Versprechen auf Rückkehr entstehen, der Orient, der der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes angeboten wird, der jedoch unendlich unzugänglich bleibt, denn er bleibt stets die Grenze. Er bleibt Nacht des Beginns, worin das Abendland sich gebildet hat, worin es aber auch eine Trennungslinie gezogen hat. Der Orient ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist, obwohl es im Orient das suchen muß, was seine ursprüngliche Wahrheit darstellt. Die Geschichte dieser großen Trennung während der Entwicklung des Abendlandes müssen wir schreiben und in ihrer Kontinuität und in ihrem Wechsel verfolgen; zugleich müssen wir sie aber auch in ihrer tragischen Versteinerung erscheinen lassen. Man muß auch von anderen Trennungen sprechen. In der lichtvollen Einheit der Erscheinungswelt, der absoluten Trennung des Traums, den der Mensch auf seine eigene Wahrheit hin zu befragen sich nicht versagen kann - sei es die seines Schicksals oder die seines Herzens - , die er aber nur jenseits einer wesentlichen Ablehnung befragt, die ihn konstituiert und in die Lächerlichkeit der Traumdeutung zurückdrängt. Man muß auch die Geschichte, und zwar nicht nur in ethnologischen Termini, der sexuellen Verbote schreiben. Man muß in unserer Kultur von den ständig sich bewegenden und obstinaten Formen der Repression sprechen und nicht nur, um die Chronik der Moral und der Toleranz zu verfassen, sondern um als Grenze der abendländischen Welt und als Ursprung ihrer Moral die tragische Abtrennung der glücklichen Welt der Lust an den Tag zu bringen. Man muß schließlich und endlich von der Erfahrung mit dem Wahnsinn sprechen. Die folgende Untersuchung ist also nur die erste und wahrscheinlich
die einfachste der langen Forschungen, die im Lichte der großen nietzsdieanischen Forschungen die Dialektik der Geschichte mit den unbeweglichen Strukturen der Tragik konfrontieren will. Was also ist der Wahnsinn in seiner allgemeinsten, aber konkretesten Form für denjenigen, der von Anfang an jede Ingriffnahme des Wahnsinns durch die Wissenschaft ablehnt? Wahrscheinlich nichts anderes als das Fehlen einer Arbeit. Welche Stellen kann die Existenz des Wahnsinns im Werden einnehmen, wie ist ihre Spur? Wahrscheinlich werden es nur einige schmale Falten sein, die wenig beunruhigen und die große vernünftige Ruhe der Geschichte nicht verändern. Haben diese ganzen nichtigen Worte, diese Dossiers über ein nicht entzifferbares Delirium, die der Zufall der Gefängnisse und der Bibliotheken nebeneinander gestellt hat, irgendein Gewicht gegenüber den wenigen entscheidenden Worten, die das Werden der abendländischen Vernunft bestimmt haben? Gibt es in dem Universum unserer Reden für die tausende von Seiten einen Platz, auf denen Thorin, ein Lakai, der kaum lesen und schreiben konnte, und »tobsüchtiger Dementer«-1 am Ende des siebzehnten Jahrhunderts seine Visionen der Flucht und das Bellen seines Schreckens niedergeschrieben hat? A l l das ist nur verfallene Zeit, ärmliche Anmaßung einer Entwicklung, die die Zukunft ablehnt, etwas im Werden, das unwiederbringlich weniger als die Geschichte Dieses »Weniger« müssen wir befragen, indem wir es von vornherein von jedem negativen Indiz befreien. Seit seiner ursprünglichen Formulierung legt die historische Zeit ein Schweigen auf etwas, das wir in der Folge nur noch in den Begriffen der Leere, der Nichtigkeit, des Nichts erfassen können. Die Geschichte ist nur auf dem Hintergrund einer geschichtlichen Abwesenheit inmitten des großen Raumes voller Gemurmel möglich, den das Schweigen beobachtet, als sei er seine Berufung und seine Wahrheit: »Ich werde Wüste jenes Schloß nennen, das D u warst, Nacht jene Stimme, Abwesenheit dein Gesicht.« Diese dunkle Region ist doppeldeutig, denn sie ist reiner Ursprung, weil aus ihr die Sprache der Geschichte, die allmählich aus so viel Konfusion die Formen ihrer Syntax und die Konsistenz ihres Vokabulars gewinnt, entstehen wird, und gleichzeitig Bodensatz, sterile Uferfläche der Worte, einmal durchlaufener und sofort vergessener Sand, ι Paris, Bibliothèque de l'Arsenal ; Ms. 12 ο23 und 12 024.
der in seiner Passivität nur die leere Spur der voraus erhobenen Gestalten bewahrt. Das große Werk der Geschichte der Welt ist unauslöschlich von einem Fehlen einer Arbeit begleitet, das sich in einem jeden Augenblick erneuert, das aber unverändert in seiner unvermeidlichen Leere die ganze Geschichte durchläuft. Bereits vor der Geschichte geschieht dies, weil dieses Fehlen bereits in der ganz einfachen, ursprünglichen Entscheidung und auch noch nach ihr vorhanden ist, weil sie im letzten durch die Geschichte gesprochenen Wort triumphieren wird. Die Fülle der Geschichte ist nur in dem leeren und zugleich bevölkerten Raum all jener Wörter ohne Sprache möglich, die einen tauben Lärm denjenigen hören lassen, der sein Ohr leiht, einen tauben Lärm von unterhalb der Geschichte, das obstinate Gemurmel einer Sprache, die von allein spricht, ohne sprechendes Subjekt und ohne Gesprächspartner, auf sich selbst gehäuft, in der Gurgel geballt, und die noch zusammenbricht, bevor jegliche Formulierung erreicht ist, und ohne Aufsehen in das Schweigen zurückkehrt, aus dem sie sich nie befreit hat. Es ist die verkalkte Wurzel des Sinnes. Das ist aber noch kein Wahnsinn, sondern der erste Einschnitt, von dem aus die Abtrennung des Wahnsinns möglich ist. Diese Abtrennung ist die Wiederaufnahme, die Erneuerung, die Organisation jener Zäsur in der gedrängten Einheit der Gegenwart. Die Wahrnehmung, die der abendländische Mensch von seiner Zeit und seinem Raum hat, läßt eine Struktur der Ablehnung erscheinen, von der aus man eine Rede denunziert, indem man sagt, sie sei nicht Sprache, eine Geste denunziert, indem man sagt, sie sei nicht Tat, und eine Gestalt denunziert, indem man sagt, sie habe kein Recht, in der Geschichte Platz zu nehmen. Diese Struktur ist konstitutiv für das, was Sinn und NichtSinn ist, oder vielmehr für jene Reziprozität, durch die sie miteinander verbunden sind. Diese Struktur allein kann über jene allgemeine Tatsache berichten, daß es in unserer Kultur keine Vernunft ohne Wahnsinn geben kann, selbst wenn die rationale Kenntnis, die man vom Wahnsinn erwirbt, ihn reduziert und ihn entwaffnet, indem sie ihm den zerbrechlichen Status eines pathologischen Fehlers verleiht. Die Notwendigkeit des Wahnsinns während der ganzen Geschichte des Abendlandes ist mit jener entscheidenden Geste verbunden, die vom Lärm des Hintergrundes und seiner Monotonie eine bedeutungsvolle Sprache abhebt, die sich in der Zeit übermittelt und vollendet. Man kann es kurz fassen und sagen, daß er an die Möglichkeit der Geschichte gebunden ist.
Jene Erfahrungsstruktur des Wahnsinns, die völlig von der Geschichte abhängt, die aber an ihren Grenzen und dort ruht, wo diese sich ent scheidet, ist der Gegenstand dieser Untersuchung. Es handelt sich nicht um eine Geschichte der Erkenntnis, sondern der rudimentären Bewegungen einer Erfahrung. Es ist nicht die Geschichte der Psychiatrie, sondern des Wahnsinns selbst in seinen A u f wallungen vor jedem Erfaßtwerden durch die Gelehrsamkeit. Man müßte also mit aufmerksamem Ohr sich jenem Geraune der Welt zuneigen und versuchen, so viele der Bilder, die nie in der Poesie ihren Niederschlag gefunden haben, so viele Phantasmen wahrzunehmen, die nie die Farben des Wachzustandes erlangt haben. Ohne Zweifel ist das eine im doppelten Sinne unmögliche Aufgabe; einmal, weil sie uns dazu zwingen würde, den Staub jener konkreten Schmerzen, jener unsinnigen Worte zu rekonstruieren, die nichts in der Zeit festhält; dann, weil diese Schmerzen und Worte vor allem nur in der Geste der Trennung, die sie bereits denunziert und meistert, existieren und sich selbst und den anderen gegeben sind. Nur im A k t der Trennung, und von ihm ausgehend, kann man sie als noch nicht von ihm abgesonderten Staub denken. Die Wahrnehmung, die diese Worte im ungebändigten Zustand zu erfassen sucht, gehört notwendig zu einer Welt, die sie bereits in den Griff genommen hat. Die Freiheit des Wahnsinns versteht sich nur von der Höhe der Festung her, die ihn gefangenhält. Er verfügt nun aber »nur über die grämlichen Personenstandsangaben seiner Gefängnisse, seiner stummen Erfahrung als Verfolgter, und wir haben unsererseits nur seinen Steckbrief«. Die Geschichte des Wahnsinns schreiben, wird also heißen: eine Strukturuntersuchung der historischen Gesamtheit - Vorstellungen, Institutionen, juristische und polizeiliche Maßnahmen, wissenschaftliche Begriffe - zu leisten, die einen Wahnsinn gefangenhält, dessen ungebändigter Zustand in sich selbst nie wiederhergestellt werden kann. Da uns jene unzugängliche, ursprüngliche Reinheit fehlt, muß die Strukturuntersuchung zu jener Entscheidung zurückgreifen, die Vernunft und Wahnsinn gleichzeitig trennt und verbindet. Sie muß versuchen, den ständigen Austausch, die dunkle, gemeinsame Wurzel und die ursprüngliche Gegeneinanderstellung zu entdecken, die ebensosehr der Einheit wie der Opposition von Sinn und Irrsinn einen Sinn verleiht. So wird die blitzartige Entscheidung wiedererscheinen können, die innerhalb der geschichtlichen Zeit heterogen, aber außerhalb dieser ungreifbar ist, die jenes Gemurmel dunkler Insekten von der Sprache der Vernunft und den Versprechungen der Zeit trennt.
Ist es erstaunlich, daß diese Struktur vor allem während der hundertfünfzig Jahre, die der Bildung einer Psychiatrie, die von uns als positiv betrachtet wird, voraufgegangen sind und die diese herbeigeführt haben, sichtbar geworden ist? Das klassische Zeitalter - von Willis zu Pinel, von den Anfällen Orests bis zur Maison du sourd und zu Juliette - bedeckt genau jene Periode, in der der Austausch zwischen dem Wahnsinn und der Vernunft seine Sprache, und zwar auf radikale Weise, verändert. In der Geschichte des Wahnsinns zeigen zwei Ereignisse mit einzigartiger Klarheit diese Veränderung: 1657 wird das Hôpital général gegründet und gibt es die »große Gefangenschaft« der Armen; 1794 werden die in Bicêtre Angeketteten befreit. Zwischen diesen beiden besonderen und symmetrischen Ereignissen geschieht etwas, dessen Ambiguität die Verfasser der Geschichte der Medizin in Bedrängnis gebracht hat. Die einen sehen darin die blinde Repression innerhalb eines absolutistischen Regimes und die anderen eine fortschreitende Entdeckung des Wahnsinns in seiner positiven Wahrheit durch die Wissenschaft und die Philanthropie. Tatsächlich bildet sich unterhalb dieser reversiblen Bedeutungen eine Struktur, die diese Doppeldeutigkeit nicht löst, die aber darüber entscheidet. Diese Struktur ist es, die über die Veränderung von der mittelalterlichen und humanistischen Erfahrung mit dem Wahnsinn hin zu jener Erfahrung berichtet, über die wir verfügen und die den Wahnsinn innerhalb der Geisteskrankheit einordnet. Im Mittelalter und in der Renaissance war die Auseinandersetzung des Menschen mit der Demenz ein dramatisches Gespräch, das ihn den tauben Kräften der Welt gegenüberstellte, und die Erfahrung mit dem Wahnsinn verschleierte sich damals in Bildern, in denen es um die Frage des Sündenfalls, der Erfüllung, des Tiers, der Verwandlung und der ganzen wunderbaren Geheimnisse der Gelehrsamkeit ging. In unserer Zeit schweigt die Erfahrung mit dem Wahnsinn in der Ruhe einer Gelehrsamkeit, die den Wahnsinn, weil sie ihn zu gut kennt, vergißt. Die Veränderung von der einen hin zur anderen dieser Erfahrungen ist jedoch in einer Welt ohne Bilder und Positivität, in einer Art schweigender Transparenz vor sich gegangen, die als stumme Institution, kommentarlose Geste, unmittelbares Wissen eine große unbewegliche Struktur erscheinen läßt. Diese Struktur gehört weder zum Drama noch zur Erkenntnis, sondern ist der Punkt, an dem die Geschichte sich im Tragischen immobilisiert, durch das sie zugleich begründet und abgelehnt wird, (m Zentrum dieses Versuchs, die klassische Erfahrung mit dem Wahnsinn in ihren Rechten und ihrem Werden zur Geltung zu bringen,
wird man folglich eine bewegungslose Figur finden: die einfache Trennung zwischen Tag und Dunkelheit, zwischen Schatten und Lidit, zwischen Traum und Wachsein, zwischen der Wahrheit der Sonne und den mitternächtlichen Kräften. Dies ist eine elementare Figur, die die Zeit nur als unbegrenzte Wiederkehr der Grenze annimmt. Dieser Figur kam es auch zu, den Menschen in ein mächtiges Vergessen zu bringen. Diese große Trennung lernte er zu beherrschen und auf sein eigenes Niveau zu reduzieren. Er lernte, in ihr Tag und Nacht herzustellen, die Sonne der Wahrheit dem schwachen Licht seiner Wahrheit unterzuordnen. Dadurch, daß er seinen Wahnsinn gemeistert hat, ihn in den Kerkern seines Blicks und seiner Moral gefangen hat, indem er ihn befreite, dadurch, daß er ihn entwaffnet hat, indem er ihn in eine Ecke seiner selbst zurückdrängte, war es dem Menschen möglich, schließlich jene Beziehung von sich selbst zu sich selbst herzustellen, die man »Psychologie« nennt. Dazu war es notwendig, daß der Wahnsinn aufhörte, Nacht zu sein, und flüchtiger Schatten im Bewußtsein wurde, damit der Mensch behaupten konnte, seine Wahrheit zu besitzen und sie in der Erkenntnis zu entschlüsseln. In der Rekonstitution dieser Erfahrung mit dem Wahnsinn hat sich wie von selbst eine Geschichte der Bedingungen geschrieben, unter denen die Psychologie möglich wurde. Im Laufe dieser Arbeit habe ich mich des Materials bedient, das von bestimmten Autoren gesammelt worden ist. Ith habe es jedodi so gering wie möglich gehalten und nur in den Fällen dazu gegriffen, in denen ich nicht an die Dokumente herankam. Ich mußte außerhalb jeder Beziehung zu einer psychiatrischen »Wahrheit« jene Worte und Texte für sich sprechen lassen, die von unterhalb der Sprache stammen und die nicht dazu geschaffen waren, zu einer Rede zu werden. Vielleicht ist, jedenfalls in meinen Augen, der wichtigste Teil dieser Arbeit der Anteil, den ich den in den Archiven gefundenen Texten überlassen habe. In den übrigen Teilen war es möglich, in einer A r t rückhaltsloser Relativität zu bleiben, keinen Ausweg in einem psychologischen Gewaltakt zu suchen, der die Karten umgedreht und die verkannte Wahrheit denunziert hätte. Es durfte nur vom Wahnsinn in Beziehung zur »anderen Art« gesprochen werden, die sie in eine unendliche Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn verwickelt. Es war also eine Sprache ohne Unterstützung notwendig, eine Sprache, die mit in das Spiel eintrat, jedoch den Austausch ermöglichte, eine Sprache, die, indem
sie sich selbst ständig wiederbesann, in einer ununterbrochenen Bewegung bis zum Kern vordrang. Es handelte sich darum, um jeden Preis das Relative aufrechtzuerhalten und absolut verstanden zu werden. In diesem einfachen Problem des Ausdrucks verbarg sich und drückte sich die besondere Schwierigkeit des Unternehmens aus. Es war vonnöten, eine Trennung und eine Auseinandersetzung, die notwendig diesseits bleiben müssen, weil jene Sprache nur jenseits ihrer selbst einen Sinn annimmt, auf die Höhe der Sprache der Vernunft zu bringen. Es bedurfte auch einer ziemlich neutralen Sprache, die relativ frei von wissenschaftlicher Terminologie, sozialen oder moralischen O p tionen war, damit sie so nahe wie möglich an jene primitiv miteinander verketteten Worte herankommen konnte und damit jene Distanz aufgehoben wurde, durch die sich der moderne Mensch gegen den Wahnsinn absichert. Diese Sprache mußte aber offen genug sein, damit jene entscheidenden Worte ohne Verrat darin eindringen konnten, durch die sidi die Wahrheit des Wahnsinn und der Vernunft für uns konstituiert hat. Ich habe also nur eine Methode beibehalten, die auch in einem Text von Char enthalten ist, in dem sich zugleich die drängendste und zurückhaltendste Definition der Wahrheit findet: »Ich nahm den Dingen die Illusion, die sie erzeugen, um sich vor uns zu bewahren, und ließ ihnen den Anteil, den sie uns zugestehen.«2 Hamburg, den j . Februar i960
2 René Char, Suzerain - Lehnsherr, in: Poésies - Dichtungen, zweisprachige Ausgabe Frankfurt 19$9, S. 239.
Erster Teil
ι. Kapitel
Stultifera Navis Am Ende des Mittelalters verschwindet die Lepra aus dem Abendland. A m Rande der Gemeinden, vor den Stadttoren öffnen sich gleichsam große Uferflächen, die das Böse nicht mehr heimsucht, die es aber steril und für lange Zeit unbewohnbar zurückgelassen hat. Über Jahrhunderte hinweg gehören diese Flächen nicht zur menschlichen Welt. Sie ruhen vom vierzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert und erleben durch eigenartige Beschwörungen eine neue Inkarnation des Bösen, eine neue Fratze der Angst, von neuem magische Reinigungs- und Vertreibungsaktc. Vom hohen Mittelalter bis zum Ende der Kreuzzüge hatten die Leprosorien, Stätten der Verdammnis, ihre Zahl in ganz Europa um ein Vielfaches vergrößert. Nach Mathieu Paris sollen es im ganzen christlichen Abendland bis zu 19 000 gewesen sein.1 Jedenfalls werden um 1266, in der Zeit, als Ludwig V I I I . für Frankreich eine Regelung hinsichtlich der Leprosorien trifft, mehr als 2000 registriert. Allein in der Diözese von Paris gab es bis zu 43, darunter Bourg-le-Reine, Corbeil, Saint-Valère und das unheilvolle Champ-Pourri; auch Charenton zählte man dazu. Die beiden größten befanden sich in unmittelbarer Nähe von Paris - Saint-Germain und Saint-Lazare 1 - : wir werden ihre Namen in der Geschichte eines anderen Übels wiederfinden. Denn vom fünfzehnten Jahrhundert an leeren sich die Gebäude. SaintGermain wird im Jahrhundert darauf ein Haus für junge Sträflinge, und vor der Zeit des heiligen Vinzenz gibt es in Saint-Lazare schon nicht mehr als einen Leprakranken, den »sieur Langlois, praticien en cour laïc«. Das Leprosorium von Nancy, das zu den größten Europas gehörte, zählt unter der Régence von Marie de Médicis nur noch vier Kranke. Den Memoiren von Catel ist zu entnehmen, daß es in Toulouse am Ende des Mittelalters 29 Hospitäler gegeben habe: sieben waren Leprosorien, aber am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts findet man nur noch drei genannt: Saint-Cyprien, Arnaud-Bernard und Saint-Michel.3 Das Verschwinden der Lepra wird gern gefeiert: ι Zitiert bei Philibert Collet, Vie de saint Vincent de Paul, 3 vols., Paris 1818, 6d. I,S. 293. 2 Vgl. J. Lebeuf, Histoire de la ville et de tout le diocèse de Paris, Paris 1754-1758. j Vgl. H. M. Fay, Lépreux et cagots du Sud -Ouest, Paris 1910, S. 285.
1635 zum Beispiel unternehmen die Bewohner von Reims eine feierliche Prozession, um Gott dafür zu danken, daß er ihre Stadt von dieser Geißel befreit hat.·' Seit etwa einem Jahrhundert schon unterstanden die Kontrolle und Neuordnung des ungeheuren Vermögens, das Grund und Boden der Leprosorien darstellten, der königlichen Macht. Franz I. hatte durch eine Verfügung vom 19. Dezember 1 j43 eine Zählung und Inventarisierung durchführen lassen, »um der großen Unordnung, die damals in den Leprosorien herrschte, abzuhelfen«. Heinrich IV. ordnet seinerseits durch ein Edikt von 1606 eine Oberprüfung der Rechnungsbücher an; »das dadurch gewonnene Geld sollte für die verarmten Adligen und im Krieg verletzte Soldaten« verwendet werden. Eine weitere Kontrolle wird am 24. Oktober 1612 angeordnet, um diesmal das überschüssige Geld für die Ernährung der Armen zu benutzen.5 Die Frage der Leprosorien wurde in Frankreich nicht vor dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts geregelt, und die wirtschaftliche Bedeutung des Problems beschwor mehr als einen Konflikt herauf. Es gab im Jahre 1677 noch 44 Leprosorien allein in der Provinz des Dauphiné.6 Am 20. Februar 1672 überschrieb Ludwig X I V . die Güter aller Krankenpflege-Orden und militärischen Orden den Lazaristen und den Karmelitern. Sie wurden beauftragt, die Leprosorien des Königreiches zu verwalten. 7 Etwa 20 Jahre später wird das Edikt von 1672 annulliert, und durch eine Serie von gestaffelten Maßnahmen, die sich vom März 1693 bis zum Juli 1695 erstrecken, werden die Vermögen der Leprosorien den anderen Hospitälern und den Wohlfahrtseinrichtungen überschrieben. Die wenigen Leprakranken, die über die noch existierenden 1200 Häuser verstreut sind, werden in Saint-Mesmin in der Nähe von Orléans zusammengeführt. 8 Diese Vorschriften finden zuerst ihre Anwendung in Paris, w o das Parlament die betreffenden Einkünfte den Einrichtungen des Hôpital général zuführt; dieses Beispiel wird durch die Rechtsprechung in den Provinzen befolgt; Toulouse überträgt das Vermögen seiner Lepro4 P.-A. Hildenfinger, La Léproserie de Reims du XII' au Λ ' V I I ' siècle, Reims 1906, S. 233. î Nicolas Dclamare, Traité de Police, 4 vols., Paris 173S, Bd. I, S. 637-039. 6 Jean P. Moret da Bourchenu, Histoire du Dauphins, 2 vols., Genève 1722, Bd. II, S. 171. 7 Luigi Cibrario, Précis historique des ordres religieux de Saint-Lazare et de SaintMaurice, Lyon 1860. 8 Jacquc5-N.-M. Rödler, Notice historique sur la maladrerie des Chatelliers de Saint-Hilaire-Saint-Mesmin, Orléans 1866.
sorien dem Hospital der Unheilbaren (1696); der Besitz von Beaulieu in der Normandie wird dem Hôtel-Dieu in Caen zugeschlagen, der von Voley geht an das Krankenhaus von Sainte-Foy über.5 Außer Saint-Mesmin bleibt allein die geschlossene Station von Ganets bei Bordeaux als Zeuge. Für anderthalb Millionen Insassen haben England und Schottland im zwölften Jahrhundert allein 220 Leprosorien eingerichtet. Aber schon im vierzehnten Jahrhundert macht sich darin Leere bemerkbar; als Richard III. im Jahre 1342 eine Untersuchung über die Station von Ripon anordnet, gibt es dort keine Leprakranken mehr; er überläßt den Armen das Vermögen der Einrichtung. A m Ende des zwölften Jahrhunderts hat der Erzbischof Puisel ein Hospital gegründet, in dem 1434 nur noch zwei Plätze für Leprakranke reserviert waren, für den Fall, daß man welche fände. 10 Im Jahre 1348 gibt es im großen Leprosorium von Saint-AIban nur noch drei Kranke. Das Hospital von Romenall in Kent wird 24 Jahre später wegen Mangel an Leprakranken aufgegeben. Das im Jahre 1078 erbaute und nach dem heiligen Bartholomäus benannte Leprosorium in Chatam hat zu den größten in England gehört; unter Elisabeth gibt es darin aber nicht mehr als zwei Personen, und es wird 1627 endgültig geschlossen." Audi in Deutschland nimmt die Zahl der Leprakranken, wenn auch ein wenig langsamer, ab; auch hier bekommen die Leprosorien eine Neubestimmung. Diese Entwicklung wird wie in England durch die Reformation beschleunigt, die den Stadtverwaltungen die Wohlfahrtseinrichtungen und Krankenanstalten anvertraut; so geschieht es in Leipzig, in München und in Hamburg. 1542 wird das Vermögen der Leprosorien von Schleswig-Holstein den Hospitälern übergeben. Der Bericht eines Stuttgarter Beamten von IJ89 läßt erkennen, daß seit j o Jahren keine Leprakranken mehr in dem für sie bestimmten Haus waren. In Lipplingen wird das Leprosorium sehr bald mit Unheilbaren und Irren belegt." Dieses seltsame Verschwinden war wahrscheinlich nicht die lang gesuchte Wirkung obskurer medizinischer Praktiken, sondern das unmittelbare Ergebnis jener Absonderung und, nach dem Ende der 9 J.-A. U . Chevalier, Notice historique sur la maladrerie des Voley près Romans, Romans 1870, S. 61. 10 John M. Hobson, Some Early and Later Houses of Pity, London 1926, S. 12-13. IT Charles A . Mercier, Leper Houses and Médiéval Hospitals, London 1915, S. 19. 12 Virchow, in: Archiv zur Geschichte des Aussatzes, Bd. 19, S. 71 und 80; Bd. 20, S. y 11.
Kreuzzüge, audi die Folge des Bruches mit den orientalischen A n steckungsherden. Die Lepra zieht sich zurück und hinterläßt ohne Bestimmung jene niedrigen Orte und jene Riten, die nicht dazu bestimmt waren, sie zu heilen, sondern sie in einer geheiligten Entfernung zu halten, sie — in einer inversen Exaltation — zu bannen. Ohne Zweifel aber halten sich länger als die Lepra und zwar noch zu einer Zeit, als schon seit Jahren die Leprosorien leer sind, jene Werte und jene Bilder, die sidi mit der Gestalt des Leprakranken verbunden haben, jener Sinn des Ausschlusses, die soziale Bedeutung dieser insistenten und zu fürchtenden Gestalt, die man nicht fortschafft, ohne einen Kreis der Verdammnis um sie gezogen zu haben. Wenn man den Leprakranken auch aus der Öffentlichkeit und der Gemeinschaft der Kirche entfernt, ist seine Existenz doch immer ein Hinweis Gottes, weil sie zugleich seinen Zorn und seine Güte zeigt: »Mein Freund«, sagt das Rituale der Kirche von Vienne, »es gefällt unserem Herrn, daß du von dieser Krankheit befallen bist, und unser Herr läßt dir eine große Gnade zuteil werden, wenn er dich strafen will für Böses, das du in dieser Welt getan hast.« Und im gleichen A u genblick, da er von den Händen des Priesters und seiner Assistenten gressu rétrograda aus der Kirche gezogen wird, versichert man dem Leprakranken, daß er noch immer Zeugnis für Gott ablegt: »Und obwohl du von der Kirche und der Gemeinschaft der Gesunden getrennt bist, wirst du dennoch nicht der Gnade Gottes entbehren.« Bei Bruegel wohnen die Leprakranken, und zwar für immer, aus der Entfernung dem Aufstieg auf den Kalvarienberg bei, auf den ein ganzes Volk Christus begleitet, und als hieratische Zeugen des Bösen erfüllen sie ihr Heil in und durch dieses Ausgeschlossensein: in einer seltsamen Umkehrbarkeit, die der der guten Taten und Gebete entgegengesetzt ist, werden sie durch die Hand, die sich nicht nach ihnen streckt, gerettet. Der Sünder, der den Leprakranken an seiner Tür sich selbst überläßt, öffnet ihm den Weg zum Himmel. »Deshalb habe Geduld in deiner Krankheit, denn unser Herrgott verachtet dich nicht wegen deiner Krankheit und hält dich nicht von seiner Gemeinschaft fern; wenn du aber Geduld hast, wirst du gerettet werden wie der Aussätzige, der vor der Tür des neuen Reichen starb und direkt ins Paradies getragen wurde.«' 3 Das Ausgesetztsein ist ihm Rettung. Sein Ausschluß bietet ihm eine andere Form der Kommunion. Die Lepra verschwindet, die Leprakranken sind fast vergessen, aber 13 Rituale der Diözese v o n Vienne, gedruckt unter Erzbisdiof G u i de Poissieu. gegen 1478. Zitiert bei Charret, Histoire de l'Église de Vienne, S. 752.
die Strukturen bleiben. Oft kann man an denselben Orten zwei oder drei Jahrhunderte später die gleichen Formeln des Ausschlusses in verblüffender Ähnlichkeit wiederfinden. Arme, Landstreicher, Sträflinge, und »verwirrte Köpfe« spielen die Rolle, die einst der Leprakranke innehatte, und wir werden sehen, welches Heil von diesem Ausschluß für sie selbst erwartet wird oder für diejenigen, die sie ausschließen. Mit einem ganz neuen Sinn und auf einer völlig anderen Entwicklungsstufe bestehen die Formen fort, insbesondere jene bedeutendere Form einer rigorosen Trennung, die in sozialem Ausschluß, aber geistiger Reintegration besteht. Doch wir wollen nicht vorgreifen. Die Lepra wurde zunächst von den Geschlechtskrankheiten abgelöst. Plötzlich, am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, treten sie an die Stelle der Lepra wie legitime Erben. In verschiedenen Leprosorien nimmt man Geschlechtskranke auf: unter Franz I. versucht man zunächst, sie im Hospital der Gemeinde von Saint-Eustache, dann dem von Saint-Nicolas einzuschließen, die beide bis dahin als Leprosorien gedient haben. Zweimal, unter Karl V I I I . und im Jahre I J J 9 hat man ihnen in Saint-Germain-des-Prés verschiedeneBaracken und Hütten zugewiesen, die einst für die Leprakranken gebraucht wurden.'·' Bald ist die Zahl der Geschlechtskranken so groß, daß man andere Gebäude errichten muß »an bestimmten, geräumigen Stellen unserer Stadt und der Vorstädte, von Nachbarn abgetrennt«.1* Eine neue Lepra ist entstanden, die die Stelle der ersten einnimmt. Nicht ohne Schwierigkeiten übrigens, nicht ohne Konflikte, denn die Leprakranken haben Angst. Sie sträuben sich dagegen, die Neuankömmlinge in der Welt des Schreckens aufzunehmen: »Est mirabilis contagiosa et nimis formidanda infirmitas, quam etiam detestantur leprosi et ea infectos secum habitare non permittant«."6 Wenn sie auch ältere Rechte haben, diese ••abgetrennten« Orte zu bewohnen, sind sie nicht zahlreich genug, um diese Rechte durchzusetzen; die Geschlechtskranken nehmen überall bald ihre Stelle ein. 14 Albert-B.-E. Pignot, L'Hôpital du Midi et ses origines, Paris 1885, S. 10 und 48. IJ Nach einem Manuskript der Archives de l'Assistance publique (Dossier: PetitesMaisons; Bündel N r . 4). ί 6 Trithemius, Chronicon Hisangiense; zitiert v o n Potton in seiner Übersetzung von Ulrich von Hutten: Sur la maladie française et sur les propriétés du bois de gaïac, Lyon 186$, S. 9.
Dennoch sind es nicht die Geschlechtskrankheiten, die im klassischen Zeitalter die Rolle, die die Lepra im Mittelalter gespielt hat, übernehmen. Trotz der ersten Ausschlußmaßnahmen finden sie bald ihren Platz unter den anderen Krankheiten. Wohl oder übel nimmt man die Geschlechtskranken in den Hospitälern auf. Das Hôtel-Dieu in Paris läßt sie zu.' 7 Mehrmals versucht man, sie zu verjagen, aber vergeblich, denn sie mischen sich immer wieder unter die übrigen Kranken.18 In Deutschland baut man ihnen besondere Häuser, nicht um sie auszuschließen, sondern um sie zu behandeln; in Augsburg gründen die Fugger zwei Hospitäler dieser Art. Nürnberg stellt einen A r z t ein, der versichert, »die malafrantzos vertreiben« zu können.' 9 Denn diese Krankheit ist im Gegensatz zur Lepra sehr schnell ein medizinisches Problem geworden, das ausschließlich die Ärzte angeht. Uberall kümmert man sich um Behandlungsmethoden. Der Orden des heiligen Cosimus übernimmt von den Arabern den Gebrauch des Quecksilbers20; im Hôtel-Dieu in Paris benutzt man vor allem den Theriak. Dann ist besonders das Guajakholz in Mode, das, wenn man Fracastor in seiner Syphilidis und Ulrich von Hutten glauben will, wertvoller als das Gold Amerikas ist. Die Anwendung von Schwitzkuren ist allgemein verbreitet. Die Geschlechtskrankheiten reihen sich also im sechzehnten Jahrhundert in die Klasse der Leiden ein, die eine Behandlung verlangen. Natürlich gibt es auch moralische Urteile, aber diese Perspektive ändert nichts daran, daß die Geschlechtskrankheiten in erster Linie medizinisch gesehen werden. 2 ' Es ist interessant festzustellen, daß unter dem Einfluß der Internierungen, so wie sie sich im siebzehnten Jahrhundert entwickelt haben, die Geschlechtskrankheiten sich in einem gewissen Maße aus ihrem medizinischen Kontext gelöst und neben dem Wahnsinn in einem moralischen Raum des Ausgeschlossenseins angesiedelt haben. Tatsächlich müssen wir das wirkliche Erbe der Lepra in einem sehr komplexen
17 Die erste Erwähnung der Geschlechtskrankheit in Frankreidi findet sich in einer Redinung des Hôtel-Dieu; zitiert bei Léon Brièle, Collection de documents pour servir à l'histoire des hôpitaux des Paris, 4 vols., Paris 1881-1887, III, Faszikel 2. 18 Vgl. den Beridit eines Besuchs im Hôtel-Dieu im Jahre 1J07 bei Pignot, a. a. O., S. 12;. 19 Richard Goldhahn, Spital und Arzt von einst bis jetzt, Stuttgart 1940, S. 110. 20 Béthencourt gibt ihm den Vorrang vor jeder anderen Behandlung in seinem Nouveau carême de pénitence et purgatoire d'expiation v o n 1527. 21 Trotz seines Titels ist das Werk v o n Béthencourt ein rein medizinisdies Buch.
Phänomen suchen, das sich anzueignen die Medizin noch sehr lange Zeit brauchen wird. Dieses Phänomen ist der Wahnsinn, der erst nach einer fast zwei Jahrhunderte währenden Latenzzeit die Rolle der Lepra als Heimsuchung in den Ängsten der Menschen übernimmt und gleich ihr Reaktionen der Trennung, des Ausschlusses und der Reinigung hervorruft, die sich jedoch ganz klar mit ihr verbinden. Bevor der Wahnsinn etwa in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bezähmt wird und bevor man dafür die alten Riten bemüht, ist er unweigerlich mit allen größeren Erfahrungen der Renaissance verbunden. Seine ständige Gegenwart und einige seiner wesentlichen Gestalten wollen wir uns zunächst kurz vor Augen führen. Die einfachste dieser Gestalten und zugleich die mit der größten Symbolkraft ist ein Gegenstand, der in der imaginären Landschaft der Renaissance zum ersten Mal erscheint; bald soll er eine bevorzugte Stelle einnehmen: es ist das Narrenschiff, ein eigenartiges, trunkenes Boot, das die ruhigen Flüsse des Rheinlandes und die flämischen K a näle hinuntergleitet. Das Narrenschiff ist natürlich eine literarische Schöpfung, wahrscheinlich dem alten Zyklus der Argonauten entnommen, der kurz zuvor unter den großen mythischen Themen wieder zu frischem Leben gekommen ist und dem man in den burgundischen Staaten institutionelle Form gegeben hat. Die Beschreibung solcher Schiffe, deren Mannschaft aus imaginären Helden, ethisch vorbildlichen oder gesellschaftlichen Typen sich auf eine große symbolische Reise begibt, die ihnen, wenn nicht das Glück, dann wenigstens die Gestalt ihres Schicksals oder ihrer Wahrheit bringt, entspricht dem Geschmack der Zeit. So schreibt Symphorien Champier nacheinander eine Nef des princes et des batailles de Noblesse (1502), dann eine Nef des Dames vertueuses (1J03); die Blauwe Schute von Jacop van Oestvoren (1413), das Narrenschiff von Brant (1497) stehen neben einer Nef de Santé und dem Werk von Josse Badius: Stultiferae naviculae scaphae fatuarum mulierum (1498). Selbstverständlich gehört das Bild von Bosch zu dieser Traumflotte. Aber von all diesen fabulösen oder satirischen Schiffen hat nur das •Narrenschiff« wirklich existiert, denn diese Schiffe, die ihre geisteskranke Fracht von einer Stadt zur anderen brachten, gab es wirklich. Es geschah oft, daß die Irren ein Wanderleben führten. Häufig jagte man sie aus der Stadt und ließ sie in der freien Landschaft umherlau-
fen, wenn man sie nicht einer Gruppe von Händlern oder Pilgern anvertraute. So verfuhr man besonders oft in Deutschland. In Nürnberg hat man in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts 6z Irre festgestellt, von denen 31 verjagt wurden. Für die 50 folgenden Jahre lassen sich noch 21 Vertreibungen nachweisen, obwohl es sich dabei nur um die Irren handelte, die von den Stadtbehörden festgenommen worden waren. 21 Oft übergab man sie Schiffern: in Frankfurt wurden 1399 Schiffer damit beauftragt, die Stadt von einem Irren zu befreien, der nackt umherlief. In den ersten Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts entfernte man einen straffälligen Irren auf die gleiche Weise aus Mainz. Oft setzten die Schiffer die unbequemen Passagiere schneller wieder an Land, als sie es versprochen hatten, was zum Beispiel jener Schmied aus Frankfurt beweist, der zweimal aus der Stadt entfernt worden war und zweimal wiederkam, bevor er endgültig nach Kreuznach verbracht wurde. 23 Oft haben die Städte Europas diese Narrenschiffe sich ihrem Hafen nähern sehen müssen. Der genaue Sinn dieses Brauches ist nicht leicht zu erkennen, man könnte denken, daß es sich um eine allgemeine Maßnahme der Ausweisung handelt, mit der die Stadtbehörden die vagabundierenden Irren belegen. Diese Hypothese reicht nicht aus, um allen Fällen Rechnung zu tragen, denn noch bevor man den Bau eigener Häuser für die Geisteskranken in Angriff nimmt, kommt es vor, daß sie in den Hospitälern aufgenommen und als Geisteskranke gepflegt werden. Im Hôtel-Dieu in Paris hat man besondere Schlafzellen für sie in den Schlafsälen eingerichtet24; im übrigen hat es in der Mehrzahl der europäischen Städte während des ganzen Mittelalters und der Renaissance einen Ort gegeben, der für die Einschließung der Geisteskranken bestimmt war. In Melun ist es zum Beispiel das Châtelet 2 ', in Caen der berühmte Narrenturm 2i , in Deutschland die zahllosen Narrentürme, wie die Tore von Lübeck oder der Jungfer in Hamburg 27 . Die 22 Theodor Kirchhoff, Geschichte der Psychiatrie, Leipzig 1912. 23 Georg L. Kriegk, Heilanstalten und Geisteskranke im mittelalterlichen Frankfurt am Main, Frankfurt 1863. 24 Vgl. die »Comptes de l'Hôtel-Dieu«, X I X , 190 und X X , 346. Zitiert bei Ernesi Coyccque, L'HStel-Dieu de Paris au Moyen Age, histoire et documents, ζ vols., Paris 1889-1891, Bd. I, S. 109. 2 j Archives hospitalières de Melun, Fonds Saint-Jacques, Ε 14, 6y. 16 Aristide Joly, Du sort des aliénés dans la Basse-Normandie avant 1789, Caen 1868. 27 Vgl. Jonas L. von Hess, Hamburg topographisch, politisch und historisch beschrieben, 3 Bde., Hamburg ' 1 8 1 0 - 1 8 1 1 , Bd. I, S. 344—345; und Esdienburg, Ge-
Irren werden also nicht unterschiedslos verjagt, und wir können folglich annehmen, daß man nur die Fremden unter ihnen vertreibt, während jede Stadt bereit ist, sich um die Geisteskranken in der eigenen Bürgerschaft zu kümmern. Tatsächlich finden wir in den Rechnungsbüchern bestimmter mittelalterlicher Städte Subventionen und Stiftungen, die für die Pflege der Geisteskranken bestimmt sind.28 Jedoch das Problem ist so einfach nicht, denn es gibt Orte, an denen die Irren zahlreicher als anderswo sind. A n erster Stelle kommen die Pilgerorte: Saint-Mathurin de Larchant, Saint-Hildevert de Gournay, Besançon und Gheel, wohin Pilgerreisen organisiert und manchmal von den Städten und Hospitälern finanziell unterstützt werden. 2 ' Möglicherweise sind diese Narrenschiffe, die die Vorstellungen der Menschen während der ganzen Frührenaissance bewegt haben, Pilgerschiffe, stark symbolische Schiffe mit Geisteskranken auf der Suche nach ihrer Vernunft. Die einen fahren die Flüsse des Rheinlandes abwärts in Richtung Belgien und nach Gheel, die anderen fahren den Rhein hinauf in Richtung Jura und Besançon. Aber es gibt andere Städte, Nürnberg etwa, die sicher keine Pilgerorte gewesen sind und die dennoch eine große Zahl von Irren aufnehmen, viel mehr auf jeden Fall, als die Stadt selbst an Zahl stellen kann. Diese Irren werden auf Stadtkosten untergebracht und ernährt, und dennoch werden sie nicht behandelt, sie werden ganz einfach in die Gefängnisse geworfen. 30 In manchen bedeutenden Städten, Reise- und Marktzentren, so kann man annehmen, wurden die Irren von den Händlern und Schiffern in stärkerer Anzahl mitgebracht und dort teil ich te unserer Irrenanstalt
und Bericht über dieselbe
in den letzten
fünf
Jahren,
Lübecker Blätter X (1844). ΐ8 Ζ . Β. erhält 1461 eine Frau v o n der Stadt H a m b u r g 14 Taler, w e i l sie sich um die Irren kümmern soll. V g l . Η . B . Gernet, Mittheilungen geschichtc Hamburgs,
aus der älteren
Medicinal-
H a m b u r g 1869, S. 79. In Lübeck bedenkt 1479 ein gewisser
Gerd Sunderbedc in seinem Testament »den armen dullen Luden«. Zitiert bei H e i n rich Laehr, Gedenktage
der Psychiatrie,
Berlin 1893, S. 320.
29 Es kommt sogar v o r , d a ß Ersatzleute bezahlt w e r d e n : »Einen M a n n bezahlt, der Schwester Robine neun T a g e lang ersetzen soll u n d nach Saint-Mathurin de Larchant geschickt worden ist, weil sie k r a n k und phrenetisdi ist. E r erhält 8 sols ρ.« Vgl. die »Comptes de l'Hôtel-Dieu«, X X I I I , bei C o y e c q u e , a. a. O . <0 (n Nürnberg zählt man im L a u f e der Jahre 1377 bis 1378 und 1381 bis 1397 in den Gefängnissen 37 Wahnsinnige, v o n denen die 17 Fremden aus Regensburg, Weißenburg, Bamberg, Bayreuth, W i e n und U n g a r n kommen. In der folgenden Zeit sdieint N ü r n b e r g seine Rolle als Sammelpunkt verloren z u haben, ohne d a ß v i r wüßten, warum, und mit großer S o r g f a l t alle Irren, die nicht aus der S t a d t stammten, vertrieben zu haben. V g l . Kirchhoff, a. a. O .
»verloren«, wodurch man ihre Herkunftsstädte von ihnen säuberte. Es mag vorgekommen sein, daß diese Orte einer »Konter-Wallfahrt« mit den Orten zusammenfielen, wohin man Geisteskranke als Pilger führte. Die Sorge, sie zu heilen, und die, sie auszuschließen, trafen sich, man schloß sie am heiligen Ort des Wunders ein. Möglicherweise hat sich das Dorf Gheel so entwickelt - ein Pilgerort, der zur geschlossenen Station^ zum heiligen Land wird, wo der Wahnsinn auf Befreiung hofft, aber w o der Mensch nach alten Themen eine rituelle Trennung vornimmt. Doch das unstete Leben der Irren, ihre Vertreibung zu Lande und zu Wasser finden ihren Sinn nicht allein im Aspekt gesellschaftlicher Nützlichkeit oder dem der Sicherheit der Stadtgemeinschaft. Andere, dem Ritus viel nähere Bedeutungen sind darin sicher enthalten, und wir können noch einige ihrer Spuren erkennen. So ist den Irren der Zutritt zu den Kirchen verboten' 1 , während das Kirchenrecht ihnen die Sakramente nicht verweigert 32 . Die Kirche unternimmt keine Sanktionen gegen einen Priester, der geisteskrank wird, aber in Nürnberg wird 1421 ein irrer Priester mit besonderer Feierlichkeit verjagt, als hätte die Weihe der Person die Unreinheit vervielfacht, und die Stadt nimmt von seinem Budget die Summe, die ihm als Reisegeld dienen soll.33 Manche Geisteskranken werden öffentlich ausgepeitscht und im Laufe einer A r t Spiel dann in einem vorgetäuschten Wettlauf verfolgt und mit Rutenschlägen aus der Stadt getrieben.34 Es gibt so manche Zeichen, daß die Vertreibung der Geisteskranken zu einem der ritualen Exile geworden ist. So versteht man die eigenartig starke Bedeutung besser, die die Schifffahrt beim Abtransport der Irren hat und die ihr ihre besondere Geltung gibt. Einerseits darf man den unbestreitbaren Anteil praktischer Effektivität nicht zu gering ansetzen. Dadurch, daß man den Irren Schiffern anvertraut, vermeidet man, daß er sich ständig vor den Mauern der Stadt aufhält, wird sichergestellt, daß er weit fortgebracht wird, macht ihn zum Gefangenen seines eigenen Aufbruchs. 31 Ein Junge erhält in Nürnberg 1420 drei Tage Gefängnis, weil er einen Wahnsinnigen in eine Kirche geführt hat. Vgl. Kirdihoff, a. a. O . 32 Durch das Konzil von Karthago, 348, war es gestattet, daß ein Wahnsinniger die Kommunion erhielt, wenn keine Unehrerbietigkeit zu befürchten war. Der heilige Thomas äußerte sidi im gleichen Sinn. V g l . J. Portes, Dictionnaire des cas de conscience, Paris 1741, Bd. I, S. 785. 33 Ein Mann, der ihm seinen Mantel gestohlen hat, wird zu sieben Tagen Gefängnis verurteilt. Vgl. Kirdihoff, a. a. O . 34 Vgl. Kriegk, a. a. O.
Dem fügt aber das Wasser die dunkle Menge seiner eigenen Kräfte hinzu; es trägt fort, aber es tut noch mehr: es reinigt. Die Schiffahrt überläßt den Menschen der Unsicherheit des Schicksals. Jeder ist auf dem Wasser seinem eigenen Schicksal anvertraut, jede Fahrt mit einem Schiff ist möglicherweise die letzte. Der Irre mit seinem Narrenschiff fährt in die andere Welt, und aus der anderen Welt kommt er, wenn er an Land geht. Diese Reise des Irren ist zugleich rigorose Trennung und endgültige Oberfahrt. In gewissem Sinne entwickelt sie lediglich vor einer halb realen, halb imaginären Geographie die Liminarsituation des Irren am Horizont der Sorgen des mittelalterlichen Menschen, die symbolisiert und zugleich realisiert wird durch Jas ihm eingeräumte Privileg, vor den Toren der Stadt eingeschlossen zu sein; sein Ausschluß muß ihn einschließen; wenn er kein anderes Gefängnis haben kann und soll als die Schwelle selbst, hält man ihn an der Stelle des Überganges fest. Er wird in das Innere des Äußeren gesperrt und umgekehrt. Diese Position hat große Symbolkraft, die ihr gewiß bis heute geblieben ist, wenn wir bereit sind zuzugeben, daß das, was einst sichtbare Festung der Ordnung war, inzwischen ein Schloß in unserem Bewußtsein geworden ist. Eben diese Rolle spielen Wasser und Schiffahrt. Eingeschlossen in das Boot, aus dem es kein Entrinnen gibt, ist der Irre dem tausendarmifeen Fluß, dem Meer mit tausend Wegen und jener großen Unsicherheit, die außerhalb alles anderen liegt, ausgeliefert. Er ist Gefangener inmitten der freiesten und offensten aller Straßen, fest angekettet auf Jer unendlichen Kreuzung. Er ist der Passagier par excellence, das heißt der Gefangene der Überfahrt, und, wie man nicht weiß, w o er landen wird, so weiß man auch nicht, wenn er landet, aus welcher Welt er kommt. Er hat seine Wahrheit und seine Heimat nur in dieser unfruchtbaren Weite zwischen zwei Welten, die ihm nicht gehören können.'* Ist dieses Ritual durch seine Werte Ursprung der langen imaginären Beziehung, die man durch die ganze abendländische Kultur verfolgen kann? Oder hat umgekehrt diese Beziehung bereits in sehr frühen Zeiten das Ritual der Verschiffung hervorgerufen und pater fixiert? Eines jedenfalls ist sicher: Wasser und Wahnsinn sind im Traum des abendländischen Menschen für lange Zeit verbunden. Bereits Tristan hatte sich einst, als Irrer getarnt, von Seeleuten an der K.üste Cornwalls aussetzen lassen. Als er zum Schloß des Königs : < Diese Themen sind dem des verbotenen und dem des verdammten Kindes sehr "ihe- Jas in einem kleinen Boot ausgesetzt und in eine andere Welt gefahren wird, im letzten Fall ist jedoch eine Rückkehr möglich.
Mark kommt, erkennt ihn niemand, weiß niemand, woher er kommt, aber er macht zu seltsame, vertraute und ferne Bemerkungen; er kennt die Geheimnisse des Wohlbekannten zu gut, um nicht aus einer anderen, sehr nahen Welt zu sein. Er kommt nicht vom festen Lande mit seinen festen Städten, sondern aus der unablässigen Ruhelosigkeit des Meeres, von jenen unbekannten Wegen, die soviel fremdes Wissen verbergen, von jener phantastischen Ebene, der Unterseite der Welt. Isolde erkennt als erste, daß dieser Irre ein Sohn des Meeres ist, den unbotmäßige Matrosen als ein Zeichen des Unglücks dort ausgesetzt haben: »Verflucht seien die Seeleute, die diesen Irren gebracht haben, warum haben sie ihn nicht ins Meer geworfen?« 36 Das gleiche Motiv tritt im Laufe der Zeit mehrmals wieder auf: bei den Mystikern des fünfzehnten Jahrhunderts ist es das Motiv der Seele als Schiff geworden, die auf dem unendlichen Meer der Begierden, auf dem sterilen Feld der Sorgen und der Unwissenheit in den falschen Vorspiegelungen des Wissens, inmitten der Unvernunft der Welt treibend, Spielball des Wahnsinns des großen Meeres ist, wenn sie den festen Anker, den Glauben, nicht zu werfen oder ihre geistigen Segel nicht zu setzen weiß, damit der Atem Gottes sie zum Hafen geleitet.37 A m Ende des sechzehnten Jahrhunderts sieht de l'Ancre im Meer den Ursprung der dämonischen Neigung eines ganzen Volkes. Die ungewisse Bewegung der Schiffe, das alleinige Vertrauen zu den Sternen, die überlieferten Geheimnisse, die Entfernung von den Frauen und schließlich das Bild dieser großen aufgewühlten Weite lassen den Menschen den Glauben an Gott und alle festen Bindungen an die Heimat verlieren. Er liefert sich dem Teufel und dem Ozean satanischer Künste aus.38 In der klassischen Zeit erklärt man die englische Melancholie gerne durch den Einfluß eines Meeresklimas: die Kälte, Feuchtigkeit, die Wechselhaftigkeit des Wetters, all die feinen Wassertröpfchen, die die Kanäle und Fibern des menschlichen Körpers durchdrängen, ließen ihn seine Festigkeit verlieren und prädisponierten ihn für den Wahnsinn.35 Schließlich, unter Vernachlässigung einer umfangreichen Literatur, die von Ophelia bis zur Lorelei reicht. 36 Tristan et Iseut, in der Ausgabe Bossuat, S. 219-212. 37 Vgl. u. a. Die Predigten Taulers, hrsg. von Ferdinand Vetter (Deutsche Text*· des Mittelalters 11), Berlin 1910, X L Ï . 38 Pierre de l'Ancre, Tableau de l'inconstance des mauvais anges et démons <... Paris 1612. 39 George Cheyne, Tbe english malady, or a treatise on nervous diseases 0/ all kinds, London 1733.
seien hier nur die großen, halb anthropologischen, halb kosmologischen Analysen von Heinroth genannt, die den Wahnsinn im Menschen als Manifestation eines dunklen und aquatischen Elementes, als finstere Unordnung, als bewegtes Chaos, das sich, Keim und Tod aller Dinge, der klaren Stabilität und Reife des Geistes widersetzt, interpretieren.·10 Wenn aber die Schiffahrt der Irren sich in der abendländischen Vorstellungswelt mit so vielen sehr alten Motiven verbindet, wie kann dann die Tatsache erklärt werden, daß etwa im fünfzehnten Jahrhundert das Thema so plötzlich in der Literatur und in der Ikonographie formuliert wird? Woher taucht so schlagartig die Silhouette des Narrenschiffes und seiner geisteskranken Mannschaft auf, um die vertrautesten Landschaften zu besetzen? Warum entsteht aus der alten Verbindung von Wasser und Wahnsinn eines Tages und gerade zu dieser Zeit dieses Schiff? Weil es eine große Unruhe symbolisiert, die plötzlich, gegen Ende des Mittelalters am Horizont der europäischen Kultur aufsteigt. Der Wahnsinn und der Wahnsinnige werden bedeutendere Gestalten in ihrer Doppeldeutigkeit: Drohung und Verlachen, schwindelerregende Unvernunft der Welt und unbedeutende Lächerlichkeit der Menschen. Einerseits gibt es eine umfangreiche Literatur von Erzählungen und Moralitäten. Ihre Anfänge reichen wahrscheinlich weit zurück, aber am Ende des Mittelalters nimmt sie einen beachtlichen Platz ein. Es entsteht eine lange Folge von »folies«, die, wie in der Zeit davor, Laster und Fehler stigmatisieren, sie aber nicht mehr dem Stolz, dem Mangel an Mildtätigkeit oder der Vernachlässigung christlicher Tugenden zuschreiben, sondern einer Art großer Unvernunft, für die, genaugenommen, niemand verantwortlich ist, sondern die jeden, wie durch ein geheimes Einverständnis, mit sich zieht. 4 ' Die Denunziation Je« Wahnsinns wird zur allgemeinen Form der Kritik. In den Narren- und Possenspielen gewinnt die Gestalt des Narren, des Toren i. Es muii hinzugefügt werden, daß die »Mondsüchtigkeit« mit diesem Thema zu "in hat. Der Mond, dem man während vieler Jahrhunderte einen Einfluß auf den Wahnsinn zuschrieb, ist von allen Himmelskörpern der wässerigste. Die VerwandtJuit Jes Wahnsinns mit der Sonne und dem Feuer tauchte erst viel später in der üukussion auf (Nerval. Nietzsche, Artaud). j ι Vgl. beispielsweise Des six manières de fols, Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, Mi. Γ θ 7 .
und des Tropfs immer mehr an Bedeutung.*2 Er ist nicht mehr einfach die vertraute und lächerliche Gestalt am Rande 4 ', sondern nimmt die Hauptrolle ein, als sei er im Besitz der Wahrheit, und spielt hier eine der Rolle, die der Wahnsinn in den Erzählungen und Satiren einnimmt, komplementäre und entgegengesetzte Rolle. Wenn der Wahnsinn jeden in eine Blindheit zieht, in der er sich verliert, verhilft der Wahnsinnige im Gegensatz dazu jedermann zu seiner Wahrheit; in der Komödie, wo jeder die anderen täuscht und sich selbst düpiert, spielt er die Komödie zweiten Grades, die Täuschung der Täuschung. Er sagt in seiner törichten Sprache, die kein Bild von Vernunft abgibt, die Worte der Vernunft, die im Komischen die Komödie entwirren: den Liebenden spricht er von Liebe44, den Jungen erzählt er die Wahrheit des Lebens 4 ', den Hochmütigen, den Unverschämten und Lügnern nennt er die nichtige Wirklichkeit der Dinge 44 . Sogar die in Flandern und im Norden Europas so beliebten alten Narrenfeste sind Theaterereignisse und haben soziale und moralische Kritik zum Inhalt, was auch immer an spontaner religiöser Parodie darin enthalten sein kann. Andererseits ist der Wahnsinn auch in der gelehrten Literatur an der Arbeit, im Herzen der Vernunft und der Wahrheit selbst. Ohne Unterschied lädt er alle Menschen auf sein närrisches Schiff und läßt sie eine gemeinsame Odyssee erleben (van Oestvorens Blauwe Schute. Brants Narrenschiff). Murner beschwört des Wahnsinns übelbringende Herrschaft in seiner Narrenbeschwörung. In der Satire Contre Fol Amour von Corrozet liefert er sich eine Partie mit der Liebe oder streitet sich - wie in dem Dialog von Louise Labé, Débat de Folie ei d'Amour - mit der Liebe darüber, wer von beiden der erste ist, wer von beiden das Auftreten des anderen ermöglicht und den anderen nach seiner Weise führt. Der Wahnsinn hat auch seine akademischen Spiele: er ist das Thema von Reden, er hält sogar welche über sich selbst, man denunziert ihn, er verteidigt sich, er beansprucht für sich. 42 In der Sottie de Folie Balance sind vier Personen »fols«: der Edelmann, der Kaufmann, der Landmann (also die ganze Gesellschaft) und Folie Balance selbst. 43 Das ist auch der Fall in der Moralité nouvelle des Enfants de maintenant odei in der Moralité nouvelle de Charité, in der der Irre eine der zwölf Personen ist. 44 Wie in der Farce de tout mesnage, in der der Irre den A r z t spielt, um ein Zim mermädchen vom Liebeskummer zu heilen. 45 In der Farce des cris de Paris greift der Wahnsinnige in das Gcspräch zweie' junger Leute ein, um ihnen zu erklären, was die Ehe ist. 46 Der Tropf sagt in der Farce du Gaudisseur immer dann die Wahrheit, wenn de> -Gaudisseur« sidi rühmt.
Jem Glück und der Wahrheit näher zu sein als die Vernunft, der Vernunft näher zu stehen als die Vernunft selbst. Jakob Wimpfeling gibt das Monopolium Philosophorum heraus47 und Jodocus Gallus das Monopolium et societas, vulgo des Lichtschi ffs*s. Und schließlich gibt es als Schwerpunkt dieser ernsten Spiele die wichtigen Texte der Humanisten: die Moria Rediviva von Flayder (i 527) und die Laus Stultitiae von Erasmus (1509). Gegenüber all diesen Worten mit ihrer unermüdlichen Dialektik und all diesen ständig wiederaufgenommenen und umgearbeiteten Reden steht eine lange Reihe von Bildern von Hieronymus Bosch mit seinem Steinschneider und dem Narrenschiff bis hin zu Bruegels Duller Griet. Was das Theater und die Literatur bereits aufgenommen haben, wird in Holzschnitten und Stichen wiedergegeben: die ineinandergefügten Themen des Narrenfestes und Narrentanzes.4' In solchem Maße beschäftigt vom fünfzehnten Jahrhundert an das Antlitz des Wahnsinns die Vorstellungen des abendländischen Menschen. Eine Folge von Daten spricht für sich selbst: der Totentanz des Cimeliere des Innocents stammt wahrscheinlich aus den ersten Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts'0, der von Chaise-Dieu ist wahrscheinlich Sutjen 1460 entstanden, und 148 j veröffentlicht Guyot Marchand seine Danse Macabre. Diese 60 Jahre sind gewiß von der grinsenden ßilderwelt des Todes beherrscht gewesen. 1492 schreibt Brant sein Varrenschiff, fünf Jahre später wird es ins Lateinische übersetzt. In den allerletzten Jahren des Jahrhunderts schafft Hieronymus Bosch sein Narrenschiff. Des Erasmus Das Lob der Torheit ist von 1509. Die Reihenfolge ist klar. Bis zur zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, oder gar noch ein wenig länger, herrscht allein das Thema des Todes. Das Ende des Menschen, das Ende der Zeiten tragen das Antlitz der Pest und der Kriege. Dieses Ende und diese Ordnung, der niemand entkommt, beherrschen die menschliche Existenz. Die Präsenz, die sogar in dieser " Heidelberg 1480. -traiiburg 1489. Diese Werke sind in der A r t der Reden und närrisdien Ge-ache verfaßt, die auf dem Theater gesprochen werden, wie der Sermon joyeux ei -ande value à tous les fous pour leur montrer à sages devenir. . · Vcl. etwa das Narrenfest, das bei Bastelacr, Les estampes de Brueghel, Brüssel : jbcebildet ist, oder den Nasentanz (bei Geisberg, Deutsche Holzschnitte,
.
S ίήΐι. irr. Journal d'un Bourgeois de Paris heißt es: »7424 wurde auf dem Friedhof der huldigen Kinder ein Totentanz gemacht.« Zitiert bei Emile Mâle, L'Art religieux a tin du Moyen Age, Paris 1908, S. 363
Welt ihre Drohung ausspricht, ist eine fleischlose Präsenz. Und plötzlich, in den letzten Jahren des Jahrhunderts, dreht sich diese große Unruhe um die eigene Achse. Der Spott des Wahnsinns tritt an die Stelle des Todes und seiner Feierlichkeit. Von der Entdeckung jener Notwendigkeit, die den Menschen unvermeidlich zu nichts werden läßt, ist man zu einer verachtenden Betrachtung dieses Nichts, das die Existenz selbst ist, gelangt. Die Angst vor dieser absoluten Grenze des Todes wird in einer fortgesetzten Ironie verinnerlicht. Man entwaffnet diese Angst im voraus, macht sie zum Objekt des Gespötts, indem man ihr eine alltägliche und beherrschte Form gibt, indem man sie in jedem Augenblick während des Schauspiels des Lebens erneuert, indem man sie in den Lastern, den Verschrobenheiten und Schrullen eines jeden zerstreut. Die Zerstörung durch den Tod bedeutet nichts mehr, weil sie bereits alles bedeutet, denn das Leben selbst besteht nur aus Abgedroschenheit, hohlen Worten, leerem Geklingel und Narrensdiellen. Der Kopf, der zum Schädel werden soll, ist bereits leer. Der Wahnsinn ist die bereits hergestellte Präsenz des Todes.' 1 Aber er bedeutet zugleich dessen überwundene Präsenz, der man in den alltäglichen Zeichen ausweicht, die, indem sie ankündigen, daß er bereits herrscht, zugleich anzeigen, daß seine Beute nur ein magerer Preis sein wird. Was der Tod demaskiert, ist nur Maske und nichts anderes. U m das Grinsen des Skeletts zu entdecken, genügt es zu entfernen, was weder Wahrheit noch Schönheit ist, sondern lediglich weiße Schminke und Flitter. Dasselbe Lächeln geht von der leeren Maske auf den Kadaver über, doch lacht der Wahnsinnige im voraus das Lachen des Todes, und der Geisteskranke entwaffnet, indem er es vorwegnimmt, das Makabre. Die Schreie der Dullen Griet triumphieren in der Hochrenaissance über den am Ende des Mittelalters aui den Mauern von Campo Santo gesungenen Triumph des Todes. Das Ersetzen des Todesthemas durch das des Wahnsinns bedeutet keinen Bruch, sondern eher eine Torsion innerhalb der gleichen ängstlichen Unruhe. Noch immer geht es um die Frage der Nichtigkeit der Existenz, aber diese Nichtigkeit wird nicht mehr als äußere und endgültige Grenze, die Drohung und Abschluß zugleich ist, anerkannt. Sie wird vom Inneren her verstanden als die fortgesetzte und konstante Form der Existenz. Und während einst der Wahn der Menschen darin bestanden hat, daß sie nicht sahen, daß der Zeitpunkt de J I in dieser Hinsicht stellt die Erfahrung mit dem Wahnsinn die strenge Nadifole. der mit der Lepra dar. Das Ritual, mit dem der Leprakranke ausgeschlossen wurdzeigte, daß er als Lebender die Präsenz des Todes war.
Todes sich näherte, während man sie durch das Schauspiel des Todes an die Weisheit hat erinnern müssen, besteht jetzt die Weisheit darin, den Wahnsinn überall aufzuzeigen, die Menschen zu lehren, daß sie bereits nichts als Tote seien, und daß, wenn das Ende nahe sei, es dies in dem Maße sei, in dem der Wahnsinn durch seine Ausbreitung über die ganze Welt nur noch ein und dieselbe Sache wie der Tod selbst sei. Das prophezeit auch Eustache Deschamps: Wir sind feige, schwach, alt, weich, Lüstern und Verleumder zugleich. Überall seh' ich nur Narren, Das Ende läßt nicht auf sich harren. Es sieht übel aus.*1 Die Elemente sind verkehrt worden. Nicht länger ist es das Ende der Zeiten und der Welt, das im Nachhinein beweist, daß die Menschen wahnsinnig sind, wenn sie sich nicht darum kümmern. Das Ansteigen des Wahnsinns, seine stumme Invasion zeigt, daß die Welt ihrer letzten Katastrophe nahe ist. Der Irrsinn der Menschen verlangt nach ihr and macht sie notwendig. Diese Verbindung zwischen Wahnsinn und Nichts ist auf eine so enge Weise im fünfzehnten Jahrhundert geknüpft worden, daß sie lange Zeit Bestand hatte und man sie noch inmitten der klassischen Erfahrung des Wahnsinns wiederfinden kann." Trotz ihrer verschiedenen bildlichen oder literarischen Formen scheint diese Erfahrung der Geisteskrankheit von äußerster Kohärenz zu siin. Bild und Text verweisen ständig aufeinander: hier Kommentar, lort Illustration. Das Thema des Narrentanzes finden wir immer 'ieder in den Volksfesten, bei Theateraufführungen, in Stichen und Bolzschnitten, und der ganze letzte Teil des Lobs der Torheit ist nach •1cm Vorbild eines langen Narrentanzes aufgebaut, in dem jeder Beruf und jeder Stand vorbeizieht, um den großen Reigen der Unvernunft zu bilden. Wahrscheinlich sind in Boschs Versuchung des Heilicn Antonius (Museum Lissabon) verschiedene Gestalten der phanastischen Fauna, die die Leinwand belebt, den traditionellen Masken entlehnt. Vielleicht sind einige vom Malleus Maleficarum übernommen." Ist das berühmte Narrenschiff Boschs nicht die direkte ÜberEustache Deschamps, Œuvres, in der Ausgabe von Saint-Hilaire de Raymond,
ild. i, S. 20}. • Vgl. Teil II, Kapitel 3. ί . Selbst wenn die in Lissabon aufbewahrte Versuchung
nicht zu den letzten
setzung des Narrenschiffs von Brant, dessen Titel es trägt und dessen 16. Gesang es sehr genau zu illustrieren scheint, der ebenfalls die potatores et cdaces stigmatisiert? Man ist sogar so weit gegangen anzunehmen, daß das Bild von Bosch Teil einer ganzen Serie von Gemälden sei, die die wichtigsten Gesänge des Brantschen Werkes illustrierten." Man sollte sich jedoch nicht von den sehr kurzen zeitlichen Abständen bei der Behandlung dieses Themas beeindrucken lassen noch mehr annehmen, als uns die Geschichte selbst enthüllt.*e Man kann wahrscheinlich über dieses Thema keine Analyse erstellen, wie es Emile Mâle für die voraufgehenden Epochen und besonders bezüglich des Todesthemas vermocht hat. Zwischen Sprache und Bild, zwischen dem, was die Sprache abbildet und was die plastische Form aussagt, beginnt die schöne Einheit sich aufzulösen. Ihnen ist keine einzige und selbe Bedeutung unmittelbar gemeinsam. Und wenn das Bild auch die Funktion hat, etwas auszusagen, etwas der Sprache Konsubstantielles zu übermitteln, muß man doch anerkennen, daß es bereits nichi mehr das gleiche sagt und daß die Malerei durch ihre plastischen Eigenheiten sich in Experimente einläßt, die sie immer weiter von der Sprache entfernt, wie groß die oberflächliche Identität des Themas auch sein mag. Gestalt und Wort illustrieren noch die gleiche Fabel des Wahnsinns in der gleichen moralischen Welt, aber schon hier nehmen sie zwei verschiedene Richtungen, indem sie durch eine noch kaum spürbare Spaltung bereits anzeigen, wie die große Trennungslinie in der abendländischen Erfahrung des Wahnsinns verlaufen wird Das Aufkommen des Wahnsinns am Horizont der Renaissance macht sich zuerst bemerkbar im Zerfall des gotischen Symbolismus, als oh diese Welt, deren Netz geistiger Bedeutungen so eng geknüpft ist. beginne, in Verwirrung zu geraten, und dabei Gestalten aufkommen lasse, deren Sinn sich nur noch in den Formen des Geisteskranken enthüllt. Die gotischen Formen überleben noch eine gewisse Zeit, aber Werken von Bosch gehört, wie es Baldass annimmt, ist sie sicher nach dem M allen malcficarum, der 1487 entstand, geschaffen worden. 5 j Diese These vertrat Desmonts in: »Deux primitifs Hollandais au Musée Ju Louvre«, in: Gazette des Beaux-Arts, 1919, S. 1. 56 So tut es Desmonts hinsichtlich der Beziehung zwischen Bosch und Brant; selh"=i wenn das Bild wenige Jahre nach der Veröffentlichung des Buches gemalt worden is;beweist nichts, daß Bosch das Narrenschiff hat illustrieren wollen, und noch weniger wahrscheinlich ist, daß er das ganze Buch, das sofort einen bemerkenswerten Erfolg hatte, illustrieren wollte.
dann verstummen sie allmählich, hören auf zu sprechen, zu erinnern, zu mahnen und zu belehren, und stellen, außerhalb jeder möglichen Sprache, aber dennoch dem Auge vertraut, nur noch ihre phantastische Gegenwart dar. Von der Vernünftigkeit und der ordnenden Lehre befreit, beginnt das Bild, um seinen eigenen Wahnsinn zu gravitieren. Diese Befreiung kommt paradoxerweise von einem flutartigen Ansteigen der Bedeutungen, von einer Multiplikation des Sinnes mit sich selbst, die zwischen den Dingen so zahlreiche, so verkreuzte und so reichhaltige Beziehungen webt, daß sie nur noch durch ein esoterisches Wissen entziffert werden können und die Dinge ihrerseits mit Attributen, Zeichen und Anspielungen überladen werden, wodurch sie schließlich ihre eigene Gestalt verlieren. Man liest den Sinn nicht mehr in einer direkten Wahrnehmung, die Gestalt hört auf, selbst zu spredien. Zwischen das Wissen, das sie belebt, und die Form, in die sie sich überträgt, gräbt sich eine Leere. Sie ist frei für die Traumdeutung. Ein Buch, das Spéculum humanue salvationisbezeugt den flutartigen Sinnzuwachs am Ende der gotischen Welt, denn außer den Entsprediungen, die die Tradition der Kirchenväter aufgestellt hat, stellt es eine Vielzahl von symbolischen Beziehungen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament her, die aber nicht von Prophezeiungen, sondern von den gleichartigen Vorstellungen der Bilder abgeleitet werden. Die Passion Christi ist nicht nur durch das Opfer Abrahams prätiguriert worden, sie vereinigt auch um sich alle Wirkung der Vorstellungen, die sich mit der Folter verbinden, und ihre zahllosen Träume. Tubal, der Schmied, und das Rad Jesajas haben ihren Platz unter dem Kreuz und bilden jenseits aller Lehren vom Opfer das phantastische Bild verzweifelten Kampfes, gequälter Körper und des Schmerzes. So ist das Bild von zusätzlichen Bedeutungen überladen und gezwungen, sie freizugeben. Aber der Traum, das Geisteskranke, das Vernunftlose können sich in diese Bedeutungsfülle schmuggeln. Die symbolischen Gestalten werden dann leicht zu Erscheinungen des Alptraums, wie auch jenes alte Bild der Weisheit bezeugt, das so oft in Jeutschen Abbildungen durch einen langhalsigen Vogel dargestellt worden ist, dessen Gedanken, während sie sich langsam vom Herzen bis zum Kopf hinaufbewegen, lange genug abgewogen und reflektiert werden können.' 8 Dieses Symbol verliert durch Überbetonung 5" Vgl. E. Mâle, a. a. O., S. 234-237· f i Vgl. C.-V. Langlois, La connaissance de la nature et du monde au Moyen Paris 1911,8.243.
Age,
an Kraft: der lange Weg der Überlegung wird in dem Bild zum Destillierkolben eines subtilen Wissens, zum Instrument, das die Quintessenzen destilliert. Der Hals des Guten Menschen verlängert sidi endlos, um mit mehr Weisheit alle wirklichen Vermittlungen des Wissens besser darzustellen; und der symbolische Mensch wird ein phantastischer Vogel, dessen unproportionierter Hals tausendmal in sidi selbst gefaltet ist — ein geisteskrankes Wesen auf halbem Wege zwisdien Lebewesen und Ding, den einem Bilde eigenen Täuschungen näher als einem strengen Sinn. Diese symbolische Weisheit ist Gefangene der Wahnträume. Eine fundamentale Umkehrung der Bildwelt erfolgt: unter dem Zwang der zunehmenden Bedeutungen wird sie von der Kontrolle der Formen befreit. Unter die Oberfläche des Bildes dringen so vielr verschiedene Bedeutungen, daß es nur noch ein änigmatisches Antlit? darbietet. Und seine Stärke liegt nicht mehr in der Unterrichtung, sondern in der Faszination. Die Entwicklung des Gryllos, des berühmten Gryllos, der bereits seit dem Mittelalter durdi die englischen Psalter und von Chartres und Bourges her vertraut ist, ist dafür charakteristisch; er lehrt, wie die Seelen begieriger Menschen Gefangene des Tieres geworden sind. Diese grotesken Gesichter auf dem Bauch der Monstren gehören zur Welt der großen platonischen Metapher und klagen die Verderbnis des Geistes im Wahn der Sünde an. Dann aber, im fünfzehnten Jahrhundert, wird der Gryllos, Bild des menschlidien Wahns, eine der bevorzugten Gestalten der zahllosen Versuchungen. Die Ruhe des Eremiten wird nicht durch Objekte der Begierde gestört, sondern durch jene dementen, hermetischen Formen, die aus einem Traum aufgestiegen sind und schweigsam und verstohlen .in der Oberfläche einer Welt bleiben. In der Versuchung von Lissabon sitzt gegenüber dem heiligen Antonius eine dieser in seiner Einsamkeit. seiner Buße, seinen Entbehrungen wahngeborenen Gestalten. Ein sdimales Lächeln belebt dieses körperlose Gesidit, repräsentier; lediglidi die Unruhe in der Form einer agilen Grimasse. Nun isl es gerade diese Silhouette eines Nachtmahr, die zugleich Subjekt und Objekt der Versudiung ist; sie fasziniert den Blick des Asketen - wobei beide Gefangene einer Art Spiegelbefragung bleiben, die für immer unbeantwortet bleibt in einem Schweigen, das nur von dem dämonischen Sdiwarm, der sie umgibt, bewohnt ist." Der Gryllos er5(j Möglicherweise hat Hieronymus Bosch im Gesicht des »Kopfes mit Beinen— der im Zentrum der Versuchung in Lissahon steht, sein Selbstporträt geschalten. Vc 1 Marcel Brion, Jérôme Bosch, S. 40.
innert Jen Menschen in seiner satirischen Form nicht mehr an seine geistige, im Wahn seiner Begierden vergessene Berufung. Er ist der iur Versuchung gewordene Wahnsinn: alles Unmögliche, Phantastische, Unmenschliche an ihm, alles, was an ihm die Widernatürlichkeit and das Gekrabbel einer geisteskranken Präsenz an der Oberfläche der Erde erkennen läßt, all das gibt ihm gerade seine eigenartige Macht. Für den Menschen des fünfzehnten Jahrhunderts haben die Freiheit, selbst wenn sie erschreckend ist, seiner Träume und die Phantasmen seines Wahnsinns mehr Anziehungskraft als die begehrenswerte Realität des Fleisches. Worin aber liegt die Faszinationskraft, die sich zu jener Zeit durch die Bilder des Irrsinns auswirkt? Zunächst entdeckt der Mensch in diesen phantastischen Gestalten ,'leichsam eines der Geheimnisse und eine der Bestimmungen seiner Natur, im Denken des Mittelalters tragen die Legionen der Tiere, die einst Adam ein für alle Mal benannt hat, symbolisch die Werte der Menschheit.'So Aber zu Beginn der Renaissance kehren sich die Beziehungen zum Tierreich um; das Tier befreit sich, es entzieht sich der Welt der Legende und der moralischen Illustration, um etwas ihm eigenes Phantastisches anzunehmen. Und in einer erstaunlichen Uml>i.hrung ist es jetzt das Tier, das den Menschen beobachtet, sich seiner >cmächtigt und ihn seiner eigenen Wahrheit enthüllt. Die unmöglichen Tiere, aus einer wahnsinnigen Imagination hervorgegangen, n d zur geheimen Natur des Menschen geworden, und wenn an seinem letzten Tage der sündige Mensch in seiner häßlichen Nacktheit er heint, bemerkt man, daß er die monströse Gestalt eines irren Tiehat. Das ist der Fall bei den Käuzchen, deren Krötenkörper sich der Hölle von Thierry Bouts unter die nackten Verdammten midien- und bei Stefan Lochners geflügelten Insekten, Schmetterlingen mit Katzenköpfen, Sphinxen mit Flügeldecken von Maikäfern, VöIn. deren Flügel beunruhigend und aufdringlich wie Hände sind. Dazu muß man auch das große Raubtier mit den knotigen Krallen lier Versuchung von Grünewald zählen. Mit Hilfe der menschlichen Werte und Symbole ist die Tierwelt der Domestikation entkommen. Wsnn ietzt sie den Menschen durch ihre Unordnung, Wut und Fülle in monströsen Unmöglichkeiten fasziniert, enthüllt sie das dunkle !·..' -en. den unfruchtbaren Wahnsinn im Herzen der Menschen. <>•, Nüdi das Livre des Tournois von René d'Anjou in der Mitte des fünfzehnten hr nundcrts bildet ein moralisches Bestiarium.
Am jener Natur der Dunkelheit entgegengesetzten Pol fasziniert der Wahnsinn, weil er Wissen ist, das heißt: zunächst, weil all diese absurden Gestalten in Wirklichkeit Elemente eines schwierigen, geschlossenen, esoterischen Wissens sind. Diese seltsamen Formen sind von Anfang an in den Raum des großen Geheimnisses gestellt, und der heilige Antonius, der durch sie versucht wird, ist nicht der Heftigkeit der Begierde ausgesetzt, sondern dem viel hinterhältigeren Stachel der Neugier. Er wird versucht durch jenes ferne und so nahe Wissen, das der Gryllos mit seinem Lächeln zugleich anbietet und vorenthält. Seine Rückwärtsbewegung ist nichts anderes als der Schritt, durch den er sich vor der Überschreitung der Verbotsgrenzen des Wissens bewahrt. Er weiß bereits - und das ist seine Versuchung - , was Cardano später schreiben wird: »Weisheit muß wie die anderen wertvollen Substanzen den Eingeweiden der Erde entrissen werden.« 6 ' Über dieses so unzugängliche und zu fürchtende Wissen verfügt der Irre in seiner unschuldigen Narrheit bereits. Während der über Verstand und Weisheit verfügende Mensch lediglich fragmentarische und uro so beunruhigendere Gestalten davon wahrnimmt, trägt der Irre es vollständig in einer unzerbrochenen Kugel: jene Kristallkugel, die für alle leer ist, ist in seinen Augen gefüllt mit der Dichte eines unsichtbaren Wissens. Bruegel macht sich über den Kranken lustig, der versucht, in diese Kristallkugel einzudringen.62 Aber diese regenbogenfarbige Blase des Wissens bewegt sich, ohne jemals entzwei zu gehen, als lächerliche, aber unendlich wertvolle Laterne, am Ende des Stabes, den die Dulle Griet auf ihrer Schulter trägt. Sie findet sich auch auf der Rückseite des Gartens der Lüste. Ein anderes Symbol des Wissens, der Baum (der verbotene Baum, der Baum der versprochenen Unsterblichkeit und der Sünde), einst inmitten des irdischen Paradieses gepflanzt, ist entwurzelt worden und bildet jetzt den Mast de« Narrenschiffes, so wie man ihn auf der Abbildung, die die Stultiferat naviculae von Josse Badius illustriert, sehen kann. Wahrscheinlich schwankt er auch über dem Narrenschiff von Bosch. Was sagt dieses Wissen der Wahnsinnigen voraus? Offensichtlich. da es das verbotene Wissen ist, sagt es zugleich die Herrschaft Satans und das Ende der Welt, das letzte Glück und die endgültige Bestrafung, die Allmacht auf Erden und den Höllensturz voraus. Das Narrenschiff durchfährt eine Freudenlandschaft, in der den Begierden alles 61 Nach Girolamo Cardano, Ma vie. Texte présenté et traduit par Jean Dayri Paris 1936 (Bibliothèque de l'Institut Français de Florence, sér. 1, tome 11.), S. 17c 62 In den Flämischen Sprichwörtern.
geboten wird, eine Art erneuertes Paradies, weil der Mensdi darin das Leiden und den Mangel nicht mehr kennt. Dennoch hat er seine Unschuld nicht wiedererlangt. Dieses falsche Glück ist der teuflische Triumph des Antichrist, ist das nah bevorstehende Ende. Die Träume der Apokalypse spielen schon vor dem fünfzehnten Jahrhundert eine Rolle, erhalten jedoch jetzt einen völlig anderen Charakter. Auf die zart-phantastische Ikonographie des vierzehnten Jahrhunderts, in der die Schlösser durcheinandergewürfelt sind, in der das Tier immer der traditionelle, von der Jungfrau auf Distanz gehaltene Drache ist, kurz, wo die Gottesordnung und ihr naher Sieg ständig sichtbar sind, r olgt eine Vision der Welt, in der jede Vernünftigkeit ausgelöscht ist. L)er große Sabbat der Natur ist angebrochen: die Gebirge stürzen zusammen und werden zu Ebenen, die Erde speit Tote, und die KnoJien schmücken die Gräber; die Sterne fallen herab, die Erde fängt Feuer, jegliches Leben trocknet aus und kommt zu Tode. 6 ' Das Ende hat nicht den Charakter eines Ubergangs und Versprechens, sondern •st der Beginn einer Nacht, in der die alte Vernunft der Welt verschlungen wird. Es genügt, bei Dürer die Ritter der Apokalypse zu betrachten, die von Gott selbst geschickt worden sind: es sind nicht die Engel des Triumphes und der Versöhnung, es sind nicht die Herolde der heiteren Gerechtigkeit, sondern die zerzausten Krieger der wahn•nnigen Rache. Die Welt versinkt in der universellen Tollheit. Der Sieg gehört weder Gott noch dem Teufel, er gehört dem Wahnsinn, iuf allen Seiten fasziniert der Wahnsinn den Menschen. Die phantacischen Bilder, die er entstehen läßt, sind keine flüchtigen Erscheinungen. die schnell von der Oberfläche der Dinge verschwinden. Durch ο seltsames Paradox war das, was im eigentümlichsten Delirium eitsteht, schon wie ein Geheimnis, wie eine unzugängliche Wahrheit Ü den Eingeweiden der Erde verborgen. Als der Mensch das Willkürhe seines Wahnsinns entfaltet, begegnet er der dunklen Notwen;keit der Welt; das Tier, das seine Trugbilder und seine Nächte der tbehrung heimsucht, ist seine eigene Natur, die die unerbittliche ihrheit der Hölle klarlegt; die nichtigen Bilder der blinden Narrai sind das große Wissen der Welt; und bereits in dieser Unord•ng, in diesem wahnsinnigen Universum zeichnet sich die Grausame n des Finale ab. In so vielen Bildern — und das hat ihnen wahrkleinlich dieses Gewicht gegeben, hat ihrer Phantasie eine so starke
im tünfzehnten Jahrhundert erlangt der alte Text von Beda mit der Beschrei: der fünfzehn Zeichen wieder Bedeutung.
Kohärenz verliehen - hat die Renaissance ausgedrückt, was sie an Drohungen und an Geheimnissen dieser Welt vorausahnte. In der gleichen Epoche sind die literarischen, philosophischen, moralischen Themen des Wahnsinns von einer ganz anderen Art. Das Mittelalter hatte dem Wahnsinn in der Hierarchie der Laster einen Platz eingeräumt. Vom dreizehnten Jahrhundert an findet er sich häufig unter den schlechten Soldaten der Psychomachie.64 Er gehört in Paris wie in Amiens zu den schlechten Truppen und zu jenen zwölf Dualitäten, die sich die Herrschaft über die menschliche Seele teilen: Glaube und Idolatrie, Hoffnung und Verzweiflung, Milde und Geiz. Keuschheit und Fleischeslust, Vorsicht und Tollheit, Geduld und Zorn. Sanftheit und Härte, Eintracht und Zwietracht, Gehorsam und Auflehnung, Beharrlichkeit und Unbeständigkeit. In der Renaissance verläßt der Wahnsinn diesen bescheidenen Platz und nimmt die erste Stelle ein. Während bei Hugo von Saint-Victor der Stammbaum der Laster, der des alten Adam, als Wurzel den Stolz hat 6 ', führt jetzt der Wahnsinn den fröhlichen Chor aller menschlichen Schwächen an. In der Rolle des Chorführers unbestritten, führt er sie, zieht sie mii sich und nennt sie: »Gut, hier sind sie! Diese, die ihre Stirn hoch trägt, ist die sich selbst liebende Philautia. Diese mit ihren zulächelnden Augen, beyfallklatschenden Händen ist die schmeichelnde Kolakia. Diese halbschlafende, die man bereits träumend glauben sollte, ist dir vergeßliche Lethe. Diese, die sich auf ihre Ellenbogen stützt, und dir Hände gefaltet hält, ist die arbeitscheuende Misoponia. Diese mit Rosenkränzen umschlungen, Wolgerüche duftend, ist die wollüstigr Edone. Diese mit ihren unstet umherschweifenden Augen, ist dit wahnsinnige Anoia. Diese mit der glatten Haut, deren ganzer Körper sich so wohl genährt zeigt, ist die verzärtelte Tryphe. Unter dieser· Mädchen sind auch zween Götter zu sehen. Der Eine ist der sich be·jugendlichen Trinkgelagen munter hervortuende Komus; der Ander, '•der sich dann in den tiefsten Schlaf versterbende Nagretos-Hyppos.«·66 Absolutes Privileg des Wahnsinns: er herrscht über alles, wa £4 Es bleibt festzuhalten, daß die Folie weder in der Psychomachie des Prudentiu noch im Anticlaudianus des Alain de Lille oder bei Hugo von Saint-Victor kommt. Sollte ihre ständige Präsenz erst aus dem dreizehnten Jahrhundert star, men? 65 Hugo von Saint-Victor, De fructibus carnis et spiritus, in: Patrologia, Scri Latina, C L X X V I , col. 997. 66 Erasmus, Das Lob der Narrheit aus dem Lateinischen des Erasmus, Berlin ui :
es in Schlechtem im Menschen gibt. Aber herrscht er nicht indirekt über all das Gute, was der Mensch tun kann: über den Ehrgeiz, der die klugen Politiker ausmacht, über den Geiz, der die Reichtümer wachsen läßt, über die indiskrete Neugierde, die die Philosophen und Gelehrten treibt? Louise Labe wiederholt es nach Erasmus, und Merkur fleht für sie die Götter an: »Laßt diese schöne Dame nicht untergehen. die euch soviel zu Gefallen getan hat.«67 Aber dieses neue Königtum hat wenig gemeinsam mit der dunklen Herrschaft, von der wir weiter oben sprachen und die den Wahnsinn mit den großen tragischen Kräften der Welt verbindet. Gewiß ist der Wahnsinn anziehend, aber er fasziniert nicht. Er herrscht über alles Leichte, Lustige und Frivole in der Welt. Er läßt die Menschen »sich ergötzen und erfreuen^, so wie er den Göttern Genius. Jugend, Bacchus, Silenus und diesen edlen Wächter der Gärten gegeben hat.68 Alles an ihm ist glänzende Oberfläche, nicht verborgenes Rätsel. Wahrscheinlich hat er etwas mit den seltsamen Wegen des Wissens zu tun. Oer erste Gesang des Gedichts von Brant ist den Büchern und '-elehrten gewidmet, und auf der Abbildung, die diese Passage in der lateinischen Ausgabe von 1497 illustriert, sieht man auf einem aus 'lüchern errichteten Katheder den Magister sitzen, der hinter seinem i 'oktorhut die mit Schellen besetzte Narrenkappe trägt. Erasmus reg i e r t e in seiner Narrenrunde einen breiten Platz für die gelehrte Welt: nach den Grammatikern kommen die Dichter, die Rhetoren and die Schriftsteller, danach die Juristen, hinter ihnen laufen die lurch Bart und Mantel ehrwürdig gemachten Philosophen«; schließJ1 die enggedrängte und zahlenstarke Gruppe der Theologen. 60 Aber wenn das Wissen so bedeutend für den Wahnsinn ist, dann J11 deshalb, weil dieser die Geheimnisse dafür enthalten könnte. Im Gegenteil, er ist die Strafe einer aus den Regeln geratenen und untzen Wissenschaft. Wenn er die Wahrheit der Erkenntnis ist, heißt •MS, daß die letztere lächerlich ist und daß sie, statt sich an das große iiudi der Erfahrungen zu wenden, sich im Staub der Bücher und in en müßigen Diskussionen verliert. Das Wissen wird durch den Exdcr falschen Wissenschaften selbst zum Wahnsinn. . t t " 8 i . Neudruck: Miindien 1918 (Die Büdier der Abtei Thelem. 12), hrsg. • 0 . .1. Bierbaum, S. 12-13. -7 1 aise Labé. Dcbat de Folie et d'Amour, Lyon 1566, S. 98. ' • oüise Labe. a. a. O.. S. 98 f. Erasmus, a. a. O., S. 114 ff.
Ο vos doctores, qui grandia nomina fertis Respicite antiquos patris, jurisque peritos. N o n in candidulis pensebant dogmata libris Arte sed ingenua sitibundum pectus alebant.7" In Übereinstimmung mit dem lange Zeit der Volkssatire vertrauten Thema erscheint der Wahnsinn hier wie die komische Bestrafung des Wissens und seiner ignoranten Anmaßung. Das bedeutet, daß der Wahnsinn allgemein nicht mit der Welt und ihren unterirdischen Formen verbunden ist, sondern vielmehr mit dem Menschen, mit seinen Schwächen, seinen Träumen, seinen Illusionen. Alles, was es an kosmischer, dunkler Äußerung im Wahnsinn, so wie er von Bosch gesehen wird, gibt, wird bei Erasmus beseitigt. Der Wahnsinn beobachtet nicht mehr den Menschen an den vier Enden der Welt, er schleicht sich in ihn ein oder ist vielmehr eine subtile Beziehung, die der Mensch mit sich unterhält. Die mythologische Personifizierung des Wahnsinns ist bei Erasmus nur ein literarischer Kunstgriff. Tatsächlich existieren nur »Wahnsinne«, menschliche Formen des Wahnsinns: »Ith halte dafür, mir seyen eben so viele Bildsäulen errichtet, als es Sterbliche giebt ( . . ,).« 7 ' Man braucht nur ein Auge auf selbst die weisesten und bestregierten Städte zu werfen: »Er zeigt sich allerorten in so vielerley Gestalten der Narrheit, täglich sinnt er diesorts so viele neue Moden aus, daß tausend Demokritusse nicht zureichend wären, sie gebührend zu belachen.«' 1 Es gibt nur den Wahnsinn, der in jedem Menschen ist, weil der Mensch in der Zuneigung, die er zu sich empfindet, und durch die Illusionen, mit Hilfe derer er sich aufrecht hält, ihn konstituiert. Die »Philautia« war die erste der Gestalten, die der Wahnsinn in seinem Tanz mit sich zieht, aber deshalb, weil sie durch eine privilegierte Zusammengehörigkeit miteinander verbunden sind. Die Zuneigung zu sich selbst ist das erste Zeichen des Wahnsinns, aber eben, weil der Mensch sich selbst zugetan ist, akzeptiert er den Irrtum als Wahrheit, die Lüge als Wirklichkeil die Gewalt und die Häßlichkeit als Schönheit und Gerechtigkeit: » Et·· wann sieht man einen, mit dem die Natur es noch wohl gemeinet hätte, wenn er von ihr blos mit einem Affengesichte wäre begäbet worden, und er deucht sich schöner zu seyn, als Nireus es beym Homer ist. Ein Anderer, so bald er vermittelst seines Zirkels zwo oder drey Linier
70 Sebastian Brant, Stultifera Navis, f ° 11 der lateinischen Ausgabe von 1497. 71 Erasmus, a. a. O., S. 108. 7 1 Erasmus, a. a. O., S. 109.
ziehen kann, glaubt, daß er es mit dem Euklides aufnehmen könnte. Hier ist einer, der sich zur Musik so gut schickt, wie der Esel zur Harte: doch glaubt er sich im Stande zu seyn, mit einem Hermogenes in die Wette zu singen, ob man gleich das Gekrähe des die Hanne betretenden Hahnes musikalischer findet, als sein Gekrächze.« 73 In dieser imaginären Adhäsion an sich selbst läßt der Mensch seinen Wahninn wie ein Luftbild entstehen. Das Symbol des Wahnsinns wird künftig dieser Spiegel sein, der, ohne etwas Wirkliches wiederzugeben, heimlich für denjenigen, der sich darin betrachtet, den Traum seiner Voreingenommenheit spiegeln würde. Der Wahnsinn hat nicht so sehr mit der Wahrheit und der Welt zu tun als mit dem Menschen und der Wahrheit von ihm selbst, die er wahrzunehmen versteht. Er gibt also Einlaß in ein völlig moralisches Universum. Das Übel ist "'cht Strafe oder das Ende der Welt, sondern lediglich Fehler und •-ebrechen. Hundertsechzehn der Gesänge des Gedichts von Brant nd dazu bestimmt, ein Bild der geisteskranken Passagiere des Schifte' zu entwerfen: das sind Geizige, Verleumder und Betrunkene, das "d dieienigen, die sich der Unordnung und den Ausschweifungen "peben, diejenigen, die die Heilige Schrift falsch auslegen, diejeni.:<"• die Ehebruch treiben. Locher, der Übersetzer Brants, nennt in •nem lateinischen Vorwort den Plan und den Sinn des Werkes; es ; indelt sich darum, zu unterweisen qitae mala, quae bona sint; quid ; quo virtus, quo ferat error; und dies, indem man, gemäß der heil, die jeder an den Tag legt, die impios, superbos, avaros, lu•• noios, laseivos, delicatos, iracundos, gulosos, edaces, invidos, vene•:ccis.fldefrasos(...)r•>, kurz, all das, was der Mensch selbst an Unre•mäßigkeiten in seinem Verhalten hat erfinden können, geißelt. \uf dem Gebiet des literarischen und philosophischen Ausdrucks (lägt sich die Erfahrung des Wahnsinns im fünfzehnten Jahrhun. rt vor allem in der Form der moralischen Satire nieder. Nichts erert an die großen drohenden Invasionen, die die Vorstellungswelt Maler heimsuchten. Im Gegenteil, man geht dem Wahnsinn sorg• im ,ius dem Wege, indem man nicht einmal von ihm spricht. Erasmus nkt die Bliche von jener Demenz ab, von der er sagt: »die eine •nmt aus der Hölle von den grausam strafenden Furien; sie senden ann ihre Schlangenbrut ( . . . ) . « Nicht diese geisteskranken Formen hat er preisen wollen, sondern den »glücklichen Irrthum des • . Ε —jrnus. a. a. O., S. 94 f. -ini. Stultifera Ν avis, Prologus Jacobi Locheri, 1497, f ° I X .
Verstandes, (der) das Gemüth von ängstlichen Sorgen befreyt und es mit vielerley Wollust segnet«.7' Diese ruhige Welt ist leicht zu meistern, sie entfaltet ohne Geheimnis ihren naiven Zauber vor den Augen des Weisen, und dieser wahrt stets durch sein Lachen die Distanz. Während Bosch, Bruegel und Dürer sehr irdische Betrachter und in den Wahnsinn, den sie um sich herum aufsteigen sahen, verwickelt sind, nimmt Erasmus ihn aus genügender Entfernung wahr, um außer Gefahr zu sein. Von seinem Olymp herab beobachtet er ihn, und wenn er sein Lob singt, dann geschieht dies, weil er mit dem unauslöschlichen Lachen der Götter über ihn lachen kann. Denn der Wahnsinn der Menschen ist ein göttliches Schauspiel: »Wenn Sie, meine Herren, (gleich dem Menippus beym Lucian) das unzählbare Gewirre der Sterblichen vom Monde herab sehen könnten, so würd es Sie dünken. Sie sehen Heere von Mücken oder Schnaken, die sich unter einander erzanken, bekriegen, belauern, berauben, spielen, Muthwillen treiben, gebohren werden, fallen, sterben. Es ist nicht zu ersagen, wie viel verwirrtes Gezeug und Unheil ein so kleines und hinfälliges Tierchen stifte.«76 Der Wahnsinn ist nicht länger die vertraute Fremdheit der Welt, er ist nur noch ein wohlbekanntes Schauspiel für einen fremden Betrachter, nicht mehr die Gestalt des Kosmos, sondern ein Charakterzug des Aevum. So kann grob das Schema umrissen werden, in dem eine kosmische Erfahrung des Wahnsinns in der Nähe dieser faszinierenden Formen und eine kritische Erfahrung des gleichen Wahnsinns in der unüberwindbaren Entfernung der Ironie in Opposition zueinander stehen. Zweifelsfrei ist die Opposition im wirklichen Leben weder so tief noch so klar sichtbar. Die Fäden laufen noch lange Zeit übereinander und vermischen sich unaufhörlich. Das Thema vom Weltende, vom großen Ende voller Gewalt, ist der kritischen Erfahrung des Wahnsinns, so wie sie in der Literatur formuliert wird, nicht fremd. Ronsard evoziert diese letzte Zeit, die sich in der großen Vernunftleere abspielt: A u ciel est revolée et Justice et Raison, Et en leur place, hélas, règne le brigandage, La haine, la rancœur, le sang et le carnage.77 Am Ende des Gedichts von Brant ist ein ganzes Kapitel dem apoka7$ Erasmus, a. a. O., S. 80. 76 Erasmus, a. a. O., S. 113. 77 Pierre de Ronsard, Discours des misères de ce temps.
lyptisdien Thema des Antichrist gewidmet: ein gewaltiger Sturm trägt das Narrenschiff in einem wahnsinnigen Lauf davon, der dem Zusammenbruch der Welt gleich ist.78 Umgekehrt sind unter den kosmischen Abbildungen des Wahnsinns viele der Figuren der moralischen Rhetorik auf eine sehr direkte Weise illustriert: vergessen wir nicht den berühmten Arzt von Bosch, der seine Patienten an Wahnsinn noch übertrifft, weil seine falsche Wissenschaft kaum etwas anderes erreicht hat, als auf ihm die schlimmsten Hinterlassenschaften eines Wahnsinns abzuladen, den alle außer ihm sehen können. Für seine Zeitgenossen und die darauffolgenden Generationen bedeuten die Werke Boschs eine moralische Lektion: zeigen nicht all diese Gestalten, die in der Welt entstehen, ebenso die Ungeheuer des Herzens an? -»Der Unterschied, der zwischen den Gemälden dieses Mannes und denen anderer Leute besteht, liegt darin, daß die anderen meist versuchen, den Menschen zu malen, wie er äußerlich erscheint, aber dieser hier besitzt allein die Kühnheit, sie so zu malen, wie sie im Inneren ïind.-i Der gleiche Kommentator, vom Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, glaubt das Symbol dieser denunziatorischen Weisheit und dieser unruhigen Ironie klar in fast jedem Bild von Bosch ausgedrückt lu sehen durch die doppelte Gestalt des Leuchters (das Licht des Gedankens, der wacht) und der Eule, deren eigenartiger, starrer Blick sich in der Ruhe und dem Schweigen der Nacht erhebt, und dabei mehr Oel als Wein zu sich nimmt«. 7 ' Trotz so vieler noch sichtbarer Interferenzen ist die Trennung schon vollzogen. Zwischen den beiden Erfahrungsformen des Wahnsinns nimmt die Entfernung immer mehr zu. Die Gestalten der kosmischen Vision und die Bewegungen der moralischen Reflexion, das tragische Element und das kritische Element treiben, indem sie sich immer weiter voneinander entfernen, in die tiefe Einheit des Wahnsinns einen Spalt, der sich nie wieder schließen soll. Einerseits gibt es ein mit ravnden Gesichtern beladenes Narrenschiff, das sich nach und nach in die Nacht der Welt eingräbt, in Landschaften, die von der fremden vlchimie des Wissens sprechen, von den stummen Drohungen der Bestialität und vom Ende der Welt. Andrerseits gibt es ein Narrenschiff, das für die Weisen die beispielhafte Odyssee darstellt, die von den •nenschlichen Schwächen lehrt. 6rani. Stultifera Ν avis, Gesang C X V I I , besonders die Verse 21 f. und $ 7 ff., die tfi direkt auf die Apokalypse beziehen. 7V ioseph de Siguença, Tercera parte de la bistoria de la Orden de S. Geronimo, JC S. 837. Zitiert bei Charles de Tolnay, Hieronimus Bosch. Appendice,
S. 76.
Auf der einen Seite Bosdi, Bruegel, Thierry Bouts, Dürer und das ganze Schweigen der Bilder. Im Raum der reinen Vision entfaltet der Wahnsinn seine Kräfte. Phantasmen und Drohungen, reine Traumerscheinungen und geheimnisvolles Schicksal der Welt - der Wahnsinn besitzt darin eine primitive Kraft der Enthüllung: der Enthüllung, daß die Traumdeutung Wirklichkeitscharakter besitzt, daß die dünne Oberfläche der Illusion eine unabweisbare Tiefe verbirgt und daß das kurze Flackern des Bildes die Welt beunruhigenden Gestalten aussetzt, die sich in ihren Nächten verewigen; der entgegengesetzten Enthüllung, die dabei aber ebenso schmerzhaft ist, daß die Realität der Welt eines Tages völlig durch Resorption im Bild der Phantastiii verschwinden wird, jenem Grenzmoment zwischen Sein und Nichts, der das Delirium der reinen Zerstörung ist; die Welt existiert bereits nicht mehr, aber das Schweigen und die Nacht haben sich noch nicht vollständig über ihr ausgebreitet. Sie flackert in einem letzten Schlaft auf, am Ende der Unordnung, die der monotonen Ordnung der Erfüllung unmittelbar voraufgeht. In diesem sogleich zerstörten Bild verliert sich die Wahrheit der Welt. Diese ganze Verwobenheit der Erscheinung und des Geheimnisses, des unvermittelten Bildes und de« unzugänglichen Rätsels entfaltet sich in der Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts als der tragische Wahnsinn der Welt. Auf der anderen Seite wird der Wahnsinn mit Brant, Erasmus, mil der ganzen humanistischen Tradition in das Universum der Sprache aufgenommen, wo er sich verfeinert, subtiler wird und zugleich sidselbst entwaffnet. Er wechselt die Skala, entsteht in den Herzen der Menschen, lenkt ihr Verhalten und bringt es durcheinander. Wenn er gar die Städte regiert, bleibt er der ruhigen Wahrheit der Dinge, der großen Natur unbekannt. Er verschwindet, wenn das Wesentlich, auftritt, das heißt Tod und Leben, Gerechtigkeit und Wahrheit. Möglicherweise ist jeder Mensch ihm unterstellt, aber seine Herrschaft i« stets boshaft und relativ, denn in seiner unbedeutenden Wahrheit en'hüllt er sich dem Blick des Weisen. Für diesen wird der Wahnsinn Objekt, und dies auf die schlimmste Art, denn er wird Gegenstand seines Lachens. Dadurch werden die Lorbeeren, die man für ihn flidu. zu Fesseln. Selbst wenn er weiser als jede Wissenschaft wäre, müßtt er sich dennoch vor jener Weisheit verbeugen, für die er nur Wahnsir ist. Er kann das letzte Wort haben, aber ist niemals das letzte Wurder Wahrheit und der Welt. Die Rede, durch die er gerechtfertigt wird, ist dem kritischen Bewußtsein des Menschen verpflichtet. Dieser Zusammenprall des kritischen Bewußtseins und der tragisch·
Erfahrung belebt all das, was vom Wahnsinn zu Beginn der Renaissance verspürt und formuliert worden ist."0 Dennoch verliert sich diese Frontstellung schnell, und die bedeutende Struktur, die noch zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts so klar sich abzeichnet, ist knapp hundert Jahre später bereits völlig oder zumindest annähernd verschwunden. Verschwunden ist nicht der angemessene Ausdruck, um das zu bezeichnen, was sich tatsächlich ereignete. Es handelt sich vielmehr um ein Privileg, das die Renaissance in immer stärkerem Maße einem der Elemente des Systems eingeräumt hat: demjenigen, das aus dem Wahnsinn eine Erfahrung auf dem Gebiet der Sprache, einer Erfahrung, in der der Mensch seiner moralischen Wahrheit, den seinem Wesen und seiner Wahrheit eigenen Regeln konfrontiert war, ncmacht hat. Das kritische Bewußtsein des Wahnsinns tritt also unablässig besser ans Licht, während die tragischen Gestalten des Wahnsinns tortschreitend in den Schatten gedrängt werden. Bald hat man >ich ihnen vollends entzogen, und nur mit Schwierigkeit lassen sich einige Spuren wiederfinden. Allein einige Seiten von de Sade und das Werk Goyas bezeugen, daß dieses Verschwinden nicht mit völliger Vernichtung gleichgesetzt werden kann, sondern daß diese tragische trf-hrung im Dunkel der Nächte des Denkens und der Träume fortb teht; und daß es sich im sechzehnten Jahrhundert nicht um eine rdikale Zerstörung, sondern lediglich um eine Okkultation handelt. I>ie tragische und kosmische Erfahrung des Wahnsinns wird durch exklusiven Privilegien eines kritischen Bewußtseins mit einer iske versehen. Deshalb kann die klassische Erfahrung und durch hindurch die moderne Erfahrung des Wahnsinns nicht als eine 'Iständige Figur betrachtet werden, die schließlich dadurch zu ihrer •tiven Wahrheit gelangte; sie ist eine fragmentarische Figur, die ; mißbräuchlich als erschöpfend gibt. Sie ist ein Ensemble, das durch es, was ihm fehlt, das heißt durch alles, was es verbirgt, aus dem ichge-wicht gebracht ist. Unter dem kritischen Bewußtsein des hnsinns und seinen philosophischen oder wissenschaftlichen, moJien oder medizinischen Formen ist noch immer ein taubes tragiÖcwußtsein wach. vrden in einer anderen Untersuchung zeigen, daß die Erfahrung mit dem ' Jicn und seine Reduktion vom sechzehnten bis zum achtzehnten JahrhunJit als ein Sieg der humanistischen und ärztlichen Theorien über das alte, Universum des Aberglaubens interpretiert werden darf, sondern als die 'auinahme in einer kritischen Erfahrung der Formen, die einst die Drohun>: r Zerrissenheit der Welt getragen haben.
Die letzten Worte Nietzsches, die letzten Visionen van Goghs haben es aufgeweckt. Wahrscheinlich hat am äußersten Punkt seines Weges Freud begonnen, es zu verspüren: es sind seine großen Ängste, die er durch den mythologischen Kampf der Libido und des Todestriebes hat symbolisieren wollen. Dieses tragische Bewußtsein schließlich hat sich auch im Werke Artauds ausgedrückt, in diesem Werk, das, wenn das Denken des zwanzigsten Jahrhunderts ihm Aufmerksamkeit schenken wollte, diesem die dringendste aller Fragen und diejenige, die am wenigsten dazu geeignet ist, den Frager dem Taumel entkommen zu lassen, gestellt hat, in diesem Werk, das unaufhörlich verkündet hat, daß unsere Kultur ihre tragische Feuerstelle verloren hat, seit dem Tage, an dem sie den großen Sonnenwahnsinn der Welt, die Ängste, in denen sich unaufhörlich das »Leben und der Tod des Feuersatans« erfüllen, aus sidi verbannt hat. Diese fernsten Entdeckungen und nur sie allein sind es, die uns heute das Urteil gestatten, daß die Erfahrung des Wahnsinns, die sidi vom sechzehnten Jahrhundert bis heute erstreckt, ihre besondere Gestalt und den Ursprung ihres Sinnes jener Abwesenheit, jener Nacht und all dem, was sie erfüllt, verdankt. Die schöne Geradheit, die das rationale Denken bis zur Analyse des Wahnsinns als Geisteskrankheit führt, muß man in einer vertikalen Dimension neu interpretieren. Dann wird klar, daß er unter jeder seiner Formen auf eine vollständigere, gefährlichere Art auch diese tragische Erfahrung verbirgt, die er indes nicht völlig zu minimisieren vermocht hat. Am Schlußpunkr des Zwanges war das Aufsplittern nötig, dem wir seit Nietzsche beiwohnen. Wie aber haben sidi im sedizehnten Jahrhundert die Privilegien der kritischen Reflexion konstituiert? Wie haben sie schließlich die Erfahrung des Wahnsinns konfisziert, so daß an der Schwelle des klassischen Zeitalters alle tragisdien Bilder, die in der voraufgehenden Epodie evoziert worden waren, sidi in Sdiatten aufgelöst haben? Witfand diese Bewegung ein Ende, über die Artaud sagte: »Mit einer Wirklichkeit, die ihre vielleicht übermenschlichen, aber natürlichen Gesetze hatte, hat die Renaissance des sedizehnten Jahrhunderts gebrochen; und der Humanismus der Renaissance war keine Vergrößerung des Menschen, sondern bedeutete seine Herabsetzung.« 5 ' Fassen wir kurz in dieser Entwicklung zusammen, was zum Verständ81 Artaud, Vie et mort de Satan le Fett, Paris 1949, S. 17.
nis der Erfahrung, die die Zeit der französischen Klassik mit dem Wahnsinn gemacht hat, unerläßlich ist. i) Der Wahnsinn wird eine Bezugsform der Vernunft, oder vielmehr, Wahnsinn und Vernunft treten in eine ständig umkehrbare Beziehung, die bewirkt, daß jede Wahnsinnsform ihre sie beurteilende und meisternde Vernunft findet, jede Vernunft ihren Wahnsinn hat, in dem sie ihre lächerliche Wahrheit findet. Wahnsinn und Vernunft werden aneinander gemessen, und in dieser Bewegung reziproker Beziehungen weisen beide einander ab, stützen sich aber gegenseitig. Das alte christliche Thema, daß die Welt in den Augen Gottes Wahnsinn sei, verjüngt sich im sechzehnten Jahrhundert in dieser engen Dialektik der Reziprozität. Der Mensch glaubt, klar zu sehen und daß er das rechte Maß der Dinge sei; die Kenntnis, die er hat und die er von der Welt zu haben glaubt, bestärkt ihn in seinem Wohlgefallen: Denn wenn wir am lichten Tage die Erde anschauen oder das, was uns umgibt, so wähnen wir wohl, ein starkes und durchdringendes Sehvermögen zu besitzen.« Wenn wir die Augen aber auf die Sonne selbst richten, sind wir gezwungen zuzugeben, daß unser Verständnis für die irdischen Dinge » ( . . . ) gegen die Sonne geradezu Schwachsichtigkeit ist' . Diese gewissermaßen platonische Hinwendung zur Sonne des Seins enthüllt jedoch mit der Wahrheit nicht die Grundlagen der Erscheinungsformen, sie enthüllt lediglich den Abgrund unserer eigenen Unvernunft: »Aber wenn wir einmal anfangen, unsere Gedanken auf Gott emporzurichten, ( . . .) wird das ( . . . ) , was uns als Weisheit wundersam Eindruck machte, ( . . .) grausig als schlimmste Narrheit i-tfenbar; was die Maske der Tugend an sich trug, wird als jämmerlichste Untüchtigkeit erfunden.« 81 Im Geiste bis zu Gott aufzusteigen .nd den Wahnsinnsabgrund, in den wir getaucht sind, zu ergründen, • 'edeutet ein und dasselbe. In der Erfahrung Calvins ist der Wahninn das dem Menschen eigene Maß, wenn man ihn mit der maßlosen Vernunft Gottes vergleicht. i'er Geist des Menschen in seiner Endlichkeit ist nicht so sehr ein unkt des großen Lichts wie ein Bruchstück des Sdiattens. Die partie und vorübergehende Wahrheit der Ersdieinungswelt ist seiner .'grenzten Intelligenz nicht zugänglich. Sein Wahnsinn entdeckt nur ίκ: Kehrseite der Dinge, ihre Nachtseite, den sofortigen Widerspruch ihrer Wahrheit. Indem er sich bis zu Gott erhebt, muß der Mensch : ! C .Uvin. Unterricht in der christlichen Religion (Institutio ebristianae lUrictzt u. bearbeitet v. Otto Weber, Neukirchen S. 2.
religio-
nicht allein über sich selbst hinauswachsen, sondern sidi völlig seiner wesentlichen Schwäche entreißen, in einem Sprung den Gegensatz der irdischen Dinge und ihrer göttlichen Essenz überwinden, denn was in den Erscheinungen von der Wahrheit hindurchschimmert, ist nicht ihr Reflex, sondern ihr grausamer Widerspruch: »Alle Dinge haben zwei Ansehen,« sagt Sebastian Franck, »denn Gott hat sidi vorgenommen. ewig mit der Welt Widerpart zu halten und ihr den Schein zu lassen, selbst (aber) die Wahrheit und das Ding für sidi und die Seinen zu behalten. ( . . .) Darum kann vor Gott in der Wahrheit nicht sein, wie es vor der Welt scheint, sondern jedes Ding ist umgekehrt, und ein umgewendeter Silenus.«"3 Der Abgrund des Wahnsinns,\n den die Mensdien getaucht sind, ist dergestalt, daß die Erscheinungsform der Wahrheit, die sidi darin findet, deren rigoroser Widerspruch ist. Aber das ist noch nicht alles: dieser Widersprudi zwischen der Erscheinungsform tind der Wahrheit ist bereits im Innern der Erscheinungsform selbst gegenwärtig, denn wenn die Erscheinungsform in sidi selbst kohärent wäre, wäre sie zumindest eine Anspielung auf die Wahrheil und wie deren leere Form. Man muß diese Umkehrung in den Dinger selbst entdecken — eine Umkehrung, die von dieser Zeit an ohne feste Riditung oder vorher festgesetzten Endpunkt ist. Sie verläuft nidit von der Erscheinungsform zur Wahrheit, sondern von der Erscheinungsform zu einer anderen soldien, die die erste verneint, dann von neuem zu etwas, das diese Negation bestreitet und ableugnet, so daB die Bewegung nie angehalten werden kann und daß Erasmus sogar vor dieser großen Konversion, die Calvin oder Franck verlangen sidi durch die tausend kleineren Konversionen, die die Ersdieinunp« weit ihm in ihrem eigenen Niveau vorschreibt, angehalten fühlt. Der umgestürzte Silen ist nidit das Symbol der Wahrheit, die Gott un·, entzogen hat, er ist viel mehr und viel weniger: das Symbol der Dinge selbst an der Oberfläche der Erde, diese Verwicklung der Gegensätze. die uns vielleicht für immer den einzigen und geraden Weg zur Wahrheit raubt. Es »ist bekannt, daß alle menschliche Dinge, gleicii den Silenen des AIcibiades, von innen ein anderes Gesicht haben, ι von außen: man sieht den Tod, und findet das Leben; man sieht das Leben, und findet den Tod; das Schöne ist häßlich, das Reiche ,trrr das Sdiändliche herrlich, das Gelehrte ungelehrt ( . . . ) ; kurz, öffne den Silen, so wirst alles verkehrt finden.«84 Alles ist in den sofortig! Sebastian Franck, Paradoxa, hrsg. von Heinridi Ziegler, Jena 1909, S. S- (J !7' undS. 125 (§ 91). 84 Erasmus, a. a. O., S. 53 f.
Widerspruch getaucht, alles veranlaßt den Menschen, von sich aus seinem eigenen Wahnsinn zuzustreben. A n der Wahrheit des Wesens der Dinge und an der Wahrheit Gottes gemessen ist die ganze menschliche Ordnung nur Wahnsinn. 8 ' Wahnsinn ist in dieser Ordnung auch die Bewegung, durch die man versucht, sich ihr zu entreißen, um zu Gott zu gelangen. Im sechzehnten Jahrhundert, mehr als in jeder anderen Epoche, genießt der Brief an die Korinther ein unvergleichliches Prestige: »Ich rede töricht; ich bins wohl mehr (als sie)« (2. Korinther 11,23). Wahnsinn ist auch dieser Verzicht auf die Welt, ist auch die vollständige Hingabe an den dunklen Willen Gottes, ist auch jene Suche, deren Endpunkt man nicht kennt, und dies alles sind alte, den Mystikern vertraute Themen. Bereits Tauler evoziert diesen Weg der Absage an den Wahnsinn der Welt, der zugleich Hingabe an finsterere und traurigere Wahnsinns•urmen ist: »Dis schiffelin ist in die höhin gefürt, und dar zu das der mensche in diser not stat von verlossenheit, so stot in im uf alles das •etrenge und alle die bekorunge und alle die bilde und die unselikeit (.. .)».86 Das ist die gleiche Erfahrung, von der Nikolaus von Cues igt: -Wenn der Mensch das Erkennbare aufgibt, wird seine Seele ie geisteskrank.« Auf dem Wege zu Gott ist der Mensch mehr als je Jem Wahnsinn ausgesetzt, und der Hafen der Wahrheit, zu dem ihn hließlich die Gnade bringt, ist er etwas anderes für ihn als ein Abrund der Unvernunft? Die Weisheit Gottes ist, wenn man ihren Glanz ihrnehmen kann, keine lange verschleierte Vernunft, sondern eine unermeßliche Tiefe. Das Geheimnis bewahrt darin all seine Dimenlunen des Geheimnisses, der Widerspruch hört nicht auf, sich darin rnmer noch zu widersprechen, unter dem Zeichen jenes bedeutenderen Widerspruches, der verlangt, daß das eigentliche Zentrum der 1 ..isheit der Taumel jeden Wahnsinns ist. »Herr, dein Rat ist ein zu tiefer Abgrund«.8? Und was Erasmus aus der Ferne erkennt, als er Aen sagt, Gott habe das Mysterium des Heils selbst den Weisen rKirgen und so die Welt durch den Wahnsinn selbst gerettet88, hat Nikolaus von Cues in seiner Gedankenbewegung ausführlich gesagt, Oer Piatonismus der Renaissance, vor allem seit dem sechzehnten Jahrhundert, Piatonismus der Ironie und der Kritik. ' Tauler. a. a. O.. S. 171. Ein Hinweis darauf findet sich bei Maurice de G a n Valeur du temps dans la pédagogie spirituelle de JeanTauler,Paris 195(3, S. 62. - ' ilvin. Sermon II sur l'Épître aux Éphésiens, in: Calvin, Textes choisis par jagnebin et K. Barth, Paris 1948, S. 74. tn«mui, a. a. O., S. 190 f.
während er seine schwache menschliche Vernunft verlor, die nur Wahnsinn in dem großen höllischen Wahnsinn der Weisheit Gottes ist: »Und in allem Sprechen bleibt sie unaussprechbar, in aller Einsicht uneinsehbar, für jedes Maß unmeßbar, für jedes Ende unbeendbar, für jede Bestimmung unbestimmbar, für jede Verhältnissetzung unverhältnismäßig, für jede Vergleichung unvergleichbar, für jede Darstellung undarstellbar, für jede Gestaltung ungestaltbar, ( . . •) weil sie für jede Beredtheit unausdrückbar bleibt, kann man sich keine Begrenzung dieser sie ausdrückenden Redeweisen denken, denn unausdenkbar bleibt für jeden Gedanken Dasjenige, durch, in und aus dem alles ist.« 8 ' Der große Kreis ist jetzt geschlossen. Im Verhältnis zur Weisheit ist die Vernunft des Menschen nur Wahnsinn, im Verhältnis zur geringen Weisheit der Menschen ist die Vernunft Gottes in die essentielle Bewegung des Wahnsinns miteingeschlossen. Im großen Maßstab gemessen, ist alles Wahnsinn, im kleinen Maße gemessen, ist das Alle? selbst Wahnsinn. Das heißt, daß es Wahnsinn immer nur in Beziehung zu einer Vernunft gibt, aber die ganze Wahrheit der letzteren besteht darin, einen Augenblick einen Wahnsinn, den sie ablehnt, erscheinen zu lassen, um sich ihrerseits in einem Wahnsinn, der sie auflöst, zu verlieren. In einem bestimmten Sinne ist der Wahnsinn nichts: der Wahnsinn der Menschen nichts angesichts der höchsten Vernunft, die allein über das Sein verfügt, und der Abgrund des fundamentaler Wahnsinns nichts, weil er so nur für die zerbrechliche Vernunft der Menschen ist. Die Vernunft aber ist nichts, weil diejenige, in derer Namen man den menschlichen Wahnsinn anprangert, sich, wenn man schließlich zu ihr gelangt, nur als ein Taumel herausstellt, in dem Ji. Vernunft schweigen muß. So wird, unter dem starken Einfluß des christlichen Denkens, die große Gefahr, die das fünfzehnte Jahrhundert hatte aufsteigen sehen, beschworen. Der Wahnsinn ist keine stumme Macht, die die Welt zun' Platzen bringt und phantastisches Blendwerk enthüllt; er enthüllt im Aufbrechen der Zeiten nicht die Gewalttaten der Bestialität oder de; großen Kampf zwischen Wissen und Verbog. Er ist in den unbestimr» ten Zyklus eingebaut, der ihn an die Vernunft bindet. Beide bestätigen und verneinen sich gegenseitig. Der Wahnsinn besteht nicht met; r losgelöst in der Nacht der Welt: er besteht nur durch eine Relativita? 89 Nikolaus von Cues, Der Laie über die Weisheit. Idiota de sapientia, überse von Elisabeth Bohnenstädt, 2. durchgesehene Auflage, Leipzig 1944, S. 48.
zur Vernunft, die sie sich gegenseitig vernichten läßt, indem sie sie einander retten läßt. 2) Der Wahnsinn wird eine der eigentlichen Formen der Vernunft, in die er sich integriert, indem er entweder eine ihrer geheimen Stärken oder eines ihrer darstellenden Momente oder eine paradoxe Form, in der er sich seiner selbst bewußt werden kann, bildet. Auf jeden Fall hat der Wahnsinn nur Sinn und Geltung im Feld der Vernunft selbst. Der Eigendünkel ist unsere natürliche Erbkrankheit. Das jämmerlichste, zerbrechlichste Geschöpf unter allen ist der Mensch und zu gleicher Zeit das hochmütigste. Es fühlt und sieht sich hienieden im Staub und Auskehricht hingeworfen und angebunden und genietet an die schlechteste, unbeseelteste und der Verwesung nächste Klasse aller Tiere der ganzen Schöpfung im untersten Stockwerk ihres Gebäudes, und am entferntesten von der Feste des Himmels, und doch will es sich anmaßen, sich über den Kreislauf des Mondes hinauf zu setzen, und den Himmel zum Schemel seiner Füße zu machen. Es ist durch den Dünkel dieser Einbildung, daß es sich Gott gleichstellt.«'0 Die schlimmste Form menschlichen Wahnsinns ist es, nicht das Elend, in Jem man eingeschlossen ist, nicht die Schwäche, die einen daran hindert. zum Guten und Wahren zu gelangen, zu erkennen, nicht zu wissen, welcher Teil des Wahnsinns der eigene ist. Diese Unvernunft ibzulehnen, die das Zeichen der eigenen Lebensbedingung selbst ist, heißt, sich daran hindern, jemals vernünftig von der eigenen Vernunft Gebrauch zu machen. Denn falls es Vernunft gibt, dann indem man liesen ununterbrochenen Kreis der Weisheit und des Wahnsinns in •cm klaren Bewußtsein ihrer Reziprozität und ihrer möglichen Trennung akzeptiert. Die wahre Vernunft ist nicht rein von jeder Kompromittierung mit dem Wahnsinn, im Gegenteil, sie muß die Wege, Jie dieser ihr vorschreibt, einschlagen. »So stehet mir für eine Weile ev. ihr Töchter Jupiters, bis ichs bewiesen habe, jene glänzende Weiseil. die hochberühmte Burg der Glückseligkeit, werde nur denen geschlossen, die sich ihr unter dem Schutze der Narrheit nähe• n.· Aber dieser Weg, wenn er auch zu keiner endgültigen Weisheit hrt, wenn auch die Burg, die er verspricht, nur ein Spiegelbild und meuerter Wahnsinn ist, dieser Weg ist in sich selbst der Weg der isheit, wenn man ihm folgt in gerade dem Wissen, daß es der des
> "lichel de Montaigne, Gesammelte Schriften (übers, von Johann Joachim Bode), Jen und Leipzig 1908 ff., Bd. III, S. 212. hrasmus, a. a. O., S. 57.
Wahnsinns ist. Das nichtige Schauspiel, den eitlen Lärm, dieses Gewirr von Geräuschen und Farben, durch das die Welt nie etwas anderes als die Welt des Wahnsinns ist, muß man akzeptieren, sogar in sidi aufnehmen, aber in dem klaren Bewußtsein ihrer Abgeschmacktheit, dieser Abgeschmacktheit, die sowohl die des Zuschauers als auch die des Schauspiels ist. Dem muß man nicht das ernsthafte Ohr leihen, das man der Wahrheit leiht, sondern jene oberflächliche Aufmerksamkeit - Mischung aus Ironie und Geselligkeit, aus Leichtigkeit und geheimem Wissen, das sich nicht düpieren läßt - , die man gewöhnlich den Jahrmarktspielen widmet; »aber bey Leibe ja nidit ein solches (Ohr), das Sie den ehrwürdigen Kanzelrednern zuwenden, sondern ein solches, das Marktsdireyern, Possenspielern und Lustigmachern immer offen steht; ein solches, wie ehedem unser Midas dem Pan ein stattliches Paar zuwendete«»2. Das eigentliche Wesen der Weisheit erfüllt sich in dieser farbenreichen und lärmenden Unmittelbarkeit, in dieser leichten Akzeptation einer unwahrnehmbaren Ablehnung sicherer als in der langen Suche nach der versteckten Wahrheit. Durch Besdileichung, durch den ihm gewährten Empfang schließt die Vernunft den Wahnsinn ein, umzingelt ihn, wird sich seiner bewußt und kann ihn einordnen. Wo aber ihn einordnen, wenn nicht in der Vernunft selbst, als eine ihrer Formen und vielleicht eine ihrer Quellen? Zweifellos gibt es zwischen den Formen der Vernunft und den Wahnsinnsformen grolSf und beunruhigende Ähnlichkeiten, denn woran erkennt man bei einer sehr klugen Handlung, daß sie von einem Irren vollzogen worden ist. und bei der irrsinnigsten der Wahnsinnstaten, daß sie von einem gewöhnlich klugen und gemäßigten Mann getan worden ist: »Die Weisheit und der Wahnsinn,« sagt Charron, »sind sehr benachbart. Es ist nur eine halbe Umdrehung von der einen zum anderen. Das sieht man bei Handlungen der geisteskranken Menschen.«" Aber diese Ähnlichkeit, selbst wenn sie die vernünftigen Leute verwirren muß, dien; der Vernunft selbst. Und während sie in ihrer Bewegung die größte?; Heftigkeiten des Wahnsinns mit sich bringt, gelangt die Vernunft dadurch an ihre höchsten Grenzen. Als Montaigne Tasso in seiner Umnachtung besucht, verspürt er eher Verdruß als Mitleid, aber im Grunde noch mehr Bewunderung als alles andere; Verdruß, ohr·.
92 Erasmus, a. a. O., S. 3. 93 Pierre Charron, De la Sagesse, livre I « , chap. X V , in der Ausgabe von Amau- y Duval, Paris 1820, Bd. I, S. 130.
Zweifel, zu sehen, daß die Vernunft, dort wo sie ihre Gipfel erreichen kann, dem tiefsten Wahnsinn unendlich nahe ist: »Wer weiß es nicht, wie unmerklich die Nachbarschaft zwischen der Verrücktheit und der crößten Erhabenheit des freien Geistes und einer außerordentlich »urzüglidien Tugend ist?« Aber dies ist ein Gegenstand paradoxaler Bewunderung. Denn ist es nicht ein Zeichen dafür, daß aus dem gleichen Wahnsinn di^ Vernunft ihre seltsamsten Quellen schöpft? Wenn Tasso. - ( . . . ) einer der scharfsinnigsten, muntersten und nach der alten reinen Dichtkunst vortrefflich gebildetesten Dichter, den nur jemals Italien aufzuweisen hatte ( . . . ) « , sich jetzt » ( . . . ) in diesem iämmerlichen Zustande ( . . . ) , da er sich selbst überlebt hatte ( . . . ) « befindet, verursacht das nicht »seine mörderische Lebhaftigkeit, dieei helle Licht, das ihn verblendete? diese ununterbrochene und gepannte Hinsicht auf die gesunde Vernunft, die ihn am Ende um seine Vernunft gebracht hat? dieses ausgezeichnete und mühsame Forschen nach Wissenschaften, das ihn endlich dumm gemacht hat wie ein Vieh? Jiese seltene Fähigkeit der Seele, die ihn endlich aller dieser sonderbaren Tätigkeit seiner Seele beraubt hat?«" Wenn der Wahnsinn die nstrengung der Vernunft sanktioniert, bedeutet das, daß er durch die Lebhaftigkeit der Bilder, die Heftigkeit der Leidenschaft, diesen .'oßen Rüdszug des Geistes auf sich selbst, an dieser Anstrengung vilhat. Was zum Wahnsinn gehört, bildet die gefährlichsten, weil Juristen Instrumente der Vernunft. Es gibt keine starke Vernunft, -ich nicht an den Wahnsinn wagen müßte, um mit dem Werk zu \de zu kommen, »kein großer Geist, in den sich nicht der Wahnsinn rrnidite ( . . . ) . In diesem Sinne haben mitunter die Weisen und die njitsdiaffensten Dichter es für gut befunden, in einer Art Irrsinn •liier Fassung zu geraten.«" Der Wahnsinn ist ein hartes, aber wentliches Moment bei der Arbeit der Vernunft. Selbst in seinen au•ischeinlichen Siegen zeigt sich und triumphiert durch ihn die Verunit. Für sie ist der Wahnsinn nur ihre lebendige und geheime Kraft." ihrend der Wahnsinn allmählich an Schlagkraft verliert und sich Idizeitig sein Stellenwert verändert, hat die Vernunft, die ihn umossen hat, ihn gleichsam aufgenommen und in sich verpflanzt. Die ideutige Rolle jenes skeptischen Denkens oder vielmehr jener Verfall, die sich so lebhaft der sie begrenzenden Formen und ihr widerAontaigne. a. a. O., Bd. III, S. 286. -I ( larron. a. a. O., S. 130. • .'iL im gleichen Sinne Saint-Êvremond, Sir Politik would be, j . A k t , 2. Szene.
sprechenden Kräfte bewußt ist, führte zur Entdeckung des Wahnsinns als einer der ihr eigenen Gestalten - was eine A r t ist, jede mögliche äußere Macht, jede mögliche, nicht reduzierbare Feindseligkeit, jedes mögliche Zeichen von Transzendenz zu beschwören, aber gleichzeitig zur Versetzung des Wahnsinns ins Zentrum der eigenen Arbeit, ihn dadurch als ein wesentliches Moment der eigenen Natur bezeichnend. Und jenseits von Montaigne und Charron, aber in dieser Bewegung, die den Wahnsinn in das Wesen der Vernunft einreiht, sieht man den Bogen der Pascalschen Überlegung sich abzeichnen: »Die Menschen sind so notwendig verrückt, daß nicht verrückt sein nur hieße, verrückt sein nach einer anderen A r t von Verrücktheit.« 57 In dieser Überlegung wird die lange Arbeit, die mit Erasmus begonnen hat, aufgenommen: durch die Entdeckung eines der Vernunft immanenten Wahnsinns und dann durch eine von dort ausgehende Spaltung in einen »wahnsinnigen Wahnsinn« einerseits, der jenen der Vernunft eigenen Wahnsinn ablehnt und durch diese Ablehnung ihn vermehrt und, während er ihn vermehrt, in den einfachsten, geschlossensten und unmittelbarsten Wahnsinn stürzt, und in einen »klugen Wahnsinn« andrerseits, der den Wahnsinn der Vernunft annimmt, ihm lauscht, seine Stadtrechte anerkennt, sich von seinen lebendigen Kräften durchdringen läßt, aber sich dadurch in Wirklichkeit stärker vor dem Wahnsinn schützt als die stets von vornherein überwundene obstinate Ablehnung. Die Wahrheit des Wahnsinns ist von diesem Augenblick an nur noch ein und dasselbe wie der Sieg der Vernunft und bedeutet endgültige Meisterung, denn die Wahrheit des Wahnsinns heißt, in die Vernunfl integriert, eine ihrer Gestalten, eine Kraft und gleichermaßen ein augenblickliches Bedürfnis der Selbstversicherung zu sein. Vielleicht liegt darin das Geheimnis seines häufigen Vorkommens am Ende des sechzehnten und zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts ir der Literatur, einer Kunst, die in ihrer Anstrengung, die sich suchende Vernunft zu zähmen, die Anwesenheit des Wahnsinns, ihres Wahnsinns anerkennt, ihn umzingelt, ihn einkreist, um letztlich über ihn zu triumphieren. Spiel eines barocken Zeitalters. Wie im Denken vollzieht sich hier ein Prozeß, der zur Bestätigung der tragischen Erfahrung des Wahnsinns in einem kritischen Bewußtsein führt. Übergehen wir im Augenblick dieses Phänomen und wender 97 Biaise Pascal, Gedanken, Darmstadt 1964, S. 69.
uns jenen indifferenten Gestalten zu, die man ebenso im Don Quichotte wie in den Romanen von Scudéry, im König Lear wie im Theater von Rotrou oder von Tristan FHermite finden kann. Beginnen wir mit der bedeutendsten und auch dauerhaftesten - denn noch im achtzehnten Jahrhundert sind die kaum verwischten Formen davon erkennbar' 8 : dem Wahnsinn durch literarische Identifikation. Seine Züge sind unumstößlich von Cervantes festgelegt worden. Aber das Thema wird unermüdlich wieder aufgenommen: in direkten Adaptationen (der Don Quichotte von Guérin de Bouscal wird 1639 aufgeführt; zwei Jahre später Le Gouvernement de Sancho Pança vom gleichen Autor), Neuinterpretationen einer besonderen Episode (Les Folies de Cardenio von Pichou sind eine Variation über das Thema des »zerlumpten Ritters« der Sierra Morena), oder auf mehr indirekte Weise in Satiren auf den phantastischen Roman (wie in der Fausse Gleite von Subligny, und innerhalb der Erzählung selbst in der Episode der Julie d'Arviane). Die Schimären übertragen sich vom Autor auf den Leser, aber was auf der einen Seite Phantasie ist, wird auf der anderen Phantasma, die List des Schriftstellers wird in voller Naivität als Gestalt der Wirklichkeit aufgefaßt. Äußerlich ist das nur die einfache Kritik von Phantasieromanen, aber dahinter steht die tiefe Unruhe über die Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Phantasie im Kunstwerk und vielleicht auch über die undurchsichtigen Beziehungen zwischen phantastischer Erfindung und den Faszinationen des Deliriums. »Die Erfindung der Künste verdanken wir den aus der Ordnung geratenen Phantasien; die Eigenart der Maler, Dichter und Musiker ist nur ein höflich gemäßigter Ausdruck, um ihren Wahnsinn tu bezeichnen.«" In ihrem Wahnsinn werden zwar die Werte eines mderen Zeitalters, einer anderen Kunst, einer anderen Moral in Frase gestellt, aber, unstimmig und wirr in einem gemeinsamen Phanta•egebilde eigenartig voneinander bloßgestellt, spiegeln sich darin luch alle, selbst die fernsten Formen der menschlichen Phantasie, i 'ieser ersten Form unmittelbar benachbart ist der Größenwahnsinn, bei dem sich aber der Wahnsinnige nicht mit einem literarischen Vorbild identifiziert, sondern mit sich selbst, vermittels einer eingebildeten Adhäsion, die es ihm erlaubt, sich alle Eigenschaften zu verleihen und alle Tugenden oder Kräfte, deren er nicht teilhaftig ist. Er tritt im achtzehnten Jahrhundert, insbesondere nach Rousseau, begegnet die Vorstell t .hr häufig, daß Romanlektüre und Theatervorstellungen wahnsinnig maAcn. V g l . T e i l l l , K a p i t e l 4 . -•iint-Évremond, Sir Politik tuould be, j . A k t , 2. Szene.
das Erbe der alten Philautia des Erasmus an. Als Armer ist er reich, als Häßlicher sieht er gern sein Spiegelbild, noch mit dem Pferdehuf am Fuß hält er sich für Gott. Beispiel dafür ist der Lizentiat aus Osuna, der sich für Neptun hält100, ist auch das lächerliche Schicksal der sieben Gestalten aus den Visionnaires™, des Chateaufort im Pédant joué, das von Richesource in Sir Politik. Dieser Wahnsinn ist unzählbar, und er hat so viele Gesichter, wie die Welt Charaktere, Neigungen, notwendige Illusionen birgt. Selbst in seinen extremsten Formen ist es der am wenigsten extreme Wahnsinn. Er ist im Herzen jedes Menschen die eingebildete Beziehung, die dieser mit sich unterhält. Im Größenwahn schlagen sich die alltäglichsten seiner Fehler nieder, und ihn anzuklagen, ist das erste und letzte Element jeder moralischen Kritik. In den moralischen Bereich der Welt gehört auch der Wahn der gerechten Strafe. Durch das Durcheinander des Geistes straft er die Unordnung des Herzens, hat aber noch andere Kräfte: die Strafe, die er auferlegt, multipliziert sich mit sich selbst in dem Maße, in dem sie durch die Bestrafung die Wahrheit enthüllt. Die Gerechtigkeit dieses Wahnsinns hat für sich, daß sie wahrheitsgetreu ist. Wahrheitsgetreu, weil bereits der Schuldige in dem nichtigen Wirbel seiner Phantasmen verspürt, was der Schmerz seiner Strafe in Ewigkeit sein wird: Eraste in Mélite sieht sich bereits von den Eumeniden verfolgt und von Minos verurteilt. Wahrheitsgetreu auch, weil das den Augen aller verborgene Verbrechen in der Nacht dieser seltsamen Bestrafung an den Tag dringt. Der Wahnsinn liefert in jenen geisteskranken Worten, die man nicht bezähmen kann, seinen eigenen Sinn aus, er sagt in seinen Wahngespinsten seine geheime Wahrheit, seine Schreie sprechen für sein Gewissen. So enthüllt das Delirium von Lady Macbeth »denen, die nicht wissen dürften« die Worte, die lange Zeit nur den »tauben Kopfkissen« anvertraut waren. 102 Schließlich der letzte T y p des Wahnsinns: der der verzweifelten Leidenschaft. Die in ihrem Exzeß enttäuschte Liebe, vor allem die durch 100 Miguel de Cervantes Saavedra, Der geniale Hidalgo Don Quichotte Mancha, deutsch von L u d w i g Braunfels, Leipzig 1953, 2. Teil, I . K a p i t e l .
von Jr
101 In den Visionnaires sieht man einen feigen Hauptmann, der sidi für Adiill häl; einen schwülstigen Dichter, einen unwissenden Liebhaber der Poesie, einen eingebi· deten Reichen, ein Mädchen, das sidi v o n allen geliebt glaubt, eine Pedantin, die as dem Gebiet der Komödie alles beurteilen zu können glaubt, und schließlich eine. J sidi für eine Romanheldin hält. 102 Macbeth, y. A k t , 1. Szene.
die Fatalität des Todes getäuschte Liebe hat keinen anderen Ausweg als den Wahnsinn. Solange er ein Objekt hat, ist der Liebeswahn mehr Liebe als Wahnsinn; sich selbst überlassen, setzt er sich in der Leere des Deliriums fort. Ist dies die Bestrafung einer zu sehr sich ihrer Heftigkeit hingebenden Leidenschaft? Zweifellos, aber diese Bestrafung ist zugleich eine Milderung; über die irreparable Abwesenheit breitet sie das Mitleid der Anwesenheit imaginärer Gestalten, im Paradox der unschuldigen Freude oder im Heroismus des Verfolgungswahns findet sie die verschwundene Form wieder. Wenn sie zum Tode führt, so ist dies ein Tod, in dem die sich Liebenden nie wieder getrennt sein werden. Das ist das letzte Lied Ophelias, das ist das Delirium Aristes in der Folie du Sage, aber das ist vor allem der bittere und süße Wahnsinn des König Lear. Sei Shakespeare verbindet sich der Wahnsinn mit dem Tode und dem Mord, bei Cervantes gehorchen die Formen der beliebigen Willkür des Imaginären. Diese großen Vorbilder werden aber von Imitatoren umgedeutet und entwaffnet. Zweifellos sind sie beide mehr Zeugen tiner tragischen Erfahrung des Wahnsinns, die im fünfzehnten Jahrhundert entstand, als solche einer kritischen und moralischen Erfahrung des Wahnsinns, obwohl sich diese in ihrer eigenen Epoche entwickelte. Außerhalb der Zeit schaffen sie die Verbindung mit einem sinn, der im Verschwinden begriffen ist und dessen Kontinuität sich •>ur noch in der Nacht vollzieht. Indem man aber ihr Werk und was •ufrechterhält mit den Bedeutungen, die bei ihren Zeitgenossen der Nachahmern entstehen, vergleicht, wird man entziffern können. JS 'ich in der literarischen Erfahrung des Wahnsinns zu Beginn des wbzehnten Jahrhunderts ereignet. 3ei Cervantes oder Shakespeare nimmt der Wahnsinn stets eine exme Stelle in dem Sinne ein, daß er ohne Ausweg ist; nichts bringt ;hr iemals zur Wahrheit oder Vernunft zurück. Er führt nur zur Zerr ^.nheit und von dort zum Tode. Der Wahnsinn mit seinen leeren W irrten ist keine Leerheit. Leere, die ihn füllt, ist »eine Krankheit, die \.r meine Kunst geht«, wie der Arzt über Lady Macbeth sagt; es ist -5itc die Fülle des Todes: ein Wahnsinn, der eines Arztes nicht besondern allein die göttliche Gnade braucht.103 Die von Ophelia iliciUich wiedergefundene süße Freude versöhnt sie mit keinem lv- ihr wahnsinniger Gesang ist dem Wesentlichen ebenso nah wie · Frauenschrei«, der in den Gängen des Schlosses von Macbeth i i i e f ' · . t. Akt. i. Szene.
ankündigt, daß »die Königin tot ist«.104 Gewiß vollzieht sich der Tod von Don Quichotte in einer friedlichen Landschaft, die im letzten Augenblick mit der Vernunft und der Wahrheit Verbindung gewonnen hat. Plötzlich ist sich der Wahnsinn des Ritters seiner selbst bewußt geworden und löst sidi vor seinen eigenen Augen in Dummheit auf. Aber ist diese plötzliche Weisheit seines Wahnsinns etwas anderes, als »habe ihn eine neue Narrheit befallen«? Diese Zweideutigkeit ist endlos reversibel und kann schließlich nur durch den Tod selbst gelöst werden. Der aufgelöste Wahnsinn muß ein und dasselbe sein wie das drohende Ende; »und sie hielten es für ein Zeichen seines nahenden Todes, daß er sich so leicht von einem verrückten zu einem gescheiten Menschen umgewandelt habe«. Aber der Tod selbst bringt keinen Frieden: der Wahnsinn wird nochmals triumphieren - lächerlich ewige Wahrheit, jenseits des Endes eines Lebens, das sich doch durch dieses Ende selbst vom Wahnsinn befreit hat. Ironisch wird Don Quichotte von seinem wahnsinnigen Leben verfolgt und nur durch seinen Wahnsinn unsterblich; der Wahnsinn ist noch das unzerstörbare Leben des Todes: »Der vielkühne Junker liegt hier, ein Held von hohen1 Streben, dessen Ruhm zur Sonne fliegt; und der Tod hat selbst sein Leben nicht durch seinen Tod besiegt.«10' Bald aber verläßt der Wahnsinn jene fernen Regionen, in denen Cervantes und Shakespeare ihn angesiedelt hatten. Und in der Literatu! am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts nimmt er überwiegend eimmittlere Stelle ein; so bildet er eher den Knoten als die Auflösung eher die Peripetie als das bevorstehende Ende. In der Ökonomie der Roman- und Dramenstrukturen an eine andere Stelle gerückt, gestatet er das Auftreten der Wahrheit und die Rückkehr der Vernunft. Er wird nämlich nicht mehr in seiner tragischen Realität, in seiner absoluten Zerrissenheit, die ihm den Zugang zur anderen Welt bietet, betrachtet, sondern lediglich in der Ironie seiner Illusionen. Er ist L ne wirkliche Strafe mehr, sondern das Bild der Strafe, also falsch. Schein. Er kann nur mit dem Schein eines Verbrechens oder der Hin sion eines Todes verbunden sein. Wenn Ariste in der Folie du Saçe bei der Nachricht vom Tode der Tochter wahnsinnig wird, so desha1 weil diese nicht wirklich tot ist; wenn in Mélite Eraste sich von de Eumeniden verfolgt und zu Minos geschleppt sieht, geschieht dies ν gen eines doppelten Verbrechens, das er hätte begehen können, da 104 Macbeth, 5. Akt, 5. Szene. 105 Cervantes, Don Quichotte, 2. Teil, 74. Kapitel.
hätte begehen wollen, aber das tatsächlich keinen wirklichen Tod zur Folge gehabt hat. Der Wahnsinn ist seines dramatischen Ernstes beraubt: er ist Strafe oder Verzweiflung nur in der Dimension des Irrtums. Seine dramatische Funktion besteht nur insofern fort, als es sich um ein falsches Drama handelt, eine schimärische Form, in der nur vermutete Vergehen, eingebildete Morde, kurzfristige Entrückungen enthalten sind. Trotz dieses Fehlens von Ernst ist der Wahnsinn wesentlich, wesentlicher noch als zuvor, denn wenn er die Illusion auf den Gipfel treibt, löst sidi die Illusion, von ihm ausgehend, auf. Im Wahnsinn, in den ihr Irrtum sie eingeschlossen hat, beginnt die Gestalt unfreiwillig den Faden zu entwirren. Sie sagt, indem sie sidi anklagt, ohne es zu wollen, die Wahrheit. In Mclite zum Beispiel haben sich die Listen, derer ich der Held bedient, um die anderen zu täuschen, gegen ihn gewandt, und er ist ihr erstes Opfer geworden, weil er am Tode seines Rivalen und seiner Geliebten schuldig zu sein glaubte. Aber in seinem I 'elirium beschuldigt er sidi, eine Serie von Liebesbriefen erfunden zu haben; die Wahrheit kommt ans Licht in und durch den Wahnsinn, 1er durch die Illusion eine Auflösung provoziert, tatsächlich ganz illein das wirkliche Imbroglio, dessen Wirkung und Ursache zugleich >.r ist. auflöst; in anderen Worten: der Wahnsinn ist die falsche Beirafung eines falschen Endes, aber durch seine eigene Kraft bringt er iai wahre Problem ans Licht, das dann wirklich gelöst werden kann. '•Iii dieser gleichzeitig doppeldeutigen und zentralen Funktion des ihnsinns spielt der Autor des Ospital des Fous, wenn er ein Liebespaar darstellt, das, um seinen Verfolgern zu entgehen, sidi wahnsin* Lcllt und sich unter Wahnsinnigen versteckt; in einem gespielten hnsinnsanfall gibt das Mädchen, das als Junge verkleidet ist, vor, sich :ür ein Mädchen zu halten - was es wirklich ist - , und sagt so, ••ch Jie gegenseitige Aufhebung dieser beiden Verstellungen, die hrheit. die letztlich siegen wird. • r Wahnsinn ist die reinste, die totalste Form des Quiproquo: er 'ml das Falsche für wahr, den Tod für das Leben, den Mann für brau, die Verliebte für die Erinnye und das Opfer für Minos. - yr er ist auch die am stärksten benötigte Form des Quiproquo in Jramatischen Ökonomie, denn er bedarf keines äußeren Elemen•im zur wirklichen Auflösung zu kommen. Es genügt, wenn er • Illusionen bis zur Wahrheit treibt. So ist er, im Herzen der .tur selbst, in ihrem mechanischen Zentrum, gleichzeitig fingierter Abshluß. der einen geheimnisvollen Wiederanfang enthält, und
der erste Schritt zu dem, das wie die Versöhnung mit der Vernunft und der Wahrheit erscheinen wird. Er setzt den Punkt, in dem offensichtlich das tragische Schicksal der Personen konvergiert und von dem aus wirklich die Linien aufsteigen, die zum wiedergefundenen Glück führen. In ihm stellt sidi das Gleichgewicht her, aber er verschleiert dieses Gleichgewicht unter der Wolke der Illusion, unter der fingierten Unordnung; die Strenge der Architektur verbirgt sich unter der geschickten Anordnung dieser unkontrollierten Heftigkeiten. Diese plötzliche Lebhaftigkeit, diese Zufälligkeit der Gesten und der Worte, dieser Wahnsinnssturm, der plötzlich die Linien zerstört, die Haltungen erschüttert, den Faltenwurf zerknittert, während die Fäden nur noch fester gezogen werden, — das ist der eigentliche T y p des barocken trompe-l'œil. Der Wahnsinn ist der große trompe-l'œil in den tragikomischen Strukturen der vorklassischen Literatur." 36 Das war Scudéry wohlbekannt, als er in seiner Comédie des Comédiens das Theater des Theaters schaffen wollte und sein Stück von Anfang an in das Spiel der Illusionen des Wahnsinns legte. Ein Teil der Schauspieler muß die Rolle der Zuschauer spielen und die anderen die Rollen der Schauspieler. Einerseits muß also das Dekor scheinbar als Wirklichkeit angenommen werden, das Spiel als Leben, während tatsächlich in einem wirklichen Dekor gespielt wird; andererseits mul< scheinbar gespielt und der Schauspieler dargestellt werden, während in der Wirklichkeit ganz einfach Schauspieler die Spielenden sind. Dies ist ein doppeltes Spiel, in dem jedes Element um eine Stufe überstiegen wird, indem es so den erneuerten Wechsel von Wirklichkeii und Illusion, der selbst der dramatische Sinn des Wahnsinns ist, bildet. »Ich weiß nicht,« sagt Mondory im Prolog des Stückes von Scudéry, »welche Ungereimtheit meine Mitspieler heute zeigen, aber si<; ist so groß, daß ich glauben muß, daß irgendein Zauber ihnen die Vernunft nimmt, und das Schlimmste, was ich beobachte, ist, daß sie versuchen, mich und euch Zuschauer ebenfalls den Verstand verlieren zu lassen. Sie wollen mich überzeugen, daß ich nidit auf der Bühne stehe 106 Eine strukturale Untersuchung der Beziehungen von Traum und Wahnsinn 1 Theater des siebzehnten Jahrhunderts bleibt nodi zu schreiben. Ihre Verwandtsdia· w a r seit langem ein philosophisches und ärztliches Thema (vgl. Teil II, Kapitel ' jedoch scheint der Traum als wesentliches Element der dramatischen Struktur . wenig später aufzutreten. A u f jeden Fall ist sein Sinn ein anderer, da der ihm inr. wohnende Sinn nidit der der Versöhnung, sondern der der tragischen Vollendu. ist. Sein trompe-l'œil zeichnet die wahre Perspektive des Dramas, verleitet ni. zum Irrtum wie der Wahnsinn, der in der Ironie seiner offensichtlichen Unordnu, einen falschen Schluß anzeigt.
daß das hier Lyon ist, daß das eine Herberge und hier ein Jeu de Paume ist, wo Schauspieler, die gar nicht wir sind, und die wir doch sind, ein Schelmenstück spielen.«107 In dieser Ungereimtheit entwikkelt das Theater seine Wahrheit, das heißt, Illusion zu sein, was im strengen Sinne Wahnsinn ist. Zwar besteht die große Bedrohung vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts nicht mehr, und die beunruhigenden Kräfte der Gemälde von Bosch haben ihre Heftigkeit verloren, jedoch bestehen in der Erfahrung des klassischen Zeitalters mit dem Wahnsinn Formen, jetzt zwar transparent und gelehrig, fort, die den unvermeidlichen Festzug der Vernunft bilden. Der Wahnsinn ist nicht länger eine eschatologische Gestalt an den Grenzen der Welt, des Menschen und des Todes. Dieses Dunkel, auf das er die Augen gerichtet hatte, und aus dem die Formen des Unmöglichen entstanden, hat sich aufgelöst. Das Vergessen fällt über die von den befreiten Sklaven des Narrenschiffs befahrene Welt. Es führt nicht länger auf seiner seltsamen Fahrt von einem Diesseits zu einem Jenseits und soll nie mehr diese flüchtige und absolute Grenze sein. Gut verankert liegt es jetzt zwischen den Dingen und den Menschen, zurückgehalten und aufrechterhalten, nicht länger als Schiff, sondern als Hospital. K.aum ein Jahrhundert nach der Woge der Narrenschiffe verzeichnen vir das literarische Thema des Narrenhauses. Hier spricht jeder hohle K.opf. festgemacht und gemäß der wahren Vernunft der Menschen eingeordnet, durch das Beispiel, den Widerspruch und die Ironie, die Joppelte Sprache der Weisheit: » ( . . . ) Haus der unheilbaren Narren, "orinnen abgehandelt sind Punkt zu Punkt alle Narrheiten und Krankheiten des Geistes, sowohl der Männer als der Frauen, sowohl ""ützlicb wie erholsam Werk, notwendig für die Erlangung der wah-en Weisheit.«108 Darin findet jede Wahnsinnsform ihren eigenen Platz, ihre Kennzeichen und ihren Schutzgott: der frenetische und plappernde Wahnsinn, durch einen auf einem Stuhl gekauerten N a r ren symbolisiert, bewegt sich unter dem Blich Minervas; die düsteren '-.iancholiker, die als einsame und gierige Wölfe das Land durchreifen. haben Jupiter zum Gott, der für Tiermetamorphosen zu^eurpes de Scudéry, La Comédie des comédiens, Paris 1635. rnmaso Garzoni, L'Hospidale de' pazzi incurabili, Venezia IJ86. Obersetzt • '•-» bearbeitet von François de Clarier, Paris 1620. Vgl. auch Charles de Beys, pial des jols incurables (...), Paris 163JS 1653 nochmals aufgenommen und "lert unter dem Titel Les Illustres fous.
ständig ist; dann hier die »trunkenen Narren«, die »Narren ohne Verstand und Erinnerung«, die »sdilaftrunkenen und halbtoten Narren«, die »hirnlosen Narren mit luftgefüllten Köpfen«. Diese ganze unordentliche Welt bringt in einer perfekten Ordnung ihrerseits das Lob der Vernunft hervor. Bereits in diesem »Narrenhaus« hat die Internierung das Verschiffen abgelöst. Unter Kontrolle gebradit, erhält der Wahnsinn alle Erscheinungsformen seines Reiches aufredit. Er gehört jetzt zu den Maßen der Vernunft und zur Arbeit der Wahrheit. Er spielt an der Oberfläche der Dinge und im Glitzern des Tageslichts, mit allen Bewegungen der Ersdieinungswelt, mit der Zweideutigkeit des Wirklichen und der Illusion, mit jenem ganzen unbegrenzten, stets wiederaufgenommenen, immer wieder unterbrochenen Netz, das die Wahrheit und das Scheinbare zugleidi vereint und trennt. Er versteckt und macht deutlich, er bringt Wahrheit und Lüge hervor, er ist Schatten und Licht. Er schillert, ist eine zentrale und indulgente, bereits unsichere Gestalt in dieser Zeit des Barock. Wundern wir uns nidit, ihn so oft in den Romanen und im Theater wiederzufinden und ihm tatsächlich in den Straßen zu begegnen François Colletet ist ihm dort tausendmal begegnet: J'aperçois, dans cette avenue U n innocent suivi d'enfants. ( . . . ) Admire aussi ce pauvre hère; C e pauvre fou, que veut-il faire D'un si grand nombre de haillons? ( . . . ) J'ai vu de ces folles bourrues Chanter injures dans les rues ( . . .).' c " Der Wahnsinn bildet eine recht vertraute Gestalt in der sozialen Landschaft. Man findet ein neues und sehr lebhaftes Vergnügen an den alten Bruderschaften der Narren, an ihren Festen, an ihren Treffen und ihren Gesprädien. Man begeistert sich für oder gegen Nicola Joubert, der unter dem Namen d'Angoulevent bekannter ist und sidi Fürst der Narren nennt, ein Titel, der ihm von Valenti le Comte unJ Jacques Resneau streitig gemacht wird. Pamphlete, Prozesse. PI' doyers folgen; sein Anwalt erklärt ihn »zum Hohlkopf, zum epikernten Kürbis, jeden vernünftigen Sinnes bar, ein Rohrstock, ein demontiertes Hirn, ohne Feder, ohne ganzes Rädchen im Kopf' ioo François Colletet, Le Tracas de Paris, Paris ififij. n o julien Peleus, La Deffence du Prince des Sots, ο . O . u . J.; Plaidoyer
in- IJ
Bluet d'Arbères, der sich Comte de Permission nennen läßt, ist ein Protégé der Créqui, der Lesdiguieres, der Bouillon, der Nemours: er veröffentlicht 1602 (oder man läßt für ihn veröffentlichen) seine Werke, in denen er den Leser darauf hinweist, daß »er weder lesen noch schreiben kann, noch es je gelernt hat«, aber daß er von »der Inapiration Gottes und der Engel« bewegt ist." 1 Pierre Dupuis, von dem Régnier in seiner sechsten Satire spricht 1 ", ist nach den Worten Brascambilles »ein Erznarr in langem Gewand«" 3 ; er selbst erklärt in seiner Remontrance sur le réveil de Maître Guillaume, daß er »den Geist bis in das Vorzimmer des dritten Grades des Mondes erhoben hat . Und verschiedene andere Personen werden von Régnier in seiner vierzehnten Satire erwähnt. üiese Welt vom Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ist auf eigenartige Weise gastfreundlich gegenüber dem Wahnsinn. Er ist im Herjen der Dinge und der Menschen, ironisches Zeichen, das die Wegzeidien zwischen Wirklichkeit und schimärischer Welt versetzt, die Ernnerung an die großen tragischen Drohungen kaum bewahrend mehr verwirrtes als beunruhigendes Leben, lächerliche Bewegtheit in 1er Gesellschaft, Beweglichkeit der Vernunft. Aber neue Forderungen kommen herauf: »J'ai pris cent et cent fois j lanterne en la main cherchant en plein midi ( . . .).«"•·
vante des Sots. ifio8; außerdem: Surprise et fustigation d'Angoulevcnt par ; '-tre des poispillés, 160}; Guirlande et réponse d'Angoulevent. ninulacion et Recueil de toutes les œuvres que [sic] Bernard de Bluet d'Arbè• ne de permission, 2 vols., Paris 1601-1602. ' thurin Régnier, Satire VI, Vers 72. •a.-ambilie. Paradoxes (1622), S. 4J. Vgl. einen anderen Hinweis bei Desmadu poème épique, S. 73. nier. Satire XIV, Vers 7-10.
2. Kapitel
Die große Gefangenschaft Compelle
intrare
Durch einen eigenartigen Gewaltakt bringt dann das Zeitalter der Klassik den Wahnsinn, dessen Stimmen die Renaissance befreit, dessen Heftigkeit sie aber bereits gezähmt hat, zum Schweigen. A u f dem Weg des Zweifels trifft Descartes den Wahnsinn neben dem Traum und allen Formen des Irrtums an. Diese Möglichkeit, wahnsinnig zu sein, droht, ihn seines Körpers zu berauben, wie die Außenwelt sich im Irrtum entziehen und das Bewußtsein im Traum einschlafen kann. »Ja sogar daß diese Hände selbst und dieser mein ganzer Körper wirklich existieren, aus welchem Grund könnte das verneint werden? Es sei denn, ich würde mich etwa gleichstellen ich weiß nicht welchen Wahnsinnigen, deren ohnehin kleines Gehirn durch widerlidie Ausdünstungen aus ihrer schwarzen Galle so sehr aufgeweicht wird, daß sie hartnäckig im Ernst behaupten, sie seien Könige, da sie bettelarm sind, oder in Purpur gekleidet, da sie nackt sind, oder sie hätten einen tönernen Kopf oder seien ganz und gar Kürbisse oder aus Glas zusammengeblasen.«'"t" Descartes vermeidet aber die Gefahr des Wahnsinns nicht, wie er die Eventualität des Traums oder Irrtums umgeht. So trügerisch die Sinne auch sein mögen, sie können dies nur »im Bereich des ganz Kleinen und auch des Entfernteren«; die Kraft ihrer Illusionen läßt stets einen Rest Wahrheit, »daß ich hier sei, am Herd sitze, mit dem Winterrock angetan.« I '' ,b Der Traum kann wie die Vorstellungskraft der Maler »Sirenen und kleine Satyre in den ungewöhnlichsten Formen« darstellen; aber er kann von selbst nicht »noch einfachere und wirklich ganz allgemeine« Dinge schaffen oder zusammenbringen, deren Anordnung die phantastischen Bilder möglich macht: »Dieser A r t scheinen die körperliche Natur überhaupt und ihre Ausdehnung zu sein.«"-·11 Diese Dinge sind so wenig fingiert, dai! sie den Träumen ihre Wahrscheinlichkeit sichern und unvermeidliche Merkmale einer Wahrheit sind, die der Traum nicht zu kompromittieren vermag. Weder der mit Bildern bevölkerte Traum noch das klare Bewußtsein, daß die Sinne sich täuschen, können den Zweifel bis zum
114a René Descartes, Meditationen über die erste Philosophie, (Philosophische Bibliothek. 250), S. 29. 114b Ebda. 114c A . a . O . , S . 33.
Hamburg tost·
äußersten Punkt seiner Universalität tragen. Geben wir zu, daß unsere Augen uns täuschen, »wohlan denn, wir mögen träumen«, die Wahrheit wird nicht völlig in die Nacht hineingleiten.114,1 Mit dem Wahnsinn verhält es sich anders. Wenn seine Gefahren den Verlauf und das Essentielle seiner Wahrheit nicht in Frage stellen, dann nicht, weil eine bestimmte Sache, sogar im Denken eines Irren, nicht falsch sein kann, sondern weil ich als Denkender nicht irre sein kann. Wenn ich einen Körper zu haben glaube, bin ich dann einer festeren Wahrheit gewiß als der, der einen Körper aus Glas zu haben meint? Ganz sicher, denn »die sind eben von Sinnen, und ich würde selbst als nicht weniger verrückt erscheinen, wenn ich deren Beispiel auf mich übertragen würde.« Nicht die Permanenz einer Wahrheit garantiert das Denken gegen den Wahnsinn, wie sie ihm verstattet, einem Irrtum zu entgehen oder aus einem Traum aufzutauchen. Es ist eine nicht dem Gegenstand des Denkens, sondern dem denkenden Subjekt essentielle Unmöglichkeit, verrückt zu sein. Man kann der Annahme sein zu träumen und sich mit dem träumenden Subjekt identifizieren, um einen Grund zu zweifeln zu finden; dennoch erscheint die Wahrheit, und zwar als Bedingung für die Möglichkeit des Traums. Dagegen kann man, sogar durch das Denken, annehmen, daß man irre •st. denn der Wahnsinn ist gerade die Bedingung der Unmöglichkeit des Denkens: » ( . . . ) ich würde selbst als nicht weniger verrückt erdieinen (.. .).«"40 in der Ökonomie des Zweifels gibt es ein fundamentales Ungleichgewicht zwischen einerseits dem Wahnsinn und andererseits dem Traum ind dem Irrtum. Ihre Situation ist hinsichtlich ihres Verhältnisses zur * Wahrheit und demjenigen, der sie sucht, unterschiedlich. Träume und Musionen werden durch die Struktur der Wahrheit überwunden. Der Wahnsinn aber wird von dem zweifelnden Subjekt ausgeschlossen. So wie bald ausgeschlossen wird, daß es nicht denkt und nicht existiert. Mit den Essais von Montaigne ist eine bestimmte Entscheidung gefallen. Als Montaigne Tasso im Irrenhaus besuchte, gab ihm nichts die '••cherheit, daß nicht jeder Gedanke von der Unvernunft heimgesucht ·• ürde. Und das Volk? Das »arme vom Wahnsinn mißbrauchte Volk« ? I .t der Mensch des Denkens vor diesen Ungereimtheiten geschützt? Er zumindest ebenso zu beklagen«. Welche Vernunft könnte ihn zum Jiter über den Wahnsinn machen? »Die Vernunft hat mich gelehrt, eine Sache so vor der Faust weg für falsch und unmöglich erkläud Λ . Ϊ . Ο . , S. J I . . A. a. O., S. 29.
ren, so viel heißt, als sich den Vorzug zuzuschreiben, als habe man in seinem Kopfe die Schranken und Grenzen des Willens Gottes, und der Macht unsrer Mutter Natur. Und gleidiwohl gibt es keine größerr Narrheit in der Welt, als solche nach dem Maaße unsrer Kräfte und unsres Wissens messen zu wollen.«" 4 ' Unter allen Formen der Illusion zeichnet der Wahnsinn einen der am häufigsten eingeschlagenen Weg* des Zweifels im sechzehnten Jahrhundert. Man ist nicht immer sicher, nicht zu träumen, und nie gewiß, nicht irre zu sein: »Warum erinnern wir uns nicht der vielen Widersprüche in unserem eigenen Urteile?« Diese Gewißheit aber hat Descartes erworben und hält sie sehr fest: der Wahnsinn betrifft ihn nicht mehr. Es wäre ungereimt anzunehmen, daß man ungereimt sei. Als Erfahrung des Denkens implizieri sich der Wahnsinn selber und schließt sich folglich selber aus dem Plan aus. So ist die Gefahr des Wahnsinns aus der Übung der Vernunft verschwunden. Diese ist zusammengeschnitten auf die völlige Beherrschung ihrer selbst und kennt keine anderen Fallen als den Irrtum, keine andere Gefahren als die Illusion. Der Zweifel von Descartes löst die Verzauberung der Sinne auf, durchquert die Traumlandschaften ist aber stets gelenkt von dem Licht der wahren Dinge. Er verbann' aber den Wahnsinn im Namen dessen, der zweifelt und der nicht mein unvernünftig sein kann als nicht zu denken und nicht zu sein. Die Problematik des Wahnsinns - die Montaignes — wird dadurri modifiziert, und zwar auf fast unwahrnehmbare, wahrscheinlich aber entscheidende Weise. Plötzlich steht der Wahnsinn in einem Gebiei J Ausschlusses, aus dem er erst mit der Phänomenologie des Geiste befreit wird. Die Nicht-Vernunft des sechzehnten Jahrhunderts bildei eine A r t offene Gefahr, deren Drohungen stets, wenigstens im Rech die Beziehungen der Subjektivität und der Wahrheit kompromittieri konnten. Der Weg des Zweifels bei Descartes scheint zu bezeugen, da im siebzehnten Jahrhundert die Gefahr gebannt ist und der Wahnsir außerhalb des Gebiets gestellt ist, in dem der Wahnsinn sein Recht at Freiheit besitzt. Es handelt sich um jenes Zugehörigkeitsgebiet, das tur das klassische Denken die Vernunft selbst ist. Der Wahnsinn befind sich künftig im Exil. Wenn der Mensch immer wahnsinnig sein kar so kann das Denken als Ausübung der Souveränität eines Subjekts. J sich die Verpflichtung auferlegt, das Wahre wahrzunehmen, nidi: wahnsinnig sein. Es ist eine Trennungslinie gezogen worden, die d
H 4 f Michel de Montaigne, Essais, I , 1 6 , in: ders., Gesammelte Schriften (übers. Johann Joachim Bode), x i Bde., München und Leipzig 1908 if., Bd. 1, S. 281 114g A . a . O . , B d . χ , S . 289.
Jcr Renaissance so vertraute Erfahrung mit einer unvernünftigen Vernunft und einer vernünftigen Unvernunft unmöglich machen wird. Zwischen Montaigne und Descartes ist etwas wie das Heraufkommen einer Ratio geschehen. Es fehlt aber daran, daß die Geschichte einer Ratio wie'der der abendländischen Welt sich in dem Fortschritt eines Rationalismus« erschöpft; zu einem ebenso großen, vielleicht geheineren Teil besteht sie aus jener Bewegung, durch die die Unvernunft dl in unseren Boden gegraben hat, um wahrscheinlich darin zu verhwinden, um aber Wurzel zu fassen. Diesen anderen Aspekt des Ereignisses in der Klassik müssen wir jetzt rmnifest machen. Mehr als ein Zeichen verrät ihn, und alle rühren nicht von einer philophischen Erfahrung oder Entwicklungen der Wissenschaft her. Der Λ ockt, von dem hier die Rede sein soll, gehört zu einer breiten kulturilltn Oberfläche. Er wird von einer Serie von Daten und einer Ge•itheit an Institutionen signalisiert. •st allgemein bekannt, daß im siebzehnten Jahrhundert große "user zur Internierung geschaffen worden sind; weniger bekannt daß darin von den Pariser Einwohnern mehr als einer je Hundert hrere Monate eingeschlossen war. Es ist wohl bekannt, daß der AbJtismus von lettres de cachet und willkürlichen Einsperrungsmaß•men Gebrauch machte; weniger gut weiß man, welches Rechtsulksein solche Maßnahmen auslöste. Seit Pinel, Tuke und Wagnissen wir, daß die Wahnsinnigen während hundertfünfzig Jahlem gleichen Regime der Internierung unterworfen waren und •e eines Tages in den Räumen des Hôpital général, in den Kerder Arbeitshäuser, unter den Insassen der workhouses oder 'nhäuser auftauchten. Welchen Status sie dort innehatten, ist kaum '.rt worden, noch auch, welchen Sinn die Nachbarschaft hatte, die Amen. Arbeitslosen, Sträflingen und Irren eine gleiche Heimat ben schien. In den Mauern solcher Internierungshäuser trafen md die Psychiatrie des neunzehnten Jahrhunderts die Geistescn an; obwohl sie sich rühmten, sie »befreit« zu haben, behielten Jas sollten wir nicht vergessen - die alten Internierungspraktibsi. Seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts ist der Wahnsinn i.cses Gebiet der Internierung und an die Geste, die ihm dieses ' ' ir.gnis als seine natürliche Bleibe zuwies, gebunden. •itum kann als Markstein gelten: 165(1, das Dekret der Gründung des Hôpital général in Paris. Auf den ersten Blick handelt es
sich lediglich um eine Reform, wenn nicht nur um eine administrative Reorganisation. Verschiedene bereits bestehende Einrichtungen werden unter einer einzigen Verwaltung zusammengefaßt: die Salpêtrière, unter dem vorigen König wieder aufgebaut, um als Arsenal zu dienen"', Bicêtre, das Ludwig X I I I . der Ordenspfründe des Heiliger Ludwig als ein Heim für Kriegsinvaliden hatte geben wollen" 6 . »Das Haus und Hospital von La Pitié, sowohl der großen wie der kleinen, die des im Faubourg Saint-Victor gelegenen Refuge, Haus und Hospital von Scipion, das Haus der Savonnerie, mit allen örtlichkeiten. Plätzen, Gärten, Häusern und Gebäuden, die dazu gehören.«" 7 Alle Gebäude werden jetzt den Armen von Paris zur Verfügung gestellt, »denen beiderlei Gesdilechts, jeden Alters, von welcher Geburt und welchen Standes, in welcher Verfassung sie auch seien, wohlauf oder versehrt, krank oder genesend, heilbar oder unheilbar«." 8 Es handeil sich darum, diejenigen aufzunehmen, unterzubringen und zu ernähren, die sich von selbst einstellen, oder diejenigen, die durch königlich, oder riditerlidie Anweisung dorthin geschickt werden. Außerdem muß auf den Unterhalt, die Sauberkeit und die allgemeine Ordnung derjenigen geachtet werden, die aus Platzgründen nicht haben aufgenommen werden können, aber dort sein könnten, oder es verdien' hätten. Diese Aufgabe ist Direktoren auf Lebenszeit anvertraut, di ihre Macht nicht nur in Gebäuden des Hospitals, sondern in gan Paris über all die ausüben, die unter ihre Rechtsprechung fallen: S> haben jede Entscheidungsgewalt über Leitung, Verwaltung, Handel Polizei, Rechtsprechung, Bestrafung und Inhaftierung hinsichtlich der Armen von Paris, sowohl in wie außerhalb des Hôpital général.«"' Die Direktoren ernennen außerdem einen Arzt, dessen B: züge sich auf 1000 Livres im Jahr belaufen; er wohnt in La Pitié, mu aber zweimal wöchentlich jedes der Häuser des Hôpital général b. suchen. Eines ist von Anfang an klar: das Hôpital général ist kein medizinisdie Einrichtung. Eher ist es eine halbjuristische Struktu eine Art administrative Einheit, die neben den bereits konstituiert, Gewalten und neben den Gerichten entscheidet, richtet und exeki tiert. -»Dazu erhalten die Direktoren Galgen, Pranger, Gefängni î t ç Louis Boucher, La Salpêtrière, Paris 1883. 116 Paul Bru, Histoire de Bicêtre, Paris 1890. 117 Edikt von 1656, Artikel IV. Später wurden Saint-Esprit und Enfants-Truu hinzugefügt, die Savonnerie ausgeklammert. 118 Artikel X I . 119 Artikel X I I I .
und Verliese in dem Hôpital général und an den Stellen, die dazugehören. wieviel ihnen notwendig erscheinen, ohne daß gegen die Anordnungen, die sie innerhalb des Hôpital erlassen, Einspruch erhoben verden kann; die von ihnen erlassenen Befehle für außerhalb des Hôpital werden ihrer Form und ihrem Inhalt gemäß ausgeführt, unbeachtet jeder Opposition oder jeden Einspruchs, sei er bereits vollzogen oder noch einzureichen, und ohne dem stattzugeben, wird unbeachtet jeder Verteidigung und jedes juristischen Schrittes Aufschub nicht gewährt.«120 Nahezu absolute Souveränität, Rechtsprechung hne Berufung, das Recht zur Exekution, gegen das nichts unternommen werden kann - das Hôpital général ist eine eigenartige Macht, i'f der König zwischen der Polizei und der Justiz an den Grenzen Je" Gesetzes etabliert: die dritte Gewalt der Repression. Die Geistesranken, die Pinel in Bicêtre und in der Salpêtrière fand, gehörten zu :eser Welt. In einer Funktion oder seinem Zweck nach gehört das Hôpital géné1 zu keiner medizinischen Idee. Es ist eine Instanz der Ordnung, der narchischen und bürgerlichen Ordnung, die in Frankreich zur glei.n Zeit hergestellt wird. Es ist direkt mit der königlichen Macht vernden. die es unter die alleinige Autorität der bürgerlichen Regie*'g gestellt hat; die Grande Aumônerie des Reiches, die einst in der litik der Fürsorge die ekklesiastische und geistige Vermittlung bilt. sieht sich plötzlich außer Gefecht gesetzt. Der König dekretiert: r sind Bewahrer und Schützer des genannten Hôpital, das Unsere (gliche Gründung ist, und das keinesfalls von Unserer Grande •"jnerie, noch von einem Unserer hohen Beamten abhängt, son.!·.τη cc soll gänzlich frei sein von der Aufsicht, dem Besuch und der ι htsprechung der Beamten, der allgemeinen Reform und anderen ν-rande Aumônerie, und aller anderen, denen Wir jegliche Kennt-ahme und Rechtsprechung, gleich welcher A r t und Weise das sein ite. untersagen.«'21 Der Ursprung des Projekts lag beim Pariaund die ersten beiden Direktoren, die ernannt worden waaren der Erste Präsident des Parlaments und der Generalstaats• dt. Sehr schnell aber werden sie vom Erzbischof von Paris, vom Jenten der Cour des Aides, von dem der Cour des Comptes, vom
"tikel XII. tikelVI. \nne d'Autriche vorgelegte Projekt war von Pomponne de Bellièvre •dinec.
Polizeichef und vom Stadtvogt ersetzt. Seitdem hat das »Grand Bureau« nur noch eine deliberative Rolle, die wirkliche Verwaltung und die tatsächliche Verantwortlichkeit werden Verwaltern übertragen die durch Kooptation gewonnen werden. Sie sind die wirklich Herrschenden, die Delegierten der königlichen Macht und des bürgerlicher Vermögens bei der Welt des Elends. Die Revolution hat ihnen da folgende Zeugnis gegeben: »Gewählt aus den besten Familien de Bürgertums, brachten sie Desinteresse und reine Absichten in die Verwaltung.«" 3 Diese der monarchischen und bürgerlichen Ordnung eigene Struktui die zeitlich mit deren Organisation in der Form des Absolutismus in Frankreich zusammenfällt, breitet bald ihr Netz über das ganze Land Ein Edikt des Königs vom 16. Juni 1676 schreibt die Errichtung eines »Hôpital général in jeder Stadt seines Reiches« vor. Es ist vorgekorr men, daß die örtlichen Autoritäten die Maßnahme vorweggenomme haben; das Bürgertum von Lyon hatte bereits 1612 eine wohltätie Einrichtung geschaffen, die auf ähnliche Weise arbeitete."·» Der Erzbischof von Tours ist stolz, am 10. Juli 1676 erklären zu können, d? seine »Metropole glücklicherweise die frommen Absichten des Köms in der Errichtung jenes Hôpital général, namens Charité, vor dem Erbauen des Hôpital in Paris vorausgesehen hat und mit einer Or nung, die all denen, die seitdem innerhalb und außerhalb Frankreir errichtet worden sind, als Modell gedient hat«."* Die Charité von Tours war tatsächlich 1656 gegründet worden, und der König ha ihr 4000 Livres Renten geschenkt. In ganz Frankreich werden Hör taux généraux eröffnet. V o r der Revolution sind es 32 in den Provinzstädten. 126 Die Kirche, selbst wenn sie absichtlich bei der Organisation der Ho pitaux généraux ausgeschlossen worden war - wobei wahrschein1 123 Bericht von La Rochefoucauld-Liancourt im Namen des Comité de mend der Assemblée constituante, in: Procès verbaux de l'Assemblée nationale, Bd. 2; • 124 Statuts et règlements de l'Hôpital général de la Charité et Aumône généra Lyon, Lyon 1742. 125 Ordonnances de Monseigneur l'archevêque de Tours, Tours 1681 ; vgl. ?· Mercier, Le monde médical de Touraine sous la Révolution, Tours 1936. 126 Aix, Albi, Angers, Arles, Blois, Cambrai, Clermont, Dijon, Le Havre, ï.:llt Limoges, Lyon, Mâcon, Martigues, Montpellier, Moulins, Nantes, Nîmes, Or! Pau, Poitiers, Reims, Rouen, Saintes, Saumur, Sedan, Strasbourg, Saint-S?r Saint-Nicolas (Nancy), Toulouse, Tours. V g l . Jean-Ε. Esquirol, Des établissr consacrés aux aliénés en France, 1818, in: ders., Des maladies mentales, Pari Bd. II, S. 157.
du königliche Macht und das Bürgertum zusammenarbeiteten"1" - , ileibt dennoch nicht abseits. Sie reformiert ihre Hospitaleinrichtun>.n. verteilt die Güter ihrer Stiftungen neu; sie schafft sogar Kongrettionen, die ähnliche Ziele wie das Hôpital général haben. Vincent Je Paul organisiert das bedeutendste der alten Leprosorien von Paris, >aint-Lazare, neu. A m 7. Januar 1632 schließt er einen Vertrag im Namen der Kongregationisten der Mission mit dem Prieuré SaintLizare ab; jetzt werden dort auch »die durch Befehl seiner Majestät ^gehaltenen Personen« aufgenommen. Der Orden der Guten Söhne -otfnet Hospitäler dieser A r t im Norden Frankreichs. Die Barmheriier; Brüder, 1602 nach Frankreich gerufen, gründen zunächst die îarité in Paris im Faubourg Saint-Germain, dann Charenton, wo ich am 10. Mai 1645 niederlassen.118 Nicht weit von Paris unter! alten sie die Charité von Senlis, die am 27. Oktober 1670 eröffnet . rden ist."' Einige Jahre zuvor hatte ihnen die Herzogin von Bouiln Gebäude und Ersparnisse des Leprosoriums, das im vierzehnten hrhundert von Thibaut de Champagne in Château-Thierry gegrünv et vorden war, geschenkt.'30 Sie leiten auch die Charité von Saintn. die von Pontorson, von Cadillac, von Romans.' 31 1699 gründedie Lazaristen in Marseille das spätere Hôpital Saint-Pierre. Im tzehnten Jahrhundert sind es dann Armentieres (1712), MaréMlle (1714), Bon Sauveur in Caen (1735); Saint-Meins in Rennes "de kurz vor der Revolution ( 17 8 o) eröffnet. Sinn und der Status dieser eigenartigen Einrichtung sind oft diwer zu definieren. Viele werden, wie man sehen konnte, noch von aosen Orden bewirtschaftet; dennoch finden sich darin mitunter ... isst; Laienassoziationen, die das Leben und die Kleidung der Kon. tionen nachahmen, aber nicht dazugehören.' 32 In den Provinzen .1er Bischof rechtmäßiges Mitglied des Bureau général; aber der
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r "ben erwähnte Hirtenbrief des Erzbischofs von Tours zeigt, daß die Kirche usschluß Widerstand bietet und für sich die Ehre beansprucht, die ganze inspiriert und die ersten Modelle dafür vorgeschlagen zu haben, uirol- Mémoire historique et statistique sur la Maison royale de Charenton, 1. A. O.. Bd. II. ne Bonnafous-Sérieux, La Charité de Senlis, Paris 1936. Tardif- La Charité de Château-Thierry, Paris 1939. Hospital von Romans wurde mit dem Material aus dem Abbruch des Uli von Voley gebaut. V g l . J.-A. Chevalier, Notice historique sur la 'de Voley près Romans, Romans 1870, S. 62 ; und das Dokument 64. .rifft in der Salpêtrière zu, w o die »Sdiwestern« nur »Mädchen oder junge t Kinder und geschäftlidie Belastungen« sein dürfen.
Klerus hat darin keineswegs die Mehrheit, die Leitung liegt stets bei Bürgerlichen.133 Trotzdem wird in fast jedem dieser Häuser ein nahezu klösterliches Leben geführt, markiert durch Bibellesungen, Gottesdienste, Gebete, Meditationen: »Man betet morgens und abends gemeinsam in den Schlafsälen, und zu verschiedenen Tageszeiten werden fromme Übungen, Gebete und Lesungen zur geistigen Erbauung gemacht.«134 Noch mehr: diese Hospize, die zugleich eine Rolle der Fürsorge und der Repression erfüllen, haben zur Aufgabe, den Armen zu helfen, enthalten aber zugleich nahezu alle Kerkerzellen und Zwangsquartiere, in denen Menschen eingeschlossen werden, deren Pension der König oder die Familie bezahlen: »Niemand, gleich welchen Ansehens oder unter welchem Vorwand, wird in die Zuchthäuser der frommen Brüder der Charité gelassen, es sei denn, er wird durch königlichen oder richterlichen Befehl eingeliefert.« Sehr oft werden diese neuen Internierungshäuser innerhalb der Mauern der alten Leprosorien eingerichtet, deren Güter auch an sie übergehen, sei es durch günstige kirchliche Entscheidungen·3* oder infolge königlicher Dekrete vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts.'3fi Aber sie werden auch aus öffentlichen Mitteln unterhalten, aus königlichen Stiftungen und Anteilen der Bußgelder, die die Schatzkammer einnimmt. 137 In diesen Institutionen mischen sich so - oft nicht ohne Konflikte - die alten Privilegien der Kirche in der Armenhilfe und den Bräuchen der Hospitalität und die bürgerliche Sorge, Ordnung in die Welt des Elends zu bringen; der Wunsch zu helfen und das Verlangen nach Repression; die Pflicht zur Nächstenliebe und der Wille zu strafen: eine völlig zweideutige Praxis, deren Sinn es zu entschlüsseln gilt, der ohne Zweifel von diesen Leprosorien, die seit der Renaissance leergestanden haben und im siebzehnten Jahrhundert plötzlich wieder in Gebrauch genommen und mit obskuren Rechten ausgestattet werden, symbolisiert wird. Die Zeit der französischen Klassik hat die Inter133 In Orléans gehören dazu »der Herr Bisdiof, der Polizeichef, fünfzehn Per., nen, von denen drei Kleriker und zwölf bedeutende Einwohner, sowohl Beamte al auch wohlhabende Bürger und Händler sind«. Vgl. Règlements et statuts de l'Hopita général d'Orléans, Orléans 1692, S. 8-9. 134 Antworten auf die Fragen der Krankenhausverwaltung hinsichtlich der Sa! pêtrière, 1790; Archives nationales, F 15, 1861. 135 Dies ist in Saint-Lazare der Fall. 136 1693-1695. Vgl. oben, Kapitel 1. 137 Die Charité in Romans wurde zum Beispiel durdi die Aumônerie générale r gründet und dann den Barmherzigen Brüdern überlassen. 1740 kam sie schlie lieh zum Hôpital général.
nierung erfunden, etwa wie das Mittelalter die Absonderung der Leprakranken erfunden hat. Der Platz, den die Leprakranken geräumt haben, wird in Europa von neuen Personen, den »Internierten«, eingenommen. Das Leprosorium hatte nicht nur einen rein medizinischen Sinn gehabt; diese Verbannung in einen verdammten Raum hatte auch andere Funktionen. Auch die keinesfalls harmlose Geste des Internierens hat politische, soziale, religiöse, wirtschaftliche und moralische Bedeutungen, die sicherlich bestimmte wesentliche Strukturen des gesamten Lebens in der Zeit der französischen Klassik betreffen. Dieses Phänomen hat nämlich europäische Ausmaße. Die Errichtung der absoluten Monarchie und das starke Wiederaufleben des katholischen Glaubens in der Gegenreformation haben ihm in Frankreich einen ziemlich besonderen Charakter gegeben, den der Konkurrenz und zugleich der Komplizität zwischen Staat und Kirche. 1 ' 8 In anderen Ländern vollzieht sich die Internierung in anderen Formen, läßt sich aber für die gleiche Epoche nachweisen. Die großen Hospize, die Internierungshäuser, kirchliche und öffentliche Einrichtungen, solche der Hilfe und der Bestrafung, des Mitleids und der königlichen Absicherung sind ein Werk der Zeit der französischen Klassik; genaur o universal wie sie und fast zur gleichen Zeit entstanden. In den deutschsprachigen Gebieten schafft man die Zuchthäuser, deren erstes vor der Einrichtung der französischen Internierungshäuser (die Charité in Lyon ausgenommen) gegründet wird; es wird gegen 1620 in Hamburg eröffnet.13» Die anderen entstehen in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts: Basel (1667), Breslau (1668), Frankfurt (1684), Spandau (1684), Königsberg (1691). Im achtzehnten lahrhundert vermehrt sich ihre Zahl: Leipzig (1701), dann Halle ind Kassel (1717 und 1720), später Brieg und Osnabrück (1756) jnd schließlich Torgau (1771).* 4 ° in England liegen die Anfänge der Internierung früher. Ein Erlaß jd <575, der gleichzeitig »die Bestrafung der Vagabunden und die . nterstützung der Armen« betraf, schreibt die Errichtung von houses ' correction vor, wovon jede Grafschaft mindestens eines haben soll. Ein gutes Beispiel dafür ist die Gründung von Saint-Lazare. Vgl. P. Collet, le -airtt Vincent de Paul, 3 vols., Paris 1818, Bd. I, S. 292-313. Oie Anstaltsordnung wurde wenigstens im Jahre 1622 veröffentlicht. •VI. Heinrich B. Wagnitz, Historisdie Nachrichten und Bemerkungen über die vurdigsten Zuchthäuser in Deutschland. Nebst einem Anhange über die zweckte Einrichtung der Gefängnisse und Irrenanstalten, Halle 1791-1794.
Ihre Unterhaltung soll durch Steueraufkommen gesichert werden, aber die Bevölkerung wird aufgefordert, auch freiwillige Spenden zu leisten.'41 Jedoch scheinen diese Maßnahmen in dieser Form nie in Anwendung gekommen zu sein, denn einige Jahre später wird die Zulassung von Privatunternehmen beschlossen: es ist nicht länger erforderlich, eine offizielle Erlaubnis zur Eröffnung eines Hospitals oder einer Besserungsanstalt zu haben: jeder kann nach eigenem Gutdünken handeln.' 42 Nach einer allgemeinen Reorganisation am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts wird jeder Friedensrichter mit einer Strafe von fünf Pfund belegt, der im Bereich seiner Rechtshoheit nichts dergleichen eingerichtet hat. Es besteht die Verpflichtung, Gewerbe, Werkstätten, Manufakturen (Mühlen, Spinnereien, Webereien) einzurichten, die den Insassen Arbeit und Unterhalt gewähren: dem Richter obliegt die Entscheidung, wer dort zu wirken verdient.'43 Die Entwicklung dieser bridewells ist nicht sehr beträchtlich: oft werden sie allmählich von den Gefängnissen, zu denen sie gehören. absorbiert' 44 ; nicht einmal bis Schottland konnte sich diese Form ausdehnen 14 '. Dagegen waren die workhouses weiter verbreitet. Sie stammen aus der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts.' 40 Ein Erlaß von 1670 legt ihren Status fest, beauftragt richterliche Beamte, die Einnahmen der Steuern und die Verwaltung der Summen, die ihrer Unterhaltung dienen, zu überwachen, und überträgt dem Friedensrichter die höchste Kontrolle ihrer Verwaltung. 1697 verbinden sich verschiedene Gemeinden von Bristol, um das erste workhousc Englands zu schaffen und die Korporation zu bestimmen, die es leiten soll.'47 Ein anderes workhouse wird 1703 in Worcester errichtet, ein drittes im gleichen Jahr in Dublin.' 48 Darauf folgen Plymouth, Norwich, Hull und Exeter. A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts beläuft sich ihre Zahl auf insgesamt 126. Die Gilbert's Act von 1792 bietet den Gemeinden alle Erleichterungen, neue einzurichten; gleich 141 George Nicholls, A History of the English Poor Law (2 vols., London i8f« 3 vols., London 1898-1899, Bd. I, S. 167-169. 142 39. Elisabeth I, cap. 5. 143 Nicholls, a . a . O . , S . 228. 144 John Howard, États des prisons, des hôpitaux et des maisons de force, 2 vol Paris 1788, Bd. I, S. 17; ursprünglich englisch, London 1777. 145 Nicholls, History of the Scotch Poor Law, London i8jfi, S. 85-87. 146 Obwohl ein Beschluß von 1624 (21. James I, cap. 1) die Einrichtung ' working-houses vorsieht. 147 Nicholls, A History of the English Poor Law, Bd. I, S. 3 $3. 148 Nidiolls, History of Irish Poor Law, London 1856, S. 35-38.
zeitig werden Kontrolle und Autorität des Friedensrichters verstärkt; damit sich die workhouses nicht in Krankenhäuser verwandeln, werden nach einer Empfehlung alle von einer ansteckenden Krankheit Befallenen verjagt. Nach einigen Jahren überzog ein ganzes N e t z Europa. A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts versucht John Howard, ihm nachzuspüren; durch England, Holland, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien pilgert er zu allen bedeutenden Internierungszentren - »Hospitälern, Gefängnissen, Zuchthäusern« - , und seine Philanthropie bringt ihn zur Entrüstung darüber, daß man hinter denselben Mauern nach allgemeinem Recht Verurteilte, Jugendliche, die die Ruhe ihrer Familie störten oder deren Vermögen verschleuderten, Vagabunden und Geisteskranke gefangenhalten kann. Das beweist, daß bereits zu dieser Zeit eine gewisse Evidenz verloren gegangen ist, die mit so hastiger Spontaneität in ganz Europa jene Ordnungskategorie der Zeit der französischen Klassik, die die Internierung darstellt, hatte entstehen lassen. In einhundertfünfzig Jahren ist die Internierung mißbräuchlich zum Amalgam heterogener Elemente geworden. Ursprünglich jedoch muß eine Einheit bestanden haben, die ihre Dringlichkeit rechtfertigte; zwischen diesen verschiedenen Formen und der Zeit der französischen Klassik, die sie hervorgerufen hat, muß es ein Kohärenzorinzip geben, das man nicht durch den Hinweis auf die aufsehenerregende vorrevolutionäre Sensibilität beiseite schieben kann Weih e Realität repräsentierte also diese ganze Bevölkerung, die beinahe von einem Tag zum anderen eingeschlossen und strenger verbannt wurde als die Leprakranken? Vergessen wir nicht, daß wenige Jahre nach seiner Gründung allein das Hôpital général in Paris 6000 Personen. das heißt ungefähr 1 %> der Bevölkerung enthielt. 14 ' In aller Verdiwiegenheit und wahrscheinlich im Laufe langer Jahre mußte sich eine soziale Empfindsamkeit gebildet haben, die der ganzen europäihen Zivilisation eigen war und die in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts plötzlich die Schwelle, jenseits derer sie sich zu rkennen gab, erreicht hatte. Durch sie wurde plötzlich diese KategoGemäß der Deklaration vom 12. Juni 1662 »logieren und ernähren« die Direk.1 Jes Hôpital général in Paris »in den fünf Häusern des Hôpital mehr als 6000 n e n Z i t i e r t bei Léon Lallemand, Histoire de la Charité, 4 vols., Paris 1902 -12. Bd. 4, S. 161. - In jener Zeit überschritt die Bevölkerungsziffer von Paris ialbe Million. Für den geographischen Raum, innerhalb dessen sidi unsere Unterunr bewegt, ist dieses Verhältnis ungefähr während der ganzen klassischen iie eleich geblieben.
rie, die die Internierungsorte zu füllen bestimmt war, isoliert. Man hat ein ganzes, in unseren Augen seltsam gemischtes und zusammengewürfeltes Volk bestimmt, die seit langem von den Leprakranken verlassenen Flächen zu bewohnen. Indes, was für uns lediglich undifferenzierte Sensibilität ist, war mit Sicherheit für den Menschen in jener Zeit eine klar gegliederte Perzeption. Diese Perzeptionsweise müssen wir untersuchen, um zu erfahren, welcher A r t die Sensibilität einer Epoche gegenüber dem Wahnsinn war, die man gewöhnlich durch die Privilegien der Vernunft definiert. Die Geste, die ihr durch die Abgrenzung des Internierungsraumes die Möglichkeit der Ségrégation übereignet und dem Wahnsinn eine neue Heimat bezeichne! hat, ist, so kohärent und einhellig sie auch sein mag, keineswegs einfach. In einer vielschichtigen Einheit schafft sie eine neue Sensibilität gegenüber dem Elend und den Pflichten der Fürsorge, neue Reaktionsformen gegenüber wirtschaftlichen Problemen wie Arbeitslosigkeit und Müßiggang, eine neue Arbeitsmoral und zudem den Traum eine; Stadt, in der durch die autoritären Formen des Zwanges die moralische Verpflichtung mit dem bürgerlichen Recht zusammenfiele. Dur· kel sind diese Themen beim Bau der Internierungsstätten und ihre; Organisation präsent und geben diesem Ritual den Sinn. Sie erkläre· zum Teil, auf welche A r t der Wahnsinn in der Zeit der französische' Klassik perzipiert und erlebt wird. Diese massive Erscheinung der Internierung, deren Zeichen man im siebzehnten Jahrhundert in ganz Europa findet, ist eine Angelegenheit der »Polizei« »Polizei« hat hier den präzisen Sinn, den man der Wort in der Zeit der französischen Klassik gibt: die Gesamtheit der Maßnahmen, die die Arbeit für diejenigen, die nicht ohne sie leber können, möglich und notwendig machen. Die Zeitgenossen Colber stellten bereits die Frage, die Voltaire bald formulieren sollte: Se' ihr euch in einem Volk zusammengetan habt, verfügt ihr noch nich über das Geheimnis, alle Reichen zu zwingen, alle Armen für sich a beiten zu lassen? Ihr seid also noch nicht einmal bei den Prinzipii der >Polizei< angelangt.« 1 ' 0 Bevor sie den medizinischen Sinn hatte, den wir ihr geben oder zumindest gerne unterstellen, war die Internierung durch etwas völ! anderes als die Sorge, zu heilen, erforderlich geworden. Ein Zwa" zur Arbeit machte sie notwendig. Unsere Philanthropie möchte lieb. 150 Voltaire, Œuvres complètes (Garnier-Ausgabe), Bd. X X I I I , S. 377.
deichen der Aufmerksamkeit gegenüber der Krankheit sehen, wo sich lediglich die Verurteilung des Müßigganges abzeichnet, kommen wir zu den ersten Augenblicken der »Gefangenschaft« und ;u jenem königlichen Edikt vom 27. April 1656 zurück, das zur Schaffung des Hôpital général führte. Von Anfang an war dem Hospital die Aufgabe gestellt, »Bettelei und Müßiggang als Quellen jeglicher Unordnung« zu verhindern. Tatsächlich war dies die letzte große Maßnahme seit der Renaissance, um der Arbeitslosigkeit oder zumindest der Bettelei ein Ende zu bereiten.1 Das Parlament von Paris hatte 1532 beschlossen, die Bettler festnehmen zu lassen und sie zur irbeit in den Kloaken von Paris zu zwingen, wobei man sie zu zweit "kettete. Die Krise verschärfte sich, denn am 23. März 1534 wurde len armen Scholaren und Bedürftigen« der Befehl gegeben, die Stadt ai verlassen, außerdem das Verbot ausgesprochen, »künftig vor den Heiligenbildern in den Straßen Hymnen zu s i n g e n « . D i e Religionskriege vervielfachen diese verdächtige Menge, in der sich von ihrem ind vertriebene Bauern, entlassene Soldaten oder Deserteure, Ar.itslose. arme Studenten und Kranke befinden. Als Henri I V Paris lagert, enthält diese Stadt bei weniger als 100000 Einwohnern hr als 30 000 Bettler. 1 " Ein wirtschaftlicher Wiederaufschwung am , f ang des siebzehnten Jahrhunderts hat den Beschluß zur Folge, aicht wieder in die Gesellschaft integrierten Arbeitslosen gewaltm resorbieren. Ein Beschluß des Parlaments aus dem Jahre 1606 Λ vor, die Bettler auf einem öffentlichen Platz auszupeitschen, sie einem Brandmal an der Schulter zu zeichnen und sie kahlgeschoius der Stadt zu jagen. U m sie an der Rückkehr zu hindern, ert (607 eine Verfügung zur Stationierung von Bogenschützenkom•'-er an den Stadttoren, die allen Mittellosen den Eintritt in die - it verwehren sollen. 1 « Sobald durch die Auswirkungen des DreiK geistlicher Sicht wurde das Elend am Ende des sechzehnten und am Anfang bzehnten Jahrhunderts als eine Drohung der Apokalypse aufgefaßt. »Eines «liebsten Zeichen des baldigen Erscheinens des Sohnes Gottes und des Endes slt :>t Jas extreme weltliche und geistliche Elend, in das die Welt gestürzt ist. r dilediten Zeit ( . . . ) mit der Fülle der Fehler hat sich das Elend vervielund Jie Mühsal ist der untrennbare Schatten der Schuld, die die Menschen eladen haben.« Jean-Pierre Camus, De la mendicité légitime des pauvres Oouay 1634, S. 3-4. . Lielamare. Traité de Police, 4 vols., Paris 1738, Bd. I, S. 637 ff.
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rhomas Platter, Description de Paris (15 $9), veröffentlicht in den Mémoi'ciéte de Γ Histoire de Paris (1899). nidi- Maßnahmen gab es in der Provinz. Grenoble hat zum Beispiel seinen . UiUi . der die Straßen durchstreift und die Vagabunden verjagt.
ßigjährigen Krieges die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung nachläßt, stellen sich die Probleme des Bettlertums und des Müßigganges erneut. Bis zur Mitte des Jahrhunderts hindern die regulären Steuererhöhungen die Manufakturen, und die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Die Folge waren die Aufstände in Paris (1621), Lyon (1652) und Rouen (1639). Durch das Entstehen neuer ökonomischer Strukturen zerbrechen zur gleichen Zeit die Organisationsformen der Lohnabhängigen. In dem Maße, wie sich die großen Manufakturen entwikkeln, verlieren die Handwerkervereinigungen ihre Macht und Rechte, die »Reglements généraux« untersagen jede Arbeiterversammlung, jede Liga, jede »Assoziation«. In vielen Berufen bilden sich jedoch neue Vereinigungen 1 "; sie werden verfolgt, aber die Parlamente zeigen, so scheint es, eine gewisse Mattigkeit. Das Parlament der Normandie erklärt sich als nicht kompetent, die Aufrührer von Rouen zu verurteilen. Wahrscheinlich greift deshalb die Kirche ein und beschuldigt die geheimen Arbeiterorganisationen der Zauberei. Ein Dekret der Sorbonne erklärt 1655, alle zu diesen bösen Gemeinschaften Gehörigen machten sich »des Gottesfrevels und der Todsünde schuldig«. In diesem stummen Konflikt zwischen der kirchlichen Strenge und der Nachsicht der Parlamente hat offensichtlich die Einrichtung des Hôpital général, jedenfalls anfangs, einen Sieg der Parlamente bedeutet. Eine neuartige Lösung ist es auf jeden Fall; zum ersten Mal ersetzt man die rein negativen Ausschlußmaßnahmen durch eine Internierungsmaßnahme; der Arbeitslose wird nicht mehr verjagt oder bestraft; man nimmt sich seiner auf Kosten der Nation und zu Lasten seiner persönlichen Freiheit an. Implizite ergibt sich zwischen ihm und der Gesellschaft ein System von Verpflichtungen: er hat einen Anspruch, ernährt zu werden, muß aber den physischen und moralischen Zwang der Internierung auf sich nehmen. Die folgende etwas undifferenzierte Masse wird von dem Edikt von 1656 betroffen: eine Bevölkerung ohne Einkünfte, ohne gesellschaft liehe Bindungen, eine sich selbst überlassene Klasse, die vielleicht aud. für einige Zeit durch die neue wirtschaftliche Entwicklung in Bewegung geraten ist. Nicht einmal zwei Wochen nach der Unterzeichnung wird das Edikt in den Straßen verlesen und verkündet. Paragraph neun lautet: »Wir verbieten ausdrücklich allen Personen, gleich we1 155 Insbesondere die Arbeiter des Papier- und Druckereigewerbes. Vgl. beispie1 weise den T e x t aus den Archives départementales de l'Hérault, der zitiert ist bei Germain Louis Martin, La Grande Industrie sous Louis XIV, Paris 1899, S. 89.
chen Geschlechts, wie alt und woher, welcher Abkunft und welchen Standes sie auch sein mögen, seien sie Invaliden oder nidit, krank oder gesund, heilbar oder unheilbar, in der Stadt und den Faubourgs von Paris, ebenso wie in den Kirchen und vor deren Toren, an Haustüren und auf den Straßen oder an anderen öffentlichen Stellen bei Tage oder Nacht zu betteln ( . . . ) . Bei Zuwiderhandlung droht Auspeitschung beim ersten Mal, beim zweiten Mal für Männer und Knaben die Galeeren, für Frauen und Mädchen die Verbannung.« A m folgenden Sonntag, dem 13. Mai 1657, wird in der Kirche Saint-Louis de la Pitié eine Heilige Messe zu Ehren des Heiligen Geistes gesungen; am Montag, dem 14., beginnt die Miliz, die in der Mythologie der Ängste des Volkes die »Häscher vom Hôpital« werden sollte, morgens die Jagd auf die Bettler und pfercht sie in die verschiedenen Gebäude des Hôpital. Vier Jahre später birgt die Salpêtrière 1460 Frauen und Kleinkinder; in der Pitié sind 98 Knaben, 897 Mädchen zwischen sieben und siebzehn Jahren und 95 Frauen; in Bicêtre 1615 erwachsene Männer; in der Savonnerie 305 Knaben zwischen acht und dreizehn Jahren; in Scipion bringt man die Schwangeren, die Ziehmütter und die Kleinstkinder unter, insgesamt 530. Verheiratete, selbst wenn sie bedürftig sind, werden anfangs nicht aufgenommen. Die Administration soll sie zu Hause ernähren; bald aber kann man sie mit Hilfe einer Schenkung Mazarins in der Salpêtrière unterbringen. Ihre Zahl beläuft sich auf fünf- bis sechstausend. Wenn wir von der anfänglichen Situation ausgehen, hat die Internierung in ganz Europa die gleiche Bedeutung. Sie ist eine der Antworten, die man im siebzehnten Jahrhundert einer ökonomischen Krise •dbt, die ganz Europa trifft: Sinken der Löhne, Arbeitslosigkeit, Geldmangel, all diese Tatsachen haben wahrscheinlich ihre Ursachen in dner spanischen Wirtschaftskrise. 1 ! 4 Aber auch England, obwohl von illen westeuropäischen Ländern am wenigsten vom System abhängig, muß die gleichen Probleme lösen. Trotz aller Maßnahmen zur Verhinderung der Arbeitslosigkeit und des Sinkens der Löhne 1 " steigt Jic Armut im Lande unaufhörlich. 1622 erscheint ein Pamphlet GrieNadi Earl Jefferson Hamilton, American Treasure and the Price Revolution : ^vain ifoi—i6jo, Cambridge (Mass.) 1934, sind die Schwierigkeiten in Europa Anfang des siebzehnten Jahrhunderts der Einstellung der Minenarbeit in •erika zuzuschreiben. ÎV7 ' James X, cap 4: die Friedensrichter sollen die Löhne festsetzen »for any Übe arers, weavers, spinners and workmen and workwomen whatsoever, either "Ving by the day, week, month, or year«. V g l . Nicholls, a. a. O., Bd. I, S. 209.
vious groan for tbe Poor, das Thomas Dekker zugeschrieben wird, worin er die Gefahr, unterstreicht und die allgemeine Sorglosigkeit anprangert: »Obgleich die Zahl der Armen täglich steigt, verschlechtern sich die Hilfsmaßnahmen auf schlimmste Weise; (. ..) viele Gemeinden stiften ihre Armen oder die Arbeitsfähigen, aber -unwilligen zur Bettelei, Beutelschneiderei und zum Diebstahl an, so daß das ganze Land davon verpestet ist.«' 18 Man fürchtet, sie würden daganze Land verstopfen; da sie nicht wie auf dem Kontinent die Möglichkeit haben, von einem Land in das andere zu wechseln, nimmi man sich vor, sie »zu verbannen und in die neuerdings gefundenen Länder, nach Ost- und Westindien zu transportieren«.'*9 1630 setzt der König eine Kommission ein, die die strenge Anwendung der di< Armen betreffenden Gesetze überwachen muß. Sie veröffentlicht im gleichen Jahr eine Serie von »Anordnungen und Vorschriften«; Betr1er und Vagabunden sollen energisch verfolgt werden, außerdem »alle, die in Muße leben und nicht für vernünftigen Lohn arbeite·· wollen oder das, was sie haben, in Tavernen ausgeben«. Sie soller gemäß den Gesetzen bestraft und in die Besserungsanstalten gebrachwerden. Diejenigen, die Frau und Kinder haben, sollen überprüf werden, ob sie verheiratet, ihre Kinder getauft sind, »denn diese Menschen leben wie Wilde, ohne verheiratet, begraben, getauft zu sein und diese ausgelassene Freiheit ist schuld daran, daß so viele Mersehen Gefallen am Vagabundieren finden.«'60 Trotz der Erholung die sich in England in der Jahrhundertmitte bemerkbar macht, ist d< Problem unter Cromwell noch immer existent, denn der Lord May"· beklagt sich über »dieses Gewürm, das sich in der Stadt aufhäuft, d öffentliche Ordnung stört, die Wagen umlagert, vor Kirchen und Pi vathäusern mit lautem Geschrei Almosen erbettelt«.' 6 ' Noch lange Zeit dienen die Besserungsanstalten und die Gebäude d Hôpital général zur Unterbringung der Arbeitslosen, Müßiggang und Vagabunden. Bei Ausbruch jeder Krise und jedem steilen Anst. gen der Zahl der Unbeschäftigten erfüllen die Internierungshäus :r wenigstens für einige Zeit ihre ursprüngliche ökonomische Bedeutunt In der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gibt es eine neue grul 158 Zitiert bei Nicholls, a. a. O., Bd. I, S. 245. 159 A . a . O . , B d . I , S . 2 1 2 . 160 Frederick Morton Eden, The State of the Poor, or an History of the Labour. Classes in England, 3 vols., London 1797, Bd. I, S. 160. ι ί ι Ε. M. Leonard, The Early History of English Poor Relief, S. 270.
Cambridge 19:
krise: 12000 bettelnde Arbeiter in Rouen, ebensoviele in Tours; in Lyon schließen die Manufakturen. Der Graf d'Argenson, »der das département von Paris und die berittenen Polizeitruppen unter sidi hat . gibt den Befehl, »alle Bettler im Königreich zu verhaften; die berittene Polizei handelt solchermaßen auf dem Lande, während man ρ Paris, wo sie wegen der Einkreisung nidit entweichen können, .benso verfährt«. 1 ' 2 iber außerhalb der Krisenzeiten gewinnt die Internierung einen anderen Sinn. Ihre repressive Funktion wird durch eine neue Nützlichs t ergänzt. Es geht nicht mehr darum, die Arbeitssdieuen einzusper.n. sondern darum, den Eingesperrten Arbeit zu geben und sie so in 1er Dienst der allgemeinen Prosperität zu stellen. Folgende Alteritive stellt sidi klar: billige Arbeitskräfte in den Zeiten der Vollbehärtigung und der hohen Löhne; in Zeiten der Arbeitslosigkeit je.lodi Resorption der Müßiggänger und Schutz der Gesellschaft gegen Agitation und Aufstände. Wir dürfen nicht übersehen, daß die ersten Hcmierungshäuser in England an den industrialisiertesten Punkten Landes entstehen: Worcester, Norwich, Bristol; daß das erste Hôpital général in Lyon vierzig Jahre vor dem in Paris eröffnet rd"'; und daß Hamburg als erste aller deutschen Städte sein Zuchtiui icit 1620 hat. Die 1622 veröffentlichte Anstaltsordnung ist sehr azis. Die Internierten müssen alle arbeiten. Von dem genau errechun Wert ihrer Arbeit erhalten sie ein Viertel. Die Arbeit ist nämnidit nur eine Beschäftigung, sie soll produktiv sein. Die acht Antsdirektoren erarbeiten einen allgemeinen Plan. Der Werkmeister .•.:>·• ledem eine spezielle Aufgabe und muß am Ende der Woche fest;n, ob sie wohl verrichtet worden ist. Bis zum Ende des achtzehnjahrhunderts bleibt die Arbeitsvorschrift in Anwendung, denn ιτά kann noch feststellen, daß »sie spinnen, Strümpfe wirken, lt. Haar, Leinen weben, Hirschhorn und Färbeholz raspeln. Das '.mes kräftigen Mannes, der dieses Holz raspelt, beträgt 45 Pfund Fae. Einige Männer und Pferde sind an einer Walkmühle beschaffen Schmied ist den ganzen Tag bei der Arbeit, β'' 4 Jedes Inter"
-Louis d'Argenson, Journal et Mémoires, 3 vols., Paris 1853-1867, Bd. V I , : i'..November 1749). itcr ziemlich charakteristischen Bedingungen: »Eine Hungersnot hatte eine \rmcr auf Schiffen hierher gelangen lassen, die die benachbarten Provinzen hr ernähren konnten.« Die großen Industriellenfamilien - vor allem die ιίπ - machen Schenkungen. Vgl. Statuts et règlements de l'Hôpital général •ante et Aumône générale de Lyon, Lyon 174a, S. v i i - v m . ard. a.a.O., Bd. I, S. 154f.
nierungshaus in Deutschland ist irgendwie spezialisiert; in Bremen, Braunschweig, München, Breslau, Berlin wird vor allem gesponnen, in Hannover gewebt. In Bremen und Hamburg raspeln die Männer Holz. In Nürnberg werden optische Gläser geschliffen, und in Mainz wird hauptsächlich Mehl gemahlen.,6> Die ersten bouses of correction werden in England in einer Zeit stärkster ökonomischer Rezession eröffnet. Das Dekret von 1610 empfiehlt lediglich, allen Zuchthäusern Mühlen, Webereien und Werkstätten zum Kardätschen hinzuzufügen, um die Insassen zu beschäftigen. Jedoch wird aus der moralischen Forderung eine wirtschaftliche Taktik, als Handel und Industrie sich nach I 6 J I entwickeln, weil durch die Navigationsakte und die Senkung des Diskontsatzes sich die wirtschaftliche Situation wieder gefestigt hat. Man versucht, alle menschliche Arbeitskraft so gut wie möglich, das heißt so billig wie möglich zu benutzen. Als John Carey sein Projekt des workhouse in Bristol entwickelt, setzt er die Dringlichkeit der Arbeit an erste Stelle: »Die Armen beiderlei Geschlechts und jeden Alters können als Hanfhechler, zur Flachsbearbeitung und -Spinnerei, zum Kardätschen und Spinnen der Wolle benutzt werden.«' 66 In Worcester stellt man Kleider und Stoffe her; eine Werkstatt für Kinder wird eingerichtet. Oft treten dabei auch Schwierigkeiten auf. Man will die Arbeitshäuser von den lokalen Industrien und Märkten profitieren lassen und glaubt s ielleicht, daß diese billige Produktion als Regulativ der Verkaufspreise wirken könne, aber die Manufakturen protestieren.'6" Danie' Defoe bemerkt, daß durch diese zu leichte Konkurrenz der workhoi·ses in einem bestimmten Gebiet Armut geschaffen wird unter den1 Vorwand, sie anderswo zu beseitigen: »Man gibt den einen, was mar den anderen nimmt, setzt einen Vagabunden an die Stelle eines anständigen Mannes und zwingt diesen, sich eine andere Arbeit zu suchen, um seine Familie zu unterhalten.« ,6S Angesichts dieser Konkur renzgefahr lassen die Behörden die Arbeit allmählich verschwinde'· Die Insassen können ihren Unterhalt selbst nicht mehr verdienen, daß sie mitunter ins Gefängnis gebracht werden müssen, damit wenigstens das Brot umsonst erhalten. Es gibt nur wenige bridewe. »in denen gearbeitet wird oder werden kann. Die darin Eingeschlos 165 A . a. O . , Bd. I, S. 136-206. i6£ Zitiert bei Nicholls, a . a . O . , Bd. I, S. 353. 167 So m u ß sidi das Arbeitshaus in Worcester verpflichten, alle darin hergestell Kleidungsstücke, die nicht von den Insassen getragen werden, weit f o r t z u verkau 168 Zitiert bei Nicholls, a. a. O . , Bd. I, S. 367.
nen haben weder Material noch irgendein Werkzeug. Dafür leben sie in Nichtstuerei und Ausschweifung.« 16 ' Bei der Gründung des Hôpital général in Paris dachte man vor allem an die Beseitigung der Bettelei, mehr als an die Beschäftigung der Internierten. Dennoch scheint es, als habe Colbert wie seine englischen Zeitgenossen in der Unterstützung durch Arbeit zugleich ein Heilmittel der Arbeitslosigkeit und ein Stimulans der Manufakturen gesehen.170 Jedenfalls müssen in der Provinz die Intendanten darauf achten, daß die Armenhäuser eine gewisse wirtschaftliche Bedeutung haben. »Alle Armen, die arbeitsfähig sind, müssen an Werktagen das zur Vermeidung des Müßigganges, der der Ursprung allen Übels ist, Nötige verrichten, sich an die Arbeit gewöhnen und einen Teil ihrer Nahrung verdienen.« 17 ' Manchmal gibt es sogar Übereinkünfte, die es privaten Unternehmern gestatten, die Arbeitskräfte der Asyle für ihren Profit zu benutzen. In einem 1708 geschlossenen Vertrag wird zum Beispiel vereinbart, daß ein Unternehmer der Charité in Tulle Wolle, Seife, Kohle stellt und daß sie ihm dagegen kardätschte und gesponnene Wolle liefert. Der gesamte Verdienst wird zwischen Unternehmer und Hospital geteilt.' 72 In Paris selbst wird mehrmals der Versuch unternommen, die großen Gebäude des Hôpital général in Manufakturen zu verwandeln. Wenn man den 1790 erschienenen Memoiren eines Unbekannten glauben kann, wurden in der Pitié alle Arten der Manufaktur, die die Hauptstadt bieten kann«, veriudit; schließlich »kommt man in einer Art Verzweiflung zu Arbeiten tu:. Schnürwerk als den billigsten«.' 73 Solche Versuche sind andernorts kaum fruchtbarer. In Bicêtre werden viele Versuche unternomnitn: Garn- und Seilmanufaktur, Spiegelpoliererei, vor allem aber .1er berühmte »große Brunnen«.' 74 Im Jahre 1781 kommt man sogar ut den Gedanken, Gefangenengruppen anstelle der Pferde das Was.r hochziehen zu lassen, die sich von fünf Uhr morgens bis acht Uhr Huward, a. a. O., Bd. I, S. 8. t r rät der Abtei von Jumièges, den Unglücklichen "Wolle zum Spinnen zu geben : I- und Strumpfmanufakturen sind ein wunderbares Mittel, um Bettler arbeiten .n. Zitiert bei Martin, a. a. O., S. 225, Anm. 4. -allemand, a. a. O., Bd. I V , S. 539. " ; V'Ctor Forot, Etudes historiques. Un hôpital-hospice industriel aux XVII' et ' siècles, Tulle 1908, S. 16-17. (ilemand, a . a . O . , Bd. IV, S. 544, Anm. 18. . ver Architekt Germain Boffrand hatte 1733 den Plan eines riesigen Brunnens • ' .-η. Schnell erwies er sidi als unnütz, aber man setzte die Arbeit fort, um die tien zu beschäftigen.
abends in der Arbeit abwechseln: »Welches Motiv mag für die eigenartige Beschäftigung ausschlaggebend gewesen sein? Das der Ökonomie oder lediglich das der Notwendigkeit, die Gefangenen zu beschäftigen? Wenn es allein die notwendige Beschäftigung der Gefangenen ist, wäre es da nidit angebrachter, sie mit einer für sie und das Haus nützlicheren Arbeit zu beschäftigen? Falls es das Motiv der Ersparnis ist, so finden wir keine.«' 7 ' Während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts schwindet die wirtschaftliche Bedeutung, die Colbert dem Hôpital général hat geben wollen, fortwährend mehr. Aus dem Zentrum der Zwangsarbeit wird ein privilegierter Ort des Müßigganges. »Welchen Ursprung hat die Unordnung in Bicêtre?« fragen sich die Leute noch in der Französischen Revolution. Ihre Antwort ist die. die man schon im siebzehnten Jahrhundert gegeben hat: »Es ist der Müßiggang. Wie kann man dem abhelfen? Durch Arbeit.« In der Zeit der französischen Klassik wird die Internierung in einer zweideutigen Weise benutzt und muß eine Doppelrolle spielen: die Arbeitslosigkeit mindern oder wenigstens die augenscheinlichsten sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit vertuschen und die Kosten kontrollieren, wenn sie zu hoch zu steigen drohen; abwechselnd auf den Arbeitsmarkt und die Produktionskosten einwirken. Tatsächlich haben die Internierungshäuser wohl nicht die Rolle wirksam spielen können, die man von ihnen erwartete. Wenn sie die Arbeitslosen aufnahmen, so vor allem, um deren Elend zu verbergen und die sozialen oder politischen Nachteile ihrer Agitation zu vermeiden; sobald man sie aber den Stätten der Zwangsarbeit zuführte, erhöhte man die Arbeitslosigkeit in der Umgebung oder in ähnlichen Sektoren.1"'" Die Einwirkung auf die Preise konnte nur künstlich sein, denn der Marktpreis der so hergestellten Produkte stand in keinem Verhältnis zu den wirklichen Herstellungskosten, wenn man sie nach den durch die internierung verursachten Ausgaben berechnet. Wenn man sie an ihrem funktionalen Wert mißt, hat die Einrichtung von Internierungshäusem als Fehlschlag zu gelten. Ihr Verschwindcr. aus beinahe ganz Europa als Aufnahmezentren der Bedürftigen und Gefängnisse des Elends am Anfang des neunzehnten Jahrhundert 175 Louis Michel Musquinet de la Pagne, Bicêtre réforme. Etablissement d'une m. son de discipline, Paris 1784, S. 22. 176 Wie in England gab es solche Konflikte auch in Frankreich, etwa in Troycsein Prozeß zwischen »les maîtres et communautés de bonnetiers« und den Admi r stratoren der Hospitäler stattfand (Archives du département de l'Aube).
sanktionierte ihren endgültigen Mißerfolg als vorübergehendes und wirkungsloses Heilmittel, als von der aufkommenden Industrie ziemlich schlecht konzipierte soziale Vorsichtsmaßnahme. Dennoch machte die Zeit der französischen Klassik mit diesem Mißerfolg eine irreduzible Erfahrung. Was uns heute als ungeschickte Dialektik der Produktion und der Preise erscheint, besaß damals seine reale Bedeutung als ein bestimmtes ethisches Bewußtsein von Arbeit, worin die Schwierigkeiten der ökonomischen Mechanismen ihre Dringlichkeit zugunsten einer Wertbestätigung verloren. In dieser ersten Phase der industriellen Welt erscheint die Arbeit nicht als an Probleme gebunden, die sie selbst schafft; man perzipiert sie hingegen als allgemeine Lösung, unfehlbares Universalmittel, wenn es darum geht, irgendeine Form des Elends zu beseitigen. Arbeit und Armut werden in einfache Opposition gestellt; ihre jeweilige Ausbreitung verhielte sich in umgekehrtem Verhältnis der einen zur anderen. Was die ihr eigene Kraft, das Elend verschwinden zu lassen, .inbetrifft, so verdankt die Arbeit diese nach dem Denken jener Zeit nicht so sehr ihrer Produktivkraft wie einer gewissen moralischen Verzauberung. Die Wirksamkeit der Arbeit wird anerkannt, weil man rie auf ihre ethische Transzendenz gründet. Seit dem Sündenfall ist Jie Strafe der Arbeit zum Mittel der Buße und zur Möglichkeit der Erlösung geworden. Nicht ein Naturgesetz, sondern die Folge einer Verdammung zwingt den Menschen zur Arbeit. Die Erde ist unschuldig an dieser Sterilität, in der sie schlafend verharren würde, wenn 1er Mensch müßig bliebe: »Die Erde hatte nicht gesündigt, und wenn >e verdammt ist, so wegen der Arbeit des gefallenen Menschen, der t- bearbeitet; keine Frucht entreißt man ihr - insbesondere nicht die otwendigste - anders als durch Gewalt und mittels ununterbroche•-.i Arbeit..·1"" ! >ie Verpflichtung, zu arbeiten, ist mit keinem Vertrauen zur Natur rbunden; nicht einmal durch eine dunkle Treue muß die Erde die ihe des Menschen belohnen.Wie bei den Reformierten ist es bei den " itholiken ein konstantes Thema, daß die Erde ihre Früchte nicht von ?in hervorbringt. Ernte und Reichtum finden sich nicht als Schluß "er Dialektik der Arbeit und der Natur. Calvin ermahnt: »Glauben " nicht, daß infolge ihrer Wachsamkeit, ihrer Geschicklichkeit und -er Pflichterfüllung die Menschen die Erde fruchtbar machen kön' H
ucL, Élévations sur les mystères, VIe
semaine, 12e élévation,
. '-)isis par Henri Bremond, Paris 1913, Bd. III, S. 185.
in: ders.,
nen. Allein der Segen Gottes regelt alles.«1'8 Die Gefahr, daß die Arbeit fruchtlos bliebe, wenn Gott nicht in seiner Güte eingriffe, wird auch von Bossuet erkannt: »In jedem Augenblick kann die Hoffnung auf Ernte und die einzige Frucht all unserer Arbeiten uns entgehen; wir sind der Gnade des unbeständigen Himmels ausgesetzt, der auf die zarten Ähren regnen läßt.«' 7 ' Diese prekäre Arbeit, der die Natur niemals zu entsprechen gezwungen ist — außer auf besonderen Wunsch Gottes - , ist dennoch Pflicht in aller Strenge: nicht auf der Ebene natürlicher Synthesen, sondern auf der moralischer Synthesen. Der Arme, der, ohne bereit zu sein, die Erde »zu quälen«, Gottes Hilfe erwartet, weil dieser versprochen hat, die Vögel unter dem Himmel zu ernähren, wäre ungehorsam gegen den Satz der Bibel: »Du sollst nicht den Herrn, Deinen Gott versuchen.« Nicht arbeiten zu wollen, heißt das nicht, »über das Maß die Macht Gottes zu versuchen«?18" Das ist der Versuch, das Wunder zu erzwingen 181 , während das Wunder dem Menschen täglich als kostenlose Entlohnung für seine Arbeit gewährt wird. Falls tatsächlich die Arbeit nicht zu den Naturgesetzen gehört, findet sie sich wenigstens in die Ordnung der gefallenen Welt eingegliedert. Deshalb ist Müßiggang Revolte - in einem bestimmten Sinne sogar die schlimmste von allen: weil er von der Natur Großzügigkeit erwartet wie in der Unschuld des Gartens Eden und eine Güte erzwingen will, auf die der Mensch seit Adam keinen Anspruch mehr hat. Hochmut war die Sünde des Menschen vor dem Fall; die Sünde des Müßigganges aber ist der höchste Stolz des einmal gefallenen Menschen, der lächerliche Stolz des Elends. In unserer Welt, wo die Erde nur noch Disteln und Unkraut hervorbringt, ist er die Verfehlung par excellence. Im Mittelalter war superbia, radix malorum omnium, die Hauptsünde. Nach Huizinga nahm zu einer bestimmten Zeit, am Anfang der Renaissance, die schwerste Sünde die Gestalt de Geizes an, der cicca cupidigia Dantes. 181 Alle Texte des siebzehnte" Jahrhunderts verkünden jedoch den höllischen Triumph der Faulheit: Faulheit führt den Reigen der Laster an und reißt sie mit sich. Erinnern wir uns, daß gemäß dem Edikt zur Gründung des Hôpital général dieses »Bettelei und Müßiggang als Ursprung aller Unordnunp 178 Sermon 155 sur le Deutéronome,
iz mars
179 Bossuet, a . a . O . , S. 2S5. 180 C a l v i n , Sermon 49 sur le Deutéronome,
ΐ};6.
j juillet
1555.
181 Ebda.: »Wir wollen, d a ß G o t t unserem wahnsinnigen V e r l a n g e n entsprich: als sei er uns Untertan.« 182 Huizinga, Le Déclin du Moyen Age, Paris 1932, S. 35.
verhindern soll. Bourdaloue bildet ein Echo dieser Verurteilung der Faulheit, des elenden Stolzes des gefallenen Menschen: »Was ist denn die Unordnung eines müßigen Lebens? Es ist nach den Worten des heiligen Ambrosius, wenn man ihn recht versteht, eine zweite Revolte der Kreatur gegen Gott.« 18 ' So erhält die Arbeit in den Internierungshäusern ihre ethische Bedeutung; weil die Faulheit die absolute Form der Revolte geworden ist, zwingt man die Müßiggänger aus der unbegrenzten Muße in eine nutz- und fruchtlose Mühsal der Arbeit. Die wirtschaftlich und moralisch nicht trennbare Forderung nach Internierung ist in einer gewissen Erfahrung mit der Arbeit aufgestellt worden. Arbeit und Müßiggang haben in der Welt der französischen Klassik eine Trennungslinie gezogen, die den großen Ausschluß der Lepra ersetzt. Das Asyl hat das Leprosorium in der Geographie der heimgesuchten Orte wie in den Landschaften des moralischen Universums ersetzt. Man hat an die alten Exkommunikationsriten, aber in der Welt der Produktion und des Handels, angeknüpft. An diesen Stätten verdammter und verurteilter Nichtstuerei, in diesem von einer Gesellschaft, die in dem Gesetz der Arbeit eine ethische Transzendenz entzifferte, erfundenen Raum erschien bald der Wahnsinn und stieg herauf, bis er sie annektierte. Eines Tages konnte er diese sterilen Räume der Muße aufgrund eines sehr alten und dunklen Erbrechtes übernehmen. Im neunzehnten Jahrhundert wurde zugestanden, ia gefordert, daß die Wahnsinnigen allein diese Gebiete erhielten, wo man hundertfünfzig Jahre zuvor die Elenden, Bettler und Arbeitslosen hatte unterbringen wollen. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß die Wahnsinnigen in die Verfolgung des Müßigganges mit einbezogen werden. Von Anfang an haben sie •hren Platz neben den Armen, guten wie schlechten, und freiwilligen •der unfreiwilligen Arbeitslosen. Wie diese unterliegen sie den Regeln der Zwangsarbeit; mehr als einmal kommt es vor, daß sie ihre jesondere Gestalt gerade in diesem einförmigen Zwang annehmen. In den Werkstätten, in die man sie bringt, heben sie sich durch ihre Unfähigkeit, zu arbeiten oder dem Rhythmus des kollektiven Lebens u iolgen, ab. Die im achtzehnten Jahrhundert entdeckte Notwendigst, den Geisteskranken eine besondere Pflege zu geben, und die gro; Krise der Internierung, die der Revolution um einige Zeit vorausne. sind mit der Erfahrung des Wahnsinns, die man im Rahmen der ' ouis Bourdaloue. Dimanche de la Septuagesime, in: ders., Œuvres, Paris 1900, i.S-34«.
allgemeinen Verpflichtung zu arbeiten gemacht hat, verbunden.'®4 Mar· hat nicht bis zum siebzehnten Jahrhundert gewartet, um die Irren »einzusperren«, aber zu dieser Zeit beginnt man nun, sie zu »internieren«, indem man sie mit einer Bevölkerung, mit der man ihnen ein. Verwandtschaft zugesteht, mischt. Bis zur Renaissance war die Sensibilität für den Wahnsinn mit der Gegenwart imaginärer Transzen denzen verbunden. Von der französischen Klassik an — und erstmals wird der Wahnsinn durch eine ethische Verurteilung des Müßigganges und in einer sozialen Immanenz, die durch die Gemeinsamkeit der Arbeit garantiert ist, perzipiert. Diese Gemeinsamkeit der Arbeit erringt eine ethische Kraft der Trennung, die ihr ermöglicht, alle Formen sozialer Nutzlosigkeit wie in eine andere Welt zurückzuwerfen In dieser anderen Welt, die umgeben ist von den geheiligten Kräfte'; der Arbeit, nimmt dann der Wahnsinn den Status an, den wir von ihm kennen. Wenn es im klassischen Wahnsinn etwas gibt, das von woanders oder etwas anderem spricht, dann nicht, weil der Irre ai einem anderen Himmel, dem der Wahnsinnigen, kommt und desit Zeichen trägt, sondern weil er von sich aus die Grenzen der bürge; liehen Ordnung überschreitet und sich über deren Ethik geheilig Schwellen hinauswagt. In der Tat ist die Beziehung zwischen der Internierungspraxis un i den Arbeitsforderungen durch die ökonomischen Bedingungen läiit nicht ausreichend definiert. Sie wird durch eine moralische Perzept verstärkt und belebt. Als der Board of Trade seinen Bericht über d Armen veröffentlichte, worin die Mittel vorgeschlagen wurden, um »sie nützlich für die Öffentlichkeit zu machen«, wurde betont, J der Grund der Armut weder der Mangel an Waren noch die Arb. losigkeit seien, sondern »das Nachlassen der Disziplin und der K< . ' fall der Sitten«.' 8 ' Das Edikt von 1656 enthielt inmitten moralisch« Anklagen eigenartige Drohungen: »Der libertinage der Bettlet durch die unglückliche Duldung aller Arten von Verbrechen zu en · Exzeß gekommen, der den Fluch Gottes über die Staaten bri; wenn sie ungestraft sind.« Dieser »libertinage« ist keiner, den man 1Beziehung zum großen Gesetz der Arbeit definieren könnte, sunc.r ein moralischer libertinage: »Die Erfahrung hat den Personen sich den mildtätigen Aufgaben gewidmet haben, gezeigt, daß 184 Ein sehr charakteristisches Beispiel dafür bieten die Probleme, die Internierungshaus in Braunschweig gezeigt haben. Vgl. unten, Teil 3, Kapitel 2 185 N i c h o l l s , a . a . O . , B d . I , S . 352.
on ihnen beiderlei Geschledits ohne Heirat zusammen leben, viele •rer Kinder ungetauft sind und sie fast alle nichts von der Religion -sen. die Sakramente mißachten, fortgesetzt allerlei Laster prakticrcn. Daher hat auch das Hôpital général nidit nur die Funktion ner einfachen Zuflucht für die Alten, Kranken oder Schwachen, den Arbeit nicht mehr möglich ist; es hat nicht nur den Charakter eir Stätte der Zwangsarbeit, sondern eher den einer moralischen Inution. die die Aufgabe hat, zu strafen, eine gewisse moralische lkanz«- zu korrigieren, die die menschliche Gerichtsbarkeit nicht .rdient hat, aber auch nicht allein durch die Strenge der Buße beho•n verden könnte. Das Hôpital général hat einen ethischen Status. moralische Aufgabe ist den Direktoren übertragen worden, d man gibt ihnen auch den ganzen juristischen und materiellen A p at der Repression: »Sie haben jede Entscheidungsgewalt über Leiî , Verwaltung, Handel, Polizei, Rechtsprechung, Bestrafung und -perrung«; um diese Aufgaben zu erfüllen, erhalten sie »Galgen, 'per. Gefängnisse und Verliese«. l8S In Grunde erhält die Arbeitspflicht in diesem Kontext ihren Sinn: iizeitige ethische Übung und moralische Garantie. Die Arbeit gilt •skese, Strafe, Zeichen einer gewissen Herzensqualität. Der arrähige und -willige Gefangene kommt frei; nicht so sehr, weil er '•esellschaft nützen wird, sondern weil er von neuem den großen Jien Vertrag der menschlichen Existenz unterzeichnet hat. Im wird durch Erlaß eine Abteilung im Hôpital für Jugendmter fünfundzwanzig Jahren geschaffen; der Erlaß sieht vor, rbeit die meiste Zeit des Tages ausfüllen und durch »das Voraus einigen frommen Büchern« ergänzt werden soll. Aber die hrifL definiert lediglich den rein repressiven Charakter der Arid ist weit entfernt von jeglicher Sorge um die Produktion: 'äßt sie so lange wie möglich arbeiten, und zwar so hart, wie es •ätte und die Umstände erlauben.« Ausschließlich so kann man ..inen -ihren Neigungen und ihrem Geschlecht entsprechenden« •.uweisen, und zwar in dem Maße, wie sie durch ihren Eifer bei •sn Übungen erkennen lassen, daß »sie sich bessern wollen«, -hier jedoch wird »durch Entzug der Suppe, Erhöhung der •etängnis und andere in den Hospitälern gebräuchliche Stranadj Gutdünken der Direktoren bestraft«.187 Man braucht nur '.une des Hôpital général, Artikel X I I und X I I I . t in der Histoire de l'Hôpital général, einer 1676 in Paris anonym erSrosdiüre.
»die Vorschrift dessen, was jeden T a g in der Maison de Saint-Louis der Salpêtrière zu geschehen hat« zu lesen'1", um zu begreifen, daß die Forderung nach Arbeit als eine Übung moralischer Reform und moralischen Zwanges befohlen wurde, die, wenn nicht den letzten Sinn, so doch die wesentliche Rechtfertigung der Internierung liefert. Diese Erfindung eines Ortes des Zwanges, an dem die Moral auf dem Wege administrativer Erlasse wütet, ist ein wichtiges Phänomen. Erstmals werden moralische Institutionen errichtet, in denen sich eine erstaunliche Synthese aus moralischer Verpflichtung und bürgerlichem Gesetz ergibt. Die Staatsordnung duldet nicht länger die Unordnung in den Herzen. Selbstverständlich nimmt in Europa damit nicht zum ersten Mal die moralische Verfehlung, sogar in ihrer extrem privaten Form, die Form eines Anschlages gegen die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft an. Aber bei dieser großen Gefangenschaft in der französischen Klassik ist das wesentliche und neue Element, daß nicht mehr das Gesetz verurteilt: man schließt in den Stätten der reinen Sittlichkeit ein, wo das Gesetz, das über die Herzen herrschen soll, ohne Kompromiß, ohne Nachgiebigkeit in den strengen Formen physischen Zwanges angewandt wird. Die Moral läßi sich wie der Handel oder die Wirtschaft verwalten. So sieht man unter den Institutionen der absoluten Monarchie — sogar unter denen, die lange Zeit Symbole ihrer Willkür blieben - die große bürgerliche Idee, die sich bald die Republik zu eigen macht, daß dit Tugend ebenfalls eine Angelegenheit des Staates sei, daß man Dekret, erlassen könne, um sie herrschen zu lassen, daß man eine Autorität einsetzen könne, um ihr Respekt zu verschaffen. In gewissem Sinne schließen die Mauern der Internierungshäuser das Negativ dieser mraiischen Gemeinschaft ein, von der das bürgerliche Bewußtsein im siebzehnten Jahrhundert zu träumen anfängt: eine moralische Gi: meinschaft, die denen vorbehalten bleibt, die sich von Anbeginn ihr unterwerfen, w o das Recht nur durch die Kraft unerbittlicher Stärl herrscht - eine A r t Souveränität des Guten, in der nur die Drohu" triumphiert und w o die Tugend (so groß ist ihr innerer Wert) keine andere Belohnung hat, als der Bestrafung entgangen zu sein. Im Scha ten der bürgerlichen Gemeinschaft entsteht diese eigenartige Repub' des Guten, das man gewaltsam all denen auferlegt, die man verdä. tigt, dem Bösen anzugehören. Das ist die Kehrseite des großen Traunund der großen Beschäftigung des Bürgertums in der Zeit der ira 188 Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 1566, Blatt 54-70.
zösischen Klassik: die Gesetze des Staates und die Gesetze des Herzens endlich identisch. »Unsere Politiker mögen ihre Berechnungen beiseite lassen ( . . . ) und einmal begreifen, daß man alles mit Geld bekommt, außer Sitten und Bürger.«' 8 ' [st das nicht der Traum, der die Gründer des Internierungshauses in Hamburg heimgesucht zu haben scheint? Einer der Direktoren muß darauf achten, daß »alle, die im Hause sind, sich ihrer religiösen Pflichten entledigen und darin unterwiesen sind ( . . . ) . Der Schulmeister muß die Kinder in der Religion unterweisen, sie ermahnen, wenn sie etwas Muße haben, verschiedene Stellen der Heiligen Schrift zu lesen. Er muß sie im Lesen, Schreiben, Rechnen unterrichten und sie zu Anstand und Sitte gegenüber denjenigen anhalten, die das Haus besuchen. Er muß dafür sorgen, daß sie beim Gottesdienst anwesend sind und sich dabei zurückhaltend benehmen.«'90 In England ist in Anstaltsordnungen der workhouses für die Überwachung der Sitten und für religiöse Erziehung viel Raum gelassen. Für das Haus in Plvmouth hat man zum Beispiel die Ernennung eines »schoolmaster« vorgesehen, der die dreifache Bedingung erfüllen soll, »fromm, mä'iig, diskret« zu sein. Jeden Morgen und Abend soll er zu bestimmter Stunde die Gebete überwachen; jeden Samstag nachmittags und an iedem Feiertag den Internierten eine ermahnende und erläuternde \nsprache über die »Elemente der protestantischen Religion gemäß der Lehre der anglikanischen Kirche« halten. 1 ' 1 Hamburg oder P l y 'outh. Zuchthäuser oder workhouses - in allen protestantischen Tei:o Europas erbaut man diese Festungen der moralischen Ordnung, von der Religion das gelehrt wird, was zur Erhaltung der Ruhe • den Städten nötig ist. katholischen Ländern ist das Ziel das gleiche, aber die religiöse irkierung ist ein wenig stärker. Das Werk des heiligen Vincent de '.ul bezeugt uns das. »Der Hauptzweck, weshalb man hier Menschen dem großen Sturm der Welt heraus als Insassen in dieser Einsamt hat zusammenbringen dürfen, war nur, sie von der Sklaverei der '"de und der ewigen Verdammnis abzuhalten und ihnen ein Mittel eben, durch das sie vollkommene Erfüllung in diesem Leben und indem genießen; sie werden ihr Möglichstes tun, um darin die diche Vorsehung zu verehren ( . . . ) . Die Erfahrung überzeugt uns illzusehr durch das Unglück, daß die Quelle der Zügellosigkeiten, usseau. Discours sur les sciences et les arts. Howard, a. a. O., Bd. I, S. ι J7. u t A.a.O.. Bd. II, S. 382-401.
die man heute bei der Jugend beobachten kann, allein im Mangel der Unterweisung und Gelehrigkeit in den geistlichen Dingen liegt, weil die Jugend viel lieber ihren schlechten Neigungen folgt als den heiligen Inspirationen Gottes und den guttätigen Hinweisen ihrer Eltern. <· Deshalb muß man die Insassen von einer Welt befreien, die für ihre Schwächen nur eine Einladung zur Sünde ist, und sie in eine Einsamkeit versetzen, in der sie als Begleiter nur ihre »Schutzengel« haben, die durch die tägliche Gegenwart ihrer Wächter inkarniert werden: diese bringen ihnen tatsächlich »die gleichen guten Dienste, die ihnen unsichtbar ihre Schutzengel bringen: Wissen, Unterricht, Trost, Heil«. 1 ' 2 In den Häusern der Charité achtet man mit der größten Sorgfalt auf die Ordnung des Lebens und des Gewissens, die im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts immer klarer als die raison d'être der Internierung zu erkennen ist. ιγ6$ wird eine neue Ordnung für die Charité in Château-Thierry erlassen. Darin wird genau bestimmt, daß »der Prior wenigstens einmal in der Woche Visite bei allen Gefangenen, einem nach dem anderen macht, um sie zu trösten, zu einer besseren Lebensführung zu ermahnen und sich selbst davon zu überzeugen, daß sie behandelt werden, wie es sich gehört; der Unterprior erscheint jeden Tag.«' 53 A l l diese Gefängnisse moralischer Ordnung könnten jene Devise getragen haben, die Howard noch in Mainz hat lesen können: »Wenn man wilde Tiere unter das Joch spannen kann, braucht man nicht an der Besserung eines Menschen zu verzweifeln, der vom rechten Wef abgekommen ist.«194 Für die katholische wie für die protestantisch. Kirche stellt die Internierung in der Form eines autoritären Modell den Mythos sozialen Glücks dar: eine Polizeiverwaltung, deren Ord nung für die Prinzipien der Religion völlig transparent ist, und ein; Religion, deren Forderungen ohne Einschränkung durch die Regelt der Polizei und die Zwänge, mit denen sie sich bewaffnen kann, er füllt werden. In diesen Institutionen liegt gleichsam der Versuch vor. den Beweis zu erbringen, daß die Ordnung der Tugend adäquat sei; könne. In diesem Sinne verbirgt die »Gefangenschaft« gleichzeitii eine Metaphysik der Gemeinschaft und eine Politik der Religion. Si stellt sich als ein Versuch tyrannischer Synthese in jene Distanz, d· den Garten Gottes und die Städte der Menschen, die sie nach der Ver treibung aus dem Paradies mit ihren Händen gebaut haben, trenr; 192 Zitiert bei Collet, a. a. Ο . 193 Vgl. Tardif, a. a. O., S. 22. 194 Howard, a. a. O., Bd. I, S. 203.
Das Internierungshaus stellt in der Zeit der französischen Klassik das stärkste Symbol jener »Polizei« dar, die sidi selbst als das bürgerliche Äquivalent der Religion für die Errichtung einer vollkommenen Stadt verstand. Sind nicht alle moralischen Themen der Internierung in jenem Text des Traité de police enthalten, wo Delamare in der Religion »den ersten und wichtigsten« Gegenstand sieht, der von der Polizei gepflegt wird? »Man könnte fast hinzufügen: der einzige, wenn wir weise genug wären, alle Aufgaben, die sie uns vorschreibt, vollständig zu erfüllen. Dann gäbe es ohne weiteres keine Sittenverderbnis mehr; die Mäßigung hielte die Krankheiten fern; der Arbeitseifer, die Fruchtbarkeit und eine kluge Vorausschau würden stets die für das Leben notwendigen Dinge vorhanden sein lassen; wenn die Liebe die Laster ausschaltet, wäre die öffentliche Ruhe gesichert; die Besdieidenheit und die Einfachheit würden das Eitle und Gefährliche aus den Wissenschaften fernhalten; der rechte Glaube würde in den Wissenschaften und Künsten herrschen; ( . . . ) den Armen würde freiwillig geholfen und die Bettelei wäre verbannt; es stimmt, wenn man sagt, alle anderen Teile der >Polizei< würden erfüllt, wenn die Religion wohl geachtet würde ( . . . ) . So haben die Gesetzgeber mit großer Klugheit das Glück wie die Dauer der Staaten auf der Religion errichtet.«1« Die Internierung ist eine dem siebzehnten Jahrhundert eigene institutionelle Errungenschaft. Sie nimmt sofort einen Umfang an, der ihr keine gemeinsame Dimension mit der Unterbringung in Gefängnissen läßt, wie man sie im Mittelalter kannte. Als Maßnahme der Ökonomie und sozialer Vorsicht hat sie den Wert einer wirklichen Erfiniung. Aber in der Geschichte der Unvernunft bezeichnet sie ein entheidendes Ereignis: den Augenblick, in dem der Wahnsinn am dalen Horizont der Armut, der Arbeitsunfähigkeit und der Unïglidikeit, sidi einer Gruppe zu integrieren, wahrgenommen wird; •:n Augenblick, in dem er sidi in die Probleme der Gemeinschaft zu .rtlechten beginnt. Die neuen Bedeutungen, die man der Armut gibt, Wichtigkeit, die man der Verpflichtung zu arbeiten beimißt, und . ganzen ethischen Werte, die mit der Arbeit verbunden sind, deternieren von fern die Erfahrung, die man mit dem Wahnsinn macht, d verändern seinen Sinn, η eine Sensibilität entstanden, die eine Linie zieht, eine Schwelle wlamare, a. a.O., Bd. I, S. 287-288.
errichtet und auswählt, um zu verbannen. Der konkrete Raum der klassischen Gesellschaft reserviert eine Zone der Neutralität, eine unbeschriebene Seite, wo das wirkliche Leben in der Schwebe gehalten wird: die Ordnung trifft dort nicht mehr frei auf die Unordnung, die Vernunft versudit nicht mehr, sich von allein ihren Weg durch all das zu bahnen, was sie verdecken kann oder sich ihr in den Weg zu stellen versucht. Sie herrscht in reinem Zustand in einem Triumph, der ihr im voraus über eine entfesselte Unvernunft bereitet ist. So wird der Wahnsinn der imaginären Freiheit entrissen, die ihn noch am Himmel der Renaissance hat blühen lassen. Nodi vor kurzer Zeit erging er sich in hellem Tageslidit: im König Lear, im Don Quichotte. Aber in weniger als einem halben Jahrhundert fand er sidi eingeschlossen und in der Festung der Internierung mit der Vernunft, den Regeln der Moral und ihren monotonen Nächten verbunden.
j. Kapitel
Erfahrungen mit dem Wahnsinn Seit der Einrichtung des Hôpital général, seit der Eröffnung der ersten Zuchthäuser in Deutschland und England und bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts interniert das Zeitalter der französischen Klassik. Es interniert die ausschweifenden, verschwendungssüchtigen Väter, verlorene Söhne, Gotteslästerer, Leute, die »danach trachten, sich selbst ins Verderben zu stürzen«, und Libertins. Durch diese Parallelen, diese seltsame Komplizität skizziert das Zeitalter die Umrisse seiner eigenen Erfahrung mit der Unvernunft. Aber in jeder dieser Städte finden wir darüber hinaus eine vollständige Bevölkerung des Wahnsinns. Ein Zehntel aller Festnahmen, die in Paris für das Hôpital général ausgeführt werden, betreffen »die Irren«, »von Sinnen geratene« Leute, Menschen mit »zerrüttetem Geist« und »Personen, die völlig verrückt geworden sind«."·"· Zwischen ihnen und den anderen besteht kein Zeichen einer Unterscheidung. Den Registern nach zu urteilen, scheint die gleiche Empfindsamkeit sie zusammenzuführen, scheinen die gleichen Gebärden sie zu trennen. Wir überlassen es der medizinischen Archäologie zu entscheiden, ob ein Mann krank, kriminell, irre war oder nidit, der ins Hospital eingewiesen wurde wegen »Sittenlosigkeit« oder weil er -eine Frau schlecht behandelt« hatte oder verschiedene Male verlieht hatte, sich selbst zu töten. Um dieses Problem zu stellen, muß man alle Deformationen akzeptieren, die unser Rückblick mit sich bringt. Wir wollen gerne glauben, daß man die allgemeinsten und im 'lödisten Grade undifferenzierten Formen der Internierung für den Wahnsinn angewandt hat, weil man die Natur des Wahnsinns ver-innt hat und seinen positiven Anzeichen gegenüber blind blieb. Das •ndert uns zu sehen, daß dieses »Verkennen« - oder wenigstens das, is dies für uns ist - in Wirklichkeit explizites Bewußtsein enthält, 'as wirkliche Problem liegt nämlich genau darin, den Inhalt jenes "teils zu bestimmen, das, ohne unsere Entscheidungen vorzunehn, auf die gleiche Weise diejenigen ausschließt, die wir pflegen irden, und diejenigen, die wir gerne verurteilt hätten. Es handelt •Dieses Verhältnis findet man fast regelmäßig vom Ende des siebzehnten bis zum des achtzehnten Jahrhunderts, wenn man die Tabellen mit den Befehlen des Vür die Einkerkerung im Hôpital général anschaut.
sich nicht darum, den Irrtum zu finden, der eine solche Konfusion zugelassen hat, sondern der Kontinuität zu folgen, die unsere Art zu urteilen jetzt unterbrochen hat. Nach hundertfünfzig Jahren der Einsperrung glaubte man zu bemerken, daß es unter diesen gefangenen Gesichtern eigenartige Grimassen und Schreie gebe, die eine andere Wut invozierten und andere Gewalttaten herausforderten. Während der ganzen Epoche der französischen Klassik aber gibt es nur eine A r t der Internierung. Hinter all den vollzogenen Maßnahmen, von einem Extrem zum anderen, verbirgt sich eine homogene Erfahrung. Ein Wort bezeichnet sie, ja symbolisiert sie beinahe, das zu den häufigsten gehört, die man in den Internierungsbüchern lesen kann: »Tollheit« (fureur). Furor ist, wie wir sehen werden, ein Terminus technicus der Jurisprudenz und der Medizin. Er bezeichnet sehr genau eine der Wahnsinnsformen. Im Vokabular der Internierung aber besagt er insgesamt viel mehr und viel weniger. Darin ist die Anspielung auf alle Formen der Gewalttätigkeit enthalten, die der strengen Definition des Verbrechens und seiner juristischen Zuweisung entgehen. Worauf er abzielt, das ist eine Art undifferenzierten Gebiets der Unordnung - Ordnungslosigkeit im Benehmen und im Herzen, ungeordnete Sitten und ungeordneter Geist - , das ganze dunkle Gebiet eines drohenden Tobens, das diesseits einer möglichen Verurteilung erscheint. Es ist vielleicht ein für uns konfuser Begriff, der indes doch genügend klar ist, um den polizeilichen und moralischen Befehl de· Internierung zuzulassen. Jemand einzuschließen, von dem man sagt daß er »toll« sei, und ohne präzisieren zu müssen, ob er krank oder ein Verbrecher ist, darin liegt eine der Kräfte, die die klassische Vernunft sich selbst in der Erfahrung, die sie mit der Unvernunft gemach' hat, gegeben hat. Diese Kraft hat einen positiven Sinn. Als das siebzehnte und ach' zehnte Jahrhundert den Wahnsinnigen im gleichen Zuge interniere wie den débauché und den libertin, ist das Wesentliche dabei nich daß sie den Wahnsinn nicht als Krankheit kennen, sondern daß Sit ihn auf einem anderen Hintergrund perzipieren. Dennoch besteht die Gefahr, zu vereinfachen, denn die Welt JWahnsinns war zur Zeit der französischen Klassik nicht einförmi. Es wäre nicht völlig, aber teilweise falsch, wollte man behaupte daß die Wahnsinnigen ganz einfach wie polizeiliche Gefangene behandelt wurden. Einige haben einen speziellen Status. In Paris behält sich ein Hospi
Jas Recht vor, die Armen, die die Vernunft verloren haben, zu behandeln. Solange man einen Geisteskranken noch zu heilen hofft, kann er im Hôtel-Dieu aufgenommen werden. Man läßt ihm dort die gewöhnliche Pflege zukommen: Aderlaß, Purganz, und in bestimmten Fällen Zugpflaster und Bäder.'" Es war eine alte Tradition, denn bereits im Mittelalter hatte man im gleichen Hôtel-Dieu Plätze für die Wahnsinnigen reserviert. Die »Phantasten und Frenetiker« wurden in abgeschlossenen Zellen eingeschlossen, in deren Wänden man zwei Fenster, zum Sehen und Hindurchreichen«, angebracht hatte. ";S Als Tenon am Ende des achtzehnten Jahrhunderts seine Mémoires sur les hôpitaux de Paris verfaßt, hatte man die Irren in zwei Säle gesperrt. Der Männersaal, nach Saint-Louis benannt, enthielt zwei Betten mit einem Platz und zehn, die gleichzeitig vier Personen aufnehmen konnten. Angesichts dieses menschlichen Gewimmels beunruhigt rich Tenon, wobei zu betonen ist, daß es sich um die Zeit handelt, in der die medizinische Vorstellungskraft der Wärme schädigende Kräfte zugeschrieben hat, der frischen und scharfen Luft, der Reinheit der Landluft hingegen körperlich und moralisch heilsame Werte zuvies: »Wie kann man in Betten, in denen Wahnsinnige, die sich darin iu dritt oder zu viert drängen, heftig bewegen und schlagen, zu friher Luft gelangen?«'55 Für die Frauen gibt es keinen Saal im eigent'ichen Sinne, der für sie reserviert wäre. Man hat für sie im großen Kaum für die Fieberkranken einen kleinen Verschlag eingebaut, in jem sechs große Betten mit vier Plätzen und acht kleine Betten unterebracht sind. Wenn aber nach einigen Wochen die Krankheit nicht iE besiegt werden können, schichte man die Männer nach Bicêtre, die cauen in die Salpêtrière. Insgesamt hat man für die Bevölkerung ι Paris und Umgebung vierundsiebzig Plätze für die einer Behand.11« bedürftigen Wahnsinnigen vorgesehen; diese vierundsiebzig itze bilden eine Art Vorzimmer vor der Internierung, die genau Herausfallen aus einer Welt der Krankheit, der Heilmittel und ι eventuellen Heilung darstellt. Marcel Fosscycux, Une administration parisienne sous Fanden régime:
l'Hôtel-
XVIIe et au XVIII' siècle, Thèse, Paris 1912. • ; den Rechnungsbüchern erwähnt: »Für die Herrichtung eines Bodens und Gestells in einer Schlafzelle und für den Einbau zweier Fenster zum Sehen und rdireichen in die geschlossene Zelle X I I sp. bezahlt.« Vgl. die »Comptes de -Dieus X X , 346 bei E. Coyecquc, L'Hötel-Dieu de Paris au Moyen Age, ' "tui't « documents, 2 vols., Paris 1889-1891, Bd. I , S . 209, Anm. 1. -jues René Tenon, Mémoires sur les hôpitaux -•vS.215.
de Paris, 4e mémoire, Paris
Audi in London ist Bedlam für diejenigen reserviert, die man die Mondsüchtigen nennt. Das Hospital war in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts gegründet worden, und bereits 1403 nennt man sechs Geisteskranke, die darin mit Ketten und Eisen festgehalten werden. 1598 gibt es zwanzig Geisteskranke. Als 1642 die Gebäude vergrößert werden, baut man zwölf neue Räume, von denen acht ausdrücklich für die Irren bestimmt sind. N a d i dem Wiederaufbau von 1676 kann das Hospital zwischen hundertzwanzig und hundertfünfzig Personen aufnehmen und ist jetzt für die Wahnsinnigen reserviert. Die beiden Statuen von Gibber zeugen davon." 0 Man nimmt die Mondsüchtigen, die als »unheilbar betrachtet werden« 20 ', nicht auf. und diese Regelung wird bis zum Bau von zwei Spezialabteilungen innerhalb der Mauern des Hospitals selbst im Jahre 1733 beibehalten. Die Internierten erhalten regelmäßige Pflege, genauer gesagt, eine Pflege, die sich nach Jahreszeiten bemißt, denn die großen Behandlungen werden nur einmal im Jahr durchgeführt. Das geschiehi für alle gleichzeitig im Frühling. T . Monro, der s^it 1783 Arzt in Bedlam war, hat dem Untersuchungskomitee der Gemeinden die großen Linien seiner Praxis umrissen: »Die Kranken müssen je nach dem Wetter spätestens am Ende des Mai einen Aderlaß erhalten. Nach dem Aderlaß müssen sie Brechmittel nehmen, und zwar für längen Zeit einmal wöchentlich. Danach werden sie der Purganz unterzogen Das hat man bereits Jahre vor meiner Zeit getan, und ich habe es vor meinem Vater gelernt. Eine bessere Praxis kenne ich nicht.«202 Es wäre falsch, der Annahme zu folgen, daß die Internierung der Irren im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eine polizeilich. Maßnahme ist, die keine Probleme bietet oder die zumindest ein einförmige Gefühlslosigkeit gegenüber dem pathologischen Charaktider Geisteszerrüttung manifestiert. Sogar in der monotonen Prax der Internierung hat der Wahnsinn eine unterschiedliche Funktir» Sie befindet sich bereits im Innern jener Welt der Unvernunft, die " in ihren Mauern einhüllt und mit ihrer Universalität in einer Besf senheit über sie verfügt, in einer gefährdeten Situation. Denn we" tatsächlich in bestimmten Hospitälern die Irren einen reserviere 200 Daniel Hack Tuke, Chapters in the history of the Insane in the British i London 1882, S. 67. 201 In einem Hinweis von 167$ verlangen die Direktoren von Bedlam, dai? nidit »die zur Behandlung im Hospital gehaltenen Kranken« mit den »Bettlerr Vagabunden« verwechselt. 202 D . Tuke, a. a. O., S. 79-80.
Platz haben, der ihnen einen in gewissem Maße medizinischen Status sichert, lebt der größte Teil von ihnen in Internierungshäusern und führt dort ungefähr die gleiche Existenz wie die Sträflinge. Wie rudimentär die medizinische Pflege, die den Irren im Hôtel-Dieu oder in Bedlam zuteil wird, auch sein mag, sie ist doch die raison d'être oder wenigstens die Rechtfertigung ihrer Anwesenheit in diesen Hospitälern. In den verschiedenen Gebäuden des Hôpital général stellt sidi diese Frage dagegen nicht. Die Anstaltsordnungen sahen einen einzigen A r z t vor, der in der Pitié wohnen sollte und die Verpflichtung hatte, zweimal wöchentlich jedes der Häuser des Hôpital zu besuchen.203 Es konnte sidi nur um eine medizinische Untersuchung aus der Entfernung handeln, die nicht dazu bestimmt war, die Internierten als solche zu behandeln, sondern nur diejenigen, die krank wurden. Dieser Beweis zeigt, daß die internierten Geisteskranken nicht allein aufgrund ihres Wahnsinns als Kranke betrachtet wurden, tn seinem Essai sur la topographie physique et médicale de Paris vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts erklärt Audin-Rouvière, wie »die Epilepsie, die kalten Säfte, die Paralyse zur Einlieferung nach Bicêtre führen. Die Heilung aber wird mit keinem Mittel versucht ( . . . ) . So "ird ein Kind von zehn oder zwölf Jahren, das in diesem Haus we>;en nervöser Konvulsionen, die als epileptisch bezeichnet werden, ufgenommen wird, unter den wirklichen Epileptikern schnell die Krankheit erhalten, die es vorher nicht hat, und hat in der langen Zeit, die sein Alter ihm zu leben noch in Aussicht stellt, keine andere Hoffnung auf Heilung als die selten vollkommenen Anstrengungen 5er Natur.« Die Wahnsinnigen »werden als unheilbar beurteilt, wenn e in Bicêtre ankommen, und erhalten dort keine Behandlung ( . . . ) . 1 )hwohl es keine Behandlung für die Wahnsinnigen gibt ( . . . ) , erlancn mehrere von ihnen die Vernunft wieder.«204 Tatsächlich läßt das -hlen medizinischer Pflege, abgesehen von der vorgeschriebenen Vi'•t. das Hôpital général ungefähr in die gleiche Situation kommen Uer erste dieser Ärzte war Raymond Finot, dann, bis 172s, Fermelhuis; danach Ερτ 11725-1762), Gaulard (1762-1782) und Philip (1782-1792). Im achtzehnten mndert verfügten sie über Assistenten. V g l . Paul Delaunay, Le monde médical η au XVIIIe siècle, Paris 1906, S. 72 f. — In Bicêtre gab es am Ende des achtln Jahrhunderts einen »chirurgien gagnant maîtrise«, der die Krankenabtei-mal täglich besuchte, zwei Mitarbeiter und einige Schüler hatte. V g l . MémoiOère Richard, Ms. der Bibliothèque de la Ville de Paris, f ° 23. :ph-Marie Audin-Rouvière, Essai sur la topographie physique et médicale "H dissertation sur les substances qui peuvent influer sur la santé des habi' une cité, Paris, An II, S. 105-107.
wie jedes Gefängnis. Die dort geltenden Regeln sind etwa die gleichen, wie sie die Ordonnance über die Strafjustiz von 1670 für die Ordnung aller Gefängnisse vorsieht: »Wir erwarten, daß die Gefängnisse sicher und in jeder Weise für die Gesundheit der Gefangenen so eingerichtet sind, daß diese nicht darunter leidet. Den Kerkermeistern und Türknechten wird befohlen, die in den Kerkern eingeschlossenen Gefangenen mindestens einmal täglich aufzusuchen und Unseren Verwaltern Meldung zu machen über die Gefangenen, die krank sind, damit sie von den Ärzten und Chirurgen der Gefängnisse besucht werden können, wenn solche vorhanden sind.«"' Wenn es einen A r z t im Hôpital général gibt, dann heißt das nicht, daß man bewußt dort Kranke einsperrt, sondern daß man die Krankheit unter denjenigen befürditet, die bereits interniert sind. Man fürchtet das berühmte »Gefängnisfieber«. In England verwies man gern auf den Fall von Gefangenen, die ihre Richter während der Gerichtsverhandlung angesteckt hatten, und man erinnerte daran, dal? Internierte nach ihrer Befreiung ihren Familien die im Gefängnis erworbene Krankheit weitergegeben haben-06: »Es gibt Beispiele für die schrecklichen Auswirkungen auf in Höhlen und Türmen zusammengedrängte Mensdien, in denen die Luft sich nicht erneuern kann ( . . . ) ; diese verdorbene Luft kann das Herz eines Eichenstammes verderben, in das sie nur durch den Kork und das Holz dringt.«307 Dit ärztlidie Pflege ist der Internierungspraxis aufgepfropft, um bestimmte Wirkungen auszuschließen. Sie bildet weder ihren Sinn noch ihn Ursadie. Die Internierung ist keine erste Anstrengung auf dem Wege zur Hr· spitalisierung des Wahnsinns in seinen verschiedenen Krankheit1· aspekten, sondern sie stellt vielmehr eine Gleichsetzung der Geiste kranken mit allen anderen Sträflingen dar, wie jene seltsamen iun stischen Formulierungen bezeugen können, die die Irren nicht Je" Hospitalpflege anvertrauen, sondern sie zum Aufenthalt darin verdammen. In den Registern von Bicêtre finden sich Bemerkungen *·ιί folgende: »Von der Conciergerie kraft eines Erlasses des Parlament hierher gebracht, der ihn zur Einsperrung auf Lebenszeit im Seh' Bicêtre verurteilt, wo er wie die anderen Geisteskranken behand 20Ç Titel X I I I in François-André Isambert, Rccucil françaises, 29 vols., Paris 1821-1S33, Bd. 18, S. 393.
général des
ancienne
206 Auf diese Weise sollte die ganze kleine Stadt Axminster in Devonshir achtzehnten Jahrhundert angesteckt worden sein. 207 Howard, a. a. O., Bd. I, S. 14.
werden soll.«208 Behandelt zu werden wie die anderen Geisteskranken heißt nicht, eine medizinische Behandlung zu erhalten. 20 ' Es heißt, daß der Internierte die Strafvorschriften befolgen, die Übungen ausführen und den Gesetzen der Erziehung gehorchen muß. Eltern, die ihren Sohn in die Charité in Senlis gebracht hatten, weil er »toll« gewesen ist und in »geistiger Unordnung« lebte, verlangen seine Überführung nach Saint-Lazare, »weil sie nicht die Absicht haben, ihren Sohn umkommen zu lassen, wenn sie auch einen Befehl zu seiner Einsperrung gewünscht haben, sondern weil sie lediglich die Absicht hatten, ihn zu bessern und seinen fast verlorenen Geist wieder zu ordnen«.210 Die Internierung ist zur Besserung bestimmt, und wenn man ihr ein Ziel setzt, so ist das nidit die Heilung, sondern eher die artige Reue. François-Marie Bailly, ein »Kleriker mit Tonsur, der Organist ist«, wird 1772 »aus den Gefängnissen von Fontainebleau auf Befehl des Königs nach Bicêtre überführt mit der Anweisung, ihn dort drei Jahre gefangen zu halten«. Dann ergeht ein neuer Urteilsspruch der Propstei am 20. September 1773, »der den genannten Bailly bis zu seiner völligen Gesundung unter den Geitessdiwadien« zu halten befiehlt. 211 Die Zeit, die die Internierung bestimmt und begrenzt, ist niemals nur die moralische Zeit der Verinderungen und der Weisheit oder die Zeit, in der die Bestrafung ihn hrer Wirkung unterzieht. E« ist nicht verwunderlich, daß die Internierungshäuser wie Gefängii t sind und daß oft diese beiden Institutionen miteinander vervdiselt worden sind, so daß man die Geisteskranken ziemlich leidigültig in die einen oder die anderen gesperrt hat. Als 1806 ein mitee mit der Untersuchung der Situation der »armen Mondsüchvn in England« beauftragt wird, zählt es 1765 Wahnsinnige in den rkhouses, 113 in den Zuchthäusern.212 Wahrscheinlich gab es im ufe des achtzehnten Jahrhunderts darin noch mehr, denn Howard Oer Fall von Claude Rémy. Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 12685. rrst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts erscheint die Formel »Behandelt TU Arzneien versorgt wie die anderen Irren«. Befehl von 1784 für den Fall bourgeois: »Aus dem Gefängnis der Conciergerie kraft eines Erlasses des Par: in das Zuchthaus des Schlosses Bicêtre überführt, damit er dort in Gewahrsam .n, ernährt, behandelt und wie die anderen Irren mit Arzneien versorgt wird.« •'aris- Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 11396, f ü s 40 und 41. • 1 S'bliothèquc de l'Arsenal, Ms. 12686. : D. Tukc, a . a . O . , S. 117. Die Zahlen lagen wahrscheinlich viel höher, weil • V.-chen später Sir Andrew Halliday 112 internierte Irre in N o r f o l k zählt, 'ujmitee nur 42 gefunden hatte.
erinnert als an ein nicht seltenes Faktum an jene Gefängnisse, »wo man die Idioten und die Irren einsperrt, weil man sie nicht an anderen Orten fern von der Gesellschaft, die sie beunruhigen und verwirren, zu halten vermag. Sie dienen den grausamen Vergnügungen der Gefangenen und der müßigen Zuschauer bei den Gelegenheiten, bei denen viele Leute zusammenkommen. Oft beunruhigen und erschreit· ken sie diejenigen, die mit ihnen eingesperrt sind. Man pflegt sie überhaupt nicht.«" 3 In Frankreich ist es ebenfalls häufig, daß man in der Gefängnissen Irren begegnet. Das trifft natürlich für die Bastille zu· dann findet man auch in Bordeaux, im Fort du Hâ, im Arbeitshaus in Rennes, in den Gefängnissen von Amiens, Angers, Caen und Poitie· wahnsinnige Insassen.2"· In den meisten der Hôpitaux généraux siru' die Geisteskranken ohne irgendeine Unterscheidung mit allen and. ren Insassen oder Internierten zusammengesperrt. N u r die Tobsüch tigsten werden in Kammern gehalten, die für sie reserviert sind: »In allen Hospitälern hat man alte, zerfallene, feuchte, schlecht aufg. teilte und in keiner Weise für eine solche Bestimmung errichtete Gebäude den Geisteskranken überlassen, ausgenommen einige Kammer einige Kerker, die speziell für sie errichtet worden sind. Die Tobsürt tigen bewohnen diese abgetrennten Räume, während die ruhigen Gr steskranken und die als unheilbar bezeichneten mit den Armen un Bedürftigen vermengt werden. In einer kleinen Zahl von Hospi7< in denen man Gefangene in dem Teil unterbringt, der die Zwani abteilung genannt wird, wohnen diese Internierten mit den Gefam: nen zusammen und werden den gleichen Bedingungen unter* fen.«"i Diese Tatsachen sind sehr schematisch dargestellt, und erst wenn i» sie einander annähert und sie nach ihren Ähnlichkeiten gruppi ' gewinnt man den Eindruck, daß zwei Erfahrungen mit dem Wati: sinn im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nebeneinai) stehen. Die Ärzte der folgenden Epoche achten zumeist nur auf allgemeine »Pathetische« der Situation der Geisteskranken. Ob; haben sie das gleiche Elend, überall die gleiche Unfähigkeit, zu len, wahrgenommen. Für sie gibt es keinen Unterschied zwisdier Beschäftigung in Bicêtre und den Sälen des Hôtel-Dieu, z w · Bedlam und irgendeinem Arbeitshaus. Dennoch ist es eine irredu: 213 214 Des 21 j
Howard, a. a. O., Bd. I, S. 19. J. Esquirol, Des établissements consacrés aux aliénés en France, 1818. imaladies mentales, Paris 1838, Bd. 2, S. 138. Esquirol, a . a . O . , Bd. 2, S. 137.
Tatsache: in bestimmten Häusern werden Irre nur in dem Maße aufgenommen, wie sie theoretisch heilbar sind; in anderen nimmt man -ie nur auf, um sich ihrer zu entledigen oder um sie wieder aufzurichten. Wahrscheinlich sind die zuerst genannten Häuser am seltensten und die kleinsten. Es gibt nämlich im Hôtel-Dieu weniger als achtzig Wahnsinnige, während es im Hôpital général mehrere Hunderte, "•elleicht Tausende gibt. So sehr diese beiden Erfahrungen bezüglich 'hrer Ausdehnung und ihrer numerischen Bedeutung auch voneinander abweichen mögen, so haben sie doch ihre Besonderheit. Die Er'ahrung mit dem Wahnsinn als Krankheit, mag sie noch so beschränkt .in, kann nicht verneint werden. Sie ist paradoxerweise zur gleichen Zeit festzustellen wie eine andere Erfahrung, in der der Wahnsinn ™t der Internierung, der Bestrafung, der Zucht zu tun hat. Diese Nebeneinanderstellung ist das Problem, und sie kann wahrscheinlich !abei helfen, zu verstehen, welchen Status der Wahnsinn in der klashen Welt hatte und wie die A r t der Perzeption definiert werden iuß, die man von ihm hatte. »n ist versucht, zur einfachsten Lösung zu greifen und diese Nebeninderstellung in einer impliziten Dauer, in der unwahrnehmbaren tspanne eines Fortschreitens zu lösen. Die Irren des Hôtel-Dieu, Mondsüchtigen von Bedlam sind dann die, die bereits den Status tranken erlangt haben. Das würde bedeuten, daß man sie besser -her als die anderen erkannt und isoliert und zu ihren Gunsten Hospitalbehandlung eingeführt hätte, die bereits diejenige vorinehmen scheint, die das neunzehnte Jahrhundert mit vollem " illen Geisteskranken zugestehen sollte. Die anderen, die man Unterschied in den Hôpitaux généraux, den workhouses, den häusern oder Gefängnissen antrifft, beurteilt man leicht als eine Serie von Kranken, die noch nicht von einer medizinischen ^ ihrr.ehmung aufgegriffen worden sind, die sich zu diesem Zeiti noch entwickelte. Man denkt dann gerne, daß alte Glaubensangen oder der bürgerlichen Welt eigene Auffassungen die ' . t r a n k e n in einer Definition des Wahnsinns einschließen, die nklare Weise mit den Verbrechern und der sehr gemischten ''er Àsozialen zusammenbringt. Das ist ein Spiel, dem sich mit -:en Jie Verfasser der Geschichte der Medizin hingeben, die in -rnierungsregistern und durch die Annäherung der Worte Jie testen medizinischen Kategorien erkennen wollen, in die Γ ithologie in der Ewigkeit der Gelehrsamkeit die Geistes-
kranken eingeteilt hat. Die »Illuminaten« und »Geisterseher« entsprechen wahrscheinlich unseren an Halluzinationen Leidenden - »ein Geisterseher, der sich vorstellt, himmlische Erscheinungen zu haben«, »ein Illuminât mit eigenartigen Enthüllungen«; die Debilen und bestimmte Leute, die an organischer oder seniler Demenz leiden, sind wahrscheinlich in den Registern als »Imbezile« bezeichnet - »ein Imbeziler, der durch furchtbare Ausschweifungen mit Wein so geworden ist«, »ein ständig redender Imbeziler, der sich den Kaiser der Türken oder Papst nennt«, »ein Imbeziler ohne Hoffnung auf Besserung«; man trifft auch Formen des Deliriums, die man vor allem durch ihre pittoresk-absurde Seite charakterisiert — »ein Einzelner, der von Leuten verfolgt wird, die ihn töten wollen«, »ein Mann, der völlig geisteszerrüttet ist und Pläne macht«, »ein Mann, der ständig elektrisiert ist und dem man Ideen von anderen übermittelt«, »eine Art Irrer, der dem Parlament Gedenkschriften überreichen will«. 2,6 Für die Ärzte ist es von großem Gewicht und eine wertvolle Hilfe 2 ' 7 , feststellen zu können, daß es unter der Sonne des Wahnsinns stets Halluzinationen, stets Delirien in den Reden der Unvernunft gegeben hat und daß man dieselben Ängste in allen diesen ruhelosen Herzen finden kann. Die Mentalmedizin erhält daher die ersten Kautionen ihrer Ewigkeit. Und wenn sie ein schlechtes Gewissen haben könnte, wäre sie wahrscheinlich beruhigt, wenn sie erkennte, daß das Objekt ihrer Untersuchung vorhanden ist, das sie in der kommenden Zeit erwartete. Für denjenigen, der sich eines Tages über den Sinn der Internierung und die Art, wie sie sich in die Reihe der medizinischen Einrichtungen hat hineinzwängen können, beunruhigen wollte, mui! es eine gewisse Stärkung sein, wenn er davon träumen kann, daß aul jeden Fall es Irre waren, die man einschloß, und daß in dieser dunklen Praktik sich bereits das verbarg, was für uns die Gestalt einer immanenten medizinischen Gerechtigkeit annahm. Den Wahnsinnigen, die man internierte, fehlte fast nur noch die Bezeichnung Geiste kranke und der medizinische Status, den man den offensichtlichster· und am besten zu erkennenden unter ihnen gewährte. Wenn man einr solche Analyse vornimmt, erwirbt man auf billige Weise ein glückliches Bewußtsein einerseits hinsichtlich der Gerechtigkeit der Gi216 Diese Vermerke finden sich in den Tableaux des ordres du Roi pour l'inearchu tion à l'Hôpital général und in den États des personnes détenues par ordre du roi Charenton et à Saint-Lazare in der Bibliothèque de l'Arsenal. 217 Ein Beispiel für diese A r t des Vorgehens haben wir bei H . Bonnafous-Seriec. La Charité de Senlis, Paris 1936.
schichte und andererseits hinsichtlich der Ewigkeit der Medizin. Die Medizin wird durch eine vormedizinische Praxis verifiziert, und die Geschichte wird durch eine A r t sozialen, spontanen, unfehlbaren und reinen Instinkts gerechtfertigt. Es genügt, diesen Postulaten ein festes Vertrauen in den Fortschritt hinzuzufügen, damit man nur noch den dunklen Weg nachzeichnen muß, der von der Internierung - einer schweigsamen Diagnose, die durch eine Medizin erstellt wird, die noch nicht in der Lage ist, sich zu artikulieren - zur Hospitalisierung verläuft, deren erste Formen im achtzehnten Jahrhundert bereits den Fortschritt vorwegnehmen und symbolisch ihr Ende andeuten. Aber unglücklicherweise liegen die Dinge komplizierter. Man kann allgemein sagen, daß die Geschichte des Wahnsinns in keinem Fall als Rechtfertigung und als Hilfswissenschaft für die Pathologie der Geisteskranken dienen kann. Der Wahnsinn macht in der Entwicklung seiner historischen Wirklichkeit in einem bestimmten Moment eine Kenntnis der Aliénation in einer A r t von Positivität möglich, die ihn als Geisteskrankheit einkreist. Aber nicht diese Erkenntnis ist es, die die Wahrheit seiner Geschichte bildet und sie insgeheim von ihrem Ursprung an belebt. Wenn wir während einer bestimmten Zeit haben glauben können, daß seine Geschichte darin ihr Ende fand, so war das deshalb möglich, weil wir nicht erkannt haben, daß der Wahnsinn als Erfahrungsgebiet sich niemals in der medizinischen Erkenntnis oder paramedizinischen Erkenntnis erschöpfte, die man von ihm gewinnen konnte. Dennoch könnte die Tatsache der Internierung an sich dafür als Beweis dienen. Wir müssen einen Augenblick darauf zurückkommen, was die Gestalt des Irren vor dem siebzehnten Jahrhundert sein konnte. Man neigt dazu zu glauben, daß er sein persönliches Merkmal nur von einem bestimmten medizinischen Humanismus erhalten hat, als sei die Gestalt seiner Individualität stets nur etwas Pathologisches gewesen. Tatsächlich hatte der Irre, lange bevor er den medizinischen Status ^rwarb, den ihm der Positivismus gegeben hat, bereits im Mittelalter dne Art persönlicher Kompaktheit erhalten. Dies war wahrscheinlich mehr eine Individualität der Rolle als des Kranken. Der Wahnsinnige. den Tristan simuliert, und der »derve«, der im Jeux de la feuillée .rsdieint, haben bereits ziemlich besondere Werte, um Rollen zu kon' dtuieren und in den vertrautesten Landschaften Platz zu nehmen. Der Wahnsinnige bedurfte nicht der Determinationen durch die Mediin. um zu seinem Individualreidi zu gelangen. Der Ring, mit dem ~an ihn im Mittelalter umgeben hat, reichte dazu aus. Diese Indivi-
dualität ist aber weder fest noch völlig unbeweglich geblieben. Sie hat sich in der Renaissance gelöst und gewissermaßen reorganisiert. Seit dem Ende des Mittelalters ist sie durch die Sorgfalt eines bestimmten medizinischen Humanismus bezeichnet worden. Das geschah möglicherweise unter dem Einfluß, den der Orient und das arabische Denken mit ihrer determinierenden Rolle ausgeübt haben. Tatsächlich scheint man in der arabischen Welt sehr früh wirkliche Hospitäler gegründet zu haben, die den Geisteskranken vorbehalten waren, so zum Beispiel in Fez bereits im siebten Jahrhundert 1 ' 8 , vielleicht auch in Bagdad gegen Ende des zwölften Jahrhunderts 2 '', ganz bestimmt aber in Kairo im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts. Dort wird eine A r t Seelenkur praktiziert, zu der Musik, Tanz, Schauspiel und der Vortrag wunderbarer Erzählungen gehören. Ärzte leiten die Behandlung und entscheiden über einen Abbruch, wenn sie die Behandlung als erfolgreich erkannt haben.220 Es ist auf jeden Fall kein Zufall, wenn die ersten Hospitäler für Geisteskranke in Europa genau gegen Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts in Spanien gegründet worden sind. Es ist ebenfalls bezeichnend, daß die Barmherzigen Brüder, die mit der arabischen Welt sehr vertraut sind, weil sie den Rüchkauf der gefangenen Christensklaven praktizieren, das Hospital in Valencia eröffnet haben. Die Initiative dazu ist von einem Mönch dieses Ordens im Jahre 1409 ergriffen worden. Weltliche, vor allem reiche Händler, unter ihnen zum Beispiel Lorenzo Salou, hatten es übernommen, den Grund und Boden zusammenzubringen. 22 ' 1425 wurde dann das Hospital in Saragossa gegründet, dessen kluge Ordnung Pinel fast vier Jahrhunderte später noch bewundern sollte: große Aufnahmebereitschaft für Kranke aus allen Ländern, Kranke aller Regierungen, aller Glaubensbekenntnisse, wie die Inschrift urbi er orbi es bezeugt; und jenes Leben im Garten, das die Verirrung der Geister durch die jahreszeitliche Ordnung »der Ernten, der Weinlauben, der Weinernte und der Olivenernte« rhythmisiert.222 Weiter218 Journal of Mental Science, Bd. 10, S. 256. 219 Journal of Psychological Medecine, 1850, S. 426. Die entgegengesetzte AnsicV wird von Johann Baptist Ullerspergcr, Die Geschichte der Psychologie und Psych, atrie in Spanien, "Würzburg 1871, vertreten. 220 F. Sandwith, »The Cairo Lunatic Asylum«, in: Journal of Mental Science, ßd 34. S. 473-474· 221 Der König von Spanien und, am 26. Februar 1410, der Papst gaben ihre Z. Stimmung. Vgl. H . Laehr, Gedenktage der Psychiatrie, Berlin 1893, S. 417. 222 Philippe Pinel, Traité médico-philosophique sur l'aliénation mentale ο<· manie, Paris, An I X , S. 238-239.
hin gibt es solche Gründungen in Spanien noch in Sevilla (1436), Toledo (1483) und Valladolid (1489). Diese Hospitäler haben einen medizinischen Charakter, dessen wahrscheinlich die Dollhäuser, die bereits in Deutschland existieren" 3 , oder das berühmte Haus der Charité in Upsala" 4 entbehren. Auf jeden Fall sieht man in ganz Europa etwa zur gleichen Zeit Institutionen eines gleichen Typus entstehen, wie die Casa di maniaci in Padua (gegen 1410) oder das Asyl in Bergamo.211 In den Hospitälern beginnt man, den Geisteskranken Säle zu reservieren, und am Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts wird auf die Anwesenheit von Irren im Hospital von Bedlam hingewiesen, das in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts gegründet und 1373 durch die Krone konfisziert worden war. Zur gleichen Zeit finden sich Hinweise auf Gebäude in Deutschland, die speziell für die Irren bestimmt sind. In Nürnberg gibt es zunächst das Narrhäuslein, 2li dann, 1477, ein im Hospital von Frankfurt errichtetes Gebäude für Geisteskranke und ungehursame Kranke.21'' In Hamburg wird 1376 eine cista stolidorum erwähnt, die man auch Custodia fatuorum nennt.228 Ein weiterer Beweis für den eigenartigen Status, den der Irre am Ende des Mittelalters erhält, ist die seltsame Entwicklung der Kolonie Gheel. Dieser wahrscheinlich seit dem zehnten Jahrhundert besuchte Pilgerort bildet ein Dorf, dessen Bevölkerung sidi zu einem Drittel aus Geisteskranken zusammensetzt. Der Irre, der dem täglichen Leben des Mittelalters und an dessen gesellschaftlichem Horizont gegenwärtig und vertraut war, wird in der Renaissance auf eine andere Weise wiedererkannt und in gewissem Sinne nach einer neuen spezifischen Einheit gruppiert: er wird durch eine zweifellos doppeldeutige Praxis, die ihn in der Welt isoliert, ohne ihm genau einen medizinischen Status zu geben, eingekreist. Er wird ;um Gegenstand einer Sorge und Gastlichkeit, die ihn betreffen, nur ihn und niemand sonst auf genau die gleiche Weise. Nun wird das iebzehnte Jahrhundert nicht dadurch charakterisiert, daß es mehr •der weniger schnell auf dem Weg fortgeschritten ist, der zur Aner223 Wie Jas in St. Georgen. Vgl. T . Kirchhoff, Deutsche Irrenärzte, Berlin 1921,
S 24. 124 Laehr, a. a. O . .i\ Richard Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie, 3 Bde., Stuttgart 1879, Bd. I, S 4«, Anm. : Hinweis im Buch des Architekten Tucker: »Pey der spitallpruck das narrhewsin gepen dem Karll Holtzschmer über.« V g l . Kirdihoff, a. a. O., S. 14. . Kirdihoff, a. a. O., S. 20. Otto Beneke, Hamburgische Geschichten, 2 Bde., Berlin 1886-1888.
kennung des Irren und dadurch zur wissenschaftlichen Erkenntnis, die man von ihm erreichen kann, führt. Im Gegenteil wird das siebzehnte Jahrhundert dadurch charakterisiert, daß es den Geisteskranken ziemlich unscharf unterscheidet und ihn gewissermaßen in eine undifferenzierte Masse aufgenommen hat. Es hat die Linien eines Gesichts verwischt, das sich bereits seit Jahrhunderten individualisiert hatte. Im Verhältnis zum Irren der Narrtürme und der ersten spanischen Asyle hat der Wahnsinnige des klassischen Zeitalters, der mit den Geschlechtskranken, den Verkommenen, den Libertins, den Homosexuellen zusammen eingeschlossen ist, die Merkmale seiner Individualität verloren und löst sich in einer allgemeinen Wahrnehmung der Unvernunft auf. Dies ist die seltsame Entwicklung einer Sensibilität, die die Feinheit ihrer differenzierenden Kraft zu verlieren und zu massiveren Wahrnehmungsformen zurückzugehen scheint. Die Perspektive wird einförmiger, so daß man sagen kann, daß inmitten der Asyle des siebzehnten Jahrhunderts der Wahnsinnige sich bis zu dem Punkt in Grau verliert, daß seine Spur bis hin zur Reformbewegung, die de·· Revolution zeitlich etwas vorausgeht, schwierig zu verfolgen ist. Das siebzehnte Jahrhundert kann verschiedene Anzeichen dieser »Verwirrung«, und dies sogar im Laufe seiner Entwicklung selbstaufweisen. Man kann die Veränderung unmittelbar erfassen, die vor dem Ende des Jahrhunderts Anstalten erfahren, die ursprünglich mehr oder weniger ganz für die Wahnsinnigen bestimmt gewesen zu sein scheinen. Als die Barmherzigen Brüder sich in Charenton nieder lassen (10. Mai 164$), geht es ihnen darum, ein Hospital zu errichten, in dem die kranken Armen, und unter ihnen auch die Geisteskranken, aufgenommen werden sollen. Charenton unterscheidet sich r nichts von den Hospitälern der Charité, so wie sie sich seit der Gründung des Ordens der Barmherzigen Brüder im Jahre 1640 in Euror ständig ausgebreitet haben. Vor dem Ende des siebzehnten Jahrhu· derts jedoch erweitert man die Hauptgebäude, die für alle Eingeschic senen bestimmt sind: Sträflinge, Wahnsinnige und Insassen, die durlettres de cachet eingewiesen worden sind. 1720 wird zum ersten M in einem Kapitulare eine »geschlossene Station« erwähnt."' Sie mw bereits seit einiger Zeit bestanden haben, denn in dieser Zeit gah außer den Kranken selbst eine Zahl von insgesamt hundertzwan. anderen Insassen, unter denen sich auch die Geisteskranken befände: Wenn man den ersten Biographen des Heiligen Vincent de Paul gl 229 Esquirol, Mémoire historique et statistique sur la Maison Royale de Chan in: ders., Des maladies mentales, Paris 1838, Bd. 2, S. 204 und 208.
ben will, hat dieser eine gewisse Zeitlang gezögert, bevor er dieses alte Leprosorium für seine Kongregation übernahm. Ein Argument soll ihn schließlich zu dieser Entscheidung gebracht haben: die Anwesenheit einiger Irrer in der Priorei, denen er seine Pflege zuteil werden lassen wollte. 2 ' 0 Wenn wir an dem Bericht das wegstreichen, was er an willentlich apologetischer Zielsetzung enthalten mag und was man dem Heiligen rückblickend an humanitären Gefühlen unterstellen kann, so bleibt es möglich, wenn nicht wahrscheinlich, daß man bestimmte Schwierigkeiten bei der Zuweisung dieses Leprosoriums und seiner beträchtlichen Güter, die immer den Rittern von SaintLazare gehörten, dadurch beseitigen wollte, daß man daraus ein Hospital für die »armen Irren« machte. Sehr schnell aber verwandelte man es in ein »Arbeitshaus für die auf Befehl Seiner Majestät eingesperrten Personen«.13' Die Geisteskranken, die sich darin befanden, wurden durch diesen Vorgang dem Strafvollzug unterworfen. Das '•ußte auch Pontchartrain, der am 10. Oktober 1703 an den Leutnant d'Argenson schrieb: »Sie wissen, daß die Herren in Saint-Lazare -it langem beschuldigt werden, die Gefangenen mit großer Härte zu •^handeln und sogar diejenigen, die als Geistesschwache oder wegen rcr Sittenlosigkeit dorthin gebracht worden sind, daran hindern, aii sie ihren verbesserten Zustand ihren Verwandten zeigen können, Uta sie so länger dort zu behalten.«232 Es handelt sidi wohl um ein -atsystem, das der Autor der Relation sommaire beschreibt, als er Spaziergang der Geisteskranken evoziert: »Die Sdiutzengel oder •e bewachenden frommen Brüder der Geisteskranken führen diem Hofe des Hauses an den Nachmittagen der Werktage spazieren ïnken sie alle mit dem Stock in der Hand, wie man eine HamSerde leitet, und wenn einige sich etwas von der Gruppe fortbe:en oder nicht so schnell wie die anderen laufen können, schlägt •.e mit dem Stock, und zwar auf so heftige Weise, daß man in-Jessen bereits Verkrüppelte und andere gesehen hat, denen der Κ pt .ingesdilagen worden ist und die an den erhaltenen Schlägen 'ben sind.«233 innte glauben, daß darin nur eine bestimmte der Internierung ^llet. Vie de saint Vincent de Paul, 3 vols., Paris 1818, Bd. I, S. 310-312. ^ zu ihnen die gleiche Neigung wie eine Mutter zu ihrem Sohn.« bibliothèque Nationale, Collection »Joly de Fleury«, Ms. 1309. rt bei Jacques Vié, Les aliénés et correctionnaires à Saint-Lazare aux XVIII' siècles, Paris 1930. •lation sommaire et fidèle de Γ affreuse prison de Saint-Lazare, Collection
der Geisteskranken eigene Logik liegt, insoweit die Internierung zunehmend der ärztlichen Kontrolle entrât, entwickelt sie sich dann nämlich zur Einsperrung; aber es scheint, daß es sich um etwas ganz anderes als um eine administrative Fatalität handelt, denn nicht nur die Strukturen und implizierten Organisationen, sondert das Bewußtsein, das man vom Wahnsinn hat, ist hier von Bedeutung. Dieses Bewußtsein gerät ins Gleiten und vermag eine Irret anstalt nicht mehr als ein Hospital aufzufassen, sondern höchstens als ein Zuchthaus. Als man in der Charité von Senlis 1675 eine besondu zuchthausähnliche Abteilung schafft, heißt es von Anfang an, daß für »die Irren, die Libertins und andere, die die Regierung des iv nigs einsperren läßt«, reserviert ist. 2 » Auf sehr gezwungene We läßt man den Wahnsinnigen vom Krankenhausregister in das Ru: ster des Zuchthauses wechseln und hüllt ihn in eine moralische Erfa rung der Unvernunft ein, die von völlig anderer Beschaffenheit während man die äußeren Zeidien, die ihn unterschieden, sich verwischen läßt. Es muß hier genügen, ein einziges Beispiel als Zeus, anzuführen. In Bedlam hatte man in der zweiten Hälfte des siebzc! ten Jahrhunderts die Gebäude wieder errichtet. 1703 läßt Ned Vi eine der Personen seines London Spy sagen: »Wirklich, ich denke. J.n sind Irre, die ein so teures Gebäude für zerrüttete Gehirne (/<>> J crack brain society) gebaut haben. Ich füge hinzu, daß es sehr sch ist, daß ein so sdiönes Gebäude nicht von Leuten bewohnt wird. sich ihres Glücks bewußt sind.«-" Was zwischen dem Ende der naissance und dem heraufkommenden klassischen Zeitalter gesutohen ist, kann nicht nur als eine Entwicklung der Institutionen bezi net werden. Es handelt sich auch um eine Veränderung im BewuWsein vom Wahnsinn. Dieses Bewußtsein wird von nun an von Internierungshäusern, den Zuchthäusern und Arbeitshäusern dat stellt. Wenn es ein Paradox ist, daß man zur gleichen Epoche Irre in ••Joly
"
- lien von Hospitälern und gleichzeitig unter den Zuchthäuslern und .tangenen findet, liegt darin keinesfalls ein Zeichen für einen sidi Uziehenden Fortschritt, etwa einen Fortschritt, der vom Gefängnis ur Heilanstalt, von der Einkerkerung zur therapeutischen Behandηε verliefe. Tatsächlich bezeichnen die Irren, die im Hospital sind, hrend des ganzen klassischen Zeitalters einen überholten Zustand lier Dinge. Sie weisen auf jene Epoche, die vom Ende des Mittelalters zum Ende der Renaissance dauerte, zurück, in der der Irre als solar sogar außerhalb eines präzisen medizinischen Status anerkannt J isoliert wurde. Hingegen verweisen die Irren in den Hôpitaux neraux, den workhouses, den Zuchthäusern auf eine bestimmte Er'irung mit der Unvernunft, die in hohem Maße mit dem klassischen '.alter zeitgleich ist. Wenn tatsächlich eine chronologische Abstu•i.ng zwischen diesen beiden Arten, die Geisteskranken zu behandeln, fliegt, dann gehört nicht das Hospital zu der jüngeren geologischen idit. Es bildet im Gegenteil ein archaisches Element. Der Beweis ur ist darin zu sehen, daß es in einer Art Gravitation sich ständig die Internierungshäuser zu bewegt hat und gewissermaßen von en so weit assimiliert wurde, daß es beinahe mit ihnen verwechselt r Je. Von dem Tage an, an dem Bedlam, einst Hospital für die heil..n Mondsüchtigen, auch für die geöffnet wurde, die es nicht waren -\VP, stellte es keinen großen Unterschied mehr zu den Hôpitaux raux oder irgendeinem der Zuchthäuser dar. Saint-Luke sogar -.hl. ubwohl es später gegründet worden ist (und zwar 1751, um im zu entlasten), dieser Übernahme der Zuchthausbehandlung Als Tuke am Ende des Jahrhunderts Saint-Luke besucht, ver1 t er in seinen Notizen, in denen er seine Beobachtungen zusam·• 'aiSte: .Der Superintendant hat in der medizinischen Praxis nie Kroßen Vorteil gesehen ( . . . ) . Ich meine, daß die Abgeschlos't und der Zwang vorteilhaft als Strafe auferlegt werden könuid meine allgemein, daß die Angst das wirksamste Prinzip ist, Wahnsinnigen zu einem geordneten Benehmen zurückzubrinjcn.«'!'
ik. die Gegebenheiten des Problems zu vertauschen, wenn man ternierung (wie man es zu tun gewohnt ist) so analysiert, daß (kr Vergangenheit alles mit einer Gefangenschaft Zusammen.nde in Rechnung stellt und einer sich entwickelnden Zukunft •Jireibt, was bereits die psychiatrische Klinik voraussehen läßt. : • D Tukc, a.a.O., S. 89-90.
Die Irren sind tatsächlich, vielleicht unter dem Einfluß des arabischen Denkens und der arabischen Wissenschaft, in Gebäuden untergebracht worden, die für sie bestimmt waren und von denen vor allem in Südeuropa sich einige ziemlich an die Hospitäler anglichen, damit sie darin wenigstens wie Kranke behandelt werden konnten. Diesen Status, den sie vor langer Zeit erlangt haben, bezeugen bestimmte Hospitäler während des ganzen klassischen Zeitalters bis hin zur Zeit der großen Reform. U m diese bezeugenden Einrichtungen herum errichtet das siebzehnte Jahrhundert eine neue Erfahrung, indem der Wahnsinn unbekannte Verwandtschaften mit moralischen und gesellschaftlichen Gestalten knüpft, die ihm noch fremd waren. Es handelt sich hier nicht darum, eine Hierarchie herzustellen oder zu zeigen, daß die klassische Zeit im Verhältnis zum sechzehnten Jahrhundert in der Erkenntnis, die sie vom Wahnsinn erlangt hat, zurückschritt. Wir werden noch sehen, daß die medizinischen Texte des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts das Gegenteil zur Genüge beweisen. Es handelt sich lediglich darum, die Zeichnung und die Strukturen dieser Erfahrung mit dem Wahnsinn, wie sie die klassische Zeit tatsächlich gemacht hat, erscheinen zu lassen, indem wir die Chronologie und historische Abfolge jeder Perspektive von »Fortschritt« herausarbeiten und der Geschichte der Erfahrung eine Bewegung wiedergeben, die der Finalität der Erkenntnis oder der Orthogenese der Gelehrsamkeit nichts nimmt. Diese Erfahrung ist im Verhältnis zu einer anderen weder voraus noch zurück. Man kann möglicherweise von einem Sturz der diskriminierenden Kraft in der Wahrnehmung des Wahnsinns sprechen, und man kann vielleicht sagen, daß das Gesicht des Geisteskranken zu verschwinden neigt. Dabei handelt es sich dann aber weder um ein Werturteil noch um die rein negative Aussage eines Defizits der Erkenntnis. Es handelt sich lediglich um die noch völlig äußerliche Weise, sich einer sehr positiven Erfahrung mit dem Wahnsinn zu nähern, die, indem sie dem Irren die Präzision seiner Individualität und der Statur, in der ihn die Renaissance charakterisiert hatte, entreißt und ihn in eine neue Erfahrung einbettet, ihre sogar jenseits unseres gewöhnlichen Erfahrungsfeldes ein neues Gesicht bereitet: in diesem Gesicht glaubt die Naivität unseres Positivir mus die Natur jeden Wahnsinns wiederzuerkennen. Die neben die Internierung gestellte Hospitalisierung muß uns wege· des chronologischen Merkmals alarmieren, das diesen beiden institutionellen Formen eigen ist, und uns mit ziemlicher Klarheit zeige' Ii
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daß das Hospital nidit die dem Zuchthaus nahe Wahrheit ist. Den110dl erhalten sidi in der globalen Erfahrung mit der Unvernunft im Zeitalter der französischen Klassik die beiden Strukturen. Wenn eine neuer und kräftiger ist, bedeutet das nicht, daß die andere jemals völlig beseitigt wäre. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Wahnsinns, im synchronen Bewußtsein, das ihn aufnimmt, muß man also jene Dualität wiederfinden, die zugleich Zäsur und Gleichgewicht ist. Die Anerkennung des Wahnsinns im kanonischen Recht wie im römischen Recht war mit ihrer Diagnose durch den Arzt verbunden. Das medizinische Bewußtsein war in jedes Urteil über Geisteszerrüttung impliziert. In seinen Quacstiones medico-legalcs, die zwischen 1624 und 1650 redigiert worden sind, zog Zacchia die genaue Bilanz jeglicher christlichen Jurisprudenz, die den Wahnsinn betraf. 2 ' 7 Für alle Ursachen von dementia et rationis laesione et morbis omnibus qui rationem laedunt ist Zacchias streng: allein der A r z t kann kompetent beurteilen, ob ein Individuum wahnsinnig ist und welchen Grad der menschlichen Fähigkeiten ihm seine Krankheit läßt. Ist es nicht bezeichnend, daß diese strenge Verpflichtung, die ein in der Praxis des kanonischen Redits ausgebildeter Jurist als eine Evidenz zuläßt, hundertfünfzig Jahre später bereits mit Kant zum Problem wird 2 ' 8 und daß sie zur Zeit Heinroths und dann zur Zeit von Elias Rignault eine Ranze Polemik entfacht? 2 " Die medizinische Beteiligung an der Begutachtung wird nicht mehr als selbstverständlich anerkannt, und man muß sie mit neuem Aufwand herrichten. Für Zacchia ist die Situation noch völlig klar. Ein Jurist kann einen Geisteskranken an seinen Worten erkennen, wenn dieser nicht in der Lage ist, sie zu ordnen. Er kann ihn auch an seinen Handlungen erkennen, an einer Inkohärenz seiner Gesten oder Absurdität seines bürgerlichen Benehmens: man hätte erkennen können, daß Claudius wahnsinnig war, venn man lediglich bedenkt, daß er Nero als Erben dem Britannicus vorgezogen hat. Das sind jedoch nur Vorgefühle, allein der Arzt kann ie in Gewißheit verwandein. Er hat bei seiner Untersuchung ein gan:cs Signalsystem zur Verfügung. In der Sphäre der Leidenschaften - - Ms Arzt in Rom war Zacchia (1584—1659) oft vom Tribunal der Rota für Guthten in Zivil- und Kirchenangelegenheiten befragt worden. V o n 1624 bis 1650 röffcntliduc er seine Quacstiones medico-legalcs. Von der Macht des Gemüths, •Me Meister zu sein (1797).
durch den bloßen
Vorsatz
seiner
krankhaften
iohann Christian Friedrich August Heinroth, Lehrbuch der Störungen ..nlebens, 2 Teile, Leipzig 1818; Élias Rcgnault, Du degré de compétence Jtcins, Paris 1828.
des des
denunziert eine ständige und motivlose Traurigkeit die Melancholie, während im Bereich des Körpers die Temperatur die Phrenesie von allen fieberhaften Formen des Furor zu unterscheiden gestattet. Das Leben des Patienten, seine Vergangenheit, die Beurteilungen, die man ihm seit der Kindheit hat zuteil werden lassen, all das muß sorgfältig abgewogen werden, damit der A r z t nun eine Beurteilung abgeben und feststellen kann, ob eine Krankheit vorliegt oder nicht. Die A u f gabe des Arztes endet jedoch nicht bei dieser Entscheidung, weil eine feinere Arbeit dann erst beginnt. Es muß festgestellt werden, welche Fähigkeiten (Erinnerung, Vorstellungskraft oder Verstand) auf welche Weise und in welchem Ausmaß geschädigt sind. So wird der Verstand in der fatuitas vermindert, in den Leidenschaften oberflächlich pervertiert und bei Phrenesie und Melancholie stark verdorben. Die Manie, der Furor und andere krankhafte Formen des Schlafes beseitigen ihn schließlich völlig. Wenn man dem Faden dieser verschiedenen Fragen folgt, kann man das verschiedene Verhalten der Menschen untersuchen und bestimmen, in welchem Maß man die unterschiedlichen Verhaltensformen dem Wahnsinn zuschreiben kann. Es gibt zum Beispiel Fälle, in denen die Liebe eine Geisteszerrüttung ist. Noch bevor man den medizinischen Fachmann befragt, kann der Urteilende das ahnen, wenn er im Benehmen der Person eine äußerste Koketterie, ein ständiges Suchen nach auffälliger Kleidung und Parfums beobachtet oder auch, wenn er die Gelegenheit hat, feststellt, daß die Person sich ständig in einer wenig belebten Straße aufhält, durch die eine hübsche Frau geht. Indessen skizzieren all diese Zeichen kaum mehr als eine Wahrscheinlichkeit. Wären sie auch alle zusammen zutreffend, sie trügen nod nicht die Entscheidung davon. Die unzweifelbaren Anzeichen d r Wahrheit kann nur der Arzt feststellen. Hat die Person Appetit unci Schlaf verloren, hat sie tiefliegende Augen, gibt sie sich langen Atigenblicken von Traurigkeit hin? In diesem Fall ist ihr Verstand bireits verdorben und von jener Melancholie der Liebe betroffen. J>« Hucherius als »schwarzgallige Krankheit einer Seele, die unvernfin: tig ist, weil sie vom Phantom und der falschen Einschätzung der Schönheit betrogen wird«, definiert. Falls aber, wenn der Kranke de Gegenstand seiner Erregung entdeckt, seine Augen starr werden. ieiPuls sich beschleunigt, und er in eine große ungeordnete Erregt!, gerät, muß er als unverantwortlich betrachtet werden, genau wii gendein manisch Kranker. 3 *" 240 Zacdiia, a. a. O., Buch II, Titel I. irS
Die Entscheidungskraft ist dem ärztlichen Urteil überlassen, das ganz allein Zutritt zu der Welt des Wahnsinns verschafft und allein das Normale vom Wahnsinnigen, das Verbrecherische vom unverantwortlichen Geisteskranken trennt. Die Praxis der Internierung wird aber nadi einer ganz anderen Art strukturiert. Keinesfalls wird sie nach einer ärztlichen Entscheidung angeordnet, denn sie hängt von einem anderen Bewußtsein ab. Die Jurisprudenz der Internierung ist hinsichtlich der Irren ziemlich komplex. Nimmt man die Texte streng bei ihrem Sinn, so scheint eine ärztliche Untersuchung immer verlangt worden zu sein. In Bedlam verlangt man bis 1733 ein Zertifikat, aus dem hervorgeht, daß der Kranke geheilt werden kann, das heißt, daß er kein Idiot von Geburt an und nicht von einer permanenten Krankheit befallen ist.241 In den Petites-Maisons hingegen verlangt man ein Zertifikat, daß der entsprechende Mensch vergeblich behandelt worden und daß seine Krankheit unheilbar ist. Verwandte, die ein Mitglied ihrer Familie zu den Irren von Bicêtre bringen lassen wollen, müssen sich an den Richter wenden, der »dann den Besuch eines Arztes und eines Chirurgen beim Irren anordnen wird, die einen Bericht anfertigen und dem Gerichtsschreiber übergeben werden«.2,t2 Hinter diesen administrativen Vorsichtsmaßnahmen sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. In England entscheidet der Friedensrichter über die Internierung, sei es, daß er von der Umgebung des Betreffenden dazu aufgefordert wird, sei es, daß er von alleine im Interesse der Ordnung seines Distrikts Internierung für notwendig hält. In Frankreich "ird die Internierung manchmal durch ein Gerichtsurteil dekretiert, venn der Angeklagte eines Delikts oder eines Verbrechens überführt ird.2« Der Kommentar zur Ordonnance über die Strafgesetzgebung von 1670 sieht den Wahnsinn als Rechtfertigungsgrund an, des.n Beweis erst nach Durchlaufen des Prozesses anerkannt wird. Wenn fan nach Information über das Leben des Angeklagten eine Verwir• ins seines Geistes feststellt, entscheiden die Richter, daß man ihn in ncr Familie bewachen, in einem Hospital oder in einem Zuchthaus :ernieren muß, »damit er dort wie die anderen Wahnsinnigen beitan-Pierre Falret, Des maladies mentales et des asiles d'aliénés, Paris 1864, •s • : Formalités à remplir pour l'admission des insensés à Bicêtre. Bei Emile Richard, •'e de Bicêtre, Paris 1889, zitiertes Dokument. Jiesem Fall finden wir in den Registern des Hôpital in Paris Erwähnungen 1er Art: «Aus dem Gefängnis der Conciergerie kraft eines Erlasses des ParlaUrführt n a c h . . . «
handelt wird«. Selten sieht man die Behörden zu einer ärztlichen Untersuchung greifen, obwohl seit 1603 »in allen guten Städten des K ö nigreiches zwei Personen der ärztlichen Kunst von größtem Ansehen, größter Rechtschaffenheit und Erfahrung ernannt worden sind, um die Besuche und Berichte für die Justizbehörden zu machen«.244 Bis 1692 sind alle Internierungen in Saint-Lazare auf Befehl der Behörden erfolgt und tragen außerhalb jeden ärztlichen Zertifikats die Unterschrift des ersten Präsidenten des Parlaments, des Zivilrichters, des lieutenant au Chatclet oder der Provinzstatthalter. Wenn es sich um Mönche oder Nonnen handelt, werden die Befehle von den Bischöfen und den Stiftsversammlungen unterzeichnet. Die Situation wird am Ende des siebzehnten Jahrhunderts zugleich komplizierter und einfacher, denn im März 1667 wird die Stelle eines Oberpolizeidirektors geschaffen.'·" Viele Internierungen, die meisten davon in Paris, geschehen auf sein Verlangen und allein unter der Bedingung, daß die jeweilige Einweisung von einem Minister gegengezeichnet wird. Seit 1692 geschieht die Prozedur natürlich am häufigsten durch eine lettre de cachet. Die Familie oder die Umgebung des betreffenden Menschen stellt den Antrag beim König, der dem stattgibt und, nach Untersdirift durch einen Minister, den Befehl vollstrecken läßt. Verschiedene dieser Anträge werden mit ärztlichen Bescheinigungen begründet, aber das sind die seltensten Fälle.-46 Gewöhnlich werden nur Aussagen der Familie, der Nachbarschaft und des Gemeindepfarrers beigefügt. Die nächsten Verwandten haben die größte Autorität, um ihren Klagen und ihren Wahrnehmungen in dem Begleitschreiben, durch das sie eine Internierung verlangen, Nachdruck zu verleihen. Man achtet soviel wie möglich darauf, die Zustimmung der ganzen Familie zu erhalten oder jedenfalls die Ursachen der Rivalität oder der Interessen zu erkennen, die in den entsprechenden Fällen dit Einstimmigkeit verhindert. 147 Es kommt jedoch vor, daß die weite 244 Diese Ordonnance wurde 1692 vervollständigt, wonach zwei Experten in rede Stadt vorgesehen sind, die einen H o f , einen Bischofssitz, ein Landgericht udr Hauptpachtrecht hat. Für die anderen Städte ist nur einer vorgesehen. 245 Dieses A m t wird durch eine Ordonnance von 1699 verallgemeinere »für all. Städte und Orte unseres Königreiches, in denen seine Einführung für nötig erachtet wird«. 246 Vgl. etwa den Brief von Bertin an La Michodière wegen einer Frau Rodeva! (Archives de la Seine Inférieure, C j z ) und den Brief des Wahlunterdelegierten von Saint-Venant über den sieur Roux (Archives du Pas-de-Calais, 709, Ρ 16y ). 247 »Man muß folgende Vorsichtsmaßnahmen beachten: erstens müssen die sagen von den nächsten Verwandten väterlicherseits und mütterlicherseits untir-
Umgebung, sogar die Nachbarn, eine Internierungsmaßnahme erreichen können, mit der die Familie nicht einverstanden ist.14® Daran kann man ablesen, in welchem Maße der Wahnsinn im siebzehnten Jahrhundert eine Angelegenheit gesellschaftlichen Empfindens geworden ist245; indem er dadurch in die Nähe des Verbrechens, der Unordnung, des Skandals rückt, kann er wie sie durch die spontansten und primitivsten Formen jenes Empfindens beurteilt werden. Die Tatsache des Wahnsinns kann nicht sosehr durch eine medizinische Wissenschaft wie durch ein skandalwitterndes Bewußtsein determiniert und isoliert werden. In dieser Maßnahme verfügen die Repräsentanten der Kirche über eine privilegierte Stellung, die sie bei der Beurteilung eventuellen Wahnsinns noch über die Repräsentanten des Staates erhebt. 2 ' 0 Als Breteuil 1784 den Gebrauch der lettres Je cachet begrenzt und sie bald außer Gewohnheit kommen läßt, besteht er darauf, daß, soweit dies möglich ist, die Internierung nicht vor der juristischen Prozedur des Entzugs der bürgerlichen Ehrenrechte vorgenommen wird. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme im Vergleich zu der Willkür des Einverständnisses der Familie und des königlichen Befehles. Aber dadurch wird die Autorität der Medizin nicht in objektiverem Maße beansprucht. Im Gegenteil, die Entscheidungsgewalt wird an eine richterliche Autorität übergeben, die den Mediziner nicht befragt. Der Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte erfordert in der Tat keine medizinische Untersuchung; er bleibt völlig eine zwischen den Familien und den Justizbehörden zu regelnde Angelegenheit.2'1 Die Internierung und die Praktiken der Jurisprudenz, Jie sich um sie haben lagern können, haben keinesfalls eine strengere medizinische Durchdringung des Wahnsinnigen gestattet. Ganz im Gegenteil scheint man mehr und mehr geneigt zu sein, auf diese ärzt'iche Kontrolle, die im siebzehnten Jahrhundert in der Anstaltsordnung verschiedener Hospitäler vorgesehen war, zu verzichten und .ichnet sein, zweitens muß man genau festhalten, wer nicht unterzeichnet hat und •ldie Gründe sie daran gehindert haben, außerdem muß man unabhängig davon Mc Richtigkeit der Darstellung genauestens prüfen.« Zitiert bei Aristide Joly, Les 1res de cachet dans la généralité de Caen au XVIIIe siècle, Paris 1864. Vgl. Jen Fall Lecomte in den Archives de l'Aisne, C 677. : Vgl. Jas Protokoll über Louis François Soucanye de Moreuil, Bibliothèque de "enal. Ms. 12684. Vgl. die zitierte schriftliche Bescheinigung bei Edmont Locard, Le XVII' siècle hca-judiciaire, Lyon 1902, S. 172. Vgl. den Artikel »Interdit* im Dictionnaire de droit et de pratique von Claudeph de Ferrière, Paris 1769, Bd. II, S. 48-50.
die Entscheidungsgewalt, durch die der Wahnsinn, wo er vorhandi ist, erkannt werden muß, immer mehr zu »vergesellschaften«. Es ist nichts Erstaunliches daran, daß man noch am Anfang des neunzehrten Jahrhunderts wie über eine noch nicht gelöste Frage über die Eic nung der Ärzte diskutiert, die Aliénation zu erkennen und zu diagn stizieren. Was Zacchia, als Erbe der ganzen Tradition des christlichi Redits, ohne zu zögern, der Autorität der ärztlichen Wissenschaft Z' gestand, können anderthalb Jahrhunderte später Kant ihr streit machen und Régnault ihr bald völlig verweigern. Der Klassizism>:< und mehr als ein Jahrhundert Internierung hatten diese Arbeit vo' bracht. Wenn man die Dinge bei ihrem Resultat betrachtet, so scheint e: Abstufung zwischen einer juristischen Theorie des Wahnsinns, die genügendem Maße ausgearbeitet war, um mit Hilfe der Medizin 0 Grenzen und die Formen des Wahnsinns zu unterscheiden, und eint · gesellschaftlichen, beinahe polizeilichen Praxis vorhanden geweser sein, die den Wahnsinn in massiver Weise aufnimmt und Interr rungsformen benutzt, die bereits für die Repression vorbereitet •<· den sind, und Unterscheidungen, die durch den juristischen Sdiio spruch hergestellt worden sind, in ihren Feinheiten zu verfolgen nachlässigt. Diese Abstufung ist im ersten Augenblick, so könnte r glauben, völlig normal und auf jeden Fall sehr gebräuchlich. Da ristische Bewußtsein ist gewöhnlich stärker ausgearbeitet und fei als die Strukturen, die ihm dienen müssen, oder jene Institutioner. denen es sich zu realisieren scheint. Diese Abstufung erhält aber entscheidende Bedeutung und ihren besonderen Wert, wenn mar denkt, daß das juristische Bewußtsein vom Wahnsinn seit langer entwickelt worden war, nachdem es sich während des ganzen M ; alters und der Renaissance durch das kanonische Recht und das Fortbestehen des römischen Rechts konstituiert hatte, bevor sich die xis der Internierung eingestellt hat. Dieses Bewußtsein nimm die Praxis nicht voraus. Sie gehören beide zwei verschiedenen Welten Die eine gehört zu einer bestimmten Erfahrung mit der Person Rechtsperson, deren Formen und Verpflichtungen man analysiert, während die andere zu einer bestimmten Erfahrung des Individ als sozialen Wesens gehört. Im einen Fall muß man den Wahnf' : den Modifikationen analysieren, die er notwendig dem System Verpflichtungen zufügen muß. Im anderen Fall muß man ihn rr.;t len moralischen Verwandtschaften sehen, die seinen Ausschluß rechtfertigen. Insofern er juristische Person ist, befreit sich der Menw •
"er υ erantwortlichkeit in dem Maße, in dem er wahnsinnig ist. Als aies Wesen stellt ihn der Wahnsinn in die Nachbarschaft der Strafligkeit. Das Redit verfeinert also seine Analyse des Wahnsinns endlich, und in bestimmtem Sinne ist es richtig zu sagen, daß auf ir Hintergrund einer juristischen Erfahrung mit der Aliénation à die ärztliche Wissenschaft der Geisteskrankheiten errichtet hat. reits in den Formulierungen der Juristen des siebzehnten Jahrhunerts sieht man bestimmte der feinen Strukturen der Psychopatholouitauchen. Zum Beispiel unterscheidet Zacchia in der alten K a orie der fatuitas, der Imbezillität, Ebenen, die die Klassifikation 'uirols und bald die ganze Psychologie der Geistesschwächen vorihnen lassen. Er stellt an die erste Stelle einer absteigenden Ording die Dummen«, die als Zeugen auftreten, ihr Testament ma. ι, heiraten, aber nicht in einen geistlichen Orden eintreten oder ein '••mt ''erwalten können, »denn sie sind wie Kinder vor Beginn der rftät-. Die Imbezilen im eigentlichen Sinne (fatui) kommen da. Man kann ihnen keine Verantwortung zugestehen, ihr Geist licet unterhalb von dem des Alters, in dem die Vernunft beginnt, wie Kindern unter sieben Jahren. Die Stupiden (stolidi) sind genau Kieselsteine, man kann ihnen keinen juristischen A k t gestatten 'eileicht auf das Testament, wenn sie auch noch genug Unteriungsfähigkeit haben, um ihre Verwandten zu erkennen.2'2 icr Jem Druck der rechtlichen Begriffe und in der Notwendigkeit, uu die juristische Person zu umreißen, verfeinert sich die Analyse Jienation fortlaufend und scheint medizinische Theorien, die ihr oäter folgen, vorwegzunehmen. Per Unterschied ist sehr tief, wenn man mit diesen Analysen die Beergleicht, die in der Internierungspraxis im Gange sind. Ein mus wie der der Imbezillität hat nur in einem System ungefähf .r Äquivalenzen seinen Wert, das jede genauere Determination ausl. In der Charité von Senlis finden wir einen »Irren, der imbeorden ist«, einen »einst irren Mann, der jetzt geistesschwach r hezil ist«. 2 " D'Argenson läßt einen »Mann von seltener Art« -iren, "der sehr entgegengesetzte Dinge aufweist: in vielen Dindieint er ganz vernünftig, und in anderen Dingen tierisch .'..-·m·.'" Es ist aber interessanter, die sehr seltenen medizinischen iiia. Quaestiones medico-legales,
Lyon 1674, Buch II, Titel I, Frage 7,
I 1 : 7 F.
't bei Bonnafous-Sirieux, a. a. O., S. 40. 1Bibliothèque
Î
de l'Arsenal, Ms. 10928.
Zertifikate, die die Internierungsdossiers begleiten, einer Jurisprudenz wie der von Zacchias entgegenzustellen. Man möchte sagen, daß nichts von den Analysen der Juristen in ihr Urteil eingeflossen ist. Hinsichtlich der Albernheit kann man folgendes Zertifikat mit der Unterschrift eines Arztes lesen: »Wir haben den Charles Dormont gesehen und besucht, und nach der Untersuchung seiner Haltung, der Bewegung seiner Augen und der Zählung seines Pulsschlages haben wir ihn in all seinen Bewegungen verfolgt und ihm verschiedene Fragen gestellt, die er beantwortet hat. Wir sind einhellig zu der Überzeugung gekommen, daß Dormont einen verdrehten und ungereimten Geist hat, und daß er in eine völlige und absolute Demenz und Albernheit verfallen ist.« 1 » Beim Lesen dieses Textes hat man den Eindruck, daß es zwei Gebrauchsarten, fast zwei Ebenen der Erarbeitung der Medizin gibt, je nachdem, ob sie im Kontext des Gesetzes gesehen wird, oder ob sie sich der gesellschaftlichen Praxis der Internierung unterordnen muß. Im einen Fall stellt sie die Fähigkeit der juristischen Person in Frage und bereitet dadurch eine Psychologie vor, die in einer unbestimmten Einheit eine philosophische Analyse der geistigen Fähigkeiten und eine juristische Analyse der Vertragifähigkeit vermischt. In diesem Fall wendet sie sich den feinen Strukturen der bürgerlichen Freiheit zu. Im anderen Fall handelt es sich um das Benehmen des gesellschaftlichen Menschen, und so wird eim dualistische Pathologie in den Begriffen von normal und anomal, von gesund und krank bereitet, die die einfache Formel »gut für die Internierung!« in zwei irreduzible Gebiete spaltet. Das ist die feste Struktur der gesellschaftlichen Freiheit. Eine der ständigen Anstrengungen des achtzehnten Jahrhunderts wa es, dem alten juristischen Begriff der »juristischen Person« die zeitgi. nössische Erfahrung des gesellschaftlichen Menschen anzupassen. Zwischen ihnen fordert das politische Denken der Aufklärung gleichz^ tig eine fundamentale Einheit und eine stets mögliche Aussöhnm. jenseits aller Tatsachenkonflikte. Diese Themen haben schweige"die Ausarbeitung des Begriffs des Wahnsinns und die Organisât! der Praktiken, die ihn betreffen, geleitet. Die positivistische Medi* des neunzehnten Jahrhunderts erbt von diesem ganzen Bemühen J Aufklärung. Sie wird als bereits feststehend und erwiesen zugesteh, daß die Aliénation der juristischen Person mit dem Wahnsinn J gesellschaftlichen Menschen in der Einheit einer pathologischen Re? 25$ Zitiert bei Jean Devaux, L'Art de faire les rapports en chirurgie, Parii ·τS. 435.
tat, die gleichzeitig in juristischen Termini analysierbar und an den unmittelbarsten Formen des sozialen Empfindens wahrnehmbar ist, koinzidieren kann und muß. Die Geisteskrankheit, die zum Gegenstand der Medizin wird, hat sich als die mythische Einheit des juristisch unfähigen Subjekts und des als Störer der Gruppe erkannten Menschen langsam konstituiert. Dies geschah unter der Wirkung des politischen und moralischen Denkens des achtzehnten Jahrhunderts. Die Wirkung dieser Annäherung wird bereits ein wenig vor der Revolution wahrgenommen, als 1784 Breteuil die Internierung der Wahnsinnigen durch einen sorgfältigeren richterlichen A k t , der die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und die Bestimmung der Fähigkeit der Person als juristischer Person enthält, einleiten will: Gegenüber den Personen, deren Einsperrung aus Gründen der Geisteszerrüttung verlangt wird, verlangen die Gerechtigkeit und die Klugheit,« schreibt der Minister den Intendanten, »daß Sie die Befehle (des Königs) nur in dem Fall, daß eine Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte durch Urteil erfolgt ist, vorschlagen.« 2 ' 6 Das bürgerliche Gesetzbuch wird verwirklichen, was die liberale Anstrengung der ausgehenden absoluten Monarchie vorbereitet, indem es die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte zur unerläßlichen Bedingung jeder Internierung erhebt. Der Augenblick, in dem die Jurisprudenz der Geisteskrankheit zur Bedingung jeglicher Internierung wird, ist auch der Augenblick, in Jem mit Pinel langsam eine Psychiatrie entsteht, die vorgibt, den Wahnsinnigen erstmals als menschliches Wesen zu behandeln. Was Pinel und seine Zeitgenossen als eine gleichzeitige Entdeckung der Philanthropie und der Wissenschaften ansehen, ist im Grunde nur die Vussöhnung des im achtzehnten Jahrhundert geteilten Bewußtseins. Die Internierung des gesellschaftlichen Menschen, die in der Aberken•ing der bürgerlichen Ehrenrechte der juristischen Person vorgenomT'?n worden ist, will heißen, daß zum ersten Mal der geisteskranke Mensch als unfähig und als wahnsinnig erkannt wird. Seine unmittelr von der Gesellschaft wahrgenommenen Ungereimtheiten begrenn seine juristische Existenz, ohne sie jedoch zu verwischen. Durch se Tatsache werden zwei Bräuche der Medizin wieder verbunden, rienige, der die feinen Strukturen der Verantwortlichkeit und der Tatsächlich fügt Breteuil hinzu: »Es sei denn, die Familien sind absolut unig, das Geld für die vorher notwendige Prozedur aufzubringen. In diesem Fall dit Demenz jedoch bekannt und durdi exakte Aufklärung festgestellt worden no.«
Fähigkeit zu definieren versucht, und derjenige, der lediglich Ja beiträgt, daß der soziale Erlaß der Internierung ausgelöst wird. A l l das ist von extremer Wichtigkeit für die spätere Entwicklung der Medizin der Geisteskrankheit. In ihrer »positiven« Form ist diese 1 Grunde nur die Oberlagerung der beiden Erfahrungen, die der Kla zismus nebeneinander gestellt hat, ohne sie je endgültig zu verbinden: eine gesellschaftliche, normative und dichotome Erfahrung des Wah sinns, die um den Befehl der Internierung kreist und sich allein i Wechsel von »Ja oder Nein«, »harmlos oder gefährlich«, »gut oder nicht gut für die Internierung« ausdrückt; und eine juristische, qu? tative, fein differenzierte und für die Fragen der Grenzen und Abstufungen empfängliche Erfahrung, die auf allen Gebieten men».: licher Aktivität die polymorphen Gesichter sucht, die der Wahn-· annehmen kann. Die Psychopathologie des neunzehnten Jahrhderts und vielleicht auch noch unsere glaubt, in Beziehung zu eit homo natura zu stehen und an ihm ihr Maß zu finden oder es mit nem normalen Menschen zu tun zu haben, der vor jeder Erfahr·.: mit dem Wahnsinn gegeben ist. Tatsächlich ist dieser normale Me· eine Schöpfung, und wenn man ihn einordnen muß, dann kann nicht in einem natürlichen Raum geschehen, sondern in einem Sys1: das den socius mit der juristischen Person identifiziert. Folglich der Irre nicht als solcher erkannt, weil eine gewisse Krankheit ib Richtung der Randzonen der Normalen abgesetzt hat, sondern unsere Kultur ihn an den Treffpunkt zwischen sozialem Dekret Internierung und juristischer Erkenntnis eingeordnet hat, die Ji. higkeit der juristischen Personen unterscheidet. Die »positive sensdiaft der Geisteskrankheiten und jene humanitären Gefühl, den Irren auf den Rang eines menschlichen Wesens erhoben h sind nur möglich gewesen, als diese Synthese einmal fest cta war. Sie bildet in gewissem Maße das konkrete Apriori unserer s» Psychopathologie mit ihrer wissenschaftlichen Prätention. Alles, was seit Pinel, Tuke und Wagnitz das gute Gewissen des η zehnten Jahrhunderts hat beunruhigen können, hat uns für Zeit verborgen, wie vielgestaltig und unterschiedlich die Eri?' mit dem Wahnsinn in der Zeit des Klassizismus hat sein könnei ist durch eine verkannte Krankheit, die angeketteten Geisteskn und die ganze Schar der aufgrund von lettres de cachet oder B. des Polizeidirektors Eingesperrten fasziniert gewesen. Man h r nicht die ganzen Erfahrungen gesehen, die sich in jenen Pra
massivem Ausmaß überkreuzten, von denen man beim ersten Jv hat glauben können, daß sie wenig ausgearbeitet waren. Tathlich ist der Wahnsinn der französischen Klassik in zwei Formen ' .r Hospitalität erfaßt worden. Einmal war es die der eigentlichen H spitäler, und zweitens die der Internierung. Der Wahnsinn war Furmen des Auffindens unterworfen, von denen die eine dem M-crsum des Rechts, dessen Begriffe sie auch benutzte, entlehnt r, während die andere den spontanen Formen sozialen Wahrnehu iugehörte. Unter all den verschiedenen Aspekten der Sensibili;cgenüber dem Wahnsinn ist das ärztliche Bewußtsein nicht inexi' u. aber es ist nicht autonom. Deshalb darf man sich auch nicht 'eilen, daß es, und sei es auch nur auf dunkle Weise, all die ander Errahrungsformen trägt. Es ist einfach in bestimmten Praktiken Hospitalisierung lokalisiert, findet auch seinen Platz innerhalb dristischen Analyse, aber es bildet bei weitem nicht deren wesentElement. Dennoch ist seine Rolle von großer Bedeutung in der nomie all dieser Erfahrungen und für die Art, auf die die einen ' Jir anderen sich gliedern. Tatsächlich läßt dieses Bewußtsein Regeln der juristischen Analyse und die Praxis, die Irren in ärztn Anstalten unterzubringen, kommunizieren. Es dringt hingegen • er in das durch die Internierung und die gesellschaftliche Sensii. die sich in ihr ausdrückt, konstituierte Gebiet ein. redessen sieht man, wie zwei einander fremde Sphären sich abncn. Während des ganzen klassischen Zeitalters scheint die Erfahrung mit dem Wahnsinn auf zwei verschiedene Arten erlebt woru Sein. Es hat gewissermaßen einen Hof der Unvernunft gegeben, . juristische Person umgibt. Sie wird durch die juristische An•ung der NichtVerantwortlichkeit und der Unfähigkeit, durch . -ekrei der Aberkennung der bürgerlichen Rechte und die Defider Krankheit eingekreist. Es hat gewissermaßen einen anderen der Unvernunft gegeben, der den gesellschaftlichen Menschen Jt und den gleichzeitig das Skandalbewußtsein und die Inter^spraxis umreißen. Es ist wahrscheinlich vorgekommen, daß ciden Gebiete sich teilweise überlagerten, aber sie sind in ihrer ung zueinander immer exzentrisch geblieben und haben zwei .'i der Aliénation, die wesentlich voneinander unterschieden eiiniert. Form wird als die Begrenzung der Subjektivität erfaßt, als der Grenzen der individuellen Kräfte gezogene Linie, die die in denen der Mensch keine Verantwortung mehr trägt, mar-
kiert. Diese Aliénation bezeichnet einen Prozeß, in dem das Subjekt durch eine doppelte Bewegung seiner Freiheit verlustig geht: durdi die natürliche Bewegung seines Wahnsinns und die juristische Aberkennung seiner Redite, die ihn unter die Gewalt eines anderen geraten läßt. Dieser andere ist die Allgemeinheit, die in diesem Fall durch den Vormund repräsentiert wird. Die andere Form der Aliénation bezeichnet im Gegenteil eine Bewußtwerdung, durch die der Irre von seiner Gesellschaft als ein seiner eigenen Heimat Fremder erkannt wird. Man befreit ihn nicht von seiner Verantwortlichkeit, sondern man weist ihm, wenigstens in Form von Verwandtschaft und komplizitärer Nachbarschaft, eine moralische Straffälligkeit zu. Man bezeichnet ihn als den anderen, als den Fremden, als den Ausgeschlossenen. Der seltsame Begriff der »psychologischen Aliénation«, den man in der Psychopathologie begründet wähnt, nicht ohne ihn übrigens von der Doppeldeutigkeit, deren er sich in einem andern Gebiet der Uberlegung bereichern konnte, profitieren zu lassen, dieser Begriff ist im Grunde genommen nur die anthropologische Konfusion jener beiden Erfahrungen mit der Aliénation, von denen die eine das unter die Gewalt eines anderen gefallene Wesen betrifft, das mit seiner Freiheit verkettet ist, während die zweite das zum anderen gewordene Individuum betrifft, das der brüderlichen Ähnlichkeit der Menschen untereinander fremd ist. Die eine nähert sich dem Determinismus der Krankheit, während die andere eher die Bewegung einer ethischen Verurteilung annimmt. Als im neunzehnten Jahrhundert entschieden wird, daß der Mensch der Unvernunft ins Hospital gebracht wird, und als gleichzeitig dir Internierung zu einem A k t der Therapie wird, mit dem auf die Heilung eines Kranken abgezielt wird, geschieht das durch einen Gewaltakt, der diese verschiedenen Themen der Aliénation und jene vielfältigen Gesichter des Wahnsinns zu einer konfusen Einheit reduziert denen der klassische Rationalismus stets die Möglichkeit zu erscheinen gegeben hatte.
4- Kapitel
Die Irren Die beiden großen Formen der Erfahrung mit dem Wahnsinn, die im Laufe des Zeitalters der französischen Klassik nebeneinander standen, haben jede ihr chronologisches Merkmal, zwar nicht in dem Sinne, daß die eine ausgearbeitete Erfahrung und die andere frische und schlecht formulierte Erfahrung wäre. Beide sind in einer kohärenten Praxis klar artikuliert worden. Die eine jedoch ist ererbt worden und war wahrscheinlich eine der fundamentalsten Gegebenheiten der abendländischen Unvernunft, während die andere eine eigene Schöpfung der klassischen Welt ist. Diese müssen wir jetzt untersuchen. Trotz der beruhigenden Freude, die die Verfasser einer Geschichte Jer Medizin haben können, wenn sie im großen Buch der Internierung Jas vertraute und für sie ewige Gesicht der halluzinatorischen Psydiosen und intellektuellen Defizienz, der organischen Entwicklungen • •der der paranoiden Zustände erkennen können, ist es kaum möglich,
sondern mit einer bestimmten moralischen Ordnung verbunden, in der sie nur noch unter der Bezeichnung der Störung erscheint. Wenn man diese ganzen Bemerkungen liest, die auf den Papieren vor den Namen der Irren stehen, hat man den Eindruck, sich noch in der Welt von Brant oder Erasmus zu befinden, einer Welt, in der der Wahnsinn einen ganzen Reigen von Lastern, den wahnsinnigen Tanz des unmoralischen Lebens anführt. Dennoch ist die Erfahrung eine andere. 1704 interniert man in SaintLazare einen gewissen Abbé Bargedé, der siebzig Jahre alt ist. Man hat ihn eingesperrt, damit er »wie die anderen Wahnsinnigen behandelt wird«. »Seine Hauptbeschäftigung war es, Geld gegen hohe Zinsen zu verleihen und auf die sdiändlichsten und für die Ehre des Priesterstandes und der Kirche ausschweifendsten Wuchereien noch etwas aufzusdilagen. Man hat ihn nodi nicht dazu bringen können, daß er seine Verfehlungen bereut, noch dazu, daß er den Wucher für eine Sünde hält. Er bleibt dabei, daß Geiz eine Ehre sei.«2'" Es war völlig unmöglidi, »in ihm ein Gefühl von Mildtätigkeit zu finden . Bargedé ist wahnsinnig, aber nidit wie die auf dem Narrenschiff fahrenden Personen, die es in dem Maße sind, in dem sie durch die lebendige Kraft des Wahnsinns fortgerissen wurden. Bargedé ist nicht wahnsinnig, weil er die Vernunft verloren hat, sondern weil er. .ils Mann der Kirdie, Wucher treibt und keine Milde zeigt, keine Gewissensbisse verspürt; weil er aus der moralischen Ordnung, die ihr eigen ist, herausgefallen ist. An dieser Beurteilung verrät sich nidr die Unfähigkeit, schließlich eine Entscheidung über eine Krankheil zu fällen, auch nidit eine Tendenz, den Wahnsinn moralisch zu veidammen, sondern die wahrsdieinlich für das Verständnis des kta sisdien Zeitalters wesentliche Tatsadie, daß der Wahnsinn ihm in der Form der Ethik wahrnehmbar wird. A n der Grenze könnte der Rationalismus paradoxerweise einen Wahnsinn begreifen, in dem die Vernunft nicht gestört wäre, sonder1 der sich daran erkennen ließe, daß das ganze moralische Wesen v« fälsdit und der Wille schlecht ist. Das Geheimnis des Wahnsinns lit letzten Endes in der Beschaffenheit des Willens und nicht in der l 1 versehrtheit der Vernunft. Es ist interessant festzustellen, daß Jahrhundert, bevor der Fall von de Sade das medizinische BewuiStst von Royer-Collard in Frage stellte2'8, der Polizeichef d'Argen 2$7 Paris, Bibliothèque Nationale, Fonds Clairambault, 586. 258 Brief von Royer-Collard an Fouche vom 1. August 1808.
sidi in einem ziemlich ähnlichen Fall verwundert hat: »Eine sechzehnjährige Frau, deren Mann Beaudoin heißt, ( . . . ) erklärt laut in aller Öffentlichkeit, daß sie niemals ihren Mann lieben wird, daß kein Gesetz sie dazu zwingen kann, daß jeder frei über sein Herz und seinen Körper verfügen kann, wie es ihm gefällt, und daß es eine A r t Verbrechen sei, eins ohne das andere zu schenken.« Der Polizeichef fügt hinzu: »Ich habe zweimal mit ihr gesprochen, und obwohl ich seit mehreren Jahren an schamlose und lächerliche Reden gewöhnt bin, habe ich doch eine große Überraschung bei den Überlegungen verspürt, mit denen die Frau ihr System stützt. Nach ihren Vorstellungen ist die Ehe nur ein Versuch ( . . .).« J " A m Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wird man Sade in Charenton sterben lassen; man zögert in den ersten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts noch, eine Frau einzusperren, bei der man wohl anerkennen muß, daß sie nur allzuviel Geist hat. Der Minister Pontchartrain lehnt es gegenüber d'Argenson sogar ab, sie für einige Monate in das Refuge sperren zu lassen: »Zu starke Strafe,« notiert er, »man muß streng mit ihr sprechen.« Und dennoch ist d'Argenson nicht weit davon entfernt, sie wie die anderen Irren zu behandeln: »Nach dem Bericht über so viele Unverschämtheiten war ich geneigt, sie für wahnsinnig zu halten.« Wir befinden uns auf dem Wege zu dem, was das neunzehnte Jahrhundert »moralischen Wahnsinn« nennen wird; jedoch noch wichtiger ist das Erscheinen des Themas eines Wahnsinns, der völlig auf einem dllechten Willen, auf einer ethischen Verirrung beruht. Während des ganzen Mittelalters und lange Zeit während der Renaissance war der Wahnsinn mit dem Bösen verbunden gewesen, wenn auch in der Form maginärer Transzendenzen. Künftig kommuniziert er mit dem Bösen Jurch die geheimsten Wege individueller Wahl und der bösen A b idit. Man darf über die Gleichgültigkeit nicht erstaunt sein, die das klas' die Zeitalter der Trennung zwischen Wahnsinn und Verfehlung, dicnation und Bosheit entgegenzubringen scheint. Diese Gleichgül«keit hat nichts mit einem noch zu ungeformten Wissen zu tun, sie ! -On einer bewußt gewählten Äquivalenz und in Kenntnis der ache vollzogen. Wahnsinn und Verbrechen schließen sich nicht aus, lind aber nidit in einem unklaren Begriff vermischt, sondern imzieren einander innerhalb eines Bewußtseins, das man durch das .rängnis und das Hospital ebenso vernünftig und gemäß den UmtUnc d'Argenson, Notes de René d'Argenson, Paris i86S, S. i n - i i a .
ständen behandeln wird. Während des spanischen Erbfolgekrieges hatte man einen gewissen Grafen d'AIbuterre in die Bastille gesperrt, der in Wirklichkeit Doucelin hieß. Er behauptete, Erbe der Krone von Kastilien zu sein, aber »wie übertrieben sein Wahnsinn auch sein mag, seine Geschicklichkeit und Bosheit gehen noch darüber hinaus. Er versichert mit einem Eid, daß die Heilige Jungfrau ihm alle acht Tage erscheint, daß Gott mit ihm oft von Angesicht zu Angesicht spricht ( . . . ) . Ich meine ( . . . ) , daß dieser Gefangene lebenslänglich ins Hospital gesperrt werden muß wie einer der gefährlichsten Wahnsinnigen oder daß man ihn in der Bastille wie einen Verbrecher erster Ordnung vergessen muß. Ich meine sogar, daß der letztgenannte Weg der sicherere und infolgedessen der angemessenere ist.«260 Wahnsinn und Verbrechen schließen also einander nicht aus, sondern eine Implikation verbindet sie. Der Mensch kann ein wenig mehr wahnsinnig oder ein wenig mehr kriminell sein, aber bis zum Ende wird der extremste Wahnsinn noch von der Bosheit heimgesucht werden. D ' A r genson schreibt später nochmals im Zusammenhang mit Doucelin: »Je gelehriger er scheint, um so größere Veranlassung hat man zu glauben, daß es in seinen Narrheiten viel Heuchelei oder Bosheit gibt.« 1709 »leugnet er seine Hirngespinste viel schwächer ab und ist ein wenig imbeziler«. Dieses Spiel der komplementären Verhältnisse erscheint klar in einem anderen Bericht des Polizeidirektors d'Argenson über Thadee Cousini, einen »schlechten Mönch«. Er war nach Charenton gebracht worden, wo er 1715 »immer noch gottlos ist, wenn er räsoniert, und absolut imbezil, wenn er zu räsonieren aufhört. Daher gestatten die Situation seines Geistes und die Ehre der Religion es nicht, ihn freizulassen, obwohl der allgemeine Friede zu seiner Freilassung als Spion hätte führen müssen.«-'·' Wir sind am entgegengesetzten Extrem jener fundamentalen Regel des Rechts, daP »der wirkliche Wahnsinn alles entschuldigt«.261 In der Welt der Internierung erklärt und entschuldigt der Wahnsinn nichts. Er tritt in eine IComplizität mit dem Bösen ein. um es zu vervielfachen, es nachdrücki ö a François Ravaisson, Les Archives de la Bastille, Bd. 11, S. 243.
19 vols., Paris ISÄÄ-IOOJ
261 Ravaisson, a. a. O., Bd. 11, S. 199. 262 Vgl. den Artikel »Folie« im Dictionnaire de droit et de pratique von Claudr Joseph de Ferrièrc, Paris 1769, Bd. I, S.611 ; außerdem den Titel X X V I I I , Artikel · der Ordonnance criminelle von 1670: »Da der Tobsüchtige oder Irre keinen Willr hat, darf er nient bestraft werden, denn das ist er bereits zur Genüge durch sein« eigenen Wahnsinn.«
licher und gefährlicher werden zu lassen und ihm neue Gesichter zu geben. Von einem wahnsinnigen Verleumder würden wir sagen, daß seine Verleumdungen ein Delirium sind, so sehr haben wir die Gewohnheit angenommen, den "Wahnsinn als zugleich äußerste und unschuldige Wahrheit des Menschen zu betrachten. Im siebzehnten Jahrhundert werden Geistesverwirrung und Verleumdung in der gleichen Gesamtheit des Bösen addiert, weshalb in der Charité von Senlis wegen »Verleumdungen und Geistesschwäche« ein Mann eingesperrt wird, der »einen gewaltsamen, unruhigen und abergläubischen Charakter hat und außerdem ein großer Lügner und Verleumder ist«.2*3 Im Furor, der in den Internierungsregistern sooft erwähnt wird, läßt die Gewalttätigkeit nicht das der Bosheit entgehen, was zum Wahnsinn gehört, sondern ihre Gesamtheit bildet gewissermaßen die Einheit des sich selbst in einer ungebremsten Freiheit ausgelieferten Bösen. D ' A r genson verlangt die Internierung einer Frau im Refuge »nicht nur wegen ihrer zügellosen Sitten, sondern wegen ihres Wahnsinns, der oft bis zum Furor geht und der nach allem Anschein sie bis zum Totschlag ihres Mannes oder bei der ersten Gelegenheit bis zum Selbstmord treiben wird«. li ' t Alles verläuft, als ob die psychologische Erklärung die moralische Beschuldigung verdoppele, während wir seit langer Zeit die Gewohnheit haben, zwischen ihnen eine subtraktive Beziehung herzustellen. Denn: wenn der Wahnsinn ebenso spontan mit der Bosheit konspiriert, dann ist der unfreiwillige Wahnsinn, der sich des Menschen gegen dessen Willen zu bemächtigen scheint, in seinem geheimen Wesen kaum von dem unterschieden, der absichtlich von klarsichtigen Personen fingiert wird. Zwischen ihnen besteht jedenfalls eine fundamentale Verwandtschaft. Das Recht versucht hingegen mit größtmöglicher Strenge zu scheiden zwischen gespieltem Wahnsinn und authentischem, weil man »denjenigen, der wirklich wahnsinnig ist«, nicht zu der Strafe verurteilt, die sein Verbrechen verdient hätte.265 In der Internierung wird diese Unterscheidung nicht getroffen. Wirklicher Wahnsinn ist nichts besseres als gespielter Wahnsinn. Man hat 1710 einen Fünfundzwanzigjährigen in Charenton eingesperrt, der sich Don Pedro de Jesus nennen ließ und behauptete, der Sohn des Königs 16 3 Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 12 707. 164 RenÉ d'Argenson, a. a. O., S. 93. ;Si Artikel »Folie« im Dictionnaire de droit et de pratique, Bd. I, S. fin; H e r v o r bung von uns.
von Marokko zu sein. Bis dahin betrachtet man ihn als einfachen Irren, aber kommt zu dem Verdacht, daß er den Wahnsinnigen spielt. Er ist nur einen Monat in Charenton, bis er »zeigt, daß er vernünftig ist; er gibt zu, daß er nicht der Sohn des Königs von Marokko ist, behauptet aber, daß sein Vater ein Provinzgouverneur sei, und kann sich nicht entschließen, alle seine Hirngespinste aufzugeben«. Wirklicher Wahnsinn und gespielte Demenz stehen nebeneinander, als ob die Hirngespinste der Unvernunft von interessierten Lügen ergänzt würden. A u f jeden Fall schreibt d'Argenson an Pontchartrain: »Ich meine, daß er zu Recht in die Bastille gebracht wird, um ihn für seine Lügen und seinen gespielten Wahnsinn zu bestrafen.« Schließlich schickt man ihn nach Vincennes. Fünf Jahre später scheinen die Hirngespinste zahlreicher als die Lügen zu sein, aber er muß unter den Gefangenen von Vincennes sterben: »Seine Vernunft ist sehr durcheinander; er spricht zusammenhanglos, und oft hat er Tobsuchtsanfälle, von denen der letzte beinahe das Leben eines seiner Kameraden gekostet hat. So scheint alles dafür zu sprechen, seine Gefangenschaft zu verlängern.«266 Der Wahnsinn, ohne daß die Person ihn beabsichtigt, oder die einfache Absicht ohne Wahnsinn haben die gleiche Behandlung zur Folge, vielleicht, weil sie auf dunkle Weise denselben Ursprung haben: das Böse oder wenigstens einen perversen Willen. So ist infolgedessen der Übergang von einer Form zur andern leicht, und man wird ohne Widerstand zugeben, daß man allein dadurch wahnsinnig wird, daß man es hat sein wollen. Über einen Mann, »der den Wahn besitzt, mit dem König sprechen zu wollen, ohne je einem Minister das sagen zu wollen, was er dem König zu sagen hat·, schreibt d'Argenson: »Er hat so sehr den Wahnsinnigen gespielt, sei es in der Bastille oder in Bicêtre, daß er schließlich irre geworden ist. Er will immer den König persönlich sprechen, und wenn man ihn drängt, sich darüber zu äußern, drückt er sich in Begriffen aus, die nicht den geringsten Anschein von Vernunft haben.« 16 ' Man sieht, in welchem Maße die Erfahrung mit dem Wahnsinn, die sich in der Internierungspraxis ausdrückt und sich wahrscheinlid auch durch sie bildet, derjenigen fremd ist, die seit dem römischer Recht und seit den Juristen des dreizehnten Jahrhunderts sich im juristischen Bewußtsein formuliert findet. Für die Gesetzeshüter triff der Wahnsinn im wesentlichen die Vernunft und verändert dadurd:
266 Ravaisson, a. a. O., Bd. 13, S. 438. 267 Ravaisson, a. a. O., Bd. 13, S. 66-6γ.
den Willen, den er völlig unschuldig werden läßt: »Wahnsinn oder Narrheit ist eine Veränderung des Geistes, eine Ordnungslosigkeit der Vernunft, die uns hindert, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, und die durch eine ständige Bewegung des Geistes denjenigen, der vom Wahnsinn befallen ist, außerstand setzt, irgendeine Zustimmung zu geben.«268 Das Wesentliche ist also, festzustellen, ob der Wahnsinn ein wirklicher und, wenn ja, welchen Grades er ist. Je größer der Wahnsinn ist, desto mehr wird der Wille des Patienten für unschuldig bezeichnet. Bouchet berichtet von verschiedenen Erlassen, »die angeordnet haben, daß Leute, die in Wut ihre nächsten Verwandten umgebracht hatten, dafür nicht bestraft wurden«. 26 ' In der Welt der Internierung hingegen ist es von untergeordneter Bedeutung, ob die Vernunft wirklich befallen ist. Falls sie es ist, und wenn ihr Gebrauch also behindert ist, dann zunächst durch eine Beugung des Willens, der nicht völlig unschuldig sein kann, weil er nicht zur Ordnung der Folgen gehört. Diese Miteinbeziehung des Willens in die Erfahrung des Wahnsinns, so wie sie durch die Internierung gezeigt wird, ist selbstverständlich in den Texten, die man hat bewahren können, nicht explizit zum Ausdruck gekommen. Sie verrät sich aber durch die Motivationen und Internierungsarten. Es handelt sich um eine sehr dunkle Beziehung zwischen dem Wahnsinn und dem Bösen, eine Beziehung, die nicht mehr wie zur Zeit der Renaissance durch alle tauben Kräfte der Welt verläuft, sondern durch jene individuelle Stärke des Menschen: seinen Willen. Der Wahnsinn faßt so in der moralischen Welt Wurzel. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß die »Irren« als solche einen •ianz besonderen Platz in der Welt der Internierung einnahmen. Ihr Status ist nicht einfach der von Zuchthäuslern. In der allgemeinen Empfänglichkeit für die Unvernunft entsteht eine Modulation besonderer Art, die den eigentlichen Wahnsinn betrifft und sich auf diejenigen bezieht, die ohne genaue semantische Unterscheidung irre, vermckt, verwirrt, närrisch und dement genannt werden. Uiese besondere Form der Empfindsamkeit umreißt das dem Wähnen eigene Aussehen in der Welt der Unvernunft. Es betrifft hauptchlidi den Skandal. In ihrer allgemeinsten Form kann die Internie•-ig erklärt oder wenigstens gerechtfertigt werden durch den Wunsch, \rtikcl »Folie« ira Dictionnaire de droit et de pratique, Bd. I, S. 611. Bibliothèque de droit français, Artikel »furiosus«.
den Skandal zu vermeiden. Dadurch beweist sie sogar einen bedeutenden Wandel im Bewußtsein vom Bösen. Die Renaissance hat den Formen der Unvernunft großzügig gestattet, ans Tageslicht zu treten; öffentliches Aufsehen verlieh dem Bösen die Kraft des warnenden Beispiels und der Erlösung. Gilles de Rais, der im fünfzehnten Jahrhundert angeklagt wird, »ein Häretiker, Abtrünniger, Hexer, Päderast, Anrufer von bösen Geistern, Wahrsager, Hinschlachter von Unschuldigen, Renegat, Götzendiener, Böses hervorbringend, indem er vom Glauben abwich«, gewesen und es noch zu sein1?0, endet damit, daß er in einem außergerichtlichen Bekenntnis Verbrechen zugibt, »die ausreichen, den Tod von Zehntausenden zu begründen«. Er wiederholt sein Geständnis vor dem Gerichtshof in lateinischer Sprache; dann bittet er von sich aus, daß »das genannte Geständnis in der Volkssprache veröffentlicht und auch wirklich jedem der Anwesenden - von denen die Mehrzahl kein Latein verstand - die Veröffentlichung und das Geständnis der genannten und von ihm begangenen Verbrechen zu seiner Schande kundgegeben werden sollten, damit er um so leichter die Vergebung der Sünden und die Gnade Gottes für den Ablaß der von ihm begangenen Sünden erhalte«. 27 ' Bei der Gerichtsverhandlung wird das gleiche Geständnis vor den dort Versammelten gefordert: ihm »wurde vom Präsidenten des Gerichts gesagt, er solle seinen Fall ausführlich darstellen und die Scham, die er dabei verspüre, solle dazu dienen, die Strafe zu mindern, die er hernach zu erleiden habe«. Bis zum siebzehnten Jahrhundert kann das Böse in all seinen gemeinsten und unmenschlichsten Ausmaßen nur aufgehoben und bestraft werden, wenn es an die Öffentlichkeit gebracht wird. Allein das Licht der Öffentlichkeit, in dem das Geständnis gemacht und die Strafe ausgeführt wird, kann die Dunkelheit ausgleichen, aus der das Böse kommt. Es gibt einen Zyklus der Erfüllung des Bösen, welches notwendigerweise durch das öffentliche Geständnis und das Sich-Kundtun gehen muß, bevor es zu seiner Vollendung in der Auslöschung gelangt. Die Internierung verrät dagegen eine Form des Bewußtseins, für da? das Unmenschliche nur die Schande hervorrufen kann. Es gibt Aspekt, des Bösen, die eine derartige Ansteckungskraft haben, eine derartig Macht zu skandalisieren, daß jede Veröffentlichung sie unendlich vei 270 Artikel 41 der Anklageschrift, in französischer Übersetzung zitiert bei He' nandez, Le procès inquisistorial de Gilles de Rais, Paris 1922. 271 Sechste Sitzung des Prozesses, in: Procès de Gilles de Rais, Paris 19$9, S. 232.
vielfachen würde. Nur das Vergessen kann sie beseitigen. Bei einem Fall von Giftmord befiehlt Pontchartrain keine öffentliche Gerichtsverhandlung, sondern die Abgeschiedenheit eines Asyls: »Da die Ermittlungen des Falles einen guten Teil von Paris betrafen, glaubte der König nicht, so viele Leute vor Gericht bringen lassen zu müssen, von denen viele die Verbrechen unwissend begangen hatten und andere nur der Einfachheit halber, mit der sie begangen werden konnten. Seine Majestät entschloß sich dazu um so lieber, als Sie überzeugt ist, daß es gewisse Verbrechen gibt, die man völlig in Vergessenheit geraten lassen müßte.« 2 ' 2 Neben den Gefahren der Beispielhaftigkeit genügen die Ehre der Familien und die der Religion, um einen Untertan für eine Internierungsanstalt zu empfehlen. Im Falle eines Geistlichen, der nach Saint-Lazare geschickt werden sollte, heißt es: »So kann ein Geistlicher wie dieser der Ehre der Religion und des geistlichen Standes wegen nicht mit genug Sorgfalt verborgen werden.«273 Noch spät im achtzehnten Jahrhundert verteidigt Malesherbes die Internierung als ein Recht für Familien, die der Unehre zu entfliehen versuchen. »Niedrigkeiten gehören zu den Handlungen, die uns aus Gründen des öffentlichen Wohls zu dulden nicht gestattet ist ( ). Es scheint, als fordere es die Ehre einer Familie, daß man denjenigen aus der Gesellschaft verschwinden läßt, für den sich seine Verwandten wegen seines abstoßenden und abscheulichen Verhaltens schämen. «27* Umgekehrt ist eine Freilassung am Platz, wenn die Gefahr des Skandals vorbei ist und die Ehre der Familien oder der Kirche nicht länger in den Schmutz gezogen werden kann. Der Abbé Bargedé war schon lange Zeit interniert; niemals wurde, trotz seiner Bittgesuche, seine Freilassung gestattet; aber jetzt hatten hohes Alter und Krankheit den Skandal unmöglich gemacht. »Und außerdem dauert seine Lähmung in», schreibt d'Argenson; »er kann weder schreiben noch seine Unterschrift geben; ich meine, es wäre nur gerecht und milde, ihn freizulassen.^2" All diese Formen des Bösen, die an die Vernunft grenzen, müssen der Verschwiegenheit übergeben werden. Das Zeitalter der Klassik verspürte Scham gegenüber dem Unmenschlichen, die die Renaissance niemals gekannt hatte. Eine Ausnahme gibt es jedoch bei diesem Verbergen: die nämlich, die 171 Ravaisson, a. a. O., Bd. 13, S. l i i - 1 6 1 . Paris, Bibliothèque Nationale, Fonds Clairambault, 986. nt Zitiert bei François Pietri, La Réforme de l'Etat au XVIII'
S. 2f7 Bibliothèque Nationale, Fonds Clairambault, 986.
siècle, Paris 1935,
mit den Irren gemacht wird. 1 7 ' Wahrscheinlich war es eine sehr alte Sitte des Mittelalters, die Irren zur Schau zu stellen. In einigen der Narrtürme in Deutschland sind Gitterfenster eingebaut worden, die den Außenstehenden erlaubten, die darinnen angeketteten Irren zu beobachten. Sie boten auf diese Weise ein Schauspiel an den Toren der Stadt. Merkwürdig ist die Tatsache, daß diese Sitte nicht verschwand, als einmal die Tore der Asyle geschlossen wurden, sondern daß sie sich im Gegenteil gerade dann entwickelte und in Paris und London geradezu einen institutionellen Charakter annahm. Noch 1815 - wenn man einem Bericht, der dem House of Commons vorgelegt wurde, glauben will — stellte das Hospital von Bedlam jeden Sonntag Irre für einen Penny aus. Das jährliche Einkommen dieser Ausstellungen betrug etwa 400 Pfund, was die erstaunlich hohe Zahl von 96.000 Besuchern jährlich bedeutet.177 In Frankreich blieben ein Ausflug nach Bicêtre und die Schaustellung der Irren bis zur Revolution eines der Sonntagsvergnügen der Bourgeosie der Rive Gauche. Mirabeau schreibt in seinen Observations d'un voyageur anglais, daß die Irren in Bicêtre »wie seltsame Tiere dem erstbesten Trottel, der bereit war, Geld zu geben«, gezeigt wurden. Man läßt die Wärter die Irren ausstellen, wie der Dompteur auf dem Jahrmarkt von SaintGermain die Affen zeigt. 178 Einige Wärter waren bekannt für ihr Geschick, die Irren Tänze und Akrobatik vorführen zu lassen, während sie mehrmals mit der Peitsche knallten. Die einzige Milderung, die es darin am Ende des achtzehnten Jahrhunderts gab, war die, daß die Irren selbst die Irren ausstellen durften, so als ob es in der Verantwortung des Wahnsinns liege, seine eigene Natur zu bezeugen. »Laßt uns nicht die menschliche Natur verleumden. Der englische 276 Es ist vorgekommen, wenn auch sehr spät und wahrscheinlich unter dem Einfluß der die Irren betreffenden Praxis, daß man Geschlechtskranke zeigte. In den Mémoires de Père Richard (Ms. der Bibliothèque de la Ville de Paris, f ° 25) wird berichtet, daß der Fürst von Condé mit dem Herzog von Enghien ihnen einen Besuch abstattete, um ihn den S ehre de en des Lasters verspüren zu lassen. 277 N e d Ward in seinem London Spy nennt den Betrag von zwei Pence. Möglicherweise ist der Eintrittspreis im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts gesenkt worden. 278 »Jeder durfte früher Bicêtre besichtigen, und in guten Zeiten sah man mindestens 2000 Personen täglich kommen. Mit dem Geld in der H a n d wurde man von einem Führer in die Abteilung der Irren geführt.« (Mémoires de Père Richard, f ° Man konnte einen irländischen Priester besichtigen, »der auf Stroh lag«, einen Sdiiffskapitän, den der Anblick v o n Menschen in Raserei versetzte, denn »dii Ungerechtigkeit der Menschen hatte ihn wahnsinnig gemacht«, einen jungen Mann»der entzückend singen konnte« (ebda.).
Reisende hat Redit, wenn er den A k t des Zurschaustellens von Irren als jenseits noch so verhärteter Humanität betrachtet. Das haben wir schon gesagt. Aber in jedem Dilemma schafft man sich eine Lösung. Es sind die Irren selbst, die betraut sind, in ihren lichten Augenblicken ihre Kameraden vorzuführen, die ihrerseits das gleiche tun. So erfreuen sich die Wärter dieser unglückseligen Geschöpfe am Erlös, den das Schauspiel bringt, ohne die Kraft zu einer solchen Herzlosigkeit zu haben, zu welcher sie sich wahrscheinlich nie erniedrigen könnten.«275 Der Wahnsinn wird hier zum Schauspiel über der Stille der Asyle erhoben und wird zur allgemeinen Freude zum öffentlichen Skandal. Die Unvernunft wurde in der Stille der Internierungshäuser verborgen, aber Wahnsinn war weiterhin anwesend auf der Bühne der Welt - mit mehr Tumult denn je. Im Kaiserreich sollte man bald an einem Punkt angelangt sein, der im Mittelalter und in der Renaissance niemals erreicht worden war; die seltsame Bruderschaft vom Blauen Schiff hatte einst Schauspiele aufgeführt, in denen der Wahnsinn dargestellt wurde 28 " - jetzt war es der Wahnsinn selber, Wahnsinn in Fleisch und Blut, der das Spiel führte. A m Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hatte Coulmier, der Direktor von Charenton, jene berühmten Schauspiele organisiert, in denen Verrückte manchmal die Rollen von Schauspielern, manchmal die der beobachteten Zuschauer spielten. »Die Irren, die diesen Theatervorführungen beiwohnten, waren Objekt der Aufmerksamkeit und Neugier eines oberflächlichen, verantwortungslosen und oft boshaften Publikums. Die bizarren Gebärden dieser Unglücklichen und ihre Lage riefen das spöttische Gelächter und beleidigende Mitleid der Zuschauer hervor.«2'1 Der Wahnsinn wird zum reinen Schauspiel in einer Welt, über die de Sade seine Herrschaft ausdehnt282 und die dem guten Gewissen von einer ihrer selbst sicheren Vernunft als Unterhaltung angeboten wird. Bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts und zum Unwillen von Royer-Collard blieben Irre Monstren - etymologisch heißt das: Lebewesen oder Sachen, die des Zeigens wert sind. Die Internierung verbirgt die Unvernunft und verrät die Schande, die sie hervorruft, aber sie weist ausdrücklich auf den Wahnsinn hin. Wenn man sich im Fall der Schande vornimmt, vor allem den 1*9 Mirabeau, Observations d'un voyageur anglais, Paris 1788, S. 213, Anm. 1. l'o Vgl. oben, 1. Kapitel. loi Esquirol, Mémoire historique et statistique de la Maison Royale de Charenton, i : ders., Des maladies mentales, Paris 1838, Bd. IX, S. 222. Ebda.
Skandal zu vermeiden, so besteht im zweiten Fall die Absicht, ihn zu organisieren. Es liegt ein eigenartiger Widerspruch vor. Das klassische Zeitalter hüllt den Wahnsinn in eine globale Erfahrung mit der Unvernunft ein, nimmt dessen besondere Formen, die im Mittelalter und in der Renaissance klar individualisiert worden waren, in einem allgemeinen Begreifen auf, in dem er, von den anderen Formen der Unvernunft nicht unterschieden, neben diesen steht. Gleichzeitig versieht es den Wahnsinn mit einem besonderen Merkmal, nicht dem der Krankheit, sondern dem des übertriebenen Ärgernisses. Es gibt dennoch zwischen dieser organisierten Darstellung des Wahnsinns im achtzehnten Jahrhundert und der Freiheit, in der er in der Renaissance ans Licht kam, nichts Gemeinsames. Damals war er überall gegenwärtig und durch seine Bilder oder seine Gefahren mit jeder Erfahrung verbunden. Während der Zeit der französischen Klassik zeigt man auf ihn, aber von jenseits der Gitter. Wenn er manifest wird, so geschieht das in der Entfernung, unter den Augen einer Vernunft, die keine Verwandtschaft mehr mit ihm hat und sich nicht mehr durch zu große Ähnlichkeit kompromittiert fühlen muß. Der Wahnsinn ist etwas geworden, was man anschauen kann, nicht mehr ein Monstrum im Innern des Menschen, sondern ein Lebewesen mit eigenartigen Mechanismen, eine Bestialität, in der der Mensch seit langem beseitigt ist. »Ich kann mir gut eiiien Menschen ohne Hände, Beine, K o p f vorstellen, denn nur die Erfahrung lehrt uns, daß der Kopf notwendiger ist als die Füße. Aber ich kann mir keinen Menschen ohne Denken vorstellen. Das wäre ein Stein oder ein unvernünftiges Tier.«*83 In seinem Rapport sur le service des aliénés beschreibt Desportes die Zellen in Bicêtre so, wie sie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts waren: »Der Unglückliche, der nur dieses Strohlager als einziges Möbel hatte, konnte, da er mit dem K o p f , den Füßen und dem Körper gegen die Wand gepreßt lag, keinen Schlaf finden, ohne vom Wasser, das diese Steinmasse herunterrieselte, durchweicht zu werden.« Die Zellen in der Salpêtrière wurden »dadurch noch unwohnlicher und lebensgefährlicher, daß im Winter, wenn die Wasser der Seine steigen, diese auf Höhe der Kanalisationsröhren liegenden Zellen nicht nur völlig ungesund, sondern obendrein ein Zufluchtsort für eine Menge großer Ratten wurden, die sich nachts auf die Unglücklichen, die darin eingeschlossen waren, stürzten und sie überall. 283 Biaise Pascal, Pensées, Fragment 339 (Brunsdivicg).
wo sie sie erreichen konnten, annagten. Bei den irren Frauen wurden von oft gefährlichen Bissen zerrissene Füße, Hände und Gesichter gefunden, woran mehrere gestorben sind.« Das sind jedoch die Kerker und Zellen, die man seit langem für die gefährlichsten und erregtesten Wahnsinnigen reserviert. Wenn sie ruhiger sind und niemand sich vor ihnen zu fürchten braucht, drängt man sie in die etwas weiteren Zellen. Einer der aktivsten Schüler von Tuke, Godfrey Higgins, hatte das Recht erhalten und dafür zwanzig Pfund gezahlt, das Asyl in York in der Eigenschaft eines wohlwollenden Inspekteurs zu besuchen. Im Laufe eines Besuchs entdeckt er eine Tür, die sorgfältig verborgen worden war, und findet ein Zimmer, das nur etwa sechs Quadratmeter groß ist, in dem aber gewöhnlich dreizehn Frauen die Nacht verbringen. A m Tage müssen sie sich in einem kaum größeren Raum aufhalten.28'1 Wenn andererseits die Wahnsinnigen besonders gefährlich sind, hält man sie in einem Zwangssystem, das wahrscheinlich keine Art von Bestrafung war, sondern das lediglich die physischen Grenzen eines Wahnsinns, der dem Toben verwandt ist, eng halten soll. Man kettet sie an die Mauern und an die Betten. In Bedlam wurden die tobsüchtigen Frauen mit den Knöcheln an die Mauern eines langen Ganges gekettet, wobei sie als einziges Kleidungsstück ein Kleid aus grobem Stoff hatten. In einem anderen Hospital, in Bethnal Green, war eine Frau heftigen Erregungszuständen ausgesetzt. Man brachte sie jeweils in einem Schweinestall unter, wobei man ihr Füße und Hände fesselte. War der Anfall vorüber, band man sie auf ihrem Bett an, wobei sie nur eine Decke erhielt. Wenn man ihr gestattete, einige Schritte zu machen, wurde zwischen ihren Beinen ein Eisenstab angebracht, der in Ringen um die Knöchel verlief und durch eine kurze Kette mit Handschellen verbunden war. Samuel Tuke beschreibt in seinem Beriebt über die Situation der armen Irren Einzelheiten eines mühsamen Systems, das in Bedlam eingeführt worden war, um einen als Tobsüchtigen bezeichneten Irren unter Kontrolle zu halten. Er wurde an eine lange Kette gelegt, die die Mauer durchquerte und so Jem Wächter gestattete, ihn zu leiten, ihn gewissermaßen von außen in der Leine zu halten. A m Hals hatte er einen Eisenring, der durch tine kurze Kette mit einem anderen Ring verbunden war. Dieser glitt auf einem großen, vertikal befestigten Eisenstab. Der Stab war an D. Tuke, Chapters in the History IS«i,S.I5I.
of the Insane in the British Isles, London
beiden Enden, an der Decke und auch im Boden der Zelle befestigt. Als man sich daran machte, Bedlam zu reformieren, fand man einen Mann, der zwölf Jahre in dieser Zelle und unter diesem Zwangssystem gelebt hatte. 18 ! Es ist klar, daß, wenn diese Praktiken in dieser Heftigkeit ihren Höhepunkt erreichen, sie nicht mehr durch das Bewußtsein einer nötigen Bestrafung und nicht mehr durch die Pflicht, zu bessern, belebt werden. Die Vorstellung einer »Bekehrung« ist diesem Regime völlig fremd; es ist eine A r t Bild der Animalität, das die Hospize heimsucht. Der Wahnsinn wählt sein Gesicht gern nach der Maske des Tieres. Die an den Mauern der Zellen Angeketteten sind nicht so sehr Menschen mit verirrter Vernunft, sondern Tiere, die einem natürlichen Toben unterworfen sind. Es ist, als habe der Wahnsinn in seinem Extrempunkt, in dem er von jener moralischen Unvernunft freikommt, in die seine abgeschwächtesten Formen eingeschlossen sind, durch einen Gewaltakt die unmittelbare Heftigkeit der Animalität erreicht. Dieses Modell der Animalität drängt sich in den Asylen auf und gibt ihnen ihren käfigartigen Anblick. Cognel beschreibt die Salpêtrière am Ende des achtzehnten Jahrhunderts: »Die tobsüchtigen Frauen werden wie Hunde an der Tür ihrer Zelle angekettet und von den Wächterinnen und Besuchern durch einen langen Flur, den ein Eisengitter schützt, getrennt. Man reicht ihnen ihre Nahrung und ihr Stroh, auf dem sie schlafen, durch dieses Gitter. Mit Hilfe von Harken entfernt man einen Teil des Schmutzes, der sie umgibt.«*84 Im Hospital von Nantc sieht die »Menagerie« wie individuelle Käfige für wilde Tiere au>. Esquirol hatte nie »einen solchen Uberfluß an Schlössern, Riegeln. Eisenstangen, um die Tore der Kerker zu verschließen«, gesehen »Kleine Öffnungen, neben der Tür angebracht, waren mit Eisengutern und Klappen versehen. Neben dieser Öffnung war eine Kette 1 die Wand gelassen, an deren Ende ein Gefäß aus Guß hing, das υ gefähr einem Holzschuh ähnelte; darein wurden die Speisen gek und durch die Gitter der kleinen Öffnungen gereicht.<-lS? Als Fodi 1814 im Hospital von Straßburg eintrifft, findet er eine mil ο Sorgfalt und Geschick eingerichtete Art Stall für Menschen: »Für J lästigen Irren, die sich beschmutzen,« hat man am Ende der gr>n Säle »eine Art von Käfigen oder Schränken aus Brettern eingerid1 die höchstens einen Menschen mittlerer Größe aufnehmen könne:. 285 Er hieß Norris und starb ein Jahr nach seiner Befreiung. 286 François Cognel, La vie parisienne sous Louis XVI, Paris 1882. 287 Esquirol, a. a.O., Bd. 2, S. 481.
Diese Käfige haben einen Boden, der unterbrochen ist und nicht direkt auf der Erde ruht, sondern sich etwa fünfzehn Zentimeter über sie erhebt. A u f diese Latten hat man etwas Stroh geworfen, »auf dem der Irre nackt oder halbnackt schläft und wo er seine Mahlzeiten einnimmt und seine Notdurft verrichtet ( . . .)«.288 Das ist selbstverständlich ein ganzes Sicherheitssystem gegen die Gewalttaten der Wahnsinnigen und das Ausbrechen ihrer Tobsucht. Dieses Ausbrechen wird zunächst als gesellschaftliche Gefahr reflektiert, vor allem aber ist wichtig, daß es in der A r t einer tierischen Freiheit vorgestellt wird. Dieses Negativum, daß »der Irre nicht wie ein menschliches Wesen behandelt wird«, hat einen sehr positiven Inhalt, denn diese unmenschliche Indifferenz hat in Wirklichkeit den Wert einer Heimsuchung. Sie ist in den alten Ängsten verwurzelt, die seit der Antike, vor allem seit dem Mittelalter der lebendigen Welt ihre vertraute Fremdheit, ihre bedrohlichen Merkwürdigkeiten und das ganze Gewicht ihrer stummen Unruhe gegeben haben. Dennoch hat diese lebendige Angst, die mit ihrer ganzen imaginären Landschaft die Perzeption des Wahnsinns begleitet, nicht mehr den gleichen Sinn wie zwei oder drei Jahrhunderte zuvor. Die animalische Verwandlung ist nicht mehr das sichtbare Zeichen höllischer Kräfte oder das Resultat einer teuflischen Alchimie der Unvernunft. Das Tier im Menschen hat keinen Hinweischarakter für ein Jenseits mehr, es ist zu seinem Wahnsinn geworden, ohne daß eine Beziehung zu etwas anJerem als zu diesem selbst bestünde: sein Wahnsinn im Naturzustand. Oie Animalität, die im Wahnsinn zum Ausdruck kommt, beraubt den Menschen dessen, was es an Menschlichem in ihm geben kann. Das geschieht aber nicht, um ihn anderen Kräften auszuliefern, um ihn 'ediglich auf den Punkt Null seiner eigenen Natur zu stellen. Für Jen Klassizismus ist der Wahnsinn in seinen äußersten Formen durch Jen ohne jeden anderen Bezug, ohne jeden anderen Rückhalt in unmittelbarer Beziehung mit seiner Animalität stehenden Menschen gegeben.1®'
François-Emmanuel Fodéré, Traite du délire appliqué à la médecine, i la -aie. à la législation, Paris 1817, Bd. I, S. 190-191. ienc moralische Beziehung, die sich im Menschen selber mit der Animalität "teilt, nidit als Verwandlungskraft, sondern als Grenze seiner Natur, wird gut edrückt bei Mathurin Le Picard, Le Fouet des Paillards, Rouen 1Î23, S. 175: • ' " Tl ein Wolf aus Raublust, behende wie ein Löwe, arglistig und täuschend wie ' udis. scheinheilig wie ein Affe, neidisdi wie ein Bär, in seiner Rache wie ein - durch üble Reden, Blasphemien und Herabsetzung ein Hund, eine Schlange,
χ. Eines Tages wird diese Präsenz der Animalität im Wahnsinn in einer evolutionären Perspektive viel stärker als das Zeichen denn als das Wesen der Krankheit betrachtet werden. In der Epoche der französischen Klassik hingegen manifestiert er mit einem eigenartigen Eklat gerade die Tatsache, daß der Irre kein Kranker ist. Die Animalität schützt in der Tat den Irren gegen alles, was an Zerbrechlichem, an Empfindlichem und Kränklichem im Menschen sein kann. Die animalische Festigkeit des Wahnsinns und jene Dichte, die sie der blinden Welt des Tieres entleiht, härtet den Irren gegen den Hunger, die Hitze, die Kälte und den Schmerz ab. Es gilt bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts als bekannt, daß die Irren unendlich elende Lebensbedingungen ertragen können. Man braucht sie nicht zu schützen, sie nicht zuzudecken und nicht zu wärmen. Als 1811 Samuel Tuke ein workhouse der Grafschaften im Süden besucht, sieht er, wie das Licht durch vergitterte Luken, die man in die Türen gebrochen hat, in die Zellen kommt. Alle Frauen waren völlig nackt. »Die Kälte war sehr streng, und am Vorabend zeigte das Thermometer 18 Grad Kälte. Eine der unglücklichen Frauen lag auf etwas Stroh, ohne eine Decke zu haben.« Diese Fähigkeit der Wahnsinnigen, wie Tiere die schlimmsten Witterungsverhältnisse zu ertragen, wird noch für Pinel ein medizinisches Dogma sein; stets wird er bewundern, »mit welcher Standhaftigkeit und Leichtigkeit bestimmte Wahnsinnige beiderlei Geschlechts die schärfste und sehr lang anhaltende Kälte ertragen. Im Monat Nivôse des Jahres Drei, in dem an bestimmten Tagen das Thermometer zehn, elf und bis zu sechzehn Grad unter Null anzeigte, konnte ein Wahnsinniger im Hospiz von Bicêtre seine Wolldecke nicht auf sich behalten und saß auf dem vereisten Boden seiner Zelle. Am Morgen konnte man kaum seine Tür öffnen, da sah man ihn im Innern der Höfe umherlaufen, Eis und Schnee anpacken und sie auf seiner Brust in einer Art Genuß schmelzen lassen, indem er sie dagegen drückte.«*50 Der Wahnsinn bewahrt den Menschen vor der Gefahr der Erkrankung durch all das, was er an tierischer Wildheit enthält. Er läßt den Menschen auch zu einer Unverwundbarkeit gelangen, ähnlich der, die die Natur in ihrer Vorhersehung den Tieren gegeben hat. Eigenartigerweise gibt die Verwirrung der Vernunft den Wahndie aus Geiz von Erde lebt, in seiner Unbeständigkeit ein Chamäleon, durch Häresie wie ein Panther, aus Laszivität hat er Basiliskenaugen, aus Trunksucht ist er wie eir verbrennender Drache, aus Fleischeslust wie ein Ferkel.« 290 Philippe Pinel, Traité médico-philosophique sur l'aliénation mentale ou ta manie, Paris, An I X , S. 60-61.
sinnigen auf dem Weg der Rückkehr zur Animalität der unmittelbaren Güte der Natur wieder. 2 ' 1 2. Deshalb gehört der Wahnsinn in diesem extremen Punkt weniger als je zur Medizin und kann in nicht größerem Maß zum Gebiet der Bestrafung gehören. Entfesselte Animalität kann man nur durch Dressur und Vertierung meistern. Das Thema des Tier-Irren ist wirklich im achtzehnten Jahrhundert in der Pädagogik, die man mitunter auf die Wahnsinnigen anzuwenden versucht hat, verwirklicht worden. Pinel erwähnt den Fall eines »sehr bekannten Klosters in Südfrankreith«, wo dem grillenhaften Geisteskranken »der genaue Befehl, sich zu ändern«, gegeben wurde. Weigerte er sich zu schlafen oder zu essen, »erklärte man ihm, daß seine Absonderlichkeiten am nächsten Tag mit zehn Schlägen eines Ochsenziemers bestraft würden«. Wenn er dagegen unterwürfig und gelehrig war, ließ man ihn »seine Mahlzeiten im Speisesaal neben dem Lehrer« einnehmen, beim geringsten Fehler jedoch wurde er sofort »durch einen harten Stockschlag auf seine Finger darauf aufmerksam gemacht«.232 So wird in einer eigenartigen Dialektik, deren Bewegung alle »unmenschlichen« Praktiken der Internierung erklärt, die freie Animalität des Wahnsinns nur durch diese Dressur bezähmt, deren Sinn nicht ist, das Tierische zum Menschlichen zu erheben, sondern den Menschen dem wiederzugeben, was er an rein Tierischem haben kann. Der Wahnsinn enthüllt eine geheime Animalität, die seine Wahrheit ist und in der er gewissermaßen aufgeht. Gegen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurde ein Bauer aus Nordschottland berühmt. Man sagte, er verstünde die Kunst, manisch Kranke zu heilen. Pinel vermerkt nebenbei, daß dieser Gregory eine Statur wie Herkules hatte. »Seine Methode bestand darin, die Geisteskranken den schlimmsten Arbeiten des Ackerbaus auszusetzen, die einen als Lasttiere, die anderen als Domestiken zu beschäftigen und sie durch eine Zahl Schläge beim kleinsten widerspenstigen A k t sofort zum Gehorsam zu bringen.« 2 " Bei der Reduzierung auf die Animalität findet der Wahnsinn gleichzeitig seine 291 Man könnte als anderen Ausdruck des gleichen Grundsatzes die Speiseordnung nennen, der die Irren in Bicêtre (Abteilung v o n Saint-Prix) unterworfen waren: Sedis Viertel Brot zweimal täglich, die Suppe auf dem Brot verteilt, ein Viertel Fleisch am Sonntag, Dienstag und Donnerstag, den achtundvierzigsten Teil eines Pariser Sdieifels Erbsen oder Bohnen montags und freitags, mittwochs eine Unze autter, samstags eine Unze Käse.« Archives de Bicêtre, Anstaltsordnung von 1781, Kapitel ;, Artikel 6. Iii Pinel, a. a. O., S. 312. Ebda.
Wahrheit und seine Heilung. Wenn der Irre zum Tier geworden ist, erlischt jene Gegenwart des Tieres im Menschen, die das Ärgernis beim Wahnsinn ausmachte. Nicht das Tier ist zum Schweigen gekommen, sondern der Mensch selbst ist beseitigt worden. Im menschlichen Wesen, das zum Lasttier geworden ist, folgt das Fehlen der Vernunft der Weisheit und ihrem Befehl: der Wahnsinn ist dann geheilt, weil er in etwas verändert worden ist, das nidits anderes als seine Wahrheitist. 3. Es wird ein Augenblick kommen, in dem man von dieser Animalität des Wahnsinns die Idee einer mechanistischen Psychologie und den Satz, daß man die Formen des Wahnsinns auf die großen Strukturen des tierischen Lebens zurückführen kann, ableiten wird. Aber im siebzehnten und aditzehnten Jahrhundert schreibt die Animalität, die ihr Gesidit dem Wahnsinn leiht, ihren Phänomenen keineswegs eine deterministische Bewegung vor. Sie stellt ihn dagegen in einen Raum unvorberschbarer Freiheit, in dem sich die Tollheit entfesselt. Wenn der Determinismus über ihn Kraft haben kann, dann nur in der Form des Zwanges, der Strafe und der Dressur. Durdi den Seitenweg über die Animalität erreicht der Wahnsinn nicht die großen Gesetze der Natur und des Lebens, sondern eher die tausend Formen eines Bestiariums. Im Unterschied jedoch zu dem des Mittelalters, das durch so viele symbolisdie Gesichter die Metamorphosen des Bösen erzählte, ist dieses hier ein abstraktes Bestiarium. Das Böse enthält darin nicht mehr seinen phantastischen Körper. In ihm nimmt man lediglich die extremste Form, die Wahrheit ohne Inhalt des Tieres wahr. Es ist von allem befreit, was seinen Reichtum an imaginärer Fauna ausmadien konnte, und behält so eine allgemeine bedrohliche Kraft: die stumme Gefahr einer Animalität. die wach ist und mit einem plötzlichen Schlag die Vernunft in der Gewalttätigkeit und die Wahrheil im Toben des Wahnsinnigen auflöst. Trotz der zeitgenössischen Anstrengung, eine positive Zoologie zu konstituieren, hat diese Heimsudiung einer Animalität, die als natürlicher Raum des Wahnsinns wahrgenommen wird, nicht aufgehört, die Hölle des klassischen Zeitalters zu beleben. Sie bildet das imaginäre Element, aus dem alle Internierungspraktiken und die seltsamsten Aspekte seiner Wildheit entstanden sind. Es war für die abendländische Kultur sicher wichtig, ihre Wahrnehmung vom Wahnsinn, so wie sie es getan hat, mit den imaginären Formen der Beziehung zwisdien Mensch und Tier zu verbinden. "> hat nidit von Anfang an als evident gelten lassen, daß das Tier
der Fülle, der Weisheit und der Ordnung der Natur teilhabe. Diese Idee war eine späte und sollte noch lange an der Oberfläche der Kultur bleiben. Vielleicht ist sie noch nidit sehr tief in die unterirdisdien Räume der Vorstellungskraft eingedrungen. Wer wirklich die Augen darauf richtet, nimmt ziemlidi schnell wahr, daß das Tier vielmehr zu einer Gegennatur, zu einer Negativität gehört, die die Ordnung bedroht und durch ihr Toben die positive Weisheit der Natur in Gefahr bringt. Das Werk Lautreamonts bezeugt das. D a ß der abendländische Mensch zwei Jahrtausende mit seiner Definition als vernünftiges Lebewesen gelebt hat, beweist noch nidit notwendig, daß er die Möglichkeit einer gemeinsamen Ordnung zwischen Vernunft und Animalität erkannt hat. Warum sollte er in dieser Definition die Art genannt haben, auf die er sidi in die natürliche Positivität einreiht? Und unabhängig davon, was Aristoteles hat wirklich sagen wollen, kann man nicht wetten, daß dieses »vernünftige Lebewesen« lange Zeit für die abendländische Welt die Weise bezeichnet hat, in der die Freiheit der Vernunft ihre Bewegung im Raum einer entfesselten Unvernunft erhielt und sich ihr so weit entriß, daß sie beinahe den dieser entgegengesetzten Begriff bildete? Von dem Augenblidc an, als die Philosophie zur Anthropologie wurde, als der Mensch sidi in einer natürlichen Fülle hat wiedererkennen wollen, hat das Tier seine negative Kraft verloren und zwischen dem Determinismus der Natur und der Vernunft des Menschen die positive Form einer Entwicklung konstituiert. Die Formel des vernünftigen Lebewesens hat völlig ihren Sinn verändert: die Unvernunft, die sie als Ursprung jeder möglichen Vernunft bezeichnete, ist völlig verschwunden. Seitdem mußte der Wahnsinn dem Determinismus des als in seiner Animalität natürliches Wesen erkannten Menschen gehorchen. Wenn es wahr ist, daß die wissenschaftliche und medizinische Analyse, wie wir später sehen werden, ihn in diesen natürlichen Mechanismus einzubauen versudit, so bezeugen im Zeitalter der französischen Klassik die wirklichen Praktiken, die die Wahnsinnigen betreffen, zur Genüge, daß der Wahnsinn noch in der unnatürlichen Heftigkeit der Animalität erfaßt wurde. \uf jeden Fall wird diese Animalität des Wahnsinns von der Inter•^erung verherrlicht, und zwar zu der Zeit, in der sie den Ärger mit 1er Immoralität des Unvernünftigen zu vermeiden sucht. Das beweist ur Genüge die Distanz, die sich im Zeitalter der französischen Klassik "'sehen Wahnsinn und anderen Formen der Unvernunft ergeben lut, selbst wenn ein bestimmter Gesichtspunkt sie assimiliert oder
miteinander verwechselt. Wenn eine ganze Schicht der Unvernunft zum Schweigen gebracht wird, man aber den Wahnsinn frei die Sprache seines Skandals sprechen läßt, welche Belehrung kann er dann geben, die die Unvernunft im allgemeinen nicht übermitteln kann? Welchen Sinn hat sein Toben und die ganze Wut des Wahnsinnigen, den man nicht in den wahrscheinlich vernünftigeren Worten der anderen Internierten finden kann? Worin ist der Wahnsinn also in besonderer Weise bedeutsam? Vom siebzehnten Jahrhundert an enthält die Unvernunft im weitesten Sinne kaum mehr eine Belehrung. Jene gefährliche Reversibilität der Vernunft, die die Renaissance noch in so großer Nähe verspürte, muß vergessen werden, und ihre Beunruhigungen müssen verschwinden. Das bedeutende Thema des Wahnsinns des Kreuzes, das so eng mit der christlichen Erfahrung der Renaissance verbunden war, beginnt im siebzehnten Jahrhundert, trotz des Jansenismus und Pascals, zu verschwinden, oder vielmehr, es besteht, wenn auch in verändertem und gleichsam umgekehrten Sinne, fort. Es handelt sich nicht mehr darum, von der menschlichen Vernunft die Aufgabe ihres Stolzes und ihrer Gewißheiten zu verlangen, damit sie sich in der großen Unvernunft des Opfers verliert. Wenn das Christentum der Klassik vom Wahnsinn des Kreuzes spricht, dann geschieht dies lediglich, um eine falsche Vernunft zu demütigen und das ewige Licht der wahren Vernunft leuchten zu lassen. Der Wahnsinn des menschgewordenen Gottes ist nur eine Weisheit, die die Menschen der Unvernunft, die in dieser Welt leben, nicht erkennen: »Der gekreuzigte Jesus ( . . . ) ist das Ärgernis der Welt gewesen und erschien in den Augen seiner Zeit nur als Ignoranz und Wahnsinn.« Die christlich gewordene Welt und jene Ordnung Gottes, die sich in den Peripetien der Geschichte und dem Wahnsinn der Menschen enthüllt, genügen jetzt, zu zeigen, daß »Christus der höchste Punkt unserer Weisheit geworden ist«.2'·' Der Skandal des christlichen Glaubens und der christlichen Erniedrigung, dem Pascal noch seine Kraft und seinen enthüllenden Wert bewahrte, wird bald nur noch den Sinn für das christliche Denken haben, daß er vielleicht in all den Menschen mit skandalisiertem Bewußtsein ebensoviele blinde Seelen zeigt: »Duldet nicht, daß euer Kreuz, das euch das Universum unterworfen hat, noch der Wahnsinn und der Skandal der hochmütigen Geister ist.« Die christliche Unvernunft
294 Bossuet, Panégyrique de saint Bernard, Préambule, in: ders., Œuvres Bd. I (1861), S. £22.
complètes,
wird von den Christen selbst an die Grenzen der Vernunft, die identisch mit der Weisheit des fleischgewordenen Gottes ist, zurückgedrängt. Nach Port-Royal muß man zwei Jahrhunderte auf Dostojewski; und Nietzsche warten, damit Christus den Ruhm seines Wahnsinns wiederfindet, damit der Skandal von neuem eine darstellende Kraft hat, damit die Unvernunft aufhört, lediglich öffentliche Schande der Vernunft zu sein. In dem Augenblick aber, in dem die christliche Vernunft sich eines Wahnsinns entledigt, mit dem sie so lange Zeit eins gewesen war, erhält der Irre mit seiner beseitigten Vernunft, in der Wut seiner Animalität eine eigenartige, demonstrative Kraft. Es ist, als erscheine der aus jener oberhalb des Menschen gelegenen Region, in der er Beziehung zu Gott hat und in der sich die Inkarnation manifestiert, vertriebene Skandal, in der Fülle seiner Kräfte und mit einer neuen Lektion in jener Region wieder, in der der Mensch Beziehung zur Natur und seiner Animalität hat. Der Anwendungspunkt der Lektion hat sich in die tiefen Regionen des Wahnsinns verlagert. Das Kreuz braucht nicht mehr in seinem Skandal betrachtet zu werden, aber es darf nicht vergessen werden, daß Christus gewissermaßen während seines ganzen menschlichen Lebens den Wahnsinn geehrt hat. Er hat ihn geheiligt, wie er die geheilte Krankheit, die vergebene Sünde, die Armut, der ewiger Reichtum versprochen worden war, geheiligt hat. Saint Vincent de Paul erinnert diejenigen, die in den Internierungshäusern über die Menschen wachen sollen, daß ihr »Beispiel darin unser Herrgott ist, der von Mondsüchtigen, Besessenen, Irren, Versuchten und vom Teufel Besessenen hat umgeben sein wollen«. 2 "' Diese den Kräften des Unmenschlichen ausgelieferten Menschen bilden um die herum, die die ewige Weisheit repräsentieren, um den herum, der sie verkörpert, eine ewige Gelegenheit zur Verherrlichung, weil sie gleichzeitig damit, daß sie ihn umgeben, die Vernunft rühmen, die ihnen abgesprochen worden ist, und ihr einen Vorwand geben, sich zu erniedrigen, zu erkennen, daß sie nur durch göttliche Gnade zugestanden wird. Darüber hinaus hat Christus nicht nur von Mondsüchtigen umgeben sein, er hat selbst in den Augen aller als ein Dementer gelten wollen, um so in seiner Inkarnation das menschliche Elend des Gefallenseins zu durchlaufen. So wird der Wahnsinn zur äußersten Form, zum letzten Grad des Mensch gewordenen Gottes
29 s Louis Abelly, La vie du vénérable serviteur de DieuVincent 8d. I, S. 199.
de Paul, Paris 1664,
vor der Erfüllung und der Befreiung vom Kreuz: »Oh, mein Retter, D u hast zum Ärger der Juden und zum Wahnsinn der Heiden werden wollen. D u hast wie außer Deiner selbst erscheinen wollen. Ja, unser Herr hat als wahnsinnig gelten wollen, wie es im Heiligen Evangelium geschrieben steht, damit man von ihm glaubte, daß er toll geworden sei. Dicebant quoniam in jurorem versus est. Seine Apostel haben ihn manchmal als einen Mann betrachtet, der in Wut geraten ist, und er erschien ihnen so, daß sie bezeugen konnten, daß er all unsere Schwächen getragen hatte und unsere Zustände der Niedergeschlagenheit geheiligt hatte, um sie und ebenso uns zu lehren, daß man Mitleid haben muß mit denen, die diese Gebrechlichkeiten befallen. « îaS Als er auf diese Welt kam, nahm Christus es auf sich, die ganzen Zeichen der menschlichen Lebensbedingungen, und sogar die Stigmata der gefallenen Natur zu tragen. Vom Elend bis zum Tod hat er den langen Weg des Leidens verfolgt, der auch der Weg der Leidenschaften, der vergessenen Weisheit und des Wahnsinns war, und weil der Wahnsinn eine der Formen der Leidenschaft war und in bestimmtem Sinne die letzte vor dem Tode, muß er bei denen, die daran leiden, jetzt zum Gegenstand von Achtung und Mitleid werden. Den Wahnsinn zu respektieren heißt nicht, in ihm den unfreiwilligen und unvermeidlichen Zufall der Krankheit zu entziffern, sondern jene untere Grenze der menschlichen Wahrheit anzuerkennen, die nicht zufällig, sondern von wesentlicher Bedeutung ist. Wie der Tod der Endpunkt des menschlichen Lebens im Zeitlichen ist, so ist der Wahnsinn auf der Seite der Animalität der Endpunkt des Lebens. So wie der Tod durch den von Jesus geheiligt worden ist, so ist auch der Wahnsinn durch das, was er an Tierischem enthält, geheiligt worden. A m 29. März 1654 meldete Vincent de Paul dem Jean Barreau, der auch zur Kongregation gehörte, daß sein Bruder in Saint-Lazare als Dementer interniert worden sei: »Wir müssen unseren Herrn in dem Zustand ehren, in dem Er sich befand, als man Ihn binden wollte, weil man sagte, quoniam in frenesim versus est, um diesen Zustand bei denen zu heiligen, die Seine göttliche Vorsehung dahin bringt." 5 " Der Wahnsinn ist der niedrigste Punkt der Menschheit, dem Gott in seiner Inkarnation zugestimmt hat, wobei er dadurch zeigen wollte, daß es im Menschen nichts Unmenschliches gibt, was nicht gerettel 296 Vgl. Abelly, a. a. O., S. 198. Saint Vincent spielt hier auf eine Paulusstelle an »Judaeis quidem scandalum, gentibus autem stultitiam.« (I. Kor. I, 23). 297 Correspondance de saint Vincent de Paul, 12 vols. (id. Coste), Paris 1920-192., Bd. j , S. 146.
und erhoben werden könnte. Der tiefste Punkt des Falls ist durch die göttliche Präsenz verherrlicht worden, und diese Lektion lehrt für das siebzehnte Jahrhundert noch jeder Wahnsinn. Man versteht, warum der Skandal des Wahnsinns verherrlicht werden kann, als der der anderen Formen der Unvernunft mit so viel Sorgfalt verborgen wird. Dieser enthält nur das ansteckende Beispiel der Verfehlung und der Unmoral, während jener den Menschen zeigt, bis zu welcher Nähe der Animalität ihr Fall sie hat bringen können. Gleichzeitig zeigt er, bis wohin sich die göttliche Gnade hat neigen können, als sie der Rettung der Menschen zustimmte. Für das Christentum der Renaissance lag der ganze belehrende Wert der Unvernunft und ihrer Skandale in dem Wahnsinn der Inkarnation eines Mensch gewordenen Gottes. Für die Zeit der französischen Klassik ist die Inkarnation kein Wahnsinn mehr. Jetzt ist jede Inkarnation des Menschen im Tier Wahnsinn, die als letzter Punkt des Falls das manifesteste Zeichen seiner Straffälligkeit und als äußerster Gegenstand der göttlichen Gnade das Symbol universaler Vergebung und wiedererlangter Unschuld ist. Künftig muß man alle Lektionen des Wahnsinns und seine belehrende Kraft in jener dunklen Region an den unteren Grenzen der Menschheit suchen, w o der Mensch mit der Natur sich auszudrücken versucht und wo er letzter Verfall und absolute Unschuld in einem ist. Die Sorge der Kirche um die Wahnsinnigen während der Zeit der französischen Klassik, so wie sie symbolisiert wird von Vincent de Paul und seiner Kongregation oder den Barmherzigen Brüdern, all jenen geistlichen Orden, die sich um die Wahnsinnigen kümmern und auf den Wahnsinn der Welt hinweisen, zeigt sie nicht, daß die Kirche im Wahnsinn eine schwierige, aber wesentliche Lehre fand:, die schuldhafte Unschuld des Tieres im Menschen? Diese Lektion mußte in ihren Schauspielen, die im Irren die Wut des menschlichen Tieres verherrlichten, gelesen und verstanden werden. Paradoxerweise bereitet dieses christliche Bewußtsein von der Animalität den Augenblick vor, in dem der Wahnsinn als ein natürliches Ereignis behandelt wird. Man wird dann schnell vergessen, was diese »Natur« für das klassische Denken bedeutete, nämlich nicht das immer offene Gebiet einer objektiven Analyse, sondern jene Region, in der für das menschliche Wesen der stets mögliche Skandal tines Wahnsinns entsteht, der gleichzeitig seine letzte Wahrheit und -lie Form seiner Beseitigung ist. Ml diese Tatsachen, diese eigenartigen an den Wahnsinn geknüpften
Praktiken, die Gewohnheiten, die ihn verherrlichen und gleidizeitig zähmen, reduzieren den Wahnsinn auf die Animalität, nicht ohne ihn indessen die Lektion der Erlösung lehren zu lassen, und stellen den Wahnsinn in eine eigenartige Situation im Verhältnis zur Gesamtheit der Unvernunft. In den Internierungshäusern ruht der Wahnsinn in Nachbarschaft aller Formen der Unvernunft, die ihn in seine allgemeinste Wahrheit einhüllen und abgrenzen. Dennoch wird er isoliert, in eigenartiger Weise behandelt und stellt sich in dem dar, was er an Einzigartigem haben kann, als durchquerte er, weil er zur Unvernunft gehört, diese unaufhörlich in einer ihm eigenen Bewegung, wodurch er sidi von selbst zu seinem höchst paradoxen Gegenteil brächte. Wir haben jetzt die Gewohnheit angenommen, im Wahnsinn einen Fall in den Determinismus zu sehen, in dem sich nacheinander alle Formen der Freiheit auflösen. Er zeigt uns nur noch die natürlichen Regelmäßigkeiten eines Determinismus mit der Verkettung seiner Ursache und der diskursiven Bewegung seiner Formen, denn der Wahnsinn bedroht den modernen Menschen nur mit der Rückkehr zur finsteren Welt der Tiere und der Dinge und zu deren gefesselter Freiheit. Nicht an diesem Horizont der Natur erkennen das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert den Wahnsinn, sondern auf einem Hintergrund der Unvernunft. Der Wahnsinn enthüllt keinen Mechanismus, er enthüllt eher eine Freiheit, die in den erschreckenden Formen der Animalität wütet. Wir verstehen heute die Unvernunft beinahe nur noch in ihrer epithetischen Form: dem Unvernünftigen, dessen Merkmal das Benehmen oder die Worte bezeichnet und in den Augen der Laien das Vorhandensein des Wahnsinns und seines ganzen pathologischen Gefolges verrät. Das Unvernünftige ist für uns nur eine Erscheinungsweise des Wahnsinns. Die Unvernunft hat hingegen für die Zeit der französischen Klassik den Wert eines Nomen, denn sie bildet eine A r t substantieller Funktion. In Beziehung zu ihr und allein zu ihr kann der Wahnsinn verstanden werden. Sie ist seine Stütze, oder sagen wir eher, sie grenzt den Raum seiner Möglichkeiten ab. Für den Menschen der Epoche der französischen Klassik ist der Wahnsinn keine natürliche Bedingung, keine psychologische und menschliche Wurzel der Unvernunft. Er ist nur ihre empirische Form, und der Wahnsinnige enthüllt, indem er bis zum Toben der Animalitäf die Kurve des menschlichen Falls durchläuft, diesen Hintergrund Jer Unvernunft, die den Menschen bedroht und von fern sämtliche Formen seiner Existenz umhüllt. Es handelt sich nicht um ein Hingleitet
zu einem Determinismus, sondern um die Öffnung in Richtung einer Nacht. Mehr als alles andere, besser jedenfalls als unser Positivismus hat der klassische Rationalismus es verstanden, jene unterirdische Gefahr der Unvernunft, jenen bedrohenden Raum einer absoluten Freiheit zu bewachen und wahrzunehmen.
Zweiter Teil
Einleitung
Es ist an der Zeit, auf eine allgemein bekannte Wahrheit zurückzukommen: das Bewußtsein des Wahnsinns ist zumindest in Europa niemals eine massive Erscheinung gewesen, die ein Ganzes gewesen wäre und sich wie ein homogenes Gebilde umgestaltet hätte. Für das abendländische Bewußtsein taucht der Wahnsinn gleichzeitig an vielerlei Punkten auf, bildet eine sich allmählich verschiebende Konstellation, die ihr Aussehen ändert und deren Gestalt vielleicht das Rätsel einer Wahrheit verbirgt. Ein immer zertrümmerter Sinn. Aber welche Form des Wissens ist überhaupt einzigartig, esoterisch oder regional genug, um nur an einem Punkt aufzutreten und in einer einzigen Formulierung? Welche Kenntnis ist zugleich gut genug und wenig genug bekannt, um nur einmal bekannt zu sein, nur auf eine Art und nur gemäß einem einzigen Verstehenstypus? Wie sähe die Wissenschaft aus, sei sie noch so kohärent und eng begrenzt, die nicht mehr oder weniger dunkle Formen praktischen, mythologischen oder moralischen Bewußtseins um sich gravitieren ließe? Wenn sie nicht in einer aufgelockerten Ordnung erfahren und nur in Profilen erkannt würde, müßte jegliche Wahrheit in Schlaf versinken. Aber vielleicht ist für die Erfahrung des Wahnsinns eine gewisse Inkohärenz wesentlicher als für irgendeine andere Erfahrung; vielleicht betrifft diese Dispersion eher als verschiedene Arten der Elaboration. unter denen ein Evolutionsschema auszumachen möglich ist, Jas Fundamentalste und ihren ursprünglichen Gegebenheiten Nächste dieser Erfahrung. Und während sich in der Mehrzahl der anderen Wissensformen die Konvergenz in jedem Profil abzeichnet, wäre hier die Divergenz in den Strukturen enthalten und würde nur ein bereits gebrochenes, vorab fragmentiertes Bewußtsein vom Wahnsinn in •:inem nicht zu beendenden Streit zulassen. Es mag vorkommen, daß Begriffe oder ein bestimmter Wissensanspruch recht oberflächlich diese • rste Dispersion verdecken: was etwa die Anstrengung beweist, die iie moderne Welt unternimmt, um vom Wahnsinn nur in den freundhen und objektiven Termini der Geisteskrankheit zu sprechen und Jen verflochtenen Bedeutungen der Pathologie und Philanthropie ne pathetischen Werte zu verwischen. N u n darf aber der Sinn des ihnsinns innerhalb eines gegebenen Zeitraums, so auch in unserer
Zeit, nidit von der Einheit eines wenigstens entworfenen Planes, sondern von dieser zerrissenen Gegenwart verlangt werden; und wenn es vorkam, daß die Erfahrung mit dem Wahnsinn die eigenen Grenzen zu überschreiten und zu einem Gleichgewicht zu gelangen suchte, indem sie sich auf die Ebene der Objektivität hinüberspielte, hat dennoch nichts die dramatischen Werte auslöschen können, die seinem Streit von Anbeginn gegeben waren. Dieser Streit kommt im Laufe der Zeit hartnäckig wieder: unermüdlich bringt er in zwar unterschiedlichen Formen, aber mit immer derselben Schwierigkeit, zu einer Übereinstimmung zu kommen, die gleichen, nie reduziblen Bewußtseinsformen ins Spiel, i . - Ein kritisches Bewußtsein vom Wahnsinn, das ihn auf dem Hintergrund des Vernünftigen, des Überlegten und des moralisch Klugen erkennt und bezeichnet; ein Bewußtsein, das voll und ganz in seiner Beurteilung aufgeht, noch bevor es eine Begrifflichkeit ausgearbeitet hat; es definiert nicht, sondern denunziert. Der Wahnsinn wird darin wie ein sofort verspürter Gegensatz wahrgenommen; er kommt in seiner sichtbaren Abweichung zum Ausbruch und zeigt in einer Überfülle und Vollblütigkeit an Beweisen, »daß er einen hohlen Kopf hat, in dem es drüber und drunter geht«.1 In diesem noch anfänglichen Punkt ist das Bewußtsein vom Wahnsinn sich seiner selbst bewußt, d. h., nicht wahnsinnig zu sein. Ohne Maß oder Konzept hat es sich jedoch in das Innere des Unterschiedes, bis ins Mark des Gegensatzes, ins Herz des Konfliktes begeben, in dem Wahnsinn und Nicht-Wahnsinn ihre einfachste Sprache tauschen; und der Gegensatz wird austauschbar: wo jeder feste Punkt fehlt, kann der Wahnsinn ebensogut Vernunft und das Bewußtsein vom Wahnsinn heimliche Gegenwart, Kriegslist des Wahnsinns selbst sein. Die, um zu reisen, sich auf das Wasser begeben, sehen das Land und nicht das Schiff sich bewegen. 2 Da es aber für den Wahnsinn keine Gewißheit gibt, nicht wahnsinnig zu sein, gibt es eine allgemeinere als alle anderen Arten des Wahnsinns, den, der dort haust, wo auch der hartnäckigste Wahnsinn aller Weisheiten ansässig ist. Je mehr ich an mir feile und herumhoble, glaube ich, daß alle anderen nur faseln.3 Dies ist eine sehr zerbrechliche, aber höchste Weisheit. Sie setzt voraus ι Mathurin Régnier, Satirc XIV, Vers 9. 2 A . a. O., Vers 13-14. 3 A . a. O., Vers 7-8.
und erfordert die ununterbrochene Spaltung des Bewußtseins vom Wahnsinn, sein Untertauchen im Wahnsinn und sein erneutes A u f taudien. Sie stützt sich auf Werte, oder vielmehr den vorab gesetzten Wert der Vernunft, aber sie vernichtet ihn, um ihn sogleich in der ironischen Luzidität und falschen Verzweiflung dieser Vernichtung wiederzufinden. Ein kritisches Bewußtsein, das vorgibt, die Strenge so weit zu treiben, bis es radikale Kritik an sich selbst wird und sich in einen zweifelhaften Kampf im Absoluten wagt, das sich aber von vornherein heimlich bewahrt, indem es sich allein durch das Eingehen des Risikos als Vernunft erkennt. In gewissem Sinne ist die Beteiligung der Vernunft an dieser einfachen und umkehrbaren Opposition zum Wahnsinn total, aber nur von dem Punkte an, wo die heimliche Möglichkeit zu einer völligen Loslösung besteht. 2. - Ein praktisches Bewußtsein vom Wahnsinn: hier ist die Loslösung weder Virtualität noch Virtuosität der Dialektik. Sie drängt sich als konkrete Realität auf, weil sie in der Existenz und in den Normen einer Gruppe gegeben ist; darüber hinaus drängt sie sich als unvermeidliche Wahl auf, weil man auf einer der beiden Seiten stehen muß, entweder innerhalb oder außerhalb der Gruppe. Diese Wahl ist überdies eine falsche Wahl, denn allein die zur Gruppe Gehörigen haben das Recht, diejenigen zu bezeichnen, die als außerhalb befindlich betrachtet und beschuldigt werden, diese Wahl getroffen zu haben. Das lediglich kritische Bewußtsein, daß sie vom Wege abgewichen sind, stützt sich auf das Bewußtsein, daß sie einen anderen Weg gewählt haben, und dadurch rechtfertigt - erhellt und verdunkelt - es sich in einem unmittelbaren Dogmatismus. Es muß sich nicht um ein getrübtes Bewußtsein handeln, das sich auf den Unterschied und die Homogenität von Wahnsinn und Vernunft einläßt; es ist das Bewußtsein vom Unterschied zwischen Wahnsinn und Vernunft, ein Bewußtsein, das möglich ist in der Homogenität der Gruppe, die als Träger der Normen der Vernunft betrachtet wird. Wenn es auch von Anfang .in sozial, normativ und fest gestützt ist, entbehrt dieses praktische Bewußtsein doch nidit der Dramatik; wenn es die Solidarität der Gruppe impliziert, zeigt es ebenfalls den Drang nach Trennung. In dieser Trennung bleibt die immer gefährliche Freiheit des Dialogs stumm; es bleibt nur die ruhige Gewißheit, daß der Wahnsinn zum Schweigen gebracht werden muß. Zweiseitiges Bewußtsein - gelassen, weil es sicher ist, die Wahrheit zu besitzen, aber unruhig, sobald es die undurchschaubaren Kräfte des Wahnsinns wahrnimmt. Gegen die Vernunft scheint der Wahnsinn jetzt wie entwaffnet; aber gegen die
Ordnung, gegen das, was die Vernunft von sich in den Gesetzen der Dinge und der Menschen zur Geltung bringen kann, entwickelt er eigenartige Kräfte. Diese Ordnung empfindet das Bewußtsein vom Wahnsinn als bedroht, und die von ihm vorgenommene Trennung setzt ihr Schicksal aufs Spiel. Dieses Risiko ist aber begrenzt, bereits zu Anfang falsifiziert. Es gibt keine reale Gegenüberstellung, sondern ohne Kompensation die Ausübung eines absoluten Rechts, das das Bewußtsein vom Wahnsinn sich von vornherein nimmt, indem es sich als der Gruppe und der Vernunft homogen erkennt. Das Zeremoniell siegt über die Auseinandersetzung; und nicht die Transformationen eines wirklichen Kampfes drückt dieses Bewußtsein vom Wahnsinn aus, sondern die von altersher angewandten Riten einer Beschwörung. Diese Bewußtseinsform ist in höchstem und zugleich geringstem Maße geschichtlich; in jedem Augenblick gibt sie sich wie eine unmittelbare Verteidigungsgeste, aber diese Verteidigung ist nichts anderes als die Reaktivierung all jener alten Heimsuchungen des Grauens. Das moderne Asyl, jedenfalls wenn man an das obskure Bewußtsein denkt, das es rechtfertigt und seine Notwendigkeit begründet, ist nicht frei vom Erbe der Leprosorien. Das praktische Bewußtsein vom Wahnsinn, das sich nur durch die Transparenz seiner Finalität zu definieren scheint, ist wahrscheinlich das intensivste und in seinem schematischen Zeremoniell am meisten mit alten Dramen beladene. 3. - Ein enunziatives Bewußtsein vom Wahnsinn, das die Möglichkeit bietet, unmittelbar und ohne Umweg über die Gelehrsamkeit zu sagen: »Das ist ein Irrer.« Hier besteht nicht die Frage der Qualifikation oder Disqualifikation des Wahnsinns, sondern es geht darum, ihn in einer selbständigen Existenz zu bezeichnen; vor einem steht da jemand, der unwiderruflich und offensichtlich wahnsinnig ist — in der einfachen, unbeweglichen, hartnäckigen Existenz, die der Wahnsinn vor jeder Eigenschaft und jedem Urteil ist. Das Bewußtsein befindet sich dann nicht mehr auf der Ebene der Werte - der Gefahren und Risiken; es befindet sich auf der Ebene des Seins und ist nichts anderes als eine einsilbige Kenntnis, reduziert bis zum: »Es steht fest!« In bestimmtem Sinne ist dies die klarste aller möglichen Formen des Bewußtseins vom Wahnsinn, weil sie im Grunde nur ein einfaches perzeptives Begreifen ist. D a sie nicht durch die Wissenschaft muß. vermeidet sie sogar die Beunruhigungen durch eine Diagnose. Das ist das ironische Bewußtsein des Gesprächspartners des Neveu de Rameau und das mit sich selbst ausgesöhnte Bewußtsein, das, kaum aus der Tiefe des Schmerzes wieder heraufgekommen, auf halbem
Wege zwischen Bitterkeit und Faszination die Träume Aurêlias erzählt. Wie einfach es auch sein mag, dieses Bewußtsein ist nicht rein: es enthält einen fortgesetzten Rücklauf, weil es gleichzeitig vermutet und beweist, daß es allein durch die Tatsache, sein unmittelbares Bewußtsein zu sein, kein Wahnsinn ist. Der Wahnsinn wird nur in dem Maße in einer unwiderlegbaren Evidenz präsent und bezeichnet sein, wie das Bewußtsein, dem er gegenwärtig ist, ihn bereits zurückgewiesen hat, und wird sich in Beziehung zu ihm und in Opposition zu ihm definieren. Das Bewußtsein vom Wahnsinn besteht nur auf dem Hintergrund des Bewußtseins, nicht wahnsinnig zu sein. Wie vorurteilslos und von allen Formen des Zwanges und der Repression entfernt es auch immer sein mag, es bleibt stets eine gewisse Art, den Wahnsinn bereits gemeistert zu haben. Die Ablehnung, den Wahnsinn zu bezeichnen, läßt immer ein bestimmtes qualitatives Bewußtsein seiner selbst als des Nicht-Wahnsinnigen vermuten; nur in dem Maße ist er einfache Wahrnehmung, wie er diese erschlichene Opposition ist. Blake sagte: »Weil andere wahnsinnig gewesen sind, können wir es nicht sein.«4 Täuschen wir uns aber nicht über dieses offensichtliche Vorhergehen des Wahnsinns der anderen; er erscheint in der Zeit völlig altersüberladen, weil jenseits jeder möglichen Erinnerung das Bewußtsein, nicht wahnsinnig zu sein, seine zeitlose Ruhe ausgebreitet hat: »Die Uhr mißt die Stunden des Wahnsinns, aber die der Weisheit kann keine Uhr messen.«1 4. - Ein analytisches Bewußtsein vom Wahnsinn, ein voll entfaltetes Bewußtsein seiner Formen, Phänomene, Erscheinungsweisen. Wahrscheinlich ist die Gesamtheit dieser Formen und Phänomene diesem Bewußtsein niemals gegenwärtig; lange Zeit und vielleicht für immer wird der Wahnsinn das Wesentliche seiner Kräfte und Wahrheiten im Schlecht-Bekannten verbergen, dennoch erlangt er in diesem analytischen Bewußtsein die Ruhe des Wohlbekannten. Selbst falls es stimmen sollte, daß man mit seinen Phänomenen und Ursachen nie fertig werden wird, gehört er mit vollem Recht dem Blick, der ihn beherrscht. Darin ist der Wahnsinn nicht mehr als die wenigstens virtuelle Totalität seiner Phänomene; er birgt keine Gefahren mehr, impliziert nicht länger die Trennung; er verlangt sogar keinen größeren Abstand als jedes andere Erkenntnisobjekt. Diese Bewußtseinsform begründet ein objektives Wissen vom Wahnsinn. 4 'William Blake, Le mariage du ciel et de l'enfer, in der Obersetzung von André Gide, S. 24. t A.a. O . . S . 20.
Jede dieser Bewußtseinsformen ist gleichzeitig in sich selbst ausreichend und verbindlich für alle anderen. Verbindlich, weil sie sich heimlich aufeinander stützen müssen. Es gibt kein angeblich noch so objektives oder sich allein auf die wissenschaftlichen Erkenntnisformen stützendes Wissen vom Wahnsinn, das nicht trotz allem die voraufgegangene Bewegung einer kritischen Auseinandersetzung annimmt, in der die Vernunft sich mit dem Wahnsinn gemessen hat, wobei sie ihn gleichzeitig in einfacher Opposition und der Gefahr plötzlicher Reversibilität empfunden hat. Als stets an seinem Horizont vorhandene Virtualität nimmt dieses Wissen eine praktische Trennung an, durch die die Gruppe ihre Werte durch Beschwörung des Wahnsinns befestigt und verstärkt. Umgekehrt kann man sagen, daß es kein kritisches Bewußtsein vom Wahnsinn gibt, das nicht versuchte, sich auf eine analytische Erkenntnis zu gründen oder darüber hinauszugehen, in der sich die Unruhe der Auseinandersetzung legen wird, in der die Gefahren bewältigt und die Entfernungen endgültig festgelegt werden. Jede der vier Formen von Bewußtsein vom Wahnsinn weist auf eine oder mehrere andere hin, die ihr als ständiger Bezugspunkt, als Rechtfertigung und Voraussetzung dienen. Keine jedoch kann je völlig von einer anderen resorbiert werden. Wie eng ihre Beziehung auch sein mag, sie kann sie nie auf eine Einheit reduzieren, die sie alle in einer tyrannischen, definitiven und monotonen Bewußtseinsform auflöste; jede behält durch ihre Natur, ihre Bedeutung und ihre Grundlagen ihre Autonomie. Die erste umschließt augenblicklich eine ganze Region der Sprache, in der sich gleichzeitig Sinn und Nicht-Sinn, Wahrheit und Irrtum, Weisheit und Trunkenheit, Tageslicht und schillernder Traum, die Grenzen der Urteilskraft und das grenzenlose Verlangen befinden und einander gegenüberstehen. Die zweite, Erbin großer und alter Schrecken, nimmt, ohne es zu wissen, zu wollen und zu sagen, die alten stummen Reinigungsriten wieder auf, die das dunkle Bewußtsein der Gemeinschaften von neuem belebt. Sie birgt eine ganze Geschichte, die ungenannt bleibt, und trotz der Rechtfertigung, die sie für sich selbst anbieten kann, bleibt sie der unbeweglichen Strenge der Zeremonien näher als der unaufhörlichen Mühe der Sprache. Die dritte gehört nicht in den Bereich der Erkenntnis, sondern in den des Wiedererkennens; sie ist Spiegel (wie bei Rameaus Neffen) oder Erinnerung (wie bei Nerval oder Artaud) im Grunde stets Reflexion ihrer selbst in dem Augenblick, in dem sie das Fremde oder das in ihr enthaltene stärkere Fremde zu bezeichnen glaubt; was sie in ihrer unmittelbaren Enunziation durch diese rein
perzeptive Entdeckung in Distanz setzt, war ihr engstes Geheimnis; und unter dieser einfachen, nicht wahnsinnigen Existenz, die wie ein geschenktes und entwaffnetes Ding da ist, erkennt sie, ohne es zu wissen, die Vertrautheit ihres Schmerzes. Im analytischen Bewußtsein vom Wahnsinn wirkt sich die Beruhigung des Dramas aus und verschließt sich wieder das Schweigen des Dialogs; Ritual und erhabenen Stil gibt es nicht länger; die Phantasmen nehmen ihre Wahrheit an; die Gefahren der Widernatur werden zu Zeichen und Manifestationen einer Natur; was den Schrecken invozierte, ruft nur noch die Techniken der Unterdrückung hervor. Das Bewußtsein vom Wahnsinn kann hier nur noch sein Gleichgewicht in der Form der Erkenntnis finden. Seit mit der Renaissance die tragische Erfahrung des Wahnsinnigen verschwunden ist, impliziert jede historische Gestalt des Wahnsinns die Gleichzeitigkeit dieser vier Bewußtseinsformen, zugleich ihren dunklen Konflikt und ihre ständig entwirrte Einheit; in jedem Augenblick stellt sich her und löst sich auf das Gleichgewicht dessen, was in der Erfahrung des Wahnsinns von einem dialektischen Bewußtsein, einer rituellen Trennung, einem lyrischen Wiedererkennen und schließlich vom Wissen herrührt. Die sukzessiven Gesichter, die der Wahnsinn in der modernen Welt annimmt, erhalten das Charakteristischste in ihren Zügen von dem Verhältnis und den Verbindungen, die zwischen diesen vier wichtigeren Elementen entstehen. Keines verschwindet jemals völlig, aber es geschieht, daß eines von ihnen privilegiert ist, so daß die anderen in einer Quasi-Dunkelheit gehalten werden, in der Spannungen und Konflikte entstehen, die unter dem Sprachniveau herrschen. Es kommt auch vor, daß sich zwischen dieser oder jener Bewußtseinsform Gruppierungen ergeben, die mit ihrer Autonomie und ihrer eigenen Struktur breite Erfahrungssektoren konstituieren. Alle diese Bewegungen zeichnen die Züge eines historischen Werdens. Wenn man eine lange Chronologie annähme, könnte man wahrscheinlich von der Renaissance bis heute eine Bewegung breiten Ausmaßes auffinden, in der die Erfahrung mit dem Wahnsinn sich von kritischen Formen des Bewußtseins bis zu analytischen verschoben hat. Das sechzehnte Jahrhundert hat die dialektische Erfahrung privilegiert: keine andere Epoche hat in dem Ausmaß verspürt, wieviel unendlich Umkehrbares es zwischen der Vernunft und der Vernunft des Wahnsinns, wieviel von nah vertrauter Ähnlichkeit es in der Gegenwart
des Irren gab, wieviel schließlich seine Existenz an Illusionen denunzieren und an ironischer Wahrheit platzen lassen konnte. Von Brant bis Erasmus, Louise Labe, Montaigne, Charron, Régnier teilt sich die gleiche Unruhe mit, die gleiche kritische Lebhaftigkeit, der gleiche Trost beim freundlichen Empfang des Wahnsinns. »So ist die Vernunft ein seltsames Tier.« 6 Sogar die medizinische Erfahrung ordnet ihre Begriffe und Maßnahmen nach der unbestimmten Bewegung dieses Bewußtseins. Das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert hingegen haben das ganze Gewicht ihrer Fragestellung auf das analytische Bewußtsein vom Wahnsinn gelegt. Man hat sogar angenommen, daß man darin die totale und endgültige Wahrheit des Wahnsinns suchen müsse und daß die anderen Erfahrungsformen lediglich Approximationen, wenig entwickelte Versuche, archaische Elemente seien. Dennoch beweisen die Kritik Nietzsches, all die in die Trennung durch Unterbringung in einem Asyl investierten Werte und die große Suche, die Artaud nach Nerval unerbittlich bei sich vorgenommen hat, genügend, daß alle anderen Formen des Bewußtseins vom Wahnsinn noch im Herzen unserer Kultur lebendig sind. D a ß sie nur noch lyrisch formuliert werden können, beweist nicht, daß sie untergehen, noch daß sie trotz allem eine Existenz verlängern, die die Wissenschaft seit langem zurückgewiesen hat, sondern daß sie, im Schatten aufrechterhalten, sich in den freiesten und ursprünglichsten Formen der Sprache beleben, woraus ihre Kraft, in Frage zu stellen, wahrscheinlich neue Kräfte zieht. Hingegen erhält zur Zeit der französischen Klassik die Erfahrung des Wahnsinns ihr Gleichgewicht von einer Trennung, die zwei autonome Gebiete des Wahnsinns definiert: auf der einen Seite das kritische und das praktische Bewußtsein, auf der anderen die Formen der Kenntnis und des Wiedererkennens. Ein ganzes Gebiet wird isoliert, in dem die Gesamtheit der Praktiken und Urteile gruppiert ist, durch die der Wahnsinn denunziert und dem Ausschluß ausgeliefert ist; alles an ihm, was der Vernunft nahe, zu nahe ist, was diese durch eine lächerliche Ähnlichkeit bedroht, wird auf gewaltsame Weise getrennt und zu rigorosem Schweigen gebracht; diese dialektische Gefahr des vernünftigen Bewußtseins, diese rettende Trennung verhüllt die Internierung. Die Wichtigkeit der Internierung beruht nicht darauf, daß sie eine neue institutionelle Form ist, sondern daß sie eine 6 Régnier, a. a. O., Vers i f J.
der beiden Hälften der Erfahrung zur Zeit der französischen Klassik mit dem Wahnsinn resümiert und manifestiert: die, in der sich in kohärenter Praxis die dialektische Unruhe des Bewußtseins und die Wiederholung des Trennungsrituals organisieren. In dem anderen Gebiet dagegen manifestiert sich der Wahnsinn: er versucht, seine Wahrheit zu sagen, sich dort, wo er ist, zu verkünden und sich in der Gesamtheit seiner Phänomene zu entfalten; er versucht, eine Art und Weise positiver Präsenz in der Welt zu erlangen. Nachdem wir in den voraufgegangenen Kapiteln versucht haben, das Gebiet der Internierung und die Bewußtseinsformen, die diese Praxis verdeckt, zu analysieren, möchten wir in den folgenden das Gebiet des Wiedererkennens und der Kenntnis des Wahnsinns zur Zeit der französischen Klassik restituieren: wer hat mit voller Gewißheit und in unmittelbarer Wahrnehmung als Irrer erkannt werden können? Wie kann sich der Wahnsinn in Zeichen manifestieren, die nicht verworfen werden können? Wie ist es ihm gelungen, Sinn anzunehmen? Wahrscheinlich ist aber diese Trennung in zwei Erfahrungsgebiete sehr charakteristisch für die klassische Zeit und wichtig genug, daß wir uns ihr noch ein wenig widmen. Vielleicht wird man sagen, daß es in dieser Zäsur nichts Außergewöhnliches oder in strengem Sinne einer bestimmten historischen Epoche Eigenes gibt. D a ß die Ausschlußpraktiken und Schutzmaßnahmen nicht mit der mehr theoretischen Erfahrung, die man mit dem Wahnsinn hat, koinzidieren, ist sicher ein ziemlich konstantes Faktum der abendländischen Erfahrung. Noch in unserer Zeit kann man leicht das Unbehagen über eine Unangemessenheit in der Sorgfalt, mit der unser gutes Gewissen sich abmüht, jeden Trennungsversuch auf eine medizinische Bestimmung zu gründen, entziffern. Die klassische Zeit wird aber dadurch charakterisiert, daß man weder Unbehagen noch Einheitsbestreben trifft. Während eineinhalb Jahrhunderten hat der Wahnsinn eine rigoros geteilte Existenz gehabt. Dafür gibt es einen konkreten Beweis, der einem sofort in den Sinn kommt: wie wir sahen, war die Internierung in keiner Weise eine medizinische Praxis; der Ausschlußritus, dem sie vorangeht, führt nicht zu einem Raum positiver Kenntnis, und in Frankreich muß man bis zum Zirkularschreiben von 1785 warten, damit eine medizinische Ordnung in die Internierung gelangt, und auf ein Dekret der Nationalversammlung, damit man bei jedem Internierten die Frage stellt, ub er wahnsinnig ist oder nicht. Umgekehrt wird es bis Haslam und
Pinel praktisdi keine medizinische Erfahrung geben, die von der oder in der Anstalt hervorgebracht würde. Das Wissen vom Wahnsinn wird in einem Corpus medizinischer Kenntnisse seinen Platz haben, in dem es ein Kapitel unter anderen ist, ohne daß irgend etwas die besondere Existenzform des Wahnsinns in der Welt bezeichnet, noch den Sinn seines Ausschlusses. Diese Trennung ohne Zuflucht macht aus der Zeit der Klassik ein Zeitalter des Verstehens für die Existenz des Wahnsinns. Es gibt keine Möglichkeit für irgendeinen Dialog, für irgendeine Konfrontation zwischen einer die Gegen-Natur meisternden und zum Schweigen bringenden Praxis und einer Kenntnis, die versucht, Naturwahrheiten zu entziffern; die Geste, die verbannt, was der Mensch nicht erkennen kann, ist der Rede, in der eine Wahrheit zur Kenntnis gelangt, fremd geblieben. Die Erfahrungsformen haben sich um ihrer selbst willen entwickelt, eine in der kommentarlosen Praxis, die andere in einer unwidersprochenen Rede. Auf der einen Seite völlig ausgeschlossen, auf der anderen völlig objektiviert, wird der Wahnsinn niemals um seiner selbst willen und in einer ihm eigenen Sprache manifestiert. Nicht der Widerspruch lebt in ihm, sondern er lebt aufgeteilt in den Ausdrücken des Widerspruches. Solange die abendländische Welt dem Zeitalter der Vernunft geneigt war, blieb der Wahnsinn der Teilung des Verstehens unterworfen. Wahrscheinlich ist das der Grund für das tiefe Schweigen, das dem Wahnsinn zur Zeit der französischen Klassik den Anschein des Schlafes gab: mit solcher Kraft drängte sich das Klima der Evidenz auf. das die einen Begriffe und Praktiken vor den anderen schützte. Kein anderes Zeitalter war weniger sensibel gegenüber dem Pathetischen am Wahnsinn als diese Epoche, die doch von extremer Zerrissenheit in den Tiefen ihres Lebens war. Aber kraft dieser Zerrissenheit war es nicht möglich, sich des Wahnsinns als eines einzigen Punktes bewußt zu werden, in dem als gleichzeitig imaginärem und realem Brennpunkt sich die Fragen reflektieren würden, die der Mensch sich über sich selbst stellt. Wenn man sich im siebzehnten Jahrhundert darüber klar gewesen sein sollte, daß die Internierung nicht gerecht war, wurde dadurch dennoch nicht die Essenz der Vernunft kompromittiert. Umgekehrt wurde die Ungewißheit darüber, was der Wahnsinn sei und von wo ab man seine Grenzen ziehen müsse, nicht als unmittelbare Bedrohung für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen verspürt. Der Exzeß der Trennung selbst garantierte die Ruhe jeder der beiden Frageformen. Keine Rekurrenz schuf die Gefahr, daß, indem man
sie beide in Berührung brachte, der Funke einer fundamentalen Frage ohne Zuflucht ausgelöst würde. Dennoch tauchen unaufhörlich erstaunliche Koinzidenzen auf. Diese beiden Gebiete zeigen, wenn man sie von nah betrachtet, sehr enge Analogien in der Struktur. Das Zurückweichen des Wahnsinns, das durch die Internierungspraxis hervorgerufen wurde, und das Verschwinden des Irren als vertrauten sozialen Typs werden von uns auf den folgenden Seiten in ihren Folgen und Ursachen leicht wiedergefunden werden, oder, um es gleichzeitig neutraler und exakter auszudrücken, in den entsprechenden Formen der theoretischen und wissenschaftlichen Überlegungen über den Wahnsinn. Was wir auf der einen Seite als ein Ereignis beschrieben haben, werden wir auf der anderen Seite als Form begrifflicher Entwicklung wiederfinden. Wie getrennt die beiden Gebiete auch sein mögen, es gibt nichts Wichtiges in dem einen, das nicht sein Gegenstück in dem anderen hätte. Dadurch kann diese Trennung nur in Beziehung mit diesen Einheitsformen gedacht werden, deren Erscheinen sie erlaubt. Vielleicht bewundern wir augenblicklich lediglich die Einheit von Theorie und Praxis. Dennoch scheint uns die zur Zeit der französischen Klassik vorgenommene Trennung zwischen den Bewußtseinsformen vom Wahnsinn nicht der Unterscheidung in Theorie und Praxis zu entsprechen. Das wissenschaftliche oder medizinische Bewußtsein vom Wahnsinn, selbst wenn es die Unmöglichkeit zu heilen anerkennt, ist virtuell immer in ein Operationssystem einbezogen, das gestatten müßte, die Symptome abzuschwächen oder die Ursachen zu bewältigen; andererseits ist das praktische Bewußtsein, das den Irren abtrennt, verurteilt und verschwinden läßt, notwendig in eine bestimmte politische, juristische und ökonomische Konzeption von der Rolle des Individuums in der Gesellschaft verwickelt. Folglich ist die Trennung eine andere. Was man auf der einen Seite unter der großen Rubrik der Internierung findet, das ist der ebenso theoretische wie praktische Moment der Trennung, das ist die Wiederaufnahme des alten Dramas des Ausschlusses, ist in der Bewegung seiner Unterdrückung die Form der Beurteilung, ist das, was sich in seinem Wesen während seiner konzertierten Vernichtung zu formulieren vermag. Was uns nun begegnen wird, ist die ebenfalls theoretische und praktische Entfaltung der Wahrheit des Wahnsinns von einem Sein aus, das Nicht-Sein ist, weil sich der Wahnsinn in seinen manifestesten Zeichen nur als Irrtum, Phantasma, Illusion, nichtige und ihres In-
halts beraubte Sprache darstellt; jetzt wird es um die Konstitution des Wahnsinns als Natur, von dieser Nicht-Natur seines Seins aus, gehen. Worum es weiter oben ging, war die dramatische Konstitution eines Seins von der gewaltsamen Unterdrückung seiner Existenz aus; jetzt geht es, in der Klarheit des Wissens, um die Konstitution einer Natur von der Enthüllung eines Nicht-Seins aus. Gleichzeitig mit dieser Konstitution einer Natur werden wir versuchen, die einzigartige Erfahrung freizulegen, die den dramatischen Formen der Trennung ebenso als Grundlage dient wie der ruhigen Bewegung dieser Konstitution. Diese einzigartige Erfahrung, die hier und da ruht, die Internierungspraxis und den Erkenntniszyklus unterstützt, erklärt und rcditfertigt, konstituiert die klassische Erfahrung mit dem Wahnsinn; sie kann man mit dem Terminus Unvernunft bezeichnen. Unter der großen Spaltung, von der wir gerade gesprochen haben, breitet sie ihre geheime Kohärenz aus: sie ist nämlich gleidizeitig der Grund für die Zäsur und der Grund für die Einheit, die man auf beiden Seiten der Zäsur entdeckt. Sie erklärt, daß man die gleidien Erfahrungsformen diesseits und jenseits, aber daß man sie niemals nur diesseits und jenseits trifft. Die Unvernunft zur Zeit der französischen Klassik ist gleichzeitig Einheit und Teilung ihrer selbst. Man wird uns fragen, warum wir so lange gewartet haben, um sie herauszuschälen; warum wir schließlidi diese Unvernunft im Zusammenhang mit der Konstitution einer Natur, das heißt endlich im Zusammenhang mit der Wissenschaft, der Medizin, der »Naturphilosophie« genannt haben; warum wir sie nur durdi Anspielung oder Obergehung behandelt haben, wenn es sich um das ökonomische und soziale Leben, um Formen der Armut und der Arbeitslosigkeit, politisdie und polizeiliche Institutionen handelte? Bedeutet das nicht, daß man dem begrifflichen Werden mehr als der wirklichen Bewegung der Gesdiidite nachgibt? Es ist vielleidit ausreichend, wenn man darauf antwortet, daß in der Reorganisation der bürgerlichen Welt zur Zeit des Merkantilismus die Erfahrung des Wahnsinns sidi nur schief, in schwachen Profilen und sdiweigsam darstellt; daß es gewagt gewesen wäre, ihn von Linien aus zu definieren, die, was diese Erfahrung anbelangt, so partiell sind und zum anderen so sehr in andere, sichtbarere und lesbarere Gestalten integriert sind; daß es auf dieser ersten Stufe der Untersudiung genügte, ihre Präsenz spüren zu lassen und ihre Erklärung zu verspredien. Wenn sidi aber dem Philosophen oder dem Arzt das
Problem der Beziehungen der Vernunft, der Natur und der Krankheit stellt, dann stellt sich der Wahnsinn in der ganzen Dichte seines Umfangs ein; die ganze Masse der Erfahrungen, zwischen denen er sich verteilt, entdeckt seinen Kohärenzpunkt, und er selbst gelangt zur Sprachfähigkeit. Schließlich erscheint eine eigenartige Erfahrung. Die einfachen, etwas heterogenen, bis dahin öfter neu gezeichneten Linien nehmen jetzt ihre exakte Stelle ein; jedes Element kann nach seinem genauen Gesetz gravitieren. Diese Erfahrung ist weder theoretsich noch praktisch. Sie gehört zu jenen fundamentalen Erfahrungen, in denen eine Kultur die ihr eigenen Werte aufs Spiel setzt — das heißt, sie einem Widerspruch aussetzt, aber sie gleichzeitig gegen ihn absichert. Eine Kultur wie die zur Zeit der französischen Klassik, die so viele Werte in die Vernunft investiert hat, hat im Wahnsinn gleichzeitig das meiste und das wenigste gewagt. Das meiste, weil der Wahnsinn den unmittelbaren Widerspruch all dessen, was sie rechtfertigte, bildete; das wenigste, weil sie ihn völlig entwaffnete und ihn machtlos machte. Dieses im Wahnsinn von der Kultur zur Zeit der Klassik akzeptierte Maximum und Minimum drückt das Wort Unvernunft gut aus: einfache, unmittelbare, sofort von der Vernunft gekonterte Kehrseite; und jene leere, inhaltslose und wertlose, rein negative Form, in der nichts abgebildet ist als der Abdruck einer gerade entflohenen Vernunft, die dennoch für die Unvernunft die raison d'être dessen bleibt, was sie ist.
ι. Kapitel
Der Irre im Garten der Arten Jetzt müssen wir die andere Seite befragen. Nicht mehr das in die Gesten der Ségrégation mit ihrem erstarrten Ritual oder ihren endlosen kritischen Streitereien verwickelte Bewußtsein vom Wahnsinn, sondern jenes Bewußtsein vom Wahnsinn, das nur für sich das Spiel der Trennung spielt, jenes Bewußtsein, das den Irren ausdrückt und den Wahnsinn entfaltet. Zunächst, was ist der Irre, Träger seines rätselhaften Wahnsinns, unter den Menschen der Vernunft, den Menschen der Vernunft eines achtzehnten Jahrhunderts, das noch an seinem Anfang ist? Woran erkennt man den Irren, der ein Jahrhundert zuvor noch so leicht durch sein herausragendes Profil auszumachen war und der jetzt so viele verschiedene Gesichter mit einer uniformen Maske bedecken muß? Wie bezeichnet man ihn, ohne sich zu irren, in der täglichen Nähe, die ihn unter alle, die nicht wahnsinnig sind, mischt, und in dem unentwirrbaren Gemisch der Züge seines Wahnsinns mit dem hartnäckigen Zeichen seiner Vernunft? Diese Frage stellt sich eher der Weise als der Gelehrte, der Philosoph eher als der Arzt, die ganze aufmerksame Gruppe der Kritiker, Skeptiker, Moralisten. Die Ärzte und Wissenschaftler ihrerseits werden den Wahnsinn direkt befragen, und zwar in dem natürlichen Raum, den er besetzt hält Krankheit unter den Krankheiten, psychische und somatische Störungen, Naturphänomen, das sich gleichzeitig in der Natur und gegen sie entwickelt. Doppeltes System von Fragen, die in zwei verschiedene Richtungen zu zielen scheinen: eine philosophische, mehr kritische als theoretische Frage; eine medizinische Frage, die die Bewegung einer diskursiven Kenntnis impliziert. Fragen, von denen die eine die Natur der Vernunft betrifft und die Art, wie sie die Trennung des Vernünftigen und des Unvernünftigen erlaubt; von denen die andere das Rationale und Irrationale in der Natur und die Besonderheiten ihrer Variationen betrifft. Es gibt zwei Arten, die Natur bezüglich der Vernunft und die Vernunft durch die Natur hindurch zu befragen. Und wenn der Zufall wollte, daß, indem man sie beide abwechselnd anwendete, aus ihren Unterschied heraus sich eine gemeinsame Antwort ergäbe, wenn eine
einzige Struktur sich herauslöste, wäre sie sicher dem Wesentlichen und Allgemeinen in der Erfahrung, die zur Zeit der französischen Klassik mit dem Wahnsinn gemacht wurde, sehr nahe; und wir wären bis an die Grenzen dessen gelangt, was man unter Unvernunft zu verstehen hat. Die Ironie des achtzehnten Jahrhunderts liebt es, die alten Themen der Skepsis der Renaissance wieder aufzunehmen, und Fontenelle bleibt in der Tradition einer philosophischen, Erasmus noch ganz nahe stehenden Satire, wenn er den Wahnsinn im Prolog zu Pygmalion sprechen läßt: Meine Herrschaft festigt sich immer mehr, Die Menschen sind heutzutage wahnsinniger als ihre Väter; Ihre Kinder werden sie übertreffen, Und die Enkel werden noch mehr Hirngespinste haben Als ihre närrischen Ahnherren. 7 Dennoch ist die ironische Struktur nicht mehr die der vierzehnten Satire von Régnier; sie beruht nicht mehr auf dem universellen Verschwinden der Vernunft aus dieser Welt, sondern auf der Tatsache, daß der Wahnsinn sich so verfeinert hat, daß er jede sichtbare und nennbare Form verlor. Man hat den Eindruck, daß der Wahnsinn sich durch eine ferne und von der Internierung hergeleitete Wirkung auf die Reflexion aus seiner ehemaligen sichtbaren Präsenz zurückgezogen hat und daß alles, was unlängst noch seine reale Fülle ausmachte, jetzt verwischt ist, seinen Platz frei läßt und sich nur noch unsichtbar manifestiert. Es gibt im Wahnsinn eine wesentliche Fähigkeit, die Vernunft nachzumachen, die schließlich das, was an Unvernünftigem in ihm sein mag, maskiert; oder vielmehr: die Weisheit der N a tur ist so tief, daß sie sich des Wahnsinns als eines anderen Weges der Vernunft zu bedienen vermag; sie macht aus ihm den kurzen Weg der Weisheit, indem sie die ihm eigenen Formen in unsichtbarer Vorsorge vermeidet: »Die Ordnung, die die Natur hat im Universum errichten wollen, nimmt ihren Lauf: alles, was es zu sagen gibt, ist, daß die Natur alles, was sie nicht von unserer Vernunft erhalten haben mag, v on unserem Wahnsinn erhält.« 8 Die Natur des Wahnsinns ist zugleich seine nützliche Weisheit; die Bernard Le Bouvyer de Fontenelle, Pygmalion, prince de Tyr, Prologue, in: ders., Euvres, Paris 1790, Bd. 4., S. 472. Öayle, zitiert bei Jean Devolvé, Essai sur Pierre Bayle, religion, critique et philophie positive, Thèse, Paris X906, S. 104.
raison d'être jener Natur ist es, sich so nahe an die Vernunft heranzuarbeiten, ihr so konsubstantiell zu sein, daß sie beide einen untrennbaren Text bilden, in dem man nur die Finalität der Natur entziffern kann: der Liebeswahnsinn ist vonnöten zur Erhaltung der Spezies; die Ordnung der politischen Gebilde wird durch die Delirien des Ehrgeizes erhalten; Aufhäufung von Reichtümern gelingt nur durch wahnsinnige Gier. Jede egoistische Unordnung reiht sich so in die große Weisheit einer Ordnung ein, die über die Individuen hinausgeht: »Da der Wahnsinn der Menschen immer von gleicher Art ist, kann man die verschiedenen Arten so leicht verbinden, daß sie dazu gedient haben, die stärksten Bande der menschlichen Gesellschaft zu bilden: das beweisen jener falsche Ruhm, jener Wunsch nach Unsterblichkeit und viele andere Prinzipien, auf denen alles, was in der Welt geschieht, beruht.«' Der Wahnsinn spielt bei Bayle und Fontenelle ungefähr die gleiche Rolle wie das Gefühl nach Malebranche in der verfallenen Natur: jene unfreiwillige Lebhaftigkeit, die, lange vor der Vernunft und auf Querwegen, den Punkt erreicht, zu dem zu gelangen die Vernunft sich noch lange abmühen muß. Der Wahnsinn ist die unbemerkte Seite der Ordnung, durch die der Mensch, sogar gegen seinen Willen, zum Instrument einer Weisheit wird, deren Ende er nicht kennt. Er mißt die ganze Distanz, die zwischen Vorsorge .und Vorsehung, Berechnung und Bestimmung besteht. In ihm verbirgt sich die ganze Dichte einer kollektiven Weisheit, die die Zeit im Griff hat. 10 Seit dem siebzehnten Jahrhundert hat sich der Wahnsinn unmerklich in der Ordnung der Vernunftarten deplaziert: einst war er eher auf der Seite des »Raisonnement, das die Vernunft verbannt«; jetzt ist er auf die Seite einer schweigsamen Vernunft hinübergeglitten, die die langsame Rationalität des Raisonnement umstürzt, seine angepaßten Linien durcheinanderbringt und im Wagnis sein Begreifen und seine Ignoranz übertrifft. Schließlich besteht die Natur des Wahnsinns darin, geheime Vernunft zu sein - wenigstens nur durch sie und für sie zu existieren, auf dieser Welt nur im voraus von der Vernunft gelenkte Präsenz zu besitzen und in ihr bereits entfremdet zu sein. Wie wäre es dann aber möglich, dem Wahnsinn einen festen Platz zuzuweisen, für ihn ein Gesicht zu entwerfen, das nicht die gleichen 9 Fontenelle, Dialogues des morts modernes, Dialogue 4, in: ders., a. a. O.. Bd. i S. 27S. 10 Vgl. Mandeville in der Bienenfabel und Montesquieu hinsichtlich des Wahnsir bei den Adligen im Esprit des lois, Buch 3, Kapitel 7.
Züge wie die Vernunft trägt? Als hastige und unfreiwillige Form der Vernunft kann er nichts erscheinen lassen, was ihn als irreduzibel zeigt. Und wenn Vieussens erklärt, daß das »ovale Zentrum« im Hirn »der Sitz der geistigen Funktionen« ist, weil »das arterielle Blut sich soweit subtilisiert, daß es Lebensgeist wird«, und daß folglich »die Gesundheit des Geistes in ihren materiellen Bestandteilen von der Regelmäßigkeit, der Gleichheit, der Freiheit des Laufs der Geister in diesen kleinen Kanälen abhängt«, lehnt es Fontenelle ab, das unmittelbar Wahrnehmbare und Entscheidende in einem solchen einfachen Kriterium, das gestatten würde, sofort zwischen Wahnsinnigen und Nicht-Wahnsinnigen zu unterscheiden, anzuerkennen; falls der Anatom zu Recht den Wahnsinn mit der Störung »dieser kleinen, sehr feinen Gefäße« in Verbindung bringe - auch gut, denn eine solche Störung finde sich bei allen Leuten: »Kein Kopf ist so gesund, daß er nicht irgendein verstopftes kleines Äderchen im ovalen Zentrum hat.«11 Tatsächlich können sich die Dementen, die aufbrausenden Irren, die Maniakalisdhen und Tobsüchtigen sofort erkennen: aber nicht, weil sie irre sind oder in dem Maße, wie sie es sind, sondern allein, weil ihr Delirium von einer besonderen Art ist, die dem unwahrnehmbaren Wesen jeden Wahnsinns ihr eigene Zeichen hinzufügt: »Die Rasenden sind nur Irre einer anderen Art.« 1 2 Aber diesseits dieser Differenzierungen fehlt es der allgemeinen Essenz des Wahnsinns an benennbarer Form; der Wahnsinnige ist gewöhnlich nicht Träger eines Zeichens; er mischt sich unter die anderen, ist in jedem präsent, nicht für einen Dialog oder Konflikt mit der Vernunft, sondern um ihr imDunkel durch uneingestandeneMittel zuhelfen. Ancilla rationis. Boissier de Sauvages, Arzt und Naturforscher, wird viel später noch anerkennen, daß der Wahnsinn »nicht direkt in die Augen fällt«. 13 π Fontenelle, Histoire du renouvellement de l'Académie Ausgabe 1733, S. 1 1 - 1 3 : Sur le délire mélancolique.
des sciences (1708), in der
11 Fontenelle, Dialogues des morts modernes, Dialogue 4, in: ders., a. a. O., Bd. I, S. 278. - Ebenso erklärt Fontenelle in der Frage der Freiheit, daß die Irren nicht mehr und nidit weniger determiniert sind als die anderen. Wenn man einer mäßigen Disposition des Gehirns widerstehen kann, muß man einer stärkeren Disposition widerstehen können: »Man müßte auch trotz einer mittelmäßigen Disposition für die Stupidität viel Geist haben können.« Oder, völlig umgekehrt, wenn man einer heftigen Disposition nidit widerstehen kann, ist eine schwache Disposition ebenso entscheidend. (Traité de la liberté de l'âme, in der Edition Depping Fontenelle zugeschrieben, Bd. 3, S. 611-612). 13 François Boissier de Sauvages, Nosologie méthodique, 10 vols., L y o n 1772,
Bd. 7. S. 33·
Trotz der Ähnlichkeiten, die im Gebrauch der Skepsis offenbar sind, war im Vergleich zur Renaissance die A r t der Präsenz des Wahnsinns zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts von größerer Unterschiedlichkeit als je sonst. Einst dokumentierte er seine Anwesenheit durch unzählige Zeichen, bedrohte er die Vernunft durch einen unmittelbaren Widerspruch. Der Sinn der Dinge war unendlich umkehrbar, so eng war das Raster dieser Dialektik. Jetzt sind die Dinge ebenso umkehrbar, aber der Wahnsinn hat sich in eine diffuse Präsenz ohne manifestes Zeichen, nach außerhalb der sinnlichen Welt, und in das geheime Reich einer universellen Vernunft zurückgezogen. Er ist gleichzeitig Fülle und totale Abwesenheit: er bewohnt alle Gegenden der Welt, läßt keine Weisheit, keine Ordnung frei, entgeht aber jeder sinnlichen Feststellung; er ist da, überall, nie aber in dem, was ihn das sein läßt, was er ist. Dennoch bedeutet dieser Rüchzug des Wahnsinns, diese wesentliche Kluft zwischen seiner Präsenz und seiner Manifestation nicht, daß er sich außerhalb jeder Evidenz in ein unzugängliches Gebiet, in dem seine Wahrheit verborgen bliebe, zurückzöge. D a ß er kein sicheres Zeichen noch eine positive Präsenz hat, stellt ihn paradoxerweise in ruhiger Unmittelbarkeit, völlig an der Oberfläche ausgebreitet, ohne mögliche Zuflucht für den Zweifel dar. Jedoch zeigt er sich dabei nicht als Wahnsinn; er tritt in den unabweisbaren Zügen des Irren auf: »Die Personen, deren Vernunft gesund ist, verfügen über soviel Leichtigkeit, ihn zu erkennen, daß sogar die Schäfer ihn unter den Schafen ausmachen, die von ähnlichen Krankheiten befallen sind.«1* Es gibt eine gewisse Augenscheinlichkeit des Irren, eine unmittelbare Determination seiner Züge, die gerade der Nicht-Determination des Wahnsinns korrelativ zu sein scheint. Je weniger sie präzisiert wird, um so besser wird er erkannt. In dem Maße gar, in dem wir nicht wissen, wo der Wahnsinn beginnt, wissen wir mit beinahe unbestreitbarer Gewißheit, was der Wahnsinnige ist. Und Voltaire ist erstaunt, daß man nicht weiß, wie eine Seele Unsinn reden oder wie etwas in seinem Wesen verändert werden kann, während man doch ohne Zögern eine »solche Seele in ihrer Hülle nach Petites-Maisons bringt«. 1 ' Wie geht dieses zweifelsfreie Erkennen des Wahnsinnigen vor sich? Durch eine marginale Wahrnehmung, einen schiefen Blick, eine Art momentaner Überlegung, die gleichzeitig indirekt und negativ ist. 14 Ebda. 15 Voltaire, Dictionnaire philosophique,
Paris 193 j , Artikel »Folie«, Bd. i , s . 286.
Boissier de Sauvages versucht, diese so sichere und dennodi so konfuse Perzeption zu erläutern: »Wenn ein Mensch in Übereinstimmung mit dem gesunden, hellen Verstand handelt, genügt es, auf seine Gesten, Bewegungen, Wünsche, Reden, Überlegungen zu achten, um die Beziehungen, die diese Handlungen miteinander haben, und das Ziel, dem sie zustreben, zu entdecken.« Desgleichen ist es, wenn es sich um einen Wahnsinnigen handelt, »nicht nötig, daß er falsche Vernunftschlüsse zieht, damit man die Halluzination oder das Delirium erkennt, von dem er befallen ist; seinen Irrtum und seine Verblendung erkennt man bequem an dem Mißverhältnis seiner Handlungen zu dem Verhalten der anderen Menschen.«*6 Das Verfahren ist insofern indirekt, als es keine andere Wahrnehmung des Wahnsinns als durch Beziehung zur Vernunftordnung und zu jenem Bewußtsein gibt, das wir gegenüber einem vernünftigen Menschen haben und das uns der Kohärenz, der Logik, der Kontinuität der Sprache versichert; dieses Bewußtsein ruht bis zum Hereinbrechen des Wahnsinns, der im Sturm erscheint, nicht weil er positiv ist, sondern weil er zur Kategorie des Bruches gehört. £s taucht plötzlich als Diskordanz auf, das heißt, es ist völlig negativ; aber in diesem negativen Charakter selbst hat es die Gewißheit der Augenblicklichkeit. Je weniger der Wahnsinn sich in seinen Positiva manifestiert, um so mehr taucht plötzlich der Wahnsinnige auf dem ununterbrochenen, fast schon vergessenen, weil zu vertrauten Raster der Vernunft als unabweisbarer Unterschied auf. Bleiben wir einige Augenblicke bei diesem ersten Punkt stehen. Die so hastige, überhebliche Sicherheit, mit der das achtzehnte Jahrhundert den Wahnsinnigen zu erkennen weiß, aber gleichzeitig gesteht, daß es den Wahnsinn nicht mehr definieren kann, stellt sicher eine wichtige Struktur dar: unmittelbar konkreter, evidenter, präziser Charakter des Irren; konfuses, fernes, fast unwahrnehmbares Profil des Wahnsinns. Das ist kein Paradox, sondern eine sehr natürliche Komplementärbeziehung. Der Irre ist auf zu direkte Weise spürbar, als daß man in ihm die allgemeine Sprache des Wahnsinns wahrnehmen könnte; er erscheint nur in einer punktuellen Existenz - zugleich als eine individuelle und anonyme A r t des Wahnsinns, in der er sich ohne die Gefahr des Irrtums bezeichnet, die aber, einmal bemerkt, sogleich verschwindet. Der Wahnsinn ist unendlich zurückgezogen, eine ferne Essenz, die man den Nosographen zur pfleglichen Analyse um ihrer selbst willen überläßt. 16 Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 34.
Diese so direkte Evidenz des Irren auf dem Hintergrund einer konkreten Vernunft, diese Entfernung des Wahnsinns hingegen bis zu den äußersten, unzugänglichsten Grenzen einer diskursiven Vernunft richten sich beide nach einer gewissen Abwesenheit des Wahnsinns; eines nicht durch eine tiefe Bestimmung mit der Vernunft verbundenen Wahnsinns; eines in einen realen Streit mit der Vernunft verwickelten Wahnsinns, der in der ganzen Breite, die von der Wahrnehmung bis zur Rede, vom Wiedererkennen bis zur Erkenntnis geht, konkrete Allgemeinheit, lebendige und in seine Manifestationen vervielfältigte Art wäre. Eine gewisse Abwesenheit herrscht über dieser ganzen Erfahrung mit dem Wahnsinn. Eine Leere, die vielleicht bis zum Wesentlichen reicht, hat sich darin breitgemacht. Denn was vom Standpunkt des Wahnsinns aus Abwesenheit ist, könnte gut Ursprung von etwas anderem sein: der Punkt, in dem sich eine andere Erfahrung in der schweigenden Arbeit des Positiven regt. Der Irre ist in seinem Sein nicht manifest; wenn er aber nicht anzuzweifeln ist, dann deshalb, weil er anders ist. N u n wird aber dieses Anderssein in der Zeit, in die wir uns stellen, nicht unmittelbar als von einer bestimmten Selbstsicherheit aus gespürter Unterschied empfunden. Angesichts dieser Wahnsinnigen, die sich einbilden, »Krüge zu sein oder einen Körper aus Glas zu haben«, wußte Descartes sofort, daß er nicht wie sie war: »Die sind eben von Sinnen.« Das unvermeidliche Erkennen ihres Wahnsinns tauchte plötzlich in einer zwischen ihnen und einem selbst etablierten Beziehung auf: der Mensch, der den Unterschied perzipierte, maß ihn von sich selbst aus: »Ich wäre nicht weniger närrisch, wenn ich mich nach ihrem Beispiel richtete.«· Im achtzehnten Jahrhundert verbirgt dieses Bewußtsein vom Anderssein unter einer scheinbaren Identität eine ganz andere Struktur; es geht nicht von einer Gewißheit aus, sondern von einer allgemeinen Regel; es impliziert eine äußerliche Beziehung, die von den anderen zu jenem eigenartigen anderen, dem Irren, reicht. In dieser Konfrontation wird das Subjekt nicht kompromittiert oder etwa in der Form einer Gewißheit vorgeladen: »Wahnsinn nennen wir jene Krankheit der Organe des Gehirns, die einen Menschen notwendig daran hindert, wie die anderen zu denken und zu handeln.«1? Der Irre ist der andere im Verhältnis zu den anderen: der andere - im Sinne der Ausnahme - unter den anderen - im Sinne der Allgemeinheit. Jede Form 17 Voltaire, a. a. O,, Artikel »Folie«, Bd. I, S. 285.
der Innerlichkeit wird jetzt beschworen: der Irre ist evident, aber sein Profil hebt sich vom äußeren Raum ab; und die Beziehung, durch die er sich definiert, stellt ihn völlig durch das Spiel der in den Augen des vernünftigen Subjekts objektiven Vergleiche dar. Zwischen den Wahnsinnigen und das Subjekt, das von ihm sagt: »Der da ist wahnsinnig!«, hat sich ein großer Abstand gegraben, der nicht mehr die cartesianische Leere des »Der da bin ich nicht!« ist, sondern der durch die Fülle eines doppelten Systems von Anderssein besetzt ist: ein künftig von vielen Merkzeichen besetzter, folglich meßbarer und variabler Abstand; der Wahnsinnige wird in der Gruppe der anderen, die ihrerseits mehr oder weniger universell ist, mehr oder weniger unterschieden. Der Wahnsinnige wird relativ, aber dadurch ist er nur besser seiner gefährlichen Kräfte beraubt: war er im Denken der Renaissance die nahe und gefährliche Gegenwart einer allzu innerlichen Ähnlichkeit im Herzen der Vernunft, so wird er jetzt ans andere Ende der Welt zurückgedrängt, zur Seite geschoben und in einem Zustand gehalten, in dem er durch eine doppelte Vorsichtsmaßnahme nicht beunruhigen kann, weil er die Unterschiedlichkeit des anderen im Äußeren der anderen repräsentiert. Diese neue Bewußtseinsform leitet eine neue Beziehung des Wahnsinns mit der Vernunft ein: nicht mehr fortgesetzte Dialektik wie im sechzehnten Jahrhundert, nicht einfache und permanente Opposition, nicht strenge Trennung wie im Anfang des klassischen Zeitalters, sondern komplexe und eigenartig verknüpfte Bindungen. Einerseits besteht der Wahnsinn in Beziehung zur Vernunft, oder zumindest in Beziehung zu den »anderen«, die in ihrer anonymen Allgemeinheit die Aufgabe haben, die Vernunft zu repräsentieren und ihr fordernde Kraft zu geben; andererseits existiert er für die Vernunft, in dem Maße, in dem er im Blick eines idealen Bewußtseins erscheint, das ihn als Unterschied zu den anderen perzipiert. Gegenüber der Vernunft ist der Wahnsinn von doppelter Art; er ist zugleich auf der anderen Seite und unter ihrem Blick. Auf der anderen Seite heißt: der Wahnsinn ist unmittelbarer Unterschied, reine Negativität, die sich als Nicht-Sein in einer unabweisbaren Evidenz ankündigt; er ist totale Vernunftlosigkeit, die man sofort als solche auf dem Hintergrund der Strukturen des Vernünftigen wahrnimmt. Unter dem Blick der Vernunft heißt: der Wahnsinn ist eigenartige Individualität, deren eigene Charakterzüge, Benehmen, Sprache, Gesten sich jeweils von dem, was man beim Nicht-Irren findet, unterscheiden. In seiner Beionderheit entfaltet er sich für eine Vernunft, die nicht Beziehungs-
punkt, sondern Urteilsprinzip ist; damit ist der Wahnsinn von den Strukturen des Rationalen erfaßt. Was den Wahnsinn seit Fontenelle charakterisiert, ist eine ständige Doppelbeziehung zur Vernunft, die Implikation einer in der Erfahrung mit dem Wahnsinn als Norm gesetzten Vernunft und einer als Erkenntnissubjekt definierten Vernunft. Dem wird man leicht entgegenhalten, daß es zu jeder Zeit auf gleiche Weise ein doppeltes Begreifen des Wahnsinns gegeben hat: ein moralisches auf dem Hintergrund des Vernünftigen; ein objektives und medizinisches auf dem Hintergrund der Rationalität. Wenn man das große Problem des griechischen Wahnsinns übergeht, ist tatsächlich das Bewußtsein des Wahnsinns seit der Römerzeit gemäß dieser Zweiheit geteilt gewesen. Cicero evoziert das Paradox der Krankheiten der Seele und ihrer Heilung: wenn der Körper krank ist, kann die Seele es erkennen, wissen und darüber urteilen; wenn aber die Seele krank ist, wird der Körper uns nichts über sie sagen können: »So kommt es, daß die Seele dann über sich selbst urteilt, wenn eben das, womit geurteilt wird, krankt.«' 8 Diesem Widerspruch könnte man nicht entgehen, wenn es nicht gerade gegenüber den Seelenkrankheiten zwei streng unterschiedene Standpunkte gäbe: eine philosophische Weisheit zunächst, die den Irren vom Vernünftigen zu unterscheiden vermag und dem Wahnsinn jede Form von Nicht-Weisheit zuordnet - omnes insipientes insaniunt15 - und durch Uberzeugung oder Unterweisung diese Seelenerkrankungen auflösen kann: »Ihre Hilfe ist nicht wie bei den körperlichen Krankheiten von außen zu holen, und mit aller Macht, mit allen Kräften müssen wir uns anstrengen, uns selbst zu heilen«20; dann eine Gelehrtheit, die im Wahnsinn die Auswirkung heftiger Leidenschaften, der unregelmäßigen Bewegung der schwarzen Galle, »so wie Athamas, Alkmäon, Aiax, Orest rasen, wie wir sagen«2", erkennen kann. Diesen beiden Erfahrungsformen entsprechen genau zwei Formen des Wahnsinns: die insania, »die in Verbindung mit der Dummheit weitere Verbreitung hat«, und der furor, eine schwerere Krankheit, die das römische Recht seit dem Zwölftafelgesetz kennt. D a sie sich dem Vernünftigen entgegenstellt, kann die insania den Weisen nie befallen; der furor hingegen, ein kör18 Marcus Tullius Cicero, Gespräche in Tusculum, Zürich 1952, Buch III, I, 1: S. 12]. 19 Ders., a. a. O., Buch III, I V , 8. 20 Cicero, dtsche. Ausgabe, S. 125. 21 Cicero, a. a. O., Budi III, V , 11 (dtsdie. Ausgabe, S. 128).
perfidies und seelisches Ereignis, das die Vernunft in der Erkenntnis rekonstruieren kann, kann jeder Zeit den Geist des Philosophen befallen. 22 In der römischen Tradition gibt es also einen Wahnsinn in der Form des Vernünftigen und einen Wahnsinn in der Form des Rationalen, die selbst der ciceronianische Moralismus nidit hat durcheinanderbringen können.23 Was sich nun im achtzehnten Jahrhundert abgespielt hat, ist ein Verschieben der Perspektiven, dank dessen die Strukturen des Rationalen und die des Vernünftigen sich ineinander geschoben haben, um schließlich ein so enges Gewebe zu bilden, daß es lange Zeit unmöglich sein wird, sie voneinander zu unterscheiden. Sie haben sich fortschreitend der Einheit eines einzigen und selben Wahnsinns untergeordnet, der in seiner Opposition zum Vernünftigen und in dem, was er selbst dem Rationalen bietet, als eins perzipiert wird. Als reiner Unterschied, Fremder par excellence, »anderer« mit doppelter Kraft, wird der Irre in dieser. Rückwärtsbewegung Objekt rationaler Analyse, der Erkenntnis dargebotene Fülle, evidente Perzeption; und dies wird er gerade in dem Maße sein, wie er jenes ist. Von der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts an wird, und das gibt ihm das entscheidende Gewicht in der Geschichte der Unvernunft, die moralische Negativität des Irren nur noch ein und dasselbe sein wie die Positivität dessen, was man von ihm wissen kann: die kritische und pathetische Kritik der Ablehnung, des Niditwiedererkennens, die Charakterleere wird der Raum, in dem klar die Charaktere zutage treten werden, die allmählich eine positive Wahrheit zeichnen. Und wahrscheinlich kann man diese Bewegung hinter der rätselhaften Definition der Encyclopédie finden: »Sich von der Vernunft zu entfernen, ohne es zu wissen, weil man keine Ideen hat, ist Dummheit; sich von ihr zu entfernen und es zu wissen, weil man Sklave einer heftigen Leidenschaft ist, ist Schwachheit; aber sich voller Vertrauen von ihr zu entfernen und in der festen Oberzeugung, ihr zu folgen, ist, so scheint mir, Wahnsinn,«24 11 Ebda. 23 Ein Bemühen um die Uberwindung des Gegensatzes furor - insania findet sidi in den Tusculanischen Gesprächen in einer moralischen Zuweisung: »Das ist aber der Unterschied von Körper und Seele, daß gesunde Seelen von der Krankheit nicht berührt werden können, Körper es können; aber Krankheiten des Körpers können ohne Schuld zustoßen, die der Seele nicht ebenso, da alle ihre Krankheiten und Verwirrungen aus dem Zurückstoßen der Vernunft hervorgehen.« Buch IV, X I V , 31. in der deutschen Ausgabe S. 178. u Encyclopédie, Artikel »Folie«.
Diese so trockene Definition ist eigenartig und scheint der alten philosophischen und moralischen Tradition noch nahe zu stehen. Dennoch findet man darin die ganze Bewegung versteckt, die die Reflexion über den Wahnsinn erneuert: die Überlagerung und erzwungene Koinzidenz einer Definition durch die Negativität der Trennung (der Wahnsinn ist immer eine in Beziehung zur Vernunft eingenommene Distanz, eine abgemessene und etablierte Leere) und einer Definition durch die Fülle der Charaktere und der Züge, die in positiver Form die Beziehungen mit der Vernunft (Vertrauen und Überzeugung, Glaubenssystem, das den Unterschied zwischen Wahnsinn und Vernunft gleichzeitig zur Ähnlichkeit werden läßt; die Opposition entgeht sich selbst in der Form einer illusorischen Treue, die Leere füllt sich mit einer Scheinwelt, aber einer Scheinwelt der Vernunft selbst) wiederherstellen. Infolgedessen wird die alte, einfache Opposition der Vernunftkräfte und der des Wahnsinns durch eine komplexere und weniger greifbare Opposition ersetzt; der Wahnsinn ist das Fehlen der Vernunft, aber ein Fehlen, das positive Gestalt annimmt in einer Quasikonformität, in einer täuschenden Ähnlichkeit, ohne daß er jedoch zu täusdien vermag. Der Irre weicht von der Vernunft ab, aber indem er Bilder. Glaubensvorstellungen, Überlegungen ins Spiel bringt, die man genauso beim Vernunftmenschen wiederfindet. Der Irre kann also nicht für sich wahnsinnig sein, sondern nur in den Augen eines Dritten, der allein die Vernunfttrübung von der Vernunft zu unterscheiden vermag. In der Perzeption des Irren durch das achtzehnte Jahrhundert sind also das Positivste und das Negativste unentwirrbar vermischt. Das Positive ist nidits anderes als die Vernunft selbst, sogar wenn sie in einem abweichenden Gesicht wahrgenommen wird; das Negative ist die Tatsadie, daß der Wahnsinn höchstens das nichtige Abbild der Vernunft ist. Der Wahnsinn ist die Vernunft plus eine extreme negative Kleinigkeit, ist das der Vernunft Allernächste, Irreduzibelste, isl die mit einem unauslöschbaren Indiz behaftete Vernunft: mit der Unvernunft. Knüpfen wir wieder an die vorhergehenden Fäden an. Die Eviden? des Irren, die wir vorhin festgestellt haben, was war sie auf dem paradoxen Hintergrund des Fehlens des Wahnsinns? Nichts anderes als die ganz nahe Präsenz der Vernunft, die alles im Wahnsinnigen vorhandene Positive ausfüllt, dessen evidenter Wahnsinn ein an der Vernunft haftendes Indiz ist, aber letzten Endes kein fremdes und positives Element in sie einführt.
Und das ziegelsteinartige Ineinandergreifen der Strukturen des Rationalen und des Unvernünftigen? In derselben Bewegung, die die Perzeption des Wahnsinns zur Zeit der französischen Klassik charakterisiert, erkennt die Vernunft sofort die Negativität des Wahnsinnigen in dem Unvernünftigen, erkennt sie sich selbst im rationalen Inhalt jeden Wahnsinns. Sie erkennt sich als Inhalt, Natur, Rede, schließlich als Vernunft des Wahnsinns, wobei sie aber die unüberwindbare Distanz der Vernunft zur Vernunft des Wahnsinnigen mißt. In diesem Sinne kann der Irre völlig von der Vernunft eingeschlossen und bewältigt werden, weil sie ihn insgeheim bewohnt; aber sie hält ihn stets außerhalb ihrer selbst; wenn sie ihn im Griff hat, dann von außerhalb: wie ein Objekt. Dieser Objektstatus, der später die positive Wissenschaft vom Wahnsinn gründen wird, wird von dieser perzeptiven Struktur, die wir im Augenblick analysieren, aus bezeichnet: Erkennen der Rationalität des Inhalts in der Bewegung selbst, in der sich das Unvernünftige in seiner Manifestation darstellt. Das ist das erste und offenbarste der Paradoxa der Unvernunft: eine unmittelbare Opposition zur Vernunft, die nur die Vernunft zum Inhalt haben kann. Die Evidenz ohne mögliches Bestreiten der Worte: »Der da ist ein Irrer!« stützt sich auf keine theoretische Beherrschung des Wahnr sinns. Wenn umgekehrt das klassische Denken den Wahnsinn in dem, was er ist, befragen will, tut es dies nicht vom Irren aus, sondern geht dabei aus von der Krankheit im allgemeinen. Die Antwort auf eine Frage wie: »Was also ist der Wahnsinn?« wird von der Krankheitsanalyse hergeleitet, ohne daß der Wahnsinnige in seiner konkreten Existenz von sich sprechen müßte. Das achtzehnte Jahrhundert perzipiert den Wahnsinnigen, deduziert aber den Wahnsinn. Und was es am Wahnsinnigen wahrnimmt, ist nicht der Wahnsinn, sondern die unentwirrbare Präsenz der Vernunft und der Nichtvernunft. Nicht von der multiplen Erfahrung der Wahnsinnigen ausgehend rekonstruiert aber das achtzehnte Jahrhundert den Wahnsinn, sondern ausgehend von der Logik und der Natur der Krankheit, von einem Feld der Rationalität. Da für das Denken der Klassik die Krankheit sich nur negativ definieren ließ (durch die Begrenzung, den Fehler), findet sich der allgemeine Krankheitsbegriff in einer doppelten Versuchung gefangen: auch nur noch in der Negation betrachtet zu werden (und das ist tat-
sächlich die Tendenz, Begriffe wie die der »krankheitserregenden Substanzen« auszuräumen); sich aber von einer Metaphysik des Leidens zu lösen, die jetzt steril ist, wenn mau die Krankheit in ihren realen, positiven, vollen Seiten begreifen will (und das ist die Tendenz, aus dem medizinischen Denken Begriffe wie die der »Krankheiten durch Fehler« oder »durch Privation« auszuschließen). Am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ließ Plater in seiner Tabelle der Krankheiten den negativen Krankheiten noch breiten Raum: Fehler bei der Geburt, Schaden durch Schweiß, bei der Empfängnis, bei der Vitalbewegung. 5 s Später wird Sauvages darauf aufmerksam machen, daß ein Fehler weder die Wahrheit noch das Wesen einer Krankheit oder ihre eigentliche Natur sein kann: »Tatsächlich verursadit die Suppression mancher Ausleerungen oft Krankheiten, aber daraus folgt nicht, daß man diese Suppressionen als Krankheit bezeichnen kann.«20 Dies aus zwei Gründen: erstens ist die Entbehrung kein Ordnungsprinzip, sondern Prinzip der Unordnung, unbegrenzter Unordnung; denn sie stellt sich in den immer offenen, stets erneuerten Raum der Verneinungen, die nicht so zahlreich sind wie die realen Dinge, aber ebenso zahllos wie die logischen Möglichkeiten: »Wenn diese Einrichtung von Arten stattfände, wüchse die Zahl der Arten ins Unendliche.«27 Mehr noch: während sie sich vervielfältigten, würden die Arten paradoxerweise aufhören, sich zu unterscheiden; denn wenn das Wesentlidie der Krankheit in der Suppression liegt, kann die Suppression, die nidits Positives hat, der Krankheit nicht ihr eigenartiges Gesicht geben; durch eine A r t logischen Akts, der völlig leer ist, spielt sie auf gleiche Weise in alle Funktionen hinein, auf die sie applizierbar ist. Die Krankheit wäre die ärmliche Indifferenz der Negation, die sich auf den Reiditum der Natur auswirkt: »Der Defekt und die Entbehrung sind nidits Positives, aber hinterlassen im Geist keinerlei Krankheitsidee.« 28 Man muß sich den realen, beobaditbaren und positiven Phänomenen, in denen sie sich manifestiert, zuwenden, um der Krankheit einen besonderen Inhalt zu geben: »Die Definition einer Krankheit ist die Aufzählung der Symptome, die dazu dienen, ihre Art und Gattung zu erkennen und sie von allen anderen zu unterscheiden.«23 In den Fällen, wo man anerkennen muß, daß 25 26 27 zS 29
Felix Plater, Praxeos medicac tomi très, Basel 1609. Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. 1, S. 159. Λ . a. O., Bd. i , S. 160. A . a . O . , Bd. i , S . 159. A . a. O., Bd. i . S . 129.
Suppression vorliegt, kann diese nicht selbst die Krankheit sein, sondern nur ihre Ursache; die positiven Wirkungen der Suppression muß man sich folglich anschauen: »Selbst wenn die Krankheitsidee negativ wäre, wie bei den Schlafkrankheiten, definiert man sie besser durch ihre positiven Symptome.« 30 Dieser Suche nach Positivität kam aber auch zu, die Krankheit von dem in ihr enthaltenen Unsichtbaren und Geheimnisvollen zu befreien. Alles noch in ihr versteckte Üble wird künftig entzaubert, und ihre Wahrheit kann sich in der Ordnung der positiven Zeichen an der Oberfläche ausbreiten. Willis sprach in De morbis convulsivis noch von krankheitserregenden Substanzen: seltsame obskure Realitäten und Widernatur, die das Vehikel des Übels und die Stütze des pathologischen Vorgangs bilden. In bestimmten Fällen und besonders in dem der Epilepsie ist die »krankheitserregende Substanz« so zurückgezogen und so unzugänglich für die Sinne und sogar für Beweise, daß sie noch das Zeichen der Transzendenz bewahrt und man sie mit den Kunstmitteln des Dämons verwechseln könnte: »Bei diesen Beschwerden ist die krankheitserregende Substanz sehr dunkel, und keine der Spuren dessen, was wir hier zu Recht als den Atem des Zaubergeistes vermuten, bleibt bestehen.«3' Die krankheitsbildenden Substanzen beginnen aber am Ende des siebzehnten Jahrhunderts zu verschwinden. Selbst wenn sie schwer zu entziffernde Elemente enthält, selbst wenn der Hauptteil ihrer Wahrheit verborgen bleibt, darf die Krankheit nicht anhand dessen charakterisiert werden; stets gibt es eine eigentümliche Wahrheit in ihr, die sich unter den sichtbarsten Phänomenen befindet und von der ausgehend man die Krankheit definieren muß. »Wenn ein General oder Hauptmann in der Beschreibung, die er von seinen Soldaten gibt, nur die versteckten Zeichen, die sie am Körper haben, oder beliebige andere obskure und unbekannte Zeichen, die dem Blick entgehen, angäbe, könnte man die Deserteure vergeblich suchen, man würde sie nie entdecken.«32 Vor allem muß also bei der Erkenntnis der Krankheit all das zusammengestellt werden, was bei der Wahrnehmung am hervorstechendsten, in der Wahrheit am evidentesten ist. So definiert sich, als erster Schritt der Medizin, die symptomatische Methode, die »den Charakter der
30 A . a. O., Bd. 1, S. 160. 31 Thomas Willis, De morbis convulsivis, 1681, Bd. 1, S. 451.
in: ders., Opera omnia, 2 vols., Lyon
32 Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. r, S. 121 f.
Krankheiten den unveränderlichen Phänomenen und evidenten Symptomen, die sie begleiten, entnimmt«.33 Dem »philosophischen Weg«, der in »der Erkenntnis der Ursachen und Gründe« besteht und übrigens »sehr eigenartig ist und das Dogmatische vom Empirischen trennt«, ist der »historische Weg« vorzuziehen, der sicherer und notwendiger ist; »sehr einfach und leicht zu erlangen«, besteht er in nichts anderem als »der Erkenntnis der Tatsachen«. Wenn er »historisch« ist, so nicht deshalb, weil er versucht, das Werden, die Chronologie und die Dauer der Krankheiten von ihren frühesten Ursprüngen an zu sichern; in einem mehr etymologischen Sinne versucht er, zu sehen, aus der Nähe zu sehen und im Detail, die Krankheit in der Genauigkeit eines Portraits herzustellen. Könnte er sich ein besseres Beispiel suchen als »die Maler, die bei der Herstellung eines Portraits sorgfältig darauf achten, daß sie die Zeichen und kleinsten natürlichen Dinge, die sich im Gesicht der von ihnen gemalten Personen finden, wiedergeben«. 34 Eine ganze pathologische Welt richtet sich nach neuen Normen aus. Nichts jedoch in ihr scheint jener Wahrnehmung des Wahnsinnigen, so wie wir ihn analysiert haben, Raum lassen zu müssen: einer völlig negativen Perception, die im Inexpliziten die manifeste und diskursive Wahrheit des Wahnsinns aufrechterhielt. Wie wird der Wahnsinn in dieser Welt der Krankheiten, deren Wahrheit sich in den beobachtbaren Phänomenen selbst offenbart, Platz finden, da er in der konkreten Welt sich nur in seinem schärfsten, am wenigsten greifbaren Profil zeigt; in der punktuellen, nur einen Augenblick dauernden Präsenz eines Irren, der um so besser als Irrer wahrgenommen wird, je weniger er die ausgebreitete Wahrheit des Wahnsinns erscheinen läßt. Darüber hinaus ist die große Sorge der Klassifikatoren im achtzehnten Jahrhundert durch eine konstante Metapher bewegt, die den Umfang und die Hartnäckigkeit eines Mythos besitzt: die Überführung der Ordnungslosigkeit der Krankheiten in die Ordnung der Pflanzenwelt. Man muß, sagte Sydenham bereits, »alle Krankheiten auf genaue Arten reduzieren, und zwar mit der gleichen Sorgfalt und der gleichen Exaktheit, wie es die Botaniker im Traktat über die Pflanzen 33 A . a. O., Bd. i , S. 122; vgl. auch Thomas Sydenham, Dissertation sur la petite 'vérole, in: ders., Médecine pratique, (übersetzt von Jault), Paris 1784, S. 390. 34 Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. i , S. 91 f. V g l . auch Ardiibald Pitcairn, The Whole Works (done from the latin original by George Sewell and /. T. Desaguliers), London ' 1 7 2 7 , S. 9 f.
getan haben.« 3 ' Und Gaubius empfahl, »die immense Zahl der menschlichen Krankheiten nach dem Beispiel der Verfasser von N a turgeschichten in eine systematische Ordnung zu bringen, die die Klassen, Gattungen und Arten, jede mit ihren besonderen, konstanten und getrennten Eigenheiten darstellt«.34 Mit Boissier de Sauvages nimmt das Thema seine volle Bedeutung an.37 Die Ordnung der Botaniker wird zum Organisator der pathologischen Welt in ihrer Gesamtheit, und die Krankheiten teilen sich gemäß einer Ordnung und in einem Raum auf, die die der Vernunft selbst sind. Der Plan eines Gartens der Arten - sowohl der pathologischen wie der botanischen - gehört zur Weisheit der göttlichen Vorsehung. Einst wurde die Krankheit von Gott erlaubt; er bestimmte sie sogar als Strafe für die Menschen. Aber jetzt organisiert er ihre Formen, teilt er selbst ihre Unterschiede auf. Er pflegt sie. Künftig wird es einen Gott der Krankheiten geben, denselben, der die Arten schützt, und seit Ärztegedenken hat man diesen sorgfältigen Gärtner des Obels nie sterben sehen. Wenn tatsächlich menschlicherseits die Krankheit ein Zeichen der Ordnungslosigkeit, Begrenztheit, der Sünde ist, sind die Krankheiten auf der Seite Gottes, der sie geschaffen hat, auf der Seite ihrer Wahrheit, eine vernünftige Vegetation. Das medizinische Denken muß sich zur Aufgabe machen, diesen pathetischen K a tegorien der Bestrafung zu entgehen, um zu jenen wirklich pathologischen zu gelangen, durch die die Krankheit ihre ewige Wahrheit freilegt. »Ich bin überzeugt, daß der Grund, weshalb wir noch keine exakte Geschichte der Krankheiten haben, der ist, daß die meisten Autoren sie bisher nur als versteckte und konfuse Auswirkungen einer schlecht veranlagten und verfallenen Natur betrachtet und geglaubt haben, sie verlören ihre Zeit, wenn sie sich damit amüsierten, sie zu beschreiben. Indessen hat sich Gott nicht geringeren Gesetzen unterworfen, als er die Krankheiten schuf oder die krankheitserregenden Säfte reifen ließ, als bei der Schöpfung der Pflanzen und Tiere.«3® Künftig wird es genügen, das Bild bis zu Ende zu verfolgen: die Krankheit wird in ihren geringsten Manifestationen voll göttlicher 35 Sydenham, Médecine pratique, Vorwort, S. 121. 36 Hieronymus D a v i d Gaubius, Institutiones pathologiae medicinalis, zitiert bei Sauvages, a. a. O . 3- Die Nouvelles classes des maladies stammen von 1731 oder 1733. Vgl. dazu Sven Fredrik Berg, Linné et Sauvages, I.ychnos 19$6. * J Sydenham, zitiert bei Sauvages, a. a. O-, Bd. 1, S. 124.
Weisheit sein; an der Oberfläche der Phänomene wird sie die Vorsehung einer allmächtigen Vernunft entfalten. Die Krankheit wird Werk der Vernunft und Vernunft an der Arbeit sein. Sie wird der Ordnung gehorchen, und die Ordnung wird Organisationsprinzip jeden Symptoms sein. Das Allgemeine wird im Besonderen herrschen: »Derjenige zum Beispiel, der aufmerksam die Ordnung, Zeit, Stunde beobachtet, wann die Auswirkungen des viertägigen Fiebers, die K ä l teschauer, die Hitze, in einem Wort alle Symptome, die ihm eigen sind, auftreten, wird ebenso recht haben zu glauben, daß eine Pflanze eine A r t darstellt.«" Wie die Pflanze ist die Krankheit die Rationalität der Natur selbst: »Die Symptome sind hinsichtlich der Krankheiten, was die Blätter und die Stützen (fulcra) für die Pflanzen sind.«4" Im Verhältnis zur ersten »Naturalisation«, die durch die Medizin des sechzehnten Jahrhunderts bezeugt wird, erhebt diese zweite Naturalisation neue Forderungen. Es handelt sich nicht mehr um eine völlig vom Irrealen, von Phantasmen, vom Imaginären durchdrungene Quasinatur, um eine Illusions- und Täuschungsnatur, sondern um eine Natur, die die ganze und festgesetzte Fülle der Vernunft ist; eine Natur, die die Totalität der in jedem ihrer Elemente gegenwärtigen Vernunft ist. Dies ist der neue Raum, in den der Wahnsinn sich als Krankheit jetzt einordnen muß. Es ist ein weiteres Paradox in dieser Geschichte, die daran nicht ermangelt, zu sehen, daß der Wahnsinn sich ohne offensichtliche Schwierigkeit in die neuen Normen der medizinischen Theorie integriert hat. Der Ordnungsraum öffnet sich problemlos der Analyse des Wahnsinns, und der Wahnsinn seinerseits findet darin sofort einen Platz. Keinen der Klassifikatoren scheinen die Probleme, die der Wahnsinn hätte stellen können, aufgehalten zu haben. Dieser Raum ohne Tiefe, diese Definition der Krankheit allein durch die Fülle der Phänomene, dieser Bruch mit den Verwandtschaften des Übels, diese Ablehnung eines negativen Gedankens - all das nun. stammt es nicht aus einer anderen Ader und von einer anderen Ebene als das, was wir von der klassischen Erfahrung des Wahnsinns wissen? Sind das nicht zwei nah beieinander liegende Systeme, die jedoch 39 Sydenham, zitiert bei Sauvages, a. a. O., Bd. I, S. 125. 40 Linné, Brief an Boissier de Sauvages, zitiert bei Berg, a. a. O .
zwei verschiedenen Welten angehören? Ist die Klassifikation der Wahnsinnsarten nicht ein Kunststück der Symmetrie oder eine erstaunliche Vorwegnahme der Konzeptionen des neunzehnten Jahrhunderts? Und wenn man die klassische Erfahrung in ihrer Tiefe analysieren will, ist es dann nicht am besten, die Mühe der Klassifikation an der Oberfläche zu lassen und dagegen in aller Langsamkeit das zu verfolgen, was diese Erfahrung von selbst in dem, was sie an Negativem, dem Übel Verwandtem hat, uns und der ganzen ethischen Welt des Vernünftigen zeigt? Aber es wäre ein Postulat und damit ein methodischer Fehler, den Platz, den der Wahnsinn auf dem Gebiet der Pathologie wirklich innehatte, zu vernachlässigen. Die Eingliederung des Wahnsinns in die Nosographien des achtzehnten Jahrhunderts darf nicht im Dunkel gelassen werden, so widersprüchlich sie auch scheinen mag. Ganz sicher hat sie eine Bedeutung. Und jene eigenartige Opposition - mit allem, was sie ausspricht, und allem, was sie verbirgt — zwischen einem Bewußtsein, das den Irren wahrnimmt (und das im achtzehnten Jahrhundert besonders scharf gewesen ist, so negativ war es wahrscheinlich), und einer diskursiven Kenntnis des Wahnsinns, die sich leicht in den positiven und geordneten Plan aller möglichen Krankheiten einschreiben ließe, muß man als solche akzeptieren/ 1 Begnügen wir uns zunächst damit, einige Beispiele dafür einander gegenüberzustellen, wie der Wahnsinn klassifiziert wurde. Paracelsus hatte einst zwischen den Lunatici, deren Krankheit ihren Ursprung dem Mond verdankt und deren Benehmen in seinen offensichtlichen Unregelmäßigkeiten sich im Verborgenen nach dessen Phasen und Bewegungen richtet, den Insani, die ihre Krankheit, wenn sie sie nicht kurz vor der Geburt sich im Mutterleib zugezogen haben, geerbt haben, den Vesani, die durch Alkoholmißbrauch und schlechte Ernährung ihrer Sinne und Vernunft beraubt wurden, und den Melancbolici, die durch irgendeinen Fehler ihrer inneren Natur zum
41 Dieses Problem scheint die Antwort auf ein anderes zu sein, dem wir im ersten Teil begegnet sind, als es sich um die Erklärung dafür handelte, weshalb die Hospitalisierung der Irren mit ihrer Internierung zusammenfallen konnte. Dies ist nur unes der zahlreichen Beispiele für Analogien in der Struktur zwischen dem von der Praxis her erforschten Gebiet und dem, das sich durch wissenschaftliche oder theoretische Spekulationen abzeichnet. Hier wie dort ist die Erfahrung mit dem Wahninn eigenartig losgelöst und widersprüchlich; unsere Aufgabe ist es indessen, nur in der Tiefe der Erfahrung die Begründung für ihre Einheit und Losgelösthcit iu suchen.
Wahnsinn neigen, unterschieden/2 Diese Klassifikation besitzt unleugbare Kohärenz, in der die Ordnung der Ursachen sidi logisch in ihrer Totalität artikuliert: die äußere Welt zunächst, dann Vererbung und Geburt, Ernährungsfehler und schließlich innere Störungen. Aber gerade Klassifikationen dieser A r t lehnt das Denken zur Zeit der französischen Klassik ab. Damit eine Klassifikation gültig ist, muß zunächst die Form jeder Krankheit vor allem durch die Totalität der Form der anderen Krankheiten determiniert sein; dann muß die Krankheit sich selbst in ihren verschiedenen Gestalten determinieren und nidit durch externe Determinationen; schließlich muß die Krankheit, wenn nicht erschöpfend gekannt werden, so doch zumindest auf sichere A r t anhand ihrer eigenen Manifestationen wiedererkennbar sein. Man kann die Entwicklung zu diesem Ideal von Plater bis Linné oder Weikard verfolgen und wahrnehmen, wie sich allmählich eine Sprache verfestigt, in der vom Wahnsinn angenommen wird, daß er seine Trennungen nur von einer Natur her formuliert, die gleichzeitig seine Natur und die Gesamtnatur aller möglichen Krankheiten ist. Plater: Praxeos Tractatus (1609) Das erste Buch der »Funktionsstörungen« ist den Sinnesstörungen gewidmet; dabei muß man die externen Sinne von den internen (imaginatio, ratio, memoria) trennen. Sie können getrennt oder alle zusammen befallen und entweder von einer einfachen Minderung oder einer völligen Vernichtung, einer Perversion oder einer Übertreibung betroffen sein. Innerhalb dieses logischen Raumes definieren sidi die einzelnen Krankheiten bald durch ihre Ursachen (innere oder äußere), bald durch ihren pathologischen Kontext (Gesundheit, Krankheit, Konvulsionen, Steifheit), bald durch zugehörige Symptome (Fieber, Fieberlosigkeit). 1) Mentis imbecillitas: - allgemeine: hebetudo mentis; - besondere: für die Vorstellungskraft: tarditas ingenii; für die Vernunft: imprudentia; für die Erinnerung: oblivio. 42 Paraeelsus, Sämtliche Werke, Ausgabe SudhofF, München 1923, Bd. 2 (1. Abteilung), S.391 ff.
ζ) Mentis consternatio: - unnatürlicher Schlaf: bei Gesunden: somnus immodicus, profundus; bei Kranken: coma, lethargus, cataphora; Erstarrung: mit Auflösung (Apoplexie) ; mit Konvulsion (Epilepsie) ; mit Steifheit (Katalepsie). 3) Mentis alienatio: - angeborene Ursachen: stultitia; - externe Ursachen : temulentia, animi commotio ; - interne Ursachen : ohne Fieber : mania, melancholia ; mit Fieber: phrenitis, paraphrenitis. 4) Mentis defatigatio: - vigiliae; insomnia.
Jonston: Idée universelle de la médecine (1644) Die Krankheiten des Gehirns gehören zu den organischen, internen, besonderen und nicht giftigen Krankheiten. Sie zeigen folgende Störungen: des äußeren Sinnes: Kopfschmerzen; des sensus communis: häufiges Wachsein, Koma; der Vorstellungskraft: Schwindelgefühl; der Vernunft: Gedächtnisschwäche, Delirium, Phrenesie, Manie, Tollwut; des inneren Sinnes: Lethargie; der Vitalbewegung: Schlaffheit, Unruhe, Zittern, Paralyse, Spasma; der Ausscheidungen: Katarrhe; schließlich findet man Krankheiten, in denen sich diese Symptome vermengen: Inkubus, Katalepsie, Epilepsie und Apoplexie.
Boissier de Sauvages: Nosologie méthodique (1763) Klasse I: Gebrechen; II: Fieber; III: Entzündungen; I V : Krämpfe; V: Atemlosigkeit; V I : Schwächen; V I I : Schmerzen; V I I I : Wahnsinn; I X : Fluß; X : Kachexien. Klasse VIII: »Vesaniae oder Krankheiten, die den Verstand verwirren.«
I.Ordnung: Halluzinationen, die die Vorstellungskraft verwirren. Arten: Sdiwindel,Blendung, Mißgreifen, Ohrensausen, Hypodiondrie, Schlafwandeln. II. Ordnung: Bizarrerien (morositates), die den Appetit stören. Arten: verdorbener Appetit, Heißhunger, unmäßiger Durst, Antipathie, Heimweh, panischer Schrekken, Satyriasis, Mannstollheit, Tanzwut, H y drophobie. III. Ordnung: Delirien, die die Urteilskraft verwirren. Arten: Verrücktheit, Demenz, Melancholie, Dämonomanie, Manie. I V . Ordnung: Anomaler Wahnsinn. Arten : Amnesie, Schlaflosigkeit. Linné: Genera morborum (1763) Klasse V : Geisteskrankheiten I: - ideale: Delirium, Paraphrosyne, Demenz, Manie, Dämonomanie, Melandiolie. II: - imaginative: Ohrensausen, Gesichte, Schwindelgefühle, panischer Schrecken, Hypochondrie, Schlafwandeln. III: - pathetische: verdorbener Geschmack, Heißhunger, Polydipsie, Satyriasis, Erotomanie, Heimweh, Tanzwut, Tollwut, Hydrophobie, Ekel vor Speisen, Antipathie, Ängstlichkeit. Weikard: Der philosophische Arzt (1790) I-
Geisteskrankheiten r - Schwäche der Vorstellungskraft; 2 - Lebhaftigkeit der Vorstellungskraft; 3 - Konzentrationsschwäche (attentio volubilis); 4 - hartnäckiges und anhaltendes Nachdenken (attentio accerrima et meditatio profunda); 5 - Vergeßlichkeit (oblivio) ; 6 - Fehlurteile (defectus judicii); 7 - Dummheit und geistige Langsamkeit (defectus, tarditas ingenii); 8 - außergewöhnlich lebhafter und beweglicher Geist (ingenium velox, praecox, vividissimum); 9 — Delirium (insania).
II -
Gemütskrankheiten ι — Erregung: Stolz, Wut, Fanatismus, Erotomanie, usw. 2-Depression: Traurigkeit, Neid, Verzweiflung, Selbstmord, Hofkrankheit, usw.
Diese ganze geduldige Mühe der Klassifikation hat, wenn sie auch eine neue Rationalitätsstruktur in ihrem Entstehen bezeichnet, selbst keine Spur hinterlassen. Jede dieser Einteilungen wird sogleich nach ihrem Entwurf wieder aufgegeben, und diejenigen, die das neunzehnte Jahrhundert zu definieren versuchen wird, werden von einer anderen A r t sein: Ähnlichkeit der Symptome, Identität der Ursachen, zeitliche Aufeinanderfolge, fortschreitende Evolution von einem T y p zum anderen — so viele Familien, die schlecht und recht die Vielzahl der Manifestationen gruppieren. Angestrengt wird versucht, große Einheiten zu entdecken, damit verbundene Formen diesen zuzuordnen, aber man bemüht sich nicht länger, den pathologischen Raum völlig zu bedecken und die Wahrheit einer Krankheit von ihrem Platz her freizulegen. Die Klassifikationen des neunzehnten Jahrhunderts unterstellen die Existenz großer Arten - Manie oder Paranoia oder Dementia praecox - , nicht aber die Existenz eines logisch strukturierten Gebiets, in dem sich die Krankheiten durch die Gesamtheit des Pathologischen definieren. Alles spielt sich ab, als habe das Bemühen um eine Klassifikation im leeren Raum stattgefunden, sich für ein nichtiges Ergebnis entfaltet, sich ständig gefangen und korrigiert, um zu nichts zu gelangen: eine unablässige Aktivität, der es nie gelungen ist, einmal wirkliche Arbeit zu werden. Die Klassifikationen haben durch den dem Pflanzenmythos eigenen Wert, den sie in sich trugen, kaum je mehr als bildhaften Charakter gehabt. Ihre klaren und expliziten Begriffe sind ohne Wirkung geblieben. Aber diese (wenn man an die Anstrengungen denkt) seltsame Wirkungslosigkeit ist nur die Kehrseite des Problems, oder: sie ist selbst Problem. Die aus ihr resultierende Frage ist die nach den Hindernissen, an denen sich das Bemühen um Klassifikationen gestoßen hat, als es sich der Welt des Wahnsinns zuwandte. Welche Widerstände haben sich dagegen ergeben, daß diese Mühe ihr Objekt erfaßte, und daß sich quer durch so viele Arten und Klassen neue pathologische Begriffe herausarbeiteten und ihr Gleichgewicht erhielten? Was in der Erfahrung mit dem Wahnsinn hat ihn daran gehindert, sich in einem kohärenten nosographischen Plan auszubreiten? Welche Tiefe oder welche Flüssigkeit? Welche besondere Struktur machte ihn irreduzibel
für dieses Projekt, das doch wesentlich für das medizinische Denken des achtzehnten Jahrhunderts war? Die klassifikatorische Aktivität stieß sich an einem tiefen Widerstand so, als ob der Plan, die Formen des Wahnsinns nach ihren Anzeichen und Manifestationen einzuteilen, in sich selbst eine A r t Widerspruch trage; als ob die Beziehung des Wahnsinns zu dem, was er von sidi selbst zeigen kann, keine wesentliche Beziehung, noch eine Wahrheitsbeziehung sei. Es genügt, dem Faden dieser Klassifikationen von ihrer allgemeinen Ordnung bis ins Detail der klassifizierten Krankheiten zu folgen: immer kommt ein Augenblick, in dem das große positivistische Thema — nach den sichtbaren Zeichen zu ordnen - durch A b weichungen umgangen wird; heimlich kommt ein Prinzip hinzu, das den Sinn der Organisation verändert und zwischen den Wahnsinn und seine wahrnehmbaren Gestalten eine Gruppe moralischer Denunziationen oder ein Kausalsystem stellt. Der Wahnsinn kann für sich allein nicht seine Manifestationen erklären; er bildet einen leeren Raum, in dem alles möglich ist außer der logischen Ordnung dieser Möglichkeit. Also muß man den Ursprung und die Bedeutung dieser Ordnung außerhalb des Wahnsinns suchen. Notwendig müssen wir viel aus dem, was diese heterogenen Prinzipien sind, über die Erfahrung mit dem Wahnsinn, so wie sie das medizinische Denken des achtzehnten Jahrhunderts macht, lernen. Im Prinzip darf eine Klassifikation nur nach den Kräften des menschlichen Geistes in der ihm eigenen Unordnung fragen. Nehmen wir aber ein Beispiel. Indem er sich von Locke inspirieren läßt, perzipiert Arnold die Möglichkeit des Wahnsinns gemäß den zwei hauptsächlichen Geisteseigenschaften. Es gibt einen Wahnsinn im Bereich der »Ideen«, das heißt der Eigenschaft der repräsentativen Elemente und des Wahrheitsgehalts, den sie enthalten können; es gibt einen im Bereich der »Begriffe«, der denkerischen Arbeit, die sie hervorgebracht hat, und der Architektur ihrer Wahrheit. Die ideal insanity, die dem ersten T y p entspricht, umfaßt die fieberfreien Arten des Wahnsinns (vesaniae), nämlich die phrenetische, die inkohärente, die manische und die sensitive, das heißt halluzinatorische Art. Wenn hingegen der Wahnsinn seine Unordnung unter den Begriffen entstehen läßt, kann er sich unter neun verschiedenen Aspekten zeigen: Illusion. Bizarrerie, Phantasma, Impulsion, Machination, Exaltation, Hypochondrie, begehrender und pathetischer Wahnsinn. Bis hierher ist die Kohärenz bewahrt; dann aber kommen die fünfzehn Varianten des
»pathetischen Wahnsinns«: verliebter, eifersüchtiger, geiziger, misanthropischer, arroganter, zürnender, argwöhnischer, schüchterner, verschämter, trauriger, verzweifelter, abergläubischer, nostalgischer, aversiver, enthusiastischer Wahnsinn.·» Die Verschiebung der Perspektiven ist offenbar: man ist von einer Frage nach den Geisteskräften und den ursprünglichen Erfahrungen ausgegangen, durch die der Geist im Besitz von Wahrheit ist; allmählich, in dem Maße, wie man sich den konkreten Unterschiedlichkeiten, in die sich der Wahnsinn aufteilt, näherte, in dem Maße, wie wir uns von einer Unvernunft, die die Vernunft in ihrer allgemeinen Form problematisiert, entfernten, in dem Maße, wie wir jene Oberflächen, an denen der Wahnsinn die Züge des wirklichen Menschen annimmt, erreichten, sehen wir ihn sich in ebenso viele »Charaktere« aufteilen und die Nosographie - wenigstens beinahe — die Wendung einer Galerie von »moralischen Portraits« annehmen. In dem Augenblick, als sie den konkreten Menschen erreichen will, trifft die Erfahrung mit dem Wahnsinn auf die Moral. Dieses Faktum ist nicht auf Arnold beschränkt; man erinnere sich an die Klassifikation von Weikard: auch bei ihm geht man, um die achte Klasse, die der Geisteskrankheiten, zu analysieren, von der Unterscheidung zwischen Vorstellungskraft, Erinnerung und Urteilskraft aus. Schnell aber erreicht man die moralischen Charakterisierungen. Die Klassifikation von Vitet räumt sogar den Sünden und Lastern neben den einfachen Gebrechen einen Platz ein. Pinel erinnert sich noch in dem Artikel »Nosographie« des Dictionnaire des sciences médicales: »Was soll man von einer Klassifikation sagen ( . . . ) , in der der Diebstahl, die Niedrigkeit, die Bosheit, das Mißfallen, die Furcht, der Stolz, die Eitelkeit usw. zur Zahl der krankhaften Beschwerden gezählt werden! Das sind wirklich Krankheiten des Geistes und oft unheilbare Krankheiten, aber ihr angemessener Platz ist eher in den Maximes von La Rochefoucauld oder den Caractères von La Bruyère als in einem Werk über Pathologie.« 44 Man sudite die krankhaften Formen des Wahnsinns und fand fast nichts anderes als die Deformationen des moralischen Lebens. Der Krankheitsbegriff selbst hat sich verändert, indem er sich von einer pathologischen Bedeutung zu einem rein kritischen Wert entwickelte. Die Aktivität der Vernunft, 43 Thomas Arnold, Observations on tbe Nature, Kinds, Causes, and Prévention of Insanity, lunaey and madness, 2 vols., Leicester 1782-1786. 44 Vitet, Matière médicale réformée ou pharmacopée médico-chirurgicale; Casimir Pincl, Dictionnaire des sciences médicales, Bd. 3 6 (1819), S. 220.
die die Zeichen des Wahnsinns aufteilte, wird insgeheim zu einem vernünftigen Bewußtsein transformiert, das sie aufzählt und denunziert. Übrigens genügt es, die Klassifikationen von Vitet oder Weikard mit den Listen zu vergleichen, die sich in den Internierungsregistern befinden, um festzustellen, daß hier wie dort die gleiche Funktion am Werk ist: die Internierungsmotive decken sich genau mit den Klassifikationsthemen, wenngleich sie völlig anderen Ursprungs sind und keiner der Nosographen des achtzehnten Jahrhunderts jemals Kontakt mit der Welt der allgemeinen Hospitäler und den Zuchthäusern gehabt hat. Aber sobald das Denken in seiner wissenschaftlichen Spekulation versuchte, den Wahnsinn seinen konkreten Gesichtern näher zu bringen, stieß es notwendig auf die moralische Erfahrung der Unvernunft. Zwischen das Klassifikationsprojekt und die bekannten und wiedererkannten Formen des Wahnsinns hat sich das fremde Prinzip der Unvernunft geschoben. Nidit alle Nosographien greifen zu diesen moralischen Charakterisierungen; keine bleibt jedoch rein. Wo nicht die Moral die Rolle der Zerstreuung und Aufteilung spielt, sind es der Organismus und die Welt der körperlichen Ursachen, die sie sicherstellen. Der Plan von Boissier de Sauvages war einfach. Dennoch kann man die Schwierigkeiten ermessen, auf die er bei dem Versuch traf, eine feste Symptomatik der Geisteskrankheiten zu errichten, als ob der Wahnsinn sich der Evidenz seiner eigenen Wahrheit entzöge. Wenn man die Klasse der »anomalen Wahnsinnsarten« beiseite läßt, werden die drei Hauptordnungen von den Halluzinationen, Bizarrerien und Delirien gebildet. Dem Anschein nach ist jede von ihnen in aller methodischen Strenge von ihren manifesten Anzeichen her definiert: die Halluzinationen sind »Krankheiten, deren Hauptsymptom eine verdorbene und verirrte Vorstellungskraft ist«·", die Bizarrerien müssen als »Dépravation des Geschmacks oder des Willens« verstanden werden41', das Delirium als »eine Dépravation der Urteilsfähigkeit-. In dem Maße aber, in dem man mit der Analyse vorwärts schreitet, verlieren die Charaktere allmählich ihren Sinn als Symptome und nehmen mit immer mehr Evidenz eine kausale Bedeutung an. In der Zusammenfassung werden die Halluzinationen bereits als »durch den Fehler der außerhalb des Gehirns gelegenen Organe verursachte Abirrungen der Seele« betrachtet, »was bedeutet, daß die Vorstellungs4 j Boissier de Sauvages, a. a. O.. Bd. 7, S. 43 ; vgl. auch Bd. 1, S. 366. 46 A . a. O., Bd. 7, S. 191.
kraft verführt wird«/ 7 Aber die Welt der Ursachen wird vor allem invoziert, wenn es sich um die Unterscheidung der einen Zeichen von den anderen handelt, das heißt, wenn man von ihnen erwartet, daß sie etwas anderes als ein Signal des Wiedererkennens sind, wenn sie eine logische Aufteilung in Arten und Klassen rechtfertigen müssen. So unterscheidet sich das Delirium von der Halluzination darin, daß sein Ursprung allein im Gehirn zu suchen ist und nicht in den verschiedenen Organen des Nervensystems. Will man den Unterschied zwischen den »wesentlichen Delirien« und den »vorübergehenden Delirien, die die Fieber begleiten«, feststellen? Es reicht aus, daran zu erinnern, daß die zuletzt genannten auf eine vorübergehende Veränderung der Säfte, jene aber auf eine oft definitive Dépravation der festen Elemente zurückzuführen sind.48 Auf der allgemeinen und abstrakten Ebene der Ordnungen ist die Klassifikation dem Prinzip der Symptomatik treu; sobald man sich aber den konkreten Formen des Wahnsinns nähert, wird die physische Ursache erneut das wesentliche Element der Unterscheidungen. In seinem wirklichen Leben ist der Wahnsinn völlig von der geheimen Bewegung der Ursachen besetzt. Er enthält von sich aus nichts an Wahrheit; ebensowenig an Natur, weil er in jene Geisteskräfte, die ihm eine abstrakte und allgemeine Wahrheit geben, und die dunkle Arbeit der organischen Ursachen, die ihm eine konkrete Existenz geben, geteilt ist. Auf jeden Fall findet die Arbeit für die Organisation der Geisteskrankheiten nie auf der Ebene des Wahnsinns selbst statt. Er kann von seiner eigenen Wahrheit kein Zeugnis ablegen. Entweder die moralische Beurteilung oder die Analyse der physisdien Ursachen muß hinzukommen; oder gar die Leidenschaft, die Verfehlung, mit allem, was darin an Freiheit enthalten sein kann; oder auch die rigoros determinierte Mechanik der Lebensgeister und des Nervensystems. Das ist aber eine nur scheinbare Antinomie, und nur für uns eine: für das klassische Denken gibt es ein Gebiet, in dem die Moral und die Mechanik, die Freiheit und der Körper, die Leidenschaft und die Pathologie zugleich ihre Einheit und ihr Maß finden. Das ist die Vorstellungskraft mit ihren Irrungen, Schimären und Vermessenheiten, in der jedoch auch alle Mechanismen des Körpers zusammengefaßt sind. In der Tat verdanken all diese Verlockungen der Klassifikation alles, was sie an fehlendem Gleichgewicht, an Heterogenem, an dunkel Unreinem haben können, einer gewissen »Analytik der Vorstellungsx- A. a. O., ßd. 7, S. ι .
48 A . a. O., Bd. 7, S. 305-334.
kraft«, die insgeheim in ihren Gang mit eingreift. Darin vollzieht sich die Synthese zwischen dem Wahnsinn im allgemeinen, dessen Analyse man versucht, und dem Irren, den man vertraut in der Wahrnehmung wiedererkennt und dessen Unterschiedlichkeit man auf einige Haupttypen zurückzuführen versucht. Dort reiht sidi die Erfahrung der U n vernunft ein, wie wir sie bereits bei den Praktiken der Internierung haben hinzutreten sehen, eine Erfahrung, in der der Mensch alles auf einmal ist: in einer paradoxen Weise in seiner Straffälligkeit bezeichnet und schuldfrei gemacht, aber in seiner Animalität verurteilt. Diese Erfahrung wird für die Reflexion in die Termini einer Theorie der Vorstellungskraft umgesetzt, die so ins Zentrum des ganzen klassisdien den Wahnsinn betreffenden Denkens gestellt wird. Die verwirrte und abwegige Vorstellungskraft, auf halbem Wege zwischen Irrtum und Versehen einerseits und körperlichen Störungen andererseits, ist nadi übereinstimmender Benennung der Ärzte und Philosophen in der klassischen Epoche als Delirium bezeichnet worden. So zeichnet sich über den Beschreibungen und den Klassifikationen eine allgemeine Theorie der Leidenschaft, der Vorstellungskraft und des Deliriums ab; in ihr verknüpfen sich die wirklichen Beziehungen des Wahnsinns im allgemeinen und der Irren im besonderen; in ihr wirkt ebenfalls die dunkle Kraft der Synthese, die alle - die Unvernunft, den Wahnsinn und die Irren - in einer und derselben Erfahrung verbindet. In diesem Sinne kann man von einer Transzendenz des Deliriums spredien, die von oben die klassische Erfahrung mit dem Wahnsinn lenkt und die Versuche, ihn allein nach seinen Symptomen zu analysieren, lächerlich werden läßt. Man muß audi der Resistenz einiger Hauptthemen Rechnung tragen, die. lange vor der klassifikatorischen Epoche gebildet, fortbestehen, und zwar fast identisch, fast unbeweglich bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Während an der Oberfläche die Namen der Krankheiten und ihr Platz, ihre Einteilung und ihre Gliederungen wechseln, erhalten sich etwas tiefer, in einer Art begrifflichen Halbschattens einige wenige, jedodi massive Formen aufrecht; in jedem Augenblick madit ihre obstinate Präsenz die Klassifikationsaktivität zunidite. Der begrifflichen und theoretischen Aktivität des medizinischen Denkens weniger nahe, sind diese Begriffe hingegen diesem Denken in seiner wirklidien Arbeit benachbart. Man findet sie in den Bemühungen von Willis, und mit ihnen kann er das Prinzip der manischen und melancholischen Zyklen aufstellen; man findet sie dann am
Ende des Jahrhunderts wieder, als es sich darum handelt, die Hospitäler zu reformieren und der Internierung eine medizinische Bedeutung zu geben. Sie bilden ein Ganzes mit der medizinischen Arbeit und zwingen ihre festen Gestalten eher durch eine imaginäre Kohäsion als durch eine strikte begriffliche Definition auf. Dank dunkler Affinitäten, die jedem ein eigenes und unauslöschbares Zeichen verleihen, haben sie gelebt und sich aufrecht erhalten. Noch vor Boerhaave sind sie leicht wiederzufinden, und noch bis lange nach Esquirol kann man sie verfolgen. 1672 veröffentlicht Willis sein De anima brutorum, dessen zweiter Teil »Krankheiten, die die Seele und ihren Sitz, das heißt das Hirn und das Nervensystem befallen«, behandelt. Seine Analyse nimmt die großen, seit langem von der medizinischen Tradition anerkannten Krankheiten wieder auf: die Phrenesie, eine A r t von Fieber begleiteter Wut, von der man wegen seiner kürzeren Dauer das Delirium unterscheiden muß. Die Manie ist eine Tollheit ohne Fieber. Die Melancholie kennt weder Tollheit noch Fieber; sie wird durch eine Traurigkeit und einen Schrecken charakterisiert, die auf wenige Objekte, meist sogar auf einen einzigen Beschäftigungsgegenstand appliziert werden. Was die Stupidität anbelangt, so ist diese bei all denen vorhanden, bei denen »die Vorstellungskraft, die Erinnerung und die Urteilskraft Mängel haben«. Wenn das Werk von Willis eine Bedeutung für die Definition der verschiedenen Geisteskrankheiten hat, dann in dem Maße, in dem die Arbeit sich im Inneren dieser Hauptkategorien selbst vollzieht. Willis strukturiert den nosographischen Raum nicht neu, sondern löst Formen heraus, die sich allmählich neu gruppieren, die Tendenz haben, sich zu vereinigen, oder dazu neigen, durch die Kraft eines Bildes zusammenzufließen; so gelangt er beinahe zum Begriff der Manie-Melancholie: »Diese beiden Leiden sind so benachbart, daß oft eines sich zum anderen verändert und eines oft an das andere angrenzt ( . . . ) . O f t folgen diese beiden Krankheiten aufeinander und machen sich Platz, wie der Rauch und die Flamme.«43 In anderen Fällen unterscheidet Willis das, was annähernd vermischt geblieben war; das ist eine mehr praktische als begriffliche Unterscheidung, eine relative und gradweise Trennung eines Begriffs, der seine fundamentale Identität behält. So verfährt er mit der großen Familie derer, die von der Stupidität befallen sind: zunächst gibt es diejenigen, die nicht fähig sind, die Literatur oder irgendeine der 49 "Willis, a. a. O., Bd. 2, S. 255.
freien Wissenschaften zu beherrschen, die aber geschickt genug sind, die mechanischen Fertigkeiten zu erlernen; dann kommen die, die gerade noch fähig sind, Bauern zu werden; dann diejenigen, die sich gerade noch am Leben erhalten und die unerläßlichen Gewohnheiten annehmen können; die auf dem letzten Platz verstehen kaum irgend etwas, noch handeln sie bewußt. 50 Die wirkungsvolle Arbeit erfolgte nicht in den neuen Klassen, sondern in den alten Familien der Tradition, dort, wo die Bilder am zahlreichsten waren, die Gesichter als am vertrautesten wiedererkannt wurden. 1785, als Colombier und Doublet ihre Instruktion veröffentlichen, ist mehr als ein Jahrhundert seit Willis vergangen. Die großen nosologischen Systeme sind längst errichtet. Von all diesen Monumenten scheint nichts zu bleiben; Doublet wendet sich an die Ärzte und die Anstaltsdirektoren, will ihnen diagnostische und therapeutische Ratschläge erteilen. Er kennt lediglich eine Klassifikation, diejenige aus der Zeit von Willis: die Phrenesie ist stets von Entzündungen und Fieber begleitet; die Manie oder Tollheit ist kein Zeichen dafür, daß das Gehirn befallen ist; die Melancholie weicht von der Manie in zwei Punkten ab: »Erstens darin, daß das melancholische Delirium auf ein einziges Objekt, das man melancholischen Punkt nennt, beschränkt ist; zweitens darin, daß das Delirium ( . . . ) stets friedlich ist.« Hinzu kommt die Demenz, die der Stupidität bei Willis entspricht und alle Formen der Schwäche geistiger Fähigkeiten ordnet. Als etwas später der Innenminister von Giraudy einen Bericht über Charenton verlangt, unterscheidet die vorgelegte Tabelle Fälle von Melancholie, Manie und Demenz; die einzigen wichtigen Veränderungen betreffen die Hypochondrie, die mit einer ganz kleinen Zahl vertreten ist (8 von 476 Internierten) und isoliert dasteht, und den Idiotismus, den man am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von der Demenz zu unterscheiden beginnt. Haslam trägt in seinen Beobachtungen über den Wahnsinn den Unheilbaren nicht Rechnung; er klammert Demente und Idioten aus und erkennt dem Wahnsinn nur zwei Bilder zu: Manie und Melancholie. Wie man sieht, hat der nosologische Rahmen, trotz aller im achtzehnten Jahrhundert zu seiner Veränderung unternommenen Versuche, eine bemerkenswerte Stabilität behalten. Als die großen psychiatrischen Synthesen und Wahnsinnssysteme ihren Anfang nehmen, kann man die großen Arten der Unvernunft, so wie sie überliefert sind, 50 A . a. O., Bd. a, S. 269 f.
übernehmen: Pinel zählt zu den fieberfreien Arten des Wahnsinns die Melancholie, die Manie, die Demenz und den Idiotismus; dem gesellt er die Hypochondrie, den Somnambulismus und die Hydrophobie hinzu.' 1 Esquirol fügt der jetzt schon traditionellen Serie - Manie, Melancholie, Demenz, Imbezillität - nur noch die neue Familie der Monomanie hinzu.' 2 Die schon gezeichneten und wiedererkannten Gesichter des Wahnsinns sind durch die nosologischen Konstruktionen nicht verändert worden; die Aufteilung sozusagen in Gewächsarten vermochte nicht, die ursprüngliche Festigkeit ihrer Charaktere aufzulösen oder zu verändern. Vom Anfang bis zum Ende der klassischen Zeit artikuliert sich der Wahnsinn in denselben Grenzen. Es wird einem anderen Jahrhundert zufallen, die allgemeine Paralysis zu entdecken, die Neurosen und Psychosen zu trennen, Paranoia und Dementia praecox einzuteilen; noch einem anderen wird es zufallen, die Schizophrenie zu erkennen. Das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert kennen diese geduldige Arbeit des Beobachtens nicht. Sie haben unsichere Familien im Garten der Arten unterschieden: aber diese Begriffe haben kaum die Festigkeit jener gewissermaßen perzeptiven Erfahrung, die man andererseits machte, erhalten. Das medizinische Denken basierte ruhig auf Formen, die sich nicht veränderten und ihr schweigsames Leben fortsetzten. Die von den Klassifikatoren in eine Hierarchie gebrachte und geordnete Natur war in Beziehung zu diesen wesentlichen Formen nur eine zweite Natur. Es ist sicherer, sie festzumachen, denn der ihnen zur Zeit der französischen Klassik eigene Sinn droht, sich unter den fortbestehenden Worten, die wir selbst übernommen haben, zu verbergen. Die Artikel der Encyclopédie können in dem Maße, wie sie nicht selbst ein Originalwerk darstellen, als Anhaltspunkt dienen. - In Opposition zur Phrenesie, einem fiebrigen Delirium, ist die Manie ein Delirium ohne Fieber, jedenfalls ohne wesentliches; sie enthält »alle jene langen Krankheiten, in denen die Kranken nicht nur unvernünftig reden, sondern auch nicht, wie man muß, wahrnehmen und Handlungen begehen, die motivlos, außergewöhnlich und lächerlich sind oder erscheinen«. - Die Melancholie ist auch ein Delirium, aber ein »Delirium besonderer Art, das sich ohne Fieber und Tollheit mit ausschließlich einem oder zwei Gegenständen beschäftigt, worin sie von der Manie und der Phrenesie abweicht. Dieses Delirium ist oft mit einer unüberwind51 Pinel, Nosographie philosophique, Paris 1798. J2 Esquirol, Des maladies mentales, Paris 1838.
baren Traurigkeit, mit einer dunklen Stimmung, einer Misanthropie, einer entschiedenen Neigung zur Einsamkeit verbunden.« — Die Demenz steht der Melancholie und der Manie gegenüber; diese beiden sind nur »die depravierte Ausübung des Gedächtnisses und des Verständnisses«; die Demenz hingegen ist eine »rigorose Paralysis des Geistes« oder auch »eine Vernichtung der Fähigkeit, vernünftig zu reden«; die Fibern des Gehirns nehmen keine Eindrücke wahr und die Lebensgeister sind nicht mehr fähig, sie zu bewegen. D'Aumont, der Autor dieses Artikels, sieht in der »Fatuitas« einen weniger akzentuierten Grad der Demenz: eine einfädle Abschwächung des Verständnisses und der Erinnerung. Trotz einiger Veränderungen im Detail sieht man, wie sich in der ganzen klassischen Medizin bestimmte wesentliche Zugehörigkeiten bilden und aufrechterhalten, die viel fester sind als die nosographisdien Verwandtschaften, vielleicht, weil sie mehr gespürt als begriffen werden, weil sie seit langer Zeit vorgestellt und geträumt worden sind: Phrenesie und fiebrige Hitze; Manie und bewegte Tollheit; Melancholie und die gewissermaßen inselartige Isolierung des Deliriums; Demenz und geistige Unordnung. Mit diesen qualitativen Tiefen der medizinischen Wahrnehmung haben die nosologischen Systeme gespielt, haben darin manchmal einige Augenblicke aufgeleuchtet. In der wirklichen Geschichte des Wahnsinns haben sie keine Gestalt angenommen. Schließlich bleibt ein drittes Hindernis. Es besteht in den Widerständen und den eigenen Entwichlungen der medizinischen Praxis. Seit langem und auf dem gesamten Gebiet der Medizin folgte die Therapie einem relativ unabhängigen Weg. Es war ihr jedoch seit der Antike nie gelungen, alle ihre Formen nach den Begriffen der medizinischen Theorie zu ordnen. Und mehr als jede andere Krankheit hat der Wahnsinn bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts um sich herum eine ganze Sammlung von zugleich durch ihren Ursprung archaischen, durch ihre Bedeutung magischen und durch ihr Anwendungssystem außermedizinischen Praktiken aufrechterhalten. Alles, was der Wahnsinn an erschreckenden Kräften verbergen konnte, unterhielt in seiner kaum geheimen Lebhaftigkeit das taube Leben dieser Praktiken. Aber am Ende des siebzehnten Jahrhunderts gab es ein Ereignis, das, indem es die Autonomie der Praktiken stärkte, ihr einen neuen Stil und eine völlig neue Entwicklungsmöglichkeit gegeben hat. Dieses
Ereignis ist die Definition der Störungen, die man zunächst als »vapeurs« bezeichnete und die im achtzehnten Jahrhundert unter dem Namen »Nervenkrankheit« eine so große Ausdehnung erfahren sollten. Sehr früh und durdi die Expansionskraft ihrer Begriffe stürzen sie den alten nosographischen Raum um und füllen ihn bald fast völlig aus. Cullen kann in seinen Institutions de médecine pratique schreiben: »Ich will hier unter Nervenkrankheiten alle präternaturalen Gebrechen des Gefühls und der Bewegung verstehen, die nicht von Fieber als Symptom der ursprünglichen Krankheit begleitet sind; ich verstehe darunter auch alle diejenigen, die nicht von einem lokalen Gebrechen der Organe abhängen, sondern von einem allgemeineren Gebrechen des Nervensystems und der Eigenheiten dieses Systems, auf die sich vor allem das Gefühl und die Bewegung gründen.«" Diese neue Welt der »vapeurs« und der Nervenkrankheiten hat ihre eigene Dynamik; die Kräfte, sie sich darin entfalten, die Klassen, Arten und Gattungen, die man dabei unterscheiden kann, fallen nicht mehr mit den den Nosographien vertrauten Formen zusammen. Es scheint, als öffne sich ein ganzer noch unbekannter pathologischer Raum, der sich den gewöhnlichen Regeln der Analyse und der medizinischen Beschreibung entzieht: »Die Philosophen ermuntern die Ärzte, sich in dieses Labyrinth zu vertiefen; sie erleichtern ihnen den Weg, indem sie die Metaphysik von unsinnigem Plunder der Schulen befreien, analytisch die wichtigsten Seelenkräfte erklären, ihre enge Verbindung mit den Bewegungen des Körpers zeigen und selbst bis zu den ersten Grundlagen seiner Organisation zurückgehen.«' 4 Die Projekte, die »vapeurs« zu klassifizieren, sind ebenfalls zahllos. Keines beruht auf den Prinzipien, denen Sydenham, Sauvages oder Linné folgten. Viridet unterscheidet sie sowohl nach dem Störungsmechanismus als auch nach ihrer Lokalisation: die »allgemeinen vapeurs entstehen im ganzen Körper«; die »besonderen vapeurs bilden sich in einem Teil«; die ersten »kommen von der Suppression des Laufs der Lebensgeister«; die zweiten »kommen von einem Gärungsmittel in oder bei den Nerven«; oder »durch die Kontraktion des Hohlraums der Nerven, durch die die Lebensgeister aufsteigen und herunterlaufen«." Beauchêne schlägt eine rein ätiologische Klassifika53 William Cullen, Institutions de médecine pratique, (übersetzt v o n Pinel), 2 vols., Paris 1785, Bd. 2 , S . 61. 54 Daniel de Laroche, Analyse des fonctions du système nerveux, 2 vols., Genf 1778, Bd. ι , S. viii. 55 Jean Viridet, Dissertation sur les vapeurs, Y v e r d o n 1726, S. 32.
tion vor nach Temperamenten, Prädispositionen und Veränderungen des Nervensystems: zunächst die »Krankheiten mit Eiter und organischer Verletzung«, die von einem »gallig-phlegmatischen Temperament« abhängen; dann die nervösen, hysterischen Krankheiten, die sich durch »ein gallig-melancholisches Temperament und besondere Verletzungen an der Gebärmutter« unterscheiden; schließlich die durch ein »Erschlaffen der festen Körper und die Degeneration der Säfte« charakterisierten Krankheiten; hier sind die Ursachen eher ein »sanguinisches phlegmatisches Temperament, unglückliche Leidenschaften, usw. ( . . .)«.'6 Ganz am Ende des Jahrhunderts, während der großen Diskussion, die den Werken von Tissot und Pomme folgte, hat Pressavin den Nervenkrankheiten ihre größte Ausdehnung gegeben; sie umfassen alle Störungen, die die bedeutenderen Funktionen des Organismus treffen können, und unterscheiden sich voneinander gemäß den gestörten Funktionen. Wenn die Gefühlsnerven getroffen sind und ihre Aktivität vermindert ist, treten Erstarrung, Stupor und Koma auf; wenn ihre Aktivität hingegen erhöht ist, treten Auszehrung, Kitzeln und Schmerz auf. Die Bewegungsfunktionen können auf die gleiche Weise gestört werden: ihre Verminderung ruft die Paralyse und die Katalepsie hervor, ihre Verstärkung Erethismus und Spasmen; was die Konvulsionen betrifft, so sind sie Folgen einer unregelmäßigen Aktivität, die einmal zu schwach, ein anderes Mal zu stark ist - ein Wechsel, den man zum Beispiel bei der Epilepsie beobachten kann.' 7 Sicher sind diese Begriffe durch ihre Natur den traditionellen Klassifikationen fremd, aber ihre Originalität wird vor allem dadurch gewährleistet, daß sie im Unterschied zu den Begriffen der Nosographie unmittelbar mit einer Praxis verbunden sind; oder vielmehr, sie sind, sobald sie gebildet werden, völlig von therapeutischen Themen durchsetzt, denn was sie konstituiert und organisiert, sind Bilder - Bilder, durch die Ärzte und Kranke sofort kommunizieren können: die vapeurs, die von der Weiche aufsteigen, die gespannten Nerven, »wund und gekrümmt«, die von leichtem Schweiß und Feuchtigkeit geschwängerten Fibern, brennende Hitze, die die Organe austrocknet - so viele Erklärungsschemata gibt es tatsächlich; aber es gibt ebenso viele zweideutige Themen, in denen die Vorstellungskraft des Kranken seinen eigenen Leiden Form, Raum, Substanz und Sprache gibt, und in de56 Edme-Pierre Chauvot Beauchcne, De l'influence des affections de l'âme nerveuses, Montpellier und Paris, ! I783, S. 65-182 und 221-223. 57 Jean-Baptiste Pressavin, Nouveau traité des vapeurs, Lyon 1770, S. 7 - 3 1 .
nen die des Arztes sofort den Plan der zur Wiederherstellung der Gesundheit nötigen Eingriffe entwirft. In dieser neuen Welt der Pathologie, die seit dem neunzehnten Jahrhundert so verschrien und ins Lächerliche gezogen wird, geschieht etwas Bedeutendes - und dies wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte der Medizin: die theoretische Erklärung fällt mit einer doppelten Projektion zusammen, der der Krankheit durdi den Kranken und der der Beseitigung der Krankheit durdi den Arzt. Die Nervenkrankheiten gestatten die Komplizität bei der Heilung. Eine ganze Welt von Symbolen und Bildern ist da im Entstehen begriffen, wo der A r z t mit seinem Patienten einen ersten Dialog anknüpft. Hinfort entwickelt sich während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts eine Medizin, in der das aus A r z t und Patient bestehende Paar im Begriff ist, das konstituierende Element zu werden. Mit den imaginären Gestalten, durch die es kommuniziert, organisiert dieses Paar auf neue Weise die Welt des Wahnsinns. Die Kuren mit Erhitzung, Abkühlung, Stärkungsmitteln oder Entspannung, die ganze dem Arzt und dem Patienten gemeinsame Mühe imaginärer Realisationen lassen die Bildung pathologischer Formen zu, die zu assimilieren die Klassifikationen immer unfähiger werden. Aber innerhalb dieser Formen, selbst wenn es stimmt, daß auch sie vergangen sind, hat sich die wirkliche Arbeit der Gelehrsamkeit vollzogen. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit wieder dem Ausgangspunkt zu: auf der einen Seite ein Bewußtsein, das vorgibt, den Irren ohne Vermittlung zu erkennen, sogar ohne jene Vermittlung, die eine diskursive Kenntnis des Wahnsinns wäre; auf der anderen Seite eine Wissenschaft, die behauptet, gemäß dem Plan seiner Virtualitäten alle Formen des Wahnsinns mit allen Zeichen, die seine Wahrheit manifestieren, entfalten zu können. Dazwischen liegt nichts, eine Leere; eine fast spürbare, so evident ist sie, Abwesenheit dessen, was der Wahnsinn als konkrete und allgemeine Form, als reales Element, in dem die Irren sich wiederfänden, als tiefer Boden, von dem in ihrer überraschenden Partikularität die Zeichen des Wahnsinnigen aufsteigen würden, wäre. Die Geisteskrankheit existiert in der klassischen Epoche nicht, wenn man darunter die natürliche Heimat des Wahnsinnigen, die Vermittlung zwischen dem Irren, den man wahrnimmt, und der Demenz, die man analysiert, kurz die Verbindung des Wahnsinnigen mit seinem Wahnsinn versteht. Der Irre und der Wahnsinn sind einander fremd; ihre Wahrheit ist einander vorenthalten und wie in ihnen selbst konfisziert.
Die Unvernunft ist vor allem jene tiefe Spaltung, die aus einem Zeitalter des Verstehens herrührt und die den Wahnsinnigen und den Wahnsinn voneinander entfremdet. Wir können die Unvernunft also schon in dieser Leere fassen. War nicht die Internierung ihre institutionalisierte Fassung? Die Internierung als undifferenzierter Raum des Ausschlusses herrschte doch zwischen dem Wahnsinnigen und dem Wahnsinn, zwischen dem sofortigen Wiedererkennen und einer stets aufgeschobenen Wahrheit, indem sie so in den sozialen Strukturen das gleiche Feld deckte wie der Wahnsinn in den Strukturen der Wissenschaft. Aber die Unvernunft ist mehr als diese Leere, in der man sie sich abzeichnen sieht. Die Wahrnehmung des Irren hatte schließlich nur die Vernunft selbst zum Inhalt; die Analyse des Wahnsinns unter den Krankheitsarten hatte ihrerseits nur die Vernunftordnung einer natürlichen Weisheit zum Prinzip; infolgedessen fand man dort, wo man die positive Fülle des Wahnsinns suchte, stets nur die Vernunft, wodurch der Wahnsinn paradoxerweise zur universalen Anwesenheit der Vernunft und Abwesenheit des Wahnsinns wurde. Der Wahnsinn des Wahnsinns heißt: heimlich Vernunft zu sein. Und dieser NichtWahnsinn als Inhalt des Wahnsinns ist der zweite wesentliche Punkt, den man bezüglich der Unvernunft festhalten muß. Die Unvernunft ist, daß die Wahrheit des Wahnsinns Vernunft ist. Oder vielmehr Quasi-Vernunft. Und das ist der dritte fundamentale Charakterzug, den die folgenden Seiten völlig zu erklären versuchen werden. Wenn die Vernunft wirklich der Inhalt der Perzeption des Irren ist, dann geschieht dies nicht, ohne daß sie mit einem gewissen negativen Indiz versehen wird. D a ist eine Instanz am Werk, die dieser Nicht-Vernunft ihren eigenartigen Stil gibt. Der Wahnsinnige ist in Beziehung zur Vernunft und für sie und durch sie vergeblich wahnsinnig; um Objekt der Vernunft sein zu können, ist er vergeblich Vernunft. Die eingenommene Distanz ist ein Problem; und diese Arbeit des Negativen kann nicht einfach die Leere einer Negation sein. Andererseits haben wir gesehen, an welchen Hindernissen sich das Projekt einer »Naturalisation« des Wahnsinns im Stil einer Geschichte der Krankheiten und der Pflanzen stieß. Trotz so vieler wiederholter Anstrengungen ist der Wahnsinn nie völlig in die rationale Ordnung der Arten eingedrungen, denn andere Kräfte herrschten in der Tiefe. Diese Kräfte sind dem theoretischen Begriffsplan fremd und vermögen ihm zu widerstehen bis zu dem Punkt, an dem sie ihn schließlich umstürzen können.
Welche Kräfte wirken also hier? Welches Verneinungsvermögen wirkt sich hier aus? Welches sind in dieser klassischen Welt, in der die Vernunft enthalten und die Wahrheit aller Dinge, sogar des Wahnsinns, zu sein scheint, diese geheimen Instanzen, die widerstehen? Ist es nidit hier wie dort, in der Kenntnis des Wahnsinns wie in dem Wiedererkennen des Irren, die gleiche Kraft, die sich hinterhältig entfaltet und über die Vernunft lustig macht? Und falls es die gleiche wäre, wären wir dann nicht in der Lage, das Wesen und die lebendige Kraft der Unvernunft als geheimes Zentrum der klassischen Erfahrung mit dem Wahnsinn zu definieren? Es heißt jetzt aber, langsam vorzugehen und von Detail zu Detail, von dem, was wir bereits kennen, mit dem Respekt eines Historikers auszugehen, das heißt von den Hindernissen, die sich bei der Naturalisation des Wahnsinns und seiner Projektion auf eine rationale Ebene ergaben. Wir müssen sie Stüde für Stück nach der noch groben A u f zählung, die wir davon machen können, analysieren: zuerst die Transzendenz der Leidenschaft, der Vorstellungskraft und des Deliriums als Formen, die den Wahnsinn konstituieren; dann die traditionellen Gestalten, die während des ganzen klassischen Zeitalters das Gebiet des Wahnsinns artikuliert und ausgearbeitet haben; schließlich die Konfrontation des Arztes und des Kranken in der imaginären Welt der Therapie. Vielleicht verbergen sich dort die positiven Kräfte der Unvernunft, die Arbeit, die gleichzeitig das Korrelativ und die Kompensation dieses Nicht-Seins, dieser Leere, dieser A b wesenheit des Wahnsinns, die immer tiefer gegraben wird, ist. Diese Arbeit und die Kräfte, die sie beleben, werden wir nicht als die Evolution der theoretischen Begriffe an der Oberfläche einer Kenntnis zu beschreiben versuchen, sondern indem wir in die historische Mächtigkeit einer Erfahrung einschneiden, werden wir versuchen, die Bewegung zu erfassen, durdi die schließlich eine Kenntnis des Wahnsinns möglich geworden ist: diese Kenntnis ist die unsere, und dem Freudianismus ist es nicht gelungen, uns davon völlig zu lösen, weil er nicht dazu bestimmt war. In dieser Kenntnis ist die Geisteskrankheit schließlich gegenwärtig, ist die Unvernunft von allein verschwunden. außer in den Augen derer, die sich fragen, was wohl in der modernen Welt diese hartnäckige und sattsam bekannte Präsenz eines notwendig von seiner Wissenschaft, seiner Medizin, seinen Ärzten begleiteten Wahnsinns, eines völlig in das Pathetische einer Geisteskrankheit eingeschlossenen Wahnsinns bedeuten soll.
2. Kapitel
Die Transzendenz des Deliriums »Wahnsinn nennen wir jene Krankheit der Organe des Gehirns ( . . .).«>8 Die Probleme des Wahnsinns bewegen sich um die Stofflichkeit der Seele. Auf welche Weise wird die Seele in diesem Übel, das die Nosologien so leicht als Krankheit beschreiben, betroffen: als ein Segment des Körpers, das unter der gleichen Bedingung wie die anderen befallen wird? als eine allgemeine, mit dem ganzen Organismus verbundene und mit ihm gestörte Sensibilität? als ein unabhängiges, geistiges Prinzip, dem nur seine vorübergehenden und materiellen Instrumente entgingen? Über diese Fragen der Philosophen begeistert sich das achtzehnte Jahrhundert; sie sind unbegrenzt umkehrbar, und jede Antwort vervielfältigt die Ambiguität. Zunächst haben wir es mit dem ganzen Gewicht einer Tradition zu tun: einer Tradition von Theologen und Kasuisten, auch einer solchen von Juristen und Richtern. Vorausgesetzt, daß er einige der äußeren Zeichen der Buße aufweist, kann ein Irrer zur Beichte zugelassen werden und die Absolution erteilt bekommen; selbst wenn alles darauf hinwiese, daß er außer Sinnen ist, hat man das Recht und die Pflicht anzunehmen, daß der Geist seine Seele durch weder spürbare noch materielle Wege erleuchtet hat - Wege, die »Gott manchmal benutzt, das heißt den Dienst der Engel oder eine unmittelbare Eingebung«.' 9 War er übrigens im Zustand der Gnade, als er wahnsinnig wurde? Der Irre, daran besteht kein Zweifel, wird gerettet werden, was er in seinem Wahnsinn auch gemacht hat: seine Seele ist zurückgezogen, vor der Krankheit geschützt - und durch die Krankheit selbst vor dem Bösen bewahrt. Die Seele ist nicht genug in den Wahnsinn verwickelt, um in ihm zu sündigen. Die Richter, die die Geste eines Irren nicht als Verbrechen bewerten, die ihn in der Annahme unter Kuratel stellen, daß der Irrsinn nur feine vorläufige Behinderung ist, in der die Seele nicht mehr angegriffen ist, als sie beim Kleinkind inexistent oder fragmentarisch ist, wi58 Voltaire, S. 285.
Dictionnaire
philosophique,
Artikel
»Folie«, Paris
1935, Bd.
I.
$9 Jacques de Sainte-Beuve, Resolution de plusieurs cas de conscience, 3 vols., Paris 1689, Bd. 1, S. 65; das glcidie fand Anwendung bei den Taubstummen.
dersprechen dem nidit. Ohne den Entzug der bürgerlichen Rechte verliert der Wahnsinnige, sogar wenn er eingeschlossen ist, übrigens nidits von seiner bürgerlichen Persönlichkeit, und das Parlament von Paris hat genau präzisiert, daß dieser Defactobeweis des Wahnsinns, den die Internierung darstellt, in nidits die Rechtsfähigkeit der Person ändert.6" Die Seele der Irren ist nicht wahnsinnig. Ist indessen die Seele für denjenigen, der über die Exaktheit der Medizin, über ihr Versagen und ihre Erfolge philosophiert, nicht mehr und nicht weniger als diese freie Gefangene? Muß sie nicht zur Materie gehören, wenn sie von der Materie, durch die Materie hindurch und wegen ihr in der freien Ausübung ihrer wesentlichsten Funktionen getroffen ist: sogar in der Urteilskraft? Und wenn die ganze Tradition der Juristen recht damit hat, die Unschuld des Irren festzustellen, dann heißt das nidit, daß seine geheime Freiheit durdi seine Unfähigkeit geschützt ist, es heißt, daß die unwiderstehliche Kraft seines Körpers seine Freiheit angreift, bis sie sie völlig auslöscht: »Diese arme Seele (. ..) ist dann nicht Herrin ihrer Gedanken, sondern ist gezwungen, auf die Bilder zu achten, die die Spuren ihres Gehirns in ihr bilden.« 6 ' Die wiederhergestellte Vernunft aber bringt den nur noch klareren Beweis, daß die Seele lediglich organisierte Materie und Körper ist, denn der Wahnsinn ist niemals nur Destruktion, und wie sollte man beweisen, daß die Seele tatsächlich zerstört ist, daß sie nicht einfach angekettet, versteckt oder irgendwohin zurückgedrängt ist? Sie zu ihrer Macht zurückzuführen, ihr ihre Unversehrtheit wiederzuerrichten, ihr Kraft und Freiheit allein durch die Zusammenfügung einer geschickten und konzertierten Materie zu geben, heißt, sich den Beweis zu liefern, daß die Seele ihre Kraft und Vollkommenheit in der Materie hat, da das Hinzufügen von etwas Materie sie von einer zufälligen Unvollkommenheit zu ihrer vollkommenen Natur gelangen läßt: »Kann ein unsterbliches Wesen die Transposition dieser Teile zulassen und dulden, daß man der Simplizität seines Ganzen, von dem sich unmöglich etwas lösen kann, etwas hinzufügt?« 6 * 60 Erlaß des Parlaments von Paris vom 30. August 1711. Zitiert bei Louis Parturier, L'assistance à Paris sous l'Ancien Régime et la Révolution, Paris 1897, S. 159 und Anm. 1. 61 L'Ame matérielle, ou nouveau système sur les purs principes des philosophes anciens et modernes qui soutiennent son immatérialité, Bibliothèque de l'Arsenal, Paris, Ms. 1139, S. 139. 02 Ebda.
Voltaire nimmt diesen Dialog, der im stoischen Denken ebenso alt ist wie die Konfrontation des Humanismus und der Medizin, wieder auf und versucht, ihn enger zu fassen. Gelehrte und Doktoren versuchen, die Reinheit der Seele aufrechtzuerhalten, und möchten, indem sie sich an den Irren wenden, ihn davon überzeugen, daß sein Wahnsinn sich allein auf die Phänomene des Körpers beschränkt. Wohl oder übel muß der Wahnsinnige in einem Gebiet seiner selbst, das er nicht kennt, eine gesunde und der Ewigkeit versprochene Seele haben: »Mein Freund, obwohl du den gesunden Menschenverstand verloren hast, ist deine Seele ebenso geistvoll, rein und unsterblich wie die unsere; aber unsere ist wohl, deine schlecht untergebracht; die Fenster des Hauses sind verstopft ( . . . ) , die Luft fehlt ihr, sie ersticht.« Aber der Irre hat seine guten Momente; oder er ist in seinem Wahnsinn der Augenblick der Wahrheit selbst; als Wahnsinniger verfügt er über mehr gesunden Menschenverstand und redet weniger Unsinn als die Vernünftigen. Vom Grunde seines räsonierenden Wahnsinns her, das heißt von der Höhe seiner wahnsinnigen Weisheit weiß er wohl, daß seine Seele getroffen ist; und im umgekehrten Sinne das Paradox des Epimenides erneuernd sagt er, daß er bis zum Grunde seiner Seele wahnsinnig ist, und sagt damit die Wahrheit. »Meine Freunde, ihr unterstellt das Fragliche eurer Gewohnheit. Meine Fenster sind ebenso geöffnet wie die euren, denn ich sehe die gleichen Gegenstände und höre die gleichen Worte. Folglich muß meine Seele notwendig einen falschen Gebrauch der Sinne machen und selbst ein verderbter Sinn, eine depravierte Eigenschaft sein. In einem Wort: entweder ist meine Seele in sich selbst wahnsinnig, oder ich habe keine Seele.«6-' Bei diesem voltaireschen Epimenides mit zwei Köpfen ist Vorsicht geboten; er sagt ja im Grunde: entweder lügen die Kreter, oder ich bin ein Lügner, womit er in Wirklichkeit zugleich sagen will, daß der Wahnsinn die profunde Natur seiner Seele trifft, und daß infolgedessen seine Seele nicht als geistiges Wesen existiert. Dieses Dilemma legt die Verkettung, die es verbirgt, nahe. Dieser Verkettung müssen wir zu folgen versuchen. Das ist nur auf den ersten Blick sehr einfach. Einerseits kann der Wahnsinn nicht einer Verwirrung der Sinne assimiliert werden; die Fenster sind heil, und wenn man im Hause schlecht sieht, dann nicht deshalb, weil sie verstopft sind. Hier durchquert Voltaire mit einem Sprung ein ganzes Feld medizinischer Dis63 Voltaire, a. a. O., Bd. I, S. 286.
kussion. Unter dem Einfluß von Locke suchten viele Ärzte den Ursprung des Wahnsinns in einer Verwirrung der Sensibilität: wenn man Teufel sieht, Stimmen hört, hat die Seele keine Schuld daran, sie empfängt, wie sie kann, das, was die Sinne ihr auferlegen/ 4 Darauf erwiderte, unter anderen, Sauvages: nicht derjenige, der schielt und doppelt sieht, ist wahnsinnig; sondern der, der doppelt sieht und einfach glaubt, es seien zwei Menschen.®s Seelenstörung, nidit Sehstörung; es liegt nicht daran, daß das Fenster in schlechtem Zustand ist, sondern daran, daß der Bewohner krank ist. Voltaire ist dieser Auffassung. Es ist Vorsicht angebracht, einen primären Sensualismus fernzuhalten und zu vermeiden, daß eine zu direkte und zu einfache Anwendung Lockes nidit am Ende eine Seele schützt, deren Kräfte der Sensualismus eigentlich reduzieren will. Wenn aber die Sinnesstörung nidit die Ursache des Wahnsinns ist, so ist sie dessen Modell. Ein Befall des Auges verhindert die genaue Ausübung der Sehkraft; ein Befall des Hirns, des Organs des Geistes, wird auf dieselbe Weise die Seele selbst verwirren: »Diese Überlegung kann den Verdacht aufkommen lassen, daß die Denkfähigkeit, die Gott dem Menschen gegeben hat, wie die anderen Sinne der Störung ausgesetzt ist. Ein Wahnsinniger ist ein Kranker, der am Hirn leidet, wie der Gichtkranke an den Händen und an den Füßen leidet; er dachte mit dem Hirn, wie er mit den Füßen lief, ohne etwas zu erkennen, weder von seiner unverständlichen Kraft zu gehen noch von seiner nicht weniger unverständlichen Kraft zu denken.«' 6 Vom Gehirn zur Seele ist die Beziehung die gleiche wie vom Auge zum Sehen; und von der Seele zum Gehirn existiert die gleiche Beziehung wie vom Vorsatz, zu gehen, zu den Beinen, die sich beugen. Die Seele macht im Körper nichts anderes, als Beziehungen herzustellen analog denen, die der Körper selbst errichtet hat. Sie ist der Sinn der Sinne, die Handlung der Handlungen. Und genau wie das Gehen durch die Steifheit des Beines behindert, das Sehen durch die Trübung des Auges verwirrt wird, wird die Seele durch die Verletzungen des Körpers und vor allem durch die Verletzungen jenes privilegierten Organs, des Gehirns, das das Organ aller Organe ist — zugleich aller Sinne und aller Handlungen - getroffen. Die Seele gehört also ebenso zum Körper wie das Sehen zum Auge oder die Handlung zu den Muskeln. Wenn man also jetzt das Auge a u s r ä u m t . . . Dadurch ist bewiesen, daß 64 Zum Beispiel die Mitarbeiter des Dictionnaire von James. 65 Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 130,141, 14 f. 66 Voltaire, a . a . O . , Bd. I, S. 286.
»meine Seele in sich selbst wahnsinnig ist«, in ihrer eigenen Substanz, in dem, was das Wesen der Natur ausmacht; und daß »ich keine Seele habe«, die anders wäre als die durch die Ausübung der Organe meines Körpers definierte. Kurz, Voltaire schloß daraus, daß der Wahnsinn keine Verletzung der Sinne sei, auf die Tatsache, daß die Seele mit dem Gehirn als O r gan nicht von Natur aus von irgendeinem der Sinne unterschieden ist. Er ist heimlich von einem zu seiner Zeit klar definierten medizinischen Problem (Entstehung des Wahnsinns aus einer Sinneshalluzination oder aus einem Geistesdelirium — einer peripheren oder einer zentralen Theorie, wie wir in unserer Sprache sagen würden) zu einem philosophischen Problem geglitten, das weder im Recht noch tatsächlich jenem übergestülpt werden kann: beweist der Wahnsinn die Stofflichkeit der Seele oder nicht? Er tat bei der ersten Frage so, als weise er jede Form sensualistischer Antwort ab, um sie bei der Lösung des zweiten Problems besser anbringen zu können — diese letzte Wiederaufnahme des Sensualismus, die übrigens zeigte, daß er die erste Frage aufgegeben hatte, die medizinische Frage nach der Rolle der Sinnesorgane für den Ursprung des Wahnsinns. Für sich und losgelöst von den polemischen Absichten, die sie verbirgt, ist diese Überstülpung bezeichnend. Denn sie gehört nicht zur medizinischen Problematik des achtzehnten Jahrhunderts; sie vermengt mit dem Problem Sinne-Gehirn, Peripherie-Zentrum, das auf einer Ebene mit den Überlegungen der Ärzte liegt, eine kritische Analyse, die auf der Trennung von Seele und Körper beruht. Eines späteren Tages wird das Problem des Ursprungs, der kausalen Determination, des Sitzes des Wahnsinns für die Ärzte selbst materialistische Werte annehmen oder nicht. Aber diese Werte werden erst im neunzehnten Jahrhundert erkannt, als genau die von Voltaire definierte Problematik als selbstverständlich akzeptiert wird; dann, und erst dann, werden eine spiritualistische und eine materialistische Psychiatrie, eine Konzeption des Wahnsinns, die ihn auf den Körper beschränkt, und eine andere, die ihn in einem immateriellen Element der Seele gelten läßt, möglich sein. Aber der Text von Voltaire ist gerade in dem, was in ihm widersprüdilich und mißbräuchlich ist, in der List, die darin absiditlich eingehüllt ist, nicht für das repräsentativ, Avas die Erfahrung mit dem Wahnsinn im achtzehnten Jahrhundert an Leben, Massivität und Gedrängtheit haben konnte. Dieser Text bewegt sich unter Leitung der Ironie auf etwas zu, das mit der Zeit diese Erfahrung übersteigt, hin zu der am wenigsten ironischen Position des Wahn-
sinnproblems. Er weist bereits darauf hin, und läßt in einer anderen Dialektik und Polemik, in der noch leeren Subtilität der Begriffe voraussagen, was im neunzehnten Jahrhundert außer Frage stehende Evidenz wird: entweder ist der Wahnsinn die organische Verletzung eines materiellen Prinzips, oder er ist die geistige Störung einer immateriellen Seele. D a ß Voltaire diese einfache Problematik von außen und mit komplexen Umwegen skizziert hat, erlaubt nicht, sie für wesentlich im Denken des achtzehnten Jahrhunderts zu halten. Die Frage nach der Trennung von Körper und Seele ist nicht auf dem Grunde der klassischen Medizin entstanden; es ist ein vor kurzer Zeit hineingetragenes Problem, das von einer philosophischen Fragestellung ausgelöst worden ist. Was die Medizin zur Zeit der französischen Klassik problemlos zugibt, der Boden, auf dem sie sich bewegt, ohne Fragen zu stellen, ist eine andere Simplizität - die allerdings für uns komplexer ist, die wir seit dem neunzehnten Jahrhundert daran gewöhnt sind, die Probleme der Psychiatrie in der Opposition von Körper und Seele zu denken, einer Opposition, die in Begriffen wie Psychogenese und Organogenese nur abgeschwächt, zurechtgerückt und vermieden ist — diese Simplizität ist die, die Tissot den Abstraktionsschimären der Philosophen entgegenstellt: es ist die schöne, spürbare Einheit der Seele und des Körpers vor all den Dissoziationen, die die Medizin nicht kennt: »Die Metaphysik untersucht die Ursachen des Einflusses des Geistes auf den Leib, und des Leibes auf den Geist: Die Arzneykunst beschäftigt sich mit Gegenständen, die weniger groß, aber vielleicht gewisser sind, und begnügt sich, ohne zu den ersten Ursachen dieser gegenseitigen Wirkung der beyden Substanzen, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist, aufzusteigen, mit genauer Beobachtung der daher entstehenden Erscheinungen. Die Erfahrung lehrt sie, daß dieser bestimmte Zustand des Körpers nothwendig diese bestimmte Bewegungen der Seele hervorbringt; daß diese bestimmte Bewegungen der Seele nothwendig diese Bewegungen des Leibes hervorbringen; daß, indem die Seele sich mit Denken beschäftigt, ein Theil des Gehirns sich in einem Zustand der Spannung befindet, der ihn ermüdet: Sie treibt ihre Untersuchungen nicht weiter, und hat auch nicht nöthig, mehr davon zu wissen. Die Vereinigung des Geistes und des Körpers ist würklich so enge, daß man kaum begreifen kann, wie das eine würken könne, ohne daß das andere die Würkung in mehr oder mindern! Grad mit empfinde. Die erschütterten Werkzeuge der Sinnen
übertragen dem Geist den Gegenstand seiner Gedanken, indem sie die Fasern des Gehirns erschüttern: und mittlerweile daß die Seele sidi damit beschäftigt, sind die Werkzeuge des Gehirns in einer mehr oder weniger starken Bewegung, in einer mehr oder weniger großen Spannung.«''7 Eine methodologische Regel muß man sofort anwenden: wenn es sich in den medizinischen Texten zur Zeit der französischen Klassik um die Frage nach den Arten des Wahnsinns, den vesaniae und sogar, in einer sehr expliziten Weise, den »Geisteskrankheiten« oder den »Krankheiten des Geistes« handelt, ist das damit Bezeichnete nicht ein Gebiet psychologischer Störungen oder geistiger Tatsachen, die dem Gebiet der organischen Pathologie gegenüberständen. Erinnern wir uns stets daran, daß Willis die Manie zu den Krankheiten des Kopfes, die Hysterie zu den konvulsiven Leiden rechnet; daß Sauvages das Mißgreifen, den Schwindel und das Ohrensausen zur Klasse der vesaniae zählt; und an andere Eigentümlichkeiten. Diesem Spiel geben sich die Mediziner-Historiker gern hin: unter den Beschreibungen der Klassiker die wirklichen Krankheiten herauszufinden, die darin bezeidmet sind. Als Willis von Hysterie sprach, erfaßte er da nicht auch Phänomene der Epilepsie? Als Boerhaave von Manien spradi, besdirieb er da nicht die Paranoia? Kann man nicht leicht unter einer bestimmten Melancholie bei Diemerbroek bestimmte Zeichen einer Besessenheitsneurose wiederfinden? Das sind Spiele von Fürsten"8, nicht von Historikern. Vielleicht spricht man nach einem Jahrhundert mit einem anderen Namen von denselben Krankheiten; aber es handelt sich grundsätzlich nicht um dieselbe Krankheit. Wer im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert Wahnsinn sagt, sagt in strengem Sinne nicht »Krankheit des Geistes«, sondern wohl etwas, wobei der Körper und die Seele gemeinsam in Frage stehen. Davon ungefähr sprach Zacchia, als er die Definition vorschlug, die, grob gesagt, für das ganze klassische Zeitalter gelten kann: Amentiac a proprio cerebri morbo et ratiocinatricis facidtatis laesione dépendent.6'3 67 Samuel A . D . Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, Zürich 1768, S. 16-18. 68 Man muß annehmen, daß sie Diemerbroek gelesen haben. 69 Zacchia, Quaestiones medico-legalcs, Lyon 1674, Buch 2, Titel 1, Frage 2, S. 114. Hinsichtlich der Implikation der Seele und des Körpers im Wahnsinn sind die von anderen Autoren vorgeschlagenen Definitionen von gleicher Art. Willis, a. a. O., Bd. 2, S. 227: »Zerebrale Affekte, bei denen die Vernunft und die anderen Funktionen der Seele verletzt sind.« Anne-Charles Lorry, De melancholia et morbi,
Während wir nun eine Problematik, die ziemlich spät zur Erfahrung mit dem Wahnsinn hinzukam, beiseite lassen, wollen wir jetzt versuchen, die ihr eigenen Strukturen freizulegen - indem wir bei den äußersten beginnen (dem Kreis der Kausalität) und dann zu weiter innen gelegenen und weniger sichtbaren (dem Kreis der Leidenschaft und des Bildes) vordringen, um schließlich in der Tiefe dieser Erfahrung das zu erreichen zu suchen, was sie als solche hat konstituieren können - das wesentliche Moment des Deliriums. Die Unterscheidung zwischen fernen Ursachen und unmittelbaren Ursachen, die allen klassischen Texten vertraut ist, kann wohl auf den ersten Blick ohne große Konsequenz scheinen und nur eine zerbrechliche Struktur bieten, um die Welt der Kausalität zu organisieren. Tatsächlich war sie von erheblichem Gewicht; was in ihr an offenbar Willkürlichem sein kann, verbirgt eine sehr strenge, strukturierende Kraft. Wenn Willis von den nahen Ursachen der Manie spricht, versteht er darunter eine doppelte Veränderung der Lebensgeister. Eine mechanische Veränderung zunächst, die gleichzeitig die Kraft der Bewegung und deren Bahn berührt: bei einem manisch Erkrankten bewegen sich die Lebensgeister mit Heftigkeit; sie können also in Bahnen eindringen, die nie gebrochen worden sind und es nie werden sollten; diese neuen Bahnen rufen einen sehr wunderlichen Lauf der Ideen, plötzliche und außergewöhnliche Bewegungen hervor, die von solcher Kraft sind, daß sie bei weitem die natürlichen Kräfte des Kranken zu überschreiten scheinen. Dann eine chemische Veränderung: die Geister nehmen eine scharfe Natur an, die sie korrosiver und durchdringender, auch leichter und weniger mit Stoff beladen werden läßt. Sie werden ebenso lebhaft und ungreifbar wie die Flamme und geben so dem Benehmen des manisch Kranken alles, was man an ihm an Lebhaftem, Unregelmäßigem und Brennendem kennt. 70 Das sind die nahen Ursachen; sie sind so nahe sogar, daß sie nicht viel mehr als eine qualitative Transkription all dessen zu sein scheinen, was in den Manifestationen der Krankheit am sichtbarsten ist. Diese Erregung, Unordnung, Hitze ohne Fieber, die den mit der Manie Behafteten zu beleben und ihm in der einfachsten, der unmittelbarsten melancbolicis, 2 vols., Paris 1765, Bd. 1, S. 3: »Corporis aegrotantis conditio illa in qua judicia a sensibus orienda nullatenus aut sibi inter se aut rei represcntatae responsant.« 70 Willis, a. a. O., Bd. 2, S. 25 J - 2 5 7 .
Wahrnehmung ein so charakteristisches Profil zu geben scheinen, werden hier durch die Analyse der nahen Ursachen vom Äußeren ins Innere, vom Gebiet der Wahrnehmung in das der Erklärung, von der sichtbaren Wirkung in die unsichtbare Bewegung der Ursachen verlegt. 71 Aber paradoxerweise transformiert sich das, was zunächst nur Eigenschaft war, beim Eindringen in das Feld des Unsichtbaren zum Bild; die Hitze-Eigenschaft wird zum Flammen-Bild; die Unordnung der Gesten und der Worte verfestigt sich in der unauflösbaren Verflechtung unwahrnehmbarer Furchen, und Werte, die an den Grenzen des moralischen Urteils lagen, dort, wo man sehen und berühren konnte, werden Dinge jenseits des Fühlens und Sehens; die Ethik wird, sogar ohne das Vokabular zu wechseln, zur Dynamik: »Die Kraft der Seele«, sagt Sydenham, »hängt, während sie im sterblichen Körper eingeschlossen ist, hauptsächlich von der Stärke der Lebensgeister ab, die ihr bei der Ausübung ihrer Funktionen als Instrumente dienen und die der feinste Teil des Stoffes und der der geistigen Substanz am nächsten kommende sind. So verursacht die Schwäche und Unordnung der Geister notwendig die Schwäche und Unordnung der Seele und macht sie zum Spielball der heftigsten Leidenschaften, ohne daß sie in irgendeiner Weise in der Lage wäre, dem zu widerstehen.«72 Zwischen den nahen Ursachen und ihren Wirkungen entsteht eine A r t unmittelbarer qualitativer Kommunikation ohne Unterbrechung und Vermittlung; es bildet sich ein System gleichzeitiger Präsenz, die im Bereich der Wirkung perzipierte Eigenschaft, im Bereich der Ursache unsichtbares Bild ist. Auf beiden Seiten ist die Kreisbewegung perfekt: man induziert das Bild von der Vertrautheit der Wahrnehmung her; und man deduziert die symptomatische Eigenartigkeit des Kranken von den körperlichen Eigenheiten, die man dem kausalen Bild zuweist. Tatsächlich ist das System der nahen Ursachen nur die Kehrseite des empirischen Erkennens der Symptome, eine A r t ursächlicher Wertung der Eigenschaften. 71 Im allgemeinen gehören die Lebensgeister in den Bereich des Unwahrnehmbaren. - Isbrandus van Diemerbroek, Opera amnia anatomica et medica, Utrecht 1685, Buch 8, Kapitel 1, vertritt ihre Unsichtbarkeit gegenüber Bartholin, der behauptete, sie gesehen z u haben (Institutions anatomiques, Buch 3, Kapitel 1). Gegenüber Jean Pascal, der sie gekostet und scharf gefunden hatte {La nouvelle découverte et les admirables effets des ferments dans le corps humain, Paris 1681), behauptete Albrechc von Haller, sie seien geschmacklos; ders., Elementa physiologiac corporis humani, 8 vols., Lausanne 1757-1766, Bd. 4, S. 371. 72 Sydenham, Dissertation sur l'affection hystérique, in: ders., Médecine pratique, S. 407.
Nun öffnet sich aber langsam im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts jener so eng gezogene Kreis, jenes Transpositionsspiel, das, indem es sich in einem imaginären Element spiegelt, sich um sich selbst dreht, weitet sich in einer jetzt linearen Struktur aus, in der das Wesentliche nicht mehr eine Kommunikation der Eigenschaft sein wird, sondern ganz einfach eine Tatsache des Vorhergehens; durch die Tatsache selbst muß die Ursache nicht mehr im imaginären Element, sondern im Inneren einer organisierten Wahrnehmung erkannt werden. Bereits in der Pathologie der Nervenstränge ist die Hauptsorge, die nahe Ursache zu sehen, ihr eine zuweisbare Existenz in der Wahrnehmung zu sichern. Nicht, daß die Eigenschaft und das Bild aus dieser neuen Struktur der nahen Ursächlichkeit verjagt werden; sondern sie müssen in ein sichtbares organisches Phänomen eingehüllt präsentiert werden, das verkleidet werden kann ohne Gefahr eines Irrtums oder kreisartiger Rückkehr wie das vorhergehende Faktum. Sein Übersetzer kritisiert Sydenham, weil er die Beziehung, die zwischen der Kraft der Seele »und der Kraft der Lebensgeister« hergestellt worden ist, nicht klar zu zeigen vermocht habe. »Dem kann man hinzufügen, daß die Idee, die wir von unseren Geistern haben, weder klar noch zufriedenstellend ist ( . . . ) . Die Stärke und Festigkeit der Seele, um uns der Ausdrücke unserers Autors zu bedienen, scheinen vor allem von den festen Stoffen abzuhängen, die über die ganze notwendige Elastizität und die nötige Weichheit verfügen, die bewirken, daß die Seele ihr Werk mit Kraft und Leichtigkeit ausführt.« 73 Mit der Physiologie der Fiber hat man ein ganzes materielles Netz, das als Wahrnehmungshilfe bei der Bezeichnung der nahen Ursachen dienen kann. Wenn in der T a t die Hilfe in ihrer materiellen Wirklichkeit gut sichtbar ist, ist die dem Wahnsinn als unmittelbare Ursache dienende Veränderung genau gesagt nicht wahrnehmbar; sie ist immer noch höchstens eine ungreifbare, fast moralische, in das Gewebe der Wahrnehmung eingerückte Eigenschaft. Paradoxerweise handelt es sich um eine rein physische, meist sogar mechanische Veränderung der Fiber, die sie aber nur unterhalb jeder möglichen Wahrnehmung und in der unendlich kleinen Determination ihres Funktionierens verändert. Die Physiologen, die die Fiber sehen, wissen wohl, daß man an ihr und in ihr keine Spannung oder meßbare Erschlaffung feststellen kann; sogar als er den N e r v eines Frosches erregte, stellte Morgagni keine Kontraktion fest; und darin bestätigte er, was Boerhaave, V a n Swie73 Ebda., Anmerkung.
ten, Hoffmann und Haller, alle Gegner der Nerven-Seil-Theorie und der Spannungs- und Kontraktionspathologien, bereits wußten. Aber die Ärzte, die Praktiker sehen auch etwas, und zwar etwas anderes: sie sehen einen manisch Kranken mit kontrahierten Muskeln, erstarrtem Gesicht, unregelmäßigen, heftigen Gesten, der auf die kleinste Erregung mit äußerster Lebhaftigkeit antwortet; sie sehen das auf den letzten Grad der Spannung gebrachte Nervensystem. Zwischen diesen beiden Wahrnehmungsformen, der der veränderten Sache und der der geänderten Eigenschaft, herrscht dunkel ein Konflikt im medizinischen Denken des achtzehnten Jahrhunderts.74 Allmählich aber setzt sich die erste Form durch, nicht ohne die Werte der zweiten mit sich zu nehmen. Und jene berühmten Zustände der Spannung, des Austrocknens, der Verhärtung, die die Physiologen nicht sahen, hat ein Praktiker wie Pomme mit seinen eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört, wobei er glaubte, über die Physiologen zu triumphieren, indessen der Kausalitätsstruktur zum Triumph verhalf, die sie selbst einzuführen versuchten. Uber den Körper einer Kranken gebeugt, hat er die Vibrationen eines zu sehr erregten Nervensystems gehört; und nachdem er sie zehn Monate lang jeweils zwölf Stunden täglich hat in Wasser einweichen lassen , hat er gesehen, wie die ausgetrockneten Elemente des Systems sich abgelöst haben und wie in das Bad »Teilen durchweichten Pergaments ähnliche häutige Teile« gefallen sind. 7 ' Schon triumphieren lineare und perzeptive Strukturen; man sucht keine qualitative Kommunikation mehr, beschreibt nicht mehr den Kreis, der von der Wirkung und ihren wesentlichen Werten bis zu einer Ursache aufsteigt, die nur die transponierte Bedeutung davon ist; es handelt sich nur darum, das einfache Ereignis, um es zu perzipieren, wiederzufinden, das auf die unmittelbarste A r t die Krankheit determinieren kann. Die nahe Ursache des Wahnsinns muß also eine sichtbare Veränderung jenes Organs sein, das der Seele am nächsten ist, das heißt des Nervensystems, und so weit wie möglich des Gehirns 74 Es müßte eine genaue Untersuchung darüber angestellt werden, was sehen in der Medizin des achtzehnten Jahrhunderts bedeutet. Es ist charakteristisch, daß in der Encyclopédie der Artikel, der der Physiologie der Nerven gewidmet und von Chevalier de Jaucourt unterzeichnet ist, die Theorie der Spannungen kritisiert, die als Erklärungsprinzip in den meisten Artikeln über Pathologie akzeptiert wird (vgl. den Artikel »Démence«). 75 Pierre Pomme, Traité des affections vaporeuses des deux sexes, Paris "1767, S. 94.
selbst. Die Nähe der Ursache wird nicht mehr in der Sinneinheit, der qualitativen Analogie gesucht, sondern in der möglichst strengen anatomischen Nähe. Die Ursache wird gefunden sein, wenn man die anatomische oder physiologische Störung (gleich, welcher Natur, welcher Form sie ist, oder auf welche A r t sie das Nervensystem befällt), die der Verbindung von Seele und Körper am nächsten ist, wird bezeichnen, einordnen und wahrnehmen können. Im siebzehnten Jahrhundert impliziert die nahe Ursache eine Gleichzeitigkeit und strukturelle Ähnlichkeit; im achtzehnten Jahrhundert beginnt sie, ein Vorhergehen ohne Vermittlung und eine unmittelbare Nachbarschaft zu implizieren. In diesem Geiste muß man die Entwicklung der anatomischen Forschungen über die Ursachen des Wahnsinns verstehen. Das Sepulcbretum von Bonet, 1679 zum ersten Mal veröffentlicht, schlug nur qualitative Beschreibungen vor, in denen der imaginäre Druck und die Last der theoretischen Themen die Wahrnehmung ablenkten und mit einem prädeterminierten Sinn beluden. Bonet hat bei der Autopsie das Gehirn der manisch Erkrankten trocken und zerreibbar gefunden, das der Melancholiker feucht und aufgeschwemmt; bei Demenz war die Hirnsubstanz sehr fest oder im Gegenteil sehr schlaff, in beiden Fällen fehlte ihr aber Elastizität.? 6 Fast ein halbes Jahrhundert später sind die Analysen von Meckel noch mit derselben Welt verwandt: der Eigenschaft; es handelt sich noch um die Frage der Trockenheit bei den manisch Kranken, um die Schwere und Feuchtigkeit im Fall von Melancholie. Aber diese Eigenschaften müssen jetzt wahrgenommen werden und zwar in einer durch strengen Maßstab von jedem gefühlsmäßigen Begreifen gereinigten Wahrnehmung. Der Zustand des Gehirns stellt nicht mehr die andere Version dar, die gefühlsmäßige Ubersetzung des Wahnsinns; er ist sozusagen pathologisches Ereignis und wesentliche Veränderung, die den Wahnsinn hervorruft. Das Prinzip der Versuche Meckels ist einfach. Er schneidet aus der Substanz des Gehirns und des Kleinhirns Kuben von »9, 6 und 3 Zwölftel eines Zolls (Fuß von Paris) in allen Richtungen«. Er kann beobachten, 76 Théophile Bonet, Sepulchretum sive Anatamia practica ex cadaveribus morbo äenatis propanens historias et observationes omnium pene humani corporis ajfectuum, 3 vols., Lyon ! I700, Bd. t , Sectio 8, S. 20$ f.; Sectio 9, S. 221 f. - Ebenso hat Lieutaud bei den Melancholikern gesehen, daß »die meisten Gefäße des Gehirns mit schwärzlichem, dickem Blut und die Bauchhöhlungen mit Wasser angefüllt waren, während bei einigen das H e r z ausgetrocknet und blutleer erschien«. (Précis de médecine pratique, Paris 17$9, Bd. 1, S. 201—203).
daß ein Kubus von einem halben Zoll, den man dem Gehirn einer bei voller Gesundheit verstorbenen Person, die nie schwer krank gewesen ist, entnimmt, eine Drachme und fünf Gran wiegt; bei einem jungen an Schwindsucht verstorbenen Mann wiegt das Gehirn nur eine Drachme und dreidreiviertel Gran und das Kleinhirn eine Drachme und drei Gran. In einem Fall von Brustfellentzündung bei einem Greis entsprach das Gewicht des Gehirns dem Normalwert, das des Kleinhirns lag etwas darunter. Erster Schluß: das Gewicht des Gehirns ist nicht konstant, es variiert mit verschiedenen pathologischen Zuständen. Zweitens: da das Gehirn bei Erschöpfungskrankheiten wie der Schwindsucht und das Kleinhirn bei den Krankheiten, bei denen die Säfte und flüssigen Körper in den Körper ablaufen, leichter sind, muß die Dichte dieser Organe auf die »Vollsaftigkeit der kleinen K a näle, die sich darin befinden«, zurückgeführt werden. N u n findet man aber bei den Wahnsinnigen Veränderungen gleicher Art. Meckel hat bei der Autopsie einer Frau, »die ohne Unterbrechung fünfzehn Jahre lang manisch krank und starr gewesen war«, festgestellt, daß »der aschgraue Stoff um das Gehirn« bei ihrem Gehirn außergewöhnlich blaß, die Marksubstanz sehr weiß gewesen ist; »diese war so hart, daß man sie nicht in Stücke schneiden konnte, und so elastisch, daß der Fingerdruck nicht darin blieb; sie ähnelte völlig einem weißen harten Ei.« Ein aus dieser Marksubstanz geschnittener Kubus von einem halben Zoll wog eine Drachme und drei Gran; der Gehirnkern hatte eine noch geringere Dichte; ein dem Kleinhirn entnommener Kubus wog wie beim Gehirn eine Drachme und drei Gran. Aber die anderen Wahnsinnsarten bringen andere Veränderungen mit sich; eine junge Frau, »die in Abständen irre gewesen war«, war im Anfall von Raserei gestorben; ihr Gehirn schien bei Berührung sehr dicht; die spinnenwebenartige Haut bedeckte ein rotes Blutwasser, aber die Marksubstanz selbst war ausgetrocknet und elastisch; sie wog eine Drachme und drei Gran. Also muß man schließen, daß »die Trockenheit der Markkanäle die Bewegungen des Gehirns und folglich den Gebrauch der Vernunft stören kann«; und daß umgekehrt »das Gehirn um so geeigneter für den ihm bestimmten Gebrauch ist, je geeigneter seine Markkanäle für die Sekretion der Nervensäfte sind«." Von geringer Bedeutung ist der theoretische Horizont, von dem sich die Arbeiten Meckels oder seine Hypothese eines vom Gehirn sekre-
77 »Nouvelles observations sur les causes physiques de la folie, lues à la dernière assemblée de l'Académie royale de Prusse«, in: Gazette salutaire, 31, z. August 1764.
tierten Nervensaftes, durch dessen Störung der Wahnsinn ausgelöst werden soll, abheben. Das Wesentliche ist im Augenblick die neue Form der Kausalität, die sich bereits in seinen Analysen abzeichnet. Diese Kausalität wird nicht mehr in dem Symbolismus der Eigenschaften, in der Tautologie der transponierten Bedeutungen gesucht, worin sie noch in den Arbeiten Bonets blieb; jetzt ist sie eine lineare Kausalität, in der die Veränderung des Gehirns ein in sich selbst wie ein Phänomen, das seine eigenen lokalen und quantitativen, in einer organisierten Wahrnehmung stets auffindbaren Werte hat, betrachtetes Ereignis ist. Zwischen dieser Veränderung und den Symptomen des Wahnsinns gibt es keinen anderen Zusammenhang, kein anderes Kommunikationssystem als eine extreme Nähe: diejenige, die aus dem Gehirn das der Seele nächste Organ macht. Die zerebrale Störung wird also ihre eigene Struktur haben - eine anatomische Struktur, die der Perzeption geboten wird - und die Geistesstörung ihre einzigartigen Manifestationen. Die Kausalität stellt sie nebeneinander, transponiert keine qualitativen Elemente von einer zur anderen. Die Autopsien Meckels rühren nicht von einer materialistischen Methodologie her; er glaubt nicht mehr und nicht weniger als seine Vorläufer und seine Zeitgenossen an die Determination des Wahnsinns durch einen organischen Befall. Aber er stellt den Körper und die Seele in eine nachbarliche Ordnung und in eine solche der kausalen Folge, die weder Rückkehr, noch Transposition, noch qualitative Kommunikation zuläßt. Diese Struktur sieht man noch vollständiger bei Morgagni und Cullen hervortreten. Die Hirnmasse spielt in ihren Analysen nicht mehr die einfache Rolle eines bevorzugten Anwendungspunktes der Kausalität; sie wird in sich ein differenzierter und heterogener kausaler Raum, der seine anatomischen und physiologischen Strukturen entwickelt und in diesem räumlichen Spiel die verschiedenen Formen des Wahnsinns determiniert. Morgagni läßt beobachten, daß in den Fällen von Manie und Tollheit, in denen das Gehirn von einer außergewöhnlich harten und festen Konsistenz ist, das Kleinhirn im Gegenteil seine herkömmliche Weichheit bewahrt; daß es, selbst in bestimmten krassen Fällen, ganz anders als das Gehirn, »extrem weich und schlaff ist«. Manchmal liegen die Unterschiede im Gehirn selbst; »während ein Teil härter und fester als gewöhnlich ist, sind andere Teile äußerst weich«.78 Cullen systematisiert diese Unterschiede und macht 78 Zitiert bei Cullen, a. a. O., Bd. 2, S. 295.
aus den verschiedenen Teilen des Gehirns den Hauptaspekt der organischen Störungen des Wahnsinns. Damit das Gehirn in einem N o r malzustand ist, muß sein Erregungszustand in den verschiedenen Teilen homogen sein: entweder ein Zustand erhöhter Erregung (wenn man wach ist), oder ein Zustand geringerer Erregung oder des K o l laps, wie im Schlaf. Wenn aber die Erregung oder der Kollaps ungleichmäßig im Gehirn verteilt sind, wenn sie sich mischen und ein heterogenes N e t z erregter und ruhender Sektoren bilden, ereignen sich, wenn die Person schläft, Träume, wenn sie wach ist, Anfälle von Wahnsinn. Es gibt also einen chronischen Wahnsinn, wenn diese Erregungszustände und die des Kollaps ungleich sind, fortgesetzt im Hirn erhalten bleiben und gewissermaßen in seiner Substanz fest werden. Deshalb weist das Gehirn der Wahnsinnigen bei der anatomischen Untersuchung harte, aufgeschwemmte Teile und andere auf, die weich und in einem mehr oder weniger vollständigen Zustand der Erschlaffung sind. 7 ' Man sieht, welche Entwicklung zur Zeit der französischen Klassik der Begriff der nahen Ursache vollzogen hat, oder vielmehr die Bedeutung, die die Kausalität innerhalb dieses Begriffs selber annimmt. Diese Umstrukturierung wird in der folgenden Zeit den Materialismus, den Organizismus und in jedem Fall die Anstrengung, zerebrale Lokalisierungen zu determinieren, ermöglichen; im Augenblick jedoch bedeutet sie keine Absicht dieser Art. Es handelt sich um viel mehr und um viel weniger; um weniger als das Eindringen eines Materialismus; und um mehr, weil die Kausalitätsform losgelöst ist, die seit dem siebzehnten Jahrhundert die Beziehungen zwischen Körper und Seele regelte; sie ist losgelöst vom geschlossenen Kreis der Eigenschaften und in eine offene Perspektive einer rätselhafteren und zugleich einfacheren Verkettung gelegt, die den zerebralen Raum und das System der psychologischen Zeichen in eine nicht zu beseitigende Folgeordnung stellt. Einerseits sind alle bedeutenden Kommunikationen gebrochen; aber andererseits wird nicht mehr die Gesamtheit des Körpers herangezogen, um die Struktur der nahen Ursache zu bilden; allein das Gehirn, insoweit es das Organ ist, das der Seele am nächsten kommt, und sogar einige seiner privilegierten Teile nehmen die Gesamtheit dessen auf, was man schnell aufhören wird, die nahen Ursachen zu nennen.
79 A . a. O., S. 292-296. 220
Der Begriff der entfernten Ursache vollzieht in der gleichen Zeit genau die entgegengesetzte Entwicklung. Anfangs wurde er allein durch das Vorangehen definiert - eine Nachbarschaftsbeziehung, die, ohne eine gewisse Willkür auszuschließen, kaum mehr als Koinzidenzen und Mischung von Fakten oder unmittelbare pathologische Transformationen gruppiert. Ettmüller gibt ein bezeichnendes Beispiel dafür bei der Aufzählung der Ursachen für Konvulsionen: die Nierenkolik, die scharfen Säfte der Melancholie, die Geburt während der Mondfinsternis, die Nähe von Metallminen, die Wut der Ziehmütter, Herbstfrüchte, Konstipation, Mispelkerne im Rektum und, auf unmittelbarere Weise, die Leidenschaften, vor allem die der Liebe.80 Allmählich bereichert sich die Welt der fernen Ursachen, gewinnt neue Gebiete, breitet sich in einer unzählbaren Vielfalt aus. Bald ist es das ganze organische Gebiet, und es gibt kaum Störungen, mangelnde oder übertriebene Sekretionen, falsches Funktionieren, die nicht in die Tabelle der fernen Ursachen des Wahnsinns aufgenommen werden können; Whytt nennt insbesondere die Winde, das Phlegma und den Schleim, das Vorkommen von Würmern, »Nahrungsmittel von schlechter Qualität, oder die in zu großer oder zu kleiner Menge verzehrten ( . . . ) , geschwulstartige Verstopfungen oder solche anderer Art«. 8 ' Alle Vorgänge in der Seele, vorausgesetzt, daß sie etwas heftig und übertrieben intensiv sind, können zu fernen Ursachen für den Wahnsinn werden: »Die Leidenschaften der Seele, die geistigen Anstrengungen, die angestrengten Studien, tiefen Meditationen, die Wut, die Traurigkeit, die Furcht, der lange und brennende Ärger, die verschmähte Liebe ( . . ,).«Sl Schließlich kann die äußere Welt mit ihren Veränderungen und Exzessen, ihren Heftigkeiten oder Kunststücken leicht den Wahnsinn hervorrufen, die Luft, wenn sie zu heiß, zu kalt oder zu feucht ist83, das Klima unter bestimmten Bedingungen84, das Leben in Gemeinschaft, »die Liebe zu den Wissenschaften und die literarische Bildung, die viel zu sehr verbreitet sind, ( . . . ) die Vermehrung des Luxus, die ein viel zu weiches Leben für Herren und
80 Michael Ettmüller, Pratique de médecine spéciale, Lyon 1691, S. 437 f. 81 'Whytt, Traité des maladies nerveuses (frz. Übersetzung), 2 vols., Paris 1777, Bd. i . S . Ζ57. 82 Encyclopédie, Artikel »Manie«. 83 Vgl. die anonyme Schrift: Observations convulsion, Paris 1732, S. 31.
de médecine sur la maladie
appelée
84 Vgl. Tissot, Traité des Nerfs, Bd. 2, S. 2 9 f . : »Das wirkliche Heimatland eines feinen Nervensystems liegt zwischen dem 45. und 55. Breitengrad.«
Domestiken nach sich zieht« 8 ', die Lektüre von Romanen, Theateraufführungen, alles, was die Vorstellungskraft belebt.86 K u r z gesagt, , nichts, oder fast nichts entgeht dem immer größeren Kreis der fernen Ursachen; die Welt der Seele, die des Körpers, die der Natur und die der Gesellschaft bilden eine ungeheure Reserve an Ursachen, aus der die Autoren des achtzehnten Jahrhunderts, so scheint es, gerne ohne große Sorgfalt bei der Beobachtung oder Sorge um die Organisation schöpfen, indem sie lediglich ihren theoretischen Präferenzen oder bestimmten moralischen Wünschen folgen. Dufour nimmt in seinen Traité de l'Entendement, ohne sie weiter aufzuteilen, die meisten der zu seiner Zeit anerkannten Ursachen auf: »Die evidenten Ursachen der Melancholie bestehen in allem, was diese Geister in eine bestimmte Richtung bringt, sie erschöpft und verwirrt; große und plötzliche Schrecken, heftige, durch freudige oder lebhafte Erregung verursachte Leiden der Seele, lange und tiefe Meditationen über denselben Gegenstand, eine heftige Liebe, Wachsein und jede heftige Anstrengung des besonders nachts beschäftigten Geistes; die Einsamkeit, die Furcht, Hysterie, alles, was die Bildung, Erneuerung, Zirkulation und die verschiedenen Sekretionen und Ausscheidungen des Blutes verhindert, vor allem in der Milz, dem Pankreas, im Netz, dem Magen, dem Gekröse, den Eingeweiden, den Brustwarzen, der Leber, dem Uterus, den Hämorrhoidalgefäßen; weiterhin das hypochondrische Leiden, von den schmerzhaften Krankheiten vor allem die Phrenesie und der Kausus, alle zu starken oder verhaltenen Medikationen oder Ausscheidungen, und infolgedessen der Schweiß, die Milch, die Menstruation, die Reinigung der Weiber nach der Geburt, der Speichelfluß und die eingedrungene Krätze. Der Dispermatismus ruft gewöhnlich das erotische Delirium, Erotomanie genannt, hervor; kalte, hartnäckige, harte, trockene, herbe, zusammenziehende Nahrungsmittel und solche aus der Erde, ähnliche Getränke, rohe Früchte, Mehlspeisen, die nicht vergoren sind, eine Hitze, die das Blut durch ihre lange Dauer und ihre große Heftigkeit verbrennt, dunkle, sumpfige, modernde Luft; die Disposition eines schwarz behaarten, trockenen, dünnen, männlichen Körpers, die Blüte des Alters, der wache, durchdringende, tiefe, studierfreudige Geist.«87 85 Anonymer Aufsatz in der Gazette salutaire, 40, 6. Oktober 1768. 86 Joseph Daquin, La Philosophie de la Folie ou Essai philosophique sur le traitement des personnes attaquées de folie, Paris 1792, S. 24 f. 87 Jean-Fr. Dufour, Essai sur les opérations de l'entendement humain et sur les maladies qui les dérangent, Amsterdam u. Paris, 1770, S. 361 f.
Diese beinahe unendliche Erweiterung der fernen Ursachen ist am Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine evidente Tatsache geworden; zur Zeit der großen Reform der Internierung war sie eine der seltenen Kenntnisse theoretischer Gelehrsamkeit, die so, wie sie war, übertragen worden ist: die neue Asylpraxis ist gerade die Polyvalenz und die Heterogenität der kausalen Verkettung in der Genese des Wahnsinns. Black hat bei der Analyse der Geisteskranken in Bedlam während der Zeit von 1772 bis 1787 folgende Lehre von den Ursachen der Krankheiten angegeben: »Erbliche Veranlagung; Trunksucht; übertriebenes Studium; Fieber; Geburtsfolgen; Verstopfung der Gefäße; Erschütterungen und Brüche; Geschlechtskrankheiten; Pocken; zu schnell ausgetrocknete Geschwüre; Unglücksfälle, Unruhe, Ärger; Liebe; Eifersucht; übertriebene Hingabe und Neigung zu der Sekte der Methodisten; Stolz.«88 Einige Jahre später liefert Giraudy dem Innenminister einen Bericht über die Situation in Charenton im Jahre 1804, in dem er er erklärt, die Möglichkeit gehabt zu haben, in 476 Fällen »genaue Auskünfte zu sammeln«, die ihm erlaubten, die Ursache der Krankheit festzustellen: »Hunderteinundfünfzig sind infolge eines lebhaften Angriffs auf die Seele krank geworden, so durch Eifersucht, nicht erwiderte Liebe, maßlose Freude, Ehrgeiz, Furcht, Schrecken, heftigen Ärger; zweiundfünfzig durch erbliche Veranlagung; achtundzwanzig durch Masturbation; drei durch syphilitische Viren; zwölf durch übertriebenen Geschlechtsverkehr; einunddreißig durch Alkoholmißbrauch; zwölf durch Überforderung der intellektuellen Fähigkeiten; zwei durch Würmer im Darm; eine durch die Folgen von Krätze; fünf durch Flechten; neunundzwanzig durch Milchmetastasen; zwei durch Sonnenbestrahlung.« 8 ' Die Liste der fernen Ursachen des Wahnsinns verlängert sich ständig. Das achtzehnte Jahrhundert zählt sie ohne Ordnung oder Privileg in einer wenig organisierten Vielfalt auf. Dennoch ist nicht sicher, daß diese Welt der Ursachen ebenso anarch ist wie sie scheint. Und wenn diese Vielfalt sich unendlich entfaltet, geschieht dies wahrscheinlich nicht in einem heterogenen und chaotischen Raum. Ein Beispiel wird uns gestatten, das Organisationsprinzip zu erfassen, das diese Unterschiedlichkeit der Ursachen gruppiert und ihre geheime Kohärenz sichert. Die Mondsüchtigkeit war im sechzehnten Jahrhundert ein ständiges SS William Black, A Dissertation on Insanity, London 2 I 8 I I , zitiert bei André Matthey, Nouvelles recherches sur les maladies de l'esprit, Paris χ 8 ιβ, S. 365. 89 Zitiert bei Esquirol, a. a. O., Bd. 2, S. 219.
und nie angegriffenes Thema; im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts noch häufig vorkommend, verschwindet es allmählich; 1707 verteidigt Le François eine These: »Estne aliquod lunae in corpora humana imperium? «; nach einer langen Diskussion gibt die Fakultät eine negative Antwort.' 0 Selten aber wird im achtzehnten Jahrhundert der Mond unter den - selbst beiläufigen, selbst unterstützenden — Ursachen des Wahnsinns genannt. Ganz am Ende des Jahrhunderts taucht nun aber das Thema wieder auf, vielleicht unter dem Einfluß der englischen Medizin, die es nie völlig vergessen hatte' 1 , und Daquin' 2 , dann Leuret' 3 und Guislain' 4 lassen den Einfluß des Mondes auf die manischen Phasen oder wenigstens auf die Erregung der Kranken zu. Das Wesentliche liegt aber nicht so sehr in der Rückkehr des Themas wie in der Möglichkeit und den Bedingungen seines Wiedererscheinens. In der Tat tritt es völlig verändert auf und mit Bedeutungen beladen, die es nie besessen hatte. In seiner traditionellen Form bezeichnete es einen unmittelbaren Einfluß - zeitliche Koinzidenz und räumliche Kreuzung - , dessen Aktionsweise gänzlich in der Kraft der Sterne lag. Bei Daquin hingegen entfaltet sich der Einfluß des Mondes gemäß einer ganzen Serie von Vermittlungen, die eine Hierarchie bilden und sich um den Menschen selbst winden. Der Mond wirkt mit einer solchen Intensität auf die Atmosphäre, daß sie eine so schwere Masse wie den Ozean in Bewegung setzen kann. Nun ist das Nervensystem von allen Teilen unseres Organismus das für atmosphärische Schwankungen empfindlichste, weil die geringste Temperaturveränderung, jede Veränderung in Feuchtigkeit und Trockenheit schwere Auswirkungen darauf haben können. Noch eher wird der Mond, dessen Lauf die Atmosphäre so tief durcheinander bringt, heftig auf die Personen einwirken, deren Nervenstränge besonders empfindlich sind: »Da der Wahnsinn eine reine Nervenkrankheit ist, muß das Gehirn der Wahnsinnigen also unendlich empfindlicher sein für den Einfluß dieser Atmosphäre, die selbst ihre Intensitätsgrade
90 Zur gleichen Zeit kritisiert J. Dumoulin in seinem Nouveau traité du rhumatisme et des vapeurs, Paris 2 i 7 i o , S. 209, die Vorstellung vom Einfluß des Mondes auf die Periodizität der Konvulsionen. 91 Richard Mead, A treatise concerning the influence of the sun and the moon, London 1748. 92 Daquin, a. a. O . 93 François Leuret und Mitivé, De la fréquence de pouls chez les aliénés, Paris 1832. 94 Joseph Guislain, Traité sur les phrénopathies ou Doctrine nouvelle des maladies mentales, Brüssel '1835, S. 46.
gemäß den verschiedenen Positionen des Mondes im Verhältnis zur Erde erhält.«" A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts findet sich die Mondsüchtigkeit, wie schon ein Jahrhundert zuvor, »geschützt vor jedem vernünftigen Angriff«. Auf eine ganz andere Weise jedoch; sie ist nicht mehr so sehr Ausdruck einer kosmischen Kraft wie das Zeichen einer besonderen Sensibilität des menschlichen Organismus. Wenn die Mondphasen einen Einfluß auf den Wahnsinn haben können, dann deshalb, weil sich um den Menschen herum Elemente gruppiert haben, gegenüber denen er, ohne sie bewußt zu empfinden, ein obskures Gefühl hat. Zwischen die ferne Ursache und den Wahnsinn hat sich einerseits das körperliche Empfinden, andererseits das Milieu, das der Körper verspürt, geschoben, die bereits eine Quasi-Einheit entwerfen, ein System der Zugehörigkeiten, das in einer neuen Homogenität die Gesamtheit der fernen Ursachen um den Wahnsinn organisiert. Das System der Ursachen hat also eine doppelte Entwicklung durchlaufen; im achtzehnten Jahrhundert haben die nahen Ursachen nicht aufgehört, sich anzunähern, indem sie zwischen der Seele und dem Körper eine lineare Verbindung herstellten, die den alten Kreis der Übertragung von Eigenschaften auslöschte. Die fernen Ursachen hörten, zumindest scheinbar, in der gleichen Zeit nicht auf, sich auszuweiten, zu vervielfachen und zu verstreuen, aber tatsächlich zeichnete sich unter dieser Ausweitung eine neue Einheit ab, eine neue Verbindungsform zwischen Körper und äußerer Welt. Im Laufe der gleichen Periode wurde der Körper zugleich zu einer Gesamtheit verschiedener Lokalisationen für Systeme linearer Kausalitäten; und zu der geheimen Einheit einer Sensibilität, die die verschiedensten, fernsten, heterogensten Einflüsse der äußeren Welt zu sich zurückbringt. Die medizinische Erfahrung des Wahnsinns gliedert sich nach folgender neuer Trennung: durch Unfall oder eine Störung des Körpers hervorgerufenes Phänomen der Seele; ein Phänomen, das den ganzen Menschen - Seele und Körper in einer gleichen Sensibilität verbunden - betrifft, das bestimmt wird durch eine Veränderung der Einflüsse, die das Milieu auf ihn ausübt; lokaler Befall des Gehirns und allgemeine Störung der Sensibilität. Man kann und muß gleichzeitig die Ursache des Wahnsinns entweder in der Anatomie des Gehirns, der Luftfeuchtigkeit oder dem Wechsel der Jahreszeiten oder den Erregungen durch 95 Daquin, a. a. O., S. 8z, 91; Giuseppe T o a l d o , Essai météorologique sur la véritable influence des astres, des saisons et changemens de temps, Chambéry 1784, übersetzt von Daquin.
Romanlektüre suchen. Die Präzision der nahen Ursache widerspricht nicht der diffusen Allgemeinheit der fernen Ursache. Sie sind beide nur extreme Punkte ein und derselben Bewegung, der Leidenschaft. 'Die Leidenschaft gehört zu den fernen Ursachen und liegt auf der gleichen Ebene wie alle anderen. In der Tiefe aber spielt sie in Wirklichkeit auch eine andere Rolle; und wenn sie in der Erfahrung des Wahnsinns zum Kreis der Kausalität gehört, löst sie einen zweiten solchen aus, der jedoch näher am Wesentlichen liegt. Sauvages skizzierte die grundlegende Rolle der Leidenschaft, indem er aus ihr eine konstantere, obstinatere und gleichsam mehr verdiente Ursache des Wahnsinns machte: »Die Verirrung unseres Geistes kommt nur daher, daß wir uns blind unseren Wünschen hingeben, daher, daß wir unsere Leidenschaften nicht bremsen oder mäßigen können. Daher rühren diese verliebten Delirien und Antipathien, der verdorbene Geschmack, die Melancholie, die durch den Ärger hervorgerufen wird, dieser Jähzorn, den eine Ablehnung in uns auslöst, diese Exzesse beim Trinken und Essen, diese Beschwerden und körperlichen Fehler, die den Wahnsinn, der die schlimmste aller Krankheiten ist, verursachen.«'6 Aber das ist nur ein moralischer Vorrang der Leidenschaft; es handelt sich auf eine konfuse A r t um seine Verantwortlichkeit; was aber durch diese Denunziation wirklich visiert wird, ist die sehr radikale Zugehörigkeit der Phänomene des Wahnsinns zur Möglichkeit der Leidenschaft. Vor Descartes und lange, nachdem sein Einfluß als Philosoph und Physiologe erloschen war, bestand die Leidenschaft als Kontaktfläche zwischen Körper und Seele; sie ist der Punkt, an dem sich die Aktivität und Passivität der beiden treffen, ist zugleich die Grenze, die sie sich gegenseitig setzen, und der O r t ihrer Kommunikation. Diese Einheit wird von der Medizin der Säfte als eine reziproke Kausalität verstanden. »Die Leidenschaften verursachen notwendig bestimmte Bewegungen in den Säften; die Wut bewegt die Galle, die Traurigkeit, die Melancholie, und die Bewegungen der Säfte sind manchmal so heftig, daß sie die ganze Ökonomie des Körpers umstürzen und sogar den Tod bewirken; außerdem erhöhen die Leidenschaften die Menge der Säfte; die Wut vervielfältigt die Galle, die Traurigkeit, die Melancholie. Die Säfte, die gewöhnlich von bestimmte Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 12.
ten Leidenschaften bewegt werden, überlassen den gleichen Leidenschaften die Säfte, von denen sie überreichlich haben, und machen an Gegenstände denken, durch die sie besonders erregt werden; die Galle macht für die Wut gefügig und an die denken, die man haßt. Die Melancholie disponiert für die Traurigkeit und das Denken an traurige Dinge; das wohl temperierte Blut disponiert für die Freude.«" Die Medizin der Lebensgeister ersetzt diesen vagen Determinismus der »Disposition« durch die Strenge einer mechanischen Transmission der Bewegungen. Wenn die Leidenschaften nur bei einem Wesen, das einen Körper hat, und zwar einen Körper, der nicht völlig durchdringbar ist für das Licht seines Geistes und für die unmittelbare Transparenz seines Willens, möglich sind, dann in dem Maße, in dem in und ohne uns und die meiste Zeit gegen unseren Willen die Bewegungen des Geistes einer mechanischen Struktur gehorchen, die die der Bewegung der Lebensgeister ist. »Vor dem Anblick des Objektes, auf das die Leidenschaft gerichtet ist, waren die Lebensgeister über den ganzen Körper verteilt, um dessen Teile insgesamt zu erhalten; bei Gegenwart des neuen Gegenstandes verwirrt sich diese ganze Ökonomie. Die Mehrzahl der Lebensgeister wird in die Muskeln der Arme, der Beine, des Gesichts und aller äußeren Teile des Körpers getrieben, um ihn für die Leidenschaft zugänglich zu machen, die herrscht, und um ihm die Fassung und die für die Annahme des Guten oder die Vermeidung des Bösen, das sich einstellt, nötige Bewegung zu geben.«' 8 Die Leidenschaft macht also die Geister gefügig, die für die Leidenschaft gefügig machen: das heißt, unter der Wirkung der Leidenschaft und in Gegenwart ihres Objekts zirkulieren, verstreuen sich und konzentrieren sich die Geister gemäß einer räumlichen Konfiguration, die die Spur des Objekts im Gehirn und sein Bild in der Seele privilegiert und so im körperlichen Raum eine A r t geometrischer Figur der Leidenschaft bildet, die lediglich die Übertragung des Ausdrucks ist; sie bildet aber auch den wesentlichen, ursächlichen Grund, weil der Geist, wenn alle Lebensgeister um den Gegenstand der Leidenschaft oder wenigstens um ihr Bild gruppiert sind, seinerseits nicht mehr die Bewegung seiner Aufmerksamkeit davon ablenken kann und folglich der Leidenschaft ausgesetzt ist. Noch einen Schritt weiter, und das ganze System wird sich auf eine 97 F. Bayle und Grangeon, Relation de l'état de quelques personnes prétendues possédées faite d'autorité au Parlement de Toulouse, Toulouse 1682, S. 16 f. 98 Nicolas Malebranche, Recherdie de la vérité, Buch 5, Kapitel 3, in der Ausgabe Lewis, Bd. 2, S. 89.
Einheit zusammenziehen, in der der Körper und die Seele unmittelbar in den symbolischen Werten der gemeinsamen Eigenschaften kommunizieren. Das ist in der Medizin der festen Stoffe und der flüssigen Körper geschehen, die die Praxis im achtzehnten Jahrhundert beherrscht. Spannungen und Schlaffheit, Härte oder Weichheit, Steifheit oder Entspannung, Verschleimung oder Austrocknung sind qualitative Zustände, die ebenso zur Seele wie zum Körper gehören und letzten Endes auf eine A r t indistinkter und gemischter Leidenschaftssituation hinführen, die ihre Formen, die der Verkettung von Ideen, dem Lauf der Gefühle, dem Zustand der Fibern und der Zirkulation der flüssigen Körper gemeinsam sind, aufzwingt. Das Thema der Kausalität erscheint hier als zu diskursiv, die von ihm gruppierten Elemente sind zu stark getrennt, als daß man seine Schemata anwenden könnte. »Sind die lebhaften Leidenschaften wie die Wut, die II Freude, die Begehrlichkeit« Ursachen oder Folgen »der zu großen I Kraft, der zu großen Spannung, der exzessiven Elastizität der Nervenfibern und der zu großen Aktivität der Nervenflüssigkeit«? Kön' nen umgekehrt »die Schwäche des Hirnmarks und der Nervenfibern, die sich auf die Organe verteilen, und der Mangel und die Trägheit der Flüssigkeiten« nicht ebenso gut den »matten Leidenschaften, wie der Furcht, der geistigen Ermattung, der Langweile, der Eßunlust, der Kälte, die das Heimweh begleitet, dem eigentümlichen Appetit, der Stupidität und dem fehlenden Erinnerungsvermögen« vorausgehen wie nachfolgen?" Man braucht wirklich nicht mehr zu versuchen, die Leidenschaft in eine kausale Folge oder auf halbem Wege zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen einzureihen; auf einer tieferen Ebene zeigt sie, daß die Seele und der Körper in einer ununterbrochenen metaphorischen Beziehung stehen, in der die Eigenschaften nicht mitgeteilt zu werden brauchen, weil sie bereits gemeinsam sind, und die Ausdrucksmittel keinen kausalen Wert anzunehmen brauchen, ganz einfach deshalb, weil die Seele und der Körper stets unmittelbarer Ausdruck voneinander sind. Die Leidenschaft befindet sich nicht mehr genau im geometrischen Zentrum der Gesamtheit Seele und Körper; sie befindet sich ein wenig diesseits von ihnen, dort, w o ihre Opposition noch nicht gegeben ist, in jener Region, auf die sich zugleich ihre Einheit und ihre Unterscheidung stützen. Aber auf dieser Ebene ist die Leidenschaft nicht mehr einfach eine der Ursachen, und sei es eine privilegierte, des Wahnsinns, sondern bildet 99 Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 291.
eher seine allgemeine Bedingung. Wenn es stimmt, daß ein Gebiet in den Beziehungen der Seele und des Körpers besteht, in dem sich Ursache und Wirkung, Determinismus und Ausdruck noch in einem so engen Raster kreuzen, daß sie in Wirklichkeit nur ein und dieselbe Bewegung bilden, die nur in der Folge aufgelöst wird; wenn es wahr ist, daß es vor der Gewalt des Körpers und der Lebhaftigkeit der Seele, vor der Weichheit der Fibern und der Erschlaffung des Geistes Arten von noch nicht getrennten Aprioriqualitativen gibt, die nachfolgend dem Organischen und dem Geistigen die gleichen Werte aufdrängen, begreift man, daß es möglicherweise Krankheiten wie den Wahnsinn gibt, die von Anfang an Krankheiten des Körpers und der Seele sind, Krankheiten, bei denen der Befall des Hirns von gleicher Beschaffenheit, von gleichem Ursprung und schließlich gleicher Natur ist wie der Befall der Seele. Die Möglichkeit des Wahnsinns wird in der Tatsache der Leidenschaft selbst gegeben. In der Tat sind lange vor der Zeit der französischen Klassik, und für eine lange Reihe von Jahrhunderten, die zweifellos noch nicht zu Ende ist, Leidenschaft und Wahnsinn nah beieinander gehalten worden. Lassen wir der Klassik ihre Originalität. Die Moralisten der griechisch-lateinischen Tradition hatten es richtig gefunden, daß der Wahnsinn die Strafe für Leidenschaft sei; um sich dessen besser zu vergewissern, hatten sie gern aus der Leidenschaft einen vorübergehenden und gemilderten Wahnsinn gemacht. Das klassische Denken verstand, eine Beziehung zwischen Leidenschaft und Wahnsinn zu definieren, die nicht zur Ordnung der frommen Wünsche, einer pädagogischen Drohung oder einer moralischen Synthese gehört; sie steht sogar in dem Maße in Bruch mit der Tradition, in dem sie die Begriffe der Verkettung umkehrt; sie gründet die Schimären des Wahnsinns auf die Natur der Leidenschaft; sie sieht, daß der Determinismus der Leidenschaften nichts anderes ist als eine dem Wahnsinn gebotene Freiheit, in die Welt der Vernunft einzudringen; und daß, wenn die nicht in Frage gestellte Einheit von Seele und Körper in der Leidenschaft die Begrenztheit des Menschen manifestiert, sie denselben Menschen gleichzeitig für die unendliche Bewegung öffnet, die sein Untergang ist. Der Wahnsinn ist nicht einfach eine der durch die Verbindung von Seele und Körper gegebenen Möglichkeiten, er ist nicht einfach eine der Folgen der Leidenschaft. Von der Einheit der Seele und des Körpers begründet, kehrt er sich gegen sie und stellt sie erneut in Frage.
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Der durdi die Leidenschaft ermöglichte Wahnsinn bedroht durch eine Bewegung, die ihm eigen ist, das, was die Leidenschaft selbst möglich "emadit hat. Er ist eine der Einheitsformen, in denen die Gesetze kompromittiert, pervertiert und verdreht werden, wodurch diese Einheit als evident und bereits gegeben, aber ebensowohl als zerbrechlich und bereits ihrem Untergang bestimmt, manifestiert wird. In einem bestimmten Augenblick, während die Leidenschaft ihre Bahn verfolgt, werden die Gesetze wie von selbst aufgehoben, hält die Bewegung plötzlich inne, ohne daß es einen Stoß gäbe oder daß irgendeine A r t der lebendigen Kraft absorbiert würde, oder die Bewegung setzt sidi in einer Multiplikation fort, die erst auf dem Höhepunkt eines Paroxysmus zum Stillstand kommt. Whytt räumt ein, daß eine lebhafte Emotion den Wahnsinn genauso hervorrufen wie der Stoß die Bewegung auslösen kann, aus dem einzigen Grunde, weil die Emotion gleichzeitig Stoß in der Seele und Erschütterung der Nervenfiber ist: »So bewirken die Geschichten, die traurigen Erzählungen, die das Herz rühren können, ein furchtbares Schauspiel, das man nicht erwartet, die große Sorge, die Wut, der Schrecken und die anderen Leidenschaften, die großen Eindruck madien, häufig die plötzlichsten und heftigsten nervösen Symptome.«' 00 Aber - und da beginnt der eigentliche Wahnsinn - es geschieht, daß diese Bewegung sich sofort durch ihren eigenen Exzeß auslöscht und mit einem Schlag eine Bewegungslosigkeit hervorruft, die zum Tode führen kann; als ob in der Medianik des Wahnsinns die Ruhe nicht erzwungenermaßen eine nichtige Ruhe sei, sondern auch eine in brutalem Bruch zu sich stehende Bewegung sein könnte, die unter der Wirkung ihrer eigenen H e f tigkeit plötzlich zum Widersprudi und der Unmöglidikeit, sich fortzusetzen, kommt. »Es ist nicht ohne Beispiel, daß die Leidenschaften, wenn sie sehr heftig sind, eine Art Tetanus oder Katalepsie haben entstehen lassen, so daß die Person dann mehr einer Statue als einem Lebewesen glich. Schlimmer noch ist, daß mehr als einmal der rasche Tod die Folge von bis zum Exzeß getriebenem Schrecken, von Niedergeschlagenheit, Freude und Schani war.« 10 ' 100 Whytt, a. a. O., Bd. 2, S. 288 f. 101 Whytt, a. a. O., Bd. 2, S. 291; das Thema der exzessiven Bewegung, die zur Immobilität und zum Tode führt, ist in der klassisdien Medizin sehr häufig. Vgl. verschiedene Beispiele in Le Temple d'Esculape, 16S1, Bd. 3, S. 79-S5; bei Johann Nicolas Pcchlin, Observjtiomim physico-medicariim libri très, Hamburg 1691, Buch 3, observatio 23. Zu den Gemeinplätzen der Medizin gehörte der Fall des Kanzlers Bacon, der einen Anfall erlitt, wenn er eine Mondfinsternis sah.
Umgekehrt kommt es vor, daß die Bewegung, die von der Seele zum Körper und vom Körper zur Seele geht, sich unendlich in einer Art Raum der Unruhe ausbreitet, sicher viel näher dem, in den Malebranche die Seelen gelegt hat, als dem, in den Descartes die Körper versetzt hat. Die oft von einem schwachen äußerlichen Stoß hervorgerufenen unwahrnehmbaren Bewegungen häufen sich, weiten sich aus und enden damit, daß sie in heftige Konvulsionen ausbrechen. Lancisi erklärte bereits, daß die adligen Römer oft an »vapeurs« litten — hysterischen Zusammenbrüchen, hypochondrischen Anfällen - , weil im Hofleben, das sie führten, »ihr ständig zwischen Furcht und Hoffnung hin- und hergeworfener Geist nie einen Augenblick Ruhe hat«.10* Für viele Ärzte führt das Leben in der Stadt, bei Hofe, in den Salons durch jene Multiplizität der Erregungen, die sich häufen, verlängern, ununterbrochen erschüttert werden, ohne sich jemals zu mildern, zum Wahnsinn 103 ; vorausgesetzt, daß es ein wenig intensiv ist, gibt es in dem Bild und den Ereignissen, die dessen organische Version bilden, eine gewisse Kraft, die, indem sie sich vervielfacht, bis zum Delirium führen kann, als könnte die Bewegung, statt an Kraft zu verlieren, während sie sich mitteilt, andere Kräfte in ihrer Spur mit sich ziehen und aus dieser Komplizität eine zusätzliche Kraft schöpfen. So erklärt Sauvages die Entstehung des Deliriums als einen bestimmten Eindruck von Furcht, der an die Übersättigung oder an den Druck eines Markstranges gebunden ist; diese Furcht ist auf ein Objekt beschränkt, so wie diese Übersättigung streng auf einen Ort festgelegt ist. In dem Maße, wie diese Furcht fortbesteht, gewährt die Seele ihr mehr Aufmerksamkeit, isoliert sie und löst sie mehr von allem, was nicht sie selbst ist. Aber diese Isoliertheit stärkt sie, und die Seele neigt dazu, ihr eine ganze Reihe von mehr oder weniger fernen Ideen nach und nach anzuheften, weil sie ihr ein zu partikuläres Schicksal bereitet hat: »Sie verbindet mit dieser einfachen Idee alle, die geeignet sind, sie zu nähren und zu vermehren. Ein Mensch, der sich zum Beispiel im Schlaf vorstellt, daß man ihn eines Verbrechens beschuldige, assoziiert sofort bei dieser Idee die Henkersknechte, Richter, Henker, den Galgen.« 104 Dadurch, daß sie so mit all diesen neuen ι Elementen beladen ist und sie hinter sich herzieht, erhält die Idee gel o i Giovanni Lancisi, De nativis deque adventitiis romani cocli qualitatibus, Genf 1718, Kapitel 17. 103 Vgl. unter anderen Tissot, Observations sur la santé des gens du monde, Lausanne 1760, S. 30 f. J04 iioissier de Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. a i f.
wissermaßen eine Oberfülle an Kraft, die sie auch für die größten Anstrengungen des Willens unwiderstehlich werden läßt. Der Wahnsinn, der seine erste Möglichkeit in der Tatsache der Leidensdiaft und in der Entfaltung jener doppelten Kausalität findet, die, von der Leidenschaft selbst ausgehend, gleichzeitig in den Körper und in die Seele ausstrahlt, ist zur gleichen Zeit suspendierte Leidenschaft, Bruch der Kausalität, Befreiung der Elemente von dieser Einheit. Er nimmt gleichzeitig teil an der Notwendigkeit der Leidenschaft und an der Anarchie dessen, was sidi, durch diese Leidenschaft ausgelöst, wohl über sie hinaus bewegt und so weit geht, alles, was sie voraussetzt, in Frage zu stellen. Er ist letzten Endes eine so heftige Bewegung der Nerven und Muskeln, daß ihm nichts im Laufe der Bilder, der Ideen oder des Willens zu entsprechen scheint: so ist es im Falle der Manie, wenn sie sich plötzlich bis zu Konvulsionen verstärkt, oder wenn sie die fortgesetzte Tollheit definitiv degeneriert. 10 ' Umgekehrt kann er während der Ruhe oder Trägheit des Körpers eine Seelenbewegung entstehen lassen und dann ohne Pause oder Beruhigung aufrechterhalten, wie es bei der Melancholie geschieht, w o die äußeren Gegenstände auf den Geist des kranken Menschen nicht den gleichen Eindruck machen wie auf den eines gesunden. »Seine Eindrücke sind schwadi und er achtet selten darauf; sein Geist ist beinahe völlig durch die Lebhaftigkeit der Ideen absorbiert.«'06 •Diese Trennung in äußere Bewegungen des Körpers und den Lauf der • Ideen zeigt wirklich nicht ganz genau, daß die Einheit von Körper und Seele aufgelöst ist, noch, daß beide im Wahnsinn ihre Autonomie wiedererlangen. Zweifellos ist die Einheit in ihrer Strenge und Totalität aufs Spiel gesetzt, aber sie spaltet sich an den Linien, die sie in willkürlidie Sektoren teilen, ohne sie zu beseitigen. Wenn der Melancholiker sich nämlich auf eine delirierende Idee fixiert, ist die Seele nicht allein am Werk; sondern die Seele mit dem Gehirn, die Seele mit den Nerven, ihrem Ursprung und ihren Fibern: ein ganzes Segment der Einheit von Seele und Körper, das sich so von der Gesamtheit und besonders von den Organen löst, durch die sich die Wahrnehmung der Wirklichkeit realisiert. Das gleiche geschieht bei den Konvulsionen und der heftigen Bewegung; die Seele ist nicht aus dem Körper ausgeschlossen, sondern wird so schnell von ihm mitgerissen, daß sie nicht j
10 j Dufour, a. a. O., S. }66 f. ist sidi mit der Encyclopédie Furor nur eine gradmäßige Abstufung der Manie ist.
darin einig, daß der
106 De la Rive, »Sur un établissement pour la guérison des aliénés«, in: Britannique, S, S. 304.
Bibliothèque
alle ihre Darstellungen bewahren kann, daß sie sidi von ihren Erinnerungen, von ihren Willensregungen, von ihren festesten Ideen trennt und so, von sich selbst und allem, was im Körper fest bleibt, isoliert, sidi von den beweglichsten Fibern forttragen läßt; nichts in ihrem Verhalten paßt dann noch zur Realität, zur Wahrheit oder Weisheit; die Fibern können in ihrer Vibration das gut nachvollziehen, was sich in der Wahrnehmung abspielt, der Kranke kann die Unterscheidung nicht treffen : »Das schnelle und ungeordnete Pulsieren der Arterien oder jede andere Störung drücken in der gleichen Bewegung auf die Fibern (wie in der Wahrnehmung); sie stellen Gegenstände als gegenwärtig dar, die es nicht sind, und als wahr solche, die schimärisch sind.«107 ^ Im Wahnsinn zerstückelt sidi die Totalität der SeeleuncTdeTKörpers, nicht gemäß den Elementen, die sie metaphysisch konstituieren, sondern gemäß den Gestalten, die in einer Art lächerlicher Einheit Körpersegmente und Ideen von der Seele einschließen; Fragmente, die den Menschen von sich selbst, aber vor allem von der Realität isolieren; Fragmente, die, indem sie sich loslösen, die irreale Einheit eines Phantasmas bilden und sie durch die Kraft dieser Autonomie der Wahrheit aufdrängen. »Der Wahnsinn besteht nur in der Regellosigkeit der Vorstellungskraft.« 1 " 8 Mit anderen Worten: der Wahnsinn ist, mit der Leidenschaft beginnend, noch nichts anderes als eine lebhafte Bewegung in der verhältnismäßigen Einheit von Seele und Körper; das ist die Ebene des Unvernünftigen; aber diese Bewegung entgeht der Vernunft der Mechanik schnell und wird in ihren Heftigkeiten, Betäubungen, ihren wahnsinnigen Verbreitungen zur irrationalen Bewegung; und während es dann dem Gewicht der Wahrheit und ihren Zwängen entgeht, hebt sich das Irreale hervor. Dadurch wird der dritte Kreis angezeigt, den wir jetzt durchlaufen müssen, ein Kreis der Schimären, Phantasmen und des Irrtums. Nach dem der Leidenschaft ist das der Kreis des Nicht-Seins. Hören wir, was in diesen phantastischen Fragmenten gesagt wird. Bild heißt nicht Wahnsinn. Es mag stimmen, daß in der Willkür des Phantasmas die Geisteszerrüttung ihren ersten Zugang zur nichtigen Freiheit findet, der Wahnsinn aber beginnt erst ein wenig später, wenn der Geist sich mit jener Willkür verbindet und Gefangener jener scheinbaren Freiheit wird. In dem Augenblick, da man aus einem 107 Encyclopédie, Artikel »Manie«. [öS VAme matérielle, S. 169.
Traum erwacht, kann man wohl feststellen: »Ich bilde mir ein, tot zu sein.« Dadurch denunziert man und mißt die Willkür der Vorstellungskraft, ist aber nidit wahnsinnig. Wahnsinn liegt vor, wenn der Mensch als Affirmation setzt, daß er tot sei, und den noch neutralen Inhalt des Bildes »ich bin tot« als Wahrheit gelten läßt. Und so wie das Bewußtsein von der Wahrheit nidit durch die alleinige Gegenwart des Bildes mitgerissen wird, sondern in dem A k t , der das Bild begrenzt, konfrontiert, vereint oder dissoziiert, so nimmt auch der Wahnsinn seinen Anfang nur in dem A k t , der dem Bild den Wert der Wahrheit gibt. Es gibt eine Erbunschuld der Vorstellungskraft: »Imaginatio ipsa non errat quia neque negat neque affirmat, sed fixatur tantum in simplici contemplatione phantasmatis.« 10 ' Nur der Geist kann bewirken, daß das, was im Bild gegeben ist, zur mißbräudiliI chen Wahrheit, das heißt zum Irrtum, oder zum erkannten Irrtum, das heißt zur Wahrheit wird: »Ein betrunkener Mann glaubt, zwei Kerzen zu sehen, wo nur eine ist; wer schielt und gebildet ist, erkennt sofort seinen Irrtum und gewöhnt sich daran, nur eine zu sehen.«110 Der Wahnsinn liegt also jenseits des Bildes und ist dennoch tief darin verwurzelt, denn er besteht allein darin, es spontan als totale und ,absolute Wahrheit gelten zu lassen. Der A k t des vernünftigen Men" sehen, der zu Recht oder zu Unrecht ein Bild als wahr oder falsch be-
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jliurteilt, liegt jenseits dieses Bildes, er geht darüber hinaus und mißt es II an dem, was es nicht ist. Der A k t des irren Menschen überschreitet nie das sich zeigende Bild. Er läßt sich durch dessen unmittelbare Lebhaftigkeit einnehmen und unterstützt es mit seiner Affirmation nur in dem Maße, in dem er von ihm umfaßt wird: »Eine Menge Menschen, um nicht zu sagen alle, werden nur wahnsinnig, weil sie sich zu sehr mit einem Gegenstand beschäftigt haben.« 111 Im Inneren des Bildes und unfähig, seiner Beschlagnahme zu entgehen, ist der Wahnsinn doch mehr als das Bild, bildet er einen A k t geheimer Konstituierung. Dies ist ein A k t des Glaubens, der Bestätigung und Verneinung — eine Rede, die das Bild unterstützt und zugleich bearbeitet, aushöhlt, es über die Länge einer Überlegung hin spannt und es um ein Sprachsegment gruppiert. Der Mann, der sich einbildet, daß er aus Glas sei, ist nicht wahnsinnig, denn jeder Schläfer kann dieses Bild in seinem Traum haben; aber er ist wahnsinnig, wenn er in dem Glauben, er sei
Î aus Glas, den Schluß zieht, er sei zerbrechlich, drohe entzweizugehen, 109 Zacchia, a. a. O., Buch 2, Titel 1, Frage 4, S. 119. n o Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 15. m A . a. Q . , B d . 7, S. 20.
dürfe also keinen Gegenstand, der zu resistent ist, berühren, müsse unbeweglich bleiben, usw." 2 Diese Überlegungen sind die eines Irren, aber noch muß man darauf hinweisen, daß sie in sich nicht absurd oder unlogisch sind. Im Gegenteil sind die zwingendsten Figuren der Logik dabei korrekt angewandt. Zacchia hat es nidit sdiwer, sie in all ihrer Strenge bei den Geisteskranken wiederzufinden. Bei einem, der den Hungertod wählte, fand sidi folgender Syllogismus: »Die Toten essen nicht; nun bin ich aber tot; also darf ich nicht essen.« Ein an Verfolgungswahn leidender Mann gebrauchte eine unendlich verlängerte Induktion: »Der, der und der sind meine Feinde; nun sind aber alle Männer; folglich sind alle Männer meine Feinde.« Ein anderer gebrauchte folgendes Enthymema: »Die meisten, die dieses Haus bewohnt haben, sind tot, also bin ich, der ich dieses Haus bewohnt habe, tot.«11* Dies ist die wunderbare Logik der Irren, die sich über die der Logiker lustig zu machen scheint, weil sie ihr zum Verwechseln ähnelt, oder vielmehr, weil sie genau dieselbe ist, und weil man im geheimsten Punkt des Wahnsinns, auf dem Grund so vieler Irrtümer, so vieler Absurditäten, so vieler folgenloser Worte und Gesten schließlich die tief verstechte Vollkommenheit einer Rede entdeckt. »Ex quibus«, schließt Zacchia, »vides quidem intellectum optime discurrere.« Die äußerste Sprache des Wahnsinns ist die der Vernunft, aber eingehüllt in den Zauber des Bildes, begrenzt auf den Erscheinungsraum, den es definiert, wodurch sie beide außerhalb der Totalität der Bilder und der Universalität der Rede eine eigenartige mißbräuchliche Organisation schaffen, deren obstinate Besonderheit den Wahnsinn bildet. Dieser ist also, genau gesagt, nicht gänzlich im Bild, das von sich selbst aus weder wahr noch falsch, noch vernünftig, noch wahnsinnig ist, er ist auch nicht in der Überlegung, die eine einfache Form ist und nur die unbezweifelbaren Figuren der Logik enthüllt. Dennoch ist der Wahnsinn in beiden, in einer besonderen Figur ihrer Beziehung. Nehmen wir ein Beispiel, das Diemerbroek angeführt hat. Ein Mann war von tiefer Melancholie befallen. Wie alle Melancholiker hatte er seinen Geist auf eine fixe' Idee gerichtet, und diese Idee war für ihn die Gelegenheit einer immer wieder erneuerten Traurigkeit. Er beschuldigte sich, seinen Sohn getötet zu haben, und auf der Höhe seiner Gewissensbisse sagte er, Gott habe zu seiner Strafe einen Dämon neben ihn gestellt, um ihn zu versuchen wie der, der den Herrn verni
Daquin, a. a. O., S. 30.
113 Zacchia, a. a. O., Buch 2, Titel 1, Frage 4, S. i z o .
sucht hatte. Er sah diesen Dämon, sprach mit ihm, hörte seine Vorwürfe und antwortete. Er verstand nicht, daß niemand in seiner Umgebung dessen Gegenwart zugeben wollte. Darin besteht also der Wahnsinn: diese Gewissensbisse, dieser Glaube, diese Halluzinationen, diese Reden, kurz die Gesamtheit der Überzeugungen und Bilder, die ein Delirium konstituieren. Nun versucht Diemerbroek zu ergründen, welche »Ursachen« dieser Wahnsinn hat, wie er entstehen konnte. Er kommt zu folgendem Ergebnis: der Mann war mit seinem Sohn baden gegangen, wobei dieser ertrank. Seitdem betrachtete sich der Vater als verantwortlich für diesen Tod. Die Entwicklung dieses Wahnsinns kann man auf folgende Weise rekonstruieren. Der Mann hält sich für schuldig und sagt sich, daß vor Gott die Tötung eines Menschen verrudit sei; daher kommt in seine Vorstellungskraft, daß er für die Ewigkeit verdammt ist. D a er weiß, daß die größte Strafe der Verdammnis darin besteht, dem Teufel ausgeliefert zu sein, sagt er sich, »daß ein fürchterlicher Dämon ihm zugesellt ist«. Er sieht diesen Dämon noch nicht, da er aber »den Gedanken nicht aufgibt« und ihn »für sehr wahr hält, zwingt er seinem Hirn ein bestimmtes Bild von diesem Dämon auf. Dieses'Bild bietet sich seiner Seele durch die Tätigkeit des Gehirns und der Lebensgeister mit solcher Klarheit an, daß er fortwährend glaubt, den Dämon selbst zu sehen.«114 Im Wahnsinn, so wie er von Diemerbroek analysiert worden ist, gibt es also zwei Ebenen, deren eine sich aller Augen zeigt: Traurigkeit ohne Grund bei einem Mann, der sich zu unrecht beschuldigt, seinen Sohn ermordet zu haben; eine depravierte Vorstellungskraft, die sich Dämone einbildet; eine entmäntelte Vernunft, die mit einem Phantom spricht Man findet jedoch eine tieferliegende strenge Organisation, die sich der fehlerlosen Waffenkammer der Rede bedient. Diese Rede zieht in ihrer Logik den festesten Glauben auf sich, geht mit Urteilen und miteinander verketteten Überlegungen vor; sie ist eine Art tätiger Vernunft. Kurz, unter dem ungeordneten und manifesten Delirium herrscht die Ordnung eines geheimen Deliriums. In diesem zweiten Delirium, das in einem bestimmten Sinn reine Vernunft, von allem äußeren Flitter der Demenz befreite Vernunft ist, sammelt sich die paradoxale Wahrheit des Wahnsinns; und dies in einem doppelten Sinne, denn man findet darin das, was bewirkt, daß der Wahnsinn wahr ist (unabweisbare Logik, vollkommen organisierte Spra-
114 Diemerbroek, Disputationes practicae de morbis capitis, anatomica et medica, Utrecht 168;, Historia 3, S. 4 f.
in: Opera
omnia
che, fehlerlose Verkettung in der Transparenz einer virtuellen Sprache), und was dieses zweite Delirium wirklich zum Wahnsinn macht, (seine eigene Natur, der strenge Stil mit seinen Besonderheiten in allen seinen Manifestationen und die innere Struktur des Deliriums). Noch tiefer jedoch ist diese delirierende Sprache letzte Wahrheit des Wahnsinns in dem Maße, in dem sie seine organisatorische Form, das determinierende Prinzip aller seiner Manifestationen, sei es jener des Körpers oder jener der Seele, ist. Denn wenn der Melancholiker bei Diemerbroek sich mit seinem Dämon unterhält, geschieht das deshalb, weil das Bild dieses Dämons durch die Lebensgeister in die immer geschmeidige Hirnmasse gegraben worden ist. Aber diese organische Gestalt ist ihrerseits nur die Umkehrung einer Sorge, die den Geist des Kranken besetzt hat, sie stellt in gewissem Sinne die Ablagerung eines unendlich wiederholten Diskurses, der die Bestrafung betrifft, die Gott den der Tötung Schuldigen vorbehalten hat, im Körper dar. Der Körper und die Spuren, die er verbirgt, die Seele und die Bilder, die sie perzipiert, sind in der Syntax der delirierenden Sprache nur nodi Anschwemmung. Um nicht dem Vorwurf Vorschub zu leisten, wir erstreckten diese Analyse nur auf eine einzige Beobachtung eines einzigen Autors (eine privilegierte Beobachtung, weil es sich um ein melancholisches Delirium handelt), werden wir versuchen, diese fundamentale Rolle der delirierenden Rede in der klassischen Konzeption des Wahnsinns bestätigen zu lassen, und zwar bei einem anderen Autor, zu einer anderen Zeit und bei einer ganz anderen Krankheit. Es handelt sich um einen Fall von »Nymphomanie«, den Bienville beobachtet hat. Die Vorstellungskraft eines jungen Mädchens, »Julie«, war durch frühzeitige Lektüre entflammt und durch die Äußerungen einer Dienerin geschürt worden, die »in die Geheimnisse der Venus eingeweiht, in den Augen der Mutter die tugendhafte Agnes«, aber »eine hilfreiche und wollüstige Intendantin der Vergnügungen des Mädchens war«. Dennoch kämpft Julie mit allen Eindrücken, die sie während ihrer Erziehung erhalten hat, gegen die für sie neuen Lüste; der verführerischen Sprache der Romane stellt sie die gelernten Lektionen der Religion und der Tugend entgegen; ihre Vorstellungskraft mag noch so lebhaft sein, sie dämmert nicht in der Krankheit dahin, so stark ist ihre Kraft, »sich folgende Gedanken zu machen: es ist nicht erlaubt noch ehrenhaft, einer so schändlichen Leidenschaft zu gehorchen«. 11 ' 115 J.-D.-T. de Bienville, La Nymphomanie, sterdam 1771, S. 140-153.
oh Traité de la fureur utérine, A m -
Aber die gefährlichen Reden und die Lektüren werden zahlreicher. Mit jedem Augenblick verstärken sie die Erregung der Fibern, die schwächer werden. Schließlich verwischt sich allmählich die fundamentale Sprache, durch die sie bisher widerstanden hatte: »Bis dahin hatte die Natur allein gesprochen, aber bald spielten die Illusion, die Schimäre und die Ungereimtheit ihre Rolle; endlich bekam sie die unselige Kraft, in sich die fürchterliche Maxime zu billigen: nichts ist so schön und süß wie der Gehorsam gegen die Liebeslüste.« Diese grundlegenden Worte öffnen die Tore zum Wahnsinn. Die Vorstellungskraft befreit sich, die Triebe vergrößern sich weiter, und die Fibern erreichen den höchsten Grad der Erregung. In seiner lapidaren Form des moralischen Prinzips führt das Delirium direkt zu Konvulsionen, die das Leben in Gefahr bringen können. A m Ende dieses letzten Kreises, der mit der Freiheit des Phantasmas begonnen hatte und der jetzt mit der Strenge einer delirierenden Sprache abschließt, können wir feststellen: ι An dem Wahnsinn der klassischen Epoche gibt es zwei Formen des ßeliriums. Eine besondere, symptomatische, einigen Geisteskrankheiten und besonders der Melancholie eigene Form; in diesem Sinne kann man sagen, daß es Krankheiten mit und ohne Delirium gibt. Auf jeden Fall ist dieses Delirium stets manifest und integrierender Bestandteil der Anzeichen des Wahnsinns; es ist seiner Wahrheit immanent und bildet nur einen seiner Sektoren. Aber es gibt noch ein anderes Delirium, das nicht immer erscheint, nicht vom Kranken im Laufe seiner Krankheit formuliert wird, aber in den Augen desjenigen existieren muß, der bei der Untersuchung der Krankheit von ihren Ursptüngen an ihr Rätsel und ihre Wahrheit zu formulieren versucht. z) Dieses Delirium existiert implizit in allen Geistesveränderungen, selbst dort, wo man es am wenigsten erwarten würde. Dort, wo es sidi nur um die Frage schweigsamer Gesten, wortloser Heftigkeiten, eigenwilligen Benehmens handelt, besteht für das klassische Denken kein Zweifel daran, daß ständig ein Delirium zugrunde liegt und jedes dieser besonderen Zeichen mit der allgemeinen Essenz des Wahnsinns verbindet. Der Dictionnaire von James fordert ausdrücklich dazu auf, als Delirierende zu betrachten »die Kranken, die durch Fehler oder Exzesse in einigen der freiwilligen Handlungen in einer der Vernunft und dem Anstand entgegengesetzten Weise sündigen; wenn ihre Hand zum Beispiel damit, Wollflocken abzureißen, oder mit einer Handlung, die der des Fliegenfangens ähnelt, beschäftigt ist; oder wenn ein Kranker gegen seine Gewohnheit handelt und dies
ohne Grund, oder wenn er zuviel oder zu wenig im Vergleidi zu sonst spricht; wenn er obszöne Worte spricht, sonst aber gesund ist, in seinen Reden gemessen und dezent bleibt, und wenn er Worte ausspricht, die ohne Zusammenhang sind, oder wenn er weniger stark als notwendig atmet, oder wenn er seine Schamteile entblößt, während andere um ihn herumstehen. Wir halten auch diejenigen für delirierend, deren Geist von einer Störung in den Sinnesorganen betroffen ist oder die ihn anders als gewöhnlich benutzen, wenn zum Beispiel ein Kranker eine willentliche Handlung nicht tun kann oder zur Unzeit hanerstanden bedeckt die Rede das ganze Ausdehnungsfeld des v/ Wahnsinns. Wahnsinn bezeichnet in der Klassik dem Sinn nach nicht so sehr eine determinierte Veränderung im Geist oder Körper, sondern die Existenz einer delirierenden Rede unter Veränderungen des Körpers, unter bizarrem Benehmen und Sprechen. Die einfachste und allgemeinste Definition, die man vom Wahnsinn zur Zeit der französischen Klassik geben kann, ist die des Deliriums: »Dieses Wort ist von lira, einer Rille abgeleitet; so daß deliro eigentlich »sich von der Rille entfernen< bedeutet, >vom geraden Weg der Vernunft abkommen^«" 7 Die Nosographen des achtzehnten Jahrhunderts, darüber sollte man nicht staunen, rechnen oft den Taumel und, seltener, die hysterischen Konvulsionen zu den Wahnsinnsarten. Es ist nämlich oft unmöglich, hinter diesen die Einheit einer Rede zu finden, während sich im Taumel die delirierende Bestätigung abzeichnet, daß die Welt sich tatsächlich dreht." 8 Dieses Delirium ist die notwendige und ausreichende Bedingung dafür, daß eine Krankheit Wahnsinn genannt wicch 4) Die Sprache ist die erste und letzte Struktur des Wahnsinns. Sie ist die ihn bildende Form; auf ihr ruhen alle Kreise, in denen er seine Natur ausdrückt. D a ß das Wesen des Wahnsinns sich schließlich in der einfachen Struktur einer Rede definiert, bringt ihn nicht auf eine rein psychologische Natur zurück, sondern gibt ihm Gewalt über die Gesamtheit von Seele und Körper; diese Rede ist zugleich schweig116 Robert James, Dictionnaire Paris 1746-1748, Bd. 3, S. 977.
universel de médecine, f r z . Obersetzung in 6 vols.,
117 Ebda. 118 Sauvages hält die Hysterie nidit für eine der vesaniae, sondern für eine »durdi allgemeine oder besondere Konvulsionsanfälle charakterisierte Krankheit, wobei die Anfälle äußerlich oder innerlich sein können«: Ohrensausen, Fehlgreifen und Sdiwindelgefühl rechnet er dagegen zu den vesaniae.
same Zwiesprache, die der Geist mit sich selbst in der ihm eigenen Wahrheit hält, und sichtbare Artikulation in den Bewegungen des Körpers. Der Parallelismus, die Ergänzungen, alle Formen unmittelbarer Kommunikation, die wir sidi manifestieren sahen, werden zwischen Seele und Körper allein an dieser Sprache und ihren Kräften aufgehängt. Die Bewegung der Leidenschaft, die sich solange fortsetzt, bis sie zerbricht und sidi gegen sidi selbst kehrt, das Auftauchen des Bildes und die Bewegungen des Körpers, die die sichtbaren Begleiterscheinungen davon sind — all dies war in dem Augenblick, in dem wir es zu restituieren versuchten, bereits heimlich von dieser Sprache belebt. Wenn der Determinismus der Leidenschaft sidi in der Phantasie des Bildes überholt und aufgelöst hat, wenn das Bild hingegen die ganze Welt des Glaubens und der Wünsche mit sich gerissen hat, so deshalb, weil die delirierende Sprache bereits präsent war eine Rede, die die Leidenschaft all ihrer Grenzen beraubte und mit aller bezwingender Kraft ihrer Bestätigung an dem sich befreienden Bild hing. I Dieses Delirium, gleichzeitig den Körper und die Seele, die Sprache und das Bild, die Grammatik und die Physiologie betreffend, bildet Anfang und Ende aller Kreise des Wahnsinns. Sein strenger Sinn organisierte sie von Anfang an. Es ist gleichzeitig selbst Wahnsinn und jenseits jedes seiner Phänomene schweigende Transzendenz, die ihn in seiner Wahrheit konstituiert. Eine letzte Frage bleibt. Im Namen wessen kann diese fundamentale Spradie für ein Delirium gehalten werden? Wenn man zugibt, daß sie Vahrheit dcs_ Wahnsinn.' ei, worin ist sie wahrer Wahnsinn und ursprügliche Form ahnsinnigen? Warum stellen sich in dieser Rede, die wir in ihren Formen den Vernunftregeln so treu gesehen haben, die ganzen Zeichen her, die die Abwesenheit der Vernunft auf die manifesteste Weise denunzieren werden? Das ist die zentrale Frage, auf die die Epoche der französischen Klassik selbst aber keine direkte Antwort formuliert hat. Man muß von der Seite herangehen und die Erfahrungen befragen, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft dieser wesentlichen Sprache des Wahnsinns befinden, das heißt: den Traum und den Irrtum. Der Quasi-Traumcharakter des Wahnsinns ist eines der ständigen Themen der klassischen Zeit. Dieses Thema ist Erbe einer sehr archaischen Tradition, für die du Laurens am Ende des sedizehnten Jahrhunderts noch Zeugnis ablegt. Für ihn sind Melancholie und Traum
gleichen Ursprungs und tragen in Bezug auf die Wahrheit den gleichen Wert. Es gibt »natürliche Träume«, die, was am Vortag durdi die Sinne oder den Verstand gegangen ist, sidi aber durch das der Person eigene Temperament verändert hat, wiedergeben. So gibt es auf die gleiche Weise eine Melancholie, die nur körperlichen Ursprung in den Temperamenten des Kranken hat und die Bedeutung, den Wert und gleichsam die Färbung der wirklichen Begebenheiten für seinen Geist verändert. Aber es gibt auch eine Melancholie, die gestattet, die Zukunft vorauszusagen, in einer unbekannten Sprache zu reden, gewöhnlich unsichtbare Wesen zu sehen. Diese Melancholie hat ihren Ursprung in einer übernatürlichen Intervention, in derselben, die die Träume dem Geist des Schläfers zukommen läßt, die die Zukunft vorwegnehmen, Ereignisse ankündigen und »seltsame Dinge« sehen lassen." 9 Aber eigentlich hält das siebzehnte Jahrhundert diese Tradition der Ähnlichkeit zwischen Traum und Wahnsinn nur aufrecht, um sie besser zu zerbrechen und neue Beziehungen erscheinen zu lassen, die wesentlicher sind. In diesen Beziehungen werden Traum und Wahnsinn nicht nur in ihrem fernen Ursprung oder in ihrem drohenden Zeichenwert verstanden, sondern in ihren Phänomenen, ihrer Entwicklung, sogar in ihrer Natur konfrontiert werden. Traum und Wahnsinn erscheinen dann, als seien sie von gleicher Substanz. Ihr Mechanismus ist der gleiche, und Zacdiias kann im Gang des Schlafes die Bewegungen identifizieren, die die Träume entstehen lassen, die aber während des Wachseins ebenso den Wahnsinn verursachen könnten. In den ersten Augenblicken beim Einschlafen sind die »vapeurs«, die dann im Körper aufsteigen und sich bis zum Kopf hinaufarbeiten, vielzählig, turbulent und dick. Sie sind so dunkel, daß sie im Gehirn kein Bild erwecken; sie bewegen lediglich in ihrem untergeordneten Wirbel die Nerven und Muskeln. Bei den Zornigen und Maniakalisdien ist es nicht anders: bei ihnen gibt es wenig Phantasmen, keinen falschen Glauben, kaum Halluzinationen, aber eine lebhafte Bewegtheit, die sie nicht zu meistern vermögen. Nehmen wir die Entwicklung des Schlafes noch einmal auf: nach einer ersten Periode der Wildheit klären sidi die »vapeurs«, die zum Hirn aufsteigen, ihre Bewegung organisiert sich. In diesem Augenblick entstehen die phantasti119 André du Laurens, Discours de la conservation de la vue, des maladies mélancoliques, des catarrhes, de la vieillesse, Paris 1597, in: Œuvres, Rouen i i f i o , S. 29.
sehen Träume, man sieht Wunder und tausend unmögliche Dinge. Diesem Stadium entspricht das der Demenz, in der man sich von sehr vielen Dingen überzeugt, »quae in veritate non sunt«. Schließlich beruhigt sidi die Bewegung der »vapeurs« völlig, und der Schläfer beginnt, die Dinge klarer zu sehen; in der Transparenz der von nun an hellen »vapeurs« erscheinen die Erinnerungen vom Vortag wieder, stimmen mit der Wirklichkeit überein. Diese Bilder sind kaum in dem einen oder dem anderen Punkt verändert - wie es bei den Melancholikern geschieht, die alle Dinge erkennen, wie sie sind, »in paucis qui non sunt aberrantes«." 0 Zwischen den fortschreitenden Entwicklungen des Schlafes (mit dem, was sie - in jedem Stadium - der Beschaffenheit der Vorstellungskraft bringen) und den Wahnsinnsformen ist die Analogie konstant, weil die Mechanismen die gleichen sind: die gleiche Bewegung der »vapeurs« und Lebensgeister, die gleiche Befreiung der Bilder, die gleiche Entsprechung zwischen den physischen Eigenschaften der Phänomene und den psychischen oder moralischen Werten der Gefühle. »Non aliter evenire insanientibus quam dormientibus.«"' Das Wichtige an dieser Analyse von Zacchia ist, daß der Wahnsinn nicht mit dem Traum in seinen positiven Elementen verglichen wird, sondern vielmehr mit der Gesamtheit, die Schlaf und Traum bilden, das heißt mit einer Gesamtheit, die außer dem Bild das Phantasma, die Erinnerungen oder die Voraussagen, die große Leere des Schlafes, die Nacht der Sinne und die ganze Negativität umfaßt, die den Menschen dem Wachsein und seinen spürbaren Wahrheiten entreißt. Während in der Tradition das Delirium des Irren mit der Lebhaftigkeit der Traumbilder verglichen wurde, assimiliert die Klassik das Delirium nur der unauflösbaren Einheit des Bildes und der Nacht des Geistes, auf deren Hintergrund jene ihre Freiheit erhält. Diese Gesamtheit, völlig in die Klarheit des Wachseins überführt, konstituiert den Wahnsinn. So muß man die Definitionen des Wahnsinns verstehen, die während der ganzen Zeit der französischen Klassik hartnädeig wiederauftreten. Der Traum als komplexes Gebilde des Bildes und des Schlafes ist darin fast ständig präsent. Wenn auch auf negative Art, so kann doch der Begriff des Wachseins als einziger dazu beitragen, die Irren von den Schläfern zu trennen'"; auf positive Weise
120 Zacchia, a. a. O., Buch 2, Titel 2, Frage 4, S. 118. 121 Ebda. 122 Vgl. etwa D u f o u r : »Ich betrachte als Grundlage aller dieser Krankheiten den
wird das Delirium direkt als eine Modalität des Traums definiert (mit dem Wachsein als spezifischem Unterschied): »Das Delirium ist der Traum derjenigen, die wach sind.«123 Die antike Vorstellung, daß der Traum eine vorübergehende Form des Wahnsinns ist, wird umgekehrt; nidit mehr der Traum entlehnt beim Wahnsinn seine beunruhigenden Kräfte, wodurch er zeigen konnte, wie zerbrechlich oder beschränkt die Vernunft ist, sondern es ist der Wahnsinn, der im Traum seine Urnatur annimmt und in dieser Verwandtschaft enthüllt, daß er in der Nacht der Wirklichkeit eine Befreiung vom Bild ist. Der Traum täuscht, er führt zu Konfusionen, ist illusorisch. Aber er ist nicht irrig. Genau in diesem Punkt erschöpft sich der Wahnsinn auch nicht in der wachen Form des Traumes, sondern geht über den Traum hinaus. Tatsächlich schmiedet die Vorstellungskraft im Traum »impossibilia et miracula« oder sammelt »irrationali modo« wahrhaftige Gestalten, aber — so bemerkt Zacchia - »nullus in his error est ac nulla consequenter insania«.12* Wahnsinn liegt dann vor, wenn den dem Traum so nahen Bildern sich die Bestätigung oder für den Irrtum konstitutive Negation hinzugesellt. In diesem Sinne schlug die Encyclopédie ihre berühmte Definition des Wahnsinns vor: sich von der Vernunft entfernen »in dem Vertrauen und der festen Überzeugung, daß man ihr folge, heißt, wie mir scheint, wahnsinnig zu sein«.11' Der Irrtum ist, mit dem Traum zusammen, das andere in der Definition des Wahnsinns zur Zeit der französischen Klassik stets präsente Element. Der Irre ist im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nicht in dem Maße Opfer einer Illusion, einer Halluzination seiner Sinne wie einer Bewegung seines Geistes. Er wird nicht getäuscht, er irrt sich. Wenn tatsächlich auf der einen Seite der Geist des Irren durch die traumhafte Willkür der Bilder getragen wird, schließt er sich andererseits gleichzeitig selbst in den Kreis eines verirrten Bewußtseins ein. »Irre«, sagt Sauvages, »nennen wir die, die gegenwärtig der Vernunft beraubt sind oder die in einem bemerkenswerten Irrtum verharren; dieser konstante Irrtum, der sich in ihrer Vorstellungs-
Irrtum der Verstehensfähigkeit, durch die während des Wachens schlecht über die Dinge geurteilt wird, über die alle Leute gleich denken« (a. a. O., S. 355); und Cullen: »Das Delirium kann als falsches und tauschendes Urteil einer aufgeweckten Person über Dinge definiert werden, die sich am häufigsten im Leben zeigen« (a. a. O., Bd. I, S. 286). 123 Pitcairn, zitiert von Sauvages, a. a. O-, Bd. 7, S. 33 und 301. 124 Zacchia, a. a. O., S. 118. 125 Encyclopédie, Artikel »Folie«.
kraft, ihrem Urteil und ihren Wünschen manifestiert, bildet den Charakter dieser Klasse.«" 6 Der Wahnsinn beginnt dort, wo sidi die Beziehung des Menschen zur Wahrheit trübt und verdunkelt. Er erhält, ausgehend von dieser Beziehung und gleichzeitig durch die Zerstörung dieser Beziehung, seinen allgemeinen Sinn und seine besonderen Formen. Zacchia, der hier den Begriff im allgemeinsten Sinne des Wahnsinns versteht, sagt, die Demenz »in hoc constitit quod intellectus non distinguit verum a falso«." 7 Wenn man aber diesen Bruch nur als Negation verstehen kann, so hat er positive Strukturen, die ihm einzigartige Formen geben. Gemäß den verschiedenen Formen des Zugangs zur Wahrheit wird es verschiedene Typen des Wahnsinns geben. In diesem Sinne unterscheidet Crichton zum Beispiel in der Ordnung der fieberfreien Wahnsinnsarten zunädist die Art der Delirien, die diese Beziehung zum Wahren, das in der Wahrnehmung Form annimmt, verändern (»allgemeines Delirium der Geistesfähigkeiten, in dem die kranken Wahrnehmungen für Realitäten gehalten werden«); dann die A r t der Halluzinationen, die die Darstellung verändern (»Geistesirrtum, in dem die imaginären Gegenstände für Realitäten gehalten oder die wirklichen Gegenstände falsch dargestellt werden«); schließlich die Art der Demenzen, die, ohne die Fähigkeiten, die den Zugang zur Wahrheit gestatten, zu beseitigen oder zu verändern, deren Schwächen und ihre Kräfte vermindern. Man kann aber ebensogut den Wahnsinn von dieser Wahrheit und den ihr eigenen Formen her analysieren. A u f diese Weise unterscheidet die Encyclopédie »das physische Wahre« und das »moralisdie Wahre«. Das »physisdie Wahre besteht in der richtigen Beziehung unserer Empfindungen mit den physischen Objekten«; es wird eine Wahnsinnsform geben, die durch die Unmöglichkeit, zu dieser Wahrheitsform zu gelangen, determiniert wird. Diese A r t von Wahnsinn der körperlichen Welt umfaßt die Illusionen, die Halluzinationen und alle Wahrnehmungsstörungen. »Es ist ein Wahnsinn, Engelskonzerte zu hören, wie es manche Schwärmer tun.« Das »moralische Wahre (hingegen) besteht in der Richtigkeit der Beziehungen, die wir entweder zwischen den moralischen Objekten oder zwischen diesen Objekten und uns sehen«. Es wird eine Form des Wahnsinns geben, die in dem Verlust dieser Beziehung besteht; dazu gehören der Wahnsinn im Charakter, im Be-
126 Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 33. 127 Zacchia, a. a. O., S. 118.
nehmen und in den Leidenschaften: »Alle Grillen unseres Geistes sind wahrhaftige Wahnsinnsarten, alle Illusionen der Eigenliebe und alle unsere Leidenschaften, wenn sie bis zur Verblendung führen; denn die Verblendung ist das Charakteristikum des Wahnsinns.«'23 Verblendung ist eines der Worte, die dem Wesen des Wahnsinns zur Zeit der französischen Klassik am nächsten kommen. Es spricht von jener Nacht als einem Quasi-Schlaf, der die Bilder des Wahnsinns umgibt und ihnen in ihrer Einsamkeit eine unsichtbare Souveränität verleiht, aber es spricht auch von schlecht begründetem Glauben, von Urteilen, die irrig sind, von jener ganzen Irrtumstiefe, die vom Wahnsinn nicht zu trennen ist. Die fundamentale Rede des Deliriums enthüllt in ihren konstituierenden Kräften auf diese Weise, worin sie trotz der analogen Formen, trotz des strengen Sinnes keine Rede der Vernunft isf. Sie sprach, aber in dunkler Verblendung; sie war mehr als der schlaffe und ungeordnete Text eines Traumes, weil sie sich irrte; sie war aber mehr als ein irriger Satz, weil sie in jene globale Dunkelheit getaucht war, die die des Schlafes ist. Das Delirium als Prinzip des Wahnsinns ist ein System falscher Sätze in der allgemeinen Syntax des Traumes. Der Wahnsinn liegt genau am Kontaktpunkt der Traumdeutung und des Irrtums, er durchläuft in seinen Variationen die Oberfläche, an der sie sich gegenüberstehen, die sie zugleich trennt und verbindet. Mit dem Irrtum hat er die Nicht-Wahrheit und die Willkür in der Affirmation oder Negation gemein. Wie der Traum verfügt der Wahnsinn über aufsteigende Bilder und die farbige Präsenz der Phantasmen. Aber während der Irrtum nur Nicht-Wahrheit ist, der Traum weder bekräftigt noch beurteilt, füllt der Wahnsinn die Leere des Irrtums mit Bildern und verbindet die Phantasmen durch die Bestä- j tigung des Falschen. Er ist also in gewissem Sinn Fülle, indem er den Gestalten der Nacht die Kräfte des Tages, den Formen der Phantasie » die Aktivität des wachen Geistes verleiht. Er verknüpft dunkle In-* halte mit Formen der Helligkeit. Aber ist diese Fülle nicht in Wahrheit der Gipfel der Leere? Die Präsenz der Bilder bietet in der Tat nur umnachtete Phantasmen, Gestalten, die vom Schlaf gezeichnet und folglich losgelöst von aller sinnlichen Wirklichkeit sind. So lebendig und in den Körper eingegliedert sie auch sein mögen, diese Bilder sind nichts, weil sie nichts darstellen. Was das irrige Urteil anbelangt, so urteilt es nur scheinbar, bestätigt nichts Wirkliches oder 128 Encyclopédie, Artikel -Folie«.
Wahres, bestätigt überhaupt nidits, ist völlig in der Nicht-Existenz des Irrtums gefangen. Der Wahnsinn ist durch die Verbindung von Vision und Verblendung, Bild und Urteil, Phantasma und Sprache, Schlaf und Wachen, Tag und Nacht im Grunde nichts, denn er verbindet in ihnen, was sie an Negativem haben. Aber das Paradoxe dieses Nichts ist es, in Zeichen, Worten und Gesten dies zu manifestieren und aufbrechen zu lassen. Die Einheit von Ordnung und Unordnung, des vernünftigen Wesens der Dinge und dieses Nidits des Wahnsinns ist unentstrickbar, denn der Wahnsinn kann, wenn er nidits ist, sich nur so manifestieren, daß er aus sidi herausgeht und in der Ordnung der Vernunft erscheint, wodurch er zum Gegenteil seiner selbst wird. So klären sidi die Paradoxa der Erfahrung zur Zeit der französischen Klassik auf: der Wahnsinn ist immer abwesend, befindet sich in einer ständigen unzugänglichen Zurüdkgezogenheit ohne Phänomen und Positivität. Dennoch ist er gegenwärtig und in den einzelnen Arten des irren Menschen völlig sichtbar. Er enthüllt lediglich, obwohl selbst nur wahnsinnige Unordnung, wenn man ihn prüft, geordnete Arten, strenge Mechanismen in Seele und Körper, gemäß einer sichtbaren Logik gegliederte Sprache. Alles in dem, was der Wahnsinn von sidi selbst sagen kann, ist Vernunft, während er doch Negation der Vernunft ist. Kurz, ein rationales Erfassen des Wahnsinns ist immer möglich und notwendig in dem Maße, in dem er seihst Nicht-Vernunft ist. Wie vermeidet man, diese Erfahrung, die in dem besteht, was für die Vernunft am nächsten und fernsten, am vollsten und leersten ist, was sich ihr in vertrauten Strukturen darbietet - was eine Kenntnis und bald eine Wissensdiaft, die positiv sein will, zuläßt - und was stets in Beziehung zur Vernunft zurückgezogen in der unzugänglichen Reserve des Nichts bleibt, allein durch das Wort Unvernunft zu resümieren? Wenn man jetzt die klassische Unvernunft für sich selbst, außerhalb ihrer Verwandtschaft mit dem Traum und dem Irrtum gelten lassen will, darf man sie nicht als kranke, verlorene oder wahnsinnig gewordene Vernunft begreifen, sondern ganz einfach als geblendete Vernunft. Die Blendung'
ist die Nacht am hellen Tag, die Dunkelheit, die
129 In dem Sinne, den Nicole diesem W o r t gab, als er sich fragte, ob das H e r z »einen Anteil an allen Geistesblendungen hat«. In: ders., Essais, Bd. S, 1. Teil. S. 77.
genau im Zentrum des exzessiven Lichtglanzes herrscht. Die geblendete Vernunft richtet die Augen auf die Sonne und sieht nichts, das heißt, sie sieht nichtin der Blendung hat der allgemeine Rückzug der Dinge in die Tiefe der Nacht die Suppression des Sehens selbst zum unmittelbaren Korrelativ. In dem Augenblick, in dem es die Gegenstände in der geheimen Nacht des Lichts verschwinden sieht, erblickt sich das Sehen im Moment seines Verschwindens. Zu sagen, daß der Wahnsinn Blendung ist, heißt: sagen, daß der Wahnsinnige den Tag sieht, den gleichen Tag wie der Vernünftige (beide leben in der gleichen Helle). Aber indem er diesen Tag sieht und nichts als ihn und nidits in ihm, sieht er ihn gleichsam leer, als Nacht, als Nichts. Das Dunkel ist für ihn die Weise, den Tag wahrzunehmen. Das bedeutet, daß er, während er die Nacht und das Nidits der Nacht sieht, überhaupt nicht sieht; und da er zu sehen glaubt, läßt er als Realitäten die Phantasmen seiner Vorstellungskraft und das ganze Volk der Nächte zu sich kommen. Deshalb stehen Delirium und Blendung in einer Beziehung, die das Wesen des Wahnsinns ausmacht, genauso, wie die Wahrheit und die Klarheit in ihrer fundamentalen Beziehung für die Vernunft in der Zeit der französischen Klassik konstitutiv sind. In diesem Sinne ist der kartesianische Schritt des Zweifels genau die große Beschwörung des Wahnsinns. Descartes schließt seine Augen und verstopft seine Ohren, um besser die wahre Helligkeit des wesentlichen Tages zu sehen; so ist er gegen die Blendung des Irren gesichert, der beim Öffnen der Augen nur die Nacht sieht und zu sehen glaubt, wenn er sich etwas einbildet, aber überhaupt nicht sieht. In der einförmigen Helligkeit seiner verschlossenen Sinne hat Descartes mit jeder möglichen Faszination gebrochen, und wenn er sieht, ist er sicher, das zu sehen, was er sieht. Währenddessen steigen vor dem Blick des von einem Licht, das Nacht ist, trunkenen Irren Bilder auf und vervielfachen sich, wobei sie unfähig sind, sich selbst zu kritisieren (weil der Irre sie sieht), die aber unumstößlich vom Sein getrennt sind (weil der Irre nichts sieht). Die Unvernunft steht in der gleichen Beziehung zur Vernunft wie die Blendung zum Glanz des Tages selbst. Und das ist keine Metapher Wir befinden uns im Zentrum der großen Kosmologie, die die ganze Bildung der Zeit der französischen Klassik belebt. Der »Kosmos« der 130 Ein oft von Malebranche aufgenommenes kartesianisches Thema; nichts denken, heißt: nicht denken; nichts sehen, heißt: nicht sehen.
Renaissance, der an inneren Verbindungen und Symbolismen so reich und völlig von der verkreuzten Präsenz der Gestirne beherrscht war, ist jetzt verschwunden, ohne daß die »Natur« bereits ihren Universalitätsstatus gefunden hätte, ohne daß sie die lyrische Anerkennung durch den Menschen annimmt und ihn im Rhythmus ihrer Jahreszeiten führt. Was die Menschen in der Epoche der französischen Klassik von der »Welt« festhalten, was sie bereits von der »Natur« im voraus verspüren, ist ein extrem abstraktes Gesetz, das trotzdem den lebhaftesten und konkretesten Gegensatz bildet, den von Tag und Nacht. Es ist nicht mehr die fatale Zeit der Planeten und noch nicht die lyrisdie der Jahreszeiten, sondern die universale, aber absolut aufgeteilte Zeit der Helligkeit und des Dunkels. Diese Form wird vom Denken in einer mathematischen Wissenschaft völlig beherrscht - die kartesianische Physik ist gleichsam eine Mathesis des Lichts - , sie zieht aber gleichzeitig in der menschlichen Existenz die große tragische Zäsur, die auf die gleiche machtvolle Weise die Zeit im Theater Racines und den Raum bei Georges de Ia Tour beherrscht. Der Kreis von Tag und Nacht ist das Gesetz der klassischen Welt: die am weitesten reduzierte, jedoch forderndste der Notwendigkeiten der Welt, die unvermeidlichste, aber einfachste der Gesetzmäßigkeiten der N a Dieses Gesetz schließt jede Dialektik und jede Versöhnung aus, gründet folglich zugleich die bruchlose Einsicht der Kenntnis und die kompromißlose Teilung der tragisdten Existenz. Es herrscht über eine Welt ohne Dämmerung, die keinen Erguß, nicht die mildernde Sorge des Lyrismus kennt. Alles muß Wachen oder Traum, Wahrheit oder Nacht, Licht des Seins oder Nichts des Sdiattens sein. Es schreibt eine unvermeidliche Ordnung, eine helle Trennung vor, die die Wahrheit möglich madit und sie endgültig besiegelt. Dennoch legen auf beiden Seiten dieser Ordnung zwei symmetrische Figuren, zwei entgegengesetzte Figuren davon Zeugnis ab, daß es äußerste Punkte gibt, an denen sie durchbrochen werden kann, und zeigen gleichzeitig, in welchem Punkt es wesentlich ist, sie nicht zu durchbrechen. Die dramatische Regel der Einheit der Zeit hat einen positiven Inhalt. Sie zwingt die tragische Dauer, sich um den eigenartigen, aber universellen Wechsel von Tag und Nacht zu balancieren. Die ganze Tragödie muß sich in dieser Zeiteinheit erfüllen, denn sie ist im Grunde nichts als der Zusammenstoß zweier Königreiche, die durch die Zeit selbst miteinander im Unversöhnlichen verbunden sind. Jeder Tag im Theater Racines ist überhangen mit einer Nacht.
die er sozusagen ans Licht bringt: Nacht von Troja und der Massaker, Nacht der Begierden Neros, römische Nacht Titus', Nacht Athalies. Es sind jene großen Teile der Nacht, jene Schattenecken, die den T a g heimsuchen, ohne sich reduzieren zu lassen, und die erst in der neuen Nacht des Todes verschwinden werden. Diese phantastischen Nächte werden ihrerseits von einem Licht heimgesucht, das gleichsam den höllischen Reflex des Tages bildet: Brand Trojas, Fackeln der Prätorianer, fahles Licht des Traums. In der klassischen Tragödie werden Tag und Nacht als Spiegel aufgestellt und reflektieren sich unendlich, geben diesem einfachen Paar eine plötzliche Tiefe, die mit einer einzigen Bewegung das ganze Leben des Menschen und seinen Tod einhüllen. Auf die gleiche Weise liegen in der Madeleine au Miroir Schatten und Licht gegenüber, teilen und vereinen gleichzeitig ein Gesicht und sein Spiegelbild, einen Schädel und sein Bild, ein Wachen und ein Schweigen. In der Image Saint-Alexis entdeckt der Page mit der Fakkel im Schatten des Gewölbes denjenigen, der sein Meister war, ein lichter und ernster Knabe trifft auf das ganze Elend der Menschen, ein Kind bringt den Tod an den Tag. Der Tragödie und ihrer hieratischen Sprache steht das konfuse Gemurmel des Wahnsinns gegenüber. Auch da ist das große Gesetz der Trennung verletzt worden. Schatten und Licht mischen sich in das Toben der Demenz wie in der tragischen Unordnung, jedoch nach einem anderen Modus. Die tragische Gestalt fand in der Nacht etwas wie die dunkle Wahrheit des Tages. Die Nacht Trojas blieb die Wahrheit Andromaches, wie die Nacht Athalies die Wahrheit des bereits nahenden Tages voraussagte. Paradoxerweise enthüllte die Nacht, sie war der tiefste Tag des Seins. Der Irre hingegen trifft im Tag nur die Unbeständigkeit der Gestalten der Nacht; er läßt das Licht sich durch alle Illusionen des Traumes verdunkeln; sein Tag ist lediglich die oberflächlichste Nacht des Scheins. In diesem Maße ist der tragische Mensch auch mehr als jeder andere im Sein engagiert und Träger seiner Wahrheit, weil er wie Phèdre die ganzen Geheimnisse der Nacht ins Gesicht der unerbittlichen Sonne wirft, währenddessen der wahnsinnige Mensch völlig vom Sein ausgeschlossen ist. Wie sollte er es auch nicht sein, da er doch dem Nicht-Sein der Nacht die illusorische Spiegelung der Tage verleiht? Man begreift, daß der tragische Held - im Unterschied zur barocken Gestalt der voraufgehenden Epoche - nie wahnsinnig sein und daß umgekehrt der Wahnsinn jene tragischen Werte nicht in sich tragen kann, die wir seit Nietzsche und Artaud kennen. In der klassischen
Epoche stehen sich der Mensch der Tragödie und der Mensch des Wahnsinns ohne möglichen Dialog, ohne gemeinsame Sprache gegenüber, denn der eine vermag nur die entscheidenden Worte des Seins auszusprechen, in denen sich für die Zeit eines Blitzes die Wahrheit des Lichts und die Tiefe der Nacht verbinden; der andere wiederholt unablässig das indifferente Gemurmel, in dem sich der lügnerische Schatten und das Geschwätz des Tages aufheben. Der Wahnsinn bezeichnet die Tag- und Nachtgleiche zwischen der Eitelkeit der nächtlichen Phantasmen und dem Nicht-Sein der deutlichen Urteile. Und was uns Stück für Stück die Archäologie des Denkens hat lehren können, wurde uns bereits in einem einfachen tragischen Aufblitzen in den letzten Worten von Andromaque gesagt. Es ist, als ob man in dem Augenblick, da der Wahnsinn aus dem tragischen A k t verschwindet, da der tragische Mensch sich für mehr als zwei Jahrhunderte vom Menschen der Unvernunft trennt, vom Wahnsinn eine letzte Abbildung forderte. Der Vorhang, der nach der letzten Szene von Andromaque fällt, fällt auch über die letzte der großen tragischen Inkarnationen des Wahnsinns. In dieser Präsenz an der Schwelle seines Verschwindens, aber in diesem Wahnsinn, der sich für immer zu entziehen im Begriff ist, wird klar, was er ist und für das ganze klassische Zeitalter sein wird. Kann er nicht gerade im Augenblick seines Verschwindens am besten seine Wahrheit, seine Wahrheit der Abwesenheit, die Wahrheit, die die des Tages an den Grenzen der Nacht ist, hervorbringen? Es mußte die letzte Szene der ersten großen klassischen Tragödie sein, oder wenn man so will, das erste Mal, wo sich die klassische Wahrheit des Wahnsinns in einer tragischen Bewegung erklärt, die die letzte des präklassischen Theaters ist. A u f jeden Fall handelt es sich um eine nur einen Augenblick dauernde Wahrheit, weil ihre Erscheinung nur ihr Verschwinden sein kann; einen Blitz kann man nur in schon fortgeschrittener Dunkelheit sehen. In seinen Wutausbrüchen durchschreitet Orest einen dreifachen Kreis der Nacht: drei konzentrische Erscheinungen der Verblendung. Der Tag erhebt sich über dem Palast von Pyrrhus, die Nacht ist noch nicht vorüber, wirft noch Schatten über jenes Licht, und zeigt unumstößlich seine Frist an. An diesem Morgen eines Festtags ist das Verbrechen begangen worden, und Pyrrhus hat die Augen vor dem Tag, der sich erhob, geschlossen: ein Fragment des Schattens, der auf die Stufen des
Altars, auf die Schwelle zwischen Helligkeit und Dunkel geworfen wird. Die beiden großen kosmischen Themen des Wahnsinns sind also in verschiedenen Formen als Vorzeichen, Dekor und Gegenstück zum Furor Orests vorhanden.' 3 ' Folglich kann der Wahnsinn beginnen: in der unerbittlichen Helligkeit, die den Mord von Pyrrhus und den Verrat Hermiones denunziert, an diesem Tagesanfang, an dem schließlich alles in einer zugleich so jungen und so alten Wahrheit als erster Schattenkreis herausbricht: eine dunkle Wolke, in die die Welt um Orest sich zurückzuziehen beginnt; die Wahrheit verbirgt sich in dieser paradoxen Dämmerung, in diesem morgendlichen Abend, in dem die Grausamkeit der Wahrheit sich in das Toben der Phantasmen verwandeln wird: »Dodi welche Finsternis umfängt mich plötzlich?« Das ist die leere Nacht des Irrtums, aber auf dem Grund dieser ersten Dunkelheit wird ein Glanz, ein falscher Glanz entstehen: der der Bilder. Der Alptraum erhebt sich nicht in dem klaren Licht des Morgens, sondern in einem dunklen Flimmern: im Licht des Gewitters und des Mordes. »Himmel, idi sehe Blut in Strömen mich umfließen!« Und damit haben wir die Dynastie des Traums. In dieser Nacht nehmen sich die Phantasmen ihre Freiheit, die Erinnyen erscheinen und drängen sich auf. Wodurch sie verunsichert werden, werden sie auch souverän; sie triumphieren leicht in der Einsamkeit, in der sie aufeinanderfolgen; nichts weist sie zurück, Bilder und Sprache überkreuzen sich in allen Reden, die Anrufungen, bestätigte oder zurückgewiesene, erwünschte oder gefürchtete Gegenwart sind. Aber all diese Bilder konvergieren gegen die Nacht, gegen eine zweite Nacht, die die der Strafe, der ewigen Rache, des Todes im Inneren des Todes selbst ist. Die Erinnyen werden zu jenem Schatten, der der ihre, ihr Entstehungsort und ihre Wahrheit, das heißt ihr eigenes Nichts ist, zurückgerufen. »Wollt ihr mich entreißen in die ew'ge Nacht?« Das ist der Augenblick, in dem entdeckt wird, daß Wahnsinnsbilder nur Traum und Irrtum sind, und wenn der Unglückliche, der durch sie verblendet ist, sie anruft, dann, um besser mit ihnen in jeder Vernichtung zu verschwinden, für die sie bestimmt sind. Ein zweites Mal durchquert man also einen Kreis der Nacht, aber i n Hinzuzufügen wäre noch Andromache, Witwe, erneut verheiratet und wiederum Witwe, in Trauerkleidung und Feststaat, die sich vermischen und schließlich das gleiche sagen; und der Glanz ihres königlichen Standes in der Nacht ihrer Sklaverei.
dennoch wird man dadurch nicht zur klaren Wirklichkeit der Welt zurückgeführt. Ober das, was vom Wahnsinn sich manifestiert, gelangt man zum Delirium, zu jener wesentlichen und konstituierenden Struktur, die den Wahnsinn von seinen ersten Augenblicken an insgeheim unterstützt hatte. Dieses Delirium trägt einen Namen, es ist Hermione; Hermione, die nicht mehr wie eine halluzinatorische Illusion, sondern als letzte Wahrheit des Wahnsinns wiedererscheint. Es ist bezeichnend, daß Hermione in diesem Moment der Raserei hinzukommt, nicht unter den Eumeniden oder vor ihnen, um sie zu führen, sondern hinter ihnen und durch die Nacht, in die sie Orest gezerrt haben und in der sie jetzt selbst aufgelöst sind, getrennt. Hermione kommt nämlich als konstituierende Gestalt des Deliriums, als die Wahrheit, die heimlich seit dem Beginn herrschte und deren Dienerinnen die Eumeniden im Grunde nur waren, hinzu. Damit befinden wir uns am Gegenpunkt der griechischen Tragödie, in der die Erinnyen Endschicksal und Wahrheit waren, die seit der Nacht der Zeiten den Held beobachtet hatten. Seine Leidenschaft war nur ihr Instrument. Hier sind die Eumeniden Gestalten im Dienst des Deliriums, sind dessen erste und letzte Wahrheit, die sich bereits in der Leidenschaft abzeichnete und sich jetzt in ihrer Nacktheit bestätigt. Diese Wahrheit herrscht allein und schiebt die Bilder beiseite: »Doch nein, zieht euch zurück! Hermione ist wütender als ihr, . . . « Hermione, die von Beginn an ununterbrochen anwesend war, die zu jeder Zeit Orest zerrissen hat, indem sie Stück für Stück seine Vernunft zerriß, Hermione, für die er »Vatermörder, Mörder, Heiligtumsschänder« geworden ist, enthüllt sich endlich als Wahrheit und Vollendung seines Wahnsinns. Das Delirium hat in seiner Strenge nichts anderes mehr zu sagen, als eine seit langer Zeit alltägliche und lächerliche Wahrheit als drohende Entscheidung zu berichten. »Sie wird mein Herz, das ich ihr bringe, noch verschlingen!« Es ist Tage und Jahre her, daß Orest dieses wilde Opfer gebracht hatte, den Ursprung seines Wahnsinns aber verkündet er jetzt als Schlußpunkt. Der Wahnsinn kann nämlich nicht weiter gehen, weil er seine Wahrheit in seinem wesentlichen Delirium gesagt hat und er nur noch in einer dritten Nacht, derjenigen, aus der man nicht zurückkehrt, in der man unaufhörlich verschlungen wird, dämmern kann. Die Unvernunft kann nur einen Augenblick erscheinen, in dem Moment, in dem die Sprache in das Schweigen eintritt, indem das Delirium selbst verstummt, in dem das Herz schließlich verschlungen wird.
In den Tragödien vom Anfang des siebzehnten Jahrhunderts löste auch der Wahnsinn das Drama, er löste es, indem er die Wahrheit freisetzte. Er konnte höchstens nur der vorletzte Augenblick der Tragödie sein, nicht der letzte (wie in Andromaque), w o nur eine Wahrheit gesprochen wird, die - im Delirium - einer Leidenschaft, die mit dem Wahnsinn die Perfektion ihrer Vollendung gefunden hat. Die der Unvernunft eigene Bewegung, der das klassische Denken gefolgt ist und die es verfolgt hat, hatte bereits die Totalität ihrer Bahn in der Gedrängtheit der tragischen Rede erfüllt. Danach konnte das Schweigen herrschen und der Wahnsinn in der stets zurückgezogenen Präsenz der Unvernunft verschwinden. Was wir jetzt von der Unvernunft wissen, gestattet uns besser zu verstehen, was die Internierung war. Jene Geste, die den Wahnsinn in einer neutralen und uniformen Welt der Ausgeschlossenheit verschwinden ließ, stellte keinen Halt in der Entwicklung der medizinischen Techniken oder im Fortschritt humanitärer Ideen dar. Sie erhielt ihren genauen Sinn in folgender Tatsache: der Wahnsinn hat im Zeitalter der französischen Klassik a u f - ' gehört, ein Zeichen einer anderen Welt zu sein, und ist die paradoxe, Manifestation des Nicht-Seins geworden. Im Grunde zielt die Inter-nierung nicht so sehr darauf ab, den Wahnsinn auszulöschen, eine Gestalt, die in der sozialen Ordnung keinen Platz findet, zu verjagen; ihr Wesen ist nicht die Beschwörung einer Gefahr. Sie manifestiert lediglich das, was der Wahnsinn seinem Wesen nach ist, das heißt ein An-den-Tag-bringen des Nicht-Seins. Und während diese Manifestation stattfindet, wird sie dadurch sofort unterdrückt, weil sie in ihre Wahrheit des Nichts zurückversetzt wird. Die Internierung ist die Praxis, die am genauesten einem als Unvernunft verspürten Wahnsinn, das heißt einem als leere Negativität der Vernunft verspürten Wahnsinn entspricht. Darin wird erkannt, daß der Wahnsinn nichts ist; das heißt, daß er einerseits unmittelbar als Unterschied perzipiert wird (daher rühren die Formen spontanen und kollektiven Urteils, die man nicht von den Ärzten, sondern von den Menschen mit richtiger Urteilskraft verlangt, um die Internierung eines Irren zu bestimmen)132, und daß andererseits die Internierung keinen anderen Zweck 132 In diesem Sinne kann eine Definition des Wahnsinns, so -wie sie Dufour vorschlägt und wie die meisten dieser Zeit ausgefallen sind, als eine Theorie der Internierung gelten, denn sie bezeichnet den Wahnsinn als traumhafte Verirrung, als doppeltes Nichtsein, das unmittelbar in dem Unterschied mit der Universalität der
als eine Korrektion haben kann (das heißt die Unterdrückung des Unterschiedes oder die Erfüllung dieses Nichts, das der Wahnsinn im Tode ist). Daher rühren jene Todeswünsche, die man so oft in den Internierungsregistern von der Feder der Wächter findet, und die für die Internierung kein Zeichen von Verwilderung, von Unmenschlichkeit oder Perversion sind, sondern genaue Aussage ihres Sinns: A k t der Vernichtung des Nichts. 133 Die Internierung zeichnet an der Oberfläche der Phänomene und in einer hastigen, moralischen Synthese die geheime und deutliche Struktur des Wahnsinns ab. Verwurzelt die Internierung ihre Praktiken in dieser tiefen Intuition? Wurde der Wahnsinn letzten Endes als Nicht-Sein herausgeschält, weil er unter der Wirkung der Internierung tatsächlich aus dem Blickkreis der Klassik verschwunden war? Die Beantwortung dieser Fragen verweist weiter in eine vollkommene Zirkularität. Es ist wahrscheinlich nutzlos, sich im stets von vorne beginnenden Zyklus jener Fragenform zu verlieren. Besser läßt man die Gesellschaft zur Zeit der französischen Klassik in ihrer allgemeinen Struktur die Erfahrung formulieren, die sie mit dem Wahnsinn gemacht hat, und die mit den gleichen Bedeutungen in identischer Ordnung ihrer inneren Logik hier und dort in der Ordnung der Spekulation und der Ordnung der Institution in der Rede und im Dekret, im Wort und im Befehl, überall, w o ein zeichentragendes Element für uns den Wert von Sprache annehmen kann, sich andeutet.
Menschen spürbar ist: » ( . . . ) Irrtum der Verstehensfähigkeit, durch die während des Wachens schlecht über die Dinge geurteilt wird, über die die Leute gleich denken.« Dufour, a. a . O . , S. 3J5· 133 V g l . zum Beispiel Anmerkungen wie folgende über einen in Saint-Lazare seit siebzehn Jahren internierten Irren: »Seine Gesundheit wird viel schwächer; man kann auf seinen baldigen T o d hoffen.« (Bibliothèque Nationale, Fonds Clairambault, 986, f ° 113).
3- Kapitel
Gestalten des Wahnsinns Der Wahnsinn ist also Negativität, aber eine Negativität, die sich in einer Fülle von Phänomenen, in einem im Garten der Arten weise geordneten Reichtum gibt. Im durch diesen Widerspruch begrenzten und definierten Raum entfaltet sich die diskursive Kenntnis vom Wahnsinn. Hinter den geordneten und ruhigen Gestalten der medizinischen Analyse ist eine schwierige Beziehung am Werk, in der sich das historische Werden vollzieht: eine Beziehung zwischen der Unvernunft als letztem Sinn des Wahnsinns und der Rationalität als Form seiner Wahrheit. Das Problem, das die Kenntnis des Wahnsinns gleichzeitig manifestiert und verbirgt, liegt darin, daß der Wahnsinn, während er immer in den Ursprungsregionen des Irrtums angesiedelt und in Beziehung zur Vernunft immer zurückgezogen ist, sich ihr dennoch völlig eröffnen und ihr die Totalität seiner Geheimnisse anvertrauen kann. In diesem Kapitel handelt es sich nicht darum, die Geschichte der verschiedenen Begriffe der Psychiatrie aufzuzeichnen, in denen wir sie in Beziehung setzen zur Gesamtheit der Gelehrsamkeit, der Theorien, der medizinischen Beobachtungen, die ihnen zeitlich parallel gingen. Wir werden in der Medizin der Lebensgeister oder der Physiologie der festen Stoffe nicht von der Psychiatrie sprechen. Indem wir aber der Reihe nach die großen Gestalten des Wahnsinns, die sich während der ganzen klassischen Epoche erhalten haben, wiederaufnehmen, werden wir zu zeigen versuchen, wie sie im Innern der Erfahrung mit der Unvernunft angesiedelt waren; wie jede von ihnen darin eine eigene Kohäsion angenommen hat; und wie sie dazu gelangt sind, auf eine positive Weise die Negativität des Wahnsinns zu manifestieren. Diese angenommene Positivität liegt für die verschiedenen Wahnsinnsformen nicht auf gleicher Ebene, ist nicht von gleicher Natur, nicht von gleicher Kraft: es ist eine zerbrechliche, zarte, transparente, der Negativität der Unvernunft noch ganz nahe Positivität für den Begriff der Demenz; die von der Manie und Melancholie durch ein ganzes Bildersystem angenommene ist bereits dichter; die konsistenteste. zugleich am weitesten von der Unvernunft entfernteste und für sie gefährlichste ist die, die durch eine Reflexion an den Grenzen von 'Aoral und Medizin, durch die Erarbeitung einer A r t körperlichen
Raums, der sowohl ethisch wie organisch ist, den Begriffen der Hysterie, der Hypochondrie, all dem, was man bald Nervenkrankheiten nennen wird, einen Inhalt gibt. Diese Positivität ist so weit von dem entfernt, was das Zentrum der Unvernunft bildet, und in deren Strukturen so schlecht integriert, daß sie sie schließlich wieder in Frage stellen und am Ende des klassischen Zeitalters völlig ins Wanken bringen wird.
I. Die Gruppe der Demenz Die Demenz wird von den meisten Ärzten des siebzehnten Jahrhunderts unter verschiedenen Namen erkannt, die jedoch beinahe alle das gleiche Gebiet umfassen: dementia, amentia, fatuitas, stupiditas, morosis. Sie wird erkannt und ziemlich leicht unter den anderen Krankheitsarten isoliert, aber nicht in ihrem positiven und konkreten Inhalt definiert. Während dieser beiden Jahrhunderte bleibt sie im Element des Negativen bestehen und wird ständig daran gehindert, eine chai rakteristisehe Gestalt anzunehmen. In gewissem Sinne ist die Demenz von allen Geisteskrankheiten diejenige, die dem Wesen des Wahnsinns am nächsten bleibt, aber des Wahnsinns im allgemeinen, des in allem, was er an Negativem haben kann, verspürten Wahnsinns: Unordnung, Dekomposition des Denkens, Irrtum, Illusion, Nicht-Vernunft und Nicht-Wahrheit. Diesen Wahnsinn als einfache Umkehrung der Vernunft und reine Zufälligkeit des Geistes beschreibt ein Autor des achtzehnten Jahrhunderts sehr gut und in einer Ausdehnung, die keine positive Form zu erschöpfen oder begrenzen vermag: »Der Wahnsinn hat bis ins Unendliche variierte Symptome. Er bezieht in seine Zusammensetzung alles ein, was man gesehen und gehört, alles, was man gedacht und überlegt hat. Er rückt das, was am entferntesten scheint, zusammen. Er bringt das, was völlig vergessen zu sein schien, wieder in Erinnerung. Die alten Bilder beleben sich von neuem, die Aversionen, die man beseitigt glaubte, entstehen wieder; die Neigungen werden lebhafter, aber alles ist durcheinandergebracht. Die Ideen ähneln in ihrer Konfusion den Typen einer Druckerei, die man ohne Plan und ohne Intelligenz zusammenstellte. Nidits würde sich daraus ergeben, das eine Sinnfolge darstellte.« 1 " Dem so in der ganzen Negativität seiner Unordnung konzipierten Wahnsinn nähert sich die Demenz. 134 Examen de la prétendue possession des filles de la paroisse de Laudes, 1735; anonym, S. 14.
Also ist die Demenz im Geist zugleich extremer Zufall und völliger Determinismus. Alle Wirkungen können sich darin ereignen, weil alle Ursachen sie hervorrufen können. Es gibt in den Organen des Denkens keine Störungen, die nicht einen der Aspekte der Demenz hervorrufen könnten. Sie hat, genau gesagt, keine Symptome, sie ist vielmehr die offene Möglichkeit aller möglichen Symptone des Wahnsinns. Tatsächlich gibt Willis ihr als wesentliches Zeichen und Charakteristikum die stupiditas,'3S Einige Seiten weiter aber ist die stupiditas zum Äquivalent der Demenz geworden: stupiditas sive morosis. Die Stupidität ist dann schlicht und einfach ein »Defekt der Intelligenz und der Urteilskraft« - ein Befall par excellence der Vernunft in ihren höchsten Funktionen. Dennoch ist dieser Defekt nicht erster; denn die rationale, durch die Demenz gestörte Seele ist nicht im Körper eingeschlossen, ohne daß ein gemischtes Element die Vermittlung zwischen ihr und ihm bildet; von der rationalen Seele zum Körper entfaltet sich in einem gemischten, zugleich weit gestreckten und punktuellen, körperlichen und bereits denkenden Raum jene Anima senßtkia sive corporea, die die dazwischenliegenden und ver' rnittelrraen Kräfte der Vorstellungskraft und der Erinnerung trägt. Sie liefern dem Geist die Ideen oder zumindest die Elemente, die sie zu bilden gestatten, und wenn sie in ihrem Funktionieren — in ihrem körperlichen Funktionieren — gestört werden, dann wird die acies intellectus »meist verdummt oder zumindest verdunkelt, als seien ihre Augen verschleiert«.'36 Im funktionalen und organischen Raum, in dem sie sich ausbreitet und dessen lebendige Einheit sie so sichert, hat die körperliche Seele ihren Sitz; sie hat darin auch die Instrumente und die Organe ihrer unmittelbaren Aktion. Der Sitz der körperlichen Seele ist das Gehirn (und besonders der Gehirnkern für die Vorstellungskraft, die weiße Substanz für die Erinnerung); ihre unmittelbaren Organe werden durch die Lebensgeister gebildet. In Fällen von Demenz muß man entweder einen Befall des Hirns selbst oder eine Störung der Lebensgeister, vielleicht noch eine gleichzeitige Störung des Sitzes und der Organe, das heißt des Gehirns und der Lebensgeister annehmen. Wenn das Gehirn für sich allein die Ursache der Krankheit ist, kann man ihren Ursprung zunächst in den Dimensionen der Hirnsubstanz suchen, sei es, daß sie zu klein ist, um angemessen zu funktionieren, sei es, daß sie zu umfangreich und dadurch
13 5 Willis, a. a. O., Bd. 2, S. 227. u 6 A.a.O., Bd. 2, S. 265.
von geringerer Festigkeit und gleichsam geringerer Qualität ist, mentis acumini minus accommodum. Aber manchmal muß man auch m der Form des Gehirns die Schuld geben; sobald es nicht mehr jene Γ kugelige Form hat, die eine gleichmäßige Reflexion der Lebensgeister gestattet, sobald sich ein Unterdruck oder eine anomale Ausbauchung findet, werden die Lebensgeister in unregelmäßigen Richtungen zurückgeschickt. Dann können sie in ihrem Lauf nicht mehr das wahrhaft treue Bild der Dinge übermitteln und der rationalen Seele die wahrnehmbaren Abbilder der Wahrheit anvertrauen: das ist die (Demenz. U m es noch präziser zu sagen: das Hirn muß um der Strenge seines Funktionierens willen eine bestimmte Intensität an Wärme und Feuchtigkeit, eine bestimmte Konsistenz, eine Art spürbarer Beschaffenheit an Gewebe und Gewicht behalten. Sobald es - und passiert das nicht oft den Kindern und den Greisen? — zu feucht oder zu kalt wird, sieht man die Zeichen der stupiditas erscheinen. Man nimmt sie auch wahr, wenn die Körnung des Gehirns zu grob und gleichsam mit einem schweren irdischen Einfluß imprägniert wird. Diese Schwere der Hirnsubstanz kann man doch einer bestimmten Schwere der Luft und einer gewissen groben Beschaffenheit der Erde zuschreiben, die die berühmte Stupidität der Böotier erklären könnten.' 37 In der morosis können die Lebensgeister allein verändert werden: entweder sind sie durch ein ähnliches Gewicht schwer geworden und haben grobe Form und unregelmäßige Dimensionen angenommen, als seien sie durch eine imaginäre Gravitation zur Langsamkeit der Erde gezogen worden; oder, in anderen Fällen, sind sie wässerig, inkonsistent und luftig geworden.' 38 ^Störungen der Lebensgeister und Störungen des Gehirns können anyfangs isoliert sein, aber sie bleiben es niemals, denn die Störungen verbinden sidi stets, sei es, daß die Besdiaffenheit der Lebensgeister sich als Auswirkung der Fehler der Hirnsubstanz verändert, sei es, daß diese sidi im Gegenteil durch die Defekte der Lebensgeister verändert. Wenn die Geister schwer sind und ihre Bewegung zu langsam, oder wenn sie zu flüssig sind, verstopfen sich die Poren und die Kanäle des Gehirns, die sie durchlaufen, oder nehmen falsche Formen an. Wenn hingegen das Gehirn selbst einen Defekt hat, gelingt es den Lebensgeistern nicht, es in normaler Bewegung zu durchlaufen, und infolgedessen nehmen sie eine kranke und defekte Beschaffenheit an.
137 A . a . O . , Bd. a , S . 2 Ä ß f . 138 Ebda.
Vergeblich würde man in dieser ganzen Analyse von Willis das genaue Aussehen der Demenz, das Profil der ihr eigenen Zeichen oder ihre besonderen Ursachen suchen. Nidit, daß der Beschreibung die Präzision fehlte, aber die Demenz scheint das ganze Gebiet der möglichen Veränderungen in einem beliebigen der Gebiete des »Nervensystems« zu umfassen: Lebensgeister oder Gehirn, Weichheit oder Rigidität, Wärme oder Abkühlung, übertriebene Schwere, exzessive Leichtigkeit, Mangel oder Abundanz der Substanz - alle Möglichkeiten pathologischer Veränderungen werden um das Phänomen der Demenz zusammengerufen, um deren virtuelle Erklärung zu liefern. Die Demenz ordnet ihre Ursachen nicht, sie lokalisiert sie nicht, sie spezifiziert deren Beschaffenheit nicht nach der Gestalt ihrer Symptome. Sie ist die universale Wirkung jeder möglichen Veränderung. Auf eine bestimmte Weise ist die Demenz der Wahnsinn abzüglich aller einer Form des Wahnsinns eigenen Symptome; einer Wahnsinnsform, durch deren Filigran ganz einfach das hindurchscheint, was der Wahnsinn in der Reinheit seines Wesens, in seiner allgemeinen Wahrheit ist. Die Demenz ist alles, was es an Unvernünftigem in der weisen Mechanik des Gehirns, der Fibern und der Lebensgeister geben kann. Aber auf einer solchen Ebene der Abstraktion kann der medizinische Begriff nicht erarbeitet werden. Er ist zu weit von seinem Gegenstand entfernt und artikuliert sich lediglich in rein logischen Dichotomien, wobei er über die Virtualitäten hinweggleitet. Seine Arbeit ist nicht effektiv. Die Demenz kristallisiert sich nicht als medizinische Erfah- f rung. Gegen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ist der Begriff der Demenz noch immer negativ. Von der Medizin von Willis bis zur Physiologie der festen Stoffe hat die organische Welt ihre Bewegung geändert. Dennoch bleibt die Analyse von der gleichen Art, denn es handelt sich nur darum, in der Demenz alle Formen von »Unvernunft«, die das Nervensystem hervorbringen kann, zu umfassen. A m Anfang des Artikels »Demenz« der Encyclopédie erklärt Aumont, daß die in ihrer natürlichen Existenz betrachtete Vernunft in der Transformation der Sinneseindrücke besteht. Diese gelangen, durch die Fibern kommuniziert, auf den inneren Bahnen der Lebensgeister bis zum Gehirn, das sie in Begriffe transformiert. Es handelt sich um Unvernunft oder vielmehr um Wahnsinn, sobald diese Transformationen nicht mehr auf dem gewöhnlichen Wege vollzogen und übertrieben, verdorben oder auch beseitigt werden. Diese Abschaffung ist der Wahnsinn in
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reinster Form, der Wahnsinn in seinem Paroxysmus, wie an dem Punkt seiner intensivsten Wahrheit angelangt: das ist die Demenz. Wie ereignet sie sich? Warum wird die ganze Transformationsarbeit der Sinneseindrücke plötzlich vernichtet? Wie Willis ordnet Aumont alle eventuellen Störungen des Nervensystems um die Unvernunft an. -•Es gibt die durch Vergiftungen des Nervensystems hervorgerufenen Störungen: Opium, Schierling, Alraunwurzel. Bonet hat in seinem Sepulchretum den Fall eines jungen Mädchens aufgezeichnet, das der Demenz verfallen ist, nachdem es von einer Fledermaus gebissen worden war. Bestimmte unheilbare Krankheiten, wie die Epilepsie, rufen genau die gleiche Wirkung hervor. Häufiger jedoch muß man die Ursache der Demenz im Gehirn suchen, sei es, daß es zufällig durch einen Schlag verändert worden ist, sei es, daß eine angeborene Deformation vorhanden und sein Volumen für das gute Funktionieren der Fibern und die gute Zirkulation der Lebensgeister zu eng ist. Die Lebensgeister selbst können Ursprung der Demenz sein, weil sie kraftlos, matt und erschöpft, oder weil sie dick, wässerig und klebrig geworden sind. Die häufigste Ursache der Demenz liegt aber im Zustand der Fibern, die nicht mehr in der Lage sind, Eindrücke aufzunehmen und sie weiterzugeben. Die Vibration, die der Eindruck auslösen sollte, tritt nicht ein; die Fiber bleibt unbeweglich, wahrscheinlich, weil sie zu erschlafft ist, oder weil sie zu gespannt und völlig versteift ist. In bestimmten Fällen ist sie nicht mehr in der Lage, im Einklang zu vibrieren, weil sie zu dickhäutig ist. A u f jeden Fall ist die »Spannfeder« verloren gegangen. Die Ursachen dieser Unfähigkeit zu vibrieren sind ebenso die Leidenschaften wie angeborene Ursachen: Krankheiten jeder Art, Dünste verursachende Beschwerden und schließlich das hohe Alter. Das ganze Gebiet der Pathologie wird nach Ursachen und einer Erklärung für die Demenz durchsucht, aber die symptomatische Gestalt läßt stets auf ihr Erscheinen warten. Die Beobachtungen häufen sich, die kausalen Ketten reißen nicht ab, aber man würde vergeblich nach dem der Krankheit eigenen Profil suchen. Als Sauvages den Artikel Amentia in seiner Nosologie méthodique schreiben will, verliert er den Faden seiner Symptomatologie und kann jenem berühmten »Geist der Botaniker« nicht mehr treu bleiben, der sein Werk leiten sollte. Er kann die Formen der Demenz nur noch nach ihren Ursachen scheiden: amentia senilis, die »durch die Festigkeit der Fibern, die sie für die Wahrnehmung der Gegenstände unempfindlich macht«, verursacht wird; amentia serosa, die durch eine Akkumulation des Serums im Gehirn zustande kommt, wie er
ein Fleischer bei verrückten Schafen hat feststellen können, die »nidit trinken und nidit fressen« und deren Hirnsubstanz »völlig in Wasser verwandelt« ist; amentia a venenis, vor allem durch das Opium hervorgerufen; amentia a tumore; amentia microcephalica: Sauvages hat selbst »diese A r t der Demenz bei einem jungen Mädchen, das im Krankenhaus in Montpellier ist«, gesehen; »man nennt sie den Affen, weil sie einen sehr kleinen Kopf hat und diesem Tier ähnelt«; amentia a siccitate: auf allgemeine A r t wird die Vernunft durch nichts mehr geschwächt als durch ausgetrocknete, kaltgcwordene oder geronnene Fibern; drei junge Mädchen, die im stärksten Winter auf einem Wagen gefahren waren, wurden von der Demenz befallen. Bartholin gab ihnen die Vernunft wieder, »indem er ihnen den Kopf mit einem frisch abgezogenen Schafsfell einwickelte«; amentia morosis: Sau vages weiß nicht recht, ob man sie wirklich von der dementia serosa unterscheiden soll; amentia ab ictu; amentia rachialgica;amentia a quartana, die dem viertägigen Fieber zuzuschreiben ist; amentia calculosa; man hat in dem Gehirn eines Dementen »einen spitzen Stein gefunden, der in der wässerigen Feuchtigkeit der Gehirnkammer schwamm«, (n einem bestimmten Sinn gibt es keine der Demenz eigene Symptomatologie: keine Form des Deliriums, der Halluzination oder des Tobens gehört ihr allein oder durch eine Naturnotwendigkeit. Ihre Wahrheit wird nur durch ein Naherücken hergestellt: auf der einen Seite eine Akkumulation der eventuellen Ursachen, deren Ebene, Ordnung und Natur höchst unterschiedlich sein können; auf der anderen Seite eine Serie von Wirkungen, die nur das gemeinsame Charakteristikum haben, daß sie das Fehlen oder das defekte Funktionieren der Vernunft îufweisen und ihre Unfähigkeit, zur Wirklichkeit der Dinge und der Wahrheit der Ideen zu gelangen. Die Demenz ist die empirische, zugleich allgemeinste und negativste Form der Unvernunft — die NichtVernunft als Präsenz, die man in dem, was sie an Konkretem hat, wahrnimmt, die man aber nicht in dem bezeichnen kann, was sie an Positivem hat. Diese Präsenz, die sidi immer selbst entgeht, versucht butour in seinem Traité de l'entendement humain zu umreißen. Er äßt die ganze Vielfältigkeit der möglichen Ursachen zur Geltung kommen und sammelt die partiellen Determinismen, die in Zusammenhang mit der Demenz haben benannt werden können: Rigidität i!cr Fibern, Trockenheit des Gehirns, wie es Bonet wollte, Weichheit und Wässerigkeit des Hirninneren, wie es Hildanus bezeichnete, Ge>rauch des Bilsenkrautes, des Stramoniums, des Opiums, des Safrans i-mäß den Beobachtungen von Rey, von Bautain, von Barere), Vor-
handensein eines Tumors, von Kopfwürmern und Schädeldeformationen. Ebenso viele positive Ursachen gibt es, die aber niemals zum selben negativen Resultat führen, zum Bruch des Geistes mit der äußeren Welt und dem Wahren: »Die von der Demenz Befallenen sind in allen Dingen sehr nachlässig und indifferent; sie singen, lachen und amüsieren sich ohne Unterschied über das Böse wie über das Gute. Hunger, Kälte und Durst ( . . . ) werden in ihnen sehr gut spürbar, aber sie sind deshalb nie niedergeschlagen. Sie spüren auch die Eindrücke, die die Gegenstände auf die Sinne ausüben, aber sie wirken nie davon beeindruckt.«' 3 ' So überlagern sich, aber ohne reale Einheit, die fragmentarische Positivität der Natur und die allgemeine Negativität der Unvernunft. Als Form des Wahnsinns wird die Demenz nur von außen erlebt und gedacht, als Grenze, an der sich die Vernunft in einer unzugänglichen Abwesenheit aufhebt. Trotz der Beständigkeit in der Beschreibung hat der Begriff keine integrierende Kraft, das Sein der Natur und das Nicht-Sein der Vernunft finden darin nicht ihre Einheit. Dennoch verliert sich der Begriff der Demenz nicht in einer völligen Indifferenz. Er wird in der Tat durch zwei benachbarte Begriffsgruppen begrenzt, deren erste bereits sehr alt ist, deren zweite sich hingegen in der Epoche der Klassik herauslöst und zu definieren beginnt. Die Unterscheidung zwischen Demenz und Phrenesie gehört zur Tradition. Diese Unterscheidung kann man leicht auf der Ebene der Anzeichen treffen, weil die Phrenesie stets von Fieber begleitet ist, während die Demenz eine fieberfreie Krankheit ist. Das Fieber, durch das die Phrenesie charakterisiert wird, gestattet, gleichzeitig ihre nahen Ursachen und ihre Natur zu bezeichnen: sie ist Entzündung, übertriebene Wärme des Körpers, schmerzhaftes Brennen im K o p f , Heftigkeit der Bewegungen und der Sprache, eine A r t allgemeinen Kochens des ganzen Individuums. Cullen charakterisiert sie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts noch durch diese Kohärenz in der Beschaffenheit: »Die sichersten Zeichen für Phrenesie sind ein heftiges Fieber, ein starker Kopfschmerz, Rötungen und Schwellungen des Kopfes und der Augen, langanhaltendes Wachsein. Der Kranke kann den Eindruck von Licht und den geringsten Lärm nicht vertragen. Er ist heftigen und wütenden Bewegungen ausgesetzt.«'40 Ihr ferner Ursprung 139 Dufour, a . a . O . , S. 358f. 140 Cullen, a. a. O., S. 143.
hat Anlaß zu zahlreichen Diskussionen gegeben. Alle jedoch ordnen sich dem Thema der Wärme unter, wobei die beiden Hauptfragen sind, ob sie im Gehirn selbst entstehen kann oder immer eine diesem übermittelte Eigenschaft ist, und ob sie mehr durdi einen Bewegungsexzess oder durdi einen Stillstand des Blutes hervorgerufen wird. In der Polemik zwischen La Mesnardière und Duncan bringt der erste zur Geltung, daß das Gehirn ein feuchtes und kaltes, völlig mit Flüssigkeiten und wässerigen Stoffen durchtränktes Organ ist, und es deshalb unvorstellbar wäre, daß es sidi entzündet. »Diese Entzündung ist genau so unmöglich, wie Feuer auf einem Fluß ohne irgendeinen Trick brennen zu sehen.« Der Verteidiger Duncans leugnet nidit, daß die Haupteigenschaften des Gehirns denen des Feuers entgegengesetzt seien, aber es hat einen lokalen Trieb, der seiner substantiellen Natur widerspricht: »Da es über den Eingeweiden liegt, ist es leicht den Dünsten der Küche und den Ausatmungen des ganzen Körpers ausgesetzt«; darüber hinaus ist es »von einer unendlichen Zahl Venen und Arterien, die es umgeben und die sich leicht in seiner Substanz reinigen können«, umgeben und durchdrungen. Außerdem gibt es jene Eigenschaften der Weichheit und der Kälte, die das Gehirn charakterisieren und es für fremde Einflüsse, sogar für diejenigen, die seiner ursprünglichen Natur am meisten widersprechen, leicht durchdringbar machen. Während die warmen Substanzen der Kälte widerstehen, können sich die kalten erwärmen. Das Gehirn ist, weil es weich und feucht ist, folglich kaum in der Lage, sich gegen einen Exzeß der anderen Eigenschaften zu verteidigen.«'* 1 Die Gegensätzlichkeit der Eigenschaften wird dann zum eigentlichen Grund ihrer Substitution. Aber immer öfter wird das Gehirn als Hauptsitz der Phrenesie angesehen. Man muß die These von Fem als eine bemerkenswerte Ausnahme betrachten, für den die Phrenesie der Verstopfung der überlasteten Eingeweide zuzuschreiben ist, die »vermittels der Nerven ihre Unordnung dem Gehirn mitteilen«.' 42 Für die große Mehrheit der Autoren des achtzehnten Jahrhunderts hat die Phrenesie ihren Sitz und findet ihre Ursachen im Gehirn selbst, das zu einem der Zentren organischer Wärme geworden ist: das Wörterbuch von James legt ihren Ursprung genau in »die Membranen des Gehirns« 1 «; 141 Anonym, Apologie pour Monsieur Duncan, S. 1 1 3 - 1 1 5 . 142 Fem, De la nature et du siège de la phrénésie et de la paraphrénêsie (in Göttingen verteidigte These, Vorsitz Schröder), zit. nach Gazette salutaire vom 27. März 17SÎ, Nr. 13. 143 James, Dictionnaire universel de médecine (frz. Übersetzung), Bd. y, S. 547.
Cullen geht so weit, anzunehmen, daß die Gehirnsubstanz selbst sich entzünden kann; nach ihm ist die Phrenesie »eine Entzündung der eingeschlossenen Teile und kann entweder die Membranen des Gehirns oder die Hirnsubstanz selbst angreifen«.' 44 Diese außerordentliche Wärme wird im Rahmen einer Pathologie der Bewegung leicht verstanden, aber es gibt eine Wärme physischen und eine Wärme chemisdien Typs. Die erste ist Bewegungsexzessen zuzuschreiben, die zu zahlreidi, zu häufig und zu schnell werden und dadurch eine Erhitzung der Teile hervorrufen, die unablässig gegeneinander gerieben werden: »Die entfernten Ursachen der Phrenesie liegen in all dem, was die Membranen oder die Substanz des Hirns direkt erregt, und vor allem in dem, was den Kreislauf des Blutes in ihren Gefäßen besdileunigt, wie zum Beispiel, wenn man den unbedeckten Kopf der brennenden Sonne aussetzt, in den Leidenschaften der Seele und in bestimmten Giften.«' 4 ' Die Wärme diemischen Typs wird hingegen durdi die Bewegungslosigkeit hervorgerufen. Die Verstopfung mit sidi aufhäufenden Substanzen läßt diese zunächst wachsen, dann fermentieren; so gehen sie in eine Art von Wallungen über, die eine große Hitze freiwerden lassen: »Die Phrenesie ist also eine heftige, fiebrige Entzündung, die durdi eine zu große Blutanhäufung und durch die Unterbrechung des Blutkreislaufes in den kleinen Arterien, die in den Hirnmembranen verteilt sind, hervorgerufen wird.«' 4 ' Während der Begriff der Demenz abstrakt und negativ bleibt, organisiert sich hingegen der der Phrenesie um qualitativ präzise Themen, wodurch er ihre Ursprünge, ihre Ursachen, ihren Sitz, ihre Anzeichen und Auswirkungen in die imaginäre Kohäsion, in die quasi spürbare Logik der körperlichen Wärme integriert. Eine Dynamik der Entzündung verfügt über sie: ein unvernünftiges Feuer bewohnt sie. ein Brand in den Fibern oder ein Wallen in den Gefäßen, Flamme oder Kochen, das spielt keine Rolle. Die Diskussionen konzentrieren sidi immer mehr um dasselbe Thema, das integrative Kraft hat: die Unvernunft als heftigste Flamme des Körpers und der Seele. Die zweite Gruppe von Begriffen, die sich als mit der Demenz verwandt erweisen, betrifft die »Stupidität«, die »Imbezillität«, die »Idiotie« und die »Einfältigkeit«. In der Praxis werden Demenz und 144 Gullen, Λ. a. O., S. 142. 145 C u l l e n , a . a . O . . S . 145. 146 James, .1. a. O.. Bd. j . S. 547.
Imbezillität als Synonyme behandelt.1''7 Unter dem Namen Morosis versteht Willis ebenso die hinzugetretene Demenz wie die Stupidität, die man bei Kindern von den ersten Lebensmonaten an beobachten kann. In allen Fällen handelt es sich um einen Befall, der zugleich die Erinnerung, die Vorstellungskraft und die Urteilskraft umgreift.'*8 Dennoch wird allmählich die Trennung nach Altersstufen vollzogen, und im achtzehnten Jahrhundert ist diese dann gesichert: »Die Demenz ist eine Art Unfähigkeit, richtig zu urteilen und zu überlegen; sie hat nach den verschiedenen Altersstufen, in denen sie sich zeigt, verschiedene Namen erhalten. In der Kindheit nennt man sie gewöhnlich Dummheit und Einfältigkeit; Imbezillität heißt sie, wenn sie sich in das Vernunftsalter erstreckt oder in ihm auftritt; wenn sie im Alter auftritt, kennt man sie unter dem Namen Faselei oder Infantilität.«'*> Diese Unterscheidung hat nur chronologischen Wert, weil weder die Symptome noch die Natur der Krankheit sich entsprechend dem Alter ändern, in dem sie aufzutreten beginnt. Höchstens »diejenigen, die dement sind, zeigen von Zeit zu Zeit einige Kräfte ihres alten Wissens, was die Stupiden nicht tun können«. 1 ' 0 Allmählich vertieft sich der Unterschied zwischen Demenz und Stupidität: es ist keine zeitliche Unterscheidung mehr, sondern ein Gegensatz der Aktionsart. Die Stupidität wird auf dem Gebiet des Gefühls wirksam: der Imbezile ist für Licht und Lärm unempfindlich, der Demente ihnen gegenüber indifferent. Der erste nimmt nicht wahr, der zweite vernachlässigt, was sich ihm anbietet. Dem einen wird die Realität der äußeren Welt verweigert, dem anderen ist ihre Wahrheit unbedeutend. Diese Unterscheidung ungefähr nimmt Sauvages in seiner Nosologie wieder auf, für den die Demenz »sich von der Stupidität darin unterscheidet, daß die von Demenz befallenen Personen die Gegenstände genau spüren, was den Stupiden verloren geht, aber die Dementen achten nicht darauf, geben sich deshalb keine Mühe, betrachten die Gegenstände in völliger Indifferenz, verachten die Folgen und lassen sich daraus keine Schwierigkeiten entstehen.« 1 ' 1 Weli j - Vgl. beispielsweise; »Ich habe Mgr. le duc d'Orléans darüber Bericht erstattet, ' i a< Sie mir freundlicherweise über den Zustand von Imbezillität und Demenz geigt haben, in dem Sie die Dardelle gefunden haben.« Archives de la Bastille, äibliothique de l'Arsenal, Ms. 10808, f ° 137. US W i l l i s . a . a . O . , B d . 2 . S . 26$. 14» Durour, a . a . O . , S. 357. \ . a . O . . S . 359. : ' · Sauvages, a. a. O - Bd. 7· S. 334 f.
dien Unterschied muß man aber zwischen der Stupidität und den angeborenen Sinnesschwächen machen? Läuft man nicht Gefahr, wenn man die Demenz als eine Störung des Urteilsvermögens und die Stupidität als eine Fehlerhaftigkeit in der Wahrnehmung behandelt, einen Blinden und einen Taubstummen mit einem Imbezilen zu verwechseln? 1 ' 2 Ein Artikel in der Gazette de médecine nimmt das Problem 1762 angelegentlich einer Beobachtung bei Tieren auf. Es handelt sich um einen jungen Hund: »Jeder wird sagen, daß er blind, taub, stumm und ohne Geruchssinn ist (sei es von Geburt an, sei es durch irgendeinen Unfall, der ihn kurz nach seiner Geburt getroffen hat), so daß er kaum mehr als das vegetative Leben hat und ich ihn als ungefähr zwischen Pflanze und Tier gestellt einordnen würde.« Es kann sich bei einem Wesen, das nicht dazu bestimmt ist, in vollem Sinne die Vernunft zu besitzen, nicht um die Frage der Demenz handeln; aber handelt es sich wirklich um eine Sinnesstörung? Die Antwort ist nicht leicht, weil »er ziemlich schöne Augen hat, die Lichteindrücke wahrzunehmen scheinen. Er stößt sich indessen an allen Möbeln und tut sich oft weh. Er hört Geräusche und selbst helle Geräusche, so wie der Ton einer Pfeife ihn verwirrt und erschreckt. Man hat ihm aber nicht seinen Namen beibringen können.« Also weder die Sehkraft noch das Gehör sind betroffen, sondern jenes Organ oder jene Fähigkeit, die die Empfindung in Wahrnehmung umbildet, indem sie aus einer Farbe einen Gegenstand, aus einem Geräusch einen Namen macht. »Dieser allgemeine Defekt all seiner Sinne scheint nicht aus irgendeinem ihrer äußeren Organe zu kommen, sondern lediglich aus dem inneren Organ, das die modernen Naturforscher sensorium commune nennen, und das die alten die sensitive Seele nennen, die für Empfang und Gegenüberstellung der Bilder, die die Sinne übermitteln, geschaffen ist, so daß jenes Tier, ohne zu sehen, sieht, ohne zu hören, hört, denn es hat nie eine Wahrnehmung ausbilden können.« 1 " Was in der Seele oder in der Geistestätigkeit der Empfindung am nächsten ist, wird durch die
152 In der Praxis wird man lange die Imbezillität als eine Mischung aus Wahnsinn und Sinnesschwäche betrachten. Ein Befehl vom 11. April 1779 schreibt der Oberin der Salpêtrière vor, Marie Flehet aufgrund von Berichten aufzunehmen, die vor Ärzten und Chirurgen unterzeichnet sind, »die feststellen, daß die genannte Fiche dement und taubstumm geboren worden ist«. Bibliothèque Nationale, Collectior Joly de Fleury, Ms. 1235, f ° 89. IJ3 Anonymer Artikel in der Gazette de médecine, Bd. 3, N r . 12, Mittwoch, ceFebruar 1762, S. 89-92.
Wirkung der Imbezillität gleichsam paralysiert, während in der Demenz das Funktionieren der Vernunft gestört wird, und zwar in den von der Empfindung am ehesten freien und losgelösten Bereichen. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts werden sich Imbezillität und Demenz nicht mehr so sehr durch die Frühzeitigkeit ihrer Gegensätzlichkeit, auch nicht mehr durch den Befall der Eigenschaft unterscheiden, sondern durch Qualitäten, die ihnen allein gehören und insgeheim die Gesamtheit ihres Auftretens bestimmen werden. Für Pinel ist der Unterschied zwischen Imbezillität und Demenz insgesamt der der Unbeweglichkeit und der Bewegung. Beim Idioten gibt es eine Lähmung und Schläfrigkeit »aller Funktionen des Verstandes und der moralischen Affekte«; sein Geist bleibt in einer A r t Erstarrung verhaftet. Bei der Demenz dagegen denken die wesentlichen Funktionen seines Geistes, aber sie denken leer und folglich in einer äußersten Beweglichkeit. Die Demenz ist gewissermaßen eine reine Bewegung des Geistes, ist ohne Konsistenz oder Nachdruck, eine ständige Flucht, die nicht einmal die Zeit in der Erinnerung überwachen kann: »Schnelle Abfolge oder vielmehr alternative, nicht unterbrochene A b folge von Ideen und isolierten Handlungen, von leichten oder ungeordneten Gefühlsregungen mit Vergessen jedes vorausgehenden Zustands.«'M In diesen Bildern verfestigen sich die Begriffe von Stupidität und Imbezillität; der der Demenz ebenfalls, der allmählich aus seiner Negativität herauskommt und in einer gewissen Intuition der Zeit und der Bewegung erfaßt zu werden beginnt. Wenn man aber diese beieinander liegenden Gruppen der Phrenesie und der Imbezillität, die sich um qualitative Themen ordnen, beiseite läßt, kann man sagen, daß der Begriff der Demenz an der Oberfläche der Erfahrung bleibt, und damit ganz nahe der allgemeinen Idee der Unvernunft und weit entfernt vom wirklichen Zentrum, in dem die konkreten Gestalten des Wahnsinns entstehen. Die Demenz ist der einfachste der medizinischen Begriffe der Aliénation und damit am wenigsten den Mythen, den moralischen Wertungen, den Träumen der Vorstellungskraft ausgesetzt. Trotz allem ist er auf geheimste Weise inkohärent, nämlich in dem Maße, in dem er der Gefahr all dieser Zugriffe entgeht; Natur und Unvernunft bleiben in ihm an der Oberfläche ihrer abstrakten Allgemeinheit, kommen nicht zu ihrer Zusammensetzung in imaginären Tiefen wie jenen, in denen die Begriffe der Manie und der Melancholie ihren Beginn nehmen. v-i Pinel, Nosographie philosophique
(Ausgabe von 1818), Bd. 3, S. 130.
II. Manie und Melancholie Der Begriff der Melancholie war im sechzehnten Jahrhundert zwischen einer bestimmten Definition durch die Symptome und einem Erklärungsprinzip, das im Begriff, der sie bezeichnet, selbst verborgen war, eingeschlossen. Man findet auf der Seite der Symptome alle delirierenden Ideen, die sich ein Individuum über sich selbst bilden kann: »Einige unter ihnen glauben, Tiere zu sein, deren Stimme und Gesten sie nachahmen. Einige denken, sie seien Glasgefäße, und aus diesem Grunde weichen sie vor den Passanten in der Furcht zurück, von diesen zerschlagen zu werden. Andere fürchten den Tod, den sie sich jedoch meist selber geben. Und wieder andere stellen sich vor, sie seien irgendeines Verbrechens schuldig, so daß sie zittern vor Angst, sobald sie einen auf sich zukommen sehen, weil sie annehmen, daß man ihnen die Hand auf die Schulter legen, sie gefangensetzen und nach einer Verurteilung hinrichten werde.«'» Diese delirierenden Themen bleiben isoliert und erschüttern nicht die Gesamtheit der Vernunft. Sydenham wird noch beobachten können, daß die Melancholiker »Leute sind, die, davon abgesehen, sehr brav und vernünftig sind, und die einen außerordentlich durchdringenden und scharfsinnigen Verstand haben. Daher hat Aristoteles auch mit Recht die Beobachtung gemacht, daß die Melancholiker mehr Geist haben als die anderen. « , j i Nun wird diese so klare, so kohärente, symptomatische Einheit durch ein Wort bezeichnet, das ein ganzes Kausalsystem impliziert, das der Melancholie: »Bitte betrachten sie die Gedanken der Melancholiker, ihre Worte, ihre Visionen und Handlungen von nahe, dann werden sie erkennen, wie alle ihre Sinne durch einen in ihrem Gehirn verbreiteten melancholischen Saft verdorben sind.« 1 ' 7 Ein partielles Delirium und die Aktion der schwarzen Galle stehen im Begriff der Melancholie beieinander, zunächst ohne andere Beziehungen als eine nicht einheitliche Konfrontation zwischen einer Gesamtheit von Zeichen und einer bedeutungsvollen Benennung. Im achtzehnten Jahrhundert wird nun die Einheit gefunden werden, oder vielmehr ein Austausch wird vollzogen - die Eigenschaft dieses kalten und schwarzen Saftes ist nämlich hauptsächlich zur Färbung des Deliriums, zu ι j 5 Johann Weyer, Cinq livres de l'imposture et tromperie des diables (frz. Übersetzung von J. Grévin), Paris 1567, S. 222. 156 Sydenham, Dissertation sur l'affection hystérique, in: ders., a. a. O., S. 399. 157 Weyer, a. a. O., S. 222.
seinem eigenen Wert gegenüber der Manie, der Demenz, der Phrenesie und zum wesentlichen Prinzip seiner Kohäsion geworden. Und während noch Boerhaave die Melancholie lediglich als »ein langes, hartnäckiges und fieberfreies Delirium, während dem der Kranke stets von ein und demselben Gedanken besessen ist« 1 ' 8 , definiert, legt Dufour einige Jahre später das Gewicht seiner Definition auf die »Furcht und die Traurigkeit«, die jetzt den Teilcharakter des Deliriums erklären müssen: »Daher kommt es, daß die Melancholiker die Einsamkeit lieben und die Gesellschaft meiden; das läßt sie auch dem Gegenstand ihres Deliriums oder ihrer beherrschenden Leidenschaft, wie immer sie aussehen mag, mehr zugetan sein, während sie für den ganzen Rest gleichgültig erscheinen.«'" Die Festlegung des Begriffes ist nicht durch eine neue Strenge bei der Beobachtung oder durch eine Entdeckung auf dem Gebiet der Ursachen geschehen, sondern durch eine qualitative Übermittlung, die von einer in der Bezeichnung implizierten Ursache zu einer bedeutungsvollen Wahrnehmung bei den Auswirkungen verläuft. Lange Zeit, bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, blieb die Diskussion über die Melancholie in der Tradition der vier Säfte und ihrer wesentlichen Eigenschaften gefangen. Diese Eigenschaften waren fest und gehörten einer Substanz zu, die alleine als Ursache angesehen werden kann. Für Fernel ist der melancholische Saft, mit der Erde und dem Herbst verwandt, ein sucus »von dicker Konsistenz, kalt und in seinem Temperament trocken«.'60 Aber in der ersten Hälfte des Jahrhunderts wird eine breite Diskussion über den Ursprung der Melancholie ausgelöst.' 6 ' Muß man notwendig ein melancholisches Temperament haben, um von der Melancholie befallen zu werden? Ist der melancholische Saft stets kalt und trocken, kommt es nicht voi, daß er warm und feucht ist? Ist es eher die Substanz, die handelt, oder die Eigenschaften, die sich mitteilen? Man kann auf folgende Weise zusammenfassen, was im Laufe dieser langen Auseinandersetzung festgelegt wurde: i. Die Kausalität der Substanzen wird immer mehr durch eine Bewegung der Eigenschaften ersetzt, die ohne die Hilfe irgendeines TräI 58 Hermannus Boerhaave, Aphorismes (frz. Obersetzung), Paris 1745, N r . 1089. 159 Dufour, a . a . O . , S. 3J7· l i o Jean Fernel, Universel medicina, Frankfurt 1607, S. I i i . 161 Der Grund für diese Auseinandersetzung war, ob man die Besessenen den Melancholikern gleichsetzen könne. In Frankreich waren die Protagonisten dafür Duncan und La Mesnardière.
gers sich unmittelbar vom Körper zur Seele, vom Saft zu den Ideen, von den Organen zum Benehmen übermitteln. So ist für den Verteidiger Duncans der beste Beweis dafür, daß der melancholische sucus die Melancholie hervorruft, das Auffinden der Eigenschaften der Krankheit im Saft: »Der melancholische Saft hat viel eher die notwendigen Bedingungen, um die Melancholie hervorzurufen, als eure phantastischen Zornesarten, weil er durch seine Kälte die Quantität der Lebensgeister herabsetzt, sie durch seine Trockenheit befähigt, lange Zeit die A r t einer starken und hartnäckigen Vorstellungskraft zu bewahren, und durch seine schwarze Farbe sie ihrer Helligkeit und natürlichen Subtilität beraubt.«' 62 2. Außer dieser Mechanik der Eigenschaften gibt es eine Dynamik, die in jeder Eigenschaft die darin eingeschlossene Kraft analysiert. So können die Kälte und die Trockenheit mit dem Temperament in Konflikt geraten, und so werden aus dieser Opposition Zeichen der Melancholie entstehen, die um so heftiger sind, als es einen Kampf gibt: die Kraft, die den Sieg davonträgt und mit sich all die reißt, die ihr widerstehen. So verfallen ihr die Frauen, denen ihre Natur kaum den Weg zur Melancholie weist, mit um so größerer Schwere: »Sie werden durch die Melancholie grausamer behandelt und heftiger erregt, weil die Melancholie ihrem Temperament in stärkerem Maße entgegengesetzt ist und sie sie von ihrer natürlichen Konstitution mehr entfernt.« 163 3. Manchmal aber kommt der Konflikt im Innern einer Eigenschaft zum Ausbruch. Eine Eigenschaft kann sich selbst bei ihrer Entwicklung verändern und zum Gegenteil dessen werden, was sie war. Das geschieht, wenn »die Eingeweide sich erhitzen, alles im Körper brät ( . . . ) , alle Säfte verbrennen«. Dann kann diese ganze Glut in kalte Melancholie zurückfallen und dadurch »fast das gleiche, was ein Zufluß an Wachs in einem umgestürzten Leuchter hervorruft«, bewirken. »Dieses Erkalten des Körpers ist die gewöhnliche Wirkung, die auf unmäßige Hitze folgt, wenn diese ihre Kraft verloren hat.··"1Es gibt eine Art Dialektik der Eigenschaft, die frei von jenem substantiellen Zwang, von jeder primitiven Zuweisung durch Umkehrungen und Widersprüche läuft. 161 Apologie pour Monsieur Duncan, S. 63. 163 A . a . O . , S. 93 f. 164 Hippolyte Jules de la Mesnardière, Traité de la mélancolie, sçavoir si elle est la cause des effets que l'on remarque dans les possédées de Loudun, La Flèche i6v, S. 10.
4· Schließlich können die Eigenschaften durch die Zufälle, durch die Umstände, die Lebensbedingungen verändert werden, so daß ein Wesen, das trocken und kalt ist, warm und feucht werden kann, wenn seine Lebensart es in diese Richtung neigt. So geschieht es den Frauen, denn sie »leben in Muße, ihr Körper transpiriert weniger als der der Männer, die Wärme, die Lebensgeister und die Säfte bleiben im Inneren«.16' Die Eigenschaften werden, so von der substantiellen Unterstützung, in der sie gefangen geblieben waren, befreit, eine organisatorische und in den Begriff der Melancholie integrierende Rolle spielen können. Einerseits werden sie aus den Symptomen und Manifestationen ein bestimmtes Profil der Traurigkeit, der Schwärze, der Langsamkeit und der Unbeweglichkeit heraustrennen. Andererseits werden sie eine kausale Hilfe umreißen, die nidit mehr die Physiologie eines Saftes, sondern die Pathologie einer Idee, einer Furcht, eines Schreckens sein wird. Die kranke Einheit wird nicht von den beobachteten Zeihen, den angenommenen Ursachen her definiert, sondern sie wird aus halber Entfernung und oberhalb der einen und der anderen wie eine bestimmte qualitative Kohärenz wahrgenommen, die ihre Gesetze für Übermittlung, Entwicklung und Transformation hat. Das ist die geheime Logik dieser Eigenschaft, die das Werden des Melancholiebegriffs, nicht aber die medizinische Theorie bestimmt. Das steht seit den Texten von Willis in aller Evidenz vor Augen. Beim ersten Blick wird die Kohärenz der Analysen in seinen Texten auf der Ebene der spekulativen Überlegung gesichert. Die Erklärung wird bei Willis völlig von den Lebensgeistern und ihren Bewegungscigenheiten hergenommen. Die Melancholie ist »ein Wahnsinn ohne Fieber oder furor, der von Furcht und Traurigkeit begleitet ist«. In dem Maße, in dem sie Delirium ist - das heißt wesentlicher Bruch mit der Wahrheit - , liegt ihr Ursprung in einer ungeordneten Bewegung der Lebensgeister und in einem defekten Zustand des Gehirns; aber kann man jene Furcht, jene Unruhe, die die Melancholiker »traung und furchtsam« machen, allein durch die Bewegungen erklären? tiann es eine Mechanik der Furcht und einen Kreislauf der Lebensgeister geben, der der Traurigkeit eigen ist? Das ist für Descartes eine Evidenz; für Willis ist sie es bereits nicht mehr. Die Melancholie •ann nicht wie eine Paralyse, eine Apoplexie, ein Schwindelgefühl 1er eine Konvulsion behandelt werden. Im Grunde kann man sie Apologie pour Monsieur Duncan, S. 8 j f .
nidit einmal als eine einfache Demenz analysieren, obwohl das melancholische Delirium eine gleiche Unordnung in der Bewegung der Lebensgeister vermuten läßt. Die Störungen in der Mechanik erklären zwar das Delirium — diesen jedem Wahnsinn, jeder Demenz, jeder Melancholie gemeinsamen Irrtum —, aber nidit die dem Delirium zugehörige Eigenschaft, die Farbe der Traurigkeit und der Furcht, die seine eigenartige Landschaft wiedergeben. Man muß in das Geheimnis der Diathesen eindringen.' 66 Inzwischen sind es die essentiellen, in der Körnung der zarten Materie verborgenen Eigenschaften, die über die paradoxen Bewegungen der Lebensgeister Rechnung ablegen. In der Melancholie werden die Lebensgeister durch eine Bewegung, aber durch eine schwache Bewegung fortgetragen, ohne Kraft oder Gewalt: in einer Art unfähiger Stoßerei, die nicht die vorgebahnten Wege oder die offenen Spuren (aperta opercula) nimmt, sondern die Hirnsubstanz durchdringt, indem sie unaufhörlich neue Poren schafft; trotzdem weichen die Lebensgeister nicht sehr weit auf den Wegen, die sie schaffen, ab Sehr schnell verringert sich ihre Bewegung, erschöpft sich ihre Kraft, und die Bewegung hört auf: »non longe perveniunt«.'6? So kann eine ähnliche Störung, die allen Delirien gemeinsam ist, an der Oberfläche weder jene heftigen Bewegungen noch jene Schreie, die man bei der Manie und der Phrenesie beobachtet, hervorrufen. Die Melancholie wird niemals zum furor: Es ist ein Wahnsinn an den Grenzen seiner Unfähigkeit. Dieses Paradox hängt mit den geheimen Veränderungen der Lebensgeister zusammen. Gewöhnlich haben sie eine gewissermaßen unmittelbare Schnelligkeit und die absolute Transparenz der Lichtstrahlen, aber in der Melancholie sind sie mit Nacht beladen und werden »dunkel, undurchsichtig, finster«-. Die Bilder der Dinge, die sie zum Gehirn und zum Geist tragen, sind »mit Schatten und Finsternis« verschleiert.167 Sie sind also schwerer geworden und einem dunklen chemischen Dunst näher als dem reinen Licht. Dieser chemische Dunst soll mehr saurer als schwefliger oder alkoholischer Natur sein, denn in den Säuredämpfen sind die Partikel beweglich und sogar zur Ruhe unfähig, ihre Aktivität jedoch ist schwach und ohne Tragweite. Wenn man sie destilliert, bleibt nur ein geschmackloses Wasser im Destillierkolben. Die" sauren Dünste haben doch die gleichen Eigenschaften wie die Melancholie, während die i«« Willis, a. a. O., Bd. 2, S. 238 f. 167 A . a. O., Bd. 2, S. 242.
alkoholischen Dämpfe, die stets zum Brennen bereit sind, mehr an die Phrenesie denken lassen, die schwefligen Dämpfe mehr an die Manie, weil sie von einer heftigen und unablässigen Bewegung ergriffen sind. Wenn man also »den formellen Grund und die Ursachen« der Melancholie suchen müßte, wäre es in den Dämpfen, die vom Blut in das Gehirn steigen und zu einem sauren und korrosiven Dampf degeneriert wären.' 68 Die Analyse von Willis wird augenscheinlich von einer Melancholie der Lebensgeister und einer ganzen Chemie der Säfte geleitet, aber in Wirklichkeit ist der Leitfaden vor allem durch die unmittelbaren Eigenschaften der melancholischen Krankheit gegeben worden: eine kraftlose Unordnung und dann jener beschattete Geist, mit jener sauren Schärfe, die das Herz und das Denken zerfrißt. Die Chemie der Säuren ist nicht die Erklärung der Symptome, sondern es ist eine qualitative Wahl: eine ganze Phänomenologie der melancholischen Erfahrung. Ungefähr siebzig Jahre später haben die Lebensgeister ihren wissenschaftlichen Zauber verloren. In den flüssigen und festen Elementen des Körpers sucht man das Geheimnis der Krankheit. Der Dictionnaire universel de médecine, den James in England veröffentlicht hat, schlägt im Artikel >Manie< eine vergleichende Ätiologie dieser Krankheit und der Melancholie vor: »Es ist evident, daß das Gehirn der Sitz all der Krankheiten dieser A r t ist ( . . . ) . Darin hat der Schöpfer, wenn auch auf eine unwahrnehmbare Weise, den Aufenthalt der Seele, des Geistes, des Genies, der Vorstellungskraft, die Erinnerung und alle Empfindungen ( . . . ) festgelegt. All diese edlen Funktionen werden verändert, verschlechtert, vermindert und völlig zerstört werden. wenn das Blut und die Säfte, die in ihrer Eigenschaft und in ihrer Quantität einen Mangel haben und nicht mehr auf einförmige und gemäßigte Weise zum Hirn gebracht werden, darin mit stürmischer Heftigkeit zirkulieren, oder sich langsam, schwierig oder zaudernd verhalten.* 16 ' Dieser schlaffe Lauf, diese verstopften Gefäße, dieses schwere und beladene Blut kann das Herz nur mit Mühe im Organismus verteilen, und es bietet eine Schwierigkeit beim Eindringen in die so feinen, kleinen Äderchen des Gehirns, in denen die Zirkulation sehr schnell erfolgen muß, damit die Denkbewegung aufrechterhalten wird. Diese ganze ärgerliche Behinderung erklärt die Melancholie. Schwere und Verstopfung sind wieder die primitiven • Λ. JL O., Bd. 2, S. 240. ^1 !> james, a. a. O., Bd. 6, S. 112J, Artikel Manie.
Eigenschaften, die die Analyse leiten. Die Erklärung wirkt sich als eine Verschiebung der in der Bewegung, dem Benehmen, den Worten des Kranken wahrgenommenen Eigenschaften zum Organismus hin aus. Man geht vom qualitativen Begreifen zur vermuteten Erklärung über, aber dieses Begreifen überwiegt ständig und läßt die theoretische Kohärenz zurücktreten. Bei Lorry stehen die beiden großen medizinischen Erklärungsformen, die festen Stoffe und die flüssigen Stoffe, beieinander, beschneiden sich schließlich wieder und gestatten, zwischen zwei Arten von Melancholie zu unterscheiden. Die eine findet ihren Ursprung in den festen Stoffen und ist die nervöse Melancholie. Eine besonders starke Empfindung erschüttert die Fibern, die sie empfangen, wodurch die Spannung in den anderen Fibern steigt, die zugleich fester und vibrationsintensiver werden. Aber die Empfindung läßt, wenn sie noch stärker wird, die Spannung in den anderen Fibern derartig ansteigen, daß sie vibrationsunfähig werden. Sie befinden sich dann in einem so steifen Zustand, daß der Blutkreislauf dadurch angehalten und die Lebensgeister unbeweglich werden. Die Melancholie ist eingetreten. In der andern Krankheitsform, der »flüssigen Form«, sind die Säfte mit schwarzer Galle durchsetzt, wodurch sie dicker werden. Das mit diesen Säften beladene Blut wird schwerer und stagniert in den Hirnhäutchen, so daß die wichtigsten Organe des Nervensystems zusammengepreßt werden. Man findet auch dort die Steifheit der Fibern, aber sie ist in diesem Teil nur eine Folge des Phänomens der Säfte. Lorry unterscheidet zwei Arten der Melancholie, tatsächlich ist es aber die gleiche Gesamtheit der Eigenschaften, die der Melancholie ihre wirkliche Einheit sichert, die von ihm nacheinander in zwei Erklärungssysteme gebracht wird. Allein das theoretische Gebäude hat sich halbiert. Der qualitative Erfahrungshintergrund bleibt der gleiche. Die symbolische Einheit wird gebildet durch die Langsamkeit der flüssigen Stoffe, durch die Verdunkelung der Lebensgeister und den Dämmerschatten, den sie über die Bilder der Dinge werfen, durch die Viskosität eines schwer in den Gefäßen dahinfließenden Blutes, durch die Verdickung der schwarz, tödlich und beißend gewordenen »vapeurs«, durch Eingeweidefunktionen, die verlangsamt und klebrig wie von Leim verzögert worden sind. Diese Einheit ist mehr spürbarer als begrifflicher oder theoretischer Art und gibt der Melancholie die ihr eigenen Schriftzeichen. Mehr als eine genaue Beobachtung organisiert diese Arbeit die Gesamtheit der Zeichen und die Erscheinungsart der Melancholie neu.
Das Thema des partiellen Deliriums verschwindet immer mehr als Hauptsymptom der Melancholiker und macht qualitativen Gegebenheit wie der Traurigkeit, der Bitterkeit, dem Geschmack, der Einsamkeit, der Unbeweglidikeit Platz. A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird man Wahnsinnsarten ohne Delirium, die jedoch durch die Trägheit, durch die Verzweiflung, durch eine Art dumpfen Stupors charakterisiert werden, leicht als Melancholie klassifizieren.' 70 Und bereits im Dictionnaire von James geht es um die Frage einer apoplektischen Melancholie ohne delirierende Idee, in der die Kranken »nicht aus dem Bett aufstehen wollen; ( . . . ) wenn sie stehen, laufen sie nur, wenn sie von ihren Freunden oder ihren Bediensteten gezwungen werden. Sie meiden die Menschen nicht, scheinen aber dem, was man ihnen sagt, keine Aufmerksamkeit zu schenken; sie antworten nicht.«' 7 ' Wenn in diesem Fall die Bewegungslosigkeit und das Schweigen die Diagnose der Melancholie bestimmen, so betrifft sie die Personen, bei denen man nur Bitterkeit, Langsamkeit und den Wunsch nach Einsamkeit beobachtet. Ihre Bewegung darf keine Illusionen auslösen noch ein rasches Urteil über Manie gestatten. Es handelt sich bei diesen Kranken wohl um eine Melancholie, denn »sie meiden die Gesellschaft, lieben einsame Orte und irren umher, ohne zu . wissen, wohin sie gehen. Sie sind geblicher Farbe, haben eine trockene Zunge, wie jemand, der sehr erregt ist, trockene, hohle, nie von Tränen benetzte Augen. Ihr ganzer Körper ist trocken und ausgebrannt, ihr Gesicht düster und mit Traurigkeit bedeckt.«' 72 Die Analysen der Manie und ihre Entwicklung im Laufe des klassischen Zeitalters gehorchen einem gleichen Kohärenzprinzip. Willis setzt begriffsweise Manie und Melancholie gegeneinander. Der Geist des Melancholikers ist völlig mit der Überlegung beschäftigt, so daß die Vorstellungskraft in Muße und Ruhe verharrt. Bei den Maniakalischen hingegen sind Phantasie und Vorstellungskraft durch einen ständigen Fluß stürmischer Gedanken beschäftigt. Während der Geist des Melancholikers sich auf einen einzigen Gegenstand fixiert, aber ihm allein unvernünftige Proportionen aufzwingt, verformt die Manie Begriffe und Vorstellungen. Oder sie verlieren ihre Kongruenz 170 Beispiel eines Soldaten, der melancholisch wurde, als er von den Eltern eines von ihm umworbenen Mädchens abgewiesen wurde. Observation de Muzzel, in: Gazette salutaire, 17. März 1763. 171 James, a. a. O., Bd. 4, Artikel »Mélancolie«, S. 1 1 1 5 . V i A . a . O . , S. 1214.
oder ihr repräsentativer Wert wird verfälscht. Auf jeden Fall wird die Gesamtheit des Denkens in ihrer wesentlichen Beziehung zur Wahrheit getroffen. Die Melancholie schließlich wird immer von Traurigkeit und Angst begleitet. Beim Maniakalisdien hingegen erfüllen diese Funktionen Wagemut und furor. O b es sidi um Manie oder Melancholie handelt, die Ursache des Übels liegt immer in der Bewegung der Lebensgeister. Diese Bewegung aber ist bei der Manie eine besondere: sie ist anhaltend, heftig, stets in der Lage, neue Poren in die Hirnsubstanz zu bohren, und sie bildet gewissermaßen die materielle Stütze der inkohärenten Gedanken, der explosiven Gesten, der ununterbrochenen Reden, die die Manie verraten. Diese ganze schädliche Beweglichkeit ist doch auch die des Höllenwassers, das aus schwefelhaltiger Flüssigkeit besteht, jenen aquae stygiae, ex nitro, vitriola, antimonio, arsenico, et similibus exstillatae. Die Partikel dieses Wassers befinden sich in ständiger Bewegung, sie sind fähig, in jeder Materie neue Poren und neue Kanäle zu schaffen, und besitzen genug Kraft, um sich in die Ferne auszubreiten, genau wie die manischen Geister, die fähig sind, alle Teile des Körpers in Bewegung geraten zu lassen. Das Höllenwasser nimmt in dem Geheimnis seiner Bewegungen alle Bilder auf, in denen die Manie ihre konkrete Form annimmt. Es konstituiert auf unauflösbare Weise gleichzeitig den chemischen Mythos und gewissermaßen die dynamische Wahrheit der Manie. Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts wird das Bild mit all seinen mechanischen und metaphysischen Implikationen der Lebensgeister in den Nervenkanälen oft durch das im strengeren Sinne physische Bild (das jedoch noch mehr symbolischen Wert hat) einer Spannung ersetzt, der die Nerven, Gefäße und das ganze System der organischen Fibern unterworfen sein sollten. Die Manie wird dann als eine bis zum Paroxysmus getriebene Spannung der Fibern erklärt, der Maniakalische als eine A r t Instrument, dessen Saiten durch die Wirkung einer übertriebenen Zusammenziehung bei der entferntesten und zartesten Erregung zu vibrieren beginnen. Das manische Delirium besteht in einer ununterbrochenen Vibration der Empfindsamkeit. Durch dieses Bild hindurch präzisieren sich die Unterschiede zur Melancholie und organisieren sich in einer strengen Antithese: der Melancholiker ist nicht mehr in der Lage, eine Resonanz zur äußeren Welt zu bilden, weil seine Fibern entspannt oder durch eine zu große Spannung (man sieht, wie die Mechanik der Spannungen ebenso die melancholische Unbeweglichkeit wie die manische Bewegung erklärt) unbeweglich geworden sind: nur noch einige Fibern klingen im Melancholiker wider.
nämlich die genau dem Punkt seines Deliriums entsprechenden. Der Maniakalisdie hingegen vibriert bei jedem Reiz, sein Delirium ist universell. Die Erregungen verlieren sich bei ihm nicht in der Dicke seiner Bewegungslosigkeit, wie das bei dem Melancholiker der Fall ist. Wenn sein Organismus sie wiedergibt, sind sie vervielfacht, als ob die Maniakalischen in der Spannung ihrer Fibern eine zusätzliche Kraft gesammelt hätten. Das ist es im übrigen, was sie ihrerseits unempfindlich werden läßt, nicht im schläfrigen Sinn der Melancholiker, sondern sie sind von einer Unempfindlichkcit, die voller innerer Vibrationen und Spannungen ist. Wahrscheinlich deshalb »fürchten sie weder die Kälte, noch die Hitze, zerreißen sie ihre Kleider, schlafen sie ganz nackt im strengsten Winter, ohne kalt zu werden«. Deshalb setzen sie auch an die Stelle der wirklichen Welt, obwohl diese sie unaufhörlich beunruhigt, die irreale und schimärische Welt ihres Deliriums: »Die wesentlichen Symptome der Manie rühren daher, daß die Gegenstände sich den Kranken nicht so darstellen, wie sie tatsächlich sind.«'" Das Delirium der manisch Kranken wird nicht durch einen besonderen Fehler der Urteilskraft determiniert; es beruht auf einem Fehler der Übertragung der Sinneseindrücke zum Gehirn, einer Informationsstörung. In der Psychologie des Wahnsinns überträgt sich die alte Vorstellung von der Wahrheit als »Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen« in der Metapher einer Resonanz, einer Art musikalischer Treue der Nervenfiber zu den Sinneseindrücken, die sie vibrieren lassen. Dieses Thema der maniakalischen Spannung entwickelt sich außerhalb tiner Medizin der festen Körper, in noch qualitativeren Anschauungen. Die Steifheit der Fibern bei manisch Kranken gehört stets zu einer trockenen Landschaft. Die Manie wird regelmäßig von einer Erschöpfung der Säfte und einer allgemeinen Trockenheit im ganzen Organismus begleitet. Das Wesen der Manie ist wüstenartig und sandig. Bonet versichert in seinem Sepulchretum, daß die Gehirne der manisch Kranken so, wie er sie hat beobachten können, ihm stets trocken vorgekommen sind und von großer Härte und Zerreibbarkeit waren.'" Später wird Albrecht von Haller ebenfalls finden, daß das Gehirn des Maniakalischen hart, trocken und zerbrechlich ist.'" Menuret erinnert an eine Beobachtung von Forestier, der deutlich zeigt, daß ein zu -» Encyclopédie, Artikel »Manie«. "4 Bonet. Sepulchretum, S. 205. -t Haller, Elementa physiologiae, nnc 1763), S. 571-574.
lib. X V I I , Sectio prima, § 17; Bd. j (Lau-
großer Flüssigkeitsverlust einen manischen Zustand hervorrufen kann, weil er die Gefäße und die Fibern austrocknet. Es handelt sidi um einen jungen Mann, der, »nachdem er im Sommer geheiratet hatte, durch übertriebenen Geschlechtsverkehr mit seiner Frau maniakalisch wurde«. Dufour hat festgestellt, gemessen und aufgezählt, was andere annehmen oder sidi vorstellen, was sie in einer Quasi-Perzeption sehen. Er hat im Laufe einer Autopsie einen Teil der Marksubstanz des Gehirns eines im manischen Zustand Verstorbenen entnommen und aus diesem einen »Kubus von sechs Linien in jeder Richtung« herausgeschnitten. Er hat dabei festgestellt, daß dessen Gewicht geringer war als das eines Kubus gleichen Inhalts bei einem gewöhnlichen Gehirn: »Diese Ungleichheit im Gewicht, die zunächst von geringer Bedeutung erscheint, ist große Aufmerksamkeit wert, wenn man den spezifischen Unterschied zwischen der Gesamtmasse des Gehirns eines Irren und des eines gesunden Menschen betrachtet; dieser Unterschied beträgt sieben Quant bei erwachsenen Menschen, bei denen die gesamte Masse des Gehirns gewöhnlich drei Pfund wiegt.«' 76 Das Austrodcnen und die Leichtigkeit des Gehirns von Maniakalischen lassen sich also auf der Waage feststellen. Diese innere Trockenheit und Hitze werden obendrein an der geringeren Mühe ablesbar, mit der die Maniakalischen große Kälte ertragen. Es steht fest, daß man manisch Kranke nackt im Schnee hat spazieren sehen'77, daß man die Räume in den Anstalten, die sie bewohnen, nicht zu heizen braucht'78, daß man sie sogar durch Kälte heilen kann. Seit van Helmont praktiziert man gern das Untertauchen der manisch Kranken in Eiswasser, und Menuret versichert, daß er einen Maniakalisdien gekannt hat, der nach einem Gefängnisausbruch mehrere Meilen durch heftigen Regen ohne Hut und fast ohne Kleidung zurückgelegt hat und dadurch wieder völlig gesund geworden ist.'7» Montchau hat einen manisch Kranken geheilt, in dem er ihm »aus möglichst großer Höhe Eiswasser über den Körper sdiüiten ließ«, und wundert sich nicht über ein sehr günstiges Ergebnis. Er 176 Dufour, a . a . O . , S. 370f. 177 Encyclopédie, Artikel »Manie«. 178 Diese Vorstellung findet man noch bei Daquin, a . a . O . , S. 6 7 f . und bei Pinel Sie gehörte auch zu den Internierungspraktiken. In einem Register in Saint-Lazai. heißt es über Antoine de la H a y e Monbault: »Kälte, sei sie noch so streng, beeindrucke ihn nicht.« Bibliothèque Nationale, Fonds Clairambault, 9S6, S. 117. 179 Encyclopédie, ,-S
Artikel »Manie«.
sammelt, um dieses Phänomen zu erklären, alle Äußerungen über organische Erhitzung, die seit dem siebzehnten Jahrhundert vorgekommen sind: »Man braucht nicht überrascht zu sein, daß Wasser und Eis eine so plötzliche und so vollkommene Heilung zu einer Zeit hervorgerufen haben, in der das Blut kochte, die Galle tobte und alle rebellierenden Säfte Verwirrung und Erregung in alle Körperteile bringen.« Durch den Kälteeindrude »haben sich die Gefäße mit größerer Heftigkeit zusammengezogen und sich von den sie übersättigenden Flüssigkeiten befreit. Die Erregung der festen Teile, die durch die extreme Wärme der Säfte, die sie enthielten, hervorgerufen wurde, hörte auf, und die Nerven entspannten sich. Der Lauf der Lebensgeister, die sich unregelmäßig nach allen Seiten bewegten, stellte sidi wie in natürlichem Zustand her.«'80 Die Welt der Melancholie war feucht, schwer und kalt. Die der Manie ist trocken, heiß und besteht gleichzeitig aus Heftigkeit und Zerbrechlichkeit. Eine Welt, die eine nicht spürbare, aber überall manifeste Hitze trocken, zerreibbar und stets bereit macht, sich unter der Wirkung feuchter Frische zu beruhigen. In der Entwicklung all dieser qualitativen Vereinfachungen nimmt die Manie gleichzeitig ihre Weite und ihre Einheit an. Sie ist wahrscheinlich wie am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts als »Toben ohne Fieber« betrachtet worden. Jenseits dieser beiden Charakterisierungen, die nur Signalcharakter hatten, hat sich eine perzeptive Grundform entwickelt, die der wirkliche Organisator der klinischen Tabelle gewesen ist. Als die erklärenden Mythen verwischt sind und die Säfte, Lebensgeister, festen und flüssigen Körper nicht mehr umlaufen, bleibt nur noch das Schema der kohärenten Eigenschaften, die nicht mehr genannt werden. Was jene Dynamik der Wärme und der Bewegung langsam zu einer für die Manie charakteristischen Konstellation gruppiert hat, wird jetzt als ein natürlicher Komplex, als eine unmittelbare Wahrheit der psychologischen Beobachtung gesehen. Was man als Wärme wahrgenommen, als Bewegung der Lebensgeister vorgestellt, als Spannung der Nervenfibern geträumt hatte, wird man künftig in der neutralisierten Durchsichtigkeit der psychologischen Begriffe wiedererkennen: übertriebene Lebhaftigkeit der inneren Eindrücke, Sdinelligkeit in der Assoziation von Ideen, Unaufmerksamkeit gegenüber der äußeren Welt. Die Beschreibung von de La Rive zeigt bereits diese Klarheit: -Die äußeren Gegenstände üben auf den Geist der Kranken nicht r i : Mnntdiau, Observation envoyée à la Gazette salutaire, N r . 5, 3- Februar 1763.
denselben Eindruck aus wie auf den eines gesunden Menschen. Diese Eindrücke sind schwach, und er schenkt ihnen selten Aufmerksamkeit. Sein Geist ist fast völlig durdi die Lebhaftigkeit der Ideen absorbiert, die der verwirrte Zustand seines Gehirns bewirkt. Diese Ideen haben einen Grad an Lebhaftigkeit, der den Kranken glauben läßt, daß sie wirkliche Gegenstände darstellen, so daß er dementsprechend urteilt.«' 8 ' Man darf aber nidit vergessen, daß diese psychologische Struktur der Manie, so wie sie am Ende des aditzehnten Jahrhunderts auftaudit, um sidi zu fixieren, nur die oberflächlidie Zeichnung einer sehr tiefen Organisation ist, die umschlagen wird und die sich gemäß halbperzcptiven, halbimaginären Gesetzen einer Welt der Eigenschaft entwickelt hat. Wahrsdieinlidi erinnert dieses ganze Universum der Feuchte und der Kälte, der Wärme und der Trockenheit das ärztliche Denken am Vorabend des Positivismus daran, an weldiem Himmel es entstanden ist. Aber diese Ladung Bilder ist nidit nur eine einfache Erinnerung, sie ist auch Arbeit. Um die positive Erfahrung mit der Manie oder auch der Melandiolie zu bilden, mußte man auf einem Horizont von Bildern diese Gravitation von durch ein ganzes System affektiver und sensibler Zugehörigkeiten voneinander angezogenen Eigenschaften haben. Wenn die Manie und die Melandiolie künftig das Aussehen angenommen haben, das unsere Wissenschaft ihnen zuerkennt, liegt das nidit daran, daß wir im Laufe der Jahrhunderte gelernt haben, »die Augen für ihre wirklidien Zeidien zu öffnen«. Es liegt auch nidit daran, daß wir bis zur Transparenz hin unsere Wahrnehmungen gereinigt haben. Es liegt daran, daß in der Erfahrung mit dem Wahnsinn diese Begriffe um bestimmte qualitative Grundformen herum integriert worden sind, die ihnen ihre Einheit und ihren Bedeutungszusamnienhang verliehen haben, sie letztlich wahrnehmbar gemadit haben. Man ist von einer begrifflichen Signalisierung, die sehr einfach war (fieberfreier Furor, delirierende und fixe Idee) zu einem qualitativen Feld gelangt, das offensiditlich weniger organisiert, leiditer, weniger präzis abgegrenzt war, das jedoch allein wahrnehmbare, erkennbare, in der globalen Erfahrung mit dem Wahnsinn wirklieb vorhandene Einheiten hat bilden können. Der ßeobachtungsraum dieser Krankheiten ist in Landschaften abgesteckt worden, die ihnen auf dunkle Weise ihren Stil und ihre Struktur gei S ι De La Rive, »Sur un établissement pour la guérison des aliénés«, in; Bibliothèque Britannique, Bd. 8, S. 304.
geben haben. Einerseits war das ein trockengelegter, quasi diluvialer Raum, in dem der Mensch taub, blind und schläfrig all dem gegenüber bleibt, was nicht sein einziger Schrecken ist. Das ist eine bis zum Extrem vereinfachte und in einem einzigen ihrer Details maßlos vergrößerte Welt. Auf der anderen Seite steht eine brennende und wüstenartige, panische Welt, in der alles Flucht, Unordnung und plötzliche Spur ist. Die Strenge dieser Themen in ihrer kosmischen Form — nicht die Annäherungen einer beobachtenden Klugheit - haben die Erfahrung, die bereits beinahe unsere Erfahrung ist, mit der Manie und der Melancholie geordnet. Willis mit seiner Beobachtungsgabe und der Reinheit seiner ärztlichen Wahrnehmung gibt man die Ehre, den manisch-depressiven, oder sagen wir, den manisch-melancholischen Wechsel »entdeckt« zu haben. Tatsächlich ist das Vorgehen von Willis von großem Interesse. Zunädist jedoch in folgendem: der Übergang von einem Zustand zum anderen wird nicht als eine Tatsache der Beobachtung perzipiert, deren Erklärung dann zu entdecken wäre, sondern vielmehr als Folge einer tiefen Affinität, die zur Ordnung ihrer geheimen Natur gehört. Willis zitiert keinen einzigen Fall eines solchen Wechsels, den er hätte beobachten können. Was er zunächst entziffert hat, ist eine innere Verwandtschaft, die seltsame Verwandlungen nach sich zieht: •Nach der Melancholie muß man die Manie behandeln, die so viel Affinitäten zu jener hat, daß diese Zustände oft von einem in den anderen wandeln.« Tatsächlich kommt es bei melancholischer Diathese vor, daß sie, wenn sie sich verschlimmert, zum Furor wird. Das Toben hingegen kann, wenn es abnimmt und an Kraft verliert und vielleicht ganz zur Ruhe kommt, zur schwarzgalligen Diathese umschlagen.'Si Für einen strengen Empirismus handelt es sich dabei also um zwei miteinander verbundene Krankheiten oder auch um zwei aufeinanderfolgende Symptome ein und derselben Krankheit. In der Tat teilt Willis das Problem nicht in Termini von Symptomen oder in Termini einer Krankheit, sondern versucht lediglich, die Verbindung zweier Zustände in der Bewegung der Lebensgeister zu finden. Bei len Melancholikern, so erinnern wir uns, waren die Lebensgeister dunU and finster. Sie warfen ihre Dunkelheit auf die Abbilder der ••nge und bildeten im Licht der Seele das Heraufsteigen eines Schat.ns. Dagegen bewegen sich die Lebensgeister bei der Manie in einem Ti.llis. a.a. O., Bd. 2, S. 255.
ständigen Funkeln. Sie werden durch eine unregelmäßige, stets erneuerte Bewegung getragen, die nagt und verschlingt und, selbst wenn kein Fieber vorhanden ist, ihre Wärme ausstrahlt. Die Affinität zwischen Manie und Melancholie ist evident: es ist keine Affinität der Symptome, die sich in der Erfahrung miteinander verketten, sondern eine besonders starke und viel evidentere Affinität in den Landschaften der Vorstellungskraft, die, in einem gleichen Feuer, Rauch und Flamme verbindet. »Wenn man sagen kann, daß in der Melancholie das Gehirn und die Lebensgeister durch einen Rauch und irgendeinen dichten Dampf verdunkelt werden, scheint die Manie eine A r t durch sie geöffneten Brand zu beleben.«'83 Die Flamme löst in ihrer lebhaften Bewegung den Rauch auf, aber dieser erstickt, wenn er zurückfällt, die Flamme und beseitigt ihre Helligkeit. Die Einheit der Manie und der Melancholie ist für Willis keine Krankheit, sondern ein geheimes Feuer, in dem Flammen und Rauch kämpfen, sie ist das tragende Element jenes Lichts und jenes Schattens. Jeder oder beinahe jeder der Ärzte des achtzehnten Jahrhunderts weiß etwas von der Nähe der Manie und der Melancholie. Dennoch lehnen es mehrere ab, darin zwei Manifestationen ein und derselben Krankheit zu sehen.'8* Viele stellen eine Abfolge fest, ohne eine symptomatische Einheit wahrzunehmen. Sydenham zieht es vor, das Gebiet der Manie selbst aufzuteilen in (auf der einen Seite) die gewöhnliche Manie, die »einem zu erregten und zu bewegten Blut zuzuschreiben ist«, und (auf der anderen Seite) eine Manie, die im allgemeinen zur »Stupidität wird«. Diese »kommt von der Schwäche des Blutes, das eine zu lange Fermentation seiner geistigen Teile beraubt hat«.' 8 ' Noch öfter gesteht man zu, daß die Abfolge von Manie und Melancholie ein Phänomen der Verwandlung oder der fernen Kausalität ist. Für Lieutaud verliert eine Melancholie, die lange Zeit dauert und sich in ihrem Delirium verschlimmert, ihre traditionellen Symptome und nimmt eine eigenartige Ähnlichkeit mit der Manie an: »Der letzte Grad der Melancholie hat große Ähnlichkeit mit der Manie.« 18 ' Aber der Status dieser Analogie ist nicht erarbeitet worden. Für Dufour ist die Verbindung noch schwächer: es handelt sich um eine ferne kausale Verkettung, bei der die Melancholie die Manie hervorrufen kann, ebenso »die Würmer in den Bögen an der Stirn 183 184 185 186
Ebda. Zum Beispiel d'Aumont im Artikel »Mélancolie* in der Encyclopédie. Sydenham, Médecine pratique, S. 629. Joseph Lieutaud, Précis de médecine pratique, 2 vols., Paris 1759, Bd. 1, S. 204.
oder erweiterte krampfaderartige Blutgefäße«.' 8 ? Ohne die Unterstützung durdi ein Bild gelangt keine Beobachtung zur Transformation einer feststehenden Abfolge in eine symptomatische Struktur, die zugleich genau und wesentlich ist. Wahrscheinlich verschwindet das Bild der Flamme und des Rauches bei den Nachfolgern von Willis, aber noch im Innern der Bilder vollendet sich die ordnende Arbeit, werden die Bilder immer funktionaler, immer besser in die großen physiologischen Themen von der Blutzirkulation und der Erhitzung eingegliedert und immer mehr von den kosmischen Gestalten entfernt, denen Willis sie entnahm. Bei Boerhaave und seinem Kommentator van Swieten bildet die Manie ganz natürlich einen höheren Grad als die Melancholie, nicht nur infolge einer häufigen Verwandlung, sondern durch die Wirkung einer notwendigen dynamischen Verkettung: die Hirnflüssigkeit, die bei dem Schwarzgalligen zum Stillstand kommt, gerät nach Ablauf einiger Zeit in Bewegung, denn die schwarze Galle, die die Eingeweide übersättigt, wird durch ihre Unbeweglichkeit »schärfer und bösartiger«. Es bilden sich in ihr sdiärfere und feinere Elemente, die, vom Blut zum Hirn getragen, dann die große Erregung der Maniakalisdien hervorrufen. Die Manie unterscheidet sich also von der Melancholie nur durch einen Grundunterschied. Sie ist die natürliche Folge der Melancholie, entsteht durch die gleichen Ursachen und läßt sich gewöhnlich mit den gleichen Mitteln behandeln.'88 Für Hoffmann ist die Einheit der Manie und der Melancholie eine natürliche Wirkung der Bewegungsund Stoßgesetze. Was aber reine Mechanik beim Ursprung ist, wird zur Dialektik in der Entwicklung des Lebens und der Krankheit. Die Melancholie charakterisiert sich tatsächlich durch die Unbeweglichkeit, das heißt, daß das verdichte Blut das Hirn, in dem es sich in Überfülle ansammelt, verstopft. Dort, wo es zirkulieren müßte, neigt es zum Stillstand und ist in seiner Schwere bewegungslos geworden. Wenn aber die Schwere die Bewegung verlangsamt, läßt sie gleichzeitig den Stoß in dem Moment heftiger werden, in dem er sich ereignet. Das Gehirn, die es durchlaufenden Gefäße, sogar seine Substanz neigen, wenn sie mit größerer Kraft getroffen werden, zu größerem Widerstand, also zur Verhärtung, und durch diese Verhärtung wird das schwer gewordene Blut mit größerer Kraft zurückgeschickt. Seine Bewegung nimmt zu, und bald ist die Erregung vorhanden, die die 187 Dufour, a. a. O., S. 369. 188 Boerhaave, Aphorismes, N r . 1 0 8 und 1119. Vgl. Geerard van Swieten, Commentaria Boerhaavi Apborismos, Paris 1753, Bd. 3, S. 519 f.
Manie charakterisiert.' 8 ' Man ist also ganz natürlich vom Bild einer regungslosen Vollstopfung zu dem der Trockenheit, der Härte, der lebhaften Bewegung gekommen, und zwar durch eine Verkettung, in der die Prinzipien der klassischen Mechanik in jedem Augenblick verbogen, abgeleitet und durch die Treue gegenüber imaginären Themen verfälscht werden, die die wirklichen Organisatoren dieser funktionalen Einheit sind. In der Folgezeit kommen andere Bilder hinzu, haben aber keine konstitutive Rolle mehr zu spielen. Sie werden nur wie ebenso viele erklärende Variationen über das Thema einer künftig ermittelten Einheit funktionieren. Das bezeugt zum Beispiel die Erklärung, die Spengler für den Wechsel zwischen Manie und Melancholie vorschlägt. Sein Prinzip entspricht dabei dem Modell der galvanischen Säule. Zunächst soll eine Konzentration der Nervenkraft und der entsprechenden Flüssigkeit an einer bestimmten Stelle des Systems erfolgen. Lediglich dieser Sektor ist erregt, der Rest befindet sich im Ruhezustand: das ist die melancholische Phase. Wenn sie aber zu einem bestimmten Intensitätsgrad anschwillt, breitet sich diese lokale Ladung plötzlidi im ganzen System aus, das sie mit großer Heftigkeit während einer bestimmten Zeit erregt, bis die Entladung vollkommen ist: das ist die manische Phase. 1 ' 0 Auf dieser Ebene der Elaboration ist das Bild zu komplex und zu vollständig, ist es einem zu entfernten Modell entnommen, um eine ordnende Rolle in der Perzeption der pathologischen Einheit spielen zu können. Es wird hingegen von jener Wahrnehmung hinzugezogen, die ihrerseits auf vereinigenden, aber elementareren Bildern beruht. Diese Bilder sind insgeheim im Text des Wörterbuchs von James vorhanden, der als einer der ersten den manisch-depressiven Zyklus als beobachtete Wahrheit, als von einer befreiten Wahrnehmung leicht lesbare Einheit angibt. »Es ist absolut notwendig, die Melancholie und die Manie auf eine einzige Art Krankheit zu reduzieren und infolgedessen beide mit einem Blick zu prüfen, denn wir finden in unseren Versuchen und täglichen Beobachtungen, daß sie beide den gleichen Ursprung und die gleiche Ursache haben ( . . . ) . Die genauesten Beobachtungen und die Erfahrung aller Tage bestätigen das gleiche, denn wir sehen, daß die Melancholiker, vor allem diejenigen, du 189 Friedrich Hoffmann, Medidna rationalis systematica, 4 vols., Halle 1718-1739. Bd. 4, S. 188 f. 190 Lorenz Spengler, Briefe, welche einige Erfahrungen der elektrischen Wirkunger, in Krankheiten enthalten, Kopenhagen 1754.
schon lange diese Disposition haben, leicht zu Maniakalischen werden und, wenn die Manie aufhört, die Melancholie von neuem beginnt, so daß es, je nach dem Zeitpunkt, einen Wechsel von einer zur anderen gibt.« 1 ' 1 Was sich im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert unter der Wirkung der Bilder konstituiert hat, ist also eine Wahrnehmungsstruktur und nicht ein begriffliches System oder nur eine symptomatische Gesamtheit. Der Beweis dafür liegt darin, daß qualitative Verschiebungen, genau wie in einer Wahrnehmung, sich vollziehen können, ohne daß die Gesamtgestalt geändert wird. So wird Cullen in der Manie wie in der Melancholie ein »Hauptobjekt des Deliriums«' 91 entdecken und umgekehrt die Melancholie »einem trockeneren und festeren Gewebe der Marksubstanz des Hirns« zuweisen 1 ' 3 . Das Wesentliche ist, daß die Arbeit sich nicht von der Beobachtung ausgehend an die Konstruktion erklärender Bilder gemacht hat, sondern daß im Gegenteil die Bilder die ursprüngliche synthetische Rolle gesichert haben, daß ihre ordnende Kraft eine Wahrnehmungsstruktur ermöglicht hat, in der letzten Endes die Symptome ihren Bedeutungswert annehmen und sich als sichtbare Präsenz der Wahrheit ordnenkönnen.
III. Hysterie und Hypochondrie In dieser Frage stellen sich zwei Probleme. 1) In welchem Maße ist es legitim, sie als Geisteskrankheiten oder wenigstens als Formen des Wahnsinns zu behandeln? 2) Hat man das Recht, sie so zusammen zu behandeln, als bildeten sie ein virtuelles Paar, das dem ähnelte, das sehr früh durch die Manie und die Melancholie gebildet wurde? Ein Blick auf die Klassifikationsschemata genügt, um zu zeigen, daß die Hypochondrie nicht immer neben der Demenz und der Manie 'teht. Die Hysterie findet darin sehr selten Platz. Plater spricht weder von der einen noch der anderen als von einer Läsion der Sinne. Am Ende des klassischen Zeitalters wird Cullen sie noch in eine anlere Kategorie als die der fieberfreien Wahnsinnszustände setzen. Er :ählt die Hypochondrie »zu den Kraftlosigkeiten oder Krankheiten, Jie in einer Schwäche oder in einem Verlust der Bewegung innerhalb - Cullen. a . a . O . , B d . 2, S. 315. ; Ebda. 19} A . a . O . , S . 323.
der vitalen oder animalischen Funktionen« bestehen, und die Hysterie »zu den krampfartigen Affekten der natürlichen Funktionen«. 1 '* Außerdem sind in den nosographischen Tabellen diese beiden Krankheiten selten in logische Nachbarschaft gestellt oder nur in Form einer Opposition angenähert. Sauvages klassifiziert die Hypochondrie unter den Halluzinationen - »Halluzinationen, die nur die Gesundheit betreffen« — und die Hysterie unter den Formen der Konvulsion. 1 " Linné benutzt die gleiche Aufteilung. 1 ' 6 Beide sind der Lehre von Willis treu, der die Hysterie in seinem Buch De morbis convulsivis und die Hypochondrie in dem Teil von De anima brutorum untersucht hat, der von den Krankheiten des Kopfes handelt, -wobei er ihr den Namen passio colica gab. Es handelt sich in der Tat um zwei ziemlich verschiedene Krankheiten. In dem einen Fall sind die geweckten Lebensgeister einem reziproken Druck unterworfen, der an ihre Explosion glauben lassen könnte, und rufen jene unregelmäßigen oder außernatürlichen Bewegungen hervor, die ihr wahnsinniges Gesicht in der hysterischen Konvulsion finden. In der passio colica hingegen werden die Lebensgeister wegen einer Substanz erregt, die ihnen feindlich und unangemessen ist (infesta et inproportionnata). Sie rufen dann Störungen, Erregungen, corrugationes in den empfindlichen Fibern hervor. Willis rät, sich nicht durch bestimmte Analogien bei den Symptomen überraschen zu lassen. Sicher hat man erlebt, daß die Konvulsionen Schmerzen hervorrufen, als könnte die heftige Bewegung der Hysterie das Leiden der Hypochondrie bewirken. Aber diese Ähnlichkeiten täuschen. Non eadem, sed nonnihil diversa materies est.197 Unter diesen ständigen Unterscheidungen der Nosographen vollzieht sich aber eine langsame Arbeit, die immer mehr die Hysterie und die Hypochondrie anzunähern bestrebt ist, als seien sie zwei Formen ein und derselben Krankheit. Richard Blackmore veröffentlicht 1725 einen Treatise of Spleen and Vapors, or Hypochondriacal and Hysterical Affections. Darin werden die beiden Krankheiten als zwei Va194 A . a . O., S. 128 und 272. 195 Sauvages, a. a. O . ; die Hysterie setzt er in die 4. Klasse (Spasmen), die Hypochondrie in die 8. Klasse (vesaniae). 19Ä K a r l von Linné, Genera morborum. Die Hypochondrie gehöre zur Kategorie »imaginär« der Geisteskrankheiten, die Epilepsie zur Kategorie »angespannt« der konvulsiven Leiden. 197 Vgl. die Polemik mit Nathanael Highmore, Exercitationes duae, prior de pa'· sione hysterica, altera de affectione hypoàondriaca, Oxoniae ififio, und De passionr hysterica, responsio epistolaris ad Willisium, London 1Î70.
rianten desselben Leidens beschrieben, entweder eine »krankheitserregende Konstitution der Lebensgeister« oder eine »Disposition der Lebensgeister, aus ihren Reservoirs herauszugehen und zu verfliegen«. Bei Whytt, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, ist die Annäherung ohne Fehler, und künftig wird das System der Symptome identisch sein: »Ein außergewöhnliches Gefühl der Kälte und der Wärme, die Schmerzen in verschiedenen Teilen des Körpers, die Ohnmachtsanfälle und die Konvulsionen aufgrund von vapeurs, die K a talepsie und der Tetanus, Winde im Magen und in den Eingeweiden, ein unersättlicher Appetit auf Speisen, Erbrechen schwarzer, eiteriger Flüssigkeit, ein plötzlicher und reichlicher Fluß hellen und klaren Urins, Auszehrung oder nervöse Atrophie, nervöses oder spasmisches Asthma, nervöser Husten, Herzklopfen, unregelmäßiger Puls, regelmäßiger Kopfschmerz, Schwindelgefühle und Betäubungszustände, Verminderung und Schwächung der Sehkraft, Entmutigung, Niedergeschlagenheit, Melancholie oder sogar Wahnsinn, Alpträume oder der Inkubus.«'98 Andererseits erreichen Hysterie und Hypochondrie im Laufe des klassischen Zeitalters langsam das Gebiet der Geisteskrankheiten. Mead konnte noch über die Hypochondrie schreiben: »morbus totius corporis est«, dem Text von Willis über die Hysterie muß man aber seine wirkliche Bedeutung geben: »Unter den Frauenkrankheiten genießt die Hysterie einen so schlechten Ruf, daß sie wie die semi-damnati die Fehler zahlreicher anderer Leiden zu tragen hat. Wenn eine Krankheit von unbekannter Natur und verborgenem Ursprung bei einer Frau so auftritt, daß ihre Ursache nicht sichtbar wird und die therapeutische Indikation ungewiß ist, klagen wir sofort den schlechten Einfluß des Uterus an, der in den meisten Fällen nicht verantwortlich ist, und anläßlich eines ungewissen Symptoms erklären wir, daß sich etwas Hysterisches irgendwo verbirgt; wir nehmen als Gegenstand unserer Fürsorge und Heilmittel das, was so oft der Zufluchtspunkt großer Ignoranz gewesen ist.«'" Den traditionellen Kommentatoren dieses Textes, der unvermeidlich in jeder Untersuchung über die Hysterie zitiert wird, sei gesagt, daß er nicht bedeutet, daß Willis ein Fehlen einer organischen Begründung bei den Symptomen der Hysterie geahnt hat. Er sagt lediglich, und zwar ausdrückt e Whytt, Traité des maladies nerveuses, Bd. 2, S. 1-132. Vgl. eine ähnliche A u f teilung bei Claude Rcvillon, Recherches sur la cause des affections xes. Appelées communément vapeurs, Paris 1779, S. 5 f. im Willis, De morbis convulsivis, in: ders., a. a. O., Bd. 1, S. 529.
hypocondria-
lidi, daß der Begriff der Hysterie alle Phantasmen, und zwar nidit desjenigen, der sidi für krank hält, sondern des niditwissenden A r z tes enthält, der etwas zu wissen behauptet. Die Tatsache, daß die H y sterie von Willis zu den Krankheiten des Kopfes gerechnet wird, beweist nicht mehr, daß er daraus eine Geistesverwirrung macht. Das beweist lediglich, daß er den Ursprung der Hysterie einer Veränderung der Natur, des Ursprungs und des ersten Weges der Lebensgeister zuschreibt. Dennoch gehören am Ende des achtzehnten Jahrhunderts Hypochondrie und Hysterie beinahe problemlos zu den Waffen der Geisteskrankheit. 1 7 5 j veröffentlicht Alberti in Halle seine Dissertation De morbis imaginariis hypochondriacorum, und Lieutaud muß, während er die Hypodiondrie durdi das Spasma definiert, anerkennen, daß »der Geist ebenso und vielleicht mehr betroffen ist als der Körper. Daher rührt es, daß der Begriff Hypochonder beinahe ein beleidigender Name geworden ist, den die Ärzte, die gefallen wollen, möglichst vermeiden.«200 Die Hysterie hält Raulin nicht für eine organische Realität, jedenfalls in seiner ursprünglichen Definition, in der er sie vorab zu einer Pathologie der Vorstellungskraft zählt: »Diese Krankheit, in der die Frauen die unterschiedlichsten Absurditäten erfinden, übertreiben und wiederholen, deren eine außer Maß geratene Vorstellung fähig ist, ist mitunter epidemisch und ansteckend geworden.«201 Es gibt also im Zeitalter der französischen Klassik für die Hysterie und die Hypochondrie zwei wesentliche Entwicklungslinien. Die eine davon nähert sie so weit einander an, daß sie einen gemeinsamen Begriff bilden, den der »Nervenkrankheit«. Die andere Linie verrückt ihre Bedeutung, ihren gewöhnlichen pathologischen Halt, der zur Genüge durch ihren Namen angezeigt wird, und neigt dazu, sie allmählich in das Gebiet der Geisteskrankheiten neben die Manie und die Melancholie zu stellen. Diese Integration hat sich aber nicht wie für die Manie und die Melancholie auf der Ebene der primitiven, in ihren imaginären Werten perzipierten und geträumten Eigenschaften vollzogen. Man hat es dabei mit einem anderen Integrationstypus zu tun. Die Ärzte der klassischen Epoche haben wohl versucht, die der Hyste20a Lieutaud, a. a. O., 2. Ausgabe 17Ä1, S. 127. 201 Joseph Raulin, Traité des affections vaporeuses du sexe, Paris 1758, Discours préliminaire, S. X X .
rie und der Hypochondrie zugehörigen Eigenschaften zu entdecken, aber sie sind nie dazu gelangt, jene Kohärenz, jene qualitative Kohäsion wahrzunehmen, die der Manie und der Melancholie ihr eigenartiges Profil gegeben hat. Alle Eigenschaften sind gegensätzlich invoziert worden, haben einander beseitigt, indem sie das Problem unberührt ließen, was diese beiden Krankheiten in ihrer inneren Natur seien. Ziemlich oft ist die Hysterie als Wirkung einer inneren Hitze perzipiert worden, die im ganzen Körper eine Erhitzung und ein — in Konvulsionen und Spasmen unaufhörlich manifestiertes - Kochen verbreitet. Diese Wärme ist vielleicht mit der Liebesglut verwandt, mit der die Hysterie bei den Mädchen, die einen Mann suchen, und den jungen Witwen, die ihren Gatten verloren haben, so oft verbunden ist. Die Hysterie ist von Natur aus brennend, ihre Anzeichen verweisen eher auf ein Bild als auf eine Krankheit. Dieses Bild hat Jacques Ferrand am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts in seiner ganzen materiellen Präzision gemalt Er gefällt sich, in seiner Maladie d'amour ou mélancolie erotique zu erkennen, daß die Frauen öfter liebestoll sind als die Männer. Mit welcher Kunst aber verstehen sie, es zu verbergen! »Darin ist ihr Gesichtsausdruck dem von Destillierkolben ähnlich, die nett auf Ringen sitzen, ohne daß man das Feuer draußen sieht, wenn man aber unter den Destillierkolben schaut und die Hand auf das Herz der Damen legt, findet man an beiden Stellen eine große Glut.« 2 " Ein durch sein symbolisches Gewicht, durch seine affektiven Überladungen und das ganze Spiel seiner imaginären Bezüge herrliches Bild. Lange Zeit nach Ferrand wird man die Frage nach den Eigenschaften der feuchten Hitze wiederfinden, um die geheimen Destillationen der Hysterie und der Hypochondrie zu charakterisieren, aber das Bild wird zugunsten eines abstrakteren Motivs verwischt. Bereits bei Nicolas Chesneau ist die Flamme des weiblichen Destillierkolbens schon farbloser: »Ich behaupte, daß die hysterische Leidenschaft keine einfache Erscheinung ist, sondern daß man unter diesem Namen verschiedene Übel zusammenfaßt, die durch einen bösen Dunst, der sich irgendwie erhebt, verdorben ist und eine außergewöhnliche Erhitzung zeigt, verursacht werden.«" 3 Für andere hingegen ist die Hitze, die von den Weichen aufsteigt, völlig zoz Jacques Ferrand, De la maladie de l'amour ou mélancolie érotique, Paris 1623, S. 164. 203 Nicolas Chesneau, Observationum medicarum libri quinque, Paris 1672, Such 3, Kapitel 14.
trocken: die hypochondrische Melandiolie ist eine »warme und trockene« Krankheit, die durch »Säfte gleicher Beschaffenheit« verursacht wird.204 Aber bestimmte Autoren nehmen keine Wärme in der Hysterie oder in der Hypodiondrie wahr. Nach ihrer Auffassung berühr die diesen Krankheiten eigene Besdiaffenheit dagegen auf der Mattigkeit, der Regungslosigkeit und einer den stehenden Säften eigenen kalten Feuchtigkeit: »Ich meine, daß diese hypochondrischen und hysterischen Besdiwerden, wenn sie von einiger Dauer sind, davon abhängen, daß die Fibern des Gehirns und der Nerven entspannt, schwach, aktionslos und unelastisdi sind. Sie hängen auch davon ab. daß die Nervenflüssigkeit völlig kraftlos ist.«20' Kein Text bezeugt wahrsdieinlidi diese qualitative Beweglidikeit der Hysterie besser als das Budi von George Cheyne, Tbc Englisb Malady. Darin erhält die Krankheit ihre Einheit nur auf eine abstrakte Weise aufrecht, und ihre Symptome sind in verschiedene qualitative Gebiete geteilt und Medianismen zugeschrieben, die jeder dieser Regionen eigen sind. Alles, was Spasma, Krampf, Konvulsion ist, gehört zu einer Pathologie der Wärme, die durch »salzige Partikeln« und durch »schädliche, scharfe oder beißende Dünste« symbolisiert werden. Alle psychologischen oder organischen Zeichen der Schwäche hingegen - »Niedergeschlagenheit, Ohnmadit, Inaktivität des Geistes, Lethargie. Melancholie und Traurigkeit« - manifestieren einen Zustand der zu feudii und zu sdilaff gewordenen Fibern (wahrsdieinlidi unter der Wirkung kalter, zäher und dicker Säfte, die sowohl die serumhaltigen als auch die bluthaltigen Drüsen und Gefäße verstopfen). Die Paralyse bedeutet gleidizeitig ein Erkalten und eine Immobilisierung der Fibern »eine Unterbrediung der Vibrationen«, die in gewisser Weise in Jer allgemeinen Bewegungslosigkeit der festen Körper eingefroren sind. In dem Maße, wie die Manie und die Melancholie sich bequem in Jen·. Register der Eigenschaften niederschlugen, finden die Phänomene Je: Hysterie und der Hypochondrie nur schwer darin Platz. Die Medizin der Bewegung ist ihnen gegenüber ebenso unentsdiiedct und ihre Analysen sind ebenso beweglich. Es ist ziemlich klar - hinsichtlich der Perzeption wenigstens, die nidit ihre eigenen Bilder abweist —, daß die Manie mit einem Bewegungsexzeß verwandt war. Die Melandiolie hingegen hat mit einer Verlangsamung der Ben 204 Thomas a Murillo, Novissima 1672, S. SSti. 20J Malcolm Flemvng, Neitropathia libri très, Amsterdam 1741, S. $0 f.
bypocbondriacac
mclandioluic
sive de morbis bypocbondriacis
curalio.
1-
et bysic
ung zu tun. Für die Hysterie und ebenfalls für die Hypochondrie ist die Wahl schwierig zu treffen. Stahl optiert eher für eine Zunahme des Gewichts des Blutes, das zugleich so an Menge zunimmt und so dick wird, daß es nidit mehr regelmäßig durch die Venen zu laufen vermag. Es neigt zur Stagnation und Uberfüllung, und die Krise setzt durdi die Anstrengung ein, die es unternimmt, um sich entweder durch die oberen oder die unteren Teile einen Ausweg zu suchen.201' Für Önerhaave und für van Swieten rührt die hysterische Bewegung von tiner zu großen Beweglichkeit aller flüssigen Stoffe her, die eine solche Leichtigkeit und Unbeständigkeit annehmen, daß sie durch die geringste Bewegung in Verwirrung geraten: »Bei schwacher Konstitution ist das Blut aufgelöst. Es gerinnt kaum, und das Serum ist ohne Konsistenz, ohne Qualität. Die Lymphflüssigkeit ähnelt dem Serum, und das tun auch andere Flüssigkeiten, die diese hervorbringen, ( . . . ) . ι 'adurch wird es wahrscheinlich, daß die hysterische Leidenschaft und dir hypochondrische Krankheit, die als eiterfrei bezeichnet werden, η den Dispositionen oder dem besonderen Zustand der Nerven'bern abhängen.« Dieser Empfindlichkeit und Beweglichkeit muß "ian die Ängste, die Spasmen, die besonderen Schmerzen zuschreiben, •he so leicht von den »Mädchen, die blasse Farben haben, und von den Leuten verspürt werden, die sich dem Studium und der Meditation mgeben-.20" Die Hysterie ist entweder beweglich oder unbeweglich, 'üssig oder schwer, unregelmäßigen Vibrationen ausgesetzt oder J irch stagnierende Säfte schwer geworden. Man ist nicht dazu gekörnten. den ihren Bewegungen eigenen Stil zu entdecken, i >ie gleiche Ungenauigkeit herrscht in den chemischen Analogien. Für .anee ist die Hysterie ein Produkt von Fermentationen, genau ge-i. der Fermentation der »in verschiedene Teile des Körpers getrienen Salze- mit »den dort befindlichen Säften«.208 Für andere ist sie η alkalischer Natur. Ettmüller hingegen meint, daß die Leiden dier Art zur Folge von sauren Reaktionen gehören, »die nahe Ursache 'ür ist die saure Krudität des Magens. Wenn der Milchsaft sauer ist, -i die Qualität des Blutes schlecht. Es liefert keine Lebensgeister .hr. Die Lymphe wird sauer und die Galle kraftlos. Das Nerven' -.-m erfährt Erregungen, der verdorbene Magensaft ist weniger bc-
'icori; Ernst Stahl, De mala hypochondriaco, in: ders., Theoria medica Vera, Hille .'7oS, S. 447. : ' V->n Swieten, a. a. O., S. 12 F. Lance. Traité des vapeurs, Paris 1689, S. 41-60.
•weglich und zu sauer.«"' Viridet versucht hinsichtlich der »Dünste, die in uns aufsteigen«, eine Dialektik der alkalischen und sauren Reaktionen zu rekonstituieren, deren Bewegungen und heftiges Aufeinandertreffen im Gehirn und den Nerven die Anzeichen der Hysterie und der Hypochondrie hervorrufen. Bestimmte Lebensgeister, die besonders gelöst sind, sollen Laugensalze sein, die sidi mit großer Geschwindigkeit bewegen und in Dünste verwandeln, wenn sie eine zu große Feinheit erreicht haben. Es gibt aber andere Dünste, die verflüchtigte Säuren sind. Der Äther gibt diesen genügend Bewegung, um sie zum Hirn und in die Nerven zu tragen, wo »sie, wenn sie Alkalisalze treffen, unendliche Übel anrichten«." 0 Das ist eine eigenartige, fehlende Stabilität in den Eigenschaften dieser hysterischen und hypochondrischen Leiden, eine seltsame Konfusion ihrer dynamischen Eigenschaften und des Geheimnisses ihrer Chemie. So einfach das Ablesen der Manie und der Melancholie am Horizont der Eigenschaften erschien, so zögernd erscheint die Entzifferung dieser Leiden. Ohne Zweifel ist jene imaginäre Landschaft der Eigenschaften, die für die Konstituierung des Paares Manie und Melancholie entscheidend war, in der Geschichte der Hysterie und der Hypochondrie sekundär geblieben, wo sie wahrscheinlich nur die Rolle eines stets erneuerten Dekors gespielt haben. Das Wandern der H y sterie ist nidit wie das der Manie durch dunkle Eigenschaften der Welt erfolgt, die in einer ärztlichen Vorstellungskraft reflektiert wurden. Der Raum, in dem die Hysterie ihr Maß gefunden hat, ist von anderer Natur. Es ist, in der Kohärenz seiner organischen und moralisdien Werte, der Raum des Körpers. Gewöhnlich weist man Le Pois und Willis die Ehre zu, die Hysterie von den alten Mythen der Uterusversdiiebungen befreit zu haben. Liebault nahm, als er das Buch von Marinello übersetzte oder vielmehr für das siebzehnte Jahrhundert adaptierte, trotz einiger Einschränkungen noch die Idee einer spontanen Bewegung der Gebärmutter an. Wenn sie sich bewegt, »gesdiieht das, damit sie bequemer liegt. Sie tut es nicht aus Klugheit, auf Befehl oder animalischen Stimulus hin, sondern aus natürlichem Instinkt, um die Gesundheit zu bewahren und den Genuß von etwas Schönem zu haben.« Wahrscheinlich erkennt man ihr nicht mehr die Fähigkeit zu, ihren Sitz zu 209 Ettmiiller, Disscrtatio de mala bypocbondriaco, in: ders., a . a . O . , S. 571. 210 Viridet, Dissertation sur les vapeurs, Y v c r d o n 1726, S. 50-62.
ändern und den Körper zu durchlaufen, wobei sie ihn im Zuge ihres Wanderns durch Stöße erschüttert, denn sie ist an ihrem Hals durch Bänder, Gefäße und schließlich durch die Haut des Bauchfelles »eng befestigt«. Dennoch kann sie ihren Platz wechseln: »Die Gebärmutter kann also, obwohl sie so eng an die Teile, die wir beschrieben haben, angeheftet ist, daß sie ihren Platz nicht wechseln kann, doch oft ihren Ort verändern und ziemlich heftige, dem Körper der Frau fremde Bewegungen ausführen. Diese Bewegungen sind unterschiedlich, aufsteigend, absteigend, konvulsiv, vagabundierend, mitunter fällt sie auch nach vorn. Sie steigt zur Leber auf, zur Milz, zum Zwerchfell, zum Magen, zur Brust, zum Herz, zur Lunge, zur Kehle und zum Kopf.« 2 " Die Ärzte des klassischen Zeitalters werden fast alle einstimmig eine ähnliche Erklärung ablehnen. Seit dem Beginn des siebzehnten Jahrhundert kann Le Pois über die hysterischen Konvulsionen schreiben: »Eorum omnium caput esse parentem, idque non per sympathiam, sed per idiopathiam.« Genauer gesagt: ihr Ursprung liegt in einer Häufung der flüssigen Körper im hinteren Teil des Schädels: »So wie ein Fluß aus dem Zusammenfließen aus der großen Zahl kleiner Gewässer entsteht, die ihn nach ihrer Vereinigung bilden, so häuft sich auch durch die Bögen, die an der Oberfläche des Gehirns sind und am hinteren Teil des Kopfes enden, die Flüssigkeit wegen der schrägen Position des Kopfes an. Die Wärme der Teile bewirkt dann, daß die Flüssigkeit sich erwärmt, den Ursprung der Nerven erreicht ( . . .).«212 Willis unternimmt seinerseits eine minutiöse Kritik der Erklärung mit Hilfe der Gebärmutter. Vor allem von den Beschwerden des Gehirns und des Nervensystems sollen nach ihm »die ganzen Verwirrungen und Unregelmäßigkeiten, die bei dieser Krankheit mit der Bewegung des Blutes geschehen«, abhängen.213 Dennoch haben all diese Analysen dadurch nidit die Rede von einer wesentlichen Verbindung zwischen der Hysterie und der Gebärmutter beseitigt. Diese Verbindung wird aber anders konzipiert, sie wird nicht mehr als die Bahn eines wirklichen Platzwechsels quer durdi den Körper reflektiert, sondern als eine A r t tauber Verbreitung durch die organischen Wege und die nahestehenden Funktionen. Man kann nicht sagen, daß der Sitz der Krankheit das Gehirn m Jean Liébault, Trois livres des maladies et infirmités des femmes, Paris 1609, S. 380. 212 Carolus Piso, Observationes medicae (1618), 1733 erneut von Boerhaave herausgegeben (sectio 2, § 2, K a p . V I I , S. 144). 213 Willis, De äffectionibushystericis,
in: ders., a . a . O . , Bd. 1, S. 63$.
geworden sei, noch daß Willis eine psychologische Analyse der H y sterie möglidi gemacht hat. Das Gehirn spielt aber jetzt die Rolle des Relais und Verteilers eines Obels, dessen Ursprung die Eingeweide sind. Die Gebärmutter verursacht Hysterie wie alle anderen Eingeweide.2I,t Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, bis zu Pinel, werden Uterus und Matrix in der Pathologie der Hysterie gegenwärtig bleiben 21 ', aber dank einer privilegierten Diffusion durch die Säfte und Nerven und nicht durch eine besondere Geltung ihrer Natur. Stahl rechtfertigt die Parallele von Hysterie und Hypochondrie durch eine eigenartige Annäherung der Menstruation und der Hämorrhoiden. Er erklärt in seiner Analyse der spasmischen Bewegungen, daß das hysterische Leiden ein ziemlich heftiger Schmerz ist, »der von Spannungen und Kompressionen begleitet wird und sich vor allem unterhalb der Weichen spüren läßt«. Man nennt es hypochondrisches Leiden, wenn es die Menschen befällt, » bei denen die Natur sich bemüht, ein Zuviel an Blut durch Erbrechen oder die Hämorrhoiden abzustoßen«. Hysterisches Leiden nennt man es, wenn es die Frauen befällt, bei denen »der Verlauf der Menstruation nicht so ist, wie er sein müßte. Zwischen den beiden Beschwerden gibt es jedoch keinen wesentlichen Unterschied.«216 Die Meinung von Hoffmann ist ganz ähnlich, trotz so vieler theoretischer Unterschiede. Die Ursache der Hysterie liegt in der Matrix - Erschlaffen und Schwäche - , aber der Sitz des Übels muß wie für die Hypochondrie im Magen oder in den Eingeweiden gesucht werden. Das Blut und die Lebenssäfte fangen an, » in den membranartigen und nervendurchzogenen Häuten der Eingeweide« zu stagnieren. Darauf folgen Störungen im Magen, die sich von dort aus im ganzen Körper verbreiten. Im Zentrum des Organismus liegend, dient der Magen als Relais und verbreitet die Beschwerden, die von den inneren und verborgenen Höhlen des Körpers kommen: »Es besteht kein Zweifel, daß die spasmischen Beschwerden, die die Hypochonder und Hysteriker verspüren, ihren Sitz in den nervösen Teilen und vor allem in den dünnhäutigen Teilen des Magens und der Eingeweide haben, von w o sie durch den Interkostalnerv dem Kopf, der Brust, den Nieren, der Leber und allen wichtigen Organen des Körpers vermittelt werden.« 217 214 "Willis, De morbis convulsivis, in: ders., a . a . O . , Bd. i , S . 536. 215 Pinel zählt die Hysterie zu den »névroses de la génération« (Nosographie philosophique). 216 Stahl, a. a. O., S. 453' 217 Hoffmann, a. a. O., Bd. 4, 3. Teil, S. 410.
Die Rolle, die Hoffmann die Eingeweide, die Nerven und den Interkostalnerv spielen läßt, ist bedeutsam für die Art, in der das Problem im Zeitalter der Klassik gestellt wird. Es handelt sich nicht so sehr darum, der alten Lokalisierung durch die Gebärmutter zu entgehen, sondern das Prinzip und den Verlauf eines unterschiedlichen, polymorphen und so im ganzen Körper verteilten Leidens zu entdecken. Man muß Rechenschaft ablegen über Beschwerden, die ebenso den Kopf wie die Beine befallen, sich durch eine Paralyse oder durch ungeordneten Bewegungen übermitteln und entweder die Katalepsie oder die Schlaflosigkeit mit sich bringen können. Kurz, es handelt sich um ein Leiden, das den körperlichen Raum mit einer solchen Geschwindigkeit und dank solcher Listen durchläuft, daß es im ganzen Körper virtuell präsent ist. Es ist unnötig, den Wechsel des ärztlichen Horizonts zu betonen, der sich von Marinello bis zu Hoffmann vollzogen hat. Nichts bleibt mehr von jener berühmten Beweglichkeit übrig, die man dem Uterus zuschrieb und die ständig in der hippokratischen Tradition aufgetaucht ist; nichts, außer vielleicht einem bestimmten Thema, das jetzt um so deutlicher hervortritt, als es nicht mehr in einer einzigen ärztlichen Theorie bewahrt bleibt, sondern sich identisch in der Nachfolge der spekulativen Begriffe und der "Erklärungsschemata fortsetzt. Dieses Thema ist das des dynamischen Durcheinanders des körperlichen Raumes, das eines Aufsteigens der unteren Kräfte, die, nachdem sie zu lange unter Zwang standen und gewissermaßen verstopft waren, in Bewegung geraten, zu kochen beginnen und schließlich ihre Unordnung mit oder ohne Vermittlung des Gehirns im ganzen Körper verbreiten. Dieses Thema ist nahezu bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts trotz der völligen Reorganisation der physiologischen Begriffe unbeweglich geblieben. Seltsamerweise wird es sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts, ohne daß es einen theoretischen oder experimentellen Umsturz in der Pathologie gegeben hätte, plötzlich ändern, seine Bedeutung wechseln - einer Dynamik des körperlichen Raums wird eine Moral der Sensibilität nachfolgen. Erst dann werden die Begriffe von Hysterie und Hypochondrie sich drehen und endgültig in die Welt des Wahnsinns eintreten. Wir müssen jetzt versuchen, die Entwicklung dieses Themas in jeder seiner drei Etappen wiederherzustellen: 1. Eine Dynamik der organischen und moralischen Durchdringung; 2. eine Physiologie des körperlichen Zusammenhangs; 3. eine Ethik der nervlichen Sensibilität.
Wenn der körperliche Raum als eine feste und zusammenhängende Einheit verstanden wird, kann die ungeordnete Bewegung der H y sterie und der Hypochondrie nur von einem Element kommen, dem seine extreme Feinheit und unaufhörliche Beweglichkeit gestatten, in den durdi die festen Stoffe besetzten Platz einzudringen. Wie Highmore sagt, können die Lebensgeister »wegen ihrer feurigen Dünne sogar in die dichtesten und kompaktesten Körper eindringen ( . . . ) und wegen ihrer Aktivität den ganzen Mikrokosmos in einem einzigen Augenblick durchdringen«. 1 ' 8 Die Geister rufen in allen Teilen des Körpers, für die sie nidit bestimmt sind, tausend verschiedene Anzeichen für Störungen hervor, wenn ihre Beweglichkeit übertrieben, ihre Durchdringung ungeordnet und stürmisch verläuft. Für Highmore wie für Willis, seinen Gegner, und ebenfalls für Sydenham ist die Hysterie die Krankheit eines unterschiedslos für alle Anstrengungen der Lebensgeister durdidringbar gewordenen Körpers, so daß sich an die Stelle der inneren Ordnung der Organe der zusammenhanglose Raum der passiv der ungeordneten Bewegung der Lebensgeister unterworfenen Massen setzt. Diese »bewegen sich stürmisch und in großer Zahl in diesem oder jenem Teil, verursachen dort Krämpfe oder sogar Schmerzen ( . . . ) , stören die Funktion der O r gane, und zwar nicht nur derjenigen, die sie verlassen, sondern auch derjenigen, in die sie eindringen, wodurch die betroffenen Organe notwendig infolge der ungleichen Verteilung der Lebensgeister, die den Gesetzen der Lebensökonomie völlig entgegengesetzt ist, stark geschädigt werden.« 2 "' Der hysterische Körper wird so jener spirituum ataxia ausgesetzt, die außerhalb jedes organischen Gesetzes und jeder funktionalen Notwendigkeit sidi nacheinander aller disponiblen Räume des Körpers bemächtigen kann. Die Wirkungen sind nach den betroffenen Gebieten jeweils verschieden, und das vom reinen Ursprung seiner Bewegung her undifferenzierte Übel nimmt gemäß den Räumen, die es durchfährt, und den Oberflächen, an die es stößt, unterschiedliche Gestalt an: »Wenn sie sich im Bauch anhäufen, werfen sie sich mit Kraft und in großer Menge auf die Muskeln des Larynx und des Pharynx, rufen Krämpfe in der ganzen Breite, die sich durchlaufen, hervor und verursachen im Bauch eine Schwellung, die einer großen Kugel ähnelt.« Die hysterische Beschwerde verursacht ein wenig weiter oben, »indem sie sich auf 218 H i g h m o r e , a . a . O . 2 i j Sydenham, Dissertation
196
sur l'affection
hystérique,
in: ders., a . a . O . , S. 400 f.
den Grimmdarm und das Gebiet, das unterhalb der Herzgrube liegt, einen unerträglichen Schmerz, der der Darmgicht ähnelt«. Steigt das Übel noch höher, dann wirft es sich auf die »vitalen Teile und verursacht ein so heftiges Herzklopfen, daß der Kranke nicht daran zweifelt, daß die Anwesenden den Lärm, den das Herz macht, während es gegen die Rippen schlägt, hören können«. Wenn es schließlich »den äußeren Teil des Kopfes zwischen Schädel und Hirnschalhaut befällt und an einer Stelle sitzen bleibt, löst es dort einen unerträglichen, von starkem Erbrechen begleiteten Schmerz aus ( . . J e d e r Teil des Körpers determiniert selber und durch die ihm eigene Natur die Form des Symptoms, das auftreten wird. Die Hysterie erscheint so als wirklichste und täuschendste der Krankheiten. Als wirklichste erscheint sie, weil sie auf einer Erscheinung der Lebensgeister beruht, und als illusorisch deshalb, weil sie Symptome hervorruft, die durch eine den Organen inhärente Störung hervorgerufen scheinen, während in ihnen lediglich auf der Ebene der Organe eine zentrale oder vielmehr allgemeine Störung Gestalt annimmt. Die Regellosigkeit der inneren Bewegung nimmt an der Oberfläche des Körpers das Gesicht eines auf einen Teil beschränkten Symptoms an. Das Organ imitiert seine eigene Krankheit, wenn es wirklich durch ordnungslose und unmäßige Bewegung der Lebensgeister getroffen wird. V o n einem Bewegungsfehler im inneren Raum her weist das Organ eine Störung auf, die wie eine es speziell betreffende aussieht. Auf diese Weise imitiert die Hysterie »beinahe alle Krankheiten, die den Menschen befallen, denn in welchem Teil des Körpers sie auch begegnen mag, ruft sie sofort die diesem Teil des Körpers eigenen Symptome hervor, und wenn der A r z t nicht über sehr viel Erfahrung und Klugheit verfügt, wird er sich leicht täuschen und einer diesem oder jenem Teil essentiellen oder eigenen Krankheit Symptome zuschreiben, die allein von Hysterie herrühren«.121 Das sind die Listen eines Leidens, das in homogener Bewegung den Körper durchläuft und sich unter spezifischen Gesichtern manifestiert. Die A r t aber ist hier nicht authentisch, sondern nur vom Körper gespielt. Je bequemer der innere Raum durchdringbar ist, um so häufiger wird die Hysterie und um so zahlreicher werden ihre Aspekte sein. Wenn aber der Körper fest und widerstandsfähig ist, der innere Raum dicht, geordnet und auf entschiedene Weise in seinen verschiedenen Gebie220 A . a . O . , S. 395 f. 221 A . a . O., S. 394.
ten heterogen ist, sind die Symptome der Hysterie selten und werden ihre Wirkungen einfach bleiben. Trennt nicht genau dies die weibliche von der männlichen Hysterie, oder, wenn man so will, die H y sterie von der Hypochondrie? Weder die Symptome noch die Ursachen bilden tatsächlich das Trennungsprinzip zwischen den Krankheiten, sondern die räumliche Festigkeit des Körpers und sozusagen die Dichte der inneren Landschaft: »Außer dem Menschen, den man als äußeren bezeichnen kann, und der aus den sinnlich wahrnehmbaren Teilen besteht, gibt es einen inneren Menschen, der durch das System der Lebensgeister gebildet wird und nur mit geistigem Auge sichtbar ist. Der letztere, der eng verbunden und sozusagen mit der körperlichen Konstitution vereinigt ist, ist in seinem Zustand mehr oder weniger gestört, je nachdem, ob die Prinzipien, die die >Maschine< bilden, mehr oder weniger Festigkeit von der Natur erhalten haben. Deshalb befällt diese Krankheit viel mehr Frauen als Männer, weil sie eine viel empfindlichere, weniger feste Konstitution haben und ein weicheres Leben führen, an die Freuden oder Bequemlichkeitén gewöhnt sind und nicht viel zu leiden haben.« Bereits in den Zeilen dieses Textes stellt jene räumliche Dichte eine ihrer Bedeutungen klar. Sie ist gleichzeitig moralische Dichte. Der Widerstand der O r gane gegenüber der ungeordneten Durchdringung von Seiten der Lebensgeister bildet vielleicht nur ein und dieselbe Sache wie jene Seelenkraft, die in den Gedanken und in den Wünschen Ordnung herrschen läßt. Jener innere, durchtränkbar und porös gewordene Raum ist letzten Endes nichts als das Erschlaffen des Herzens. Das erklärt, warum so wenig Frauen hysterisch werden, wenn sie einem harten und mühsamen Leben ausgesetzt sind, daß sie dagegen sehr zur H y sterie neigen, wenn sie ein weiches, müßiges, luxuriöses und schlaffes Leben führen oder wenn irgendeine Sorge ihren Mut niederdrückt: »Wenn die Frauen mich wegen einer Krankheit befragen, deren N a tur ich nicht feststellen kann, frage ich, ob das Leiden, über das sie klagen, sie nicht befällt, wenn sie Ärger haben. ( . . . ) Wenn sie dies bestätigen, bin ich voll davon überzeugt, daß ihre Krankheit hysterische Beschwerden sind.«211 Wir haben also in einer neuen Formel die alte moralische Anschauung, die aus der Gebärmutter seit Hippokrates und Piaton ein lebendes und unaufhörlich bewegliches Wesen gemacht hatte und die räumliche Anordnung seiner Bewegungen eingeteilt hatte. Diese Anschau222 Ebda.
ung perzipierte in der Hysterie die unbezähmbare Erregung der Lüste bei denjenigen, die eben nicht die Möglichkeit haben, sie zu befriedigen, und nicht die Kraft, sie zu bezähmen. Das Bild vom bis zur Brust und bis zum Kopf hinaufsteigenden weiblichen Organ gab einer Umwälzung in der großen platonischen Dreiteilung und in der Hierarchie, die ihre Unbeweglichkeit fixieren sollte, einen mythischen Ausdruck. Bei Sydenham, bei den Schülern von Descartes ist die moralische Anschauung identisch, aber die räumliche Landschaft, in der sie sich ausdrückt, hat sich geändert. An die Stelle der vertikalen und hieratischen Ordnung Piatons hat sich ein Volumen gestellt, das von unaufhörlich beweglichen Teilen, deren Unordnung nicht mehr genau Revolution von unten nach oben, sondern gesetzloser Wirbel in einem umgestürzten Raum ist, durchlaufen wird. Dieser »innere Körper«, den Sydenham mit »dem geistigen Auge« zu durchdringen suchte, ist nicht der objektive Körper, der sich dem fahlen Blick einer neutralen Beobachtung bietet. Er ist der Ort, an dem sich eine bestimmte Art, den Körper vorzustellen und seine inneren Bewegungen zu entziffern, und eine bestimmte Art, moralische Werte hineinzulegen, treffen. Das Werden erfüllt sich, die Arbeit vollzieht sich auf der Ebene jener etfe'sc&en Perzeption. In ihr beugen und neigen sich die stets biegsamen Bilder der ärztlichen Theorie, und die großen moralischen Themen vermögen sich in ihr ebenfalls zu formulieren und ihre ursprüngliche Gestalt langsam zu verändern. Dieser durchdringbare Körper muß dennoch ein zusammenhängender Körper sein, denn die Zerstreuung des Leidens durch die Organe ist nur die Umkehrung einer Verteilerbewegung, die ihm gestattet, von einem zum anderen zu gelangen und sie nacheinander alle zu befallen. Wenn der Körper des hypochondrischen oder hysterischen Kranken ein poröser, von sich selbst getrennter, durch das Eindringen des Übels ausgeweiteter Körper ist, kann dieses Eindringen sich nur dank der Unterstützung eines bestimmten räumlichen Zusammenhangs vollziehen. Der Körper, in dem die Krankheit zirkuliert, muß andere Eigenschaften haben als der Körper, in dem die verteilten Symptome des Kranken auftauchen. Dieses Problem beschäftigt die Medizin des achtzehnten Jahrhunderts und macht aus der Hypochondrie und der Hysterie Krankheiten »des Nervensystems«, das heißt idiopathische Krankheiten des allgemeinen Agens aller Sympathien. Die Nervenfiber ist mit bemerkenswerten Eigenschaften ausgestattet,
die ihr erlauben, die Integration der heterogensten Elemente zu sichern. Es ist bereits erstaunlich, daß die Nerven, die die unterschiedlichsten Eindrücke wiedergeben sollen, überall und in allen Organen von gleicher Natur sein sollten. »Der Nerv, dem seine Entfaltung im Hintergrund des Auges gestattet, den Eindruck einer so feinen Materie wie des Lidits aufzunehmen, und der im Hörorgan, der für die Vibrationen klingender Körper empfindlich wird, unterscheiden sich durdi ihre Natur in nichts von denen, die gröberen Sinneseindrücken wie dem Tasten, dem Geschmack, dem Geruch dienen.«" 3 Diese Identität in der Natur bei unterschiedlicher Funktion sichert die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen den örtlich entferntesten und physiologisch unähnlichsten Organen: »Diese Homogenität in den Nerven des Lebewesens in Verbindung mit den zahlreichen Kommunikationen, die sie gemeinsam bewahren, ( . . . ) stellt zwischen den Organen eine Harmonie her, die oft einen oder mehrere Teile an den Affekten teilhaben läßt, durch die andere Teile verletzt werden.«"* Noch erstaunlicher aber ist, daß eine Nervenfiber gleichzeitig die Erregung der willkürlichen Bewegung und den auf dem Sinnesorgan hinterlassenen Eindruck tragen kann. Tissot faßt dieses doppelte Funktionieren in ein und derselben Fiber wie die Kombination aus einer WeWewbewegung auf, wenn es sich um die willkürliche Erregung handelt (»das ist die Bewegung einer in einem weichen Reservoir, zum Beispiel in einer Blase, eingeschlossenen Flüssigkeit, das ich zusammendrücken würde und das die Flüssigkeit durch eine Röhre austreten ließe«) und aus einer körperförmigen Bewegung hinsichtlich der Empfindung (»das ist die Bewegung einer Reihe von Elfenbeinkugeln«). So können Empfindung und Bewegung sich gleichzeitig im selben N e r v vollziehen." 3 Jede Spannung und jedes Erschlaffen in der Nervenfiber wird gleichzeitig die Bewegungen und die Empfindungen verändern, wie wir es in allen Nervenkrankheiten beobachten können." 6 Ist es trotz dieser vereinigenden Kräfte des Nervensystems sicher, daß man durch das wirkliche N e t z seiner Fibern den Zusammenhang der sehr verschiedenen Störungen, die die Hysterie und die H y p o chondrie charakterisieren, erklären kann? Wie soll man sich die Verbindungen zwischen den Zeichen vorstellen, die überall im Körper 223 Pressavin, Nouveau traité des vapeurs, L y o n 1770, S. 2 f. 224 A . a . O . , S. 3. 22j Tissot, Traité des nerfs et de leurs maladies, Paris 1778-1780, Bd. 1, S. 99 f . 22Ä A . a. O., Bd. 2, S. 270-292.
das Vorhandensein eines nervlichen Leidens zeigen? Wie und durch welche Verkettungslinie kann man erklären, daß bei verschiedenen »zarten und sehr empfindlichen« Frauen ein berauschendes Parfum, die zu lebhafte Erzählung eines tragischen Ereignisses oder auch der Anblick eines Kampfes einen solchen Eindruck machen, daß sie »Ohnmachtsanfälle oder Konvulsionen erleiden«?117 Man würde vergeblich suchen, denn es gibt keine genaue Verbindung der Nerven, keinen von vornherein gezogenen Weg, sondern nur eine Aktion aus der Distanz, die eher zur Ordnung einer physiologischen Solidarität gehört. Das liegt daran, daß die verschiedenen Körperteile eine sehr »determinierte Fähigkeit besitzen, die entweder allgemein und über das ganze System der Lebensökonomie ausgedehnt ist, oder eine besondere ist, das heißt eine, die sich in erster Linie in ganz bestimmten Teilen auswirkt«. 118 Diese sehr unterschiedliche Eigenheit sowohl »der Fähigkeit, etwas zu empfinden, als auch der, sich zu bewegen«, gestattet den Organen, zu korrespondieren, zusammen zu leiden, auf eine, obwohl ferne, Erregung zu reagieren: das ist die Sympathie. Tatsächlich vermag Whytt nicht die Sympathie in der Gesamtheit des Nervensystems zu isolieren, noch sie streng in Beziehung zur Empfindsamkeit und zur Bewegung zu definieren. Die Sympathie existiert in den Organen nur in dem Maße, in dem sie durch Vermittlung der Nerven darin empfangen wird. Sie ist um so mehr gekennzeichnet, als deren Beweglichkeit 119 größer ist, und gleichzeitig ist sie eine der Formen der Sensibilität: »Jede Sympathie, jeder Konsensus setzt Gefühl voraus und kann folglich nur durch die Vermittlung der Nerven, die die einzigen Instrumente sind, mit deren Hilfe sich die Empfindbarkeit vollzieht, erlangt werden.« 130 Das Nervensystem aber wird hier nicht mehr zur Erklärung der genauen Übermittlung einer Bewegung oder einer Empfindung hinzugezogen, sondern um in ihrer Gesamtheit und ihrer Masse die Empfindsamkeit des Körpers gegenüber seinen eigenen Phänomenen und jenes Echo zu rechtfertigen, das er sich selbst durch das Volumen seines organischen Raumes gibt. Die Nervenkrankheiten sind wesentlich Störungen der Sympathie und setzen einen allgemeinen Alarmzustand des Nervensystems voraus, der jedes Organ dafür empfindlich macht, daß es in Sympathie mit irgendeinem anderen treten kann: »In einem solchen Zustand 227 228 229 230
Whytt, a. a. O., Bd. 1, S. 24. A . a. O., Bd. 1, S. 23. A . a . O . , B d . 1, S. 51. A . a . O . , Bd. 1, S. $0.
von Empfindlichkeit des Nervensystems werden die Leidenschaften der Seele, die Fehler in der Lebensweise, der abrupte Wechsel von Hitze und Kälte oder von Schwere und Feuchtigkeit der Atmosphäre sehr leicht die krankheitstragenden Symptome entstehen lassen, so daß man sich mit einer solchen Konstitution keiner festen und konstanten Gesundheit erfreuen wird. Gewöhnlich aber wird man eine kontinuierliche Abfolge von mehr oder weniger großen Schmerzen verspüren.« 23 ' Wahrscheinlich wird diese erbitterte Sensibilität durch Zonen von Gefühllosigkeit und gleichsam durch Schlafzonen kompensiert. In einer allgemeinen Weise sind die Hysteriker diejenigen, bei denen diese innere Sensibilität ausgeprägter ist, während sie bei den Hypochondern im Gegenteil relativ abgestumpft ist. Ganz gewiß gehören die Frauen zur ersten Kategorie, ist doch die Gebärmutter mit dem Gehirn das Organ, das am meisten Sympathien mit der Gesamtheit des Organismus unterhält. Es genügt, das »Erbrechen zu nennen, das im allgemeinen die Entzündung der Gebärmutter begleitet. Ekelgefühle, unregelmäßiger Appetit, der der Empfängnis folgt, das Zusammenziehen des Zwerchfells und der Bauchmuskeln zur Zeit der Niederkunft, Kopfschmerzen, Hitze und Rückenschmerzen, Kolik in den Eingeweiden, die beim Herannahen der Menstruation spürbar werden.«232 Der ganze weibliche Körper wird von dunklen, aber eigenartig direkten Wegen der Sympathie durchzogen, er ist stets in einer unmittelbaren Komplizität mit sich selbst, so daß er für die Sympathien gewissermaßen einen Ort absoluten Privilegs bildet. Von einer Extremität seines organischen Raumes zur anderen schließt er eine ständige Möglichkeit der Hysterie ein. Die sympathetische Sensibilität ihres Organismus, die durch den ganzen Körper strahlt, verurteilt die Frau zu jenen Nervenkrankheiten, die man vapeurs nennt. »Die Frauen, bei denen das System allgemein beweglicher ist als bei den Männern, sind den Nervenkrankheiten in stärkerem Maße ausgesetzt, die sich bei ihnen auch in beträchtlicherem Umfang finden.«233 Whytt versichert, Zeuge dessen gewesen zu sein, daß »der Schmerz eines Zahnleidens bei einer jungen Frau, deren Nerven schwach waren, Konvulsionen und eine Gefühllosigkeit hervorriefen, die mehrere Stunden dauerten und sich erneuerten, wenn der Schmerz stärker wurde.« Die Nervenkrankheiten sind Krankheiten des körperlichen Zusam2JI A . a . O . , B d . i , S. iz6l. 232 A . a . O . , Bd. 1, S. 47. 233 A . a . O . , Bd. i , S . 166 f.
menhangs. Ein sich selbst sehr naher Körper, der mit jedem seiner Teile zu vertraut ist, und ein organischer Raum, der irgendwie eng zusammengezogen ist, sind jetzt zum gemeinsamen Thema der H y sterie und der Hypochondrie geworden. Das stärkere Zusammenrücken des Körpers in sich nimmt bei bestimmten Autoren die Gestalt eines genauen, zu genauen Bildes an. Das ist bei dem berühmten, von Pomme beschriebenen »Einschrumpfen des Nervensystems« der Fall. Ähnliche Bilder maskieren das Problem, beseitigen es aber nicht und verhindern nicht die Fortsetzung der Arbeit. Ist diese Sympathie im Grunde eine verborgene Eigenschaft jeden Organs — jenes »Gefühl«, von dem Cheyne sprach - oder eine wirkliche Verteilung auf dem Weg über ein Zwischenelement? Ist die pathologische Ähnlichkeit, die die Nervenkrankheiten charakterisiert, Verschlimmerung dieses Gefühls oder größere Beweglichkeit dieses durchbrochenen Körpers? Es ist eine seltsame, aber wahrscheinlich für das ärztliche Denken im achtzehnten Jahrhundert charakteristische Tatsache, daß, während zur gleichen Zeit die Physiologen sich bemühen, die Funktionen und die Rolle des Nervensystems (Sensibilität und Reizbarkeit, Empfindung und Bewegung) sehr genau einzukreisen, die Ärzte in konfuser Weise jene Begriffe in der undeutlichen Einheit der pathologischen Wahrnehmung benutzen und sie gemäß einem ganz anderen Schema als dem von der Physiologie vorgeschlagenen artikulieren. Empfindbarkeit und Bewegung werden nicht unterschieden. Tissot erklärt, daß das Kind mehr als jeder andere sensibel ist, weil alles in ihm leichter und beweglicher ist.234 Die Reizbarkeit in dem Sinne, in dem Haller darunter eine Eigenschaft der Nervenfiber verstand, wird mit der Reizung verwechselt, die als krankhafter Zustand eines Organs verstanden wird, der durch eine längere Aufregung hervorgerufen wird. Man wird zugeben, daß die Nervenkrankheiten Erregungszustände sind, die mit einer äußersten Mobilität der Fiber verbunden sind. »Man sieht mitunter Personen, bei denen die geringste Ursache beträchtlichere Bewegungen hervorruft als diejenigen, die bei gesunden ausgelöst werden. Sie können nicht den geringsten fremden Eindruck aushalten. Das geringste Geräusch, das schwächste Licht verursacht bei ihnen schon außergewöhnliche Symptome.« 23 ' In dieser wil234 Tissot, a. a. O., Bd. 1, S. 274. 235 A . a . O . , Bd. i , S . 301.
lentlich aufrechterhaltenen Ambiguität des Begriffs der Reizung kann die Medizin am Ende des achtzehnten Jahrhunderts tatsächlich den Zusammenhang zwischen der Disposition (Reizbarkeit) und dem krankhaften Ereignis (Reizung) zeigen. Aber sie kann gleichzeitig das Thema einer einem Organ eigenen Störung, das, wenn auch in einer ihm eigenen Einzigartigkeit, einen allgemeinen Befall verspürt (diese trotz allem diskontinuierliche Kommunikation wird durch die dem Organ eigene Sensibilität gesichert), und die Idee der Verteilung einer selben Störung im ganzen Organismus aufrechterhalten, die ihn in jedem seiner Teile zu erreichen vermag (die Beweglichkeit der Fiber sichert diesen Zusammenhang trotz der verschiedenen Formen, die sie in den Organen annimmt). Wenn aber der Begriff der »gereizten Fiber« diese Rolle erzwungener Konfusion hat, gestattet er andererseits in der Pathologie eine entscheidende Unterscheidung. Einerseits sind die Nervenkranken die reizbarsten, das heißt die empfindlichsten: Schwäche der Fiber, Empfindlichkeit des Organismus, aber auch leicht beeindruckbare Seele, unruhiges Herz, zu lebhafte Sympathie all dem gegenüber, was um den Menschen herum vorgeht. Diese A r t universaler Resonanz - gleichzeitig Empfindung und Beweglichkeit - bildet die erste Determination der Krankheit. Die Frauen, die »eine zerbrechliche Fiber« haben, die sich in ihrer Muße durch die lebhaften Bewegungen in ihrer Vorstellungskraft leicht erregen lassen, sind öfter von Nervenleiden befallen als der »robustere, trockenere, durch die Arbeiten ausgebranntere« Mann. 236 Dieser Erregungsüberschuß hat die Besonderheit, daß er in seiner Lebhaftigkeit die Seelenempfindungen abschwächt und mitunter völlig erlöschen läßt, als übersteige die Sensibilität des nervlichen Organs die Fähigkeit, selbst zu fühlen, die die Seele hat, und beseitige zu ihrem eigenen Vorteil die Multiplizität der Empfindungen, die ihre extreme Mobilität hervorruft. Das Nervensystem »ist in einem solchen Erregungs- und Reaktionszustand, daß es dann unfähig ist, der Seele das zu übermitteln, was es verspürt. Alle seine Eigenschaften sind durcheinandergebracht, sie liest sie nicht mehr.«237 So zeichnet sich die Idee einer Sensibilität ab, die nicht Empfindung ist, und von einer umgekehrten Beziehung zwischen jener Zartheit, die ebenso zur Seele wie zum Körper gehört, und einem bestimmten Schlaf des Gefühls, der die nervlichen Erschütterungen
23« A . a. O., Bd. I, S. 278 f. 237 A . a . O . , B d . j , S. 302f.
daran hindert, bis zur Seele zu gelangen. Die Bewußtlosigkeit des H y sterikers ist nur die Umkehrung seiner Sensibilität. Jene Beziehung konnte der Sympathiebegriff nicht definieren, der durch jene Vorstellung von der Reizbarkeit herangetragen worden ist, die so wenig ausgearbeitet und im Denken der Fachleute der Pathologie noch so konfus war. Aber durch diese Tatsache verändert sich die moralische Bedeutung der »Nervenkrankheit« in tiefem Maße. Solange die Nervenleiden mit den organischen Bewegungen der unteren Körperteile (selbst auf den vielfältigen und konfusen Wegen der Sympathie) in Verbindung gebracht wurden, stellten sie sich in eine bestimmte Ethik der Begierde: sie waren die Vergeltung eines rohen Körpers; man wurde von zu großer Heftigkeit krank. Künftig ist man krank, weil man zuviel empfindet, und leidet an einer äußersten Solidarität mit allen Wesen in der Umgebung. Man wird nicht mehr durch seine geheime Natur gezwungen, sondern ist Opfer all dessen, was an der Oberfläche der Welt den Körper und die Seele herausfordert. Gleichzeitig ist man viel unschuldiger und viel schuldiger an all dem. Unschuldiger, weil man durch die ganze Erregung des Nervensystems in eine um so größere Bewußtlosigkeit gezogen wird, je mehr man krank ist. Schuldiger und viel schuldiger ist man, weil alles, woran man sich in der Welt gekettet hat, das Leben, das man geführt hat, die Empfindungen, die man gehabt hat, die Leidenschaften und die Vorstellungen, die man mit zu großer Gefälligkeit kultiviert hat, in die Nervenerregung einfließt und darin gleichzeitig seine natürliche Auslegung und moralische Bestrafung findet. Das ganze Leben endet damit, daß es sich nach diesem Erregungszustand beurteilt: Mißbrauch unnatürlicher Dinge23®, die Ortsansässigkeit in Städten, Lektüre von Romanen, Theatervorstellungen 2 «, unmäßiger Eifer in den Wissenschaften240, »zu lebhafte sexuelle Leidenschaften oder jene verbrecherische, ebenso moralisch tadelnswerte wie physisch schädliche Gewohnheit« 24 '. Die Unschuld des Nervenkranken, der nicht einmal mehr die Erregung seiner Nerven spürt, ist im Grunde die gerechte Bestra238 Luft, Nahrungsmittel und Getränke, Sdilaf und Wachsein, Ruhe und Bewegung, Ausscheidungen und Vorhaltungen, Leidenschaften. Vgl. u. a. Tissot, Traité des nerfs, Bd. 2, S . 3 f . 239 V g l . Tissot, Essai sur les maladies des gens du monde. 240 Jean-Baptiste Pressavin, Nouveau traité des vapeurs, L y o n 1770, S. 15-55· 222-224. 241 A . a . O . , S. 65.
fung einer tieferen Straffälligkeit, die ihn die Welt hat der Natur vorziehen lassen. »Ein furchtbarer Zustand! ( . . . ) Das ist die schwere Strafe aller verweichlichten Seelen, die die Untätigkeit in gefährliche Leidenschaften gestürzt hat und die, um sich den von der Natur auferlegten Arbeiten zu entziehen, alle trügerischen Meinungen ergriffen haben ( . . . ) . So werden die Reichen für die erbarmungswürdige Anwendung ihres Reichtums bestraft.«1-·2 Wir stehen am Vorabend des neunzehnten Jahrhunderts: die Reizbarkeit der Nervenfiber wird ihre physiologische und pathologische Bestimmung erhalten.143 Was sie im Augenblick im Gebiet der Nervenkrankheiten hinterläßt, ist trotz allem etwas sehr Wichtiges. Auf der einen Seite ist es die völlige Annäherung der Hysterie und der Hypochondrie an die Geisteskrankheit. Durch die Hauptuntersdieidung zwischen Sensibilität und Empfindung treten sie in das Gebiet der Unvernunft ein, von dem wir gesehen haben, daß es durch das wesentliche Moment des Irrtums und des Traumes, das heißt der Blindheit, charakterisiert wird. Solange die vapeurs Konvulsionen oder fremdartige sympathetische Kommunikationen waren, die durch den Körper verlaufen, selbst als sie zur Besinnungslosigkeit und zum Verlust des Bewußtseins führten, waren sie nicht Wahnsinn. Aber sobald der Geist durch das Übermaß seiner eigenen Sensibilität blind wird, erscheint der Wahnsinn. Andererseits gibt diese Reizbarkeit dem Wahnsinn einen neuen Inhalt von Straffälligkeit, von moralischer Sanktion und gerechter Bestrafung, der nicht der klassischen Erfahrung eigen war. Sie belastet die Unvernunft mit all diesen neuen Werten. Anstatt aus der Blindheit die Bedingung der Möglichkeit aller Manifestationen des Wahnsinns zu machen, beschreibt sie ihn als psychologische Wirkung eines moralischen Fehlers. Dadurch wird das bloßgestellt, was es an Wesentlichem in der Erfahrung der Unvernunft gab. Was Blindheit war, wird zur Bewußtlosigkeit werden, was Irrtum war, wird zur Verfehlung werden, und alles, was im Wahnsinn die paradoxe Manifestation des Nicht-Seins bezeichnete, wird natürliche Strafe eines moralischen Übels werden. Zusammenfassend kann man sagen, daß diese ganze vertikale Hierarchie, die die Wahnsinnsstruktur zur Zeit der französischen Klassik vom Zyklus der materiellen Ursachen bis zur Transzendenz des Deliriums konstituierte, jetzt einstürzen und sich 242 Louis Sébastien Mercier, Tableau de Paris, 12 vols., Amsterdam 1783, Bd. 3, S. 199. 243 François-Joseph-Victor Broussais, De l'iritation 30 6
et de la folie, Paris 2 ι839·
an der Oberfläche eines Gebiets verteilen wird, das bald die Psychologie und die Moral gemeinsam besetzen und sich gegenseitig streitig madien werden. Die »wissenschaftliche Psychiatrie« des neunzehnten Jahrhunderts ist möglich geworden. In diesen »Nervenleiden« und diesen »Hysterien«, die schnell ihre Ironie ausüben werden, nimmt sie ihren Anfang.
4- Kapitel
Patienten und Ätzte Die ärztlidie Praxis und das ärztliche Denken haben im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nicht die Kohärenz, in der sie sich heute befinden. Wir haben bereits gesehen, in welcher Unabhängigkeit sich Hospitalisierung und Internierung von der Medizin befanden. Jedoch stehen sogar in der Medizin Theorie und Therapie in unvollkommener Reziprozität. Die Behandlung des Wahnsinns im Hospital war ausgeschlossen, weil dessen Hauptaufgabe in der Zucht und Bestrafung lag. Indessen entwickelten sich während der ganzen Zeit der französischen Klassik die Behandlungsformen im Bereich außerhalb der Anstalten weiter. Umfangreiche Kuren für Wahnsinnige wurdén entwickelt, deren Ziel nicht so sehr die Sorge um die Seele wie die Heilung des ganzen Individuums, der Nervenfiber und der Vorstellungskraft war. Der Körper des Irren wurde als feste und sichtbare Form seines Leidens betrachtet. Daher rühren auch jene Kuren, deren Sinn einer moralischen Perzeption und moralischen Therapie des Körpers entliehen war. Einige der wesentlichen therapeutischen Vorstellungen, die den Kuren zugrunde lagen, sollen nun untersucht werden. i . Die Konsolidierung. Es gibt im Wahnsinn, selbst in seinen heftigsten Formen, eine Komponente der Schwäche. Wenn die Lebensgeister dabei unregelmäßigen Bewegungen unterworfen sind, liegt es daran, daß sie nicht genug Kraft und Gewicht haben, um der Schwere ihres natürlichen Laufes zu folgen. Wenn man sooft Krämpfe und Konvulsionen bei den Nervenleiden antrifft, so liegt die Ursache dafür in zu großer Beweglichkeit, zu großer Reizbarkeit oder Empfindlichkeit für Vibrationen der Nervenfiber. A u f jeden Fall fehlt es ihr an Robustheit. Unter der offen sichtbaren Heftigkeit des Wahnsinns, die mitunter die Kraft der Maniakalisdien in beträchtlichem Maße zu vervielfachen scheint, gibt es stets eine geheime Schwäche, einen wesentlichen Mangel an Widerstand. Das Toben des Irren ist in Wahrheit nur passive Heftigkeit. Man wird also nach einer Kur suchen, die den Lebensgeistern und den Nervenfibern eine Kraft gibt, aber eine ruhige Kraft, eine von keiner Unordnung mobilisierbare Stärke so groß wird von Anfang an ihre Biegsamkeit gegenüber dem Lauf des Naturgesetzes sein. Mehr als das Bild der Lebhaftigkeit und der
Stärke ist es das der Robustheit, das sich aufdrängt und die Grundform eines neuen Widerstandes, einer frischen Elastizität, die jedoch unterworfen und bereits domestiziert ist, enthält. Man muß eine der Natur entnehmbare Kraft gewinnen, um die Natur ihrerseits zu stärken. Man träumt von Heilmitteln, »die sozusagen Partei ergreifen« und den Lebensgeistern »die Ursache ihrer Fermentation zu besiegen helfen«. Partei der Lebensgeister zu ergreifen, heißt gegen die nichtige Bewegung zu kämpfen, der sie wider Willen unterworfen sind. Das heißt auch, ihnen die Möglichkeit zu geben, dem ganzen chemischen Sieden, durch das sie erhitzt und verwirrt werden, zu entgehen. Und schließlich heißt es, ihnen genug Festigkeit zu geben, um den Dünsten zu widerstehen, die sie zu ersticken, untätig werden zu lassen und in ihrem Wirbel fortzutragen versuchen. Gegen die Dünste stärkt man die Lebensgeister »durch die stinkendsten Gerüche«. Eine unangenehme Empfindung belebt die Lebensgeister, die sich in gewisser Weise dagegen auflehnen und sich kraftvoll dahin begeben, wo der Angriff zurückzuwerfen ist. Z u diesem Zwecke wird man »Teufelsdreck, Ambraöl, verbranntes Leder, verbrannte Federn und schließlich alles, was der Seele lebhafte und unangenehme Gefühle verschaffen kann«, benutzen. Gegen die Fermentation muß man Theriak, »antiepileptischen Spiritus von Charras« und vor allem das berühmte Wasser der Königin von Ungarn geben.24,1 Die Schärfe verschwindet, die Lebensgeister nehmen darauf wieder ihr richtiges Gewicht an. Schließlich empfiehlt Lange, um ihnen ihre genaue Beweglichkeit wiederzugeben, daß man die Geister den Empfindungen und zugleich den Bewegungen unterwirft, die angenehm, gemessen und regelmäßig zugleich sind: »Wenn die Lebensgeister getrennt und aus ihrer Einheit gelöst werden, bedürfen sie ihre Bewegung beruhigender Heilmittel und solcher, die sie in ihre natürliche Situation zurückbringen, wozu die Gegenstände gehören, die der Seele ein Gefühl des süßen und gemäßigten Vergnügens geben, angenehme Düfte, Spaziergänge an herrlichen Orten, der Anblick von Personen, die gewöhnlich gefallen, und die Musik.«24' Diese feste Zartheit, eine angemessene Schwere, schließlich eine Belebung, die nur zum Schutze des Körpers bestimmt ist, 244 Mme de Sevignc benutzte es viel und fand es »gut gegen Traurigkeit« (vgl. die Briefe vom 16. und 20. Oktober 1675 in: dies., Œuvres, Bd. 4, S. 186 und 193). Das Rezept dafür wird genannt bei Marie de Maupeou, Mme François Fouquet, Recueil de remèdes faciles et domestiques, Paris 1678, S. 381. 245 Lange, Traité des vapeurs, S. 243-245.
sind die geeigneten Mittel, um dem Organismus die zerbrechlichen Mittel zu konsolidieren, die den Körper und die Seele kommunizieren lassen. Wahrscheinlich gibt es aber keinen besseren Stärkungsprozeß als die Anwendung des Körpers, der zugleich der festeste und gelehrigste, der widerstandsfähigste, aber in den Händen eines Menschen, der ihn nach seinen Zielen zu schmieden versteht, der biegsamste ist: das Eisen. Das Eisen enthält in seiner privilegierten Natur alle Eigenschaften, die schnell widersprüchlich werden, wenn man sie isoliert. Nichts widersteht besser als Eisen, nichts gehorcht besser. Es ist in der Natur vorhanden, aber es steht auch allen menschlichen Techniken zur Verfügung. Wie könnte der Mensch die Natur anders unterstützen und ihr durch ein sichereres Mittel (das heißt durch ein der Natur näheres und dem Menschen besser unterworfenes) einen Zusatz an Kraft verleihen als durch die Anwendung des Eisens? Man zitiert stets das alte Beispiel von Dioskorides, der der Trägheit des Wassers stärkende Kraft gab, die ihm fremd war, indem er einen Stab glühenden Eisens hineintauchte. Die Hitze des Feuers und die ruhige Mobilität des Wassers und jene Strenge eines Metalls, das so lange behandelt worden war, bis es weich war, — all diese Elemente zusammen brachten dem Wasser stärkende, belebende, konsolidierende Kräfte, die es dem Organismus weitergeben konnte. Das Eisen ist aber außerhalb jeder Zubereitung bereits wirksam. Sydenham empfiehlt es in sehr einfacher Form: durch direktes Schlucken von Eisenfeilspänen.2·16 Whytt hat einen Mann gekannt, der, um sich von einer Schwäche der Magennerven zu heilen, die einen Zustand permanenter Hypochondrie mit sich brachte, jeden Tag bis zu 230 Körner nahm.247 Mit all diesen Kräften verbindet das Eisen die bemerkenswerte Eigenschaft, sich direkt, ohne Zwischenstufe oder Transformation zu vermitteln. Was es weitergibt, ist nicht seine Substanz, sondern seine Kraft. Paradoxerweise löst es sich, obwohl es so resistent ist, im Organismus sofort auf, ohne ihm etwas anderes als seine Eigenschaften zu verleihen, also keinen Rost oder Abfall. Es ist klar, daß hier eine ganze Bilderwelt vom wohltuenden Eisen das diskursive Denken bestimmt und sogar die Beobachtung überwiegt. Wenn man experimentiert, so geschieht das nicht, um eine positive Verkettung an den Tag zu bringen, sondern diese unmittelbaren Kommunikationen der Eigenschaften
24 6 Sydenham, Dissertation sur l'affection hystérique, in: ders., a. a. O., S. 57 1 · 247 Whytt, Traité des maladies nerveuses, Bd. 2, S. 149.
einzukreisen. Wright läßt einen Hund Marssalz nehmen. Er beobachtet, daß eine Stunde später der Chylos, wenn man ihn mit Tinktur von Walliser Nüssen vermischt, nicht die dunkle Purpurfarbe anzeigt, die er annehmen würde, wenn das Eisen assimiliert worden wäre. Das heißt, daß das Eisen, ohne sich in die Verdauung zu mischen, ohne in das Blut überzugehen, ohne substantiell in den Organismus einzudringen, direkt die Membranen und Fibern stärkt. Mehr denn als festgestellte Wirkung erscheint die Konsolidierung der Lebensgeister und der Nerven eher wie eine operative Verwandlung, die eine Kraftverlagerung ohne jegliche diskursive Dynamik impliziert. Die Kraft geht über durch Kontakt, außerhalb jeden substantiellen Austausches und jeder Kommunikation der Bewegungen. z. Oie Reinigung. Verstopfung der Eingeweide, Aufwallen falscher Ideen, Fermentation von Dünsten und heftige Bewegungen, verdorbene flüssige Stoffe und Lebensgeister lassen den Wahnsinn eine ganze Serie von Therapien fordern, von denen jede mit einem gleichen Reinigungsvorgang verbunden werden kann. Man träumt von einer A r t totaler Reinigung: der einfachsten, aber auch der unmöglichsten der Kuren. Sie würde in einem Austausch des überladenen, verdickten, völlig mit scharfen Säften und schwarzer Flüssigkeit angefüllten Blutes durch ein helles und leichtes Blut bestehen, dessen neue Bewegung das Delirium auflösen würde. 1662. hatte Moritz Hoffmann die Bluttransfusion als Heilmittel für die Melancholie vorgeschlagen. Einige Jahre später hat die Idee einen ziemlichen Erfolg gehabt, so daß die Philosophische Gesellschaft von London eine Versuchsserie mit den in Bedlam eingeschlossenen Patienten vorschlägt. Der mit dem Unternehmen beauftragte Arzt, Allen, lehnt es ab.2<s Aber Denis versucht die Bluttransfusion an einem seiner Kranken, der an durch Liebe ausgelöster Melancholie leidet. Er nimmt elf Unzen Blut ab, die er durch eine leicht geringere Menge ersetzt, die er der Schenkelarterie eines Kalbes entnimmt. A m nächsten Tag wiederholt er den Vorgang, aber die Operation umfaßt diesmal nur einige Unzen. Der Kranke beruhigt sich. Am folgenden Tag ist sein Geist klarer, und bald ist er völlig geheilt. »Alle Professoren der Schule für Chirurgie bestätigten es.« 2 " Die Technik wird allerdings trotz einiger späterer Versuche sehr schnell aufgegeben. 2s ° 248 Heinrich Laehr, Gedenktage der Psychiatrie, Berlin 1893, S. 316. 249 Gregory Zilboorg, History 0} Psychiatry, S. 275 f. Ettmüller empfahl die Transfusion lebhaft in Fällen von melancholischen Delirien (Chirurgia transfusoria, 1Ä82). 250 Die Transfusion wird als Heilmittel für den Wahnsinn noch genannt von
Man wird vorzugsweise die Medikationen anwenden, die dem Verderben vorbeugen. Wir wissen »aus einer mehr als dreitausendjährigen Erfahrung, daß Myrrhen und Aloe die Leichen bewahren«.1*1 Diese Veränderungen der Körper sind nun von gleicher Natur wie diejenigen, die die Krankheiten der Säfte begleiten. Nidits ist also empfehlenswerter gegen die vapeurs als Mittel wie Myrrhen, Aloe und vor allem das berühmte Elixier des Paracelsus. 1!2 Man muß aber mehr tun als dem Verderb vorbeugen, man muß ihn zerstören. Daher rühren die Therapien, die die Veränderung selbst angreifen und entweder die verdorbenen Substanzen abzuleiten oder die verderbenden Substanzen aufzulösen versuchen. Es handelt sich also um Tediniken der Ableitung und solche der Zerstörung. Zu den ersten gehören alle eigentlichen physischen Methoden, die an der Oberfläche des Körpers Verwundungen - zugleich Infektionszentren, die den Organismus freimadien, und Austrittszentren zur äußeren Welt - zu schaffen streben. So erklärt Fallowes den wohltuenden Medianismus seines oleum cepbalicum. Beim Wahnsinn »verstopfen sdiwarze Dünste die sehr feinen Gefäße, durch die die Lebensgeister hindurch müßten«. In diesem Fall ist das Blut in seiner Bewegungsrichtung gehemmt, es verstopft die Adern im Gehirn, in denen es stagniert, wenn es nidit von einer konfusen Bewegung erregt wird, »die die Ideen verwirrt«. Das oleum cepbalicum hat den Vorteil, »kleine Pusteln auf dem Kopf« hervorzurufen, die man mit ö l einreibt, um ihre Austrocknung zu verhindern, so daß der Ausgang »für die im Hirn fixierten schwarzen Dünste« geöffnet bleibt.-" Verbrennungen und Ätzungen auf dem ganzen Körper haben jedoch die gleidie Wirkung. Man nimmt sogar an, daß Hautkrankheiten wie Krätze, Ekzeme, Pocken ebenfalls einen Wahnsinnsanfall beenden könnten. Der Verderb verläßt dann die Eingeweide und das Gehirn, um sich an der Oberfläche des Körpers auszubreiten und sich dann zu befreien. A m Ende des Jahrhunderts wird man die Gewohnheit annehmen, in den hartnäckigsten Fällen von Manie die Krätze künstlich zu übertraPierrc Dionis, Cours d'opération de chirurgie, Paris 1710 (Demonstration VIII. S. 408) und von Manjer, Bibliothèque médico-pratique, 3, Buch 9, S. 334 f. 251 Lange, a.a. O., S. 251. 252 Lieutaud, Précis de médecine pratique, S. 620 f. 253 Thomas Fallowes, The best method for the cure of lunaticks. Witb some accoinit of the incomparable Oleum cepbalicum used in the same, London 1705, zitiert bei Daniel Hack Tuke, Chapters in the History of the Insane in the British Islcs, London 1S 82, S. 93 f.
gen. Doublet empfiehlt in seiner Instruction von 178$ den Hospitaldirektoren, wenn die Aderlasse, Purganzen, Bäder und Duschen eine Manie nicht haben beenden können, zu »Ätzungen, Haarseilen, oberflächlichen Abszessen und der Übertragung der Krätze zu greifen«. 1 ' 4 Aber die Hauptaufgabe besteht in der Auflösung der Fermentationen, die durch ihre Bildung im Körper den Wahnsinn bestimmt haben.155 U m das zu tun, benutzt man in erster Linie abgekochte bittere Kräuter. Die Bitterkeit hat alle scharfen Kräfte des Meerwassers, sie reinigt, indem sie abnutzt, sie übt ihre Korrosion auf alles aus, was das Leiden an Unnützem, an Ungesundem und an Unreinem im Körper und oder in der Seele hat deponieren können. Der bittere und aktive Kaffee ist für die »fetten Personen nützlich, deren dicke Säfte nur noch mit Mühe zirkulieren«. 256 Er entzieht Flüssigkeit, ohne zu brennen, denn es ist die Eigenheit so gearteter Substanzen, die überflüssigen Feuchtigkeitsmengen ohne gefährliche Hitze aufzulösen. Es gibt im Kaffee gewissermaßen ein Feuer ohne Flamme, eine Reinigungskraft, die nicht kalziniert. Kaffee entfernt die Unreinheiten: »Die ihn gebrauchen, spüren nach einer langen Erfahrung, daß er den Magen wieder herrichtet, daß er dessen überflüssige Feuchtigkeit aufnimmt, daß er Blähungen beseitigt, das Eiweiß im Mastdarm auflöst, den er einer zarten Reinigung unterzieht, und — was in besonderem Maße beachtlich ist - er verhindert, daß Dämpfe in den Kopf steigen, und mildert folglich die Schmerzen und das Stechen, das man gewöhnlich im Kopf verspürt. Schließlich gibt er den Lebensgeistern Kraft, Stärke und Sauberkeit, ohne in ihnen irgendeinen Eindruck von Hitze zu hinterlassen, nicht einmal bei den erhitztesten Personen, die an seinen Gebrauch gewöhnt sind.«257 Der Empfehlung von Whytt zufolge soll man den Personen, »deren Nervensystem sehr empfindlich ist«, die bittere, jedoch auch Spannkraft verleihende Fieberrinde geben. Sie ist wirksam bei »Schwäche, Entkräftung und Niedergeschlagen2Ç4 François-Joseph Doublet, Traitement qu'il faut administrer dans les différentes espèces de folie, in: Instruction par Doublet et Colombier (Journal de médecine. Juli 1785). 2 j j Der Dictionnaire von James schlägt folgende Genealogie der verschiedenen Alienationen vor: »Die Manie hat allgemein ihren Ursprung in der Melancholie, Jic Melancholie in den hypochondrischen Leiden der unreinen und verdorbenen siiftc, die langsam in den Eingeweiden zirkulieren ( . . . ) « . Dictionnaire universel de •ίedecine, Bd. 4, S. 1126, Artikel »Manie«. M" Thirion, De l'usage et de l'abus du café. Thèse soutenue .i Pont-à-Mousson, 1-03 (vgl. den Beridit in der Gazette salutaire, N r . 3 7 , 1 j . September 1763). 3ir Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 4528, Ρ i i j .
heit«. Zwei Jahre einer Kur, die lediglich aus einer Fieberrindentinktur besteht und von Zeit zu Zeit für höchstens einen Monat unterbrochen wird, genügen, um eine nervenkranke Frau zu heilen.*'8 Für empfindliche Personen muß man die Fieberrinde »mit einem im Geschmack angenehmen, bitteren Stoff« verbinden. Wenn aber der Organismus heftigeren Attacken widerstehen kann, kann man nur allzu dringlich das Vitriol, mit Fieberrinde vermischt, empfehlen. Zwanzig oder dreißig Tropfen eines Vitriolelixiers sind vortrefflich. 1 " Natürlich werden Seife und Seifenprodukte nicht die entsprechenden Wirkungen in dieser Reinigungsprozedur verfehlen. »Die Seife löst fast alles Geronnene auf.« l6 ° Tissot denkt, daß man die Seife direkt verzehren kann und daß sie viele Nervenleiden beruhigen wird, aber sehr oft genügt es, morgens auf nüchternen Magen, allein oder mit Brot »seifiges Obst« zu essen, das heißt: Kirschen, Erdbeeren, Stachelbeeren, Feigen, Orangen, Trauben, reife Birnen und »andere Früchte dieser Art«. l f i l Es gibt jedoch Fälle, in denen die Umstände so ernst sind und der Widerstand so irreduzibel, daß keine Seife die Verstopfung lösen kann. Man benutzt dann den löslichen Weinstein. Muzzel hatte als erster die Idee, Weinstein gegen »Wahnsinn und Melancholie« zu verschreiben, und veröffentlichte zu dieser Frage mehrere Beobachtungen. 161 Whytt bestätigt sie und zeigt gleichzeitig, daß der Weinstein als Reinigungsmittel wirkt, weil er vor allem gegen die Leiden der Verstopfung wirksam ist. »Soweit ich es bemerkt habe, ist der lösliche Weinstein bei manischen und melancholischen Leiden, die von schädlichen, in den Hauptwegen angehäuften Säften herrühren, nützlicher als bei den Leiden, die durch einen Fehler im Gehirn hervorgerufen werden.« 163 Unter den Lösungsmitteln erwähnt Raulin noch den Honig, Kaminruß, orientalischen Safran, Kellerasseln, Pulver aus Krebsfüßen und den Bezoardstein.16* Auf halbem Wege zwischen diesen inneren Auflösungsmethoden und den äußeren Techniken der Ableitung findet man eine Serie von Praktiken, von denen die häufigsten auf der Anwendung des Essigs beruhen. Der Essig löst als saure Flüssigkeit die Verstopfung auf und 258 Whytt, a. a. O., Bd. 2, S. 145. 259 Ebda. 160 Raulin, Traité des affections vaporeuses, Paris 175 8, S. 339. 261 Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, Zürich 1708. 2Ä2 Muzzel, zitiert in der Gazette salutaire vom 17. M ä r z 1763. 263 Whytt, a. a. O., Bd. 2, S. 364. 264 Raulin, a. a. O., S. 340.
zerstört die in der Fermentation begriffenen Körper. Bei äußerer Anwendung aber kann er als ableitendes Mittel dienen und die schädlichen Säfte und Flüssigkeiten nach außen ziehen. Es ist etwas Eigenartiges und für das therapeutische Denken jener Epoche charakteristisch, daß man keinen Widerspruch zwischen den beiden Verfahrensweisen sieht. Aufgrund dessen, daß der Essig von Natur reinigend und ableitend ist, wird er auf jeden Fall gemäß dieser doppelten Determination wirken, so daß möglicherweise eine dieser beiden Aktionsarten nicht mehr auf eine rationale und diskursive Weise analysiert werden kann. Er wird sich also direkt, unvermittelt, durch den einfachen Kontakt der beiden natürlichen Elemente entfalten. So empfiehlt man das Einreiben des Kopfes und des Schädels (der möglichst glatt rasiert sein sollte) mit Essig.26' Die Gazette de médecine erwähnt den Fall eines Empirikers, dem es gelungen war, eine große Anzahl Irrer durch eine sehr prompte und einfache Methode zu heilen. Sein Geheimnis besteht in folgendem: »Nach einer Purganz taucht er ihre Füße und Hände in Essig, läßt sie in dieser Stellung, bis sie einschlafen oder bis sie aufwachen, und die meisten von ihnen sind beim Erwachen wieder geheilt. Er läßt auch auf dem rasierten Kopf des Kranken zerstoßene Blätter vom Dipsacus oder der Weberdistel anwenden.«266 3. Das Untertauchen. Hier kreuzen sich zwei Themen, das der Reinwaschung mit allem, was mit den Reinigungs- und Wiedergeburtsriten verwandt ist, und das der Durchtränkung (ein Thema, das in größerem Maße physiologisch ist), die die wesentlichen Eigenschaften der flüssigen und der festen Stoffe modifiziert. Trotz ihres unterschiedlichen Ursprungs und der Entfernung zwischen den Ebenen ihrer begrifflichen Elaboration bilden sie bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine ziemlich kohärente Einheit, so daß der Gegensatz nicht als solcher verspürt wird. Die Vorstellung von der Natur mit ihren Ambiguitäten dient ihnen als Element der Kohäsion. Das Wasser als einfache und primitive Flüssigkeit gehört zum Reinsten in der Natur. Alles, was der Mensch an zweifelhaften Modifikationen dem guten Wesen der Natur hat hinzufügen können, hat die Wohltätigkeit des Wassers nicht verändern können. Als die Zivilisation, das Leben in Gesellschaft und die durch die Lektüre von Romanen oder Theaterstücken hervorgerufenen imaginären Wünsche Nervenleiden hervor265 Franz Wilhelm Muzzel, Medizin und Chirurgie, Berlin 1764, Bd. 2, S. 54-60. 266 Gazette de médicine, Mittwodi, 14. Oktober 176t, N r . 23, Bd. 2, S. 215-216.
gerufen haben, nimmt die Rückkehr zur Reinheit des Wassers den Sinn eines Reinigungsrituals an. In dieser transparenten Frische gelangt man wieder zu seiner Unschuld. Gleichzeitig aber gibt das Wasser, das die Natur in die Komposition aller Körper hat einfließen lassen, jedem sein eigenes Gleichgewicht wieder. Es dient als universaler physiologischer Regulator. Alle diese Themen sind von Tissot, dem Schüler Rousseaus, in einer ebenso moralischen wie ärztlichen Vorstellungskraft verspürt worden: »Die Natur hat das Wasser allen Nationen als einzigen Trank gezeigt. Sie hat ihm die Kraft gegeben, alle Sorten Speisen aufzulösen. Es ist für den Gaumen angenehm. Wählt also ein schönes kaltes, süßes und leichtes Wasser. Es wird euch die Eingeweide stärken und reinigen. Die Griechen und Römer betrachteten es als Universalheilmittel.« aS ' Der Brauch des Untertauchens reicht weit in der Geschichte des Wahnsinns zurück. Die in Epidaurus vorgenommenen Bäder beweisen es bereits, und die kalte Anwendung muß ein gängiges Mittel in der ganzen Antike gewesen sein, denn wenn man Coelius Aurelianus glauben kann, wurde bereits damals gegen ihren Mißbrauch protestiert.2'8 Im Mittelalter hat man in Fällen von Manie - der Tradition entsprechend - den Kranken mehrmals ins Wasser getaucht, »bis er seine Kraft verloren hat und sein Toben vergessen war«. Sylvius empfiehlt in den Fällen von Melancholie und Phrenesie Durchtränkungen.2'? Es handelt sich also um eine Neuinterpretation, wenn man, wie es im achtzehnten Jahrhundert geschieht, die Nützlichkeit der Bäder als eine plötzliche Entdeckung von van Helmont erklärt. Nach Menuret soll diese Erfindung, die aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts stammen soll, das glückliche Resultat des Zufalls sein. Man transportierte einen stark gefesselten Dementen auf einem Wagen. Er konnte sich jedoch aus seinen Ketten befreien, sprang in einen See, versuchte zu schwimmen, wurde aber besinnungslos. Als man ihn herausfischte, hielt ihn jeder für tot, aber schnell kam er wieder zu Bewußtsein, und seine Sinne waren plötzlich wieder geordnet, so daß er noch »lange lebte, ohne irgendeinen Wahnsinnsanfall zu haben«. Diese Anekdote war angeblich ein Lichtblich für van Helmont, der sich daranmachte, die Geisteskranken sowohl in Meer- als auch in Süß267 Tissot, a. a. O . 268 Aurelianus, De morbis acutis, I, 11. Asclepiades verwandte gern Bäder gegen die Geisteskrankheiten. Nach Plinius soll er Hunderte von verschiedenen Bädern erfunden haben. Historia naturalis, Buch 26. 269 Sylvius, Opera medica, Amsterdam 1680, De methodo medendi, Buch I, K a p . 14.
wasser zu tauchen. »Die einzige Aufmerksamkeit hat dem Umstand zu gelten, daß man sie plötzlich und unvorhergesehen ins Wasser taucht und sie sehr lange darin läßt. Man braucht nicht um ihr Leben zu bangen.«*?0 Die Genauigkeit des Berichts ist von untergeordneter Bedeutung. Auf jeden Fall ist damit in dieser anekdotischen Form gesichert, daß seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts die Badekur unter den hauptsächlichen Therapien des Wahnsinns einen Platz einnimmt oder wiedereinnimmt. Als Doublet kurz vor der Französischen Revolution seine Instruction verfaßt, schreibt er für die vier großen pathologischen Formen, die er kennt (Phrenesie, Manie, Melancholie, Imbezillität), die Anwendung von regelmäßigen Bädern und für die ersten beiden Male den Gebrauch von kalten Duschen vor. 27 ' Zu jener Zeit hatte Cheyne bereits seit langem all denen empfohlen, »die ihr Temperament stärken müssen«, in ihrem Haus Bäder einzurichten und diese alle drei oder vier Tage zu benutzen. W o »sie nicht die Möglichkeit dazu haben, sollten sie auf irgendeine A r t jedesmal, wenn sich eine entsprechende Möglichkeit bietet, im See oder im fließenden Wasser baden«.272 Die Privilegien des Wassers sind in einer ärztlichen Praxis evident, die durch die Sorge, flüssige und feste Stoffe im Gleichgewicht zu halten, beherrscht wird. Denn neben den Kräften, einen Stoff zu durchdringen, die das Wasser an erste Stelle unter den Erfrischungen setzen, hat es in dem Maße, in dem es zusätzliche Eigenschaften wie die Kälte und die Hitze erhalten kann, zusammenziehende, erfrischende oder erwärmende Kraft; es kann sogar die festigende Wirkung haben, die man Körpern wie dem Eisen zuschreibt. In der flüssigen Substanz des Wassers ist das Spiel der Eigenschaften tatsächlich sehr beweglich. So wie es leicht in das Gewebe aller Stoffe eindringt, läßt es sich bequem von allen qualitativen Einflüssen durchsetzen, denen es ausgesetzt wird. Paradoxerweise kommt die Universalität seiner Anwendung im achtzehnten Jahrhundert nicht von der allgemeinen Anerkennung seiner Wirkung und seiner Aktionsart, sondern von der Leichtigkeit, mit der man seiner Wirksamkeit die widersprüchlichsten 270 Jean-Jacques Menuret, Mémoires Histoire, S. 5 6.
de l'Académie
royale des sciences,
1734.
271 Doublet, a . a . O . 272 George Cheyne, Tractatus de infirmorum sanitate tuenda, London 172Î, Paris 1742. Zitiert bei Rostaing, Réflexions sur les affections vaporeuses, Paris 1768, S.7JÎ.
Formen und Modalitäten zuschreiben kann. Es ist Anlaß aller möglidien therapeutischen Sätze und bildet eine unerschöpfliche Reserve von operationeilen Metaphern. In diesem flüssigen Element vollzieht sich der universale Austausch der Eigenschaften. Selbstverständlich erfrischt das kalte Wasser, sonst würde man es nicht bei der Behandlung der Phrenesie oder der Manie benutzen, bei denen, da es sich um mit der Hitze zusammenhängende Krankheiten handelt, die Lebensgeister in Wallung geraten, die festen Stoffe sich ausdehnen und die flüssigen sich so weit erhitzen, daß sie verdampfen und das Gehirn dieser Kranken »trocken und zerreibbar« zurücklassen, wie es jeden Tag in der Anatomie festgestellt werden kann. Vernünftigerweise zitiert Boissieu das kalte Wasser unter den wesentlichen Mitteln der erfrischenden Kuren. In Form eines Bades ist das Wasser das wichtigste »hitzedämpfende« Mittel, das dem Körper die feurigen Partikeln entreißt, die darin zu zahlreich enthalten sind. In Form von Getränken ist Wasser ein Mittel, das »verlangsamt und verdünnt«, das den Widerstand der flüssigen Stoffe gegenüber dem Wirken der festen vermindert und dadurch indirekt die allgemeine Hitze des Körpers senkt.*" Man kann aber ebensowohl sagen, daß das kalte Wasser erwärmt und daß das warme abkühlt. Genau diese These wird von Darut aufgestellt. Die kalten Bäder verjagen das Blut aus der Peripherie des Körpers und »drängen es mit großer Kraft zum Herzen zurück«. D a das Herz aber der Sitz der natürlichen Wärme ist, beginnt das Blut, sich dort zu erhitzen, und zwar um so mehr, »als das Herz, das allein gegen die anderen Teile des Körpers kämpft, neue Anstrengungen zur Verdrängung des Blutes und zur Oberwindung des Widerstandes der Kapillaren unternimmt. Daher ist die Zirkulation sehr intensiv, die Aufteilung des Blutes, der Flüssigkeitsgrad der Säfte, die Beseitigung der Übersättigung, die Zunahme der Kräfte der natürlichen Wärme, des Appetits, der Verdauungsvorgänge und der Aktivität des Körpers und des Geistes ebenfalls.« Das Paradox des heißen Bades ist symmetrisch: es zieht das Blut ebenso an die Körperoberfläche wie alle Säfte, die Transpiration und die nützlichen oder die schädlichen Flüssigkeiten. Dadurch werden die Lebenszentren verwaist, das Herz funktioniert nur noch in verlangsamtem Tempo, und der Organismus kühlt dadurch ab. Das ist eine Tatsache, die »jene Ohnmachtsanfälle, 273 Barthélemy-CamilIe Boissieu, Mémoire échauffantes, Dijon 1770, S. 37-55.
sur les méthodes
rafraîchissantes
et
jene Abnahme der Lebenskräfte ( . . . ) , jene Schwäche, jenes Nachlassen, jene Mattigkeit und jener Mangel an Kraft« bestätigen, die stets den zu häufigen Gebrauch von heißen Bädern begleiten. 174 Die Polyvalenz des Wassers ist so reich, seine Eignung, sich seinen Eigenschaften zu unterwerfen, ist so groß, daß es vorkommt, daß es seine Wirkung als flüssiger Stoff verliert und wie ein austrocknendes Heilmittel wirkt. Das Wasser kann die Feuchtigkeit verbannen. Darin wird das alte Prinzip similia similibus wiedergefunden, wenn auch in einem anderen Sinn und durch Vermittlung eines sehr sichtbaren Medianismus. Für bestimmte Autoren trodcnet das kalte Wasser aus, während die Hitze dagegen die Feuchtigkeit des Wassers bewahrt. Tatsächlich weitet die Hitze die Poren des Organismus, dehnt seine Membranen und gestattet der Feuchtigkeit, sie durch einen sekundären Effekt zu durchtränken. Die Hitze bahnt der Flüssigkeit ihren Weg, und darin liegt gerade die Gefahr, daß alle heißen Getränke schädlich werden können, die man im siebzehnten Jahrhundert gebraucht und mißbraucht: Erschlaffung, allgemeine Feuchtigkeit, Weichheit des ganzen Organismus, das bedroht diejenigen, die zu viele Aufgüsse zu sich nehmen. D a dies die unterscheidenden Züge im weiblichen Körper im Gegensatz zur männlichen Trockenheit und Festigkeit sind 27 ', droht der Mißbrauch heißer Getränke zur allgemeinen Verweiblidiung des Menschengeschlechts zu führen: »Man wirft nicht ohne Grund den meisten Männern vor, daß sie degeneriert seien, weil sie die Weichheit, Neigungen und Gewohnheiten der Frau übernommen haben. Es fehlte nur noch die Ähnlichkeit in der körperlichen Konstitution. Der Mißbrauch der Erfrischungsgetränke würde sehr schnell die Verwandlung beschleunigen und die beiden Geschlechter in Aussehen und Moral fast ähnlich machen. Es ist ein Unglück für das Menschengeschlecht, wenn dieses Vorurteil seine Macht über das Volk ausdehnt. Es gäbe keine Landmänner, keine Handwerker und Soldaten mehr, weil sie bald jeder Kraft und Stärke entbehrten, die in ihrem Beruf nötig sind.«27ä Beim kalten Wasser übertrifft die Kälte alle anderen Kräfte der Feuchtigkeit, weil sie die Gewebe zusammenzieht und für jede Durchtränkung verschließt: »Sehen wir nicht, wie unsere Gefäße, wie das Gewebe unseres Fleisches sich zusammenzieht, 274 Darut, Les bains froids sont-ils plus propres à conserver la santé que les bains àaudsl Thèse 1763 (Gazette salutaire, N r . 47). 275 Beauthêne, a. a. O., S. 13. 27S Pressavin, a . a . O . , Avant-propos, unpaginiert. Vgl. audi Tissot, a . a . O . : »Aus der Teekanne fließen die meisten Krankheiten.«
wenn wir uns in kaltem Wasser waschen oder von Kälte durchdrungen sind?« 2 " Die kalten Bäder haben also die paradoxe Eigenheit, den Organismus zu konsolidieren, ihn gegen die Weichheit der Feuchtigkeit zu schützen, »allen Teilen Kraft zu geben«, wie H o f f mann sagte, »und die zusammenziehende Kraft des Herzens und der Gefäße zu erhöhen«.2?3 Bei anderen qualitativen Anschauungen verändert sidi die Beziehung jedoch. Dann trocknet die Hitze die befeuchtenden Kräfte des Wassers aus, während die Frische sie aufrechterhält und sie unaufhörlich erneuert. Gegen die Nervenkrankheiten, die einer »Schrumpfung des Nervensystems« und einer »Austrocknung der Membranen« zuzuschreiben sind2?', empfiehlt Pomme keine heißen Bäder, die Helfer der im Körper herrschenden Hitze wären, sondern laue oder kalte Bäder, die das organische Gewebe zu durchdringen und ihm seine Weichheit zu geben in der Lage sind. Diese Methode wird in Amerika spontan praktiziert 280 , und in der Entwicklung der K u r sind ihre Wirkungen und ihr Mechanismus für das bloße Auge sichtbar, denn auf dem höchsten Punkt der Krise schwimmen die Kranken im Badewasser oben - so sehr hat die innere Hitze die Luft und die flüssigen Stoffe ihres Körpers vertrieben. Aber wenn sie lange im Wasser bleiben, »drei, vier oder sogar sechs Stunden täglich«, tritt die Erschlaffung ein, durchtränkt das Wasser fortschreitend die Membranen und die Fibern, wird der Körper schwerer und sinkt natürlich auf den Grund des Wassers.28' A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts erschöpfen sich die Kräfte des Wassers im Übermaß seiner qualitativen Reichtümer: kalt kann es wärmen, heiß kann es erfrischen; statt zu befeuchten, kann es sogar festigen und durch die Kälte versteinern oder ein Feuer durdi seine eigene Hitze unterhalten. Alle wohl- und übeltuenden Kräfte kreuzen sich unterschiedslos im Wasser. Es ist mit allen möglichen Komplizitäten ausgestattet und bildet im ärztlichen Denken ein elastisches und beliebig anwendbares therapeutisches Grundmittel, dessen Wir277 Rostaing, a. a. O., S. 75. 278 Hoffmann, a. a. O., Bd. 2, Sectio 2, § 5. V g l . auch Nicolas Chambon de M o n taux, Des maladies des femmes, 2 vols., Paris 1784, Bd. 2, S. 469: »Die kalten Bäder trocknen die festen Körper aus.« 279 Pierre Pomme, Traité des affections vaporeuses des deux sexes, Paris ' 1 7 6 7 , S. 20 f. 280 Lionet Chalmers, Journal de médecine, November 1759, S. 388. 281 Pomme, a . a . O . , Anm. auf S. s8.
kung in den verschiedensten Physiologien und Pathologien verständlich wird. Es hat soviel Wertigkeiten, so viele verschiedene Anwendungsmöglichkeiten, daß es alles festigen und schwächen kann. Wahrscheinlich ist jene Polyvalenz mit all den Diskussionen, die dann daraus entstehen, dafür verantwortlich gewesen, daß es neutralisiert wurde. Zur Zeit Pinels ist das Wasser immer noch in Anwendung: aber ein inzwischen wieder völlig klares Wasser, dessen qualitative Beladungen man aufgehoben hat und dessen Anwendungsart nur noch mechanisch sein kann. Die bis dahin weniger noch als Bäder und Getränke angewendete Dusche wird in diesem Augenblick zur privilegierten Technik. Paradoxerweise findet das Wasser über alle physiologischen Variationen der voraufgehenden Epoche hinweg seine einfache Reinigungsfunktion wieder. Die einzige Eigenschaft, mit der man es belädt, ist die Heftigkeit. Es soll in einem unwiderstehlichen Fluß sämtliche Unreinheiten, die sich im Wahnsinn bilden, fortreißen. Durch seine eigene Heilkraft soll es das Individuum auf seinen einfachsten möglichen Ausdruck, auf seine winzigste und reinste Existenzform reduzieren, um es so einer zweiten Geburt zu überlassen. Es handelt sich, so erklärt Pinel, »um die Zerstörung bis hin zu den primitivsten Spuren der närrischen Ideen der Geisteskranken, was nur so geschehen kann, daß man sozusagen diese Ideen in einem dem Tode ähnlichen Zustand verschüttet«.281 Daher kommen die berühmten in Asylen wie in Charenton am Ende des achtzehnten und am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts angewandten Techniken: die Dusche im eigentlichen Sinne - »der Geisteskranke wird in einem Sessel festgebunden und unter einen Behälter mit kaltem Wasser gestellt, der sich durch ein weites Rohr genau auf seinen Kopf entleert«; und die Überraschungsbäder - »der Kranke geht die Korridore im Erdgeschoß entlang, kommt in einen viereckigen, gewölbten Raum, in dem ein Bassin eingebaut ist; man dreht ihn um und stürzt ihn ins Wasser«. 18 ' Diese Heftigkeit versprach die Wiedergeburt durch eine Taufe. 4. Die Regulierung der Bewegung. Wenn der Wahnsinn tatsächlich eine unregelmäßige Bewegung der Lebensgeister, eine ungeordnete Bewegung der Fibern und Ideen ist, dann ist er auch Verschlämmung des Körpers und der Seele, Stagnation der Säfte, Unbeweglichkeit der Nervenfibern in ihrer Steifheit, Fixierung der Ideen und der A u f 282 Pinel, Traité médico-philosophique
(...),
Paris, A n I X , S. 324.
283 Esquirol, Des maladies mentales, Bd. 2, S. 225.
merksamkeit auf ein Thema, das nach und nach alle anderen verdrängt. Es handelt sich dann darum, dem Geist und den Lebensgeistern, dem Körper und der Seele die Beweglichkeit wiederzugeben, die ihr Leben ausmacht. Diese Beweglichkeit jedoch muß gemessen und kontrolliert werden, damit man vermeidet, daß sie zu einer leeren Erregung der Fibern wird, die den Reizen der äußeren Welt nidit mehr gehorchen. Die Idee, die dieses therapeutische Thema belebt, ist die Wiederherstellung einer Bewegung, die sich nach der weisen Beweglichkeit der äußeren Welt ordnet. Da der Wahnsinn ebenso taube Unbeweglichkeit, hartnäckige Fixierung wie Unordnung und Erregung sein kann, besteht die Kur darin, bei einem Kranken eine Bewegung auszulösen, die sowohl regelmäßig wie wirklich in dem Sinne ist, daß er den Bewegungsgesetzen der Welt gehorchen muß. Man erinnert gern an den festen Glauben der Antike, in der man den verschiedenen Gang- und Laufarten heilsame Wirkungen zuschrieb. Das einfache Gehen soll danach gleichzeitig den Körper geschmeidig und fester madien. Das Laufen in ständiger Beschleunigung auf gerader Strecke verteilt angeblich die Säfte und Flüssigkeiten besser im körperlichen Raum, während es gleichzeitig das Gewicht der Organe vermindert. Der Lauf in bekleidetem Zustand erwärmt, läßt die Gewebe zarter werden und macht die zu steifen Fibern geschmeidiger.2"4 Sydenham empfiehlt vor allem Spazierritte für Fälle von Melancholie und Hypochondrie: »Das Beste, was idi bisher zur Stärkung des Blutes und der Lebensgeister kennengelernt habe, ist tägliches Reiten und audi Spazierfahrten, die etwas länger und ohne Wagendach stattfinden. Diese Übung entledigt durch die verstärkten Stöße, die der Lunge und vor allem den Eingeweiden im Unterleib zugefügt werden, das Blut von exkrementeilen Säften, die noch darin sind, und gibt den Fibern Spannkraft, stellt die Funktion der Organe wieder her, belebt die natürlidie Hitze und entleert durch die Transpiration oder auch anders die verbrauchten Säfte oder stellt sie in ihrem ursprünglichen Zustand wieder her, löst Verstopfungen auf und öffnet alle Gänge. Sdiließlich erneuert dieses Unterfangen, durch die ständige Bewegung, die es im Blut auslöst, gewissermaßen das Blut und gibt ihm eine außergewöhnliche Stärke.« 28 ' Das Rollen der See, von allen Bewegungen der Welt die regelmäßigste, natürlichste und der kosmischen Ordnung entsprechendste - de l'Ancre hatte es für das menschliche 284 Jean Pierre Burette, Mémoire pour servir à l'histoire de la course chez les Anciens, Mémoires de l'Académie des Belles-Lettres, Bd. III, S. aSy. 285 Sydenham, Dissertation sur l'affection hystérique, in: ders., a . a . O . . S. 42t.
Herz so gefährlich gehalten, weil es ihm soviel zufällige Versuchungen, unwahrscheinliche und stets unerfüllte Träume biete und in starkem Maße das Abbild des bösen Unendlichen sei - , dieses Rollen wird im achtzehnten Jahrhundert als ein privilegiertes Regulativ der organischen Beweglichkeit betrachtet. In ihm bricht die Natur mit ihrem Rhythmus. Gilchrist schreibt einen ganzen Traktat »on the use of sea voyages in medecine«. Whytt findet das Heilmittel für die Anwendung bei Melancholikern wenig angebracht. Es ist »schwierig, solche Kranke dazu zu bewegen, eine lange Seereise zu unternehmen, aber ein Fall von hypochondrischen vapeurs muß genannt werden, bei dem die Beschwerden (es handelte sich um einen jungen Mann) plötzlich aufhörten, als er zu einer vier- oder fünfwöchigen Seereise gezwungen wurde«. Die Reise hat außerdem folgendes Interesse. Sie wirkt direkt auf den Ablauf der Ideen, oder wenigstens auf einem direkten Wege, weil dieser nur durch die Empfindung verläuft. Die Unterschiedlichkeit der Landschaft löst die Obstination des Melancholikers. Auch dieses alte Heilmittel wurde seit der Antike angewandt, aber das achtzehnte Jahrhundert schreibt es mit einer völlig neuen Eindringlichkeit vor, und die Arten variieren zwischen einer wirklichen Reise und imaginären Reisen in der Literatur und beim Theater.*86 Le Camus schreibt zur »Erschlaffung des Gehirns« in allen Fällen von vapeurs vor: »Spaziergänge, Reisen, Reiten, Übungen im Freien, Tanz, Schauspiele, amüsante Lektüre, Beschäftigung, die die liebgewonnene Idee vergessen machen können.«287 Durch die Schönheit und die Abwechslung der Landschaft kann ein Aufenthalt auf dem Lande die Melancholiker ihrer einzigen Sorge entreißen, »indem er sie von Orten fernhält, die die Erinnerung an ihre Schmerzen wachrufen«. 188 Umgekehrt kann die Erregung der Manie durch gute Effekte einer regelmäßigen Bewegung ausgeglichen werden. Es handelt sich hier nicht mehr darum, in Bewegung zu setzen, sondern um eine Regulierung der Erregung, um das plötzliche Anhalten des Laufes und um die Konzentration der Aufmerksamkeit. Die Reise wird nicht durch unaufhörliche Brüche und Mangel an Zusammenhang wirksam werj 8 i Nach Lieutaud gehört die Behandlung der Melancholie nicht zur Medizin, sondern »zur Zerstreuung und Übung« (a. a. O., S. 203). Sauvages empfiehlt Wanderungen zu Pferd wegen der Abwechslung der Eindrücke (Nosologie, Bd. 8, S. 30). 287 Antoine Le Camus, Medecine pratique, 17Ä9-1772, zitiert von Pomme, Nouveau recueil des pièces (...), Paris 177Γ, S. 7. 188 Nicolas Chambon de Montaux, Des maladies des femmes, Bd. 2, S. 477 f.
den, sondern durch die Neuigkeit der Gegenstände, die einem begegnen, und die Neugier, die geweckt wird. Die Reise muß gestatten, einen Geist, der jeder Regel entgeht und sidi in der Vibration seiner inneren Bewegung sidi selbst entzieht, von außen zu fassen. »Wenn man Gegenstände oder Personen bemerken kann, die ihre Aufmerksamkeit von der Verfolgung ihrer regellosen Ideen ablenken und ein wenig auf anderes lenken können, muß man sie den Maniakalischen oft vorstellen, und man hat von einer Reise deshalb oft Vorteile, weil sie die Folge der alten Ideen abbricht und neue fesselnde Gegenstände bietet.« 28 ' Die Therapie der Bewegung, die für die Abwechslungen, die sie in die Melancholie bringt, oder für die Regelmäßigkeit, die sie der Manie auferlegt, angewandt wird, verbirgt die Idee eines Ergriffenwerdens des wahnsinnig gewordenen Geistes durch die Welt. Sie ist zugleich ein »Verfallen in Gleichschritt« und eine Konversion, denn die Bewegung schreibt ihren Rhythmus vor, bildet aber durch ihre Neuheit oder Unterschiedlichkeit einen konstanten Aufruf für den Geist, daß er sich selbst verläßt und in die Welt zurückkehrt. Wenn tatsächlich immer noch in der Technik des Untertauchens die ethischen, fast religiösen Erinnerungen der Reinwaschung und der zweiten Geburt sidi verbargen, dann kann man in diesen Kuren durch Bewegung noch ein symmetrisches, moralisches, jedoch dem ersten entgegengesetztes Thema wiedererkennen. Es handelt sich um die Rückkehr zur Welt, darum, sidi ihrer Weisheit anzuvertrauen, in der man in der allgemeinen Ordnung seinen Platz einnimmt und dadurch den Wahnsinn, der das Moment reinster Subjektivität ist, vergißt. Man sieht, wie, bis in den Empirismus der Heilmittel hinein, sich die großen Organisationsstrukturen der Erfahrung mit dem Wahnsinn im Zeitalter der französischen Klassik wiederfinden. Irrtum und Verfehlung, Unreinheit und Einsamkeit zugleich ist der Wahnsinn. Er ist von der Welt und der Wahrheit zurückgezogen, ist aber genau dadurch in das Böse eingeschlossen. Sein doppeltes Nichts besteht darin, daß er sichtbare Form jenes Nicht-Seins ist, in dem das Böse besteht, und daß er in der Leere und in der gefärbten Erscheinungswelt seines Deliriums das Nicht-Sein des Deliriums hervorbringt. Er ist völlig rein, weil er nichts ist, abgesehen von dem ohnmächtigen Punkt seiner Subjektivität, der jede Präsenz der Wahrheit entzogen ist. Und er ist völlig 289 Cullen, Institutions de médecine pratique, Bd. 2, S. 317. A u f dieser Vorstellung beruhen auch die Techniken, durch Arbeit zu heilen, durch die im achtzehnten Jahrhundert die Existenz von Werkstätten in den Hospitälern gerechtfertigt werden.
unrein, weil dieses Nichts, das er ist, das Nicht-Sein des Bösen ist. Die Heiltechnik, bis hinein in ihre von imaginärer Intensität beladenen physischen Symbole - Konsolidierung und Wieder-in-Bewegung-setzen einerseits und Reinigung und Untertauchen andererseits - , ordnet sich insgeheim nach diesen beiden grundlegenden Themen. Es handelt sich gleichzeitig darum, den Menschen seiner ursprünglichen Reinheit wiederzugeben und ihn seiner reinen Subjektivität zu entreißen, um ihn in die Welt einzuführen; das Nicht-Sein zu vernichten, das ihn sich selbst entfremdet, und ihn der Fülle der äußeren Welt, der festen Wahrheit des Seins wieder zu öffnen. Die Techniken werden noch längere Zeit als ihr Sinn vorhanden sein. Wenn außerhalb der Erfahrung mit der Unvernunft der Wahnsinn einen rein psychologischen und moralischen Status erhalten haben wird, wenn die Beziehungen des Irrtums und des Fehlers, durch die der Klassizismus den Wahnsinn definierte, in dem einzigen Begriff der Straffälligkeit zusammengefaßt sein werden, werden die Techniken, wenn auch mit einer viel engeren Bedeutung, noch beibehalten bleiben. Man wird nur noch eine mechanische Wirkung oder eine moralische Strafe suchen. Auf diese Weise werden die Regulierungsmethoden der Bewegung in der berühmten »Rotationsmaschine« degenerieren, deren Mechanismus und Wirksamkeit Mason C o x am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zeigt2110: Ein lotrechter Pfeiler wird gleichzeitig an der Decke und im Fußboden befestigt. Man schnallt den Kranken auf einem Stuhl oder einem horizontal hängenden, um den Pfeiler beweglichen Arm fest. Dank eines wenig komplizierten Räderwerks verleiht man der »Maschine den gewünschten Grad an Geschwindigkeit«. C o x nennt eine seiner eigenen Beobachtungen. Es handelt sich um einen von der Melancholie mit einer Art Stupor geschlagenen Mann: »Sein Teint war schwarz und bleifarben, seine Augen gelb und seine Blicke ständig auf die Erde gerichtet. Seine Gliedmaßen schienen unbeweglich, seine Zunge war trocken und paralysiert, sein Puls langsam.« Man wirft ihn auf die Rotationsmaschine, gibt ihm eine immer schnellere Bewegung. Die erreichte Wirkung übertrifft die Hoffnung, man hat nämlich diesen Menschen zu schnell bewegt. An Stelle der melancholischen Steifheit hat er jetzt die manische Erregung. Sobald aber die erste Wirkung vorüber ist, fällt der Kranke in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Man modifiziert den Rhyth-
290 Man fragt sich, ob der Erfinder der Rotationsmaschine Maupertuis, Darwin oder der Däne Katzenstein war.
mus, läßt die Maschine sehr schnell drehen, wobei man sie aber in regelmäßigen Abständen brutal abstoppt. Die Melancholie wird verjagt, ohne daß die Rotation die manische Erregung hat auslösen können. 2 ' 1 Diese »Zentrifugierung« der Melancholie ist für den neuen Gebrauch der alten therapeutischen Themen sehr charakteristisch. Die Bewegung zielt nicht mehr darauf ab, den Kranken der Wahrheit der äußeren Welt wiederzugeben, sondern darauf, lediglich eine Folge innerer, rein mechanischer und rein psychologischer Wirkungen hervorzurufen. Nicht mehr der Präsenz des Wahren ordnet sich die Kur unter, sondern einer funktionalen Norm. In dieser Neuinterpretation der alten Methode wird der Organismus nicht mehr in Beziehung zu sich selbst und zu seiner eigenen Natur gebracht, während in der ursprünglichen Version seine Beziehung zur Welt, sein wesentliches Band zum Sein und zur Wahrheit wiederhergestellt werden sollte. Wenn man hinzufügt, daß die Rotationsmaschine sehr bald als Drohund Strafmittel benutzt wurde 2 ' 2 , sieht man, wie die schweren Bedeutungen, die die therapeutischen Methoden während des ganzen klassischen Zeitalters getragen haben, sich verflüchtigt haben. Man begnügt sich damit, mit den Mitteln, die einst dazu dienten, die Verfehlung zu verdammen und den Irrtum in der Rückverwandlung des Wahnsinns in die eklatante Wahrheit der Welt aufzulösen, zu regulieren und zu bestrafen. 1771 schrieb Bienville hinsichtlich der Nymphomanie, daß es Gelegenheiten gibt, in denen man sie heilen kann, »indem man sich mit den Behandlungen der Vorstellungskraft begnügt. Aber es gibt keine oder fast keine, bei der die physischen Heilmittel allein eine Radikalkur bewirken können.« 2 ' 3 Etwas später schreibt dann Beauchêne: »Vergeblich würde man die Heilung eines vom Wahnsinn befallenen Mannes versuchen, wenn man dazu nur physische Mittel benutzte ( . . . ) . Die materiellen Heilmittel hätten nie einen vollen Erfolg ohne Rückgriff auf die Hilfe, die ein gerechter und gesunder Geist einem Schwachen und Kranken geben muß.«2'·1 Diese Texte enthüllen nicht die Notwendigkeit einer psychologischen
291 Mason C o x , Practical observations on insanity, London 1804, frz. Übersetzung i8ofi, S. 49 f. 292 Vgl. Esquirol, a. a. O., Bd. 2, S. 225. 293 Bienville, La nymphomanie, S. 136. 294 Beauchêne, a. a. O., S. 28 f.
Behandlung, sie bezeichnen eher das Ende einer Epoche, in der der Unterschied zwischen Medikamenten für den Körper und moralischen Behandlungen vom ärztlichen Denken noch nicht akzeptiert worden war. Die Einheit der Symbole beginnt sich aufzulösen, und die Techniken befreien sich aus ihrer globalen Bedeutung. Man verleiht ihnen nur noch eine regionale Wirksamkeit auf Körper und Seele. Von neuem ändert die K u r ihre Richtung: Sie wird nicht mehr von der bedeutsamen Einheit der um ihre hauptsächlichen Eigenschaften geordneten Krankheit getragen, sondern muß sich Segment für Segment verschiedenen, sie zusammensetzenden Elementen zuwenden. Sie bildet eine Folge partieller Destruktionen, in denen psychologischer Angriff und physischer Eingriff beieinanderstehen, sich ergänzen, aber nie sich durchdringen. Tatsächlich ist das, was sich für uns bereits als Skizze einer psychologischen Behandlung darstellt, für die Ärzte, die sie im klassischen Zeitalter anwandten, nichts derartiges gewesen. Seit der Renaissance hatte die Musik alle heilenden Kräfte wiedergefunden, die ihr die Antike zugeschrieben hatte. Vor allem waren ihre Wirkungen auf den Wahnsinn bemerkenswert. Schenck hat einen Mann, »der in tiefe Melancholie verfallen war«, geheilt, indem er ihn »Instrumentalkonzerte hören ließ, die ihm besonders gefielen«.195 Auch Albrecht heilt einen Delirierenden, nachdem er alle anderen Mittel vergeblich versucht hat, mit Gesang, den er während eines seiner Anfälle »in Form eines kleinen Liedes, das den Kranken weckte, ihm gefiel, ihn zum Lachen brachte und für immer seinen Paroxysmus auflöste, vortragen ließ«.JsS Man zitiert sogar Fälle von durch Musik geheilter Phrenesie.1" Diese Beobachtungen verleiten jedoch nie zu psychologischen Interpretationen. Wenn die Musik heilt, so geschieht das durch ihre Wirkung auf das menschliche Wesen in seiner Gesamtheit, indem sie ebenso direkt und ebenso wirkungsvoll den Körper wie die Seele selbst durchdringt. Diemerbroek hat einen Pestkranken gekannt, der
195 Johann Georg Schenck von Grafenberg, Observationes medicorum variorum libri VII, Frankfurt 1654, S, 128. 296 Johannes 'Wilhelmus Albrecht, Tractatus physicus de effectibus mitsicis in corpus animatum, Leipzig 1734, § 314. 297 Histoire de l'Académie royale des sciences, 1707, S. 7, und 1708, S. 22. Vgl. auch J.-L. Royer, De vi soni et musicae in corpus humanum, Thèse Montpellier, Desbonnets, Effets de la musique dans les maladies nerveuses, in: Journal de médecine, Bd. 59, S. 556, und Joseph Roger, Traité des effets de la musique sur le corps kumain, Paris 1803.
durch Musik geheilt worden ist.2»8 Wahrscheinlich wird man nicht mehr, wie es noch Porta getan hat, argumentieren, daß die Musik in der materiellen Wirklichkeit ihrer Klänge die geheimen, in der Substanz der Instrumente verborgenen Kräfte bis zum Körper trägt. Wahrsdieinlidi glaubt man nidit mehr mit Porta, daß die an einer Erkrankung der Lymphdrüsen Leidenden durch »eine frische Weise, die auf einer Stechpalmflöte gespielt wird«, oder die Melancholiker durch »eine sanfte, auf einer Helleborusflöte gespielte Weise erleichtert werden«, oder daß man »eine mit Rittersporn oder Knabenkraut für die impotenten und kalten Männer gemachte Flöte« benutzen sollte.2»'' Wenn aber die Musik die in den Substanzen verborgenen Kräfte nidit mehr transportiert, ist sie dank der Eigenschaften wirksam, die sie dem Körper auferlegt. Sie bildet sogar die strengste aller Mechaniken, weil sie in ihrem Ursprung nichts anderes als Bewegung ist, jedoch, einmal zum Ohr gelangt, sogleich ein qualitativer Effekt wird. Der therapeutische Wert der Musik rührt daher, daß sich diese Transformation im Körper auflöst, daß die Eigenschaft sich wieder in Bewegung zerlegt, daß das Angenehme der Empfindung im Körper wieder zu dem wird, was es stets gewesen ist: regelmäßige Bewegungen und Gleichgewicht der Spannungen. Der Mensch als Einheit von Seele und Körper durchläuft in einer umgekehrten Riditung den Zyklus der Harmonie, indem er vom Harmonischen zum Harmonie Hervorbringenden hinuntersteigt. Die Musik löst sich darin auf, aber die Gesundheit wird wiederhergestellt. Es gibt jedoch noch einen anderen, noch direkteren und wirksameren Weg. Hier spielt der Mensch nicht mehr jene negative Rolle des Anti-Instruments, sondern reagiert, als sei er selbst das Instrument: »Wenn man den menschlichen Körper nur als eine Sammlung von mehr oder weniger gespannten Fibern ansieht und dabei von ihrer Sensibilität, ihrem Leben, ihrer Bewegung abstrahiert, wird man mühelos begreifen, daß die Musik auf die Fibern die gleiche Wirkung ausüben muß wie auf die Saiten benachbarter Instrumente.« Der Resonanzeffekt braudit nicht den stets langeil und komplexen Wegen der auditiven Empfindung zu folgen. Das Nervensystem vibriert mit der Musik, die die Luft füllt. Die Fibern sind wie ebenso viele »taube Tänzerinnen«, deren Bewegungen sidi im Einklang mit einer Musik, die sie nicht hören, vollziehen. In diesem Fall vollzieht sidi im Innern des Körpers von der Nervenfiber bis zur
298 Diemerbroek, De peste, Amsterdam 1665, Buch 4. 299 Porta, De magici naturttli, zitiert in Encyclopédie, Artikel »Musique«..
Seele die Rekomposition der Musik; die Harmonie gebende Struktur des Gleichklangs führt dadurch wieder das harmonische Funktionieren der Leidenschaften herbei.300 Der Gebrauch der Leidensdiaft in der Therapie des Wahnsinns darf nicht als eine Form psychologischer Wirkung der Arzneien betrachtet werden. Die Leidenschaft gegen die Formen der Demenz zu benutzen, heißt nichts anderes, als sidi an die Einheit von Seele und Körper im strengsten Sinne zu halten, sidi eines Vorgangs im doppelten System ihrer Wirkungen und in der unmittelbaren Korrespondenz ihrer Bedeutungen zu bedienen. Den Wahnsinn durch die Leidensdiaft zu heilen, setzt voraus, daß man sich in den reziproken Symbolismus von Seele und Körper stellt. Die Angst wird im achtzehnten Jahrhundert als eine der Leidenschaften betrachtet, die beim Irren hervorzurufen sich sehr empfiehlt. Man meint, daß sie das natürliche Komplement der den Maniakalisdien und Tobsüchtigen auferlegten Zwänge ist. Man träumt sogar von einer A r t Dressur, die bewirken würde, daß jeder Wutanfall bei einem Maniakalisdien sofort von einer Angstreaktion begleitet und kompensiert wird: »Durch die Kraft triumphiert man über das Toben des Maniakalisdien. Die Wut kann durch Entgegenstellen der Furcht gehemmt werden. Wenn der Schrekken vor einer Strafe und einer öffentlichen Schande sich im Geist mit den Wutanfällen verbindet, kann nidit eines ohne das andere auftreten. Gift und Gegengift sind untrennbar.«301 Aber die Angst ist nicht nur auf der Ebene der Auswirkungen der Krankheit wirksam. Die Krankheit selbst wird von der Angst erreicht und ausgelöscht. Die Angst hat in der Tat die Eigenheit, das Funktionieren des Nervensystems fest zu fügen, seine zu beweglichen Fibern in gewisser Weise zu versteinern, all ihren ungeordneten Bewegungen eine Bremse zu sein: »Die Angst ist eine Leidenschaft, die die Erregung des Gehirns vermindert, und kann infolgedessen dessen Auswüchse und vor allem den Zornesausbruch der Maniakalisdien beruhigen.«301 Wenn das antithetische Paar der Angst und der Wut gegen die maniakalische Reizung wirksam ist, kann es in umgekehrter Richtung gegen die schlecht motivierte Furcht der Melancholiker, der Hypochonder ,ca Encyclopédie, Artikel »Musique«. Vgl. ebenso Tissot, Traité des nerfs, Bd. 2. S. 418 f., für den die Musik eines »der primitivsten Heilmittel ist, weil sie ihr Vorbild im Gesang der Vögel hat«. 321 Mexander Crichton, On mental diseases, zitiert bei Elias Rcgnault, Du degré Je compétence des médicins, Paris 1828, Seite 187 f. 302 Cullen, a. a. O., Bd. 2, S. 307.
und all derer benutzt werden, die ein lymphatisches Temperament haben. Tissot nimmt die traditionelle Idee wieder auf, daß die Wut eine Entladung der Galle ist, und meint, daß sie ihre Nützlichkeit bei der Auflösung der im Magen und im Blut angehäuften entzündbaren Stoffe hat. Indem sie die Nervenfibern einer stärkeren Spannung unterwirft, verleiht ihnen die Wut größere Kraft, stellt sie die verlorene Spannkraft wieder her und gestattet so der Furcht, sich a u f z u l ö s e n . 3 0 3 Die Kur mit Hilfe der Leidenschaft beruht auf einer konstanten Verwandlung der Eigenschaften und der Bewegungen. Sie impliziert stets, daß sie unmittelbar in ihrer dem Körper eigenen Modalität zur Seele übertragbar sind und umgekehrt. Man muß, so sagt Scheidemantel in dem Traktat, den er dieser Form der Kur widmet, sie benutzen, »wenn die Heilung im Körper Veränderungen benötigt, die mit denen identisch sind, die jene Leidenschaft hervorrufen«. Und in diesem Sinne kann sie der universale Ersatz jeder anderen Therapie sein. Sie ist nur ein anderer Weg, um die gleiche Wirkungsfolge hervorzurufen. Zwischen einer K u r mit Hilfe der Leidenschaften und einer K u r aufgrund von Rezepten der Pharmakologie gibt es keinen Unterschied in der Natur, sondern nur eine Verschiedenheit in der A r t des Zugangs zu diesen Mechanismen, die dem Körper und der Seele gemeinsam sind. »Man muß sich der Leidenschaften bedienen, wenn der Kranke mit H i l f e der Vernunft nicht dazu gebracht werden kann, das zu tun, was für die Wiederherstellung seiner Gesundheit notwendig ist.«30·» Es ist also im strengen Sinne nicht möglich, den für uns unmittelbar entzifferbaren Unterschied zwischen physischen Medikationen oder psychischen und moralischen Medikationen im Zeitalter der Klassik als eine gültige Unterscheidung oder wenigstens als eine bedeutungsgeladene Unterscheidung zu benutzen. Der Unterschied wird in aller Tiefe erst von dem Tag an zu existieren beginnen, an dem die Angst nicht mehr als Methode benutzt wird, die Bewegung aufzuhalten, sondern als Strafe; wenn die Freude nicht mehr die organische Erweiterung, sondern die Belohnung bedeuten wird; wenn die Wut nicht mehr eine Antwort auf die beabsichtigte Erniedrigung sein wird; kurz: wenn das neunzehnte Jahrhundert durch Erfindung der berühmten »moralischen Methoden« den Wahnsinn und seine Heilung
303 Tissot, Traité des nerfs, B d . 2. 304 V o l c m a r Sdieidemantel, Die Leidenschaften w ä h n t bei Pagel-Neuburger, Handbuch
als Heilmittel
der Geschidite
betrachtet,
der Medizin,
1787. E r -
B d . 3, S. fiio.
in das Spiel der Straffälligkeit eingeführt haben wird.30* Die Unterscheidung des Physischen und des Moralischen ist in der Medizin der Geisteskrankheiten erst in dem Moment ein praktischer Begriff geworden, in dem die Problematik des Wahnsinns sich hin zu einer Befragung der verantwortlichen Person verlagert hat. Der rein moralische Raum, der dann definiert wird, gibt genau die Maße jener psychologischen Innerlichkeit an, in der der moralische Mensch zugleich seine Tiefe und seine Wahrheit sucht. Die physische Therapie versucht in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Heilmethode des unschuldigen Determinismus zu werden, während die moralische Behandlung die der mangelhaften Freiheit zu werden trachtet. Die Psychologie als Heilmethode ordnet sich künftig um die Bestrafung. Bevor sie zu beruhigen versucht, richtet sie das Leiden in der Strenge einer moralischen Notwendigkeit ein. »Wendet keinen Trost an, denn er ist unnütz. Greift nicht zu Überlegungen, sie überzeugen nicht. Seid nicht mit den Melancholikern traurig, eure Traurigkeit würde die ihre unterstützen. Versucht nicht, mit ihnen fröhlich zu sein, es würde sie verletzen. Viel Kaltblütigkeit und, wenn es notwendig ist, Strenge. Eure Vernunft soll ihr Verhaltensmaßstab werden. Eine einzige Saite vibriert noch bei ihnen: die des Schmerzes. Seid mutig genug, sie anzurühren.«3"6 Die Heterogenität des Physischen und des Moralischen im ärztlichen Denken ist nicht aus der Definition, die Descartes von den Substanzen gegeben hat, hervorgegangen. Anderthalb Jahrhunderte nachkartesianischer Medizin haben diese Trennung auf der Ebene ihrer Probleme und Methoden nicht zu assimilieren, noch die Unterscheidung der Substanzen als einen Gegensatz von Organischem und Psychologischem zu verstehen vermocht. O b die klassische Medizin nun kartesianisch oder antikartesianisch war, sie hat Descartes' metaphysischen Dualismus auf Kosten der Anthropologie durchzusetzen versucht. Als die Trennung vollzogen wurde, geschah das nicht in einer erneuerten Treue gegenüber den Méditations, sondern durch ein der Verfehlung neu gegebenes Privileg. Allein der Gebrauch der Strafe hat bei dem 305 Guislain hat folgende Liste der moralischen Beruhigungsmittel: das Abhängigkeitsgefühl, die Drohungen, ernste Worte, Angriffe auf die Eigenliebe, Isolierung, Einschließung, Strafen (Rotationsstuhl, brutale Duschen, Repressionssessel von Rush), manchmal Hunger und Durst. Joseph Guislain, Traité sur les phrénopathies ou Doctrine nouvelle des maladies mentales. Brüssel 2 i 835, S. 405-433. 30Î François Leuret, Fragmens psychologiques, Paris 1834, ein typisches Beispiel, S. 308-321.
Irren die körperlichen und die seelischen Medikationen getrennt. Eine rein psychologische Medizin ist erst an dem Tag möglich geworden, an dem der Wahnsinn in die Schuldhaftigkeit gedrängt wurde. Das könnte jedoch ein Aspekt der ärztlichen Praxis während des klassischen Zeitalters stark in Abrede stellen. Das psychologische Element scheint in seiner Reinheit seinen Platz unter den Techniken zu haben. Wie sollte man sonst die Bedeutung erklären, die der Ermahnung, der Oberzeugung, der Überlegung und dem ganzen Dialog zugemessen wird, den der A r z t in der Klassik mit seinen Kranken, unabhängig von der K u r durch körperliche Heilmittel, unterhält? Wie sollte man erklären, daß Sauvages in Übereinstimmung mit allen seinen Zeitgenossen schreiben kann: »Man muß Philosoph sein, um die Seelenkrankheiten heilen zu können. Denn da der Ursprung dieser Krankheiten nichts anderes ist als ein heftiger Wunsch nach einer Sache, die der Kranke als ein Gut erachtet, gehört es zur Pflicht des Arztes, ihm mit soliden Gründen zu beweisen, daß das von ihm so heiß ersehnte ein scheinbares Gut und in Wirklichkeit ein Übel ist, damit er ihn so von seinem Irrtum befreit.«3"7 Tatsächlich ist diese Annäherung an den Wahnsinn nicht mehr und nicht weniger psychologisch als alle, von denen wir bereits gesprochen haben. Die Sprache, die Formulierungen der Wahrheit oder der Moral haben den Körper direkt im Griff. Es ist wiederum Bienville in seinem Traktat über die Nymphomanie, der zeigt, wie die Annahme oder die Ablehnung eines ethischen Prinzips den Ablauf organischer Prozesse direkt verändern kann.3"8 Dennoch gibt es einen Naturunterschied zwischen den Techniken, die in der Modifikation gemeinsamer Eigenschaften des Körpers und der Seele bestehen, und jenen, die in der Einschließung des Wahnsinns durch eine Rede bestehen. In einem Fall handelt es sich um eine Technik der Metaphern auf der Ebene einer Krankheit, die eine Naturveränderung bedeutet, während es sich im anderen Fall um eine Sprachtechnik auf der Ebene eines als Gespräch der Vernunft mit sich selbst perzipierten Wahnsinns handelt. In dieser letzten Form entfaltet sich jene Kunst auf einem Gebiet, in dem der Wahnsinn in Begriffen von Wahrheit und Irrtum in jedem Sinne des Wortes »behandelt« wird. Es hat, kurz gesagt, während des ganzen klassischen Zeitalters eine Nebeneinanderstellung 307 Boissier des Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 39. 3=8 Bienville, a. a. O., S. 140-153.
zweier technischer Welten in den Therapien des Wahnsinns gegeben. Die eine beruht auf einer impliziten Mechanik der Eigenschaften und wendet sich an den Wahnsinn insoweit, als er wesentlich Leidensdiaft ist, das heißt insoweit er ein bestimmtes Gemisch (Bewegung und Eigenschaft) ist, das dem Körper und der Seele gleichzeitig zugehört. Die andere beruht auf einer diskursiven Bewegung der mit sich selbst räsonierenden Vernunft und wendet sich an den Wahnsinn als Irrtum, als doppelte Nichtigkeit der Sprache und des Bildes, an den Wahnsinn als Delirium. Der strukturelle Zyklus der Leidenschaft und des Deliriums, der die klassische Erfahrung mit dem Wahnsinn bildet, erscheint hier in der Welt der Tediniken wieder, jedoch in einer synkopierten Form. Seine Einheit zeichnet sich darin nur entfernt ab; sichtbar wird jedoch unmittelbar in großen Lettern die Dualität, ja fast die Opposition der Methoden, die Krankheit in der Medizin des Wahnsinns zu unterdrücken, und der Formen, die Unvernunft einzukreisen. Diese lassen sich auf drei wesentliche Gestalten zurückführen. X. Das Wecken. D a das Delirium der Traum der nicht schlafenden Personen ist, muß man die Delirierenden dem Quasi-Schlaf entreißen und sie aus dem träumerischen, den Bildern ausgelieferten Wachsein zurückrufen zu einem authentischen Wachsein, in dem der Traum vor den Gestalten der Perzeption verschwindet. Dieses absolute A u f w a chen, das die Formen der Illusion eine nadh der anderen verabschiedet, wird von Descartes am Anfang seiner Méditations verfolgt, der es paradoxerweise im Bewußtsein des Traums selbst, im Bewußtsein des getäuschten Bewußtseins findet. Bei den Irren aber muß die Medizin das Aufwachen herstellen, indem sie die Einsamkeit der kartesianischen Seele in die autoritäre Intervention des seines Wachseins in der Illusion des Eingeschläfertseins sicheren Wachen transformiert: dieser Querweg schneidet dogmatisch den langen Weg Descartes' ab. Was Descartes am Ende seines Schlusses und in der Verdoppelung eines Bewußtseins entdeckt, das sich nie von sich selbst trennt und sich nie halbiert, erlegt die Medizin in der Trennung des Arztes und des Kranken von außen auf. Der A r z t reproduziert in Beziehung zum Irren das Moment des cogito in Beziehung zur Zeit des Traums, der Illusion und des Wahnsinns. Dieses cogito ist völlig äußerlich, dem Nachdenken selbst völlig fremd und kann sich ihm nur in der Form eines Hereinbrechens aufdrängen. Diese Struktur des Hineinbrechens des Wachseins ist eine der konstantesten Formen der Therapien des Wahnsinns. Sie nimmt manch-
mal die einfachsten, zugleich bildreichsten und mit unmittelbaren Kräften am meisten ausgestatteten Aspekte an. Man gibt zu, daß ein aus nächster Nähe abgefeuerter Gewehrschuß ein junges Mädchen von Konvulsionen geheilt hat, die sie sich infolge eines sehr heftigen Kummers zugezogen hatte.3"5 Ohne bis zu der imaginären Verwirklichung der Weckmethoden zu gehen, erzielen die plötzlichen und starken Emotionen das gleiche Resultat. In diesem Geiste hat Boerhaave seine berühmte Heilung von an Konvulsionen leidenden Insassen in Harlem durchgeführt. Im Hospital der Stadt war eine Epidemie von Konvulsionen ausgebrochen. Die krampflösenden Mittel wirkten selbst bei hoher Dosis nicht mehr. Boerhaave ordnete an, »daß man mit glühenden Kohlen gefüllte Öfen herbeischafft und darin Eisenhaken einer bestimmten Form zum Glühen bringt. Danach sagt er mit lauter Stimme, daß man, nachdem alle anderen bis dahin zur Heilung der Konvulsionen angewandten Mittel nicht geholfen haben, nur noch ein einziges Mittel anwenden könne, nämlich mit einem glühenden Eisen an einer bestimmten Stelle am Arm der weiblichen und männlichen Personen, die von Konvulsionen befallen sind, das Fleisch bis zum Knochen herunterzubrennen.« 3 '" Langsamer, aber auch der Wahrheit sicherer, in deren Richtung er sich öffnet, ist der Wachzustand, der von der Weisheit selbst und ihrem insistenten, imperativen Wandern durch die Landschaften des Wahnsinns kommt. Von diesen Weisheiten in ihren verschiedenen Formen erwartet Willis die Heilung der Wahnsinnsarten. Für die Imbezilen muß es sich um eine pädagogische Weisheit handeln: »Ein eifriger und mit Hingabe arbeitender Lehrer muß sie völlig erziehen« : man muß ihnen sehr langsam das beibringen, worin Kinder in den Schulen unterrichtet werden. Für die Melancholiker bedarf man einer Weisheit, die sich am Beispiel der strengsten und evidentesten Formen der Wahrheit orientiert: Alles, was es an Imaginärem in den Delirien der Melancholiker gibt, wird sich im Licht einer unbestreitbaren Wahrheit auflösen. Deshalb »sind ihnen die mathematischen und chemischen Studien« stark empfohlen. Für die anderen ist es die Weisheit eines wohlgeordneten Lebens, die ihr Delirium reduzieren würde. Man braucht ihnen keine andere Wahrheit aufzudrängen als die des täglichen Lebens. Wenn sie in ihrem Hause bleiben, »müssen sie weiterhin ihre Geschäfte führen, ihre Familie leiten und ihren Be309 Histoire de l'Académie des sciences, 17S2. Bericht, vorgetragen von Lieutaud. 310 Zitiert bei Whytt, a. a. O., Bd. 1, S. 296.
sitz, ihre Gärten, ihre Obstgärten und Felder ordnen und bebauen«. Die Genauigkeit einer sozialen Ordnung, die von außen und, falls nötig, mit Zwang auferlegt wird, kann allmählich den Geist der Maniakalisdien zum Geist des Lichts zurückbringen: »Dafür wird der Irre, der in ein Spezialhaus gebracht wird, vom A r z t wie von klugen Helfern behandelt, so daß man ihn stets bei seiner Pflicht, der richtigen Haltung und den guten Sitten halten kann, indem man ihm Ermahnungen, Vorhaltungen und sofort verhängte Strafen zukommen läßt.« 3 " Allmählich wird im Laufe des klassischen Zeitalters das autoritäre Wecken des Wahnsinns seinen ursprünglichen Sinn verlieren, um sich darauf zu begrenzen, nie mehr etwas anderes als Wiedererinnerung des moralischen Gesetzes, Rückkehr zum Guten, Treue gegenüber dem Gesetz zu sein. Was Willis noch als Neueröffnung gegenüber der Wahrheit verstand, wird von Sauvages nicht mehr völlig verstanden, der von Luzidität im Erkennen des Guten spricht: »So kann man diejenigen wieder zur Vernunft bringen, die falsche Prinzipien der Moralphilosophie zu deren Verlust gebracht haben, vorausgesetzt, daß sie mit uns prüfen wollen, welche die wahren Güter sind und welche man den anderen vorziehen muß.« 3 ' 1 Der A r z t muß bereits nicht mehr als Weckender, sondern als Moralist wirken. Gegen den Wahnsinn hält Tissot ein »reines und tadelloses Bewußtsein für ein ausgezeichnetes Schutzmittel«. 3 ' 3 Und bald wird für Pinel das Wecken für die Wahrheit keine Bedeutung mehr in der Heilung haben, sondern lediglich der Gehorsam und die blinde Unterwürfigkeit: »Ein fundamentales Prinzip für die Heilung der Manie ist in einer großen Zahl der Fälle zunächst der Rückgriff auf eine energische Repression und im Anschluß daran das Einschlagen von wohlwollenden Wegen.« 3 ' 4 2. Die Theaterdarstellung. Wenigstens dem Anschein nach handelt es sich um eine dem Wecken streng gegenübergestellte Technik. Das Delirium war dort in seiner unmittelbaren Hitzigkeit der geduldigen Arbeit der Vernunft konfrontiert. Entweder in der Form einer langsamen Pädagogik oder in der Form eines autoritären Einbruchs drängte sich die Vernunft von selbst und wie mit dem Gewicht ihres eigenen Seins auf. Das Nicht-Sein des Wahnsinns, die Nichtigkeit seines Irrtums mußten schließlich wohl dem Druck der Wahrheit weichen. Hier 311 312 1:3 314
Willis, Opera, Bd. 2, S. 261. Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 28. Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten. Pinel, Traité médico-philosophique, S. 222.
nun spielt sidi das therapeutische Vorgehen völlig im Raum der Vorstellungskraft ab. Es handelt sich um eine Komplizität des Irrealen mit sich selbst. Das Imaginäre muß in sein eigenes Spiel eintreten, freiwillig neue Bilder hervorrufen, auf der Linie des Deliriums delirieren und ohne Opposition oder Konfrontation, ja, paradoxerweise, ohne sichtbare Dialektik heilen. Die Gesundheit muß die Krankheit umzingeln und sie im Nichts besiegen, in dem die Krankheit eingeschlossen ist. Die Vorstellungskraft »kann, wenn sie krank ist, nur durch die Wirkung einer sehr gesunden und geübten Vorstellungskraft geheilt werden ( . . . ) . Es ist gleichgültig, ob die Vorstellungskraft des Kranken durch Angst, durch einen lebhaften und schmerzhaften Sinneseindruck oder durch eine Illusion geheilt wird.« 31 ' Die Illusion kann vom Illusorischen heilen, während allein die Vernunft vom U n vernünftigen befreien kann. Wie sieht dann also die wirre Kraft dieses Imaginären aus? In dem Maß, in dem es zum Wesen des Bildes gehört, sich als Realität darzustellen, gehört es umgekehrt zur Wirklichkeit, ein Bild vorspielen zu können und sich als aus der gleichen Substanz bestehend auszugeben und so zu tun, als verfüge sie über die gleiche Bedeutung. Ohne Stoß, ohne Bruch kann die Wahrnehmung den Traum fortsetzen, seine Lücken füllen, ihn in dem bestätigen, was er an Unsicherem besitzt, und ihn zu seiner Erfüllung führen. Wenn die Illusion als ebenso wahr wie die Wahrnehmung erscheinen kann, kann die Wahrnehmung ihrerseits sichtbare, unabweisbare Wahrheit der Illusion werden. Das erste Moment der Kur durch »Theaterdarstellung« besteht darin, die Irrealität des Bildes in die perzeptive Wahrheit zu integrieren, ohne daß diese jener zu widersprechen oder sie zu bestreiten scheint. Lusitanus erzählt so von der Heilung eines Melancholikers, der sich bereits auf der Erde wegen der Größe der Sünden, die er begangen hatte, verdammt glaubte. In der Unmöglichkeit, ihn durch vernünftige Argumente zu überzeugen, daß er gerettet werden könnte, akzeptiert man sein Delirium, läßt ihm einen weißgekleideten Engel mit einem Schwert in der Hand erscheinen, der ihm nach einer strengen Mahnrede verkündet, daß ihm seine Sünden vergeben worden sind. 3li A n Hand dieses Beispiels sieht man, wie sich das zweite Moment ab315 Allard Hülshoff, »Discours sur les penchants, lu à l'Académie de Berlin«, in: Gazette salutaire, 17. August 1769, N r . 33. 31S Zacutus Lusitanus, Praxis medica (1637), observatio 45, S. 43 f.
zeichnet. Die Darstellung im Bild genügt nicht, man muß die delirierende Rede fortsetzen. Denn in den wahnsinnigen Äußerungen des Kranken gibt es eine Stimme, die spricht, die seiner Grammatik gehorcht und einen Sinn ausspricht. Grammatik und Bedeutung müssen derart aufrechterhalten werden, daß die Darstellung des Phantasmas in der Wirklichkeit nicht wie das Gleiten aus einem Register in das andere, wie die Übersetzung in eine neue Sprache mit einem veränderten Sinn erscheint. Die gleiche Sprache muß sich weiterhin hören lassen, wobei sie der Strenge ihrer Rede ein neues deduktives Element hinzufügt. Dieses Element ist jedoch nicht gleichgültig. Es handelt sich nidit um die Fortsetzung des Deliriums, sondern um den Versuch, es während der Fortsetzung zu beenden. Man muß es zu einem Zustand des Paroxysmus und der Krise führen, in dem es ohne jede Hilfe eines fremden Elements mit sich selbst konfrontiert und mit den Forderungen seiner eigenen Wahrheit in Diskussion gebracht wird. Die wirkliche und perzeptive Rede, die die delirierende Sprache der Bilder verlängert, muß also, ohne den Gesetzen der letzteren zu entgehen oder ihre Souveränität zu verlassen, in Beziehung zu ihr eine positive Funktion erfüllen. Sie strafft diese Sprache um ihre wesentlichen Elemente. Wenn sie sie mit dem Risiko realisiert, sie zu bestätigen, dann geschieht das zu ihrer Dramatisierung. Man nennt den Fall eines Kranken, der sich für tot hielt und wirklich daran zu sterben drohte, daß er nidits aß. »Eine Gruppe, die sich weiß angemalt hatte und wie Tote gekleidet war, betritt sein Zimmer, stellt einen Tisch auf, trägt Wein herbei und beginnt vor seinem Bett zu essen und zu trinken. Der halbverhungerte Sterbende schaut zu, man fragt ihn, warum er im Bett bleibe, überzeugt ihn davon, daß die Toten wenigstens soviel essen wie die Lebenden. Und er nimmt diese Gewohnheit an.«3'7 Im Innern einer zusammenhängenden Rede lösen die Elemente des Deliriums, die in Widerspruch geraten, die Krise aus. Diese Krise ist auf sehr doppeldeutige Weise gleichzeitig eine ärztliche und eine dramatische. Die ganze Tradition der abendländischen Medizin seit Hippokrates wird dabei plötzlich - und nur für wenige Jahre - wieder eine der Haupterfahrungen des Theaters anschneiden. Man sieht, wie sich das große Thema einer Krise abzeichnet, die eine Konfrontation des Wahnsinnigen mit seinem eigenen Sinn, der Vernunft mit der Unvernunft, der klugen List des Menschen mit der Blindheit des Wahnsinnigen abzeichnet, eine Krise, die den \ n Hülshoff, a. a. O .
Punkt bezeichnet, an dem die gegen sidi selbst gekehrte Illusion sich für die Blendung der Wahrheit öffnet. Diese Öffnung ist der Krise stets bevorstehend, sie bildet mit ihrer unmittelbaren Nähe das wesentliche Moment der Krise. Sie ist aber nicht durch die Krise gegeben. Damit die Krise ärztlich und nicht nur dramatisch, damit sie nicht nur Vernichtung des Menschen, sondern reine und einfache Beseitigung der Krankheit, kurz, damit diese dramatische Darstellung des Deliriums eine reinigende Wirkung der Komik habe, muß in einem bestimmten Augenblick eine List eingeführt werden. 3 ' 8 Eine List oder wenigstens ein Element, das heimlich das autonome Spiel des Deliriums verändert und es während dessen unaufhörlicher Bestätigung nicht mit seiner eigenen Wahrheit verbindet, ohne es gleichzeitig mit der Notwendigkeit seiner Unterdrückung zu verketten. Das einfachste Beispiel dieser Methode ist die bei den delirierenden Kranken angewandte List, die sich einbilden, in ihrem Körper einen Gegenstand oder ein außergewöhnliches Tier wahrzunehmen: »Wenn ein Kranker ein bestimmtes Tier in seinem Körper eingeschlossen glaubt, muß man so tun, als entferne man es daraus. Handelt es sich um den Bauch, kann man ein Reinigungsmittel nehmen, das den Körper heftig erschüttert, und man kann ein entsprechendes lebendes Tier in das Gefäß werfen, ohne daß der Kranke es bemerkt.«31» Die Inszenierung verwirklicht das delirierende Objekt, kann dies aber nicht tun, ohne es zu veräußerlichen, und wenn es dem Kranken eine perzeptive Bestätigung seiner Illusion gibt, dann nur. indem sie ihn gewaltsam von der Illusion befreit. Die künstliche Wiederherstellung des Deliriums bildet die wirkliche Distanz, innerhalb derer der Kranke seine Wahrheit wiederfindet. Manchmal jedoch bedarf es nicht einmal dieser Entfernung. Innerhalb der Quasi-Wahrnehmung des Deliriums kann sich durch List ein Element der Wahrnehmung zunächst schweigend festsetzen, dessen fortschreitende Bestätigung aber das ganze System in Frage stellen wird. In ihm und in der Wahrnehmung, die sein Delirium bestätigt, perzipiert der Kranke die befreiende Wirklichkeit. Trallion berichtet, wie ein Arzt das Delirium eines Melancholikers auflöste, der sich einbildete, keinen Kopf mehr zu haben und an dessen Stelle eine Leere zu verspüren. Der A r z t spielt bei diesem Delirium mit, er akzeptiert, auf Verlangen des Kranken jenes Loch zu stopfen, und setzt ihm eine 318 Lusitanus, a. a. O., S. 43: »Hic omnivarius morbus ingenio et astutia curandu« est.« 319 Encyclopédie,
Artikel »Mélancolie«.
firolie Bleikugel auf den K o p f . Bald überzeugen die daraus herrührende Unbequemlichkeit und das schnell schmerzende Gewicht den Kranken davon, daß er einen K o p f hat.320 Schließlich kann die List und ihre Funktion einer komischen Reduzierung mit Hilfe des Arztes, jedoch ohne direkten Eingriff seinerseits, durch das spontane Spiel im Organismus des Kranken sichergestellt werden. Im oben genannten Fall des Melancholikers, der tatsächlich daran zu sterben drohte, daß er keine Nahrung mehr zu sich nahm, weil er sich für tot hielt, bewegt ihn die Theaterinszenierung eines Totenmahls zum Essen. Diese Nahrung richtet ihn wieder auf, »der Gebrauch von Speisen läßt ihn wieder ruhiger werden«, und dadurch, daß die organische Störung verschwindet, löst sich auch das Delirium auf, das untrennbar Ursache und Wirkung davon war. 32 ' So wird der wirkliche Tod, der aus dem eingebildeten Tod resultieren würde, von der Realität allein durch die Aufführung eines irrealen Todes ferngehalten. Der Wechsel des Nichts-Seins mit sich selbst hat sich in diesem Spiel vollzogen: das Nicht-Sein des Deliriums hat sich auf das Sein der Krankheit übertragen und hat sie allein durch die Tatsache beseitigt, daß es durch die dramatische Aufführung aus dem Delirium vertrieben worden ist. Oie Vollendung des Nicht-Seins des Deliriums im Sein erreicht seine Beseitigung als Nicht-Sein selbst. Dies geschieht durch den reinen Mechanismus seines inneren Widerspruches, einen Mechanismus, der gleichzeitig Wortspiel und Spiel der Illusion, Sprachspiel und Bilderspiel ist. Das Delirium wird wirklich in seinem Nicht-Sein beseitigt, weil es wahrgenommenes Sein wird. D a aber das Sein des Deliriums völlig in seinem Nicht-Sein liegt, wird es als Delirium beseitigt. Und ieine Bestätigung in der dramatischen Phantasie gibt es einer Wahrheit wieder, die es, in dem sie es im Wirklichen gefangenhält, aus der Wirklichkeit selbst vertreibt und in der nicht delirierenden Rede der Vernunft verschwinden läßt. }. Die Rückkehr zum Unmittelbaren. D a der Wahnsinn Illusion ist, kann sich die Heilung des Wahnsinns, wenn es stimmt, daß man sie mit Hilfe des Theaters bewirken kann, ebensosehr und noch direkter durch die Beseitigung des Theaters vollziehen. Den Wahnsinn und .eine nichtige Welt direkt der Fülle einer Natur anzuvertrauen, die aidit täuscht, weil ihre Unmittelbarkeit nicht das Nicht-Sein kennt, heißt, gleichzeitig den Wahnsinn seiner eigenen Wahrheit (weil der >20 Ebda. ι) Hühhoff, a. a. Ο
Wahnsinn als Krankheit letzten Endes ein natürliches Sein ist) und seinem nächsten Widerspruch auszuliefern (weil das Delirium als inhaltslose Erscheinung das Gegenteil des oft geheimen und unsichtbaren Reichtums der Natur ist). Dieser Widerspruch erscheint so wie die Vernunft der Unvernunft in jenem doppelten Sinne, daß sie deren Ursachen enthält und gleichzeitig deren Unterdrückungsprinzip verbirgt. A u f jeden Fall muß man festhalten, daß diese Themen nicht dem klassischen Zeitalter in seiner vollen Dauer zeitgleich sind. Obwohl sie sich der gleichen Erfahrung der Unvernunft zuordnen, folgen sie den Themen der Theateraufführung nach. Ihre Erscheinung zeigt den Moment an, in dem die Frage nach dem Sein und der Illusion zu schwinden und einer Problematik der Natur Platz zu machen beginnt. Die Spiele der dramatischen Illusion verlieren ihren Sinn, und an die Stelle der künstlichen Techniken der imaginären Aufführung stellt man die einfache und vertrauliche Kunst einer natürlichen Reduktion. Dies geschieht in einem doppeldeutigen Sinne, da es sich ebenso um eine Reduktion durch die Natur wie um eine Reduktion auf die N a turhandelt. Die Rückkehr zum Unmittelbaren ist die Therapie par excellence, weil sie die rigorose Ablehnung der Therapie ist. Sie heilt in dem Maße, in dem sie Vergessen jeder Pflege ist. In der Passivität des Menschen gegenüber sich selbst, im Schweigen, das er seiner Kunst und seinen Kunstgriffen auferlegt, entfaltet die Natur eine Aktivität, die sich zum Verzicht genau reziprok verhält. Wenn man sie nämlich näher betrachtet, ist diese Passivität des Menschen eine wirkliche Aktivität; wenn der Mensch sich dem Medikament anvertraut, entgeht er dem Gesetz der Arbeit, das die Natur selbst ihm auferlegt; er dringt in die Welt des Kunstgriffes und der Gegen-Natur ein, von der sein Wahnsinn nur eine der Manifestationen ist. Während er diese Krankheit nicht kennt und in der Aktivität der natürlichen Wesen wieder einen Platz einnimmt, gelangt der Mensch in einer scheinbaren Passivität, die indessen nichts anderes ist als eine fleißige Treue, zur Heilung. So erklärt Bernardin de Saint-Pierre, wie er sich von einem »eigenartigen Übel« befreite, in dem »er wie ödipus zwei Sonnen sah«. Die Medizin hatte ihm ihre Hilfe geboten und ihn gelehrt, daß »der Herd seines Leidens in den Nerven lag«. Vergeblich wendet er die stärksten Medikamente an; er bemerkt schnell, daß die Ärzte selbst von ihren Heilmitteln getötet werden: »Jean-Jacques Rousseau verdanke ich die Wiedergenesung. Ich hatte in seinen unsterblichen Schriften unter anderen Naturweisheiten gelesen, daß der Mensch zur
Arbeit und nicht zum Meditieren geschaffen ist. Bis dahin hatte ich meine Seele ausgebildet und meinen Körper ruhen lassen. Ich wechselte meine Lebensart, stärkte den Körper, während ich die Seele ruhen ließ. Ich verzichtete auf die Mehrzahl der Bücher, bildete zu den Werken der Natur, die zu all meinen Sinnen eine Sprache sprachen, die weder die Zeit noch die Nationen verändern können. Meine Geschichte und meine Tagebücher waren die Gräser der Felder und Wiesen. Nicht meine Gedanken näherten sich ihnen mühsam wie im System der Menschen, sondern ihre Gedanken kamen in tausenderlei angenehmen Formen zu mir.«322 Trotz der Formulierungen, die bestimmte Schüler Rousseaus dafür haben vorschlagen können, ist diese Rückkehr zum Unmittelbaren weder absolut noch einfach. Der Wahnsinn erscheint nämlich, selbst wenn er hervorgerufen und durdi das erhalten wird, was es in dei Gesellschaft an Allerkünstlichstem geben kann, in seinen heftigsten Formen wie der wilde Ausdrude der primitivsten menschlichen Wünsche. Der Wahnsinn im Zeitalter der Klassik rührt, wie wir gesehen haben, von den Bedrohungen der Bestialität her, einer Bestialität, die durdi die Beutemacherei und den Mordinstinkt völlig beherrscht wird. Den Wahnsinn der Natur auszuliefern, wäre in einer unkontrollierten Umkehr die Hingabe an jene Wut der Gegennatur. Die Heilung des Wahnsinns setzt also eine Rückkehr zu dem voraus, was unmittelbar nicht im Verhältnis zum Wunsch, sondern im Verhältnis zur Vorstellungskraft ist. Diese Rückkehr trennt vom Leben des Menschen und seinen Freunden all das Künstliche, Irreale und Imaginäre. Die Therapien durch überlegtes Eintauchen in das Unmittelbare setzen insgeheim die Vermittlung einer Weisheit voraus, die in der Natur das, was zur Gewalt gehört, von dem trennt, was zur Wahrheit gehört. Darin liegt der ganze Unterschied zwischen dem Wilden und dem Landmann. »Die Wilden (. ..) führen eher das Leben eines fleischfressenden Tieres als das eines vernünftigen Wesens.« Das Leben des Landmanns dagegen »ist wirklich glücklicher als das des Weltmannes«. Auf Seiten des Wilden steht das unmittelbare Verlangen ohne Disziplin, ohne Zwang, ohne wirkliche Moral. Auf Seiten des Landmannes das Vergnügen ohne Vermittlung, das heißt ohne nichtige Verlockung, ohne Erregung oder imaginäre Erfüllung. Was in der Natur und ihren unmittelbaren Kräften den Wahnsinn heilt, ist das Vergnügen, aber
.22 Bernardin de Saint-Pierre, Préambule i8i8.Bd.7, S. n - 1 4 .
de l'Arcadie,
in: ders., Œuvres,
Paris
ein Vergnügen, das einerseits das Verlangen nichtig werden läßt, ohne es auch nur unterdrücken zu müssen, weil es ihm im voraus eine Fülle der Befriedigung bietet, und auf der anderen Seite die Vorstellungskraft lächerlich macht, weil es spontan die glückliche Präsenz der Wirklichkeit bringt. »Die Vergnügungen gehören zur ewigen Ordnung der Dinge. Sie existieren unveränderlich. U m sie zu bilden, bedarf es bestimmter Bedingungen ( . . . ) . Diese Bedingungen sind nicht willkürlich, sie sind von der Natur gegeben. Die Vorstellungskraft kann nicht kreativ werden, und der Mensch, sei er auch noch so von den Vergnügungen begeistert, könnte die seinen nicht erhöhen, es sei denn, er verzichtet auf all diejenigen, die nicht den natürlichen Charakter tragen.«' 23 Die unmittelbare Welt des Landmannes ist also eine von Weisheit und Maß umgebene Welt, die vom Wahnsinn in dem Maße heilt, in dem sie die Wünsche und Bewegungen der davon hervorgerufenen Leidenschaften unnütz werden läßt, und in dem Maße ebenfalls, in dem sie alle Möglichkeiten eines Deliriums mit dem Imaginären verringert. Was Tissot unter »Vergnügungen« versteht, das ist dieses unmittelbare Heilmittel, das gleichzeitig von der Leidenschaft und von der Sprache, also von den beiden großen Themen der menschlichen Erfahrung, aus denen die Unvernunft entsteht, befreit wird. Vielleicht hat die Natur als konkrete Form des Unmittelbaren noch eine fundamentalere Kraft in der Unterdrückung des Wahnsinns. Sie hat nämlich die Macht, den Menschen von seiner Freiheit zu befreien. In der Natur — wenigstens in der, die durch den doppelten Ausschluß der Heftigkeit des Verlangens und der Irrealität des Phantasmas gemessen wird - wird der Mensch wahrscheinlich von den sozialen Zwängen (die ihn dazu zwingen, »zu kalkulieren und die Bilanz seiner imaginären Vergnügungen zu ziehen, die so heißen, es aber nicht sind«) und von der unkontrollierbaren Bewegung der Leidenschaften befreit. Durch diese Tatsache wird er sanft und wie vom Innern seines Lebens selbst durch das System der natürlichen Verpflichtungen gefangen. Der Druck der gesündesten Bedürfnisse, der Rhythmus der Tage und Jahreszeiten, die zwanglose Notwendigkeit, sich zu ernähren und Schutz zu finden, zwingen die Unordnung des Irren zu einer regelmäßigen Observanz. Was die Vorstellungskraft an zu Fernem erfindet, wird mit dem zusammen abgewiesen, was das Verlangen an zu Drängendem verbirgt. In der Sanftheit eines Vergnügens, das kei313 Tissot, Traité sur les maladies des gens de lettres, S. 90-94.
nen Zwang darstellt, findet sidi der Mensch mit der Weisheit der Natur verbunden, und diese Treue in Form der Freiheit löst die Unvernunft auf, die den extremen Determinismus der Leidenschaft und die extreme Phantasie des Bildes in ihrem Paradox nebeneinanderstellt. So beginnt man, in diesen aus Ethik und Medizin gemischten Landschaften von einer Befreiung des Wahnsinns zu träumen. Diese Befreiung darf in ihrem Ursprung nicht als Entdeckung der Menschlichkeit der Irren durch die Philanthropie, sondern als ein Verlangen verstanden werden, den Wahnsinn für die sanften Zwänge der Natur zu öffnen. Das alte Dorf Gheel, das, seit dem Ende des Mittelalters, noch die jetzt vergessene Verwandtschaft zwischen der Internierung der Irren und dem Ausschluß der Leprakranken bezeugte, erfährt in den letzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts eine plötzliche Neuinterpretation. Was an ihm die ganze heftige, pathetische Trennung der Welt der Irren und der Welt der Menschen bezeichnete, trägt jetzt die idyllischen Werte der wiedergefundenen Einheit zwischen Unvernunft und Natur. Dieses Dorf bedeutete einst, daß die Wahnsinnigen untergebracht waren und daß so der Mensch der Vernunft vor ihnen geschützt war. Jetzt manifestiert es, daß der Irre befreit ist und sich in dieser Freiheit, die ihn mit den Naturgesetzen auf eine Ebene stellt, wieder an den Vernunftmenschen anpaßt. Nach dem Bild, das Jouy davon zeichnet, sind in Gheel »vier Fünftel der Einwohner wahnsinnig, aber wahnsinnig in der ganz anderen Bedeutungskraft, und genießen ohne Behinderung die gleiche Freiheit wie die anderen Bürger ( . . . ) . Gesunde Nahrung, reine Luft, der ganze Apparat der Freiheit wird ihnen vorgeschrieben, dem auch die größte Zahl von ihnen nach einem Jahr die Gesundheit verdankt.« 324 Obwohl sich in den Institutionen noch nichts wirklich geändert hat, beginnt der Sinn der Internierung und des Ausschlusses, sich zu verändern. Er nimmt langsam positive Werte an, und der neutrale, leere, nächtliche Raum, in dem man einst die Unvernunft wieder in ihr Nichts verwandelte, beginnt, sich mit einer Natur zu bevölkern, der der befreite Wahnsinn sich unterwerfen muß. Die Internierung als Trennung von Vernunft und Unvernunft ist nicht beseitigt, aber im Innern ihrer Zeichnung läßt der von ihr eingenommene Raum natürliche Kräfte erscheinen, die viel zwingender für den Wahnsinn und viel geeigneter sind, ihn in seinem Wesen zu unterwerfen, als das ganze alte System der 324 Zitiert bei Esquirol, a. a. O., Bd. 2, S. 294.
Grenzen und der Repression. Von diesem System muß man den Wahnsinn befreien, damit er in dem Raum der Internierung - der jetzt mit positiver Wirksamkeit beladen ist — sich seiner wilden Freiheit entledigen und die Forderungen der Natur annehmen kann, die für ihn gleichzeitig Wahrheit und Gesetz sind. Als Gesetz bezwingt die N a tur die Heftigkeit des Verlangens, als Wahrheit reduziert sie die Gegen-Natur und alle Phantasmen des Imaginären. Pinel beschreibt diese Natur im Zusammenhang mit dem Hospital in Saragossa folgendermaßen: darin wird eine »Art Gegengewicht zu den Geistesverwirrungen durch die Lieblichkeit und die Anziehungskraft des Ackerbaus, durch den natürlichen Instinkt des Menschen für die Bebauung der Erde und die Vorsorge durch die Früchte seiner Arbeit« hergestellt. »Vom Morgen an sieht man sie ( . . . ) sich heiter in den verschiedenen Teilen der großen Einfriedung verteilen, die zum Hospiz gehört, sich die den Jahreszeiten entsprechenden Arbeiten eifrig teilen, Getreide, Gemüse, Suppengemüse anbauen, sich nacheinander um die Ernte, den Weinanbau und die Weinernte, die Olivenernte kümmern und abends in ihrem einsamen Asyl Ruhe und einen ruhigen Schlaf finden. Die dauernde Erfahrung hat in diesem Hospiz gezeigt, daß dies das sicherste und wirksamste Mittel ist, wieder vernünftig zu werden.«3-* Unter den konventionellen Bildern findet man leicht einen strengen Sinn. Die Rückkehr zum Unmittelbaren hat nur in dem Maße eine Wirkung gegen die Unvernunft, in dem es sich um ein hergerichtetes und von sich selbst getrenntes Unmittelbares handelt. In diesem Unmittelbaren muß die Gewalt von der Wahrheit getrennt, die Wildheit von der Freiheit gelöst werden, und die Natur muß aufhören, sich in den phantastischen Gestalten der Gegen-Natur wiederzuerkennen. In dieser Unmittelbarkeit muß die Natur von der Moral vermittelt werden. In einem so hergerichteten Raum wird der Wahnsinn niemals mehr in der Sprache der Unvernunft reden können, in der so vieles die natürlichen Phänomene der Krankheit übersteigt. Er wird völlig in einer Pathologie liegen. Diese Transformation haben die späteren Epochen als positiven Erwerb aufgefaßt und als das Auftauchen wenn nicht einer Wahrheit so wenigstens dessen betrachtet, was die Erkenntnis der Wahrheit möglich macht: diese Transformation muß aber vor dem Auge der Geschichte als das erscheinen, was sie gewesen ist: als Reduzierung der klassischen Erfahrung mit der Unvernunft auf eine streng moralische Perzeption des 325 Pinel, a. a. O., S. 238 f.
Wahnsinns, die insgeheim als Kern für alle Auffassungen dienen wird, die das neunzehnte Jahrhundert für die Zukunft als wissenschaftlich, positiv und experimentell gelten läßt. Diese Verwandlung, die sich in der zweiten Häfte des achtzehnten Jahrhunderts vollzogen hat, ist zunächst in die Tediniken der Heilung hineingeglitten. Sehr schnell ist sie aber offen wahrnehmbar von den Reformatoren übernommen worden und hat die große Neuordnung der Erfahrung mit dem Wahnsinn in den letzten Jahren des Jahrhunderts bestimmt. Pinel wird sehr schnell schreiben können: »Wie wichtig es ist, zur Vorbeugung der Hypochondrie, der Melancholie oder der Manie den unveränderlichen Gesetzen der Moral zu folgen !«'26
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Ebda.
Dritter Teil
Einleitung
»Eines Nachmittags war ich dort, beobachtete viel, sprach wenig und hörte sowenig als möglich, als eine der wunderlichsten Personnagen zu mir trat, die nur jemals dieses Land hervorbrachte, wo es doch Gott an dergleichen nicht fehlen ließ. Es ist eine Zusammensetzung von Hochsinn und Niederträchtigkeit, von Menschenverstand und Unsinn (...).« In dem Augenblick, in dem der Zweifel seine Hauptgefahren erreichte, wurde Descartes bewußt, daß er nicht irre sein konnte. Er war bereit, noch lange und bis hin zum bösen Genius anzuerkennen, daß alle Kräfte der Unvernunft sein Denken umwachten. Als Philosoph aber, als der er mit Entschlossenheit zweifelte, konnte er nicht »einer jener Irren« sein. Rameaus Neffe weiß sehr wohl, daß er irre ist; darin besteht eine seiner hartnäckigsten Gewißheiten. »(Ehe er anfängt, seufzt er tief, bringt seine beiden Hände vor die Stirne, dann beruhigt er seine Gesichtszüge und sagt:) Ihr wißt, ich bin unwissend, töricht, närrisch, unverschämt, gaunerisch ( . . ).«* Dieses Bewußtsein, wahnsinnig zu sein, ist noch recht zerbrechlich. Es ist kein abgeschlossenes, geheimes und souveränes Bewußtsein, mit den tiefen Kräften der Unvernunft zu kommunizieren. Rameaus Neffe hat ein sklavisches Bewußtsein, das für alle "Winde offensteht und für die Blicke der anderen durchdringbar ist. Er ist wahnsinnig, weil man es ihm gesagt hat und ihn als Wahnsinnigen behandelt hat: »Man hat mich lächerlich haben wollen, und dazu habe ich mich gebildet.« 2 Die Unvernunft in ihm ist sehr oberflächlich, ohne weitere Tiefe als die der Meinung, dem Unfreiesten unterworfen und durch das denunziert, was es in der Vernunft an Zerbrechlichstem gibt. Die Unvernunft steht völlig auf der Ebene des nichtigen Wahnsinns der Menschen. Sie ist vielleicht nichts anderes als dieses Spiegelbild. Welche Bedeutung hat also jene unvernünftige Existenz, die Rameaus Neffe auf eine Weise darstellt, die für seine Zeitgenossen noch geheimnisvoll, für unseren Rückblick jedoch entscheidend ist? Es handelt sich um eine Existenz, die sich fern in die Zeit eingräbt und ΐ Denis Diderot, Rameaus Neffe, Basel o. J., S. 28.
2 A.a.O.,S.Ê9.
sehr alte Gestalten, darunter unter anderem ein sdielmenhaftes Aussehen aufnimmt, das an das Mittelalter erinnert und audi die modernsten Formen der Unvernunft ankündigt, die mit Nerval, Nietzsche und Antonin Artaud zeitgenössisch sind. Rameaus Neffen in dem Paradox seiner seherischen und dennoch im achtzehnten Jahrhundert unbemerkten Existenz zu befragen, bedeutet, sich leicht nach rückwärts versetzt in den zeitlichen Ablauf der Entwiddung zu stellen. Gleichzeitig heißt es aber, sidi zu gestatten, die großen Strukturen der Unvernunft in ihrer allgemeinen Form zu bemerken, die in der abendländischen Zivilisation etwas unterhalb der Zeit der Historiker ruhen. Vielleicht wird Le Neveu de Rameau uns durch die angestoßenen Gestalten seiner Widersprüche hastig lehren, was es in den Umkehrungen, die die Erfahrung der Unvernunft im klassischen Zeitalter erneuert haben, an Wesentlichem gab. Wir müssen ihn als ein verkürztes Paradigma der Geschichte befragen. D a er im Aufblitzen eines Augenblicks die große gebrochene Linie bezeichnet, die vom Narrenschiff bis zu den letzten Worten Nietzsches und vielleicht bis zu den Schreien Artauds verläuft, wollen wir versuchen, das in dieser Gestalt Verborgene zu erkennen und zu erfahren, wie sich im Text von Diderot die Vernunft, der Wahnsinn und die Unvernunft gegeneinandergestellt, welche neuen Beziehungen sich zwischen ihnen ergeben haben. Die Geschichte, die wir in diesem letzten Teil schreiben müssen, liegt innerhalb des durch die Worte des Neffen geöffneten Raumes. Sie wird aber selbstverständlich weit davon entfernt sein, ihn in seiner Gesamtheit zu umfassen. Als letzte Gestalt, in der Wahnsinn und Unvernunft sich vereinigen, ist der Neffe Rameaus derjenige, in dem der Augenblick der Trennung gleichzeitig präfiguriert ist. In den folgenden Kapiteln werden wir versuchen, die Bewegung jener Trennung in ihren ersten anthropologischen Phänomenen nachzuzeichnen. Lediglich in den letzten Texten von Nietzsche oder bei Artaud jedoch wird sie für die abendländische Gesellschaft ihre philosophischen und tragischen Bedeutungen annehmen. Die Gestalt des Irren erscheint also im Neffen Rameaus wieder. Es ist ein Wiedererscheinen in Form eines Narrenspiels. Wie der Narr des Mittelalters lebt er inmitten der Form der Vernunft, ein wenig am Rande wahrscheinlich, da er nicht wie die anderen ist, aber dennoch integriert, da er als ein Ding zur Verfügung der vernünftigen Leute, als ein Besitz, den man sich zeigt und übergibt, vorhanden ist. Man besitzt ihn als ein Objekt, obwohl er sogleich die Doppeldeutigkeit
dieses Besitzes denunziert, denn wenn er für die Vernunft ein Gegenstand zur Aneignung ist, ist er außerdem für sie ein notwendiger Gegenstand. Dieses notwendige Bedürfnis berührt den Inhalt und den Sinn ihrer Existenz. Ohne den Irren wäre die Vernunft ihrer Realität beraubt, wäre sie leere Monotonie, Langeweile mit sich selbst, tierische Wüstenei, die sich selbst ihren eigenen Widerspruch vor Augen hielte: »Oh gewiß! Jetzt, da ich sie nicht lachen mache, haben sie Langeweile wie die Hunde.« 3 Aber eine Vernunft, die nur in dem Besitz des Wahnsinns sie selbst ist, hört auf, sich durch die unmittelbare Identität mit sich selbst definieren zu können, und verfremdet sich in dieser Zusammengehörigkeit: »Wer weise wäre, hätte keine Narren; wer einen Narren hat, ist nicht weise, und ist er nicht weise, so ist er ein Narr, und vielleicht wäre der König der Narr seines Narren.« 4 Die Unvernunft wird zur Ursache der Vernunft, und zwar in dem Maße, in dem die Vernunft sie nur insofern anerkennt, als sie sie besitzt. Was in der lächerlichen Gestalt des unwillkommenen Gastes nur Narrenspiel war, enthüllt letzten Endes eine bedrohende Kraft der Lächerlichkeit. Das Abenteuer von Rameaus Neffen erzählt die notwendige Unstabilität und die ironische Umkehrung jeder Urteilsform, die die Unvernunft als sich äußerlich und nicht essentiell denunziert. Die Unvernunft greift allmählich zu dem zurück, das sie verurteilt, und erlegt ihm eine A r t rückschreitender Sklaverei auf, denn eine Weisheit, die mit dem Wahnsinn eine reine Urteils- und Definitionsbeziehung herzustellen glaubt - »der da ist ein Irrer« - , hat von vornherein eine Beziehung des Besitzes und dunkler Zugehörigkeit hergestellt: »Der da ist mein Irrer«; er ist es in dem Maße, in dem ich vernünftig genug bin, seinen Wahnsinn zu erkennen, und diese Erkenntnis die Markierung, das Zeichen, gewissermaßen das Emblem meiner Vernunft ist. Die Vernunft kann keinen Wahnsinn feststellen, ohne sich selbst in den Besitzverhältnissen in Frage zu stellen. Die Unvernunft ist nicht außerhalb der Vernunft befindlich, sondern und gerade in und von ihr umhüllt, besessen und verdinglicht. Für die Vernunft gibt es nichts Innerlicheres, nichts Transparenteres, nichts oifener Dargebotenes. Während die Weisheit und die Wahrheit für die Vernunft immer unendlich zurückgezogen sind, ist der Wahnsinn stets nur das, was die Vernunft von allein besitzen kann. »Lange gab 3 A . a . O . , S . 30.
4 A.a.O..S. 68.
es keinen wirklich betitelten Narren des Königs; niemals hat jemand den Titel eines Weisen des Königs getragen.«' Da kündigt sich der Triumph des Wahnsinns erneut in einem doppelten Wahnsinn an, in einem Zurückfließen der Unvernunft in Richtung der Vernunft, die ihre Gewißheit nur im Besitz des Wahnsinns sicherstellt, und in einem Rückgriff auf eine Erfahrung, in der beide sich unbegrenzt implizieren; »nicht wahnsinnig zu sein, hieße wahnsinnig zu sein auf eine andere A r t von Wahnsinn«. Dennoch ist diese Implikation von einer völlig anderen A r t als die, die die abendländische Vernunft am Ende des Mittelalters und während der ganzen Renaissance bedrohte. Sie bezeichnet nicht mehr jene dunklen und unzugänglichen Regionen, die sich für das Imaginäre in der phantastischen Mischung der Welten am äußersten Punkt der Zeit transkribierten; sie enthüllt die irreparable Zerbrechlichkeit der Zugehörigkeitsbeziehungen, den unmittelbaren Sturz der Vernunft in den Besitz, in dem sie ihr Sein sucht: die Vernunft verfremdet sich in der Bewegung, in der sie Besitz von der Unvernunft ergreift. In diesen wenigen Seiten von Diderot nehmen die Beziehungen von Vernunft und Unvernunft ein völlig neues Gesicht an. Das Schicksal des Wahnsinns in der modernen Welt ist darin auf seltsame Weise präfiguriert und fast bereits enthalten. Von dort ausgehend, zieht eine gerade Linie jenen unwahrscheinlichen Weg, der mit einem Zug bis zu Antonin Artaud verläuft. Beim ersten Blick würde man den Neveu de Rameau in die alte Verwandtschaft der Irren und Narren stellen und ihm die ganzen ironischen Kräfte, die sie einst besessen hatten, wiedergeben. Spielt er nicht in der gleichen Erhellung der Wahrheit die Rolle des Unaufmerksamen, die er solange im Theater innehatte und die der Klassizismus völlig vergessen hatte? Kommt es nicht oft vor, daß die Wahrheit in den Spuren seiner Impertinenz aufleuchtet? Diese Irren »(unterbrechen) die lästige Einförmigkeit, die wir durch unsere Erziehung, unsere gesellschaftlichen Konventionen, unsere hergebrachten Anständigkeiten eingeführt haben. Kommt ein solcher in eine Gesellschaft, so ist er ein Krümdien Sauerteig, das das Ganze hebt und jedem einen Teil seiner natürlichen Individualität zurückgibt. Er schüttelt, er bewegt, bringt Lob oder Tadel zur Sprache, treibt die Wahrheit hervormacht rechtliche Leute kenntlich, entlarvt die Schelme.«6 5 Ebda. 6 A . a. O., S. 17.
Wenn der Wahnsinn sich aber vornimmt, die Wahrheit ihren Weg durch die Welt gehen zu lassen, geschieht das nicht mehr, weil seine Blindheit mit dem Wesentlichen durch eigentümliche Gelehrsamkeiten kommuniziert, sondern allein dadurch, daß er blind ist. Seine Kraft besteht nur aus Verirrung: »Wenn wir etwas Gutes sagen, so soll es, wie bei Narren und Schwärmern, der Zufall getan haben.- 7 Das soll wahrscheinlich heißen, daß der Zufall die einzige notwendige Verbindung zwischen Wahrheit und Irrtum ist, der einzige Weg paradoxer Gewißheit. Und in diesem Maße erscheint der Wahnsinn, als Exaltation dieses Zufalls, eines weder gesuchten noch gewollten, sondern sich selbst überlassenen Zufalls, als die Wahrheit der Wahrheit und ebensosehr als manifester Irrtum; denn den manifesten Irrtum bilden sowohl jenes Sein, das er ist, wie jenes Nicht-Sein, das den Irrtum ausmacht, wenn sie ans volle Licht gebracht sind. Dort nimmt der Wahnsinn für die moderne Welt eine neueBedeutung an. Auf der einen Seite ist die Unvernunft das unmittelbar Nächste des Seins und in ihm am stärksten verwurzelt. Alles, was sie an Weisheit, an Wahrheit und Vernunft opfern oder beseitigen kann, macht das Sein, das sie manifestiert, nur reiner und drängender. Jede Verspätung, jeder Rückzug dieses Seins, jede Vermittlung sind ihr unerträglich: »Lieber will ich sein, und selbst ein impertinenter Schwätzer sein, als nicht sein.«8 Rameaus Neffe hat Hunger und sagt es. Was es in Rameaus Neffen an Gefräßigem und Schamlosem gibt, alles was in ihm an Zynismus wiederentstehen kann, ist keine Hypokrisie, die sich dafür entscheidet, ihre Geheimnisse auszuplaudern; denn sein Geheimnis ist gerade, kein Hypokrit sein zu können. Rameaus Neffe ist nicht die Kehrseite "on Tartuffe, er manifestiert lediglich den unmittelbaren Druck des Seins in der Unvernunft, die Unmöglichkeit der Vermittlung.' Gleichzeitig ist die Unvernunft aber dem Nicht-Sein der Illusion ausgeliefert und erschöpft sich in der Nacht. Wenn sie sich aus Interesse auf das reduziert, was es im Sein an Unmittelbarstem gibt, spielt sich gleichzeitig das, was es an Entferntestem, Zerbrechlichstem, am wenigsten • A . a . O . , S. 23. A. a. O., S. 26. Ü- Interesse in Rameaus Neffe zeigt genau jene Pression des Seins und jenes Mcn einer Vermittlung. Man findet die gleiche Gedankenbewegung bei de Sade Jer wo in scheinbarer Nachbarschaft es die Umkehrung der Philosophie des .tresses- ist (Vermittlung hin zur Wahrheit und Vernunft), der man im achtzehn'ahrhundert laufend begegnet.
Konsistentem in der Erscheinungswelt gibt. Sie ist gleichzeitig der Zwang des Seins und die Pantomime des Nicht-Seins, die unmittelbare Notwendigkeit und die unendliche Reflexion des Spiegels. »Und dann ist die gezwungene Stellung, in der uns das Bedürfnis hält, das allerschlimmste. Der bedürftige Mensch geht nicht wie ein andrer: er springt, er kriecht, er krümmt sidi, er schleppt sidi und bringt sein Leben zu, indem er Positionen erdenkt und ausführt.« 10 Als Zwang des Bedürfnisses und Nachäffen des Unnützen bildet die Unvernunft in einer einzigen Bewegung jenen Egoismus ohne Unterstützung oder Trennung und jene Faszination durch das Äußerste im Unwesentlichen. Rameaus Neffe ist jene Simultaneität, jene übertriebene Extravaganz in einem systematischen Willen zum Delirium, und zwar bis zu dem Punkt, daß sie bei vollem Bewußtsein und als totale Erfahrung der Welt ausgeübt wird: »Wahrlich, was Ihr die Pantomime der Bettler nennt, ist der große Hebel der Erde.«" Selber jener Lärm, jene Musik, jenes Schauspiel, jene Komödie zu sein, sich als Ding und als illusorisches Ding zu verwirklichen, dadurch nidit nur Ding, sondern Leere und Nichts zu sein, die absolute Leere jener absoluten Fülle zu sein, durch die man von außen fasziniert wird, endlich der Taumel jenes Nichts und jenes Seins in ihrem flugartigen Kreis zu sein und dies gleichzeitig bis zur totalen Vernichtung eines sklavenhaften Bewußtseins und bis zur höchsten Verherrlichung eines souveränen Bewußtseins zu sein, das ist wahrsdieinlidi der Sinn des Neveu de Rameau, der im achtzehnten Jahrhundert und lange bevor die Worte von Descartes völlig verstanden werden, eine Lektion erteilt, die viel antikartesianischer ist als Locke, Voltaire oder auch Hume. Der Neveu de Rameau in seiner menschlichen Realität, in jenem schwächlichen Leben, das der Animalität nur durch einen Namen entgeht, der nicht einmal der seine ist (Sdiatten eines Schattens), ist jenseits und diesseits jeder Wahrheit das Delirium (das als Existenz realisiert wird) des Seins und des Nicht-Seins des Realen. Wenn man hingegen bedenkt, daß es der Plan von Descartes war, den Zweifel vorübergehend bis zum Auftauchen des Wahren in der Realität der evidenten Idee zu ertragen, sieht man, daß der Nicht-Kartesianismus des modernen Denkens in dem, was er an Entscheidendem enthalten kann, nicht mit einer Diskussion über die eingeborenen Ideen oder der Inkriminierung des ontologisdien Arguments beginnt, sondern genau bei dem Text des Neveu de Rameau, bei jener Existenz, die er i o A . a. O., S. 10S. ΐ ΐ A . a. O., S. rro.
in einer Umkehrung bezeichnet, die nidit vor der Epoche von Hölderlin und Hegel verstanden werden konnte. Was sich darin in Frage gestellt findet, ist wiederum dies, worum es sich im Paradoxe sur le comédien handelt. Es ist aber auch die Umkehrung davon; nicht mehr das, was von der Realität im Nicht-Sein des Schauspiels durch ein kaltes Herz und eine luzide Intelligenz vorgebracht werden soll, sondern das, was vom Nicht-Sein der Existenz sich in der nichtigen Fülle der Erscheinungswelt verwirklichen kann, und zwar durch Vermittlung des zum äußersten Gipfel des Bewußtseins gelangten Deliriums. Es ist nidit mehr notwendig, nach Descartes tapfer alle Unsicherheiten des Deliriums, des Traums, der Illusionen zu durchqueren, es ist nidit mehr notwendig, die Gefahren der Unvernunft zu überwinden. Aus der Tiefe der Unvernunft heraus kann man sich Fragen über die Vernunft stellen, und die Möglichkeit ist erneut vorhanden, das Wesen der Welt in der Kreisbewegung eines Deliriums zu erfassen, das in einer der Wahrheit äquivalenten Illusion das Sein und das NichtSein des Realen totalisiert. Im Herzen des Wahnsinns nimmt das Delirium einen neuen Sinn an. Bis dahin wurde es völlig im Raum der Verirrung definiert als Illusion, falscher Glaube, schlecht begründete Meinung, der man aber hartnäckig anhängt, und umhüllte all das, was ein Denken hervorbringen kann, wenn es nicht mehr in das Gebiet der Wahrheit gestellt ist. Jetzt ist das Delirium der Ort einer ständigen und augenblicklichen Konfrontierung, der Konfrontierung des Bedürfnisses und der Faszination, der Einsamkeit des Seins und des Glitzerns der Erscheinungswelt, der unmittelbaren Fülle und des Nicht-Seins der Illusion. Nichts ist von seiner alten Verwandtschaft mit dem Traum losgeknüpft, aber das Gesicht ihrer Ähnlichkeit hat sich verändert. Das Delirium ist nicht mehr die Faszination dessen, was es an Subjektivstem im Traum gibt. Es ist nicht mehr das Gleiten hin zu dem, was Heraklit bereits den ίδιος κόσμος nannte. Wenn es sich noch in einer Verwandtschaft mit dem Traum befindet, dann durch alles das, "as im Traum Spiel der lichten Erscheinungswelt und der tauben Realität, Zwang der Bedürfnisse und Sklaverei der Faszinationen, und alles das, was in ihm Dialog ohne Sprache des Tages und des Lichtes ist. Traum und Delirium kommunizieren nicht mehr in der Nacht der Blindheit, sondern in jener Helle, in der das Unmittelbarste im ->cin sich dem gegenüberstellt, was es an unendlich Reflektiertem in 1er Spiegelungen der Erscheinungswelt gibt. Jenes Tragische wird
durch das Delirium und den Traum bedeckt und gleichzeitig in der ununterbrochenen Rhetorik ihrer Ironie manifestiert. Die tragische Konfrontation der Bedürfnisse und der Illusion in einer traumdeuterischen Weise, die bereits Freud und Nietzsche ankündigt, ist im Delirium des Neveu de Rameau gleichzeitig die ironische Wiederholung der Welt, ihre zerstörerische Rekonstruktion auf dem Theater der Illusion: » ( . . . ) schrie, sang mit Gebärden eines Rasenden und machte ganz allein die Tänzer, die Tänzerinnen, die Sänger, die Sängerinnen, ein ganzes Orchester, ein ganzes Operntheater, sich in zwanzig verschiedene Rollen teilend, laufend, innehaltend, mit der Gebärde eines Entzückten, mit blinkenden Augen und schäumendem Munde. Es war eine Hitze zum Umkommen, und der Schweiß, der den Runzeln seiner Stirne, der Länge seiner Wange folgte, vermischte sich mit dem Puder seiner Haare, rieselte und befurchte den Oberteil seines Kleides. Was begann er nicht alles! Er weinte, er lachte, er seufzte, blickte zärtlich, ruhig oder wütend. Es war eine Frau, die in Schmerz versinkt, ein Unglücklicher, seiner ganzen Verzweiflung hingegeben, ein Tempel, der sich erhebt, Vögel, die beim Untergang der Sonne sidi in Schweigen verlieren. Bald Wasser, die an einem einsamen und kühlen Orte rieseln oder als Gießbäche von Bergen herabstürzen, ein Gewitter, ein Sturm, die Klage der Umkommenden, vermischt mit dem Gezisch der Winde, dem Lärm des Donners, es war die Nacht mit ihren Finsternissen, es war der Schatten und das Schweigen.«' 2 Die Unvernunft findet sich nicht wie eine flüchtige Präsenz der anderen Welt wieder, sondern hier, in der entstehenden Transzendenz jeden expressiven Aktes, bereits von der Quelle der Sprache her, in jenem Augenblick, der gleichzeitig den Charakter eines Beginns und eines Endes hat, in dem der Mensch sich selbst äußerlich wird, weil er in seiner Trunkenheit das aufnimmt, was es in der Welt an Innerlichstem gibt. Die Unvernunft trägt nicht mehr jene fremden Gesichter, in denen das Mittelalter sie zu erkennen liebte, sondern die unwahrnehmbare Maske des Vertrauten und Identischen. Die Unvernunft ist gleichzeitig die Welt selbst und dieselbe Welt, nur durch die dünne Oberfläche der Pantomime von sich selbst getrennt. Ihre Kräfte sind nidit mehr die der Entwurzelung, ihr gehört es nicht mehr zu. das auftauchen zu lassen, Avas radikal anders ist, sondern die Welt im Kreis immer des Gleichen drehen zu lassen. i i A . a. O., S. 90.
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Aber in diesem Taumel, in dem die Wahrheit der Welt sidi nur im Innern einer absoluten Leere aufrechterhält, trifft der Mensch audi die ironische Perversion seiner eigenen Wahrheit an, und zwar in dem Moment, in dem sie vom Traum der Innerlichkeit zu den Formen des Austausches übergeht. Die Unvernunft stellt dann einen anderen bösen Geist dar, nicht mehr den, der den Menschen von der Wahrheit der Welt trennt, sondern den, der gleichzeitig mystifiziert und entmystifiziert, bis zur extremen Entzauberung jene Wahrheit von sich selbst verzaubert, die der Mensch seinen Händen, seinem Gesicht und seiner Sprache anvertraut hat; ein böser Geist, der nicht mehr in Aktion tritt, wenn der Mensch zur Wahrheit vordringen will, sondern wenn er der Welt eine Wahrheit wiedergeben will, die seine eigene ist, und wenn, in die Trunkenheit des Sensiblen gestürzt, worin er sich verliert, er schließlich »unbeweglich, stumpf, erstaunt« bleibt.' 3 Nicht mehr in der Perzeption liegt die Möglichkeit des bösen Geistes, sondern im Ausdruck. Der der Lächerlichkeit des Unmittelbaren und des Sensiblen ausgelieferte und in ihnen durch jene Vermittlung, die er selbst ist, verfremdete Mensch ist der Gipfel der Ironie. Das Lachen des Neveu de Rameau präfiguriert und reduziert die ganze Bewegung der Anthropologie des neunzehnten Jahrhunderts. Im ganzen nachhegelianischen Denken wird der Mensch durch die Arbeit des Geistes und der Vernunft von der Gewißheit zur Wahrheit schreiten. Seit langem aber hatte Diderot bereits verstehen lassen, daß der Mensch unaufhörlich von der Vernunft zur nicht-wahren Wahrheit des Unmittelbaren zurückverwiesen wird, und zwar durch eine mühelose Vermittlung, eine stets auf dem Grunde der Zeit ausgeführte Vermittlung. Jene ungeduldige Vermittlung, die gleichzeitig äußerste Distanz, absolute Promiskuität und völlig negativ ist, weil sie keine andere Kraft hat als eine subversive, aber völlig positiv ist, weil sie in dem fasziniert ist, was sie unterdrückt, ist das Delirium der Unvernunft - die rätselhafte Gestalt, in der wir den Wahnsinn wiedererkennen. In seinem Unterfangen, um durch den Ausdruck die sensible Trunkenheit der Welt, das drängende Spiel des Bedürfnisses und der Erscheinungswelt wiederherzustellen, bleibt das Delirium ironischerweise alleine: das Leiden des Hungers bleibt ein unauslotbarer Schmerz.
A. a. O.. S. 90 f.
I. Kapitel
Die große Furcht Das achtzehnte Jahrhundert konnte den Sinn, der in Rameaus Neffen freigesetzt wurde, nicht genau verstehen. Dennoch geschah in der gleichen Epoche, in der der Text geschrieben wurde, etwas, das eine entscheidende Änderung versprach. Seltsamerweise erscheint jene Unvernunft, die in der Distanz der Internierung zur Seite geschoben worden war und sich fortschreitend in den natürlichen Formen des Wahnsinns verändert hatte, beladen mit neuen Gefahren und gleichsam ausgestattet mit einer anderen Kraft, in Frage zu stellen. Was aber das achtzehnte Jahrhundert davon zunächst wahrnimmt, ist nicht die geheime Frage, sondern lediglich die soziale Verlassenschaft: zerrissene Kleidung, Arroganz in Lumpen, jene Frechheit, die man erträgt und deren beunruhigende Kräfte man durch eine amüsierte Nachsicht zum Schweigen bringen muß. Das achtzehnte Jahrhundert hätte sich in Rameaus Neffen nicht wiedererkennen können, aber es war vollständig in dem Ich gegenwärtig, das ihm als Gesprächspartner und sozusagen als der nicht ohne Verschwiegenheit und mit einer stummen Unruhe amüsierte »Anzeiger« dient, denn es ist das erste Mal seit der großen Internierung, daß der Wahnsinnige wieder zur gesellschaftlichen Gestalt wird, es ist das erste Mal, daß man das Gespräch mit ihm wieder aufnimmt und ihn aufs neue befragt. Die Unvernunft erscheint wieder als T y p , was wenig bedeutet, aber sie erscheint immerhin wieder und nimmt langsam einen vertrauten Platz in der sozialen Landschaft ein. Zehn Jahre vor der Revolution wird Mercier sie ohne großes Erstaunen wiedertreffen: »Geht in ein anderes C a f é ; ein Mann sagt Euch in einem ruhigen und gesetzten Ton ins Ohr: »Mein Herr, Sie können sich die Undankbarkeit der Regierung mir gegenüber nicht vorstellen und werden nicht glauben, wie blind sie gegenüber ihren Interessen ist. Seit dreißig Jahren habe ich meine eigenen Geschäfte vernachlässigt, habe ich midi nachdenkend, träumend und berechnend in mein Büro eingeschlossen, habe ich ein Projekt entworfen, mit dem man alle Staatsschulden bezahlen könnte. Danach habe ich ein anderes entworfen, um den König zu bereicherr und ihm Einkünfte in Höhe von 400 Millionen zu sichern; dann eir anderes, um England, dessen Name allein schon mir zuwider ist, endgültig niederzuschlagen ( . . . ) . Während ich völlig mit diesen ausfüh
liehen Operationen, die die ganze Anwendung des Genies verlangen, beschäftigt war, habe ich meine häuslichen Mißstände mit Zerstreuung behandelt, und einige wachsame Gläubiger haben mich drei Jahre Gefängnis gekostet ( . . . ) . Aber da sehen Sie, mein Herr, wozu der Patriotismus dient, dazu, unbekannt und als Märtyrer seines Vaterlandes zu sterben.<«'+ Solche Personen scharen sich in der Entfernung um Rameaus Neffen. Sie besitzen nicht seine Dimensionen und können nur in der Suche nach dem Pittoresken als seine Epigonen gelten. Dennoch sind sie etwas mehr als eine gesellschaftliche Gestalt, als eine karikaturistische Silhouette. In ihnen liegt etwas, das die Unvernunft des achtzehnten Jahrhunderts betrifft und berührt. Ihr Gerede, ihre Unruhe, jenes vage Delirium und jene tiefe Angst sind ziemlich allgemein gelebt worden, und zwar in wirklichen Existenzen, deren Spuren man noch wahrnehmen kann. Genau wie der Freigeist, der Wüstling oder Tobsüchtige vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts schwierig zu bezeichnen sind, so ist auch nicht leicht zu sagen, ob das Wahnsinnige, Kranke, Schlauköpfe sind. Mercier selbst weiß nur allzuwenig, welchen Status er ihnen geben soll: »So gibt es in Paris sehr ehrenhafte Leute, Ökonomisten und AntiÖkonomisten, die ein warmes, brennendes Herz für das öffentliche Wohl, aber unglücklicherweise einen zersprengten K o p f haben, das heißt nicht weitsichtig sind, nicht wissen, in welchem Jahrhundert sie leben, noch mit welchen Menschen sie zu tun haben; weniger erträglich als die Narren, weil sie Geld und falsche Einsichten haben, gehen sie von einem unmöglichen Prinzip aus und argumentieren dann konsequent unvernünftig.-" Diese »Projektemacher mit zersprengtem Gehirn« 16 haben tatädilich existiert und um die Vernunft der Philosophen, um jene Reformprojekte, um jene Verfassungen, um jene Pläne eine Unvernunft geschaffen, die diese taub begleitet. Die Rationalität der Aufklärung fand darin gleichsam einen blinden Spiegel, eine A r t inoffeniver Karikatur. Liegt jedoch das Wesentliche nicht darin, daß man in viner Bewegung amüsierter Nachsichtigkeit eine Gestalt der Unvernunft wieder hervortreten läßt, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, man annahm, sie sei besonders tief im Raum der Internierung ver>vr£c.n? Als lasse die Vernunft im klassischen Zeitalter von neuem :u- Nachbarbeziehung, eine Quasi-Ähnlichkeit zwischen sich und LUÎIÎS Sébastien Mercier, Tableau de Paris, 12 vols., Amsterdam 1783, ß d . 1, S.IJJF.
' Α Α. Ο., ßd. ι, S. 235 f. • — Bemerkung findet man sehr häufig in den Internierungsregistern.
den Gestalten der Unvernunft zu. Man möchte sagen, daß sie im Augenblick ihres Triumphes an den Grenzen der Ordnung eine Gestalt herbeiruft und entstehen läßt, deren Maske sie zu ihrem Hohn gebildet hat - eine Art Double, in dem sie sich wiedererkennt und gleichzeitig aufhebt. Dennoch waren die Furcht und die Angst nicht fern: sie erscheinen erneut als Gegenschlag der Internierung, aber verdoppelt. Einst fürchtete man und man fürchtet es immer noch, interniert zu werden. A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird de Sade noch von der Angst vor denen verfolgt, die er »die schwarzen Männer« nennt und die ihn beobachten, um ihn verschwinden zu lassen.'7 Jetzt aber hat der Boden der Internierung seine eigenen Kräfte erhalten, er ist seinerseits Geburtsstätte des Übels geworden und wird es künftig von selbst ausbreiten und einen anderen Schrecken herrschen lassen. Plötzlich entsteht in wenigen Jahren in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts eine Angst. Diese Angst wird in medizinischen Begriffen beschrieben, ist aber im Grunde von einem ganzen moralischen Mythos belebt. Man erschrickt vor einem reichlich mysteriösen Übel, das, wie man sagt, von den Internierungshäusern ausgehend sich verbreitet und bald die Städte bedrohen soll. Man spricht von den Fiebern der Gefängnisse, weist auf die Karren mit Verurteilten hin, auf jene Menschen an der Kette, die die Städte durchqueren und eine Spur des Übels hinter sich lassen. Dem Skorbut werden eingebildete Ansteckungskräfte zugeschrieben, man sieht voraus, daß die durch das Übel verdorbene Luft die Wohnbezirke zerstören wird. V o n neuem setzt sich das große Schreckensbild des Mittelalters durch und läßt eine zweite Panik in den Metaphern des Schreckens entstehen. Die Internierungshäuser sind nicht länger allein das Leprosorium der Städte, sie sind die Lepra auf dem Gesicht der Stadt: »Furchtbares Geschwür auf dem politischen Körper, breites, tiefes, eiteriges Geschwür, das man sich nur vorstellen kann, wenn man den Blich abwendet. Alles, bis hin zur Luft des Ortes, die man hier auf vierhundert Klafter Entfernung riecht, sagt einem, daß man sich einem Ort des Zwanges, einem Asyl der Degradierung und des Unglücks nähert.«' 8 Viele dieser großen Internierungsorte sind dort gebaut worden, wo einst die Leprakranken untergebracht waren. Über die Jahr17 Brief an seine Frau, zitiert bei Gilbert L i l y , Vie de Sade, Paris 1952, Bd. S. 105. 18 Mercier, a. a. O., Bd 8, S. 1.
hunderte hinweg, so könnte man sagen, haben sich die neuen Insassen angesteckt. Sie übernehmen das Erkennungszeichen und den Sinn, der an jenen selben Orten getragen wurde: »Für eine Hauptstadt ist das ein Punkt zu starker Lepra! Der Name Bicêtre ist ein Wort, das niemand ohne ein bestimmtes Gefühl des Widerwillens, des Schreckens und der Verachtung auszusprechen vermag. Er ist der Sammelpunkt all dessen geworden, was die Gesellschaft an Fürchterlichstem und Gemeinstem hat. « I? Das Übel, das man durch die Internierung auszuschließen versucht hatte, kommt zum großen Schrecken der Öffentlichkeit unter einem phantastischen Aspekt wieder hervor. Man sieht, wie die Themen eines sowohl physischen wie moralischen Übels entstehen und sich in alle Richtungen verzweigen, und wie dieses Übel in jener Unentsdilossenheit konfuse Kräfte der Korrosion und des Schreckens umschließt. Dabei herrscht eine A r t undifferenzierten Bildes von der »Fäulnis«, die sowohl die Sittenverderbnis wie den Zerfall des Fleisches betrifft und der sich die Verachtung und das Mitleid, das man für die Internierten verspürt, zuordnen. Das Übel beginnt zunächst in den abgeschlossenen Räumen der Internierung zu fermentieren. Sämtliche Kräfte, die man der Säure in der Chemie des achtzehnten Jahrhunderts zuerkennt, besitzt es: seine feinen Teilchen stechen wie Nadeln und dringen in die Körper und Herzen ebenso leicht ein, als wären sie alkalische, passive und zerreibbare Teilchen. Die Mischung kocht sogleich und setzt schädliche Dämpfe und korrodierende Flüssigkeiten frei: »Diese Säle sind nur ein schrecklicher Ort, an dem alle vereinigten Verbrechen fermentieren und sozusagen durch die Fermentation eine ansteckende Atmosphäre um sich verbreiten, die diejenigen atmen, die sie bewohnen, an denen sie auch haften zu bleiben scheint ( . . . ) . « " Diese brennenden Dämpfe steigen auf, verbreiten sich in der Luft und fallen schließlich in der Umgebung herab, durchtränken die Körper und befallen die Seelen. Man vollendet so in Bildern die Idee einer Ansteckung durch die Fäulnis. Das sensible Agens jener Epidemie ist die Luft, jene Luft, die man »verdorben« nennt, wobei man dunkel darunter versteht, daß sie nicht mit der Reinheit ihrer Natur identisch ist und das Transmissionselement des Übels bildet.11 Es genügt, sich an den moralischen und gleichzeitig i r
A. a. O., Bd. 8, S. ι . Louis Michel Musquinet de la Pagne, Bicêtre réformé. Établissement d'une aison de discipline, Paris 1784, S. 16. 1 Dieses Thema steht in Verbindung mit den durch die Atmung aufgeworfenen
medizinischen Wert zu erinnern, den etwa zur gleichen Zeit die Landluft (Gesundheit des Körpers, Kräftigkeit der Seele) angenommen hat, um sich vorzustellen, wie die Gesamtheit der entgegengesetzten Bedeutungen, die die verdorbene Luft der Hospitäler, Gefängnisse, der Internierungshäuser tragen kann, ausschaut. Durch jene mit Übel hervorrufenden Dämpfen beladene Atmosphäre werden ganze Städte bedroht, deren Bewohner langsam von Fäulnis und Laster durchdrungen werden. Das sind nicht nur Überlegungen auf halbem Wege zwischen der Moral und der Medizin. Ohne Zweifel müssen wir eine starke literarische Verarbeitung und eine pathetische, vielleicht auch politische Ausbeutung schlecht präzisierter Ängste in Rechnung ziehen. Aber in gewissen Städten hat es ebenso reale und ebenso leicht datierbare panische Bewegungen gegeben wie die großen Schreckenskrisen, die für Augenblicke das Mittelalter erschüttert haben. 1780 hatte sich in Paris eine Epidemie ausgebreitet, deren Ursprung man der Infektion des Hôpital général zuschrieb. Es wurde sogar davon gesprochen, die Gebäude von Bicêtre herunterzubrennen. Der Polizeileutnant schickt angesichts der Erregung der Bevölkerung eine Untersuchungskommission, die außer mehreren Ärzten der Universität aus dem Dekan der Fakultät und dem A r z t des Hôpital général besteht. Man stellt fest, daß in Bicêtre das »Faulfieber« herrscht, das mit der schlechten Luft in Zusammenhang steht. Bezüglich des Ursprungs des Übels verneint der Bericht, daß dieser in der Anwesenheit von Internierten bestehe oder in der Infektion liege, die sie verbreiten. Die Ursache muß ganz einfach dem schlechten Wetter zugeschrieben werden, das das Übel in der Stadt heimisch gemacht hat. Die Symptome, die man im Hôpital général hat beobachten können, »stimmen mit der Jahreszeit überein und passen genau zu den in Paris zu der gleichen Zeit beobachteten Krankheiten«. Man muß also die Bevölkerung beruhigen und Bicêtre freisprechen: »Die Gerüchte, die sich über eine ansteckende Krankheit in Bicêtre, die fähig wäre, die ganze Hauptstadt zu infizieren, auszubreiten begonnen haben, entbehren jeder Grundlage.« 11 Der Bericht hat wahrscheinlich die alarmierenden Gerüchte nicht vollständig chemischen und hygienischen Themen, so wie sie in jener Zeit untersucht werden. Vgl. Stephen Haies, Λ Description οf Ventilators, London 1743, und AntoineLaurent Lavoisier, Altérations qu'éprouve l'air respiré (1785), in: ders., Œuvres. Paris 18645., Bd. 2, S. 676-687. 22 Eine Kopie dieses Beridits befindet sich in der Bibliothèque Nationale, Collection Joly de Fleury, Ms. 123 j , f ° 120.
aufhören lassen, denn etwas später verfaßt der A r z t des Hôpital général einen anderen Bericht, in dem er den gleichen Beweis führt. Er ist gezwungen den schlechten sanitären Zustand von Bicêtre anzuerkennen, aber »die Dinge sind dort noch nidit bis zu jener extremen Grausamkeit entwickelt, daß man das Hospiz jener Unglücklichen in eine andere Quelle unvermeidlicher und traurigerer Obel verwandelt sähe als jene, für die man unbedingt ein ebenso schnelles wie wirksames Mittel anwenden muß.« 2 ' Der Kreis ist geschlossen. Alle diese Formen der Unvernunft, die in der Geographie des Bösen den Platz der Lepra eingenommen hatten und die man in die entlegenste soziale Entfernung verbannt hatte, sind jetzt sichtbare Lepra geworden und bieten ihre vernarbten Wunden der Promiskuität der Menschen dar. Die Unvernunft ist von neuem gegenwärtig, aber jetzt durch ein imaginäres Krankheitsindiz gezeichnet, das ihr seine Schreckenskräfte leiht. Im Phantastischen also, und nicht in der Strenge des medizinischen Denkens geht die Unvernunft die Krankheit an und nähert sich ihr. Lange bevor das Problem, zu wissen, in welchem Maße das Unvernünftige pathologisch ist, formuliert worden ist, hatte sich im Raum der Internierung und durch eine ihr eigene Alchimie eine Mischung zwischen dem Schrecken der Unvernunft und den alten Heimsuchungen der Krankheit gebildet. Aus großer Ferne haben die alten Verwirrungen der Lepra noch einmal mitgespielt. Die Kraft dieser phantastischen Themen ist das erste Agens einer Synthese zwischen der Welt der Unvernunft und dem medizinischen Universum gewesen. Sie haben zunächst durch Phantasmen der Angst kommuniziert, indem sie sidi in der infernalischen Mischung der »Korruption« und der »Laster« verbanden. Es ist wichtig, vielleicht entscheidend für den Platz, den der Wahnsinn in der modernen Zivilisation einnehmen soll, daß der homo medicus nicht von der Welt der Internierung als Schiedsrichter hinzugezogen worden ist, um die Trennung zwischen Verbrechen und Wahnsinn, zwischen Übel und Krankheit vorzunehmen, sondern eher als Wächter, um die anderen vor der konfusen Gefahr zu schützen, die durch die Mauern der Internierung schwitzte. Man glaubt leicht, daß eine freie und mildtätige Rührung das Interesse für das Schicksal der Eingeschlossenen geweckt hat, und daß eine medizinische Aufmerksamkeit, die redlicher und aufmerksamer war, die 1} Α . a. O., f ° 113. Die gesamte Angelegenheit umfaßt die Folios 117 bis 126. Ober Jas »Gefängnisfieber« und die die Städte bedrohende Ansteckungsgefahr vgl. Howard, État des prisons, Bd. 1, S. 3.
Krankheit dort hat erkennen können, wo man unterschiedslos die Fehler bestrafte. Tatsächlich haben sidi die Dinge nicht in dieser wohlwollenden Neutralität ereignet. Wenn man den A r z t gerufen hat, wenn man ihn um Beobachtung gebeten hat, so geschah das, weil man Angst hatte. Man hatte Angst vor der eigenartigen Chemie, die hinter den Mauern der Internierung brodelte, Angst vor den Kräften, die sich dort bildeten und sich auszubreiten drohten. Der A r z t ist hinzugekommen, als die imaginäre Verwandlung einmal vollzogen war und das Übel bereits die mehrdeutigen Arten des Gegorenen, des Verdorbenen, der fauligen Ausdünstungen und des aufgelösten Fleisches angenommen hatte. Was man traditionsgemäß »Fortschritt« auf dem Wege zum Erwerb eines medizinischen Status des Wahnsinns nennt, ist in der T a t nur durch eine eigenartige Rückkehr möglich gewesen. In der unentstrickbaren Mischung der moralischen und physischen Ansteckungen2·' und durch die Kraft dieses Symbolismus des Unreinen, der im achtzehnten Jahrhundert so vertraut war, sind sehr alte Bilder wieder in der Erinnerung der Menschen aufgestiegen. Und dank dieser imaginären Reaktivierung hat die Unvernunft - und zwar mehr als durch eine Perfektionierung der Kenntnisse — sich mit dem medizinischen Denken konfrontiert gesehen. Paradoxerweise wird der Positivismus in der Rückkehr dieses phantastischen Lebens, das sich unter die zeitgenössischen Bilder der Krankheit mischt, eine Gewalt über die Unvernunft finden, oder er wird vielmehr einen neuen Grund entdecken, sich ihrer zu erwehren. Augenblicklich geht es nicht um die Frage, die Internierungshäuser zu beseitigen, sondern sie als eventuelle Ursachen eines neuen Übels zu neutralisieren. Es handelt sich darum, sie durch eine Reinigung herzurichten. Die große Reformbewegung, die sich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entwickeln wird, hat hier ihren Ursprung: die Verunreinigung zu reduzieren, indem man die Unreinheiten und die Dämpfe zerstört, all diese Gärungen zur Ruhe bringt, sie und das Übel daran zu hindern, die Luft zu verderben und ihre Ansteckung in der Atmosphäre über den Städten zu verbreiten. Das Hospital, das Arbeitshaus, alle Internierungsstätten müssen besser isoliert und mit einer reineren Luft umgeben werden. Zu dieser Zeit gibt es eine umfangreiche Literatur über die Belüftung in den Hospi24 »Idi wußte wie alle, daß Bicêtre zugleich Hospital und Gefängnis ist. Ich wußte aber nidit, daß das Hospital geschaffen worden war, um Krankheiten z u erzeugen, und das Gefängnis, um Verbrochen hervorzubringen.« Mirabeau, Observations d'un voyageur anglais, Paris 1788, S. 6.
tälern, die von fern das medizinische Problem der Anstechung umgreift, aber genauer auf die Themen der moralischen Kommunikation abzielt.2' 1776 ernennt ein Erlaß des Staatsrats eine Kommission, die sich mit »dem Grad der Verbesserung, der in den verschiedenen Hospitälern in Frankreich erforderlich ist«, beschäftigen soll. Bald wird Viel damit beauftragt, die Zellen in der Salpêtrière neu zu bauen. Man fängt an, von einem Asyl zu träumen, das so hergerichtet wäre, daß die Krankheit darin vegetieren könnte, ohne sich jemals auszubreiten, wobei dieses Asyl seine wesentlichen Funktionen behalten sollte. Dieses Asyl sollte die Unvernunft völlig enthalten und sie dem Spektakel weihen, ohne daß sie für die Zuschauer bedrohlich wäre, wobei sie alle Kräfte des Beispielhaften und keines der Ansteckungsrisiken hätte. Kurz, man denkt an ein anderes Asyl, das seine Wahrheit als Käfig voll wiedererhalten hätte. Noch 178g träumt der Abbé Desmonceaux von dieser »sterilisierten« Internierung, wenn man diesen anachronistischen Terminus gebrauchen will, in einem kleinen Werk, das der Nationalen Wohltat gewidmet ist. Nach seinem Entwurf soll es ein pädagogisches Instrument sein, ein absolut demonstratives Schauspiel der Nachteile der Immoralität: »Diese Zwangsasyle ( . . . ) bilden ebenso nützliche wie notwendige Aufenthaltsorte ( . . . ) . Der Anblick dieser finsteren Orte und der Schuldigen, die darin eingeschlossen sind, ist dazu angetan, eine zu löchere und ausschweifende Jugend vor dem gleichen A k t einer gerechten Verstoßung zu bewahren. Es liegt also an der Klugheit der Väter und Mütter, sie diese furchtbaren und verachtenswerten Orte, an denen die Schande und die Schmach sich mit dem Verbrechen treffen, wo der degradierte, der seines Wesens beraubte Mensch oft für immer die Rechte, die er in der Gesellschaft erworben hatte, verliert, kennenlernen zu lassen.«26 Durch solche Träume versucht die Moral in Komplizenschaft mit der Medizin sich gegen die in der Internierung enthaltenen, aber zu ^schlecht eingeschlossenen Gefahren zu verteidigen. Die gleichen Gefahren faszinieren zur gleichen Zeit die Vorstellungskraft und die
i« Vgl. Hanway, Réflexions sur l'aération (Gazette salutaire, 25. September und Oktober 1766, Nr. 39 und 41) und Léopold de Genneté, Purification de l'air i" «pissant dans les hôpitaux, N a n c y 1767. Die Académie de L y o n hatte 17S2 len Concours über folgendes Thema ausgeschrieben: »Quelle est la qualité nuisible -lui.- l'air contracte dans les hôpitaux et dans les prisons, et quel serait le meilleur . « n d'y remédier?« - Vgl. auch Claude-Philibert Coquéau, Essai sur l'établissent des hôpitaux dans les grandes villes, Paris 1787. \bbé Desmonceaux, De la bienfaisance nationale, Paris 1789, S. 14.
Begierden. Die Moral träumt davon, sie zu verbannen, aber es gibt etwas im Menschen, das davon träumt, sie zu erleben, sidi ihnen wenigstens zu nähern und ihre Phantasmen zu befreien. Der Sdirekken, der jetzt die Festungen der Internierung umgibt, übt ebenfalls eine unwiderstehliche Anziehung aus. Man gefällt sich darin, jene Nächte mit unzugänglichen Vergnügungen zu füllen; jene verdorbenen und zernagten Gestalten werden zu Gesichtern der Leidenschaft; auf jenen dunklen Landschaften entstehen Formen - schmerzhafte und deliziöse - , die Hieronymus Bosch und seine Gärten des Deliriums wiederholen. Die Geheimnisse, die dem Schloß der 120 Tage entschlüpfen, werden dort lange Zeit leise gemurmelt: »Dort werden die infamsten Exzesse an der Person des Gefangenen selbst ausgeübt. Man hört von bestimmten Lastern, die häufig und so, daß es allen bekannt ist, manchmal sogar öffentlich, im Gemeinschaftssaal des Gefängnisses praktiziert werden, ein Laster, von dem zu reden uns der Anstand der modernen Zeit verbietet. Man sagt uns, daß eine Zahl Gefangener simillimi feminis mores stuprati et constupratores, daß sie ex hoc ohscaeno sacrario cooperti stupri suis alienisque zurückkämen, für jede Schamhaftigkeit verloren und bereit, jede A r t von Verbrechen zu begehen.«17 La Rochefoucauld-Liancourt wird seinerseits jene Gestalten alter und junger Trauen, die sich von Generation zu Generation die gleichen Geheimnisse und Lüste mitteilen, in den Sälen der Correction, in der Salpêtrière evozieren: »Die Correction, die der Ort der schweren Strafe in der Anstalt ist, enthielt, als wir sie besucht haben, 47 Mädchen, vor allem sehr junge, die mehr unbesonnen als schuldig sind ( . . . ) . Stets herrscht dieses altersmäßige Durcheinander, stets diese schockierende Mischung von jungen, leichten Mädchen mit alten Frauen, die ihnen nur die zügelloseste Kunst der Verderbnis zeigen können.« 18 Diese Visionen werden lange Zeit mit Nachdruck die späten Abende des achtzehnten Jahrhunderts beleben. Für einen Augenblick werden sie durch das unerbittliche Licht des Werkes von diSade herausgeschnitten und dadurch in die strenge Geometrie der Lusi gesetzt werden. Sie werden auch wiederaufgenommen und eingehüllt werden in den trüben T a g des Préau des Fous oder die Dämmerung die die Maison du Sourd umgibt. Wie die Gesichter der Disparater ihnen ähneln! Eine ganze imaginäre Landschaft steigt wieder auf, gr tragen durch die große Furcht, die jetzt die Internierung hervorruft. 27 Mirabeau, Observations d'un voyageur anglais, S. 14. 28 Bericht im Namen des Comité de mendicité (Assemblée Nationale, Proccs-verb • Bd. 44, S. 80 f.).
Was die Klassik eingeschlossen hatte, war nicht nur eine abstrakte Unvernunft, in der sich Irre und Freigeister, Kranke und Verbrecher vermischten, sondern auch eine gewaltige Reserve an Phantastischem, eine schlafende Welt von Monstren, die man in jener Nacht von Hieronymus Bosch, der sie einst hervorgebracht hatte, verschlungen glaubte. Man möchte sagen, daß die Festungen der Internierung ihrer gesellschaftlichen Rolle der Ségrégation und Reinigung eine kulturelle Funktion hinzugefügt hatten, die völlig entgegengesetzt war. In dem Augenblick, wo sie an der Oberfläche der Gesellschaft Vernunft und Unvernunft trennten, bewahrten sie in der Tiefe Bilder, in denen sich die eine und die andere vermischten und vertauschten. Sie haben wie eine große, lange Zeit schweigsame Erinnerung funktioniert. Sie haben im Schatten eine imaginäre Kraft aufrechterhalten, von der man glauben konnte, daß sie verbannt sei. Sie haben, durch die neue klassische Ordnung aufgerichtet, gegen sie und gegen die Zeit verbotene Gestalten bewahrt, die unversehrt vom sechzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert überliefert werden konnten. In dieser aufgehobenen Zeit verbindet sich der Brocken mit der Dullen Griet in der gleichen imaginären Landschaft, und Noirceuil erreicht die große Lebende des Marschalls de Rais. Dieser Widerstand des Imaginären ist von der Internierung erlaubt und herbeigerufen worden. Aber die Bilder, die sich am Ende des achtzehnten Jahrhunderts freimachen, sind nicht in allen Punkten mit jenen identisch,, die das siebzehnte Jahrhundert auszulöschen versucht hatte. In der Dunkelheit hat sich eine Arbeit vollendet, die sie von jener Hinterwelt losgelöst hat. in der die Renaissance nach dem Mittelalter sie hatte suchen müs'en. Sie haben im Herzen, in der Begierde, in der Vorstellungskraft der Menschen Platz genommen. Anstatt dem Blick die abrupte Prävjnz des Wahnsinnigen zu manifestieren, lassen sie die eigenartige Widersprüdilidikeit der menschlichen Neigungen hervorquellen: die (Complizität der Lust und des Mordes, der Grausamkeit und des Wunhes zu leiden, der Souveränität und der Sklaverei, der Beleidigung nd der Erniedrigung. Der große kosmische Konflikt, dessen Höhejnkte der Wahnsinnige im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhun-rt enthüllte, hat sich so weit deplaziert, bis er am Endpunkt der issik zur Dialektik ohne Vermittlung des Herzens wurde. Der • iismus ist nicht ein Name, der schließlich einer ebenso alten Prak"ie der Eros ist, gegeben wurde, sondern eine massive zivilisatorir -Mache, die genau am Ende des achtzehnten Jahrhunderts erschiet und eine der größten Wandlungen der abendländischen Vor-
stellungskraft bildet: die zum Delirium des Herzens, zum Wahnsinn der Lust, zum wahnsinnigen Dialog der Liebe und des Todes in der grenzenlosen Anmaßung der Begierde gewordene Unvernunft. Der Sadismus tritt in dem Augenblick auf, in dem die Unvernunft, die seit mehr als einem Jahrhundert eingeschlossen und zum Sdiweigen gebracht war, wieder erscheint, und zwar nicht als Gestalt der Weh, nicht mehr als Bild, sondern als Diskurs und Lust. Es ist kein Zufall, wenn der Sadismus als individuelles Phänomen den Namen eines Mannes trägt und in und aus der Internierung entstanden ist, wenn das ganze Werk von Sade durch die Bilder der Festung, der Zelle, dej Unterirdischen, des Klosters, der unzugänglichen Insel, die so gleichsam den natürlichen O r t der Unvernunft bilden, bestimmt wird. £s ist ebenfalls kein Zufall, wenn die ganze phantastische Literatur über den Wahnsinn und den Schrecken, die zur gleichen Zeit wie das Werlt de Sades entstand, sich auf privilegierte Weise an die Orte der Internierung verlegt. Diese ganze plötzliche Wandlung der abendländischen Erinnerung am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, mit der ihr gegebenen Möglichkeit, die vertrauten Gestalten vom Ende des Mittelalters deformiert und mit einem neuen Sinn versehen wiederzufinden, - war sie nicht durch die Aufrechterhaltung und das Wachen de Phantastischen an den Orten, an denen die Unvernunft zum Schweigen gebracht worden war, autorisiert worden? In der Epoche der französischen Klassik hatten sich das Bewußtsein des Wahnsinns und das Bewußtsein der Unvernunft kaum voneinander abgehoben. Die Erfahrung mit der Unvernunft, die alle Internierungspraktiken geleitet hatte, umhüllte bis zu dem Grade das Bewußtsein vom Wahnsinn, daß sie ihn ganz oder zumindest beinahe verschwinden ließ, ihn auf jeden Fall auf einen Weg der Regression brachte, auf dem er nahe daran war, das an ihm Spezifischste zu ver lieren. Aber in der Unruhe der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhundert wächst die Furcht vor dem Wahnsinn gleichzeitig mit dem Schrecken vor der Unvernunft, und genau dadurch hören die beiden Former der Heimsuchung, während sich eine auf die andere stützt, nicht aui sich gegenseitig zu verstärken. In dem Augenblick, als man der Fre· Setzung der imaginären Kräfte, die die Unvernunft begleiten, btwohnt, versteht man, daß sich die Klagen über die Verheerungen d Wahnsinns vervielfachen. Man kennt bereits die Unruhe, die Ji. »Nervenkrankheiten« haben entstehen lassen, und jenes Bewußtsei i.
daß Jer Mensch zerbrechlicher in dem Maße werde, wie er sich verJlständige.2» Während man im Jahrhundert vorwärts schreitet, .rden die Sorgen drängender, die Ermahnungen feierlicher. Bereits Kaulin stellte fest, daß »seit der Geburt der Medizin ( . . . ) diese Krankheiten sich vervielfacht haben, gefährlicher, komplizierter, dorniger und schwieriger zu heilen geworden sind«.5" Zur Zeit Tissots st dieser allgemeine Eindruck zum festen Glauben, zu einer A r t meiizinischen Dogmas geworden: die Nervenkrankheiten »waren viel oniger häufig, als sie es heute sind, und das aus zwei Gründen. Ermens waren die Menschen im allgemeinen viel kräftiger und seltener rank. Es gab weniger Krankheiten jeder Art. Zweitens haben die rsachen, die in besonderem Maße die Nervenkrankheiten hervorbringen, sich seit einer bestimmten Zeit in einem größeren Verhältnis .rmehrt als die anderen, allgemeinen Krankheitsursachen, von de.n einige sogar abzunehmen scheinen ( . . . ) . Ich scheue mich nicht zu igen, daß, wenn sie einst die seltensten waren, sie heute die häufigen sind«.1' Und bald wird man jenes Bewußtsein wiederfinden, das ik. sechzehnte Jahrhundert auf so lebendige Weise von der EmpfindJikeit einer Vernunft hatte, die in jedem Augenblick und in einer ii.rinitiven Art durch den Wahnsinn bloßgestellt werden kann. Matthe)*, als Arzt in Genf dem Einfluß Rousseaus sehr nahe, formuliert jr die Vernunftmenschen das Vorzeichen: »Rühmt euch nicht, geIdete und weise Menschen; diese angebliche Weisheit, deren ihr euch -imeichelt, kann in einem Augenblick verwirrt und vernichtet wer.n. Ein unvorhergesehenes Ereignis, eine lebhafte und plötzliche Seenbewegung werden plötzlich den vernünftigsten und geistreichsten .nschen zu einem tollwütigen oder idiotischen Mann machen.«31 c Drohung des Wahnsinns nimmt unter den Zwängen des Jahrhun! ..vts ihren Platz ein. .„LS Bewußtsein hat dennoch einen sehr besonderen Stil. Die Heimlung der Unvernunft ist sehr affektiv und beinahe gänzlich in die ;cung der imaginären Wiederauferstehungen aufgenommen. Die 'iiht vor dem Wahnsinn ist viel freier hinsichtlich dieses Erbes, und \rend die Rückkehr der Unvernunft die Bewegung einer massiven Jerholung, die mit sich selbst über die Zeit hinweg eine Verknüp' A. Teil 2- Kapitel 4. oh Raulin, Traité des affections vaporeuses du sexe, Paris 1758, Préface. L, Traité des maladies des nerfs, Bd. ι , S. III f. Jré Matthey, Nouvelles recherches sur les maladies de l'esprit, Paris 1816, S. b ç .
fung herstellt, annimmt, wird das Bewußtsein vom Wahnsinn hingegen von einer gewissen Analyse der Modernität begleitet, die es von Anfang an in den zeitlichen, historischen und gesellschaftlichen Rahmen setzt. In der Ungleichheit zwischen Bewußtsein der Unvernunft und Bewußtsein des Wahnsinns hat man am Ende dieses achtzehnten Jahrhunderts den Ausgangspunkt einer entscheidenden Bewegung: der Bewegung, durdi die die Erfahrung der Unvernunft mit Hölderlin, Nerval und Nietzsche nicht aufhören wird, immer tiefer hinunter zu den Wurzeln der Zeit zu steigen - wodurch die Unvernunft so zum Querstrich der Welt par excellence wird und die Kenntnis vom Wahnsinn versucht, ihn hingegen auf immer präzisere Weise in die Entwicklungsrichtung der Kultur und der Geschichte einzuordnen. Von diesem Datum an werden die Zeit der Unvernunft und die Zeit des Wahnsinns von zwei entgegengesetzten Vektoren betroffen: der eine ist bedingungslose Umkehr und absolutes Untertauchen, der andere hingegen entwickelt sich gemäß der zeitlichen Abfolge einer Geschichte." Diese Verbreitung eines zeitlichen Bewußtseins vom Wahnsinn hat sidi nidit plötzlich vollzogen. Sie hat das Herausarbeiten einer ganzen Serie neuer Begriffe und oft die Neuinterpretation sehr alter Themen notwendig gemacht. Das medizinische Denken des siebzehnten und aditzehnten Jahrhunderts hatte gern eine nahezu unmittelbare Beziehung zwisdien dem Wahnsinn und der Welt zugelassen: das war der Glaube an den Einfluß des Mondes;34 das war auch die allgemein verbreitete Überzeugung, daß das Klima einen direkten Einfluß aul die Natur und Eigenschaft der Lebensgeister, infolgedessen auf Ja« Nervensystem, die Vorstellungskraft, die Leidenschaften und schließlidi auf alle psychisdien Krankheiten habe. Diese Abhängigkeit war in ihren Prinzipien nidit sehr klar, noch in ihren Wirkungen eindeutig. Cheyne gesteht ein, daß die Feuchtigkeit der Luft, die plötzlidien Temperaturwechsel, die häufigen Regenfälle die Festigkeit des Ner-
3 3 Im Evolutionismus des neunzehnten Jahrhunderts ist der Wahnsinn wohl Rüd.· kehr, aber auf einem geraden chronologischen Weg, nicht in absoluter Abwegijikti von der Zeit. Die Psychoanalyse fand sich in dem Versuch der Konfrontation ν Wahnsinn und Unvernunft v o r dieses Problem gestellt. Fixierung, Todestrieb, ko1 lektives Unbewußtes, Archetyp umgeben mehr oder weniger glücklich die bcidiheterogenen Strukturen zeitlicher Natur. Die eine ist geeignet für die Erfahrung r» der Unvernunft und die Gelehrsamkeit, die sie umhüllt. Die andere ist der Erkennnii des Wahnsinns und der dadurch möglich gewordenen Wissenschaft eigen. 34 Vgl. Teil 2, Kapitel 2.
y Sterns in Gefahr bringen." Venel hingegen denkt, daß »die tlce Luft, weil sie schwerer, dichter und elastischer ist, die festen Körper mehr zusammendrückt, ihren Bau fester und ihre Handlung stärker werden läßt«; daß indessen »in warmer Luft, die leichter, dünner, ».niger elastisch und infolgedessen weniger kompressiv ist, die festen Körper ihren Ton verlieren, die Säfte verderben und sich verändern rmd. da die innere Luft nicht durch die äußere ausgeglichen wird, die 1ü*cigen Körper sich ausdehnen, die Gefäße, die sie enthalten, auslehnen und erweitern, bis zu dem Punkt, an dem sie deren Reaktio'en übersteigen und verhindern und manchmal selbst ihre Deiche Drechen«.36 Für den klassischen Geist konnte der Wahnsinn leicht die Wirkung eines äußeren »Milieus« sein, oder sagen wir genauer: das viema einer gewissen Solidarität mit der Welt. Ebenso wie der Zuang zur Wahrheit der äußeren Welt seit dem Sündenfall über den hwierigen und oft deformierenden Weg der Sinne gehen muß, ebenhängt der Besitz der Vernunft von einem »physischen Zustand der Maschine« und von allen mechanischen Effekten, die sich auf sie ausrken. ab.37 Damit hat man gewissermaßen gleichzeitig die naturatische und theologische Version der alten Renaissancethemen, die -ien Wahnsinn mit einer großen Zahl von Dramen und kosmischen •klen verbanden. her von diesem globalen Begreifen einer Abhängigkeit löst sich bald r neuer Begriff, denn die Verbindung mit den konstanten oder den rt -lien Kreisbewegungen des Universums, das Thema des den Jahresten der Welt anverwandten Wahnsinns, verdoppelt sich unter der -kung der steigenden Unruhe allmählich um die Idee einer A b 'nu Cheync, Méthode naturelle de guérir les maladies du corps et les .ements de l'esprit, frz. Obersetzung, 2 vols., Paris 1749. Darin stimmt er π mit Montesquieu, Esprit des lois, 3. Teil, Buch 14, Kapitel 12, Bibliothèque p Iciade, ßd. 2, S. 474-477. η Andre Venel, Essai sur la santé et l'éducation médicinale des filles destinées •ave. Yverdon 1776, S. 135 f. ""r-quieu, Causes qui peuvent affecter les esprits et les caractères, in : ders., • i'-mplètes. Bibliothèque de la Pliiade, Bd. 2, S. 39 f.
worfen ist und von dieser unaufhörlichen Vermehrung der großen Ansteckung des Wahnsinns Zeugnis ablegen soll. Vom Makrokosmos, der als Ort der Komplizität all dieser Mechanismen und als allgemeiner Begriff ihrer Gesetze verstanden wird, löst sidi das, was man in Vorwegnahme des Vokabulars des neunzehnten Jahrhunderts ein »Milieu« nennen könnte. Zweifellos muß man diesem Begriff, der weder sein Gleichgewidht noch seine endgültige Bezeichnung gefunden hat, das lassen, was an ihm unvollendet ist. Reden wir vielmehr mit Buffon von den »durchdringenden Kräften«, die nicht allein die Bildung des Individuums, sondern auch die Erscheinung der Unterschiede der menschlichen Spezies gestatten : der Einfluß des Klimas, der Unterschied der Nahrung und der A r t zu leben.38 Ein negativer Begriff, ein »differentiellerBegriff, der im achtzehnten Jahrhundert aufkommt, um die Abweichungen und die Krankheiten mehr als die Anpassungen und Konvergenzen zu beschreiben, als ob »diese durchdringenden Kräfte« die Kehrseite, das Negative dessen, was in der Folge zum positiven Begriff des Milieus werden wird, bildeten. Man sieht, wie sich dieser Begriff bildet - was für uns paradox ist - . als der Mensch durch die sozialen Zwänge ungenügend gestützt erscheint, als er in einer Zeit, die ihn nicht mehr verpflichtet, zu schwimmen scheint, und schließlich, als er sich zu sehr vom Wahren wie vom Spürbaren entfernt. Z u »durchdringenden Kräften« werden eine Gesellsdiaft, die die Lüste nicht mehr bezwingt, eine Religion, die die Zeit und die Vorstellungskraft nicht mehr reguliert, eine Kultur, die die Abwege des Denkens und des Empfindens nicht mehr begrenzt. I. Der Wahnsinn and die Freiheit. Lange Zeit sind bestimmte Formen der Melancholie als spezifisch englisch betrachtet worden. Es handelte sich um eine medizinische Gegebenheit 35 , es handelte sidi auch um eine literarisdie Konstante. Montesquieu stellte den römischen Selbstmord, ein moralisches lind politisdies Benehmen, eint gewollte Wirkung einer konzertierten Erziehung, und den englische' Selbstmord einander gegenüber, der wohl als eine Krankheit betrachtet werden muß, weil »die Engländer sich töten, ohne daß man irgendeinen Grund, der sie dazu führt, sich vorstellen kann. Sie brin-
3S Buffon, Histoire naturelle, in: ders.. Œuvres complètes, Paris 1S48, ßd De l'homme, S. 319 f. 39 Boissier de Sauvages spricht von »melancolia anglica sive taedium vitae ders., Nosologie méthodique, Bd. 7, S. 366.
gen sich mitten im Glück um.«4° Hier hat das Milieu seine Rolle zu spielen, denn wenn im achtzehnten Jahrhundert das Glück zur Ordnung der Natur und der Vernunft gehört, muß das Unglück, oder wenigstens das, was einen grundlos dem Glück entreißt, zu einer anderen Ordnung gehören. Diese Ordnung sucht man zunächst in den Auswüchsen des Klimas, in jener Abweichung von der Natur im Vergleich zu ihrem Gleichgewicht und zu ihrem glücklichen Maß (die gemäßigten Klimate gehören zur Natur, die übertriebenen Temperaturen gehören zum Milieu). Das genügt nicht, um die englische Krankheit zu erklären, von der bereits Cheyne glaubt, der Ursprung dieser nervösen Störungen sei der Reichtum, das raffinierte Essen, die Fülle, die alle Bewohner genießen, das müßige und faule Leben, das die reichste Gesellschaft führt. 41 Man wendet sich mehr und mehr einer ökonomischen und politischen Erklärung zu, in der der Reichtum, der Fortschritt und die Institutionen als determinierendes Element des Wahnsinns erscheinen. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wird Spurzheim die Synthese all dieser Analysen in einem der letzten ihnen gewidmeten Texte erstellen. Der Wahnsinn, der in England »in der Tat häufiger als überall sonst« ist, ist lediglich das Lösegeld für die dort herrschende Freiheit und den überall ausgestreuten Reichtum. Die Gewissensfreiheit enthält mehr Gefahren als die Autorität und der Despotismus. »Die religiösen Gefühle ( . . . ) wirken ohne Restriktion. Jedes Individuum hat die Erlaubnis, dem zu predigen, der ihm iuhören will«, und wenn man so unterschiedliche Meinungen hört, werden die Geister bei der Suche der Wahrheit gequält«. Die Ge»ahren der Unentschlossenheit, der Aufmerksamkeit, die nicht weiß, ο sie sich festhalten soll, und der Seele, die hin- und hergeworfen :rd, sind die Folge. Es besteht auch die Gefahr von Streitigkeiten, on Leidenschaften, Gefahr für den Geist, der sich hartnäckig an die lrtei hält, die er ergriffen hat: »Jedes Ding findet Opposition, und jce Opposition ruft Gefühle hervor. In der Religion, in der Politik, 1er Wissenschaft und in allem ist es jedem gestattet, eine Partei zu fen, aber er muß damit rechnen, auf Widerstand zu stoßen.« SoFreiheit gestattet auch nicht, die Zeit zu bezwingen. Jeder ist sei• Ungewißheit ausgeliefert, jeder ist vom Staat seinen Bewegungen esetzt: »Die Engländer bilden eine handelnde Nation, deren ' •·-. t ständig mit Spekulationen beschäftigt ist und fortgesetzt durch icaquieu, Esprit des lois, 3. Teil, Buch 14, Kapitel 12, Bibliothèque de la Plfiade, Bd. 2, S. 485 f. : Cheyne, The English malady, London 1733.
die Angst und die Hoffnung erregt wird. Der Egoismus, die Seele des Handels, wird leicht neidisch und ruft andere Leidenschaften zu Hilfe.« Übrigens ist diese Freiheit wohl von der wirklichen, natürlichen Freiheit entfernt, denn von allen Seiten wird sie gezwungen und von Forderungen bedrängt, die den legitimsten Wünschen der Individuen entgegengesetzt sind. Das ist die Freiheit der Interessen, der Koalitionen, der Finanzkombinationen, nicht des Menschen, nicht des Geistes, nicht des Herzens. Aus Geldgründen sind die Familien tyrannischer als überall sonst. Und allein die reichen Töchter finden einen Mann. »Die anderen werden auf andere Mittel der Befriedigung verwiesen, die den Körper ruinieren und die Seelenäußerungen stören. Dieselbe Ursache begünstigt die Freidenkerei, und diese arbeitet dem Wahnsinn in die Hand.« 42 Die Handelsfreiheit erscheint so als das Element, in dem die Meinung niemals zur Wahrheit gelangen kann, in der das Unmittelbare notwendig dem Widerspruch ausgeliefert ist, in dem die Zeit der Herrschaft und Sicherheit der Jahreszeiten entgeht und der Mensch seiner Wünsche durch die Gesetze des Interesses beraubt wird. Kurz, die Freiheit, weit entfernt davon, den Menschen in Besitz seiner selbst zu bringen, hört nicht auf, ihn immer mehr von seinem Wesen und seiner Welt zu entfernen. Sie fasziniert ihn in der absoluten Äußerlichkeit der anderen und des Geldes, in der irreduziblen Innerlichkeit der Leidenschaft und der unbefriedigten Wünsche. Zwischen dem Menschen und dem Glück einer Welt, in der er sich wiedererkennen würde, zwischen dem Menschen und einer Natur, in der er die Wahrheit fände, ist die Freiheit des Handelsstaates »Milieu«; und in demselben Maße ist er determinierendes Element des Wahnsinns. In dem Augenblick, als Spurzheim - während der Heiligen Allianz, mitten in der Restauration der autoritären Monarchien - schreibt, trägt der Liberalismus mit Leichtigkeit die Sünden des Wahnsinns der Welt: »Es ist eigenartig zu sehen, daß der größte Wunsch des Menschen, der nach seiner persönlichen Freiheit, auch seine Nachteile hat.«« Aber für uns liegt das Wesentliche einer Analyse wie dieser nicht in der Kritik an der Freiheit, sondern in dem Gebrauch des Begriffes, der für Spurzheim das nicht natürliche Milieu bezeichnet, in dem die mechanischen, die psychologischen und physiologischen Mechanismen des Wahnsinns begünstigt, ausgeweitet und vervielfacht werden.
42 Johann Caspar Spurzheim, Observations 43 Spurzheim, ebda.
sur la folie, Paris 1818, S. 193-19«.
2. Der Wahnsinn, die Religion und die Zeit. Der religiöse Glaube bereitet eine A r t imaginärer Landschaft, ein illusorisches Milieu, das für alle Halluzinationen und alle Delirien günstig ist. Seit langem fürchteten die Ärzte die Wirkung einer zu strengen Devotion oder eines zu lebhaften Glaubens. Eine moralische Strenge, zu große Unruhe wegen des Heils und des zukünftigen Lebens reichten oft aus, einen melancholisch werden zu lassen. Die Encyclopédie nennt deshalb ähnliche Fälle: »Die zu starken Eindrücke, die manche zu leidenschaftlichen Prediger hinterlassen, die zu großen Ängste, daß sie Strafen austeilen, mit denen unsere Religion diejenigen bedroht, die ihr Recht brechen, lassen in den schwachen Geistern erstaunliche Umwälzungen geschehen. Man hat im Hospital von Montelimar verschiedene Frauen gesehen, die an Manien und Melancholien als Folge einer Mission, die in der Stadt stattgefunden hatte, litten. Sie wurden unaufhörlich von Sdireckensbildern verfolgt, die man ihnen unbedacht ausgemalt hatte. Sie sprachen nur in Verzweiflung, von Rache, von Strafe usw., und eine von ihnen wollte absolut kein Heilmittel nehmen, weil sie glaubte, daß sie in der Hölle sei und nicht das Feuer, von dem sie sich verschlungen wähnte, löschen könne.«''4 Pinel bleibt auf der Linie dieser aufgeklärten Ärzte, denn er verbietet, daß man den »Melancholikern durch Devotion« 4 ' religiöse Bücher gibt, und empfiehlt zugleich die Einsperrung für diejenigen, »die als Devote an Inspirationen glauben und unaufhörlich andere Proselyten zu schaffen versuchen.«46 Es handelt sich aber dabei doch eher um Kritik als um eine positive Analyse: das religiöse Thema gerät in Verdacht, das Delirium oder die Halluzination durch den delirierenden und halluzinatorischen Charakter, den man ihm zuschreibt, hervorzurufen. Pinel erzählt den Fall einer Geisteskranken, die unlängst geheilt wurde, der »ein frommes Buch ( . . . ) in Erinnerung brachte, daß jede Person einen Schutzengel habe. Von der folgenden Nacht an glaubte sie sich von einem Engelschor umgeben und gab vor, eine himmlische Musik gehört und Gesichte gehabt zu haben.«47 Die Religion wird hier noch nur als ein Transmissionselement des Irrtums betrachtet. Aber noch vor Pinel gab es Analysen eines viel strengeren historischen Stils, in denen die Religion als ein Milieu der Befriedigung oder der Repression der Leidenschaften erschien. Ein deutscher Autor evozierte 1781 die fernen JA Λΐ «6 4-
Encyclopédie, Artikel »Mélancolie«. Pinel, Traité médico-philosophique, S. 268. S,, a. O., S. 291, Anm. 1. Ebda.
Epochen als glückliche Zeiten, in denen die Priester mit einer absoluten Kraft ausgestattet waren. Damals existierte der Müßiggang nicht, jeder Augenblick wurde durdi die »Zeremonien, Kirchengebräuche, Wallfahrten, Prozessionen, Kranken- und Armenbesudie, ( . . . ) wie audi Schmausereien der Kalands- und anderer lustiger Brüderschaften« bestimmt. Die Zeit wurde so einem organisierten Glück überlassen, das den leeren Leidenschaften, dem Lebensüberdruß, der Langeweile keinen Raum ließ. Glaubte jemand, einen Fehler begangen zu haben? Man unterwarf ihn einer wirklichen, oft materiellen Strafe, die seinen Geist beschäftigte, und gab ihm die Gewißheit, daß der Fehler wieder gutgemacht sei. Und wenn der Beichtvater solche »hypochondrische Beichtkinder, die zu oft zur Beichte gehen«, fand, legte er ihnen als Buße entweder eine harte Strafe, die ihr zu »dickes Blut verdinnet« hat, oder lange Pilgerfahrten auf: » ( . . . ) die Veränderung der Luft, die Weite des Weges, die Abwesenheit vom Hause und Entfernung von verdrießlichen Gegenständen, die Gesellschaften, die sie unterwegs mit anderen Pilgern machten, die starke und lange anhaltende Bewegung des Körpers zu Fuße ( . . . ) hatten bei ihnen mehr Wirkung als die mit Bequemlichkeit angestellten Reisen ( . . . ) , die bei solchen Personen in neueren Zeiten öfters statt der Wallfahrten dienen müssen ( . . . ) . « Schließlich gab der geheiligte Charakter des Priesters jeder dieser Auflagen einen absoluten Wert, und niemand hätte daran gedacht, sich dem zu entziehen; »welches der Eigensinn dieser Kranken gemeiniglich dem A r z t zu versagen pflegt«/ 8 Für Moehsen ist die Religion die Vermittlung zwischen dem Fehler des Menschen und der Strafe: in Form einer autoritären Synthese unterdrückt sie wirklich den Fehler und übt so die Strafe aus. Wenn sie im Gegenteil erschlafft und sich in den ideellen Formen der Gewissensbisse, der geistigen Kasteiung aufrechterhält, führt sie direkt zum Wahnsinn. Die Konsistenz des religiösen Milieus allein kann dem Menschen gestatten, im maßlosen Delirium des Vergehens dem Wahnsinn zu entkommen. In der Fülle dieser Riten und Forderungen konfisziert sie dem Menschen die unnütze Muße seiner Leidenschaften vor dem Vergehen und die nichtige Wiederholung seiner Gewissensbisse, wenn das Vergehen einmal begangen ist. Sie organisiert das ganze menschliche Leben um den Augenblick völliger Erfüllung herum. Diese alte Religion der glücklichen Zeiten war das ständige Fest des Ge-
48 Johann C a r l Wilhelm Moehsen, Geschichte der Wissenschaften Brandenburg, Berlin und Leipzig 1781, S. 503-504.
in der Ma''
genwärtigen. Aber seit sie sidi mit der Moderne idealisiert, ruft sie einen ganzen zeitlichen H o f , ein leeres Milieu, das der Muße und der Gewissensbisse, um das Gegenwärtige herum hervor, worin das Herz des Menschen seiner eigenen Unruhe überlassen ist, w o die Leidenschaften die Zeit der Sorglosigkeit und der Wiederholung ausliefern, wo schließlich der Wahnsinn sidi frei entfalten kann. 3. Der Wahnsinn, die Kultur und die Sensibilität. A u f eine allgemeine Art konstituiert die Kultur ein günstiges Milieu für die Entwicklung des Wahnsinns. Wenn der Fortschritt der Wissenschaften den Irrtum aufdeckt, bewirkt er ebenfalls eine Propagierung des Geschmacks am Studium und sogar einer gewissen Manie des Studiums. Das Leben in der Studierstube, die abstrakten Spekulationen, jene fortgesetzte Erregung des Geistes ohne körperliche Übung können die furchtbarsten Wirkungen haben. Tissot erklärt, daß im menschlichen Körper die einer häufigen Arbeit unterworfenen Teile sich als erste verstärken und hart werden. Bei den Arbeitern werden die Muskeln und Stränge der Arme hart und geben ihnen jene physische Kraft, jene gute Gesundheit, deren sie sich bis ins hohe Alter erfreuen. »Bei den Literaten verhärtet das Gehirn. Oft werden sie unfähig, Ideen zu verbinden«, und schon sind sie der Demenz ausgeliefert.« Je abstrakter oder komplexer eine Wissenschaft ist, um so zahlreicher sind die von ihr hervorgerufenen Risiken, wahnsinnig zu werden. Eine Erkenntnis, die noch nahe am Unmittelbarsten in den Sinnen ist und, so schreibt Pressavin, nur wenig Arbeit vom inneren Sinn und den Organen des Gehirns verlangt, ruft nur eine A r t physiologischen Glückes hervor: »Die Wissenschaft, deren Gegenstände leicht von unserem Wissen wahrgenommen werden, die der Seele durch die Harmonie ihrer Übereinstimmung angenehme Beziehungen bieten, ( . . . ) tragen in die ganze Maschine eine leichte Aktivität hinein, die all ihre Funktionen begünstigt.« Hingegen ruft eine zu sehr von diesen sensiblen Beziehungen ibgetrennte Kenntnis, die im Hinblick auf das Unmittelbare zu frei ist. eine Spannung allein des Gehirns hervor, die den ganzen Körper AUS dem Gleichgewicht bringt: die Wissenschaften »der Dinge, deren Beziehungen schwierig zu erfassen sind, weil sie für unsere Sinne nur Bering spürbar sind oder weil ihre zu stark vervielfachten Beziehungen uns zwingen, uns sehr um ihre Erforschung zu bemühen, erforJern von der Seele eine Übung, die den inneren Sinn sehr durch die iber zu lange Zeit fortgesetzte Spannung dieses Organs ermüdet«.*" 4
risset, Avis aux gens de lettres sur leur santé, Lausanne 1767, S. 24. "ean-Bapciste Pressavin, Nouveau traité des vapeurs, L y o n 1770, S. 222-224.
Die Kenntnis bildet so um das Spürbare herum ein ganzes Milieu von abstrakten Beziehungen, in denen der Mensch riskiert, sein physisches Glück zu verlieren, in dem sich normalerweise seine Beziehung mit der Welt herstellt. Die Kenntnisse vermehren sidi ohne Zweifel, aber das Lösegeld steigt. Ist es sidier, daß es mehr Gelehrte gibt? Eines ist wenigstens gewiß, daß »es mehr Leute gibt, die deren Krankheiten haben«. 11 Das Milieu der Kenntnis wächst schneller als die Kenntnisse selbst. Aber es gibt nicht nur die Wissenschaft, die den Menschen vom Spürbaren löst, es gibt die Sensibilität selbst: eine Sensibilität, die nicht mehr durch die Bewegungen der Natur bestimmt wird, sondern durch all die Gewohnheiten, durch all die Forderungen des sozialen Lebens. Der moderne Mensch, die Frau noch mehr als der Mann, hat aus dem Tag die Nacht und aus der Nacht den Tag gemacht: »Der Augenblick, in dem sich unsere Frauen in Paris erheben, liegt lange nach dem, den die Natur festgesetzt hat. Die schönsten Stunden des Tages sind vergangen, die reinste Luft ist verschwunden, niemand hat daraus Nutzen gezogen. Die Dämpfe, die übeltuenden Ausdünstungen erheben sich, angezogen von der Wärme der Sonne, bereits in die Atmosphäre. Es ist die Stunde, die die Schönheit wählt, um sich zu erheben.«' 1 Dieses Durcheinander der Sinne setzt sich im Theater fort, w o man die Illusionen kultiviert, w o man künstlich nichtige Leidenschaften und die finstersten Bewegungen der Seele hervorruft. Vor allem die Frauen lieben jene Schauspiele, »die sie begeistern und erregen«. Ihre Seele »ist so stark erschüttert, daß sie in ihren Nerven eine allerdings vorübergehende starke Bewegung hervorruft, deren Folgen jedoch gewöhnlich schwer sind. Die vorübergehende Beraubung ihrer Sinne, die Tränen, die sie bei der Aufführung unserer modernen Tragödien vergießen, sind die geringsten Begebenheiten, die daraus resultieren können.«53 Ein noch künstlicheres und für eine regellose Sensibilität noch schädlicheres Milieu bilden die Romane. Sogar die Wahrschein lichkeit, die die modernen Schriftsteller darin erscheinen zu lassen sich bemühen, und die ganze Kunst, die sie zur Imitation der Wah' heit aufwenden, gibt den heftigen und gefährlichen Gefühlen, di. sie bei ihren Leserinnen erregen wollen, nur um so mehr Prestigr »In den ersten Jahrhunderten der Höflichkeit -und der franzöf' sehen Galanterie begnügte sich der weniger perfektionierte Gei« 51 Tissot, Traité des nerfs, Bd. 2, S. 442. $2 Beauchêne, De l'influence des affections, S. 31. 53 A . a. O . , S . 33.
der Frauen mit Tatsachen und Ereignissen, die ebenso wunderbar wie unglaublich waren. Sie wollen jetzt wahrscheinliche Tatsachen, aber so wunderbare Gefühle, daß die ihren dadurch völlig verwirrt und durcheinandergebracht werden. Sie versuchen dann in ihrer ganzen Umgebung die Wunder, von denen sie sich haben verzaubern lassen, zu verwirklichen, aber alles erscheint ihnen ohne Gefühl und ohne Leben, weil sie das, was nicht in der Natur ist, finden wollen.«" Der Roman bildet par excellence das Milieu der Perversion der ganzen Sensibilität. Er löst die Seele von allem, was es an Unmittelbarem und Natürlichem im Sensiblen gibt, um sie in eine imaginäre Welt der Gefühle zu ziehen, die um so heftiger sind, als sie irreal und weniger durch die zarten Naturgesetze geregelt sind: »Viele Autoren lassen eine große Lesermenge entstehen, und eine ununterbrochene Lektüre erzeugt die ganzen nervösen Krankheiten. Vielleicht ist von allen Ursachen, die der Gesundheit der Frauen geschadet haben, die Hauptursache die unendliche Vergrößerung der Zahl von Romanen seit hundert Jahren gewesen ( . . . ) . Ein Mädchen, das mit zehn Jahren liest, anstatt zu rennen, muß mit zwanzig Jahren eine Frau sein, die an vapeurs leidet, und keine gute Amme.« 15 Langsam und noch in diffuser Weise konstituiert das achtzehnte Jahrhundert um das Bewußtsein, das es vom Wahnsinn und seiner bedrohlichen Zunahme erhält, eine ganze neue Ordnung von Begriffen. In der Landschaft der Unvernunft, in die das siebzehnte Jahrhundert ihn gestellt hatte, verbarg der Wahnsinn einen Sinn und einen Ursprung, die auf dunkle Weise moralisch waren. Sein Geheimnis mach:e ihn mit dem Vergehen verwandt, und die Animalität, deren Bedrohlichkeit man in ihm bemerkte, ließ ihn paradoxerweise nicht unhuldiger werden. In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wird er nicht mehr in dem erkannt werden, worin der Mensch ,mer undenklichen Entartung oder einer unendlich präsenten Animatät nahegerückt wird. Man setzt den Wahnsinn dagegen in jene A b fände, die der Mensch gegenüber sich selbst, seiner Welt und all dem .innimmt, das sich ihm in der Unmittelbarkeit der Natur anbietet. Ï ;er Wahnsinn wird in jenem Milieu möglich, in dem sich die Beziemgcn des Menschen mit dem Wahrnehmbaren, mit der Zeit, mit in anderen Menschen verändern. Er wird durch all das möglich, was m Leben und Werden des Menschen Bruch mit dem Unmittelbaren !4 A. i.
O.. S. 37 f. •uses physiques et morales des maux de nerfs, in: Gazette tober 1768.
salutaire, N r . 40,
ist. Er gehört nidit mehr zur Ordnung der Natur oder des Sündenfalls, sondern zu einer neuen Ordnung, in der man beginnt, die Geschichte vorherzuahnen, und in der sich in einer dunklen ursprünglichen Verwandtschaft zwei Formen der aliénation, die »Geisteszerrüttung« der Ärzte und die »Entfremdung« der Philosophen bilden zwei Gestalten, in denen der Mensch auf jeden Fall seine Wahrheit verändert, zwischen denen aber das neunzehnte Jahrhundert nach Hegel schnell jede Spur von Ähnlichkeit hat verloren gehen lassen. Diese neue Art, den Wahnsinn durch die von den »durchdringenden Kräften« so determinierte Handlung zu begreifen, war ohne Zweifel entscheidend, ja ebenso entscheidend in der modernen Geschichte des Wahnsinns wie die spektakuläre Befreiung der in Bicêtre Angeketteten durch Pinel. Das Seltsame und Wichtige zugleich ist zunächst der negative Wert dieses Begriffs in diesem noch archaischen Stadium seiner Ausarbeitung. In den Analysen, die wir soeben evoziert haben, bezeichnen jene Kräfte nicht das in der Natur, was die Umgebung eines Lebenden konstituieren kann. Es ist auch nicht der O r t der Adaptionen, der wechselseitigen Einflüsse oder der Regulationen; und nicht einmal der Raum, in dem das Lebewesen seine Lebensnormen entfalten und durchsetzen kann. Die Gesamtheit dieser Kräfte ist, wenn man die Bedeutungen herauslöst, die jenes Denken des achtzehnten Jahrhunderts dort dunkel eingeschlossen hat, genau das, was sich im Kosmos der Natur entgegenstellt.' 6 Das Milieu erschüttert die Zeit in der Rückkehr ihrer Jahreszeiten, im Wechsel ihrer Tage und Nächte, es verändert das Wahrnehmbare und dessen ruhige Echos im Menschen durch die Vibrationen einer Sensibilität, die nur nach dem Mutwillen des Imaginären reguliert ist; es löst den Menschen von seinen unmittelbaren Befriedigungen, um ihn Interessengesetzen zu unterwerfen, die ihn daran hindern, der Stimme seiner Begierden zu folgen. Das Milieu beginnt dort, w o die Natur im Menschen zu sterben beginnt H a t nicht Rousseau bereits auf diese Weise gezeigt, wie die Natur endete und das menschliche Milieu sich in der kosmischen Katastrophi der zerschmetterten Kontinente einzurichten begann?' 7 Das Milieu 56 Darin trennen si A die ärztlichen Analysen v o n den Begriffen Buffons. Für ihn gehörten zu den durchdringenden Kräften sowohl das zur N a t u r Gehörige (Luf Himmel) als auch das davon Losgelöste (Gesellschaft, Epidemien). 57 Rousseau, Discours sur l'origine de l'inégalité in: ders., Œuvres, Paris iätj, Bd. 1, S. 553.
ist nicht die Positivität der Natur, wie sie dem Lebenden geboten wird; es ist dagegen jene Negativität, durch die die Natur in ihrer Fülle dem Lebenden entzogen ist. In dieser Zurückgezogenheit, in dieser Nicht-Natur setzt sidi etwas an die Stelle der Natur, das künstlidie Fülle, Welt der Illusion ist, worin sich die Antiphysis ankündigt. Nun erhält aber genau dort die Möglichkeit des Wahnsinns ihren vollen Umfang. Das siebzehnte Jahrhundert entdeckte ihn im Verlust der Wahrheit, einer völlig negativen Möglichkeit, in der allein jene Fähigkeit des Erwachens und der Aufmerksamkeit im Menschen in Frage stand, die nidit zur Natur, sondern zur Freiheit gehört. Das Ende des achtzehnten Jahrhunderts versucht, die Möglichkeit des Wahnsinns mit der Konstitution eines Milieus zu identifizieren: Der Wahnsinn ist die verlorene Natur, ist das vom Wege abgekommene Wahrnehmbare, die Verirrung der Begierde, die ihrer Maße beraubte Zeit, das ist die im Unendlichen der Vermittlungen verlorene Unmittelbarkeit. Angesichts dessen ist die Natur hingegen beseitigter Wahnsinn, die glückliche Rückkehr der Existenz zu ihrer nächsten Wahrheit: »Kommt, liebenswerte und sinnliche Frauen,« schreibt Beauchêne, »flieht künftig die Gefahren der falschen Lüste, der heftigen Leidenschaften, der Inaktivität und der Weichheit. Folgt euren iungen Gatten auf Feldzügen, bei Reisen. Besiegt sie im Lauf über zartes und blumengesdimücktes Gras. Kommt nach Paris zurück und -:ebt euren Gefährten das Beispiel der eurem Geschlecht angemessenen Übungen und Arbeiten. Liebt und erzieht vor allem eure Kinder, (hr werdet lernen, wie sehr dieses Vergnügen über den anderen steht, und daß dies das Glück ist, das die Natur für euch bestimmt hat. Ihr erdet langsam alt werden, wenn euer Leben rein sein wird.«' 8 i 'as Milieu spielt also eine beinahe umgekehrt symmetrische Rolle zu i!er. die einst die Animalität spielte. Es gab früher in der tauben Gecnwart des Tieres den Punkt, an dem der Wahnsinn in seiner Tolle;L in den Menschen einbrechen konnte. Der tiefste und letzte Punkt r natürlichen Existenz war zugleich der Punkt der Erregung der .èennatur. wobei die menschliche Natur selbst und unmittelbar ihre ene Gegennatur bildete. A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts
baren Leben des Tieres in dem Augenblick, da er sich ein Milieu bildet, entgeht. Das Tier kann nicht wahnsinnig sein, oder wenigstens ist es nicht die Animalität in ihm, die den Wahnsinn trägt." Deshalb darf man sich nicht wundern, daß die Primitiven von allen Menschen am wenigsten für den Wahnsinn disponiert sind: »In dieser Hinsicht ist die Ordnung der Landarbeiter dem Teil des Volkes überlegen, der die Handwerker stellt, aber unglücklicherweise liegt sie weit unterhalb dessen, was sie einst, in der Zeit, als man nur Ackerbau trieb, gewesen ist und was noch einige wilde Völkerschaften sind, die fast keine Übel kennen und nur an Unfällen und hohem Alter sterben.« Man kann noch die Bestätigung des Amerikaners Rush vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zitieren, der »unter den Indianern keinen einzigen Fall von Demenz finden (konnte) und unter ihnen nur wenige manisch Kranke und Melancholiker gefunden« hat60, oder die Bemerkung Humboldts, der nie »von einem einzigen Geisteskranken unter den wilden Indianern Südamerikas« hat sprechen hören.61 Der Wahnsinn ist möglich geworden durch all das, was das Milieu beim Menschen an animalischer Existenz hat unterdrükken können.62 Seitdem ist der Wahnsinn mit einer bestimmten Form des Werdens im Menschen verbunden. Solange er als kosmische oder animalische Bedrohung verspürt wurde, schlummerte er mit einer ununterbrochenen und unbeweglichen Gegenwart ausgestattet in der Umgebung des Menschen oder in den Nächten seines Herzens. Seine Kreise waren nur eine Wiederkehr, sein Hervorbrechen war einfaches Wiedererscheinen. Jetzt hat der Wahnsinn einen zeitlichen Ausgangspunkt, selbst 59 Der Wahnsinn der Tiere wird als eine Folge der Dressur oder des Lebens in Gesellschaft konzipiert (Melancholie der ihres Herren beraubten Hunde), oder auch als eine quasi höhere (menschliche) Eigenschaft. V g l . »Observation d'un chien imbécile par absence totale de sensorium commune«, in: Gazette salutaire Bd. 3 N r . 13, Mittwoch, 1 0 . 1 . 1 7 6 2 , S. 89-92. 60 Benjamin Rush, Médical Inquiries, 4 vols., Philadelphia 1809, Bd. 1, S. 19. ê i Zitiert bei Spurzheim, a. a. O., S. 183. 62 A n einer Stelle bei Raulin finden wir eine eigenartige Analyse des Auftauchen des Wahnsinns mit dem Obergang von tierischer Ernährungsweise zu menschlicher »Die Menschen entfernten sich in dem Maß von jener einfachen Lebensweise, in denn sie ihren Leidenschaften gehorchten. Unmerklich machten sie die schädliche Er' deckung von Nahrungsmitteln, die geschmackvoll waren. Sie nahmen sie an. Γ1 fatalen Entdeckungen haben sich allmählich vervielfacht, ihre Verwendung hat .1 Leidenschaften gesteigert. Die Leidenschaften haben Exzesse zur Folge gehabt, J' Luxus kam auf. Die Entdeckungen haben Mittel gebracht, sie zu unterhalten und au die Ebene zu heben, auf der sie sich noch heute befinden.« Raulin, a. a. O., S. 60 f.
wenn man ihn nur in einem mythischen Sinn hören soll. Er folgt einem linearen Vektor, der einen unendlichen Zuwachs anzeigt. Die Risiken, wahnsinnig zu werden, nehmen in dem Maße zu, wie das um den Menschen herum und von ihm konstituierte Milieu dichter und opaker wird. Die Zeit, gemäß der sich die Risiken aufteilen, wird eine offene Zeit, eine Zeit der Multiplikation und des "Wadisens. Der Wahnsinn wird also zur anderen Seite des Fortschritts. Die Zivilisation bietet, indem sie die Vermittlungen vervielfacht, dem Menschen unaufhörlich neue Gelegenheiten, wahnsinnig zu werden. Matthey resümiert nur das allgemeine Gefühl der Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, als er in der Epoche der Restauration schreibt: »Das tiefe Elend des gesellschaftlichen Menschen und seine zahlreichen Vergnügungen, seine sublimen Gedanken und seine Sittenverderbnis entstehen aus der Vorzüglichkeit seiner Natur selbst, aus seiner Perfektibilität und aus der unmäßigen Entwicklung seiner physischen und moralischen Fähigkeiten. Die Menge seiner Bedürfnisse, seiner Begierden, seiner Leidenschaften ist das Ergebnis der Zivilisation, der Quelle von Lastern und Tugenden, von Übel und Gutem. Im Herzen der Wonnen und der Fülle der Städte erheben sich die Seufzer des Elends, die Schreie der Verzweiflung und der Wut. Bicêtre, Bedlam bezeugen diese Wahrheit.«63 Zweifellos ist diese einfache Dialektik des Guten und des Übels, des Fortschritts und des Zerfalls, der Vernunft und der Unvernunft dem achtzehnten Jahrhundert sehr vertraut. Ihre Bedeutung ist jedoch in der Geschichte des Wahnsinns entscheidend gewesen, denn sie hat die zeitliche Perspektive, in der man gewöhnlich den Wahnsinn perzipierte, umgestoßen. Sie hat ihn in den unendlichen Ablauf einer Zeit gestellt, deren Ursprung fest und deren Ziel immer weiter fortgeschoben war. Sie hat den Wahnsinn für eine unumstößliche Dauer geöffnet, indem sie seine kosmischen Kreise zerbrach und ihn der Faszination durch die vergangene Sünde -ntriß. Sie versprach die Invasion der Welt durch den Wahnsinn, jedoch nicht mehr in der apokalyptischen Form des Triumphes des Wahnsinnigen wie im fünfzehnten Jahrhundert, sondern in der uiiunterbrodienen, sdiädlichen, fortschreitenden, nie in irgendeiner end''Itieen Gestalt fixierten Form, die sich durch das Altern der Welt h«r verjüngte. Man erfand bereits vor der Revolution eine der groHeimsuchungen des neunzehnten Jahrhunderts und gab ihr einen "ien. man nannte sie »die Degeneration«. tthev. Nouvelles recherches sur les maladies de l'esprit, S. 67.
Offensichtlich ist diese Idee von den Söhnen, die nicht mehr den Wert der Väter haben, und jenes Sehnen nach einer alten Weisheit, deren Geheimnisse im Wahnsinn der Zeitgenossen verloren gehen, eines der traditionellsten Themen der griechisch-römischen Kultur. Aber es handelt sich dabei wieder um eine moralische Idee, die weder Unterstützung noch Kritiker findet. Es ist keine Wahrnehmung, sondern eher eine Ablehnung der Geschichte. Im achtzehnten Jahrhundert dagegen erhält diese leere Dauer des Zerfalls langsam einen konkreten Inhalt. Man degeneriert nicht mehr, indem man der abschüssigen Bahn moralischer Verwahrlosung folgt, sondern indem man dem Kraftfeld eines menschlichen Milieus oder den Gesetzen körperlichen Erbes gehorcht. Also nicht mehr, weil er die Zeit vergessen hat, die als Gedächtnis des Unerinnerlichen aufgefaßt wird, degeneriert der Mensch, sondern weil in ihm im Gegenteil die Zeit immer träger, drängender und gegenwärtiger wird wie eine A r t materieller Erinnerung der Körper, die das Vergangene totalisiert und die Existenz von ihrer natürlichen Unmittelbarkeit löst: »Die Kinder spüren die Obel ihrer Väter in sich. Unsere Vorfahren haben damit angefangen, sich von der gesündesten A r t zu leben zu entfernen. Unsere Großväter wurden ein wenig schwächer geboren, sind weicher erzogen worden, haben noch schwächere Kinder als sie selbst gehabt, und wir, die vierte Generation, kennen die Stärke und die Gesundheit bei achtzigjährigen Greisen nur noch vom Hörensagen.«s-t In dem, was Tissot so die »Degeneration« nennt, gibt es nur wenig von dem, was das neunzehnte Jahrhundert als »Entartung« bezeichnen wird. Sie umfaßt noch keinen Artcharakter, keine Tendenz zu einer fatalen Rückkehr zu den rudimentären Formen des Lebens und der Organisation65; noch keine Hoffnung ist dem regenerierenden Individuum anvertraut. 66 Dennoch wird Morel in seinem Traité de la dégénérescence von der Lehre, die das achtzehnte Jahrhundert ihm überliefert hat, ausgehen. Für ihn, wie bereits für Tissot, degeneriert der
64 Causes physiques et morales des maux de nerfs, in: Gazette salutaire, 6. Oktober 1768. »Die lebende Materie steigt gradweise von einem höheren T y p zu immer niedrigeren Typen herab, von denen der letzte Schritt der zum anorganischen Zustand ist.* Bockel im Artikel »Dégénérescence« des Dictionnaire von Jaccoud. 66 »Es wird immer Individuen geben, die der erblichen Veränderung entgehen, und wenn man lediglich diese benutzte, um die A r t fortzusetzen, wird sie den Schicksalsstrom aufwärts steigen.« Prosper Lucas, Traité physiologique et philosophique de l'hérédité naturelle, Paris 1847.
Mensch von einem primitiven T y p her1'7, und dies nidit unter der Wirkung einer spontanen Degradation, einer der lebenden Materie eigenen Schwere, sondern viel wahrscheinlicher unter »dem Einfluß der gesellschaftlichen Institutionen, die nicht in Übereinstimmung mit der Natur sind«68. Von Tissot bis Morel wiederholt sidi die gleiche Lektion, die dem menschlichen Milieu die Kraft zur Geisteszerrütung verleiht, in der man nur die Erinnerung all dessen zu sehen braucht, was in ihr die Natur vermittelt. Der Wahnsinn und all seine Kräfte, die die Zeitalter vervielfachen, liegen nicht im Menschen selbst, sondern in seinem Milieu. Wir sind dabei genau an dem Punkt, an dem ein philosophisches Thema des Hegelianismus (die Entfremdung steht in der Bewegung der Vermittlungen) und das biologische Thema, das Bithat formuliert hat, als er sagte, daß »alles, was die lebenden Wesen umgibt, sie zu zerstören trachtet«, verwechselt werden. Der Tod des Individuums liegt außerhalb seiner selbst wie sein Wahnsinn, wie seine Entfremdung (aliénation). In der Exteriorität und in der lastenden Erinnerung der Dinge kommt der Mensch zum Verlust seiner Wahrheit. Und wie soll man sie wiederfinden, wenn nicht in einer anderen Erinnerung? Einer Erinnerung, die nur die Versöhnung in der Innerlichkeit des Denkens oder das totale Untertauchen und der Bruch in Richtung des Absoluten der Zeit, in Richtung der unmittelbaren Jugend der Barbarei sein kann: »Entweder ein vernünftiges Benehmen, das man nicht erhoffen kann, oder einige Jahrhunderte Barbarei, die man nicht einmal zu wünschen wagt.« 6 ' In dieser Reflexion des Wahnsinns 70 und in dieser noch dunklen Erarbeitung des Milieubegriffs antizipiert das achtzehnte Jahrhundert auf eigenartige Weise das, was in der darauffolgenden Epoche zu 67 »Die Existenz eines ursprünglichen Typs, den der menschliche Geist sich als Meisterwerk und Gipfelpunkt der Schöpfung vorzustellen pflegt, ist eine unserem Glauben so konforme Tatsache, daß die Idee einer Entartung untrennbar mit der Vorstellung einer Abweichung von diesem ursprünglichen T y p verbunden ist, der in sidi die Elemente zur Fortsetzung der A r t birgt.« Benedict Morel, Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de Vespèce humaine, Paris 1857, S. 1 f. 68 Vgl. bei Morel, a. a. O., S. j o f. das Bild des Kampfes zwischen dem Individuum und »der künstlichen Natur, die ihm die gesellschaftliche Rolle auferlegt, in der sich 'eine Existenz vollzieht«. 6o Causes physiques et morales des maux de nerfs, in : Gazette salutaire, 6. Oktober '768. Nr. 40. 70 Buffon spricht auch von Degeneration im Sinne einer allgemeinen Schwächung der Natur (a. a. O., S. 120 f.) oder einer Schwächung der Individuen, die von ihrer Art degenerieren (a. a. O., S. 31 r).
den richtungweisenden Themen der Reflexion über den Menschen werden sollte, und es schlägt in einem unbestimmten Licht, an den Grenzen der Medizin und der Philosophie, der Psychologie und der Geschichte, mit einer Naivität, deren Doppeldeutigkeit die ganze Unruhe des neunzehnten Jahrhunderts und des unseren nicht wird auflösen können, einen sehr rudimentären Begriff der Entfremdung (aliénation) vor, der das menschliche Milieu als Negativität des Menschen zu definieren und in ihm das konkrete Apriori jedes möglichen Wahnsinns wiederzuerkennen gestattet. Der Wahnsinn ist so in größter Nähe und in größter Entfernung vom Menschen untergebracht: hier, wo er haust, aber auch dort, wo er sich verliert, in dieser eigenartigen Heimat, in der seine Residenz zugleich das ist, was ihn beseitigt, die vollendete Fülle seiner Wahrheit und die unaufhörliche Arbeit seines Nichtseins. Dann tritt der Wahnsinn in einen neuen Kreis ein. Er ist jetzt von der Unvernunft losgelöst, die lange Zeit bleiben wird, als streng poetische oder philosophische Erfahrung, die von de Sade bis Hölderlin, bis Nerval und bis Nietzsche wiederholt wird, das reine Eintauchen in eine Sprache, die die Geschichte aufhebt und an der empfindlichsten Oberfläche des Wahrnehmbaren die Bedrohung einer unerinnerlichen Wahrheit schimmern läßt. Der Wahnsinn wird für das neunzehnte Jahrhundert einen ganz anderen Sinn haben und wird durch seine Natur und in allem, was ihn der Natur gegenüberstellt, der Geschichte ganz nahe sein. Wir gewinnen leicht den Eindruck, daß die positivistische Auffassung vom Wahnsinn physiologisch, naturalistisch und antihistorisch ist71 und daß es der Psychoanalyse, der Soziologie nicht mehr und nicht weniger als der »Kulturpsychologie« bedurfte, um die Verbindung, die die Pathologie der Geschichte insgeheim mit der Geschichte haben kann, an den Tag zu bringen. In der T a t war es eine am Ende des achtzehnten Jahrhunderts klar herausgekehrte Sache: der Wahnsinn war seit dieser Epoche in das zeitliche Schicksal des Menschen eingeschrieben. Er w a r sogar die Konsequenz dessen und das Lösegeld dafür, daß der Mensch, im Gegensatz zum Tier, eine Geschichte hat. Der in einer außerordentlichen Doppeldeutigkeit des Sinnes geschrieben hat, daß »die Geschichte des Wahnsinns das Gegenstück der Geschieht 71 Die positivistische Biologie strenger Obödienz ist in der T a t präformatlonistisdi während der v o n evolutionären Ideen durchsetzte Positivismus viel später erschienet, ist.
der Vernunft ist«, hatte weder Janet, noch Freud, noch Brunschvicg gelesen. Er war ein Zeitgenosse Claude Bernards und stellte folgende evidente Gleichung auf: »Je nach der Zeit gibt es eine entsprechende Art geistiger Erkrankung.« 71 Keine Epoche wird wahrscheinlich ein schärferes Bewußtsein jener historischen Relativität des Wahnsinns haben als die ersten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts: »Wieviel Kontaktstellen«, sagte Pinel, »hat in dieser Hinsicht die Medizin mit der Geschichte der Menschen.«73 Und er beglückwünschte sich, die Gelegenheit zum Studium der Geisteskrankheiten in einer so günstigen Zeit wie der Französischen Revolution gehabt zu haben, einer Epoche, die besonders günstig für jene »heftigen Leidenschaften« war, die »der gewöhnlichste Ursprung der Geisteszerrüttung« sind. »Gibt es eine günstigere Epoche als die Stürme einer Revolution, die stets zur hochgradigen Exaltation der menschlichen Leidenschaften oder vielmehr der Manie in allen ihren Formen geeignet« ist74, um ihre Wirkungen zu beobachten? Lange Zeit wird die französische Medizin in den folgenden Generationen nach den Spuren von 1793 suchen, als hätten die heftigen Ereignisse der Geschichte und ihr Wahnsinn sich in der schweigenden Zeit der Erbfolge niedergeschlagen: »Kein Zweifel besteht, daß während der Revolution die Periode der Terreur einigen Personen zum Verhängnis wurde, und das bereits im Mutterleib ( . . . ) . Die Menschen, die diese Ursache für den Wahnsinn prädisponiert hat, stammen aus den Provinzen, die am längsten von den Schrecken des Krieges heimgesucht wurden.« 73 Der Begriff des Wahnsinns, so wie er im neunzehnten Jahrhundert besteht, hat sich innerhalb eines historischen Bewußtseins gebildet und zwar auf zwei Arten: zunächst, feil der Wahnsinn in seiner ständigen Akzeleration gewissermaßen eine Ableitung der Geschichte bildet; und weil seine Formen dann von den Gestalten des Werdens selbst determiniert werden. Relativ zur Zeit und wesentlich für die Zeitlichkeit des Menschen, so erscheint uns der Wahnsinn, wie er damals erkannt oder wenigstens verspürt vird, und zwar im Grunde in viel tieferem Maße historisch, als er es noch heute für uns ist. indessen wird diese Beziehung zur Geschichte schnell vergessen werden. Freud wird ihn - mit Mühe und in einer vielleicht nicht radikalen Weise - vom Evolutionismus losmachen. Denn im Laufe des neunMichéa im Artikel »Démonomanie« im Dictionnaire v o n Jaccoud, Bd. 11, S. 125. -» Pinel, Traité médico-philosophique, Introduction, S. X X I I . îi A.a.O.,S.XXX. 7î Esquirol, Des maladies mentales, Bd. 2, S. 302.
zehnten Jahrhunderts wird er in eine gleichzeitig gesellschaftliche und moralische Auffassung, durch die er sich völlig verraten sehen wird, hineingestürzt sein. Der Wahnsinn wird nicht mehr als das Gegenstück zur Geschichte perzipiert werden, sondern als die Kehrseite der Gesellschaft. Sogar im Werk Morels erfaßt man sehr klar diese Umkehrung der historischen Analyse in eine Gesellschaftskritik, die den Wahnsinn aus der Geschichtsbewegung vertreibt, um daraus ein Hindernis für seine glückliche Entwicklung und seine Versprechungen einer Versöhnung zu machen. Das Elend, nicht wie im achtzehnten Jahrhundert der Reichtum und der Fortschritt, bildet für ihn das günstige Milieu für die Ausbreitung des Wahnsinns: »Gefährliche oder unsaubere Berufe, Wohnungen in ungesunden Zentren«, verschiedene Vergiftungen; »wenn man jetzt zu diesen allgemeinen schlechten Bedingungen den stark demoralisierenden Einfluß des Elends, die fehlende Schulbildung, den Mangel an Vorsorge, den Mißbrauch alkoholischer Getränke und übertriebenen Geschlechtsverkehr, die ungenügende Ernährung hinzunimmt, hat man eine Vorstellung von den komplexen Umständen, die darauf abzielen, auf ungünstige Art die Temperamente der armen Klasse zu verändern.« 76 So entgeht der Wahnsinn dem historisdi Möglichen im Werden des Menschen, um einen Sinn in der gesellschaftlichen Moral anzunehmen. Er wird zum Stigma einer Klasse, die die Formen der bürgerlichen Ethik aufge geben hat. Zu dem Zeitpunkt, als der philosophische Begriff der Eni fremdung (aliénation) durdi die ökonomische Analyse der Arbeii eine historische Bedeutung annimmt, befreit sich der medizinische und psychologische Begriff der Entfremdung (aliénation) völlig vor der Geschichte, um Moralkritik im Namen des in Frage gestellte" Heils der menschlichen A r t zu werden. Mit einem Wort, die Angst vi dem Wahnsinn, die für das achtzehnte Jahrhundert die Furcht vor den Folgen des eigenen Werdens war, transformiert sich nach un nach im neunzehnten Jahrhundert so weit, daß sie zur Angst vor Ji Widersprüchen wird, die jedoch allein die Aufrechterhaltung sein Strukturen sichern können. Der Wahnsinn ist zur paradoxen Bedi gung des Fortbestandes der bürgerlichen Ordnung geworden, dei äußere unmittelbarste Bedrohung er gleichzeitig bildet. Man perzipi ihn also zugleich als unermeßliche Entartung, da er die Bedingung d biirgerlidien Vernunft ist, und als kontingentes, für die Prinzipien. Moral und der Religion akzidentelles Vergessen, weil man bei . γ6 More!, a. a. O., S. 50.
Beurteilung das, was sich als unmittelbarer Widerspruch einer Ordnung, deren Ende man nicht absehen kann, ergibt, verharmlosen muß. So schläft gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts jenes historische Bewußtsein vom Wahnsinn ein, das lange Zeit in der Epoche des »militanten Positivismus« wachgehalten worden ist. Dieser Gang durch die Geschichte, so oberflächlich und vergessen er auch sein mochte, ist um so entscheidender für die Erfahrung mit dem Wahnsinn, so wie sie im neunzehnten Jahrhundert gemacht worden ist. Der Mensch richtet darin eine neue Beziehung zum Wahnsinn ein, die in bestimmtem Sinne unmittelbarer und auch äußerlicher ist. In der klassischen Erfahrung kommunizierte der Mensch mit dem Wahnsinn auf dem Wege des Irrtums, das heißt, daß das Bewußtsein vom Wahnsinn notwendig eine Erfahrung mit der Wahrheit implizierte. Der Wahnsinn war der Irrtum par exellence, war der absolute Verlust der Wahrheit. A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts sieht man, wie sich die allgemeinen Linien einer neuen Erfahrung abzeichnen, in der der Mensch im Wahnsinn nicht die Wahrheit verliert, sondern seine Wahrheit. Nicht mehr die Gesetze der Welt entgehen ihm, sondern er selbst entzieht sich den Gesetzen seines eigenen We'ens. Tissot evoziert diese Entwicklung des Wahnsinns am Ende des achtzehnten Jahrhunderts als ein Vergessen dessen seitens des Men'chen, was seine unmittelbarere Wahrheit ausmacht. Die Menschen nahmen »Zuflucht zu künstlichen Vergnügungen, von denen mehrere nur eine besondere, den natürlichen Bräuchen entgegengesetzte Seinsirt sind, und deren Bizarrerie ihr ganzes Verdienst ausmacht; sie ist rur diejenigen ein wirkliches Vergnügen, die sie dem unangenehmen 'icfühl einer leeren Erregung entziehen kann, einem Gefühl, das kein Mensch ertragen kann und das bewirkt, daß alles, was uns umgibt, as teuer ist. Daher rührt wahrscheinlich der erste Ursprung des Luis. der lediglich das Zubehör einer Vielzahl überflüssiger Dinge ist .). Dieser Zustand ist der eines Hypochonders, der einer großen Z-.hl Heilmittel bedarf, um zufrieden zu sein, und der sehr unglückh ist.-77 Im Wahnsinn ist der Mensch von seiner Wahrheit getrennt •i in die unmittelbare Gegenwart einer Umgebung, in der er selbst verliert, verbannt. Als der Mensch der klassischen Epoche die Srheit verlor, tat er es, weil er in jene unmittelbare Existenz zugeworfen wurde, in der seine Animalität zur gleichen Zeit, als se primitive Hinfälligkeit, die ihn als ursprünglich schuldig zeigte, "
Tüiot. Observations sur la santé des gens du monde, "Lausanne 1770, S. 11 f.
erschien, sich in Tollheit umsetzte. Wenn man jetzt von einem wahnsinnigen Menschen sprechen wird, bezeichnet man denjenigen, der das Gebiet seiner unmittelbaren Wahrheit verlassen und sich selbst verloren hat.
ζ. Kapitel
Die neue Trennung Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts hat sidi auf Seiten des Wahnsinns etwas bewegt. Es gab zunächst jene Angst, die die Unvernunft mit den alten Heimsuchungen in Verbindung zu bringen und ihr eine Präsenz wiederzugeben scheint, die die Internierung, wenigstens annähernd, zu nehmen vermocht hatte. Darüber hinaus vollzieht sich dort, wo man den Wahnsinn zur Ruhe gebracht hatte, im homogenen Raum der Unvernunft eine langsame, sehr dunkle, kaum formulierte Arbeit, von der man lediglich die Oberflächenwirkungen wahrnimmt. Ein tiefer Stoß läßt den Wahnsinn von neuem erscheinen, der so Tendenz hat, sich zu isolieren und sich für sich selbst zu definieren. Es erweist sich, daß die neue Angst des achtzehnten Jahrhunderts keine nichtige Heimsuchung ist. Der Wahnsinn'tritt erneut in einer konfusen Präsenz, die jedoch die Abstraktion der Internierung wiederum problematisiert, in Erscheinung. Man wird nicht müde zu wiederholen, daß der Wahnsinn zunimmt. Es ist schwierig, mit Sicherheit festzustellen, ob die Zahl der Wahnsinnigen tatsächlich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts gewachsen ist, das heißt in einem größeren Verhältnis als die Gesamtheit der Bevölkerung. Diese Zahl wird für uns erst von Internierungsziffern her wahrnehmbar, die nicht notwendig repräsentativ sein müssen, sowohl weil die Motivation der Internierung oft dunkel bleibt, als auch weil die Zahl derer immer größer ist, die man als Irre anerkennt, die zu internieren man aber verzichtet. Einige numerische Fakten sind immerhin sicher. Wenn man die Ziffern vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts mit denen vom Beginn der Revolution vergleicht, erkennt man eine massive Zunahme. Die Salpêtrière zählte 3059 Personen im Jahre 1690; hundert Jahre später gibt es mehr als doppelt so viele: 6074, wenn man der Zählung von La Rochefoucauld-Liancourt für den Bericht, der dem Bettelkomitee vorgelegt wurde, folgt. 78 Für Bicêtre ist das Verhältnis das gleiche; etwas weniger als 2000 Internierte im sieb78 La Rochefoucauld-Liancourt, Rapport an Comité de mendicité, Procès verbal de l'Assemblée Nationale, Bd. 44, S. 85.
zehnten Jahrhundert, zur Zeit der Revolution 3874." In manchen Ordenshäusern ist die Zunahme noch beträchtlicher. A l s die Barmherzigen Brüder 1665 in Senlis das Internierungsgebäude der Charité eröffnen, haben sie vier Plätze vorgesehen; 1780 gibt es 91, von denen 67 wirklich besetzt sind8"; in Château-Thierry gab es zunächst wenige Plätze, im Jahre 1783 dann 30 Insassen.81 Aber damit sie ihre wirkliche Bedeutung erscheinen lassen, müssen diese Ziffern in ihrer ganzen Entwicklungskurve verfolgt werden. Man muß der Periode der Internierung, die sich ungefähr von 1680 bis 1720 ausdehnt und während derer ein schnelles Anwachsen zu verzeichnen ist, das sich in viel stärkerem M a ß vollzieht als das des Bevölkerungszuwachses, Rechnung tragen. Wenn man aber allein die 70 Jahre, die der Revolution vorangehen, betrachtet, bleiben die Zahlen erstaunlich fest, was um so paradoxer ist, als die demographische Entwicklungskurve auf spürbare Weise während der gleichen Zeit einen beschleunigten Zuwachs ausweist. Es scheint sogar, daß die Zahl der Internierungen langsam ein Maximum erreicht, das um 1770 liegt, weil sie in den Jahren unmittelbar vor der Revolution wieder abnimmt. A m 1. Januar 1770 gab es 40 j 2 Internierte in Bicêtre, am 1. Januar 1772 4277 Internierte, 1774 waren es 3938 und 1776 3668. A l s der Ökonom Tristan den Bestand am 9. April 1779 feststellt, gibt es nicht mehr als 3$I8. 82 In Saint-Lazare, w o man 1733 62 Insassen, 1736 72 zählen konnte, wurde das Maximum 1776 mit 77 Personen erreicht. A m 29. Oktober 1788 aber gibt es nur noch 40. Château-Thierry hat am Vorabend der Revolution nicht mehr als 2 j Insassen. Diese Fluktuationen zeigen zur Genüge, daß das Internierungsregime der demographischen K u r v e nicht treu folgt. Mit Sicherheit haben andere Einflüsse eine Rolle gespielt: das Elend und die strengen Repressionen in den letzten Jahren der Regierung Ludwig X V . haben die Ziffern aufgebläht; eine gewisse ökonomische Erholung hingegen, der Krieg in Amerika, die durch Breteuil erfolgten Restriktionen bei der Ausstellung von lettres de cachet und bei den Internierungspraktiken haben diese Asylbevölkerung vermindert. 79 A . a. O., S. 38. Die Gazette nationale v o m 21. Dezember 1789, N r . 121, nennt die Zahl 4094. Diese Abweichungen entstehen oft dadurch, daß man die Angestellten mitzählt. Oft sind die Angestellten Internierte. In Bicêtre sind 1789 435 Internierte mit kleinen Aufgaben betraut und dementsprechend in den Registern erwähnt. 80 Hélène Bonnafous-Sérieux, La Charité de Senlis, Paris 1936, S. 23. 81 René Tardif, La Charité de Château-Thierry, Paris 1939, S. z6. 82 Aufstellung von Tristan, dem Ökonomen in Bicêtre. Vgl. Bibliothèque Natio nale, Collection Joly de Fleury, Ms. 123 j , f ° 238.
In dem Maße, in dem man ohne große Gefahr, sich zu irren, Zahlen bestimmen kann, scheint es, daß die Zahl der Irren einer ziemlich eigenartigen Kurve folgt: weder der der Demographie, noch völlig der der Internierung. Für die ersten Jahre der Salpêtrière erhält man, wenn man die Gesamtzahl der in den Quartieren der Magdeleine, von Saint-Levèze, von Saint-Hilaire, von Sainte-Catherine, von Sainte-Elizabeth, ebenso wie der in den Kerkern eingeschlossenen Frauen berechnet, die Zahl von 479 Personen, von denen man grob sagen kann, daß sie für geisteskrank gehalten wurden.®3 Als Tenon 1787 seine Untersuchungen anstellen läßt, findet er 600 geisteskranke Frauen, La Rochefoucauld-Liancourt kommt auf 550. In Bicêtre verläuft die Bewegung ungefähr in der gleichen Größenordnung; 1726 gibt es 132 »Irre, Gewalttätige und Unzurechnungsfähige«; 1789 findet man in dem für die Irren reservierten Quartier in Saint-Prix 187 Männer eingeschlossen.84 1788 ist der Höhepunkt erreicht: 110 Neuzugänge von Geisteskranken im Jahre 1784, 127 im Jahre 1786, 151 im Jahre 1788, dann für die darauffolgenden Jahre 132, 103, 92 Eingänge.8·» Wir beobachten also ein ziemlich langsames Ansteigen der Zahl der Irren — wenigstens der unter den Internierten als Irre anerkannten und etikettierten-während des ganzen Jahrhunderts; einen Verlauf über den Höhepunkt um die Jahre 1785-1788, und dann einen brutalen Zusammenbruch seit dem Beginn der Revolution. Die Entwicklung dieser Kurve bleibt ziemlich eigenartig, nicht nur, weil sie der Entwicklung der Internierung und dem Anwachsen der Bevölkerung nicht genau folgt, sondern weil sie auch dem schnellen Ansteigen des Schreckens, den im achtzehnten Jahrhundet alle Formen von Wahnsinn und Unvernunft hervorgerufen haben, kaum zu entsprechen scheint. Wahrscheinlich darf man diese Ziffern nicht als isolierte Gegebenheit betrachten; es ist wahrscheinlich, daß das Bewußtsein eines Anwachsens des Wahnsinns nicht mit der Intensität der Internierungsmaßnahmen verbunden war, sondern daß es eher von der Zahl der Irren, die nicht eingeschlossen waren und die eine Mischung aus Sorglosigkeit und Nachlässigkeit frei herumlaufen ließ, abhing. Die Entdeckung der »vapeurs«, der Nervenkrankheiten, die Bedeutung, die die hysterischen und hypochondrischen Anfälle an83 Diese Unterkünfte sind nämlich reserviert für infantile und geistesschwache Frauen, für Irre, die gewalttätig sind, und für solche, die ihre Anfälle in Intervallen bekommen. Gazette nationale, 21. Dezember 1789, N r . 121.
nahmen, haben mehr für diese Angst getan als die Internierung. Was der Entwicklungskurve der Irren aber vielleicht ihren besonderen Stil gegeben hat, ist das Hinzukommen eines neuen Faktums, das die relative Stagnation der Zahlen erklärt, wenn man sie mit dem raschen Aufflammen der Angst, das ihr gleichzeitig ist, vergleicht. Was auf diesen Ziffern gelastet hat und unter Wahrung aller Proportionen die Zahl der in den alten Asylen eingeschlossenen Irren vermindert hat, ist die in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erfolgte Eröffnung einer ganzen Reihe von Häusern, die ausschließlich dazu bestimmt waren, Geisteskranke aufzunehmen. Das ist ein ebenso plötzliches Phänomen wie die große Gefangenschaft des siebzehnten Jahrhunderts, ist aber noch mehr als jenes unbemerkt geblieben. Es ist jedoch von wesentlicher Bedeutung. Bereits 1695 hatte man in A i x ein Spital für die Geisteskranken eröffnet, jedoch unter der Bedingung, daß sie gefährlich und toll seien, was zur Genüge den rein repressiven Charakter auch dieser Institution anzeigt. 8 ' Im achtzehnten Jahrhundert aber beginnt die Internierung in strikt für Irre reservierten Häusern sich regulär zu vollziehen. Die Brüder de Picpus haben ein Haus dieser A r t in »Fontaine, campagne de Lyon«, die Observantins in Manosque, die Filles de la Providence in Saumur.86 In Paris wurden ungefähr 20 private Häuser eröffnet, und zwar fast alle in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts; bestimmte sind ziemlich wichtig, wie zum Beispiel die berühmte Pension Belhomme, die 33 Personen aufnehmen kann, ebenso wie das Haus Bouquelon; die Pension Sainte-Colombe nimmt 28 Insassen auf, die Pension Laignel 29, die Häuser Douai und Du Guerrois ungefähr 20 Personen.87 Die Petites-Maisons entwickeln sich zum Spital für Irre par excellence; es kommt oft vor, daß Bicêtre oder die Salpêtrière versuchen, sich ihrer mit dem Argument zu entledigen, daß die PetitesMaisons für die Geisteskranken besser geeignet seien.88 Das ist eine 85 Règlement de l'hôpital des insensés de la ville d'Aix, A i x 1695, Artikel X V I I : »Aufgenommen werden die in der Stadt geborenen oder daselbst seit fünf Jahren wohnenden Irren.« Artikel X V I I I : »Nur diejenigen werden dort aufgenommen, die anderenfalls öffentlich Unordnung anrichten könnten.« Artikel X X V I I : »Die einfachen Toren, Harmlose und Imbezile werden nidit zugelassen.« 86 Jacques René Tenon, Mémoires sur les hôpitaux de Paris, Paris 1788, II, S. 228 f. 87 Tenon, a. a. Ο., II, S. 70 f. und 91, hat die vollständige Liste zusammengestellt. 88 Der Ökonom von Bicêtre sdireibt am 1. April 1746 an Joly de Fleury: »Solange dieser Imbezile in diesem Zustand sein wird, kann man nidit hoffen, daß er je seinen Verstand wiedererlangt. Eher ist ein solches Elend (wie in Bicêtre) geeignet, seine Imbezillität zu verstärken und unheilbar werden zu lassen. In den Petites-Maisoni
völlig neue Gegebenheit im Vergleich mit dem siebzehnten Jahrhundert; es gibt eine beachtliche Anzahl Geisteskranker, die 50 Jahre früher in den großen Internierungshäusern eingeschlossen worden wären und jetzt ein Asyl finden, das ihnen allein gehört. Das kann teilweise erklären, warum ihre Zahl in einem so schwachen Verhältnis gewachsen ist, wenn man allein nach den Anstalten urteilt, in denen sie sich bereits im siebzehnten Jahrhundert befanden. Das Phänomen ist jedoch mehr als durch seine quantitativen Merkmale deshalb wichtig, weil es neue Bedeutungen enthält. Man kann in der Tat in ganz Europa das gleiche beobachten. Sehr plötzlich beginnt man wieder mit den alten Internierungspraktiken für die Geisteskranken, die man bereits in der Renaissance angewandt hat; 1728 wird zum Beispiel das alte Dollhaus in Frankfurt wieder instand gesetzt.89 Andererseits entstehen zahlreiche Privathäuser in Deutschland; bei Bremen, in Rockwinckel, wird 1764 eine Pension eröffnet, die von einem Holländer geführt wird. 1784 wird das Irrenhaus in Brieg in Schleswig gegründet, das 50 Geisteskranke aufnehmen kann. Die Irrenanstalt des Heiligen Georg wird 1791 in Bayreuth eröffnet. Wo man keine getrennten Spitäler für die Irren baut, räumt man ihnen einen Platz abseits in denen ein, die bereits bestehen; in Würzburg dekretiert im Mai 1743 der Fürst-Bischof von Schönborn, daß die delirantes et simul furiosi Untertanen in einem Spezialquartier des Julius-Spitals untergebracht werden, während die placidi delirantes et non furiosi in den Distriktinternierungshäusern bleiben sollen.50 In Wien öffnet man eines der bedeutendsten Irrenhäuser Europas, das 129 Personen aufnehmen kann.' 1 In England entstehen nach und nach das Lunatic Hospital in Manchester, dann das in Liverpool, während man das Lunatic Ward of Guy's Hospital' 1 , dann im Jahre 1777 das berühmte Spital in Y o r k eröffnet, gegen das Tuke und seine Quäker eine Kampagne starten werden, nicht weil es den Bodensatz einer Vergangenheit, die man vergessen wollte, darstellte, sondern weil es im Gegenteil in dem Maße, hätte er mehr Hoffnung, wenn er dort besser untergebracht und ernährt würde.« Bibliothèque Nationale, Collection Joly de Fleury, Ms. 1238, f ° 60. 89 Laehr, Gedenktage der Psychiatrie, S. 344. "o Vgl. Sérieux, »Notice historique sur le développement de l'assitance des aliénés en Allemagne«, in: Archives de Neurologie, Bd. 2 (Nov. 1895), S. 353 f. 01 Laehr, a. a. O., S. 11 j . •>2 Daniel Tuke, Chapters in the History of the Insane in the British Isles, London i 882. Appendix C, S. 514.
in dem es, weil es ganz neu geschaffen worden war, besser als jedes andere ein bestimmtes Bewußtsein, das man vom Wahnsinn hatte, und einen Status, den man ihm gab, manifestierte. Aber die bedeutendste all dieser Schöpfungen ist zweifellos dasSt.-Luke-Hospital.Man hatte 1782 damit begonnen, es wiederzuerbauen, und es war für 220 Personen vorgesehen. Als Tenon es fünf Jahre später besichtigte, war es noch nidit fertiggestellt. Es barg 130 Geisteskranke; »um darin aufgenommen zu werden, muß man arm und entschieden maniakalisdi sein, darf die Krankheit erst seit einem Jahr bestehen, darf man bisher in keinem andern Narrenspital behandelt worden sein. Kein Imbeziler oder an einer konvulsiven Krankheit Leidender oder Geschlechtskranker oder geistesschwacher Alter, keine schwangeren Frauen und Podienkranke werden zugelassen.« Wenn sich eine dieser Krankheiten herausstellt, wird der Insasse sofort entlassen.®3 Man ist versucht, diese neuen Einrichtungen in die Nähe der Gesamtheit der Reformtheorien zu rücken, die über Tuke, Pinel und Reil bis zur Einrichtung der großen Asyle des neunzehnten Jahrhunderts führen. Tatsächlich verhindert ein sehr einfacher, chronologischer Grund, daß man diese Schöpfungen des achtzehnten Jahrhunderts zu der Reformbewegung zählt. Die hauptsächlichen Texte, die für die Irren einen medizinischen Status oder wenigstens eine bessere Behandlung verlangen, werden nicht lange vor der Revolution verfaßt: die Instruktion von Doublet und von Colombier stammt erst von 1785; Tenon redigiert 1787 seinen Plan eines Spitals für die Geisteskranken. Das Hineingleiten in die Institutionen ist der ganzen theoretischen Anstrengung, die internierten Irren als heilbare Kranke zu betrachten, weit vorausgegangen. Übrigens sind die neuen Spitäler, die nach und nach eröffnet werden, in ihrer Struktur kaum von denen unterschieden, die ein Jahrhundert zuvor eingerichtet worden waren. Die juristischen Bedingungen der Internierung haben sidi nicht geändert, und die neuen Hospitäler lassen, da sie insbesondere für die Geisteskranken gedacht sind, für die Medizin kaum mehr Platz. St.-Luke ist kein »Fortschritt« im Vergleich zu Bedlam; die Dauer der »Behandlung« wird in den Statuten auf ein Jahr festgesetzt. Wenn am Ende dieser Frist kein befriedigendes Ergebnis eingetreten ist, schickt man die Insassen fort, aber diese Behandlung selbst gehört zu den vagesten: »Man behandelt nach den Indikatio-
93 Tenon, »Journal d'Observations sur les principaux hôpitaux et prisons d'Angleterre«, in: ders., Mémoires sur les hôpitaux, III, f o ï 1 1 - 1 6 .
nen, die sich anbieten und die günstigsten zu sein scheinen. Man stellt die unterdrückten Ausleerungen wieder her und hält den Bauch sorgfältig leer. Wenn sie krank sind, überführt man die Geisteskranken in die K r a n k e n s t a t i o n . D i e anderen Häuser, die wir genannt haben, sind nicht ärztlicher als St.-Luke"; besonders in Paris läßt keine der 20 Privatpensionen die Anwesenheit oder nur den Besuch eines Arztes Das Wesentliche an der Bewegung, die im Begriff ist, sich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zu vollenden, liegt also nicht in der Reform der Institutionen oder ihrer geistigen Erneuerung, sondern in jenem spontanen Gleiten, das speziell für Irre gedachte Asyle bestimmt und isoliert. Der Wahnsinn hat den Kreis der Internierung nicht durchbrochen, aber er ändert seinen Stellenwert und nimmt langsam seine Distanzen ein. Man könnte von einer neuen Ausschließung im Innern der alten sprechen, als habe es dieses neuen Exils bedurft, damit der Wahnsinn schließlich einen Aufenthaltsort findet und auf gleicher Ebene mit sich selbst steht. Der Wahnsinn hat eine ihm eigene Heimat gefunden: ein kaum wahrnehmbares Abrükken, in solchem Maße bleibt die neue Internierung dem Stil der alten treu, ein Abrücken, das aber zeigt, daß etwas Wesentliches sich gerade ereignet, das den Wahnsinn isoliert und beginnt, ihn autonom werden zu lassen gegenüber der Unvernunft, in die er sich bisher konfus gemischt fand. Welcher Natur ist dieser Aufenthalt, der anders und dennoch immer der gleiche ist? Wie hat der Wahnsinn sich somit auf solche Art in Abstand gesetzt finden können, daß er jetzt zwischen der Mitte der homogenen Unvernunft und jenem neuen Ort, an dem er mit sich selbst äquivalent gemacht wird, aus der Schwerpunktlinie gebracht ist? Diese Bewegung ist sicher der Erneuerung der Angst, die ihr gleichzeitig ist, nicht fremd. Aber es wäre recht willkürlich, dabei bestimmen zu wollen, was Ursache und was Wirkung ist. Werden die Geisteskranken deshalb, weil man beginnt, vor ihnen Angst zu haben, 94 Ebda. 95 Eine Ausnahme gab es jedoch, wenn diese auch von selbst ihren experimentellen Charakter bewies. Der Herzog von Braunschweig läßt 1749 eine Vorschrift veröffentlichen, in der es heißt: »Es gibt Beispiele, die zeigen, daß durch Intervention der Medizin und andere nützliche Maßnahmen die Heilung von Wahnsinnigen gelungen ist.« Deshalb soll ein A r z t zweimal wöchentlich die Irren aufsuchen, die sich in den Hospitälern der Stadt befinden, w o f ü r er bei jeder Heilung » j Thaler« erhält. Vgl. Sérieux, a. a. Ο .
fortgeschafft, und bemüht man sidi deshalb, sie zu isolieren? Oder geschieht dies im Gegenteil, weil sie eine unabhängige Gestalt annehmen und einen autonomen Platz besetzen? Anders gesagt, ist es das Wiederaufkommen der alten, trotz der Internierung in der Erinnerung des Okzidents bewahrten Phobien, die die Neuerscheinung der Narrtürme und gleichsam eine neue Abfahrt des Narrenschiffs gestattet; oder ist es gestattet, darin bereits das Entstehen neuer Strukturen und die Silhouette der großen Asyle des neunzehnten Jahrhunderts zu erkennen? Wenn man dieses Problem so in Begriffen der Kausalität stellt, läuft man ohne Zweifel Gefahr, es zu verfälschen. Was die Stellung des Wahnsinns während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts langsam verändert, ist nicht genau das, was bleibt, oder das, was kommen wird, sondern in einer Erfahrung, die sich eine Vergangenheit konstituiert und die ihre Zukunft entwirft, sind es zugleich, ohne Unterschied, das eine und das andere. Was von Bedeutung ist, um jene zeitlichen Beziehungen zu verstehen und ihre Wirkungen zu reduzier e n ist zu wissen, wie in jener Epoche der Wahnsinn vor jeder Kenntnisnahme, vor jeder gelehrten Formulierung perzipiert wurde. Die Angst vor dem Wahnsinn, die Isolierung, in die man ihn treibt, bezeichnen beide eine ziemlich dunkle Region, in der der Wahnsinn urtümlich verspürt wird und erkannt wird, bevor er bekannt ist, und w o sich das, was es in seiner beweglichen Wahrheit an Historischem geben kann, abzeichnet oder verflicht. Unter dem Zwang der Internierung vereinfacht sich die Unvernunfi im achtzehnten Jahrhundert und verliert unaufhörlich mehr ihre besonderen Zeichen in einer unentschlossenen Monotonie. Das eigenartige Aussehen, unter dem man die Unvernunft internierte, wird allmählich schwieriger zu unterscheiden und vermischt sich mit dem globalen Begreifen des »libertinage«. Als »libertins« bringt man alle unter Verschluß, die man nicht als Irre aussondert. Allein das Werk von de Sade wird am Ende des Jahrhunderts und in dem Augenblick, in dem sich die Welt der Internierung auflöst, zu einer Entknüpfung dieser konfusen Einheit gelangen. Ausgehend von einem Libertinage, der auf den Nenner der fla grantesten sexuellen Erscheinungen reduziert ist, wird er mit alle-· Kräften der Unvernunft wieder anknüpfen, die Tiefe der Profan* tionen wiederfinden, in sich alle jene Stimmen der Welt aufsteig? lassen, in denen sich die Natur aufhebt. Aber ist dieses Werk in de·
Diskurs, den es unendlich fortsetzt, nicht die Manifestation dieser wesentlichen Einförmigkeit, in der die Unvernunft am Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine Fläche bildet? Man muß den unaufhörlichen Wiederbeginn dieser Einförmigkeit der sexuellen Variationen wie in einem stets erneuerten Gebet zugeben, die als Anrufung der fernen Unvernunft dienen. Während die Unvernunft sich so in dem Undifferenzierten absorbiert und nur noch eine obskure Zauberkraft bewahrt - als glitzernder und niemals zuweisbarer Punkt - , neigt der Wahnsinn dagegen dazu, sich zu spezifizieren, wahrscheinlich in dem Maß, in dem die Unvernunft sich zurückzieht und sich im Zusammenhängenden auflöst. Die Unvernunft wird zu einer immer einfacheren Faszination, der Wahnsinn installiert sich dagegen als Objekt der Wahrnehmung. Am 15. Juli 1721, als die Kommissare des Parlaments ihren Besuch in Saint-Lazare machen, weist man sie auf die Anwesenheit von 23 Geisteskranken«, von 4 »Geistesschwachen«, einem »Tobsüchtigen« und einem »Rasenden« hin, ohne diejenigen zu zählen, die als »Zuchthäusler« bezeichnet werden. Zwölf Jahre später ist die Zahl der Irren bei einem ähnlichen Besuch im Juli 1733 nicht bemerkenswert gestiegen. Jedoch hat die Welt des Wahnsinns sich auf seltsame Weise vermehrt. Lassen wir Bezeichnungen wie »Libertinage«, »schlechte Führung«, »Religionslosigkeit«, »Will-nicht-zur-Messe-gehen« beiseite; das sind die immer konfuseren Gestalten der Unvernunft. Wenn man sich aber allein an die Formen des Wahnsinns, die als solche anerkannt sind, hält, findet man zwölf »Geisteskranke«, sechs »Geistes'Awache«, zwei »Irre«, zwei »Imbezile«, einen »Infantilen«, zwei Rasende«; es ist auch die Rede von »Regellosigkeit« (fünf Fälle) und von »Zerrüttung« (ein Fall); schließlich nennt man noch einen Insassen, der »außerordentliche Gefühle hat«. Es genügten zwölf jähre, damit die drei oder vier Kategorien, in die man mit Leichtigkeit die Geisteskranken einteilte (Aliénation, Geistesschwäche, Tobdchtigkeit oder Furor), sich als ungenügend erwiesen, um das ganze Gebiet des Wahnsinns zu decken. Die Formen vervielfachen sich, die Gesichter spalten sich. Man unterscheidet die Imbezilen, die Geisteshwachen, die infantilen Alten. Man vermischt den Wahnsinn nicht :hr mit der Zerrüttung, mit der Regellosigkeit oder den außerge»hnlichen Gefühlen. Man läßt sogar einen Unterschied aufkommen '.sehen Geisteskranken und Irren, der uns ziemlich rätselhaft bleibt, i ).v zuvor einförmige Verspüren des Wahnsinns hat sich plötzlich ;ffnet und eine neue Aufmerksamkeit für all das freigesetzt, was
sidi bis dahin in der Monotonie der Vernunftlosigkeit entzog. Die Irren sind nicht mehr diejenigen, deren globalen und konfusen Unterschied im Vergleich mit den anderen man plötzlich wahrnimmt. Sie werden untereinander und von einem zum anderen unterschieden, wobei sie hinter der Unvernunft, die sie umhüllt, schlecht das Geheimnis der paradoxalen Arten verbergen. Auf jeden Fall ist das Eindringen des Unterschiedes in die Gleichheit des Wahnsinns von Bedeutung; die Vernunft stellt sich also nicht länger in Beziehung zur Unvernunft in eine Äußerlichkeit, die allein es erlaubte, sie zu denunzieren. Sie beginnt, sich in dieser ins Extrem reduzierten, aber dennoch entscheidenden Form der Nicht-Ähnlichkeit in sie einzuführen. Für die Vernunft war die in einer unmittelbaren Wahrnehmung begriffene Unvernunft der absolute Unterschied, aber ein in sich selbst durch eine unendlich oft wiederbegonnene Identität nivellierter Unterschied. Jetzt jedoch beginnen die multiplen Gesichter des Unterschiedes aufzutauchen und ein Gebiet zu bilden, in dem die Vernunft sich wiederfinden, ja fast bereits wiedererkennen kann. Der T a g wird kommen, an dem die Vernunft in diesen klassifizierten und objektiv analysierten Unterschieden das sichtbarste Gebiet der Unvernunft sich aneignen können wird. Die ärztliche Vernunft wird den Wahnsinn lange Zeit nur in der abstrakten Analyse dieser Unterschiede meistern.»6 Diese Entwicklung ist völlig meßbar, ebenso wie man ihr mit Genauigkeit einen bestimmten Moment zuweisen kann: drei oder vier Kategorien sind in den Registern von Saint-Lazare im Jahre 1721, 14 im Jahre 1728 und 16 im Jahre 1733 isoliert. 1733 aber veröffentlicht Boissier de Sauvages seine Nouvelles Classes, worin er die alte Welt der Geisteskrankheiten vervielfacht und den vier oder fünf in der Epoche von Willis oder Boerhaave gemeinhin abgegrenzten Arten die lange Serie all der vesaniae hinzufügt. Ein solches Zusammentreffen verdankt sich ohne Zweifel nicht dem Zufall. Dennoch gibt es zwischen den Spezifizierungen, die Sauvages vorschlägt, und den Kategorien, die in den Registern von Charenton oder Saint-Lazare aufgezeichnet sind, praktisch keinen gemeinsamen Punkt. Abgesehen von einigen Termini wie »Demenz« oder »Imbezillität« deckt keine der neuen Kategorien der Internierung auch nur approximativ jene, die in den Nosologien des achtzehnten Jahrhunderts beschrieben werden. Die beiden Phänomene scheinen gleichzeitig, aber von verschiedener 96 Während einer großen Zeit des neunzehnten Jahrhunderts bestand die Asylpsydiiatrie im wesentlichen aus einer Arbeit der Spezifizierung. M a n denke an die unerschöpfliche Analyse der Monomanien.
Natur und wahrscheinlich von verschiedener Bedeutung zu sein, als ob die krankheitsgeschichtliche Analyse, während sie einem begrifflichen Faden oder einer kausalen Kette folgte, nur über und für die Vernunft gesprochen und in nichts das determiniert hätte, was der Wahnsinn von sich selbst sagen kann, sobald er einmal in den Raum der Internierung gestellt ist. Anfangs sind diese Formulierungen sehr einfach. Wir haben es gesehen, drei oder vier Kategorien, das undifferenzierte Gebiet der Aliénation und die genaueren Gestalten des Furor und der Imbezillität; der ganze Rest wird stets nur durch die Hinweise einer pittoresken Moral oder durch die Absurdität ausgesprochener Irrtümer charakterisiert.97 Was die Kategorien des Furor und der Imbezillität anbetrifft, so scheinen sie, nachdem sie lange Zeit in jenen individuellen Charakterisierungen verloren waren, allmählich einen allgemeinen Wert anzunehmen und zwei Pole zu bilden, zwischen denen das ganze Gebiet der Aliénation sich aufzuteilen strebt. Zum Beispiel kann man 1704 in den Registern von Charenton einen Hinweis lesen, der einen gewissen Claude Barbin betrifft: »Er kam mir närrischer vor als im letzten Jahr ( . . . ) . Jedoch scheint sein Geist noch zwischen dem Furor und der Imbezillität zu balancieren.«' 8 Auf der Seite des Furor gibt es die ganzen Gewalttaten, die gegen andere ausgeübt werden, die ganzen Todesdrohungen und jene Tollheit, die so weit geht, daß der Betroffene sich gegen sich selbst wendet; d'Argenson notiert unter Bezug auf eine gewisse Frau Gohart: »Ihr Wahnsinn ( . . . ) geht oft bis zum Furor, und ( . . . ) dem Anschein nach wird er sie dazu treiben, sich ihres Mannes zu entledigen oder sich bei der ersten Gelegenheit selbst zu töten.« 9 ' Auch die Imbezillität, jedoch in anderer Form, bringt tödliche Gefahren mit sich; der Imbezile kann seine Existenz nicht sichern noch dafür geradestehen, er ist passiv dem Tod ausgeliefert, der nicht mehr durch Gewalttätigkeit, sondern durch die einfa97 Ζ. B. Mathurin Milan, der am 31. August 1707 nach Charenton kam: »Sein Wahnsinn ist es, sich stets vor seiner Familie zu verstecken, in Paris und auf dem Land ein dunkles Leben zu führen, Prozesse anzustrengen, gegen Wuchcrzinscn Geld zu verleihen. Er begab sich mit seinem armen Geist auf unbekannte Wege und hielt sich für größere Aufgaben geeignet.« Bibliothèque Nationale, Fonds Clairambault, Ms. 98 j , S. 403. 98 Clairambault, Ms. 985, S. 349. V g l . den Fall von Pierre Dugnet: »Sein Wahnsinn hält an und gehört mehr zur Imbezillität als zum Furor.« A . a. O., S. 134. Fall Midiel Ambroise de L a n t i v y : »In seinem Wahnsinn erscheint mehr Verstörtheit und Imbezillität als Widerborstigkeit und Furor.« Clairambault, Ms. 986, S. 104. 99 Notes de René d'Argenson, Paris 1866, S. 93.
che Unfähigkeit eintritt, sich selbst zu erhalten, denn die Ablehnung, sich zu ernähren, wird als das manifesteste Zeichen der Imbezillität betrachtet. Der Wahnsinn steht und schwingt zwischen diesen beiden Punkten, in denen er kulminiert. Eine Klassifikation besteht nur in Beziehung zu diesem doppelten Drang. Die Internierung unterscheidet im Wahnsinn vor allem die Todesgefahren, die er birgt; der Tod vollzieht die Trennung, nicht die Vernunft oder die Natur. Der ganze Rest ist zunächst nichts weiter als das große individuelle Gewimmel der Fehler und Gebrechen. Das ist die erste Anstrengung auf dem Wege zur Organisation der Welt der Zuflucht für den Wahnsinn, und ihre Ausstrahlung wird bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts groß genug bleiben, damit noch Tenon sie in dem Maße, in dem sie die Imperative des Zwangsrechts diktiert, vollgültig zuläßt: »Die Irren teilen sich in Imbezile und Rasende; beide Arten verlangen eine ständige Überwachung.« 100 Aber ausgehend von dieser rudimentären Organisation, in der allein die Gefahr des Todes das individuell Malerische zu beschwören vermag, konstituieren sich langsam neue Zusammenhänge, die nach und nach das gestatten, was man eine Perzeption des ^wsia/iswahnsinns nennen könnte. Neue Eigenschaften treten auf, die nicht mehr allein Gefahren signalisieren und sich nicht nach dem Tode ordnen. Es ist selbstverständlich sehr schwierig, der Gesamtheit dieser Arbeit bei ihren Umwegen zu folgen, weil sie durch kaum mehr als die immer sehr kurzen Notizen in den Internierungsregistern bezeichnet wird. Aber bis hinein in diese Texte wird sichtbar, daß der Wahnsinn eine Sprache zu sprechen beginnt, die nicht mehr auf den Tod und auf das Leben bezogen ist, sondern auf ihn selbst und auf das, was er an Sinn und Nicht-Sinn enthalten kann. Als in diese Richtung gehend kann man wahrscheinlich die im achtzehnten Jahrhundert so häufige und für uns so dunkle Unterscheidung in Geisteskranke und Irre verstehen. Bis zum Beginn des Jahrhunderts spielen die beiden Begriffe eine umgekehrt symmetrische Rolle zueinander. Bald bezeichnen die »Geisteskranken« die Delirierenden in der allgemeinen Gruppe der Wahnsinnigen oder Irren; bald bezeichnen die Irren jene, die jede Form und Spur von Vernunft verloren haben unter denjenigen Geisteskranken, die auf allgemeine und weniger präzise Weise »einen zerrütteten Kopf« oder einen »verwirrten Geist« haben. Allmählich aber voll100 Tenon, »Projet du rapport sur les hôpitaux civils«, in: ders., Mémoires, II. f ° 228.
zieht sich im achtzehnten Jahrhundert eine Trennung, die einen unterschiedlichen Sinn hat. Der von der Aliénation Betroffene hat die Wahrheit völlig verloren: er ist der Illusion aller Sinne, der Nacht der Welt ausgesetzt; jede seiner Wahrheiten ist Irrtum, jede seiner Klarheiten Phantom. Er ist eine Beute der blindesten Kräfte des Wahnsinns: »Bald fällt er in eine A r t Demenz, die jeder Vernunft und jeden menschlichen Gefühls entbehrt, bald wird er von einer heftigen Leidenschaft bewegt und gequält und gerät in einen Zustand der Phrenesie, die ihn nur Blut, Mord, Gemetzel atmen läßt, und in diesen Augenblicken der Verwirrung und Erregung, in denen er niemanden, nicht einmal sich selbst kennt, hat man alles zu fürchten.«'01 Der von der Aliénation Befallene hat alle Grenzen des Zugänglichen durchbrochen, und in seiner Welt ist den anderen und ihm selbst alles fremd geworden. Im Universum des Vernunftlosen hingegen kann man sich wiedererkennen; der Wahnsinn ist immer bezeidienbar. Bald findet er Platz in der Perzeption oder wenigstens in dem, was es an Urteil und Glauben in einer Perzeption geben kann - »es ist ein Vernunflloser, der sich einbildete, daß der Ewige Vater ihm erschienen sei und ihm die Kraft verliehen habe, die Buße zu predigen und die Welt zu reformieren«' 01 - , bald stellt er sich in das intellektuelle Begreifen der Wahrheit in der Weise, in der man ihn erkennt, auf die man ihn deduziert oder auf die man ihr anhängt: »Er hat immer den Kopf voll mit der Sterndeuterkunst und mit jenen mysteriösen Unfrömmigkeiten, aus denen er sich ein medizinisches System gebildet hat.«'3° Der Irre ist nicht wie der von der Aliénation Befallene, der die lebendigen Kräfte des Wahnsinns zur Geltung bringt; er läßt die Unvernunft mehr oder weniger heimlich in den Vernunftarten zirkulieren. Hinsichtlich des gleichen Gegenstandes haben die Mönche in Charenton folgende Bemerkung gemacht: »Was er einst durch ein Prinzip des Libertinertums oder durch eine verbrecherische Befangenheit dachte, glaubt er eher aus Narrheit als aus Vernunft; er glaubt, daß die höllischen Geister ihn besessen haben.« Der Irre ist der Welt der Vernunft nicht völlig fremd: er repräsentiert vielmehr die pervertierte, ständig bei jeder Geistesbewegung aus der Bahn geworfene Vernunft. In ihm vollzieht sich unaufhörlich der gefährliche Wechsel der Vernunft und der Unvernunft, während die Aliénation eher den Moment des Bruches bezeichnet. Der von der Aliénation Befallene coi Bibliothèque Nationale, Collection Joly de Fleury, Ms. 1301, f ° 310. »02 Bibliothèque Nationale, Fonds Clairambault, Ms. 985, S. 128. 103 A . a . O . , S . 384.
steht ganz auf der Seite des Nicht-Sinns, der Irre in der Umkehrung des Sinnes. Wahrscheinlich sind solche Unterschiede sehr undeutlich sogar für diejenigen geblieben, die sie benutzt haben, und nichts beweist, daß man diesen Differenzierungen streng entsprochen hat. Dennoch kehren die Ordnungsprinzipien — Leben und Tod, Sinn und Nicht-Sinn — mit ziemlicher Konstanz wieder, so daß diese Kategorien sich fast durch das ganze achtzehnte Jahrhundert halten und um große Themen abgeleitete Begriffe gruppieren. Der »enragé« bezeichnet zum Beispiel eine Mischung aus Furor und Aliénation, eine A r t Trunkenheit des Nicht-Sinns in den äußersten Formen der Heftigkeit. Louis Guillaume de la Formassie wird zunächst in Bicêtre interniert, weil er »mit seiner Freiheit nur Mißbrauch treibt«; bald aber zeigt sich der Furor heftiger und schlägt in einen völligen Nicht-Sinn um: er ist zu einem »enragé« geworden; »er kennt nur eine alte Frau, die ihm von seiner Familie etwas zu Essen bringt. Alle Dienerinnen des Hauses würden von ihm totgeschlagen werden, wenn sie sich ihm näherten.«104 Der »entêté« hingegen stellt, was er an Furor und Heftigkeit haben kann, in den Dienst einer wahnsinnigen Idee. Ein gewisser Roland Genny ist in die Bastille geworfen worden und dann nach Bicêtre gekommen, weil »er Visionen hatte, die von der gleichen A r t wie die der Illuminaten und der Fanatiker waren ( . . . ) ; der Anblick eines Kirchenmannes genügt, um ihn in Wut zu bringen.« 10 ' Der T y p des »verwirrten Geistes« hätte eher Anteil an der Aliénation und der Imbezillität und manifestiert die Ordnungslosigkeit seiner Gedanken in Sanftheit und Unfähigkeit. In einem der Einlieferungsbücher von Bicêtre ist die Rede von einem alten Schulmeister, der, »weil er eine verkommene Frau geheiratet hatte, in so großes Elend gestürzt war, daß sein Geist völlig durcheinander gekommen ist«.,ofi Solche Begriffe können sehr fragwürdig erscheinen, wenn man sie mit den theoretischen Klassifikationen konfrontiert. Jedoch kann sich ihre Konsistenz wenigstens negativ in der Tatsache erweisen, daß sie so gut und so lange der Durchdringung eines medizinischen Einflusses widerstanden haben. Während die Anstaltswahrnehmung wächst, bleibt ihr die Medizin fremd oder dringt nur zufällig und gewissermaßen am Rande ein. Man findet kaum einige medizinische Feststellungen, die darüber hinaus noch zur Ordnung des Malerischen gehören, 104 A . a. O., S. 1. 105 A . a. O., S. 38 f. ία 6 A . a. O., S. 129.
wie zum Beispiel jene hinsichtlich eines Wahnsinnigen, der sidi von Geistern besessen glaubte: »Die Lektüre kabbalistischer Bücher hat seine Krankheit ausgelöst, und die übermäßige, brennende und melancholische Konstitution hat sie noch sehr verstärkt«; ein wenig weiter heißt es: »Sein Wahnsinn wird immer öfter von einer schwarzen Melancholie und einer gefährlichen Wut begleitet.« 10 ' Die medizinische Klasse ist keine Klasse der Internierung. Sie kann höchstens eine beschreibende Rolle oder noch seltener eine diagnostische Rolle spielen, dies jedoch in einer stets anekdotischen Form: »Seine verengten Augen und sein unfreiwillig auf eine der Schultern gesenkter K o p f lassen zu gut erkennen, daß seine Heilung sehr ungewiß ist.«1"8 Man kann also nur sehr partiell, und durch die Informationen, die wir erhalten können, begrenzt, eine ziemlich dunkle Arbeit rekonstruieren, die dem Bemühen um eine theoretische Klassifikation parallel lief, jedoch in keiner Weise damit zusammenhängt. Diese Gleichzeitigkeit beweist das Eindringen der Vernunft in jenes Gebiet des Wahnsinns, den sie ja durch die Internierung gebannt hatte. Einerseits haben wir mit der Medizin die Erkenntnisarbeit, die die Wahnsinnsformen als natürliche Arten behandelt. Andererseits sehen wir die Anstrengung des Wiedererkennens, durch die man auf eine bestimmte Art den Wahnsinn selbst sprechen und Stimmen hören läßt, die zum ersten Mal in der Geschichte des christlichen Abendlands nicht die der Prophetie, die der Angst oder der Besessenheit, noch die der Bouffonnerie sind; es sind Stimmen, mit denen der Wahnsinn weder für etwas anderes noch für irgendeinen anderen, sondern für sich selbst spricht. Im Schweigen der Internierung hat der Wahnsinn seltsamerweise eine Sprache angenommen, die ihm gehört. Lange Zeit wird das, was man die klassische Psychiatrie nennt, also annähernd die, die von Pinel bis Bleuler reicht, Begriffe bilden, die im Grunde nur Kompromisse, unaufhörliche Oszillationen zwischen jenen beiden Erfahrungsgebieten sind, die das neunzehnte Jahrhundert nicht zu vereinen gemocht hat: das abstrakte Feld einer theoretischen Natur, in der man die Begriffe von der ärztlichen Theorie abschneidet, und der konkrete Raum einer Internierung, die künstlich eingerichtet worden ist und in der der Wahnsinn für sich selbst zu sprechen beginnt. Es hat gewissermaßen eine »medizinische Analytik« und eine »Internierungswahrnehmung« gegeben, die nie miteinander gleich ge-
107 A . a. O-, S. 377 und 406. 108 A . a . O . , S . 347.
wesen sind. Die Manie der Psychiater des vergangenen Jahrhunderts, unbedingt zu klassifizieren, zeigt wahrsdieinlidi eine immer neue Hemmung vor diesen beiden Quellen der psychiatrischen Erfahrung und die Unmöglichkeit, sie zu verbinden. Es handelt sich nicht um den Konflikt zwischen Erfahrung und Theorie, zwischen täglicher Vertrautheit und dem abstrakten Wissen, dem Wohlbekannten und dem Bekannten, sondern es handelt sich auf geheimnisvollere Weise um eine Zerrissenheit in der Erfahrung, die wir gemacht haben und die wir vielleicht immer mit dem Wahnsinn machen: eine Zerrissenheit, die den Wahnsinn, der von unserer Wissenschaft als Geisteskrankheit betrachtet wird, von dem trennt, was er von sich aus in dem Raum liefern kann, wohin unsere Zivilisation ihn entfernt hat. Den Drohungen des Todes und dem Sinn der Sprache treu, hat die Wahrnehmung der Internierung wahrscheinlich mehr getan als die ganze Nosographie des achtzehnten Jahrhunderts, so daß man eines Tages dazu kommt, dem Aufmerksamkeit zu schenken, was der Wahnsinn von sich aus sagen kann. Eine in tieferem Maße medizinische Arbeit als die Medizin vollzog sich genau dort, wo die Medizin nicht in Geltung war, dort, wo die Irren keine Kranken waren. Für die Zeit danach halten wir den Faden fest in der Hand, denn von dem Augenblick an, in dem wir die Irren sidi wie von selbst vom Hintergrund des achtzehnten Jahrhunderts abteilen und einen ihnen eigenen Platz einnehmen sehen, begreifen wir wohl, wie das Irrenhaus des neunzehnten Jahrhunderts, die positive Psychiatrie, der in seinen Rechten schließlich bestätigte Wahnsinn möglich geworden sind. Alles ist von einem Jahrhundert zum anderen an seiner Stelle: zunächst die Internierung, aus der die ersten Irrenanstalten hervorgehen; daraus entsteht jene Neugier, bald Mitleid, morgen Humanitarismus und soziale Sorge, die Pinel und Tuke möglich macht. Diese werden ihrerseits die große Reformbewegung hervorrufen, Untersuchungen der Kommissare, Einrichtung der großen Hospitäler; diese eröffnen schließlich die Epoche von Esquirol und die Chance einer medizinischen Wissensdiaft vom Wahnsinn. Diese Linie verläuft sehr gerade, und der Fortschritt ist leicht zu bemerken. Das Charenton der Barmherzigen Brüder läßt das Charenton von Esquirol langsam entstehen. Wahrscheinlich hatte die Salpêtrière nur eine Bestimmung, die ihr dann Charcot gegeben hat. Eine geringe Aufmerksamkeit genügt, und der Faden ist gerissen : mehrmals sogar, denn von Anfang an sind wir doch des Sinnes, den
diese Bewegung bei der Isolierung der Irren sehr früh einnimmt, nicht sehr sicher. Gewiß ist in dem Schweigen und der Unbeweglichkeit der [nternierung der Versuch einer Bewegung, jene allererste Wahrnehmung ein Zeichen dafür, daß man schon »näher kommt«; daß man nicht nur einem positiveren Wissen näherkommt, sondern daß eine unruhigere Empfindsamkeit entsteht, die dem Sinn des Wahnsinns viel näherliegt, wie eine neue Wahrhaftigkeit an seinen Außenlinien. Man läßt das an zerrüttetem Geist im Menschen Vorhandene sprechen, man leiht so vielem Gestammel das Ohr; man hört in dieser Unordnung eine Präfiguration der Ordnung heraufkommen; die Indifferenz öffnet sich für den Unterschied. Dringt der Wahnsinn nicht genau in die Vertrautheit der Sprache ein und bietet er sich nicht beinahe schon in einem Tauschsystem an? Beginnt der Mensch nicht bereits durch eine Bewegung, die bald die ganze Struktur der Aliénation in Gefahr bringen wird, sidi darin wiederzuerkennen? Das würde die Geschichte vereinfachen und unserer Sensibilität gefallen. Was wir indessen wissen wollen, ist nicht der Wert, den der Wahnsinn für uns angenommen hat, sondern die Bewegung, durch die er in der Wahrnehmung des achtzehnten Jahrhunderts Platz genommen hat: die Folge der Brüche, der Unterbrechungen, der Ausbrüche, durch die er zu dem geworden ist, was er für uns im opaken Vergessen dessen, was er gewesen ist, ist. Wenn man den Dingen mit etwas Aufmerksamkeit folgt, wird folgendes evident: wenn das achtzehnte Jahrhundert allmählich dem Wahnsinn einen Platz eingeräumt hat, wenn es bestimmte seiner Gesichter differenziert hat, so geschah dies nicht in einer Annäherung, sondern indem es sich davon entfernte. Eine neue Dimension hatte eingeführt, ein neuer Raum abgegrenzt und gleichsam eine andere Einsamkeit instituiert werden müssen, damit mitten in diesem zweiten Schweigen der Wahnsinn schließlich reden konnte. Wenn er einen Platz findet, dann in dem Maße, in dem man ihn entfernt. Seine Gesichter, seine Unterschiede verdankt er nicht einer sich nähernden Aufmerksamkeit, sondern einer Indifferenz, die ihn loslöst. Infolgedessen wird die größte Entfernung am Vorabend des Tages erreicht sein, an dem er, »befreit« und »human« geworden, hervortreten wird, am Vorabend des Tages, an dem Pinel Bicêtre reformieren wird. 10 ' Das muß nur noch gezeigt werden. i o , £s handelt sidi selbstverständlich nicht darum, sich in den Streit der Hagiosraphen Pinels (etwa Sémelaigne) und derjenigen einzumischen, die seine Originalität herabsetzen wollen, indem sie der klassischen Internierung alle humanitären Tilge des neunzehnten Jahrhunderts verleihen (etwa Sérieux und Libert). Für uns ist
Es besteht kein Zweifel, denn das Resultat ist bekannt: kein Psychiater, kein Historiker, der nicht am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts derselben unwilligen Bewegung Raum gibt. Uberall herrscht der gleiche Skandal, wird der gleiche tugendhafte Tadel laut: »Man schämt sich nicht, die Geisteskranken in Gefängnisse zu stecken.« Esquirol zählt das Fort du H â in Bordeaux, die Arbeitshäuser in Toulouse und Rennes, die »Bicetres«, die man noch in Poitiers, in Caen, in Amiens findet, und das »Château« in Angers auf. »Übrigens gibt es wenige Gefängnisse, in denen man keine tobsüchtigen Geisteskranken findet. Diese Unglücklichen sind in Kerkern neben Kriminellen angekettet. Eine furchtbare Gesellschaft! Die ruhigen Geisteskranken werden mehr mißhandelt als die Übeltäter.« 110 Das ganze Jahrhundert empört sich. In England sind es die beiden Tuke, die zu Historikern und Apologeten des Ahnenwerks geworden sind. 1 " In Deutschland ist es nach Wagnitz Reil, der über diese Unglücklichen stöhnt, die »wie Staatsverbrecher in unterirdische Verliese und Kerker geworfen werden, w o nie das Auge der Menschheit sie erblickt«." 1 Das Zeitalter des Positivismus hat während mehr als einem halben Jahrhundert reuelos diese lärmende Behauptung aufgestellt, als erstes den Irren von einer bemitleidenswerten Verwechslung mit den Verurteilten befreit zu haben und die Unschuld der Unvernunft und die Schuldhaftigkeit der Verbrecher getrennt zu haben. Es wäre ein Spiel, zu beweisen, daß diese Behauptung nichtig ist. Seit Jahren waren dieselben Proteste zu hören, vor Reil gab es Franck: »Wer die Irrenanstalten in Deutschland besuchte, erinnert sich mit Schrecken an das, was er gesehen hat. Man ist entsetzt, wenn man in diese Stätten des Unglücks und der Niedergeschlagenheit tritt; man hört dort nur Verzweiflungsschreie, und darinnen wohnt der Mensch, den seine Begabungen und Tugenden auszeichnen.«" 3 Vor Esquirol, vor Pinel waren es in Frankreich La Rochefoucauld und Tenon. V o r diesen gab es während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts ein unaufhörliches, eindringliches Protestgemurmel, das von Jahr zu Jahr
das kein Problem individueller Einflußnahme, sondern historischer Struktur - der Erfahrungsstruktur, die eine Kultur vom Wahnnsinn entwickeln kann. Die Polemik zwischen Sémelaignc und Sérieux ist eine politische und familiäre Angelegenheit, i i o Esquirol, a. a. O . , B d . 2, S. 138. m Samuel Tuke, Description of the Retreat, Y o r k 1813, und Daniel Tuke, Chapters in the History of the Insane, London 1882. 112 Zitiert bei Esquirol, a. a. O., Bd. 2, S. 134 f. 113 Ebda.
von eben jenen wiederaufgenommen wurde, die man für die Gleichgültigsten und für die am meisten daran Interessierten gehalten hätte, daß eine solche Konfusion fortbestünde. 25 Jahre vor den Ausrufen Pinels muß man Malesherbes nennen, der »den Staatsgefängnissen einen Besuch mit dem Plan abstattete, ihre Pforten zu zerschlagen. Die Gefangenen, deren Geist er verwirrt fand, ( . . . ) wurden in Häuser geschickt, in denen die Gesellschaft, die körperlichen und geistigen Übungen und die Aufmerksamkeit, die er sorgfältig vorgeschrieben hatte, sie, nach seinen Worten, heilen mußten.« 11 * Noch früher in diesem Jahrhundert und mit einer noch weniger hörbaren Stimme haben die Direktoren, Ökonomen und Aufseher von Generation zu Generation immer das gleiche gefordert und manchmal erhalten: die Trennung der Irren und der Strafgefangenen. Es gab jenen Prior der Charité in Senlis, der den Polizeidirektor inständig bat, mehrere Gefangene zu entfernen und sie vielleicht in irgendwelchen Festungen einzuschließen." 5 Es gab einen Aufseher im Arbeitshaus in Braunschweig, der, und das im Jahre 1713, verlangte, daß man die Irren nicht mit den Internierten zusammenbrächte, die in den Werkstätten arbeiteten. 1 "' Was das neunzehnte Jahrhundert mit großem Aufsehen und allen Quellen seines Pathos formuliert hat, hatte das achtzehnte Jahrhundert bereits unermüdlich mit leiser Stimme gesagt und wiederholt. Esquirol und Reil und die beiden Tuke haben wirklich nichts anderes getan, als in etwas lauterem Ton das aufzunehmen, was seit Jahren einer der Gemeinplätze der Internierungspraxis war. Die langsame Emigration der Irren, von der wir gesprochen haben und die von 1720 bis zur großen Revolution reichte, ist davon nur die sichtbare Auswirkung. Dennoch sollten wir uns ansehen, was in diesem halben Schweigen gesagt wurde. Der Prior von Senlis benutzte, als er die Trennung der Irren von den Sträflingen verlangte, folgende Argumente: »Er ist zu bemitleiden, ebenso wie zwei oder drei andere, die eher in irgendeiner Zitadelle leben sollten, wegen der Gesellschaft von sechs anderen, die irre sind und sie T a g und Nacht quälen.« Der Sinn dieses Satzes wurde von dem Polizeidirektor so wohl verstanden, daß die betroffenen Internierten freigelassen werden. Die Beschwerden des Aufsehers in 114 Mirabeau, Des lettres de cachet, Kapitel 11, in: ders., Œuvres (hrsg. ν . M. Merilhou), 9 vols., Paris 1S16, Bd. I, S. 269. 11 j Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. I i 168. V g l . François Ravaisson, Les Aràives la Bastille, 19 vols., Paris 1866-1904, Bd. 14, S. 27$. 11Ä Kirdihoff, a. a. O . , S . i i o f .
de
Braunschweig haben den gleichen Sinn: die Werkstatt wird durch die Schreie und die Unordentlichkeit der Wahnsinnigen durcheinandergebracht. Ihr Toben ist eine unablässige Gefahr, und lieber sollte man sie in die kleinen Räume zurückbringen, in denen sie angekettet werden. Bereits hier kann man spüren, daß von einem Jahrhundert zum anderen die gleichen Proteste im Grunde genommen nicht den gleichen Wert hatten. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts empört man sich darüber, daß die Irren nicht besser behandelt werden als nach normalem Recht Verurteilte oder Staatsverbrecher. Während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts ist man der Ansicht, daß die Eingesperrten ein besseres Los verdient hätten als das Zusammenleben mit Wahnsinnigen. Für Esquirol ist der Skandal darin zu sehen, daß die Verurteilten nur Verurteilte sind. Der Prior in Senlis protestiert, weil die Irren schließlich nur Irre sind. Dieser Unterschied ist vielleicht nicht von großem Gewicht, und man hätte ihn leicht erraten können. Dennoch war es notwendig, ihn zur Geltung zu bringen, damit verstanden wird, wie während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts das Bewußtsein vom Wahnsinn transformiert worden ist. Es hat sich nicht im Rahmen einer humanitären Bewegung entwickelt, die es langsam an die menschliche Wirklichkeit des Wahnsinnigen, an sein am nächsten befindliches und am meisten bemitleidenswertes Gesicht angenähert hätte; es hat sich auch nicht unter dem Druck eines wissenschaftlichen Bedürfnisses entwickelt, das es aufmerksamer und wahrheitsgetreuer demgegenüber hätte werden lassen, was der Wahnsinn von sich selbst zu sagen haben kann. Wenn es sich langsam verändert hat, dann im Innern jenes wirklichen und zugleich künstlichen Raumes der Internierung. Das Bewußtsein vom Wahnsinn zur Zeit der französischen Revolution ist allmählich durch ein unwahrnehmbares Gleiten in seinen Strukturen oder durch plötzliche heftige Krisen gebildet worden. Dafür, daß die Irren fortlaufend isoliert werden, daß die Monotonie des Wahnsinnigen sich in rudimentäre Arten teilt, ist kein medizinischer Fortschritt, keine humanitäre Annäherung verantwortlich. Aus der Tiefe der Internierung heraus entsteht dieses Problem; von ihr muß man Rechenschaft verlangen darüber, was dieses neue Bewußtsein vom Wahnsinn ist. Es handelt sich in viel stärkerem Maße um ein politisches als um ein philanthropisches Bewußtsein, denn wenn man im achtzehnten Jahrhundert bemerkt, daß es unter den Internierten, den Libertinern, den Wüstlingen, den verlorenen Söhnen Menschen gibt, deren Ordnungslosigkeit von anderer Natur und deren Unruhe irreduzibel ist, dann
verdankt man es gerade jenen Internierten. Sie protestieren als erste und mit größter Heftigkeit. Minister, Polizeichefs, Beamte werden mit den gleichen, unermüdlich wiederaufgenommenen und endlosen Klagen bestürmt. Einer schreibt an Maurepas und ist entrüstet darüber, daß er »mit Irren, unter denen es Tobsüchtige gibt, so daß ich in jedem Augenblick gefährliche Beleidigungen von ihnen zu erhalten riskiere, zusammengelassen« werde 1 '7, ein anderer, der Abbé von Montcrif, nimmt die gleiche Klage gegenüber dem Leutnant Berryer auf: »Seit neun Monaten werde idi in der fürchterlichsten Bleibe mit 15 oder 20 tobsüchtigen Irren, in einem Durcheinander mit Epileptikern festgehalten.«" 8 Je weiter das Jahrhundert voranschreitet, desto lebhafter werden die Proteste gegen die Internierung. Der Wahnsinn wird immer mehr zur Heimsuchung der Eingesperrten, zum Bild ihrer Erniedrigung selbst, zum Bild ihrer besiegten und zum Schweigen gebrachten Vernunft. Der Tag wird schnell kommen, an dem Mirabeau in der schändlichen Promiskuität mit dem Wahnsinn gleichzeitig ein subtiles Instrument zur Vertierung gegen die sehen wird, die man unterdrücken will. Es ist das eigentliche Bild des Despotismus in seiner triumphierenden Bestialität. Der Irre wird nicht zum ersten Mal und nicht das unschuldigste Opfer der Internierung, sondern er ist das dunkelste und sichtbarste, das eindringlichste der Symbole der Macht, die die Einsperrung vornimmt. Die stumme Hartnäckigkeit der Herrschenden ist mitten unter den Internierten in jener schreienden Präsenz der Unvernunft anwesend. Der Kampf gegen die etablierten Mächte, gegen die Familie, gegen die Kirche beginnt im Zentrum der Internierung, in den Saturnalien der Vernunft von neuem. Der Wahnsinn repräsentiert diese strafenden Kräfte so gut, daß er in der Tat die Rolle der zusätzlichen Strafe, jener Strafverschärfung spielt, die die Ordnung in der einförmigen Bestrafung der Arbeitshäuser aufrechterhält. La Rochefoucauld-Liancourt bezeugt dies in seinem Bericht an das Comité de mendicité: »Eine der den Epileptikern und anderen Kranken der Säle auferlegten Strafen, die selbst die guten Armen trifft, besteht darin, daß man sie unter die Irren mischt.«"' Der Skandal liegt lediglich in der Tatsache, daß die Wahnsinnigen die brutale Wirklichkeit der Internierung, das passive Instrument dessen sind, was es an Schlimmstem in der Internierung gibt. Muß man in dieser Tatsache, einem Gemeinplatz der ganzen Internie117 Bourges de Longchamp. Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 11496. 118 Zitiert bei Bonnafous-Sérieux, a. a. O., S. 221. 1:9 La Rochefoucauld-Liancourt, Rapport au Comité de mendicité, a . a . O . , S. 47.
rungsliteratur im achtzehnten Jahrhundert, ein Anzeichen dafür sehen, daß der Aufenthalt in einem Arbeitshaus notwendig zum Wahnsinn führt? Wie kann man bei einem Leben in dieser delirierenden Welt, inmitten des Triumphes der Unvernunft, der Fatalität der ö r t lichkeiten und der Dinge entgehen und nicht zu denen gelangen, die das lebendige Symbol dessen sind: »Ich beobachte, daß die meisten der Wahnsinnigen, die in den Arbeitshäusern und Staatsgefängnissen eingeschlossen sind, es erst geworden sind, die einen durch übermäßig schlechte Behandlung, andere durch den Schrecken der Einsamkeit, in der sie in jedem Augenblick die Zaubereien einer durch den Schmerz geschärften Vorstellungskraft treffen.«" 0 Die Anwesenheit der Irren unter den Gefangenen ist nicht die skandalöse Grenze der Internierung, sondern ihre Wahrheit, und zwar nicht im Mißbrauch, sondern in ihrem Wesen. Die Polemik, die das achtzehnte Jahrhundert gegen die Internierung aufrechterhält, berührt genau die Mischung, die man zwischen wahnsinnigen und vernünftigen Menschen herstellt, sie berührt aber nicht die fundamentale Beziehung, die man zwischen den Wahnsinnigen und der Internierung zuläßt. Welche Haltung man auch immer einnimmt, die letztgenannte Beziehung steht nicht in Frage. Mirabeau, Freund der Menschen, ist gegenüber der Internierung ebenso streng wie gegenüber den Internierten selbst. Für ihn ist keiner der in den »berühmten Staatsgefängnissen« Eingeschlossenen unschuldig, aber ihr Platz ist nicht in jenen kostspieligen Häusern, in denen sie ein unnützes Leben führen. Warum schließt man »Freudenmädchen, die in den Manufakturen der Provinz Arbeitsmädchen werden können«, darin ein? Warum befinden sich dort »Verbrecher, die nur die Freiheit erwarten, daß man sie aufhängt. Warum sind jene an bewegliche Ketten Angeschmiedeten nicht mit solchen Arbeiten beschäftigt, die für freiwillige Arbeiter ungesund sein können? Sie wären ein gutes Beispiel ( . . . ) . « Wenn man diese ganze Bevölkerung aus den Internierungshäusern herausnähme, wer bliebe dann darin? Doch nur diejenigen, die nirgendwo sonst untergebracht werden können und mit vollem Recht dorthin gehören: »Einige Staatsgefangene, deren Verbrechen nicht bekannt werden dürfen«, und außer diesen »alte Leute, die den ganzen Ertrag der laufenden Arbeit ihres Lebens in Schlemmerei und Verschwendung aufgebraucht und stets die ehrgeizige Aussicht gehabt haben, im Hospital zu sterben, sollten ruhig dort eingesperrt werden«. Schließ120 Mirabeau, a. a. O., S. 264·
lieh nodi die Wahnsinnigen, die irgendwo verkommen müssen: »Sie können überall vegetieren.«" 1 Mirabeaus Sohn läßt seine Gedanken in die entgegengesetzte Richtung laufen: »Ich fordere förmlich jeden dazu auf, zu beweisen, daß die Staatsgefangenen, die Verbrether, Libertiner, Wahnsinnige, ruinierte Greise, ich will nicht sagen die größte Zahl, sondern ein Drittel, ein Viertel, ein Zehntel der Bewohner der Festungen und Staatsgefängnisse ausmachen.« Für ihn liegt also der Skandal nicht darin, daß Geisteskranke mit Verbrechern gemischt wären, sondern daß sie nicht mit ihnen den wesentlichen Anteil der Internierten ausmachen. Wer kann sich also beklagen, mit Verbrechern zusammen eingesperrt zu sein? Nidit diejenigen, die für immer die Vernunft verloren haben, sondern die, die in ihrer Jugend einen Augenblick der Verirrung erlebt haben: »Ich könnte fragen (...), warum man die Verbrecher und die Libertiner verwechselt (...). Ich könnte fragen, warum man junge Leute, die gefährliche Dispositionen haben, mit Männern zusammenläßt, die sie sehr schnell bis zum schlimmsten Grad der Verderbnis bringen ( . . . ) . Schließlich, wenn diese Mischung aus Libertinern und Verbrechern besteht, wie es nur allzu sehr der Fall ist, warum macht man sidi durch diese schändliche, infame, schreckliche Versammlung des schändlichsten Verbrechens schuldig, nämlich die Menschen zum Verbrechen zu führen?« Was die Wahnsinnigen anbetrifft, kann man ihnen ein anderes Los wünschen? Sie sind weder vernünftig genug, um nicht eingeschlossen zu werden, noch gehorsam genug, um nidit als Verbrecher behandelt zu werden; »es ist nur zu wahr, daß man vor der Gesellschaft diejenigen verbergen muß, die den Gebrauch der Vernunft verloren haben.«122 Man sieht, wie im achtzehnten Jahrhundert die politische Kritik an Jer Internierung vor sich ging. Sie funktionierte keineswegs im Sinne einer Befreiung des Wahnsinns, in keiner Weise kann man sagen, daß sie gestattete, den Geisteskranken mehr philanthropische oder mehr ärztliche Aufmerksamkeit zu schenken. Im Gegenteil hat sie den Wahnsinn fester als je mit der Internierung verbunden, und zwar durch ein doppeltes Band. Das eine machte aus ihm das Symbol der einschließenden Kraft und seinen lächerlichen und besessenen Reprä;ntanten im Inneren der Welt der Internierung. Das andere bezeichnete ihn als Gegenstand par excellence aller Internierungsmaßnahmen. Subjekt und Objekt, Abbild und Ziel der Repression, Symbol Ii Victor Mirabeau, L'Ami des hommes ou Traité de la population, Avignon 1758, 3d. 1, S. 414 £. u Mirabeau, Des lettres de cachet, Kapitel 11, a. a. O., Bd. I, S. 264.
seiner blinden Willkür und Rechtfertigung all dessen, was es an Vernünftigem und Begründetem in ihm geben kann. Durch einen paradoxen Kreis erscheint der Wahnsinn schließlich als der einzige Grund einer Internierung, deren tiefe Unvernunft er symbolisiert. Jenem Denken des achtzehnten Jahrhunderts noch sehr nahe, wird Michelet es mit einer erstaunlichen Strenge formulieren. Er findet die Denkbewegung Mirabeaus wieder, die jener anläßlich des Aufenthalts in Vincennes gleichzeitig mit de Sade vollzogen hat: Erstens macht die Internierung wahnsinnig: »Das Gefängnis schafft Wahnsinnige. Die in der Bastille Gefundenen waren in Bicêtre Dummköpfe.« Zweitens: Das Unvernünftigste, Schändlichste, zutiefst Unmoralische in den Kräften des achtzehnten Jahrhunderts wird im Raum der Internierung und durch einen Wahnsinnigen repräsentiert: »Man hat das Toben in der Salpêtrière gesehen. Ein erschreckender Irrer existierte in Vincennes, der giftige de Sade, der in der Hoffnung schrieb, die kommenden Zeiten zu korrumpieren.« Drittes Moment: Dieser Wahnsinnige allein hätte die Internierung verdient, und man hat nichts getan: »Man setzte ihn bald frei, man behielt Mirabeau gefangen.«" 3 Es gräbt sich also eine Leere in das Milieu der Internierung. Eine Leere, die den Wahnsinn isoliert, ihn in seiner Irreduzibilität und Unerträglichkeit für die Vernunft denunziert. Er erscheint jetzt mit dem, was ihn auch von allen eingeschlossenen Formen unterscheidet. Die Gegenwart der Irren nimmt die Gestalt der Ungerechtigkeit an, aber für die anderen. Jene große Umhüllung, in der die konfuse Einheit der Unvernunft gefangen war, ist durchbrochen. Der Wahnsinn individualisiert sich, wird zum eigenartigen Zwilling des Verbrechens, ist ihm zumindest verbunden durch eine Nachbarschaft, die man noch nicht in Frage stellt. In dieser von einem Teil ihres Inhalts geleerten Internierung bleiben allein diese beiden Gestalten bestehen. Sie symbolisieren für sich allein, was es darin an Notwendigem geben kann. Sie sind, was allein künftig interniert zu werden verdient. Der Wahnsinn ist nicht dadurch frei geworden, daß er einen Abstand eingenom123 Michelet, Histoire de France, Paris 1899, S. 293 f. Die Angaben sin
men hat, daß er schließlich eine in der wirren Welt der Unvernunft zuweisbare Form geworden ist. Zwischen ihm und der Internierung hat sich eine tiefe Zugehörigkeit gebildet, ein Band, das beinahe zum Wesen gehört. Im gleichen Augenblick jedoch erlebt die Internierung eine weitere, noch tiefere Krise, weil sie nicht nur ihre Repressionsfunktion, sondern ihre Existenz selbst in Frage stellt. Diese Krise kommt nicht vom Inneren und hat nichts mit politischen Protesten zu tun, sondern steigt langsam vom ökonomischen und sozialen Horizont herauf. Die Internierung hat ohne Zweifel nicht die einfache und wirkungsvolle Rolle gespielt, deren Kraft man ihr zur Zeit Colberts zuschrieb, sondern sie antwortete allzu sehr auf eine wirkliche Notwendigkeit, um sich nicht anderen Strukturen zu integrieren und nicht zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. Zunächst hat die Internierung als Zwischenstation bei den demographischen Verlagerungen gedient, die die Bevölkerung der Kolonien erfordert hat. Seit dem Beginn des achtzehnten Jahrhunderts schickt der Polizeidirektor dem Minister die Liste mit den Internierten von Bicêtre und der Salpêtrière, die »gut für die Inseln« sind, und erbittet für sie Einschiffungsbefehle.' 14 Das ist nur ein Mittel, das Hôpital général von einer überhandnehmenden Bevölkerung zu befreien, die «ο aktiv ist, daß man sie unmöglich auf unbegrenzte Zeit eingeschlossen halten könnte. Im Jahre 1717 wird die Exploitation Amerikas mit der Gründung der »Compagnie d'Occident« völlig in die französische Wirtschaft integriert. Man nimmt Zuflucht zur Zahl der Internierten, denn damals beginnen die berühmten Abreisen aus Rouen und La Rochelle: Wagen für die Mädchen und Ketten für die jungen Männer. Die ersten Gewalttaten von 1720 haben sich nicht wiederholt1", aber die Gewohnheit dieser Deportationen wurde beibehalten, und man fügte so der Mythologie der Internierung einen neuen ichrecken hinzu. Man macht sich daran, zunächst einzusperren, um knn -auf die Inseln« schicken zu können. Es handelt sich darum, ie ganze bewegliche Bevölkerung dazu zu zwingen, die Heimat zu :diseln und die Gebiete in den Kolonien zu bearbeiten. Die Internerung wird ein Stapelplatz, an dem man Emigranten in Reserve U Vgl. Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 12685 und 12686 wegen Bicêtre und die 12692 bis 12695 wegen der Salpêtrière. Ober die besonderen Gesellsdiaifen, die den A u f t r a g hatten, Kolonisten zu stieren, vgl. Emile Levasseur, Recherches historiques sur le système de Law, ^ r i j 18(4.
hält, die man im geeigneten Augenblick in eine bestimmte Gegend schickt. Seit jener Zeit stellen die Internierungsmaßnahmen nicht mehr einfach eine Funktion des Arbeitsmarktes in Frankreich, sondern des Kolonisationsstandes in Amerika dar: Kurs der Kolonialwaren, Entwicklung der Anpflanzungen, Rivalität zwischen Frankreich und England, Seekriege, die gleichzeitig den Handel und die Kolonisation behindern. Es wird Perioden der Verstopfung geben wie während des Siebenjährigen Krieges; andererseits wird es Phasen geben, während derer die Nachfrage sehr stark bleiben und die Vielzahl der Internierten leicht nach Amerika abgeschoben werden wird. 12 « Andererseits vollzieht sich seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine wichtige Veränderung in den Agrarstrukturen, nämlich das fortschreitende Verschwinden der Kommunalländereien in Frankreich wie in England. Ihre Aufteilung, die zunächst erlaubt war, wurde in Frankreich 1770 obligatorisch. Direkt oder indirekt sind es die großen Landbesitzer, die von diesen Maßnahmen profitieren: die kleinen Viehzüchter werden ruiniert; dort, w o die Gemeindeländereien nach dem Gleichheitsgrundsatz zwischen Familien oder Feuerstellen aufgeteilt worden sind, entstehen kleine Besitztümer, deren Überlebenschance gering ist. 12 ' Ein großer Teil der Bauern wird von der Scholle gerissen oder gezwungen, ein Leben von Landarbeitern zu führen, wobei sie den Produktionskrisen und der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind. Ein doppelter Druck wirkt sich außerdem auf die Bezahlung aus, die die Tendenz hat, ständig zu sinken, nämlich die schlechten Ernten, die den Ertrag aus der Landwirtschaft sinken lassen, und dii guten Ernten, die die Verkaufspreise nach unten gehen lassen. Eine Rezession setzt ein, die in den zwanzig Jahren vor der Revolution sich immer mehr ausweitet.128 Der Mangel und die Arbeitslosigkeit die vor allem seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts städtisch. Phänomene waren und auf dem Lande nur einen saisonbedingten Ar teil hatten, werden zu Problemen der Landwirtschaft. Die Arbeitshäuser, die allgemeinen Hospitäler entstanden vor allem in den Gi 126 »Man suchte damals junge Leute, die bereit wären, freiwillig in die Kolonzu gehen.« Manon Lescaut, Collection >Cri de la France«, S. 175. 127 In der Déclaration royale vom j . Juli 1770 befiehlt der contrôleur génr Laverdy die Aufteilung der Gemeindeländereien. Vgl. Philippe Sagnac, La mation de la société française moderne, S. 256 f. 128 Ernest Labrousse, La crise de l'économie française à la fin de l'An Régime, Paris 1944.
bieten, in denen Manufakturen und Handel sich am schnellsten entwickelt hatten, und gingen von dort aus, wo die Bevölkerung am dichtesten war. Sollte man jetzt solche Häuser in Landgebieten errichten, in denen eine fast ständige Krise herrscht? Je weiter das Jahrhundert voranschreitet, wird die Internierung mit immer komplexeren Phänomenen in Zusammenhang gebracht. Sie wird immer dringender, aber auch immer schwieriger, immer wirkungsloser. Drei schwere Krisen folgen aufeinander, die in England und in Frankreich fast gleichzeitig auftreten: auf die ersten beiden antwortet man mit einer Verschlimmerung der Internierungspraxis. Für die dritte gibt es keine so einfachen Antworten mehr. Dadurch wird die Internierung selbst in Frage gestellt. Die erste Krise brach heftig, aber kurzfristig zum Zeitpunkt des Friedens von Aachen herein. Es war ein oberflächliches Ereignis, weil in der Tat die großen Strukturen nicht berührt werden und die wirtschaftliche Erholung sofort nach dem Krieg einsetzt. 12 ' Die Soldaten aber, die ihren Abschied genommen haben, die Internierten, die den Tausch der besetzten Kolonialgebiete erwarten, und die Konkurrenz der englischen Manufakturen rufen eine Arbeitslosenbewegung hervor, die ziemlich stark ist und infolgedessen überall Befürchtung von Aufständen oder einer Massenemigration hervorruft: »Die Manufakturen, an denen wir so gehangen haben, fallen überall zusammen. Die in Lyon sind zusammengebrochen; in Rouen gibt es mehr als völftausend bettelnde Arbeiter, ebenso in Tours, und so weiter. Mehr als zwanzigtausend dieser Arbeiter haben das Königreich in !en letzten drei Monaten verlassen, um ins Ausland, nach Spanien, räch Deutschland zu gehen, w o man sie aufnimmt und wo die Regieung sparsam ist.«'30 Man versucht die Bewegung in den Griff zu kommen, indem man die Festnahme aller Bettler dekretiert: »Es Befehl gegeben worden, gleichzeitig alle Bettler im Königreich czunehmen. Die berittene Polizei ist zu diesem Zweck auf dem ide am Werk, während man in Paris dasselbe tut, wo man sicher daß sie nicht zurückweichen, weil sie von allen Seiten umgeben tur den Warentausch mit dem Ausland gibt Arnould folgende Werte: für den "um 1740-1748 430,1 Millionen livres, für 1749-175 s 616,7. Der Export allein 103 Millionen livres zugenommen. Ambroise-Marie Arnould, De la balance 1 nerce ei des relations commerciales extérieures de la France, Paris, An X I I I , aU. ••
'Louis d'Argenson, Journal et Mémoires, 9 vols., Paris 1859-1867, Bd. 6, . >uli 1750.
sind.«'*1 Aber mehr noch als in der Vergangenheit erweist sich die Internierung als unbeliebt und nichtig: »Die Schützengarde, die in Paris die Armen überwachen soll, und die man Bettelvögte nennt, haben kleine Bettler verhaftet, haben dann sich im Aussehen geirrt, oder so getan, als irrten sie sich, und haben Kinder von Bürgern festgenommen, was die ersten Revolten ausgelöst hat. A m neunzehnten und zwanzigsten dieses Monats hat es Aufstände gegeben, aber am dreiundzwanzigsten hat es noch beträchtlichere gegeben. Das ganze Volk hat sich in den Stadtteilen zusammengerottet, in denen diese Festnahmen gemacht wurden, und an jenem Tag wurden vier bis acht dieser Vögte getötet.«' 32 Schließlich quellen die Hospitäler über, ohne daß irgendein Problem wirklich gelöst ist: »In Paris sind alle Bettler freigelassen worden, nachdem man sie festgesetzt hatte, weil es die Aufstände, von denen die Rede war, zur Folge hatte. Die Straßen und großen Wege sind mit ihnen überfüllt.«' 33 Schließlich wird die ökonomische Expansion der folgenden Jahre die Arbeitslosigkeit reduzieren. Ungefähr 1765 gab es eine neue Krise, und zwar eine ziemlich bedeutende. Der französische Handel ist zusammengebrochen, die Ausfuhr hat um mehr als die Hälfte abgenommen.'3'· Infolge des Krieges isi der Handel mit den Kolonien praktisch unterbrochen. Das Elend herrscht überall, und Arnould schreibt, indem er mit einem Wort ditökonomische Geschichte Frankreichs im achtzehnten Jahrhundert re sümiert: »Man sollte sich den Zustand der Prosperität vor Auger halten, den Frankreich seit dem Zusammenbruch des Systems bis zur Mitte dieses Jahrhunderts erlebt hat, und ihn mit den tiefen Wunder vergleichen, die das öffentliche Wohl durch den Krieg von 1755 erlitten hat.«'3* Zur gleichen Zeit erlebt England eine ebenso schwere Krise, die jedoch andere Ursachen hat und auch sehr unterschiedlich ver läuft. Infolge der kolonialen Eroberung wächst der Handel in beadit liehen Proportionen.' 36 Aber eine Folge schlechter Ernten (1756 h 1757) und die Unterbrechung des Warentausches mit den Agrarstar 131 A . a. O., Bd. 6, S. 80, 30. November 1749. 132 A . a. O., Bd. 6, S. 202 f., 26. M a i 1 7 j o . 133 A . a. O., Bd. 6, S. 228,19. Juli 1750. 134 Der Gesamtwert der Exporte von 1749 bis 1755 belief sich auf 341,2 Miliin' livres, für 1756 bis 17Ä3 auf 148,9 Millionen. Vgl. Arnould, a. a. O . 13 j Ebda. 136 Für 1748 betrug der W e r t der Exporte 1 1 1 4 2 2 0 2 Pfund, f ü r 1760 14493; Pfund. V g l . George Nicholls, A History of the English Poor Law, 3 vols., Lonc. 1898 f., Bd. 2, S. 54.
ten Europas rufen eine starke Erhöhung der Warenpreise hervor. Auf beiden Seiten antwortet man auf diese Krise mit der Internierung. Cooper veröffentlicht 1765 einen Reformplan für die mildtätigen Einrichtungen, in dem er vorschlägt, man solle in jedem hundred unter der doppelten Überwachung durch Adel und Klerus Häuser einrichten, die eine Krankenabteilung für die armen Kranken, Werkstätten für die gesunden Armen und Strafabteilungen für diejenigen haben, die die Arbeit verweigern. Zahlreiche Häuser werden auf dem Lande nach diesem Modell eingerichtet, das selbst von dem Arbeitshaus von Carlford inspiriert war. In Frankreich bestimmt eine königliche Ordonnance im Jahre 1764*", daß Verwahrungsorte für Bettler eröffnet werden, aber die Entscheidung wird erst nach einem Erlaß des Staatsrates vom einundzwanzigsten September 1767 erstmals angewandt: »Es sollen in den verschiedenen Verwaltungsbezirken des Königreiches genügend abgeschlossene Häuser vorbereitet und errichtet werden, in denen die Landstreicher aufgenommen werden können ( . . . ) . Die in den genannten Häusern Festgehaltenen werden auf Kosten Seiner Majestät ernährt und unterhalten.« Im folgenden Jahr werden achtzig Häuser zur Unterbringung von Bettlern ;n ganz Frankreich eröffnet, die ungefähr die gleiche Struktur und dieelbe Bestimmung haben, wie die allgemeinen Hospitäler. Die Ordnung der Anstalt in Lyon sieht zum Beispiel vor, daß die Vagabunden und zur Gefangenschaft verurteilten Bettler, »die leichten Mäd-ben, die den Soldaten hinterherziehen«, die »speziellen Fälle, die lurdi Befehl des Königs dorthin geschickt werden«, »die Geisteskranken, Armen und Verlassenen und diejenigen, für die Pension gezahlt 'td·, darin aufgenommen werden.' 38 Mercier bietet von diesen A u f 'thaltsorten eine Beschreibung, die zeigt, in wie geringem Maße sie ν den alten Häusern des Hôpital général abweichen, denn es .rrscht dort das gleiche Elend, das gleiche Durcheinander, der gleiche ißiggang: »Gefängnisse einer neuen Einrichtung, die man sich hat η-allen lassen, um die Straßen und Wege schnell von Bettlern zu ligen. damit man das grobe Elend nicht neben dem übermäßigen tchtum sieht. Man taucht sie mit letzter Unmenschlichkeit in stinde und dunkle Häuser, w o man sie sich selbst überläßt. Die In-Ί ïahr zuvor war eine Kommission gebildet worden, die die Möglichkeiten interdrückung der Bettelei untersuchen sollte. Sie verfaßte die von 1764.
Ordonnance
tikel I des Titre du Règlement de Dépôt de Lyon, 1783, zitiert bei Lallelutoire de la Charité, 4 vols-, Paris 1902-1912, Bd. 4, S. 278.
aktivität, die schlechte Ernährung, die Häufung von Elendsgefährten lassen sie nacheinander verschwinden.«139 Tatsächlich sind viele dieser Aufenthaltsorte mit der Krise wieder verschwunden. Seit 1770 nämlich und während der ganzen Rezessionsperiode, die darauf folgt, beginnt die Internierungspraxis zurückzugehen; die Krise, die dann folgt, wird nicht mehr durch die Internierung beantwortet, sondern durch Maßnahmen, die zum Ziele haben, sie zu begrenzen. Das Edikt von Turgot über den Getreidehandel hatte eine Senkung der Einkaufspreise, aber eine sehr starke Erhöhung der Verkäufe zur Folge, und dies genau in dem Augenblick, als die Aufteilung der Gemeindeländereien das Landproletariat hervorbrachte; dennoch läßt Turgot verschiedene Bettelhäuser schließen, und als Necker an die Macht kommt, sind siebenundvierzig von ihnen verschwunden. Verschiedene, wie das in Soisson, werden zu Hospitälern für Alte und Kranke gemacht.1'·0 Einige Jahre später wird England eine ziemlich schwere Arbeitslosenkrise infolge des Krieges in Amerika erleben. Das Parlament verabschiedet - wir sind im Jahre 1782 - eine Verordnung »for the better relief and employment of the poor«. 141 Es handelt sich um eine administrative Reorganisation, die den städtischer Behörden ihre Hauptrechte hinsichtlich der Bettelei nehmen soll Künftig sollen es die Distriktbeamten sein, die die »Wächter« über die Armen in jeder Gemeinde und die Direktoren der Arbeitshäuser bestimmen. Sie werden einen Inspektor ernennen, dessen Kontroll- und Organisationsrechte nahezu absolut sind. A m bedeutendsten ist i. doch die Tatsache, daß man neben den Arbeitshäusern Armenhäuse gründen wird, die ausschließlich für die bestimmt sind, »die durch Alter, Krankheit, Gebredien leidend geworden sind und unfähii durch ihre Arbeit sich selbst zu erhalten«. Die kräftigen Armen wer den weder in diese Häuser noch in die Arbeitshäuser geschickt, son dern sie bekommen so früh wie möglich eine ihren Kräften und Moc lichkeiten entsprechende Arbeit. Man muß sich versichern, daß die vollzogene Arbeit ihnen gerecht zugeteilt worden ist. Mit Turgoi. nv: 139 Mercier, Tableau de Paris, Bd. 9, S. 120. 140 V g l . Sérieux, »Le quartier d'aliénés du dépôt de Soissons«, in: Bulletin dt : Société historique de Soissons, Bd. 5 (1934), S. 127. - »Das Dépôt in Soissn" sicher eines der schönsten und am besten geführten in ganz Frankreich.· AI Récalde, Traité sur les abus qui subsistent dans les hôpitaux du Royaumt moyens propres à les réformer, Paris 1786, S. 110. 141 GenanntGilbert'sAct.
der Gilbert's Act sind wir nicht am Ende der Internierung, aber wir stehen an dem Punkt, wo sie ihrer wesentlichen Kräfte beraubt ist. Durch langen Dienst verbraucht, zeigt die Internierung plötzlidi ihre Grenzen. Nun weiß man, daß sie keine Arbeitslosenkrise lösen kann, daß sie keinen spürbaren Einfluß auf die Preise hat. Wenn sie noch einen Sinn hat, dann nur noch in dem Maße, in dem sie eine darbende Bevölkerung betrifft, die unfähig ist, sich selbst zu unterhalten. Sie kann jedoch auf wirkungsvolle Weise in den ökonomischen Strukturen keinen Platz mehr haben. Die ganze traditionelle Politik der Fürsorge und der Unterdrückung der Arbeitslosigkeit ist von neuem in Frage gestellt, und es bedarf dringend einer Reform. Das Elend hebt sich langsam von dem alten moralischen Durcheinander ab. Man hat gesehen, wie im Laufe der Krisen die Arbeitslosigkeit ein Aussehen annahm, das man nicht mehr mit dem der Faulheit verwechseln konnte, und man hat die Armut und die erzwungene Muße sich auf dem Lande ausbreiten sehen, eben dort, wo man die unmittelbarsten und reinsten Formen des moralischen Lebens wiedererkennen geglaubt hatte. A l l das enthüllt, daß das Elend nicht nur :ine Frage des Vergehens war: »Die Bettelei ist das Ergebnis des Elends, das selbst das Resultat der Veränderungen ist, die in der Proluktion auf dem Lande oder in den Manufakturen, durch Erhöhung der Warenproduktion oder die übermäßige Zunahme der Bevölkerung und so weiter eintreten ( . . .).« Mi Der Mangel wird zu einer 'ionomischen Frage. Diese Armut ist keine kontingente Sache und auch nicht dazu bemmt, für immer beseitigt zu werden. Es gibt eine bestimmte Menge Elend, die man nicht auszulöschen vermag. Wie eine A r t Fatalität -Î Armut begleitet sie alle Gesellschaftsformen, selbst diejenigen, wo ι alle Müßiggänger beschäftigt, bis zum Ende der Zeiten: »In ei·' —ohlregierten Staat darf es keine Armen geben außer denen, die arm geboren werden oder zufällig in Armut verfallen.«' 43 Diese - mdlage des Elends ist in gewisser Weise unveränderlich: Geburt ùcr Zufall, es bildet einen Teil, den man nicht vermeiden kann. LanZeir war man unfähig, einen Staat zu konstruieren, in dem es keine α gäbe, so sehr schien der Zustand der Bedürfnisse in das Schickjues-Pierre Brissot de Warville, Théorie des lois criminelles, Berlin 1781, M. I.S.7J.
lopedie, Artikel »Hôpital«.
sal des Menschen und in die Gesellschaftsstruktur eingeschrieben: Eigentum, Arbeit und Armut sind Begriffe, die im Denken der Philosophen bis zum neunzehnten Jahrhundert verbunden bleiben. Ist dieser Teil an Armut notwendig, weil man ihn nicht beseitigen kann, so ist er es auch, weil er den Reichtum möglich macht. Die Klasse der Bedürftigen gestattet, weil sie arbeitet und wenig konsumiert, einer Nation, sich zu bereichern, ihre Felder, Kolonien, Minen zur Geltung zu bringen, Produkte herzustellen, die in der ganzen Welt verkauft werden. Daraus folgt, daß ein Volk ohne Armenschicht arm wäre. Der Mangel wird ein unerläßliches Element im Staat. Er verbirgt in sich das geheimste, aber auch das realste Leben einer Gesellschaft. Die Armen bilden das Fundament und den Ruhm einer Nation, und ihr Elend, das nicht beseitigt werden kann, muß verherrlicht und ihm sollte gehuldigt werden: »Meine Absicht ist lediglich, einen Teil der wachsamen Aufmerksamkeit (den der Macht) auf den leidenden Teil des Volkes zu lenken ( . . . ) ; die Hilfe, die man ihm zukommen lassen muß, gereicht einem Reich zur Ehre und zur Prosperität, denn die Armen sind überall die festeste Stütze, weil ein Herrscher sein Gebiet weder bewahren noch ausweiten kann, ohne die Bevölkerung, die Landwirtschaft, die Künste und den Handel zu begünstigen. Die Armen sind die notwendigen Glieder jener große" Kräfte, die die wahre Kraft eines Volkes errichten.«1·14 Darin liegi eine moralische Rehabilitierung des Armen, die im tieferen Sinne eini ökonomische und gesellschaftliche Reintegration seiner Gestalt am macht. In der merkantilistisehen Ökonomie hatte der Arme, der *(• der Produzent noch Konsument war, keinen Platz. Als Müßiggänge; Vagabund, Arbeitsloser kam er nur für die Internierung in Betracht durch diese Maßnahme wurde er verbannt und gewissermaßen voi der Gesellschaft abstrahiert. Mit dem Aufkommen der Industrie, ji kräftiger Arme bedârf, gehört er erneut zum Staatskörper. So arbeitet das ökonomische Denken auf einer neuen Grundlage J. Begriff der Armut heraus. Es gab die ganze christliche Tradition, f.i die der Arme eine reale und konkrete Existenz, eine fleischliche Pr senz hatte: das stets individuelle Gesicht der Bedürftigkeit, symh·· sches Vorübergehen des Mensch gewordenen Gottes. Die Abstrakr der Internierung hatte den Armen beiseite gezogen, hatte ihn mit .in deren Gestalten verwechselt, während er in einer ethischen Verur; lung eingehüllt wurde, hatte aber seine Züge nicht auseinander^
144 Ebda. - Ricaldc, a. a. O., S. II und III.
sen. Das achtzehnte Jahrhundert entdeckt, daß »die Armen« als konkrete und letzte Realität nicht existieren, sondern daß man in ihnen zu lange zwei Wirklichkeiten von verschiedener Natur verwechselt hat. Einerseits war da die Armut: Mangel an Waren und Geld, eine ökonomische Situation, die an den Handel, an die Landwirtschaft und an die Industrie gebunden war. Andererseits gibt es die Bevölkerung, nicht als passives, den Fluktuationen des Reichtums unterworfenes Element, sondern als Kraft, die direkt an der ökonomischen Situation der Produktion von Reichtümern Anteil hat, weil die Arbeit des Menschen diese schafft oder wenigstens verändert und vervielfacht. Der Arme« war ein unklarer Begriff, in dem sich der Reichtum, der der Mensch ist, und der Mangelzustand, den man als der Menschheit wesentlich erkennt, mischten. Tatsächlich gibt es zwischen Armut und Bevölkerung eine streng entgegengesetzte Beziehung. Die Physiokraten und Ökonomisten sind darüber einig. Die Bevölkerung ist in sich eines der Elemente des Reichtums, sie bildet sogar seine sichere und unerschöpfliche Quelle. Für Quesnay und seine Schüler ist der Mensch die wesentliche Vermittlung zwischen Erde und Reichtum: Tant vaut l'homme, tant vaut la terre<, sagt ein vernünftiges Sprichvort. Wenn der Mensch nichts ist, taugt auch die Erde nichts. Mit Menschen verdoppelt man den Besitz an Land. Mit ihnen macht man .irbar, erwirbt man Land. Gott allein hat aus der Erde einen MenJien zu machen gewußt. Oberall hat man es verstanden, sich mit Renschen die Erde anzueignen, oder wenigstens das Produkt, was Ulf dasselbe herauskommt. Daraus folgt, daß das oberste der Güter 1er Besitz an Menschen, das zweite der an Land ist.«"»' Für die Ökonomisten ist die Bevölkerung ein ebenso wichtiges Gut. ia. sie ist für sie sogar noch ein wesentlicheres, wenn es stimmt, daß für sie Schaffung von Reichtum nicht nur in der Landarbeit, son•rn in jeder industriellen Transformation und bis hinein in die Wazirkulation gibt. Der Reichtum ist mit einer wirklich vom Men!tn ausgeführten Arbeit verbunden: »Da der Staat keine wirklin Reichtümer außer den jährlichen Produkten seiner Ländereien id des Fleißes seiner Einwohner hat, wird sein Reichtum am großem. wenn das Produkt jeden Morgen Landes und des Fleißes Je: Individuums zum höchstmöglichen Punkt gesteigert wird.« 11 '' Mirabeau, L'Ami des hommes, Bd. i , S. 22. > ηι κ-Roberl-Jacques Turgot, »Eloge de Gournay«, in: ders., Œuvres ; che!le), 5 vols., Paris 1913-1923, Bd. t , S. 607.
(hrsg.
Paradoxerweise wird eine Bevölkerung um so wertvoller sein, je zahlreicher sie ist, weil sie der Industrie in diesem Fall sehr billige A r beitskraft bieten kann, was, da dadurch der Herstellungspreis gesenkt wird, eine Entwicklung der Produktion und des Handels gestattet. In diesem unendlich offenen Markt der Arbeitskräfte werden der »Grundpreis« — der für Turgot dem Existenzminimum des Arbeiters entspricht — und der durch Nachfrage und Angebot bestimmte Preis sich letzten Endes treffen. Ein Land wird also in der Handelskonkurrenz um so begünstigter sein, je größer der virtuelle Reichtum einer zahlreichen Bevölkerung ist, die zu seiner Verfügung steht.' 47 Die Internierung war also ein grober Irrtum und ökonomischer Fehler. Man glaubt das Elend unterdrücken zu können, indem man eine arme Bevölkerung außer Umlauf setzt und sie aus Mitleid unterhält. Tatsächlich verdeckt man nur künstlich die Armut und beseitigt wirklich einen Teil der Bevölkerung, also den stets gegebenen Reichtum. Glaubt man den Armen damit zu helfen, aus ihrer vorläufigen Bedürftigkeit herauszukommen? Man hindert sie daran, denn man schränkt den Arbeitskräftemarkt ein, was deshalb um so gefährlicher ist, weil man sich genau in einer Krisenzeit befindet. Man müßte vielmehr den hohen Preisen für die Produkte durch eine große Anzahl billiger Arbeitskräfte begegnen, ihre Seltenheit durch eine neue industrielle und landwirtschaftliche Anstrengung ausgleichen. Es gibt nur ein vernünftiges Heilmittel: jene ganze Bevölkerung wieder in den Produktionsprozeß einzugliedern, um sie an die Stellen zu verteilen, wo die Arbeitskräfte am dringendsten benötigt werden. Eines der Geheimnisse des Reichtums in der Konkurrenz zwischen den Nationen beruht darauf, daß man die Armen, Vagabunden, Ausgewiesenen und Emigrierten jeder A r t benutzt: »Gibt es ein besseres Mittel, die Nachbarstaaten zu schwächen, deren Macht und Industrie uns benachteiligen?« fragte sich Josias Tucker bei der Emigration der Protestanten »Das schaffen wir nicht dadurch, daß wir ihre Untertanen zwingen zu Hause zu bleiben, sondern dadurch, daß wir sie durch gute Behandlung zu uns herüberziehen, indem wir ihnen die Vorteile der anderen Bürger zuerkennen.«' 48 Die Internierung wird durch die Gegebenheiten auf dem Arbeickräftemarkt kritisierbar, aber mehr noch dadurch, daß sie und nu 147 Turgot, »Lettre à D a v i d Hume«, 25. März 1767, in: ders., Œuvres Chi Schelle), Bd. 2, S. 658-665. 148 Tucker, Questions importantes sur le commerce, f r z . Obers, bei Turc a. a. O., Bd. I, S. 442-470.
ihr das ganze traditionelle mildtätige Werk eine gefährliche Finanzierung heraufbeschwört. Wie das Mittelalter hatte die klassische Epoche stets versucht, den Beistand der Armen durch das System der Stiftungen zu sichern. Ein Teil des Grundkapitals also und der Einkünfte wurde dadurch immobilisiert, und zwar definitiv, weil in der gerechten Sorge, die Kommerzialisierung der Fürsorgeunternehmen zu vermeiden, man alle juristischen Maßnahmen getroffen hatte, damit diese Güter nicht mehr in Umlauf kämen. Im Laufe der Zeit wurde ihre Nützlichkeit jedoch geringer, weil die ökonomische Situation sidi verändert hatte und die Armut ihr Aussehen veränderte: •Die Gesellschaft hat nidit immer die gleichen Bedürfnisse. Die Natur und die Verteilung des Besitzes, die Teilung in verschiedene Volksstände, die Meinungen, Sitten, allgemeinen Beschäftigungen des Volkes und seiner verschiedenen Teile, sogar das Klima, Krankheiten und andere Zufälle des menschlichen Lebens unterliegen einer ständigen Wandlung. Neue Bedürfnisse entstehen, während andere aufhören, von Bedeutung zu sein.«1·" Der definitive Charakter der Stiftung steht im Widerspruch zur variablen und sidi verschiebenden Form der zufälligen Bedürfnisse, denen sie ursprünglich begegnen sollte. Nicht nur bleibt der Reichtum, den eine Stiftung immobilisiert, dem Umlauf entzogen, es bedarf auch stets neuer Stiftungen, weil ständig neue Bedürfnisse auftreten. Der Teil an Grund und Boden und Einkünften, der so zur Seite gelegt worden ist, steigt ständig und verringert damit Jen produktiven Teil. Das muß notwendig zu einer größeren Armut und damit zu zahlreicheren Stiftungen führen. Der Prozeß kann sich unendlich lange entwickeln, so daß der Augenblick eintreten könnte, D dem »die ständig vervielfachten Stiftungen ( . . . ) auf die Dauer lien Grund und Boden und alle Privatbesitztümer absorbieren würJen . Wenn man die klassischen Formen der Fürsorge genau betrachtet, sind sie eine Ursache der Verarmung und stellen die fortschreitende Immobilisierung und gewissermaßen den langsamen Tod des nzen produktiven Reichtums dar: »Wenn alle Menschen, die gelebt ben. einen Grabstein erhalten hätten, hätte man diese sterilen Momente umstürzen und die Asche der Toten bewegen müssen, um )aubares Land zur Ernährung der Lebenden zu finden.«15"
. Turgot. Artikel »Fondation« der Encyclopédie.
A u d i in: ders., a. a. O., Bd. I,
'--i-593"urpot. «Lettre à Trudaine sur le Limousin«, in: ders., a . a . O . , Bd. 2, S. 478 ba49f. 5
Die Unterstützung der Armen muß einen neuen Sinn annehmen. In der Form, die sie noch einnimmt, erkennt das achtzehnte Jahrhundert, daß sie in eine Komplizität mit dem Elend gerät und zu dessen Entwicklung beiträgt. Der einzige Beistand, der nicht widersprüchlich wäre, müßte bei einer armen Bevölkerung das zur Geltung bringen, wodurch sie potentiell reich ist: die reine und einfache Tatsache, daß sie eine Bevölkerung ist. Es stellt einen Widersinn dar, sie zu internieren. Hingegen muß man sie in voller Freiheit des sozialen Raums lassen, und sie wird sich von ganz allein in dem Maße resorbieren, in dem sie billige Arbeitskräfte stellt, denn die Punkte der Uberbevölkerung und des Elends werden allein durch diese Tatsache zu den Punkten, wo Handel und Industrie sich am schnellsten entwickeln. ,! ' Die einzig gültige Form des Beistandes ist die Freiheit: »Jeder gesunde Mensch muß sich seinen Unterhalt durch seine Arbeit verschaffen, weil er, falls er, ohne zu arbeiten, ernährt würde, auf Kosten der Arbeitenden unterhalten würde. Der Staat schuldet jedem seiner Mitglieder die Beseitigung der Hindernisse, sie sie belästigen.«' 52 Der gesellschaftliche Raum muß völlig von allen Barrieren und Grenzen befreit werden: Verbot der Zünfte, die innere Hindernisse errichten. Verbot der Internierung, die einen absoluten Zwang an den äußeren Grenzen der Gesellschaft darstellt. Die Politik der niedrigen Löhne, das Fehlen von Restriktionen und von Protektion bei der Beschäftigung müssen das Verschwinden der Armut zur Folge haben oder wenigstens die Armut auf eine neue A r t in die Welt des Reichtums integrieren. Diese neue Stelle der Armut versuchen zahlreiche Projekte zu definieren. 1 " Beinahe alle wählen die Unterscheidung zwischen »kräftigen 151 Ebda. τ J2 Turgot, Artikel »Fondation« in der Encyclopédie. IJ3 Vgl. einige Texte wie Savarin, Le cri de l'humanité aux Etats généraux, Pari 1789; J. Marsillac, Les Hôpitaux remplacés par des Sociétés civiques, Paris 1792; Claude-Philibert Coquéau, Essai sur l'établissement des hôpitaux dans les grand· villes, Paris 1787; Récalde, Traité sur les abus qui subsistent dans les hôpitaux, Pari 1786, und zahlreiche anonyme Schriften wie Précis des vues générales en faveur de ceu: qui n'ont rien, Lons-le-Saulnier 1789, oder Plaidoyer pour l'héritage du pauvn Paris 1790. Im Jahre 1777 hatte die Académie de Châlons-sur-Marne als Preisfrae ausgesetzt die Untersuchung »der Ursachen der Bettelei und die Mittel, sie auszu rotten«. Mehr als hundert Antworten gingen ein. In einem veröffentlichten Résum wurden als in den Antworten enthaltene Möglichkeiten genannt: die Bettler in il·' Heimatgemeinde zurückschicken, w o sie arbeiten sollen; öffentliche Almosen verbieten; die Zahl der Hospitäler reduzieren, die beibehaltenen reformieren; Pfau« häuser einrichten, Werkstätten schaffen, die Zahl der Festtage verringern, Zud1
Armen« und »kranken Armen« zum Ausgangspunkt. Diese Unterscheidung ist sehr alt, aber sie war auch sehr unsicher und verschwommen geblieben, da sie nur als Klassifikationsprinzip innerhalb der Internierung einen Sinn hatte. Im achtzehnten Jahrhundert entdeckt man die Unterscheidung von neuem und greift sie in aller Strenge auf. Zwischen »gesundem Armen« und »krankem Armen« ist es nicht nur ein Gradunterschied im Elend, sondern ein Unterschied in der N a tur beim Elenden. Der Arme, der arbeiten kann, ist ein positives Element in der Gesellschaft, selbst wenn man es versäumt, daraus Vorteil zu ziehen: »Das Unglück kann als ein Instrument, als ein Machtmittel betrachtet werden, denn es hebt nidit die Kräfte auf, und diese Kräfte können zum Vorteil eines Staates eingesetzt werden, sogar zum Vorteil eines Individuums, das man davon Gebrauch zu machen zwingt.« Der Kranke hingegen ist totes Gewicht, er stellt ein passives, bewegungsloses, negatives« Element dar und kommt in der Gesellschaft nur als Konsument in Betracht: »Das Elend ist ein Gewicht, das seinen Wert hat. Man kann es an eine Maschine hängen, und diese wird in Bewegung gesetzt. Die Krankheit ist eine Masse, die man nicht erfassen kann, die man nur ertragen oder fallenlassen kann und die ständig ein Hindernis darstellt und nie eine Unterstützung.«114 Bei dem alten Begriff der Hospitalität muß man also das darin Vermischte trennen: das positive Element der Armut und das Lastenbündel der Krankheit. Die kräftigen Armen müssen nidit im Zwang, sondern in voller Freiheit arbeiten, das heißt unter dem alleinigen Drude der ökonomischen Gesetze, die aus diesen beschäftigungslosen Arbeitskräften das wertvollste Gut machen. »Die Hilfe, die dem gesunden Armen am besten zukommt, ist die Möglichkeit, sich selbst durch seine eigenen Kräfte und durch seine Arbeit zu helfen. Das Almosen für einen gesunden und kräftigen Mann ist keine milde Tat oder nur eine falschverstanJene milde Tat, sie legt der Gesellschaft eine überflüssige Last auf ί.. Λ. Dadurch sehen wir auch die Regierung und die Besitzenden die kostenlosen Zuteilungen verringern.« 1 " Was im siebzehnten Jahrhundert noch »die hervorragende Würde« Jer Armen war und dem mildtätigen A k t seinen ewigen Sinn gab, "ar plötzlich zum Prinzip erstrangiger Nützlichkeit geworden: kein unser eröffnen »für die, die die Harmonie der Gesellschaft stören«. Vgl. Brissot de r arville. a. a. O., S. 261, Anm. 123. Coquéau, a. a. O.. S. 23 f. m5 A.a.O.. S. 7.
Mitleid wird verlangt, sondern die Anerkennung des Reichtums, dt sie bereits hier auf Erden darstellen. Der Reiche des Mittelalters w ir durch den Armen zum Heiligen gemacht worden, der des achtzehn« Jahrhunderts wird von ihm ernährt, denn ohne »die unteren Klasse· das heißt die leidenden Klassen der Gesellschaft, hätte der Reiche weder Wohnung, noch Kleidung, noch Nahrung. Für ihn errichtet der auf ein zerbrechliches Gerüst gekletterte Handwerker unter Leber gefahr riesige Gewichte auf dem obersten Punkt unserer Gebäud für ihn setzt sich der Bauer den Unbilden der Jahreszeiten aus und widersteht den niederschmetternden Anstrengungen des Ackerbat für ihn findet eine Menge Unglücklicher in den Minen oder Färb, reien oder mineralverarbeitenden Betrieben den Tod.« 1 " Der Arr wird in die Gesellschaft wieder aufgenommen, aus der ihn die Inte: nierung verjagt hatte, aber er hat ein neues Gesicht. Er ist nicht mehr die Rechtfertigung des Reichtums oder dessen geistige Form, er st nur dessen wertvolle Materie. Er war ursprünglich die raison d'êr des Reichtums und ist jetzt zur Bedingung seiner Existenz gewe den. Durch den Armen transzendiert sich der Reiche nicht mehr, son dern er bleibt durch ihn am Leben. Die Armut muß aus der Intern rung befreit und zur Verfügung des Reichtums gestellt werden, fü: den sie erneut wesentlich geworden ist. Und der kranke Arme? Er ist das negative Element par excellence, Elend ohne Hilfe und Abhilfe, ohne möglichen Reichtum. Der Kra* verlangt ganz allein völlige Unterstützung. Worauf sollte man aber gründen? Es gibt keinen ökonomischen Nutzen, wenn man Kranken pflegt, keine materielle Dringlichkeit. Lediglich Herze regungen können solches verlangen. Wenn es eine Krankenfürsorgc gibt, wird das stets nur die Organisation der Mitleids- und Solid, tätsgefühle sein, die ursprünglicher sind als der gesellschaftliche Κ per, weil sie wahrscheinlich dessen Ursprung sind: »Die Ideen von Cc sellschaft, von Regierung, von öffentlicher Hilfe liegen in der Natu: denn die Idee des Mitleids liegt ebenfalls darin, und diese ursprüngh Idee dient ihnen als Basis.« 1 ' 6 Die Verpflichtung zum Beistand liegt i!"1 außerhalb der Gesellschaft, weil sie bereits in der Natur vorhan ci: ist, sie liegt aber in der Gesellschaft, weil die Gesellschaft in ihr Ursprung nur eine der Formen dieser Verpflichtung ist, die ebe alt wie das Zusammenleben der Menschen ist. Das ganze menschl Leben, von den unmittelbarsten Gefühlen bis zu den entwickelte' 15 6 Ebda.
.llschaftsformen, ist in diesem N e t z der Beistandsverpflichtung .fangen: >Natürliche Wohltat* zunächst: »Ein intimes Gefühl, -ait uns entsteht, das sich mehr oder weniger entwickelt und uns r das Elend empfindlich macht, wie für die Krankheit der anderen ischen.« Dann kommt die »persönliche Wohltat, eine Vorliebe der •ur. die uns dazu bringt, persönlich Gutes zu tun«. Schließlich gibt • die nationale Wohltat, die immer den gleichen Prinzipien unserer unz entspricht, ein intimes Gefühl einschließt, das so verbreii. daß es den Volkskörper dahin bringt, den Mißbrauch, den er •rnimmt, zu beseitigen, die Leiden, die ihm angetan werden, wahrhmen. das Gute, das in der Ordnung der möglichen Dinge liegt, Jlen und auf alle Klassen der Individuen, die sich im Elend been oder von unheilbaren Krankheiten getroffen sind, auszudehnen.·"7 Fürsorge wird zur ersten sozialen Pflicht, die bedingungslos alle i. Ja sie die Grundbedingung der Gesellschaft ist, das lebendigste 1 zwischen den Menschen, zugleich das persönlichste und univer•:c. Jedoch zögert das Denken des achtzehnten Jahrhunderts bei ?tage der konkreten Formen, die diese Fürsorge annehmen soll. Tian unter »sozialer Pflicht« die absolute Verpflichtung für die Schaft verstehen? Soll der Staat die Fürsorge in die Hand neh•ioll der Staat Hospitäler bauen und Hilfe leisten? In den Jahlie unmittelbar der Revolution vorausgehen, gibt es um diese .ine heftige Polemik, bei der die einen dafür waren, eine staatLontrolle über alle Wohlfahrtseinrichtungen zu setzen, weil davon ausging, daß jede soziale Pflicht gleichzeitig eine Pflicht •ic Gesellschaft und schließlich des Staates ist. Man denkt an eine :e Kommission, die die Hospitäler des Königreiches kontrololl. Man träumt von der Errichtung großer Hospitäler, in :n tlle Armen, die krank wurden, behandelt werden sollten. 1 ' 8 ehrzahl verwirft jedoch die Vorstellung der Massenfürsorge, nisten und Liberale betrachten die soziale Pflicht vielmehr als "'unceaux, De la bienfaisance nationale, S. 7 f. lde verlangt die Schaffung eines Komitees »für eine allgemeine Reform "itäle·· . außerdem »eine Kommission, die in Permanenz tagt und im A u f unaufhörlich darüber wacht, daß das den Armen zugedachte Geld •·•·.'mil ά und gerecht verteilt wird«. A . a . O . , S. 129. - Vgl. Claude Chevalier, 1 Jes avantages d'une maison de santé, Paris 1762. — Dulaurens, Essai sur -lents nécessaires et les moins dispendieux pour rendre le service des il les hôpitaux vraiment utile .i l'humanité, Paris 17S7.
eine Pflicht des Menschen in der Gesellschaft und nicht der Gesellschaft selbst. Um die möglichen Fürsorgeformen zu skizzieren, mu!( man also beim gesellschaftlichen Menschen festlegen, welche Grenzen und welche Natur die Gefühle des Mitleids, des Erbarmens und der Solidarität haben, die den Menschen mit seinesgleichen verbinden können. Die Theorie der Fürsorge muß auf dieser halb psychologischen, halb moralischen Analyse beruhen und nicht auf einer Definition der vertraglichen Verpflichtungen in einer Gruppe. In dieser Konzeption ist der Beistand keine Struktur des Staates, sondern ein persönliches Band, das von Mensch zu Mensch reicht. Als Schüler Turgots sucht Dupont de Nemours diese Verbindung zu definieren, die ein Leiden mit einem Mitleiden verbindet. Der Mensdsucht, wenn er seinen Schmerz empfindet, zunächst die Erleichterung eines Übels bei sich selbst, beklagt sich dann, »beginnt die Hilfe seiner Verwandten und Freunde zu erflehen, und jeder von ihnen hilft ihm infolge einer natürlichen Neigung, die das Mitleid mehr oder weniger in den Herzen der Menschen auslöst.« 1 " Diese Neigung ist jedoch wahrscheinlich von gleicher Natur wie die Vorstellungskraft und dir Sympathie nach Hume. Ihre Lebhaftigkeit ist nicht konstant, ihn Kraft nicht unendlich, sie hat nicht jene unerschöpfliche Kraft, die ihr gestatten würde, sich mit derselben Spontaneität auf alle Menschen, selbst die Unbekannten zu erstrecken. Die Grenze des Mitleid ist schnell erreicht, und man kann von den Menschen nicht verlangen ihr Erbarmen »über den Punkt hinaus auszudehnen, an dem die Müh. und Anstrengung, die sie auf sich nehmen, ihnen mühsamer erscheine' als das Mitleid, das sie verspüren«. Es ist also nicht möglich, die Fü· sorge als eine absolute Pflicht, die sich bei der kleinsten Heimsuchum durch das Unglück ergäbe, zu betrachten. Die Fürsorge kann nicht anderes als das Ergebnis einer moralischen Neigung sein, und mac muß sie in Begriffen von Kräfteverhältnissen analysieren. Man kan sie aus zwei Komponenten deduzieren: einer negativen, nämlich de Mühe, die die zu leistende Pflege kostet (gleichzeitig die Schwere dt Krankheit und die zu überwindende Entfernung, das heißt, je meh man sich von dem eigenen Herd und der unmittelbaren Umgebung entfernt, um so schwieriger ist die Pflege materiell zu leisten): d andere ist eine positive Komponente und wird durch die Lebhaftif keit des Gefühls, das der Kranke bei einem auslöst, bestimmt. Sic
ι J9 Pierre-Samuel Dupont de Nemours, Idées sur les secours à donner aux Paui malades dans une grande ville, Paris 1786, S. 10 £.
mmt aber sehr schnell ab, je weiter man sich vom Gebiet der durch die Familie umschriebenen natürlichen Zuneigung entfernt. Wenn eine stimmte Grenze überschritten wird, die gleichzeitig durch Raum, 'urstellungskraft und die Intensität der Neigung umschrieben wird eine Grenze, die auf mehr oder weniger weite A r t den eigenen Haushalt umreißt - , spielen nur noch die negativen Kräfte eine Rolle, und die Fürsorge kann nicht mehr verlangt werden: »Deshalb ist immer uer Beistand innerhalb der Familie, die durch Liebe und Freundschaft .ueinanderhält, die aufmerksamste und energischste ( . . . ) . Jedoch . . . ) ist die Hilfe, aus je größerer Entfernung sie kommt, von geringerem Wert und erscheint denen schwerer, die sie gewähren.« Der soziale Raum, in dem die Krankheit sich findet, ist so völlig erleuert worden. Vom Mittelalter bis zum Ende der klassischen Epoche ar dieser Raum homogen geblieben. Jeder dem Elend oder der Krankheit verfallene Mensch hatte Recht auf das Mitleid und die Wiege der anderen. Er war auf universale A r t dem anderen nahe, konnte sich in jedem Augenblick allen aufdrängen. Aus je größerer Ferne er kam, je unbekannter sein Gesicht war, desto lebhafter iren auch die Symbole der Allgemeinheit, die er trug. Er war ianr der Elende, der Kranke par excellence und verbarg in seiner Anonymität Kräfte der Verherrlichung. Das achtzehnte Jahrjndert hingegen zerstückelt diesen Raum und läßt darin eine Welt .-/renzter Gestalten erscheinen. Der Kranke wird in diskontinuierhe Einheiten gestellt, in aktive Zonen psychologischer Heftigkeit, in inaktive und neutrale Zonen der Entfernung und Regungslosigkeit Herzens. Der gesellschaftliche Raum der Krankheit wird nach ier Art Ökonomie der Hingabe zerbrochen, so daß der Kranke nicht ehr jedermann angehen kann, sondern nur noch diejenigen, die zur 'dien Umgebung wie er selbst gehören, zu einer Nachbarschaft in ;r V o r s t e l l u n g s k r a f t u n d zu einer Gefühlsnähe. Der gesellschaftliche um der Philanthropie stellt sich nicht nur dem der Mildtätigkeit gegen, wie eine laizistische Welt der christlichen Welt, sondern h wie eine Struktur moralischer und affektiver Diskontinuität, die Kranken nach getrennten Zugehörigkeitsgebieten verteilt, gegener einem homogenen Feld, in dem jedes Elend sich an jeden Mengemäß der stets dem Zufall ausgelieferten Eventualität, die aber ts eine Bedeutung hat, beim Vorübergehen wendet, nnodi sieht das achtzehnte Jahrhundert darin keine Grenze. Man kt hingegen daran, der Fürsorge mehr natürliche Belebung und iuih gerechte ökonomische Grundlagen zu geben. Wenn man, statt
riesige Hospitäler, deren Unterhalt sehr teuer ist, zu bauen, direkt den Familien von Kranken Unterstützungen zuteilt, läge darin ein dreifacher Vorteil. Einerseits betrifft er das Gefühl, weil die Familie nicht das wirkliche Mitleid, das sie für den Kranken verspürt, dadurch verliert, daß sie ihn nicht mehr täglich sieht. Ein ökonomischer Vorteil besteht darin, daß es nicht mehr nötig ist, dem Kranken Unterkunft und Nahrung, die er jetzt zu Hause erhält, zu stellen. Der medizinische Vorteil ist schließlich der, daß der Kranke, abgesehen von der besonderen Aufmerksamkeit der Pflege, die er zu Hause erhält, nicht mehr durch das deprimierende Schauspiel eines Hospitals betroffen wird, das alle »als einen Todestempel« betrachten. Die Melancholie des ihn umgebenden Schauspiels, die verschiedenen Anstekkungen, die Entfernung von allem, was ihm teuer ist, erschweren die Leiden des Patienten und rufen schließlich Krankheiten hervor, die man normalerweise nicht spontan in der Natur findet, weil sie wie dem Hospital eigene Schöpfungen sind. Die Situation des im Hospital befindlichen Kranken bringt besondere Krankheiten mit sich, eine Art »Hospitalismus« vor der Zeit, und »der Hospitalarzt muß viel geschickter sein, um den Gefahren der falschen Erfahrung zu entgehen, die aus künstlichen Krankheiten zu resultieren scheint, denen er seine Aufmerksamkeit in den Hospitälern widmen muß. Tatsächlich ist keine Hospitalkrankheit rein.«'60 Das Hospital ist so, wie die Internierung Schöpferin der Armut war, Schöpfer von Krankheiten. Der natürliche O r t der Heilung ist nicht das Hospital, sondern die Familie oder wenigstens die unmittelbare Umgebung des Kranken. Ebenso wie die Armut sich in freier Zirkulation der Arbeitskräfte beheben lassen muß, soll die Krankheit in der Pflege, die das natürliche Milieu des Menschen ihm spontan bieten kann, verschwinden: »Die Gesellschaft muß, um eine wirkliche Mildtätigkeit auszuüben, so gering wie möglich in Aktion treten und die besonderen Kräfte der Familie und Individuen benutzen, soweit es in ihrer Macht steht.«' 6 ' Diese »besonderen Kräfte« versucht man am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu wecken und zu organisieren.' 61 In England untersagte 160 Ebda. ι ί ι A . a . O . , S . 113. 162 A u f Verlangen Turgots untersucht Brienne die Fürsorge in der Gegend von Toulouse. Die Ergebnisse faßt er 177$ zusammen und liest sie Montigny vor. Er empfiehlt Unterstützung zu Hause, aber auch die Einrichtung von Hospizen für bestimmte Kategorien wie die Irren. Bibliothèque Nationale, Fonds Français 8129, fos 244-287.
ein Gesetz von 1722 jede Unterstützung zu Hause. Der arme Kranke sollte ins Hospital gebracht werden, wo er auf anonyme Art Gegenstand öffentlicher Mildtätigkeit würde. 1796 modifizierte ein neues Gesetz diese Anordnung, die als »unangemessen und oppressiv« betrachtet wird, weil sie bestimmte Personen, die gelegentlich Hilfe benötigen, behindert und andere »der der häuslichen Situation inhärenten Stärkung« beraubt. Aufseher in jeder Gemeinde sollen über die Hilfsmaßnahmen entscheiden, die man den bedürftigen Kranken, die zu Hause bleiben, zuteil werden lassen kann. 163 Man versucht auch das System gegenseitiger Versicherung zu unterstützen. 1786 entwirft Acland ein Projekt einer »universal friendly or benefit society«, in der Bauern und Diener sidi einschreiben könnten, um im Fall von Krankheit oder Unfällen häusliche Hilfe zu erhalten. In jeder Gemeinde sollte ein Apotheker die Medikamente stellen, von denen die Gemeinde die Hälfte, die andere Hälfte die Gesellschaft zahlen sollte.'5·' Die französische Revolution gibt zumindest in ihren Anfängen die Pläne einer zentralen Neuorganisation der Fürsorge und den Bau großer Hospitäler auf. Der Bericht von La Rochefoucauld-Liancourt entspricht den liberalen Ideen von Dupont de Nemours und den Schülern Turgots: »Wenn das System der häuslichen Hilfe überwöge, das unter anderen wertvollen Vorteilen den enthielte, die Wohltaten in der ganzen Familie des Unterstützten zu verbreiten und ihn von den ihm Teuren umgeben sein zu lassen und so durch die öffentliche Fürsorge die Bindungen und natürlichen Zuneigungen zu verstärken, so wäre die Folge davon eine sehr beträchtliche Ersparnis, weil eine in viel geringerem Maße beträchtliche Summe als die Hälfte dessen, was heute der Arme im Hospital kostet, den bei sich zu Hause unterstützten Kranken zur Genüge aufrechterhielte.«' 8 ' Von diesen beiden einander fremden Bewegungen hat die eine ihren Ursprung und hat sich entwickelt im Innern des durch die Internierung abgegrenzten Raums. Dank ihrer hat der Wahnsinn Unabhängigkeit und Besonderheit in der konfusen Welt gewonnen, in der er eingeschlossen war. Neue Distanzen gestatten ihm dann, dort perzipiert zu werden, wo man kaum mehr als die Unvernunft wahrnahm. Und während alle anderen eingeschlossenen Gestalten der Internie163 Nicholls, A History 0} the English Poor Law, Bd. 2, S. 11 j f. 164 Eden, The State of the Poor, Bd. r, S. 373. 165 La Rochefoucauld-Liancourt, in: Procès verbal de l'Assemblée Nationale, Bd. 44, S. 94 f.
rung zu entgehen trachten, bleibt der Wahnsinnige allein darin als letztes Zeugnis jener Praxis, die für die klassische Welt wesentlich war, deren Sinn nun aber uns recht rätselhaft erscheint. Dann gab es jene andere Bewegung, die außerhalb der Internierung entstanden ist: eine ökonomische und gesellschaftliche Reflexion der Armut, der Krankheit und der Fürsorge war ihre Ursache. Zum ersten Mal in der christlichen Welt wurde die Krankheit von der Armut und all jenen elenden Gestalten getrennt. Was einst den Wahnsinn umringt hat, geht jetzt zu Grunde: der Kreis des Elends, der der Unvernunft lösen sich nacheinander auf. Das Elend wird wieder in den der Ökonomie immanenten Problemen aufgenommen, während die Unvernunft sich in die tiefen Gestalten der Vorstellungswelt eingräbt. Ihre Schicksale werden sich nicht mehr kreuzen. A m Ende jenes achtzehnten Jahrhunderts erscheint der Wahnsinn wieder, zwar immer noch in jener alten Welt der Ausgeschlossenheit wie das Verbrechen, aber auch all jenen neuen Problemen konfrontiert, die die Fürsorge für die Kranken mit sich bringt. Der Wahnsinn ist bereits in dem Sinne befreit, in dem er von den alten Erfahrungsformen, in denen er zuvor gefangen war, losgelöst ist. Er ist nicht durch irgendeine philanthropische Intervention befreit worden und nicht durch eine wissenschaftliche Erkenntnis, die letztlich positiv gegenüber seiner »Wahrheit« wäre, sondern durch jene ganze langsame Arbeit, die sich in den unterirdischsten Strukturen der Erfahrung vollzogen hat: nicht dort, wo der Wahnsinn Krankheit ist, sondern dort, wo er mit dem Leben der Menschen und ihrer Geschichte verknüpft ist, dort, w o sie insgeheim ihr Elend verspüren und von den Phantasmen der Unvernunft heimgesucht werden. In jenen dunklen Regionen hat sich langsam der moderne Begriff vom Wahnsinn gebildet. Es ist kein neuer Erwerb von Begriffen eingetreten, sondern »eine Entdeckung«, wenn man so will, in dem Maß, in dem, dank einer Rückläufigkeit, einer eingenommenen Distanz, erneut seine beunruhigende Anwesenheit verspürt worden ist - in dem Maß, in dem es sich um eine große Arbeit der »Freilegung handelt, die nur wenige Jahre vor der Reform von Tuke und Pine! den Wahnsinn schließlich in der großen, frisch entstandenen und ruinierten Gestalt der Unvernunft hat erscheinen lassen.
S.Kapitel
Vom rechten Gebrauch der Freiheit Der Wahnsinn ist also in eine A r t Einsamkeit zurückversetzt worden, nicht in eine lärmende und in gewisser Weise ruhmreiche, die er bis zur Renaissance hat kennen können, sondern in eine andere, in eine eigenartig schweigsame. Diese Einsamkeit löst ihn nadi und nach aus der konfusen Gemeinschaft der Internierungshäuser und kreist ihn wie mit einer neutralen und leeren Zone ein. Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts ist nicht die unmenschliche Strenge verschwunden mit der man die Irren behandelt, sondern die Evidenz der Internierung, die globale Einheit, in der sie ohne Zögern gehalten wurden, jene zahllosen Fäden, die sie in das zusammenhängende Gewebe der Unvernunft fügten. Der Wahnsinn ist lange vor Pinel befreit - nicht von den materiellen Zwängen, die ihn im Kerker halten, sondern von einer viel zwanghafteren Verknechtung, die vielleicht viel entscheidender ist, von der er unter der Herrschaft jener dunklen Macht gehalten wird. Der Wahnsinn wird sogar vor der Revolution frei, frei für eine Perzeption, die ihn individualisiert, und für eine Anerkennung seiner eigenartigen Gesichter und die ganze Arbeit, die ihm schließlich seinen Objektstatus geben wird. Der Wahnsinn wird, allein gelassen und von seinen alten Verwandt"diaften losgelöst, in den verdorbenen Mauern der Internierung zum Problem, weil er Fragen stellt, die er bis dahin nie formuliert hatte. v or allem ist der Gesetzgeber in Bedrängnis geraten, der das Ende der internierung herbeiführen mußte und nun nicht mehr wußte, w o inlerhalb des sozialen Raums er den Wahnsinn ansiedeln sollte, ob im "rerangnis, im Hospital oder in der Familienfürsorge. Die unmittelbar vor oder in der Revolution ergriffenen Maßnahmen spiegeln diese große Unsicherheit wider. In • ;inem Rundschreiben über die Lettres de cachet verlangt Breteuil ' den Intendanten, ihm die A r t der Befehle mitzuteilen, durch die Jen verschiedenen Internierungshäusern eingesperrt wird, und ihn "iber zu informieren, durch welche Motive sie gerechtfertigt werScfreit werden sollen nach höchstens einem oder zwei Jahren Geschäft »diejenigen, die nichts getan haben, was sie der Strenge der von den Gesetzen ausgesprochenen Strafen aussetzen könnte«, her dem libertinage, den Ausschweifungen und der Vergeudung
hingegeben haben. Hingegen wird man in den Internierungshäusern »die Gefangenen behalten, deren Geist verwirrt ist und deren Imbezillität sie unfähig zu einem gesellschaftlichen Leben macht oder deren Tobsucht sie gemeingefährlich werden läßt. Es handelt sich bei ihnen nur darum, sich zu vergewissern, ob ihr Zustand immer der gleiche ist, und unglücklicherweise wird es unerläßlich, ihre Einsperrung fortzusetzen, solange ihre Freiheit für die Gesellschaft als schädlich oder als eine für sie selbst unnütze Wohltat gehalten wird.«' 66 Da ist die erste Etappe, in der man die Internierungspraxis möglichst reduziert für Fälle von moralischen Verfehlungen, Familienkonflili· ten und die heitersten Aspekte des libertinage, in der man aber du Internierung in ihrem Prinzip und mit einer ihrer Hauptbedeutungen weiter gelten läßt, das heißt bei der Einsperrung der Wahnsinnigen. In dieser Zeit nimmt der Wahnsinn in der Tat Besitz von der Internierung, während sie sich ihrerseits von ihren anderen Anwendung formen befreit. Die zweite Etappe ist die der großen Untersuchungen, die von der Assemblée Nationale und der Constituante nach der Erklärung de Mensdienredite vorgeschrieben werden: »Kein Mensch darf außer in den vom Gesetz bestimmten Fällen und in den von ihm festgelegtr Formen verhaftet und festgehalten werden ( . . . ) . Das Gesetz dar nur strikt und erkennbar notwendige Strafen vorsehen, und niemar. darf ohne ein vor dem Vergehen erlassenes, veröffentlichtes und leg: angewandtes Gesetz bestraft werden.« Das Zeitalter der Internieren ist beendet. Es bleibt allein eine Gefangenschaft, in die sich für d. Augenblick die vermutlichen oder verurteilten Kriminellen und Jie Wahnsinnigen teilen. Das comité de mendicité der Constituante be zeichnet fünf Personen' 67 , die die Internierungshäuser von Pari* be sichtigen sollen. Der Herzog von La Rochefoucauld-Liancourt legr : Dezember 1789 den Bericht vor. Einerseits versichert er, daß die An Wesenheit der Irren in den Zuchthäusern eine gewisse Degradieren; bedeutet und die Internierten auf eine der Menschheit unwürd Stufe herabzudrücken droht. Die Vermengung, die man in den H sern zuläßt, zeigt von Seiten der Regierung und der Richter große Leiditfertigkeit: »Diese Sorglosigkeit steht der aufgeklärte Rundschreiben an die Intendanten (März 1784), zitiert bei Frantz Funck-i. tano. Les lettres de cachet à Paris, Paris 1003. S. XLII. 167 Der duc de Liancourt, der curé de Sergy, der curé de Cretot als Demi' Montlinot und Thouret als »agrégés externes au travail du Comité«. Vgl. Jen i - T port an Comité de mendicité, a. a. O., S. 4.
•nd sorgenden Frömmigkeit sehr fern, durch die das Unglück alle möglichen Tröstungen und Linderungen erhält ( . . . ) ; kann man in dem Anspruch, das Elend mildern zu wollen, damit einverstanden erJieinen, die Menschheit herabzusetzen?«168 Wenn die Irren diejenigen erniedrigen, mit denen man sie unklugersise zusammensperrt, muß man ihnen eine Internierung verschaffen, lie speziell für sie reserviert ist. Diese Internierung muß nichts Ärztliches, sondern die wirksamste und sanfteste Form der Fürsorge sein: Von allem Unglück, das die Menschen niederdrückt, ist der Wahn:nn indessen einer der Zustände, die am meisten Mitleid und Achtung erlangen. Diesem Zustand sollten besondere Pflegemaßnahmen zu.il werden. Wenn keine Hoffnung auf Heilung besteht, gibt es noch ele Mittel, sanfte und gute Behandlungen, die den Unglücklichen ..nigstens eine erträgliche Existenz verschaffen.«"•' In diesem Text ι r dieint der Status des Wahnsinns in seiner Doppelseitigkeit; man nuß ihn gleichzeitig mit seinen Gefahren von der übrigen internieren Bevölkerung fernhalten und ihm die Wohltaten einer speziellen irsorge gewähren. I >le dritte Etappe ist die der großen Serie der zwischen dem 12. und März 1790 erlassenen Dekrete. Die Erklärung der Menschenrechte :ährt darin eine direkte Anwendung: »Innerhalb von sechs Wochen ii Erlaß dieses Dekrets werden alle in den Schlössern, Ordenshäua Zuchthäusern, Polizeianstalten oder anderen beliebigen Gefängn durch lettres de cachet oder durch Befehl von Beauftragten der kutive gefangengehaltenen Leute freigelassen, wenn sie nicht verdit oder verhaftet sind, unter Anklage eines schweren Verbrechens cn oder wegen Wahnsinn eingesperrt sind.« Die Internierung ist definitiv für bestimmte Kategorien von rechtsfähigen Personen die Irren bestimmt. Für diese jedoch sieht man eine besondere Jung vor: »Die wegen Demenz festgehaltenen Personen werden -halb von drei Monaten nach Veröffentlichung dieses Dekrets, iber die Staatsanwälte wachen sollen, von den Richtern in der ohnten Weise befragt und auf deren Anweisung von Ärzten uni t , die unter Überwachung durch die Distriktdirektoren sieh • er die wirkliche Situation der Kranken äußern sollen, damit sie 1.0., S. 47. .0.. S. 78. Als das Comité seine Arbeit am £nde der Constituante zusam- ::·. : i l i verlangt es die Einrichtung »zweier Hospitäler, die zur Heilung der Irren : sind.·· Vgl. Alexandre Tuetey, L'Assistance publique à Paris pendant la • 4 vols., Paris 1895-1897, Bd. I, Einleitung, S. X V .
nach Urteil über ihren Zustand entweder freigelassen oder in für diesen Zweck bestimmten Hospitälern behandelt werden.«'' 0 Am 29. März begeben sich Bailly, Duport-Dutertre und ein Verwaltung;· mann der Polizei in die Salpêtrière, um zu entscheiden, auf welchr Weise man- das Dekret anwenden kann.''' Danach machen sie einen gleichen Besuch in Bicêtre. Die Schwierigkeiten sind sehr zahlreich vor allem besteht die, daß keine Hospitäler existieren, die für die Irren bestimmt oder wenigstens reserviert wären. Angesichts dieser materiellen Schwierigkeiten, zu denen noch vielr theoretische Unsicherheiten kommen, beginnt eine lange Phase dt Zögerns."' 1 V o n allen Seiten verlangt man von der Assemblée einen Text, der einen Schutz gegen die Irren garantiert, noch bevor dk· Schaffung neuer Hospitäler versprochen wird. In einer für die Zukunft bedeutenden Regression läßt man die Irren unter die unkontro'· Herten Direktmaßnahmen fallen, die nicht einmal gegen die gefähi liehen Kriminellen, sondern gegen die bösartigen Tiere ergriffen werden. Das Gesetz vom 16. bis 24. August 1790 »vertraut der Autorita der Gemeindekörperschaften ( . . . ) die Sorge an, den Ärgernissei; ..; begegnen und abzuhelfen, die durch die in Freiheit gelassenen Irrer; und Wahnsinnigen und durch das Umherschweifen von bösartig, und wilden Tieren verursacht werden können«.'" Das Gesetz vom 22. Juli 1791 bekräftigt diese Anordnungen und macht die Famiii; für die Bewachung der Irren verantwortlich. Die örtlichen Behörd. dürfen alle nützlichen Maßnahmen ergreifen: »Die Verwandten der Irren müssen über sie wachen, sie am Umherschweifen hindern um: darauf achten, daß sie keine Unordnung anrichten. Die Behörd müssen den Nachteilen begegnen, die aus einer Vernachlässigung d. r Pflichten von Seiten der Privatpersonen entstehen können.« Auf .1 sem Umweg ihrer Befreiung finden die Wahnsinnigen, diesmal doch innerhalb des Gesetzes, jenen Status eines Tieres wieder, in d. die Internierung sie zu bringen schien. Sie werden in der Zeit, in die Ärzte ihnen eine sanfte Animalität zuzuerkennen beginnen, err;
170 Artikel I X des Dekrets. 17t Vgl. den Moniteur vom 3. April 1790. 172 Es gab unzählige Diskussionen darüber, was man mit den Irren in den H tälern machen sollte. Im Hospiz von Toulouse lehnt zum Beispiel der Polizcidi tor eine Freilassung aus Sicherheitsgründen ab, die der Innenminister wepen Elends im Hospital und der »sehr teuren und sdiwierigen Pflege« angeoriir·. hatte. - Archives Nationales, F 15, 3 39. 173 Titel X I , Artikel 3.
•j wilden Tieren.' 74 Aber man hat diese gesetzliche Anordnung vergeblich in die Hände der Behörden gegeben, die Probleme werden ladurdi nicht gelöst. Hospitäler gibt es für die Irren immer noch licht. Zahllose Gesuche erreichen den Innenminister. Delessart antwortet beispielsweise auf eines: »Ich spüre wie Sie, wie sehr es unser Interesse 'äre, unaufhörlich Häuser einzurichten, die dazu bestimmt sind, die unglückliche Klasse der Irren aufzunehmen ( . . . ) . Hinsichtlich der Irren, die wir wegen Mangel an solchen Häusern in den verschiedenen Gefängnissen Ihres Départements unterzubringen gezwungen aren, sehe ich kein anderes Mittel, als sie gegenwärtig aus diesen h rem Zustand so wenig angemessenen Orten zu entfernen und sie, cnn es möglich ist, provisorisch nach Bicêtre zu bringen. Es wäre Iso angemessen, wenn das Direktorium an das in Paris schreiben dite, um sich mit ihm über die Maßnahmen ins Einvernehmen zu czen, wie sie in jenem Haus zugelassen werden können und wohin die Summe für ihren Unterhalt von Ihrem Département oder den -meinden, in denen diese Unglücklichen oder ihre Familien ihren Wohnsitz haben, bezahlt wird, wenn die Angehörigen kein Geld ha?n. Bicêtre wird also zum Großzentrum, in das alle Irren ge-lidtt werden, vor allem seit Saint-Lazare geschlossen worden ist. bas gleiche geschieht mit den Frauen in der Salpêtrière. 1792 bringt ui dorthin 200 irre Frauen, die fünf Jahre zuvor im ehemaligen "viziat der Kapuziner in der Rue Saint-Jacques untergebracht worin waren.'76 In den fernen Provinzen aber geht es nicht um die FraJie irren in die alten Hôpitaux généraux zu schicken. Meistens läßt man sie in den Gefängnissen, wie es im Fort du Hâ, im Schloß \ngers und in Bellevaux der Fall ist. Infolgedessen ist die UnordIR unbeschreiblich und wird sich noch lange fortsetzen - bis zum 'serreich. Antoine Nodier liefert einige Einzelheiten über Belleix. Jeden Tag ertönen Rufe, daß in der Abteilung der Irren • lägereien im Gange seien. Die Wache eilt herbei, jedoch ist sie in -er heutigen Zusammensetzung das Gespött der Kämpfenden. Die "hchen Beamten werden gebeten, zur Herstellung der Ruhe zu eri «e>e Anordnungen fanden sich noch im Strafgesetzbuch. Portalis bezieht sich m in einem Rundschreiben vom 30. Fructidor, An X I I (17. September 1804). Brief des Innenministers ( j . Mai 1791 an M . Chalan, procureur général), Ms. t bei Latlemand, a. a. O., Bd. 4, S. 7, Anm. 14. lbert-Bernard-Eugène Pignot, L'Hôpital du Midi et ses origines, Paris 1885,
scheinen. Ihre Autorität wird mißachtet, sie werden verhöhnt und beleidigt. Es ist kein Haus der Gerechtigkeit und kein Zuchthau mehr.«' 77 Die Ordnungslosigkeit ist in Bicêtre genauso groß, vielleicht noch größer. Dort läßt man politische Gefangene und Verdächtige unterbringen. In Elend und N o t leben dort viele Hungernde. Fortwährend protestiert die Verwaltung und verlangt, daß die Kriminellen getrennt gehalten werden. Was jedoch wichtiger ist: einige behaupten, daß man ihnen in ihrem Zuchthaus Irre zugesellt. Mit Datum vom 9. Brumaire des Jahres Drei schreibt der Ökonom von Bicêtre an die »Bürger Grandpré und Osmond, Mitglieder der Kommission für Verwaltung und Gerichte«: »Ich stelle fest, daß in einem Moment, in dem die Menschlichkeit an der Tagesordnung ist, niemand eine Bewegung des Schreckens verspürt, wenn er im gleichen Asyl Verbrechen und Bedürftigkeit vereinigt sieht.« Muß man an die Septembermassaker, die ständigen Ausbruchsversuche178 und im Falle von vielen Unschuldigen an das Schauspiel der geknebelten Gefangenen erinnern? Die Armen und entbehrenden Alten haben »nur Ketten, Gitter und Schlösser vor Augen. Wenn man dem das Stöhnen der Gefangi nen, das manchmal bis zu ihnen dringt, hinzufügt ( . . . ) . Auf dies. Grundlage stütze ich mich, um mit neuem Nachdruck zu verlangen daß man entweder die Gefangenen oder die Armen aus Bicêtre enifernt, damit nur noch die Gefangenen darin sind.« Wenn man bf denkt, daß dieser Brief inmitten der Revolution geschrieben worde· ist und lange nach den Berichten von Cabanis und mehrere Monate nachdem Pinel, so heißt es gewöhnlich, die Irren in Bicêtre »befreihat' 7 ', ist folgendes sehr entscheidend: »Man könnte in diesem letze Fall die Irren darin lassen, eine andere Art von Unglücklichen, die J Menschheit schrecklich leiden lassen. ( . . . ) Beeilt Euch also, Bürgr' denen die Menschheit am Herzen liegt, und verwirklicht einen schönen Traum; seid im voraus überzeugt, daß Ihr Euch wohl um verdient machen werdet.«' 80 So groß war die Konfusion im Laufe die-
177 Bericht des Kommissars der Regierung Antoine Nodiers vor den Tribunalen Germinal, A n V I I I . Zitiert bei Léonce Pingaud, Jean de Bry, Paris 1909, S. 194. 178 Nach den Mémoires de Père Richard, (f°» 49 f.) sollen an einem Tag 400 pc! tische Gefangene nach Bicêtre gebracht worden sein. 179 Pinel hatte seine Aufgabe in Bicêtre am 11. September 1793 angetreten und am 13. Mai 1795 (24. Floréal, A n III) f ü r die Salpêtrière ernannt worden. 180 Brief v o n Létourneau, dem Ökonomen des Armenhauses von Bicêtre, ar Bürger Osmond und Grand Pré. Zitiert bei Tuetey, a. a. O., Bd. 3, S. 360-362.
•er jähre; so schwierig war es, als man die »Humanität« wieder neu •ifwerten wollte, den Platz zu bestimmen, den der Wahnsinn darin anehmen sollte. So schwierig war es, ihn in einen gesellschaftlichen .aum zu stellen, der in einer Umstrukturierung begriffen war. edodi bereits in dieser einfachen Chronologie haben wir das tradi•nell für den Anfang jener großen Reform festgelegte Datum überschritten. Die zwischen 1780 und 1793 ergriffenen Maßnahmen steli'-R das Problem folgendermaßen dar: das Verschwinden der Interni .rung hinterläßt den Wahnsinn ohne genauen Punkt, an dem er sich Jen sozialen Raum einreihen kann. Die Gesellschaft reagiert angehts der entfesselten Gefahr auf der einen Seite mit einer Vielzahl •n langfristigen Maßnahmen, die einem Ideal entsprechen, das geade entsteht - Schaffung von für die Irren reservierten Häusern - , •d andererseits mit einer Reihe von unmittelbaren Maßnahmen, die 1 gestatten sollen, den Wahnsinn gewaltsam zu bändigen - regrese Maßnahmen, wenn man diese Geschichte mit Begriffen des Fortiiritts messen will, .se Situation ist nicht eindeutig, aber für die Verlegenheit bezeichnd- in der man sich befindet; außerdem bezeugt sie neue Erfahrungsmen, die langsam entstehen. U m sie zu verstehen, muß man sidi 1 allen Themen des Fortschritts und von dem freimachen, was sie Perspektivierung und Teleologie implizieren. Wenn diese Wahl gehoben ist, muß man einheitliche Strukturen bestimmen können, ie Jie Erfahrungsformen in einer unbegrenzten Bewegung forttra: n. lediglich offen in der Kontinuität ihrer Verlängerung und von 'its. nidit einmal für uns, anzuhalten. Man muß sich also genauestens davor hüten, in den Jahren, in die auch Reform von Tuke und Pinel fiel, etwas zu suchen, das wie ein auftauchen wäre: Neuauftauchen einer positiven Erkenntnis des 'insinns und einer menschlichen Behandlung der Geisteskranken. Den Ereignissen dieser Periode und den sie tragenden Strukturen man die Freiheit der Verwandlung belassen. Ein wenig unterer der juristischen Maßnahmen, auf der Ebene der Institutionen : 'n der täglichen Auseinandersetzung, in der sich der Irre und • Nicht-Irre begegnen, trennen, bloßstellen und schließlich anerΪΠ- haben sich im Laufe dieser Jahre Gestalten gebildet, entsdiei:'-r.de Gestalten natürlich, denn sie haben die »positive Psychiatrie« ®en. Aus ihnen sind die Mythen einer endlich objektiven und iien Erkenntnis des Wahnsinns entstanden, die diese Gestalten
nachträglich gerechtfertigt hat, indem sie sie als Entdeckung und Bc freiung der Wahrheit weihte. Tatsächlich kann man diese Gestalten nicht in Begriffen der Erkenn nis beschreiben. Sie stehen diesseits, dort, wo das Wissen noch gar nahe bei seinen Gesten, Vertrautheiten und ersten Worten ist. Dr· dieser Strukturen sind sicher determinierend gewesen. 1) In der einen haben sich der alte, jetzt reduzierte und begren." Raum der Internierung und ein ärztlicher Raum vermischt, der sie woanders gebildet hat und sich jenem nur durch fortgesetzte Modi kationen und Reinigungen hat anpassen können. 2) Eine andere Struktur stellt zwischen dem Wahnsinn und den' nigen, die ihn erkennen, überwachen und beurteilen, eine neue, neu tralisierte, offensichtlich von jeder Komplizität gereinigte Beziehu her, die zur Ordnung des objektiven Blicks gehört. 3) In der dritten findet sich der Irre mit dem Verbrecher konfr tiert, aber weder in einem Raum der Konfusion noch in der Art der Nichtverantwortlidikeit. Diese Struktur gestattet dem Wahnsinn J1 Verbrechen zu bewohnen, ohne es ganz zu reduzieren, und erla dem vernünftigen Menschen gleichzeitig, die Wahnsinnsarten παά neuen Formen der Moral zu beurteilen und aufzuteilen. Hinter der Chronik der Gesetzgebung, deren Etappen wir skizz. haben, müssen wir jene Strukturen untersuchen. Lange Zeit waren das ärztliche Denken und die Internierungsp' tiken einander fremd geblieben. Während sich die Kenntnis der Geisteskrankheiten nach ihren eigenen Gesetzen entwickelte, bestand„•·• konkrete Erfahrung des Wahnsinns in der klassischen Epoche - ein Erfahrung, die durch die Internierung symbolisiert und fixiert wu A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts nähern sich diese beiden stalten in Form einer ersten Konvergenz aneinander an. Es har sich nicht um eine Aufklärung oder etwa um eine Bewußtwerdun. in einer Konversion des Wissens die Enthüllung gebracht hätte, die Internierten Kranke seien. Es handelt sich vielmehr um eine dui le Arbeit, in der sich der alte, homogene, einförmige, streng grenzte Raum des Ausschlusses mit jenem sozialen Raum der sorge konfrontiert sah, den das achtzehnte Jahrhundert zersch und in einen polymorphen umgestaltet hat, indem es ihn nad moralischen und psychologischen Formen der Aufopferung s e n tierte. Aber dieser neue Raum ist den dem Wahnsinn eigenen Probl
.ίΐ! .ingepaßt. Wenn man die gesunden Armen zur Arbeit zwang, Familien die Obhut der Kranken auferlegte, kam eine Vermiung der Irren mit der Gesellschaft nidit in Frage. Im äußersten 1 dl konnte man versudien, sie im Familienbereich, zu halten, indem in den Privatpersonen untersagte, gemeingefährliche Irre frei hernJaufen zu lassen. Der Schutz wird in diesem A l l aber nur von ei.r Seite garantiert, und zwar auf sehr zerbrechliche Weise. Sosehr bürgerliche Gesellschaft sich angesichts des Elends unschuldig fühlt, sosehr erkennt sie ihre Verantwortung hinsichtlich des Irren an id „pürt, daß sie die Privatleute davor schützen muß. In der Zeit, zum ersten Mal Krankheit und Armut in der christlichen Welt vatsachen wurden, die nur der Sphäre der Individuen und der nilien zugehörten, verlangt der Wahnsinn einen öffentlichen Stajnd die Abgrenzung eines Raumes, der die Gesellschaft vor seiGefahren schützt. Natur dieser Abgrenzung wird noch durch nichts bestimmt. Man •rißnicht, ob sie der Bestrafung oder der gastlichen Aufnahme näher icn wird. Im Augenblick ist nur eines sicher: der Irre befindet sich Jem Augenblick, als die Internierung zerbricht und die Sträflinge Freiheit und die Elenden ihren Familien wiedergibt, in der glei. a Situation wie die Untersuchungshäftlinge und Verurteilten, wie irmen und Kranken, die keine Familie haben. In seinem Bericht br -iet La Rochefoucauld-Liancourt zum Ausdruck, daß den meisten in Paris hospitalisierten Personen eine Hilfe auch zuteil werden nte. wenn sie zu Hause lebten. »Von 11 ooo Armen könnten so ooo unterstützt werden, daß heißt Kinder und Erwachsene beiJ Geschlechts, die nicht Strafgefangene, Irre oder ohne Angehöind.- ,!l Muß man die Irren wie andere Gefangene behandeln c in eine karzerartige Struktur eingliedern oder sie wie Kranke ndeln, die familienlos sind, und eine Quasi-Familie um sie herum fenr Wir werden genau sehen, wie Tuke und Pinel beides getaben. wodurch sie den Archetyp des modernen Asyls schufen. - die gemeinsame Funktion und die aus diesen beiden Typen der itnzung gemischte Form sind noch nicht entdeckt. In dem Augends die Revolution beginnt, stehen sich zwei Reihen von Projek.-^eniiber: die einen suchen nach Wegen, wie man in neuer Form incr Art geometrischer Reinheit von fast delirierender Ratio;ät - die alten Funktionen der Internierung vor allem für den lodiefoucaulcl-Liancourt, a. a. O., S. 95. Hervorhebung von uns.
Wahnsinn und das Verbrethen wiederbeleben kann. Die anderen bemühen sich hingegen, einen Hospitalstatus abzugrenzen, der die Stelle der fehlenden Familie einnähme. Das ist nicht der Kampf der Philanthropie und der Barbarei, der Tradition gegen den neuen Humanismus. Es handelt sich um das unsichere Stolpern auf dem Wege zu einer Definition des Wahnsinns, den eine ganze Gesellschaft in der Epoche erneut zu bannen versucht, in der seine alten Begleiter — Armut, libertinage, Krankheit - in die Privatwelt zurückgefallen sind. In einem völlig umstrukturierten sozialen Raum muß der Wahnsinn einen Platz finden. Man hat in der Zeit, als die Internierung ihren Sinn verlor, viel von idealen Strafanstalten geträumt, die ohne Hindernisse oder Unbequemlichkeiten in einer schweigsamen Perfektion funktionieren, von traumhaften Bicêtres, in denen die ganzen Mechanismen der Bestrafung in Reinzustand spielen könnten. Darin wäre alles nur Ordnung und Strafe, genau zugemessene Bestrafung, organisierte Pyramide der Arbeiten und Strafen - die beste der möglichen Welten des Bösen. V o n diesen idealen Festungen träumt man, daß sie ohne Kontakt zur realen Welt seien. Völlig abgeschlossen, lebten sie allein von den Quellen des Bösen, in einer Genügsamkeit, die der Ansteckung zuvorkommt und den Schrecken auflöst. Sie würden in ihrem unabhängigen Mikrokosmos ein umgekehrtes Bild der Gesellschaft zeigen: Laster, Zwang, Sühne würden so wie im Spiegel die Tugend, die Freiheit und die Belohnungen zeigen, die das Glück der Menschen ausmachen. Zum Beispiel umreißt Brissot den Plan eines Zuchthauses, das in seiner architektonischen und zugleich moralischen Strenge geometrisch vollkommen ist. Jedes Raumfragment nimmt die symbolischen Werte einer metikulosen gesellschaftlichen Hölle an. Zwei Seiten eines Gebäudes, das viereckig sein soll, sind für die schwächeren Formen de Bösen reserviert: Frauen und Kinder und dann die Schuldner; ihnen werden »ein Bett und annehmbare Nahrung zugestanden«. Ihr Zimmer wird Sonnenlicht erhalten und angenehm klimatisiert sein. Au! der Seite der Kälte und des Windes werden »die eines Kapitalverbrechens angeklagten Personen« und mit ihnen die libertins, Tobenden und alle Irren, »die die öffentliche Ruhe« stören, eingesperrt. Di. beiden ersten Klassen von Strafgefangenen sollen dem öffentliche' Wohl nützliche Arbeiten leisten. Die beiden anderen werden für die gesundheitsschädlichen Arbeiten, die unerläßlich sind, eingesetzt, dr mit sie nicht, wie es oft geschieht, von ordentlichen Menschen verriet
tet werden müssen. »Die Arbeiten sind dem Ausmaß, der Feinheit und der Natur der Verbrechen angemessen, etc. ( . . . ) So werden die Vagabunden, die libertins, die Verbrecher mit Steinsägen, Schleifen von Marmor, Reiben von Farben und mit diemischen Arbeiten beschäftigt, bei denen das Leben der ehrenhaften Bürger gewöhnlich in Gefahr ist.« Bei dieser wunderbaren Ökonomie erhält die Arbeit eine doppelte Wirksamkeit: sie produziert, indem sie zerstört - die für die Gesellschaft notwendige Arbeit entsteht durdi den Tod des ihr unerwünschten Arbeiters. Das unruhige und gefährliche Leben des Menschen ist in die Fügsamkeit des Gegenstandes übergegangen. Alle Unregelmäßigkeiten jener irren Existenzen haben sich endlich in dieser geglätteten Oberfläche des Marmors ausgeglichen. Die klassischen Themen der Internierung erreichen hier eine paroxistisdie Perfektion. Der Internierte wird bis zum Tode ausgeschlossen, aber jeder Schritt, den er in Rechnung des Todes tut, wird in einer rückstandlosen Umkehrbarkeit für das Glück der Gesellschaft nützlich, von der er verbannt wird.' 81 Als die Revolution beginnt, haben sich solche Träume noch nidit aufgelöst. Der von Musquinet gehört zu einer recht ähnlichen Geometrie, iber die Metikulosität der Symbole ist darin noch reicher. Er konzipiert eine Festung mit vier Seiten. Jedes Gebäude hat vier Etagen und bildet eine Arbeitspyramide. In dieser architektonischen Pyramide sind unten die Werkstühle zum Kardätschen und Weben untergebracht; oben »wird eine Plattform eingerichtet, die zum Verzetteln der Ketten dient, bevor die Stücke auf den Werkstuhl gebracht werden Die soziale Pyramide stellt sich so dar, daß die Internierten ;n Gruppen von jeweils zwölf Individuen eingeteilt sind und unter 1er Kontrolle eines Aufsehers stehen. Vorarbeiter leiten sie bei der Arbeit an. Ein Direktor steht dem Ganzen vor. Schließlich ist alles 1er Hierarchie der Verdienste unterworfen, die ihren Höhepunkt in 1er Freilassung hat. Jede Woche erhält der eifrigste Arbeiter »vom Vor'.cher einen Preis in Höhe von sechs livres, und wer den Preis dreimal 'ekommen hat, erhält die Freiheit«.' 84 Soweit sind die Fragen auf dem • 'ebiet von Arbeit und Interessen beantwortet; das Gleichgewicht ; Brissot Je V a r v i l l e , a. a. O., S. 183-18$. De Sade plante »eine Arbeit über die lv träfe und einen Plan, wie man die Kriminellen nützlich für den Staat verien könne.. (Portefeuille d'un homme de lettres, zitiert bei Lely, a . a . O . , Bd. i .
S uj). Mu.quinet de la Pagne, a. a. O., S. 10 f. • V 1 . 0 . . S. 16.
wird genau hergestellt, die Arbeit des Internierten ist für die Administration Handelswert und für den Gefangenen der Wert, gegen den er seine Freiheit kaufen kann. Die Arbeit wird so zum Produkt zweier Gewinnsysteme; aber es gibt auch die Welt der Moral, die durch die Kapelle symbolisiert wird, die sich im Zentrum des von den Gebäuden gebildeten Vierecks befindet. Männer und Frauen müssen jeden Sonntag der Messe beiwohnen und auf die Predigt achten, »die immer zum Ziel hat, in ihnen die Reue entstehen zu lassen, die sie wegen ihres vergangenen Lebens verspüren müssen, und ihnen zu dem Verständnis zu verhelfen, in welchem Maße Libertinage und Müßiggang die Menschen unglücklich machen (sogar in diesem Leben); sie sollen so den festen Entschluß fassen, in Zukunft ein besseres Leben zu führen«.' 8 ' Ein Gefangener, der bereits Preise gewonnen hat und nur noch ein oder zwei Schritte von seiner Freiheit entfernt ist, verliert, falls er die Messe stört oder sich »in seinen Sitten regellos« zeigt, sofort den erworbenen Gewinn. Die Freiheit hat nicht nur einen Handelswert, sie hat auch einen moralischen Wert und muß durch die Tugend erworben werden. Der Gefangene wird also an den Schnittpunkt zweier Gesamtheiten gestellt, von denen eine rein ökonomisch ist und durch die Arbeit, ihr Produkt und ihre Gratifikationen gebildet wird, während die andere rein moralischer Natur ist und durch die Tugend, die Überwachung und die Belohnungen gebildet wird. Wenn beide in einer vollkommenen Arbeit zusammenfallen, die gleichzeitig reine Moralität ist, gelangt der Internierte zu seiner Freiheit. Das Zuchthaus selbst, dieses perfekte Bicêtre, besitzt also eine doppelte Rechtfertigung. Für die äußere Welt ist es nichts als Gewinn; diese unbezahlte Arbeit wird von Musquinet auf genau 500.000 livres bei 400 Arbeitern in einem Jahr geschätzt. Für die Eingeschlossenen stellt es eine gigantische moralische Reinigung dar: »Es gibt keinen so verkommenen Menschen, daß man ihn für unverbesserlich halten könnte. Man muß ihm nur seine wirklichen Interessen klarmachen und ihn nie durch unerträgliche Strafen, die steri über die menschliche Schwäche hinausgehen, verrohen lassen.«' 8 ' Wir berühren hier die äußersten Formen des Internierungsmythos Er läutert sich in einem komplexen Schema, in dem seine ganzen Absichten durchscheinen. Er wird in aller Naivität, was er bereits au dunkle Weise war, nämlich die moralische Kontrolle für die Intei
18 j A. a. O., S. 27. 186 A.a.O.,S.u.
nierten und der ökonomische Profit für die anderen. Das Produkt der dabei geleisteten Arbeit ist in aller Strenge zerlegbar. Auf der einen Seite steht der Gewinn, der völlig der Administration und auf diesem Wege der Gesellschaft zufällt, und auf der anderen die Gratifikation, die dem Arbeiter in der Form von moralischen Zeugnissen zufällt. Das ist eine karikierte Wirklichkeit, die nicht nur bezeichnet, was das Asyl sein wollte, sondern auch den Stil, in dem eine bestimmte Form bürgerlichen Bewußtseins die Beziehungen zwischen der Arbeit, dem Profit und der Tugend herstellte. A n diesem Punkt stolpert die Geschichte des Wahnsinns in die Mythen, in denen sich gleichzeitig die Vernunft und die Unvernunft ausgedrückt haben.'8? Mit diesem Traum von einer Anstrengung, die sich völlig in der Herausarbeitung der Moralität vollzog, und mit jenem anderen Traum von einer Arbeit, die ihre Positivität im Tod desjenigen findet, der sie verrichtet, erreicht die Internierung eine außerordentliche Wahrheit. Solche Projekte werden nur noch von einer Uberladung von psychologischen und sozialen Bedeutungen beherrscht, nur noch durch ein ganzes System moralischer Symbole, in dem der Wahnsinn nivelliert wird. Er ist dann nur noch Unordnung, Unregelmäßigkeit, dunkle Verfehlung, eine Verwirrung im Menschen, der den Staat stört und der Moral widerspricht. In dem Augenblick, in dem die bürgerliche Gesellschaft die Nutzlosigkeit der Internierung wahrnimmt und jene evidente Einheit aufgibt, die die Unvernunft für das klassische Zeitalter wahrnehmbar machte, beginnt sie von einer reinen Arbeit zu •räumen, die für sie nur Profit, für die anderen nur Tod und morasche Unterwerfung wäre, in der alles Fremde im Menschen erstickt •ind zum Schweigen gebracht würde. In ienen Träumereien geht die Internierung auf, wird sie zur reinen : ' 'tm, installiert sich bequem im Netz der sozialen Nützlichkeiten " i enthüllt sich als unendlich fruchtbar. A l l jene mythischen Elaboîonen sind nichtige Arbeit, die in einer phantastischen Geometrie Themen einer bereits verdammten Internierung wieder aufneh-n. Dennoch versuchte sie durch eine Reinigung des Internierungsr.v.mes von allen wirklichen Widersprüchen und durch die Schaffung • ei· Assimilierbarkeit an die Erfordernisse der Gesellschaft wenig•:5 im imaginären Bereich an die Stelle ihres einzigen Wertes, des • · Vergessen wir nidit, daß Musquinet in Bicêtre sowohl unter dem Ancien wie in der Revolution interniert war, einmal als Irrer, einmal als Krimi-
Ausschlusses, eine positive Bedeutung zu setzen. Jenes Gebiet, d. gleichsam eine negative Zone an den Grenzen des Staates gebilde· hatte, suchte nun nach der Möglichkeit, volles Zentrum zu werden, in dem sich die Gesellschaft wiedererkennen und ihre eigenen Werte in Umlauf bringen könnte. In diesem Maße stehen die Träume von ßri sot oder von Musquinet in einer Komplizität mit anderen Projekten, denen ihre Ernsthaftigkeit, ihre philanthropische Sorge und die ersten ärztlichen Beschäftigungen einen völlig entgegengesetzten Sin zu geben scheinen. Obwohl sie zur gleichen Zeit entstanden, sind diese Projekte von > nem völlig anderen Stil. Dort herrschte die Abstraktion einer in ihr. · allgemeinsten Formen begriffenen und zum Internierten beziehune losen Internierung; der Internierte war dabei eher der Anlaß un : das Material als die raison d'être der Internierung. Hier dage>;. werden das an den Internierten Besondere und vor allem jenes eigenartige Gesicht exaltiert, das der Wahnsinn im achtzehnten Jahrhudert in dem Maße annahm, in dem die Internierung ihre essentiell Strukturen verlor. Die Aliénation wird darin um ihrer selbst will behandelt, nicht so sehr als einer der notwendigen Fälle von tnii r nierung, sondern als ein Problem in sich und an sich, bei dem dir Ir, ternierung nur die Gestalt einer Lösung annimmt. Zum ersten M finden sich internierter Wahnsinn und behandelter Wahnsinn, Wa!i sinn in Bezug zur Vernunft und Wahnsinn in Bezug zur Krankh systematisch konfrontiert. Es handelt sich also, kurz gesagt, um d ersten Augenblick jener Konfusion oder jener Synthese, wenn r: sie so bezeichnen will, die die Geistesalienation im modernen Si? des Wortes bildet. 1785 erscheint, unterzeichnet von Doublet und Colombier, eine Ii struetion imprimée par ordre et aux frais du gouvernement sur manière de gouverner et de traiter les insensés«. Der Irre wird d< in voller Ambiguität in halbe Entfernung zwischen einer Für«*.:«.·, die man zurechtzurücken sich bemüht, und einer Internierung, di verschwinden im Begriff ist, gestellt. Dieser Text hat weder den ^ er: einer Entdeckung noch den einer Umkehr in der Behandlungs« des Wahnsinns. Er bezeichnet eher Kompromisse, die Suche nach V nahmen, nach einem Gleichgewicht. Alles Zögern der revolutiun Gesetzgeber findet sich darin schon vorgezeichnet. Einerseits wird die Fürsorge als Manifestation eines natürlichen leids für die Irren gefordert, ebenso wie für all jene, die ihre' genen Bedürfnissen nicht entsprechen können: »Die schwächster
ücklidisten Wesen müssen von der Gesellschaft besonders getzt und gepflegt werden. Daher haben die Kinder und Irren auch a den Gegenstand öffentlicher Besorgnis gebildet.« Doch ist das deid. das man natürlicherweise gegenüber Kindern verspürt, eine tive Anziehung. Bei den Irren wird das Mitleid sofort kompenrt, ia ausgelöscht durch den Schrecken, den man angesichts dieser mden Existenz verspürt, die ihren Gewalttätigkeiten und ihrem >tn ausgesetzt ist: »Man ist sozusagen dazu geneigt, sie zu fliehen, •m das zerreißende Schauspiel der häßlichen Zeichen nicht zu erlen. die sie in ihrem Gesicht und auf ihrem Körper tragen, und das .rgessen ihrer Vernunft nicht zu verspüren. Im übrigen entfernt die ;rcht vor ihrer Gewalt all jene von ihnen, die nicht dazu verpflidind, sie zu unterstützten.« Man muß also einen Mittelweg zwi.n der Fürsorgepflicht finden, die ein abstraktes Mitleid vorschreibt, der legitimen Furcht, die ein deutlich verspürter Schrecken herruft Das wird natürlich eine Fürsorge intra muros sein, eine Hilfe, nnerhalb jener Distanz geleistet wird, die der Schrecken vorvht, ein Mitleid, das sich in dem seit mehr als einem Jahrhundert iurch die Internierung bereiteten und von ihr-freigelassenen Raum dten wird. Durch diese Tatsache wird der Ausschluß der Irren -n anderen Sinn annehmen, er wird nicht mehr die große Zäsur Jicn Vernunft und Unvernunft an den äußersten Grenzen der .Ilsehaft bezeichnen, sondern wird im Innern der Gruppe selbst ermaßen eine Linie des Kompromisses zwischen Gefühlen und inen, zwischen Mitleid und Schrecken, zwischen Fürsorge und Si•htit ziehen. Der Ausschluß wird nie mehr jenen absoluten Grenzr! haben, den er vielleicht von den alten Heimsuchungen geerbt η der stummen Furcht der Menschen gefestigt hatte, indem er in cographisdier Weise den Platz der Lepra eingenommen hat. uß jetzt eher Maß als Grenze sein, und die Evidenz dieser neuen jtung macht die »französischen, vom römischen Recht inspirierAsvle so kritisierbar. Sie erleichtern in der Tat nur »die öffentfurchc und können dem Mitleid nicht Genüge tun, das nicht nur -'dierheit, sondern auch nach Pflege und Behandlung verlangt, oft 'ernachlässigt werden und wegen deren Fehlen die Demenz nen ständig andauert, wo man sie doch heilen könnte, und die deren verstärkt wird, wo man sie doch vermindern könnte«. Jiese neue Internierungsform muß ebenfalls ein Maß in jenem :n Sinne sein, in dem man die Möglichkeiten des Reichtums und •rordernisse der Armut miteinander versöhnen muß. Die Rei-
chen nämlich, und das ist das Ideal der Fürsorge bei den Schülern v< Turgot, »erheben zum Gesetz, ihre vom Wahnsinn befallenen Ver wandten zu Hause sehr sorgfältig zu behandeln«, und lassen sie b. Mißerfolgen »von Vertrauensleuten überwachen«. Die Armen ab« haben »weder die notwendigen Mittel, um die Irren zu bewahrt" noch die Möglichkeit, sie zu pflegen oder die Kranken pflegen zu la sen«. Man muß also nach dem Modell der Reichen eine Hilfe sdiaifen, über die die Armen verfügen können und die gleichzeitig Übe; wadiung und ebenso sorgfältige Pflege wie innerhalb der Fami! garantiert, aber für die Nutznießer völlig kostenlos bleibt. Zu diese' Zweck schreibt Colombier vor, daß man »eine allein für die irre Armen bestimmte Abteilung in jedem Bettelhaus einrichtet und sidi vornimmt, ohne Unterschied alle Arten von Wahnsinn zu behau dein«. Das Entscheidende an diesem Text ist aber das noch zögernde Suchtnach einem Gleidigewicht zwischen dem reinen Ausschluß der Im und der ärztlichen Pflege, die man ihnen in dem Maße zuteil werd- η läßt, in dem man sie als Kranke betrachtet. Die Irren einzuschließr heißt im wesentlichen, die Gesellschaft gegen die von ihnen dargesi. te Gefahr zu schützen: »Tausend Beispiele haben diese Gefahr be^· sen, und die Gazetten haben es uns vor kurzem im Fall eines man' Kranken gezeigt, der nach der Tötung seiner Frau und seiner Kind ruhig auf den blutigen Opfern seiner Phrenesie eingeschlafen ist Erster Punkt bleibt also, die Dementen einzuschließen, die die arm, Familien nicht überwachen lassen können. Man muß ihnen aber au den Genuß der Pflege zukommen lassen, die sie bei Ärzten erhielt« wenn sie Reiche wären, oder in Hospitälern, wenn man sie nidit fort einschlösse. Doublet nennt Details für die Kuren, die man bi: den verschiedenen Geisteskrankheiten anwenden muß. Vorschrift die genau die traditionelle Art der Pflege im achtzehnten Jahrhund resümieren.'88 Auf jeden Fall ist die Verbindung zwischen Internierung und gewährten Pflege nur von zeitlicher Ordnung. Sie fallen nicht g·. zusammen, sondern folgen aufeinander. Während der kurzen Perin der die Krankheit als heilbar betrachtet wird, gewährt man Pfl sofort danach nimmt die Internierung ihre einzige Funktion, dir Aussdiließung, wieder an. In einem bestimmten Sinn nimmt di< struktion von 178$ die Gewohnheiten der Hospitalität und der Inu-riSS Journal de médecine, August 1785, S. $29-583.
crung nur wieder auf und systematisiert sie. Das Wesentliche ist Ji. daß sie sie in einer gleichen institutionellen Form zusammen.•;cht und daß die Pflege genau dort verwaltet wird, wo man den diluß vorschreibt. Einst pflegte man im Hôtel-Dieu und kerkerte Bicêtre ein. Jetzt wird eine Form des Einschließens projektiert, in •r die ärztliche Funktion und die Funktion des Ausschlusses abwech>d eine Rolle spielen, immer jedoch innerhalb einer einzigen Struk. Der Schutz der Gesellschaft vor den Irren in einem Raum der •bannung, der den Wahnsinn als unerläßliche Aliénation bezeichund der Schutz gegen die Krankheit in einem Raum des Wiedertarkens, in dem der Wahnsinn wenigstens rechtlich als vorüberged betrachtet wird, sind die beiden Typen von Maßnahmen, die .ι Erfahrungsformen umfassen, die bisher heterogen waren, sich r iedoch überlagern, ohne dabei ineinander aufzugehen. " r hat aus dem Text von Doublet und Colombier die erste große ppe auf dem Weg zur Bildung des modernen Asyls machen wol(hre Instruktion nähert sich jedoch vergeblich soweit wie mögler Welt der Internierung und geht sogar so weit, sie in sie ein:'?en zu lassen, denn die ärztlichen und pharmazeutischen Tech.n, die den wesentlichen Schritt ausmachen, sind immer noch nicht •ekelt. Das geschieht erst an dem Tag, an dem der Internie'"aum, dem Wahnsinn angepaßt und reserviert, eigene Werte 'üllen wird, die ohne äußeres Hinzutun durch eine autochthone ".tt in sich befähigt werden, den Wahnsinn aufzulösen; das heißt On jenem Tag an, an dem die Internierung zur wesentlichen likation geworden ist, an dem die negative Geste des Ausschlusleichzeitig durch ihre einzige Bedeutung und ihre ihr innewohnen Tugenden Öffnung für die positive Welt der Heilung bedeuird. Es handelt sich nicht darum, die Internierung durch Praktiu ergänzen, die ihr fremd wären, sondern ihr, indem man sie 'sert, indem man eine Wahrheit herausarbeitet, die sie verbirgt, : .m man alle Fäden spannt, die sich in ihr dunkel kreuzten, einen dien Wert in der Bewegung zu geben, die den Wahnsinn zur •unft zurückführt. Man muß aus einem Raum, der nichts als geldliche Trennung bedeutete, das dialektische Gebiet herstellen, :m der Irre und der Nichtirre ihre geheimnisvollen Wahrheiten Madien werden.
I c cricux und Libcrt, »L'Assistance et le Traitement des maladies mentales le Louis XVI», in: Chronique médicale, 15. Juli bis 1. August 1914.
Dieser Schritt ist von Tenon und Cabanis gemacht worden. Noch bei Tenon findet man die alte Vorstellung, daß die Internierung der Irren nur definitiv dekretiert werden kann, wenn die ärztlichen Versuche gescheitert sind: »Erst nachdem man alle möglichen Quellen erschöpft hat, ist es erlaubt, der ärgerlichen Notwendigkeit zu gehorchen und einem Bürger seine Freiheit zu nehmen.«1SD Die Internierung ist aber bereits nicht mehr in strenger Weise totale und absolute Beseitigung der Freiheit. Sie muß eher eingeschränkte und geordnete Freiheit genannt werden. Wenn die Internierung zur Vermeidung aller Kontakte mit der vernünftigen Welt dient - und in diesem Sinne bleibt sie immer Ausschluß - , muß sie zum Innern den leeren Raum freigeben, in dem der Wahnsinn sich frei ausdrücken kann. Das geschieht nicht, damit er seinem blinden Toben überlassen bleibt, sondern um ihm die Möglichkeit der Befriedigung, eine Chance zur Beruhigung zu geben, die der ununterbrochene Zwang ihm nicht gestatten kann: »Das erste Heilmittel besteht darin, daß man den Irren eine bestimmte Freiheit gewährt, so daß sie sich maßvoll den Impulsen hingeben können, die die Natur ihnen verleiht.« 1 ' 1 Ohne den Versuch, ihn völlig zu bezähmen, funktioniert die Internierung eher so, als sollte sie dem Wahnsinn ein Zurückweichen gestatten, dank dessen er er selbst sein kann und in einer von allen sekundären Reaktionen entledigten Freiheit erscheinen kann (Gewaltsamkeit, Toben, Furor, Verzweiflung), die eine ständige Unterdrückung hervorrufen muß. Das klassische Zeitalter hat wenigstens in bestimmten seiner Mythen die Freiheit des Irren mit den agressivsten Formen der Animalität in Verbindung gebracht. Was den Irren mit dem Tier verwandt machte, war das Beutemachen. Jetzt erscheint das Thema, daß es beim Irren eine sanfte Animalität geben kann, die seine menschliche Wahrheit nicht durch die Gewaltsamkeit zerstört, sondern ein Naturgeheimnis ans Licht kommen läßt, einen vergessenen Bodengrund, der jedoch stets vertraut war und den Irren in die Nähe des Haustiers und des Kindes rückt Der Wahnsinn ist nicht mehr absolute Perversion in die Widernatur sondern Eindringen einer sehr benachbarten Natur. In den Auger Tenons ist das Ideal der Internierungspraktiken die Weise, wie die Internierung in Saint-Luke praktiziert wird, wo der Irre, »sich selhs überlassen, seine Zelle verläßt, wenn er will, die Galerie durchläur oder auf einem Sandweg in freier Luft spazierengeht. Unter dem 190 Tenon, Mémoires sur les hôpitaux de Paris, I V , S. 212. 191 Tenon, Projet de rapport au nom du comité des secours, Bibliothèque Nar nale, Ms., f ° 232.
Zwange, sidi zu bewegen, braucht er bedachte und unbedachte Räume, damit er jederzeit den Impulsen folgen kann, die ihn erregen.«'92 Die Internierung muß also Raum der Wahrheit ebenso wie Raum des Zwanges sein und darf das eine nur sein, damit sie auch das andere ist. Zum ersten Mal wird jene Idee formuliert, die mit einem solchen Gewicht auf der ganzen Geschichte der Psychiatrie bis zur psychoanalytischen Befreiung lastet: daß der internierte Wahnsinn in jenem Zwang, in jenem abgeschlossenen Raum, in jenem »Milieu« das privilegierte Element findet, in dem die wesentlichen Formen seiner Wahrheit auftauchen können. Relativ frei und den Paroxysmen seiner Wahrheit überlassen, riskiert da der Wahnsinn nicht eine Verstärkung und eine A r t ständiger Akzeleration? Weder Tenon noch Cabanis glauben es. Sie nehmen hingegen an, daß jene Halbfreiheit, jene Freiheit im Käfig einen therapeutischen Wert hat. Für sie wie für die anderen Ärzte des achtzehnten Jahrhunderts ist die Vorstellungskraft, weil sie am Körper und an der Seele teilhat und der O r t ist, an dem die Irrtümer entstehen, stets für alle Geisteskrankheiten verantwortlich. Je stärker der Mensch gezwungen wird, in um so größerem Maße schweift seine Vorstellungskraft ab. Je strikter die seinem Körper auferlegten Regeln sind, um so regelloser sind seine Träume und Bilder. Infolgedessen fesselt die Freiheit die Vorstellungskraft besser als Ketten, weil sie die Vorstellungskraft unablässig mit der Wirklichkeit konfrontiert und die seltsamsten Träume in die vertrautesten Gesten legt. Die Vorstellungskraft kommt in der vagabundierenden Freiheit zur Ruhe, und Tenon lobt die Klarsieht der Administratoren von Saint-Luke sehr, wo »der Irre im allgemeinen tagsüber in Freiheit ist: diese Freiheit ist für denjenigen, der nicht die Fessel der Vernunft kennt, bereits ein Heilmittel, das der Erleichterung einer verirrten oder verlorenen Vorstellungskraft dient.«'« Die Internierung ist also von selbst, und ohne etwas anderes zu sein als jene abgeschlossene Freiheit, ein Agens der Heilung. Sie ist ärztlich nicht so sehr we:en der Pflege, die man leistet, sondern durch das Spiel der Vorstel'ungskraft, der Freiheit, des Schweigens, der Grenzen und durch die Bewegung selbst, die sie spontan organisiert und die den Irrtum zur "ahrheit, den Wahnsinn zur Vernunft zurückbringt. Die internierte eiheit heilt von selbst, wie es bald die freigesetzte Sprache in der w ; A .».O., f ° 232. V g l . im gleidien Sinne die Mémoires sur les hôpitaux, S.H6. 15 Ebda.
IV,
Psychoanalyse tun wird, aber in einer Bewegung, die genau umgekehrt ist. Sie heilt nicht dadurch, daß sie den Phantasmen gestattet, in den Wörtern Gestalt anzunehmen und sich in ihnen auszutauschen, sondern indem sie sie im Gegenteil zwingt, sich angesichts des nachdrücklichen und lastenden Schweigens der Realität zu verwischen. Der wesentliche Schritt ist getan: die Internierung hat ihren ärztlichen Adelsbrief erhalten, sie ist zum Ort der Heilung geworden. Die Internierung ist nicht mehr das, worin der Wahnsinn dunkel bis zum Tode wachte und sich bewahrte, sondern das, worin in einer Art autochthonen Mechanismus der Wahnsinn sich von selbst auslöschen muß. Das Wichtige liegt in der Tatsache, daß jene Transformation des Internierungshauses in ein Asyl sich nicht durch die fortschreitende Einführung der Medizin, eine von außen kommende Invasion vollzogen hat, sondern durch eine interne Umstrukturierung jenes Raumes, dem die klassische Zeit keine anderen Funktionen gegeben hatte als die des Ausschlusses und die der Bestrafung. Die fortschreitende Veränderung seiner gesellschaftlichen Bedeutungen, die politische Kritik der Repression und die ökonomische Kritik der Fürsorge, die Aneignung des ganzen Internierungsfeldes durch den Wahnsinn, während alle anderen Gestalten der Unvernunft nach und nach freigesetzt worden sind, all das hat aus der Internierung einen auf doppelte Weise privilegierten Ort für den Wahnsinn gemacht. Die Internierung ist zum O r t seiner Freiheit und zum Ort seiner Aufhebung geworden, und in diesem Maße wird sie wirklich seine Bestimmung; zwischen ihnen besteht künftig ein notwendiges Band. Die Funktionen, die am widersprüchlichsten erscheinen könnten — Schutz gegen die durch die Irren hervorgerufenen Gefahren und Heilung der Krankheiten - , diese Funktionen finden schließlich gewissermaßen eine plötzliche Harmonie, denn in dem geschlossenen, aber leeren Raum der Internierung formuliert der Wahnsinn seine Wahrheit und befreit seine Natur plötzlich und durch den alleinigen Vorgang der Internierung; die öffentliche Gefahr wird gebannt, und die Zeichen der Krankheit werden ausgelöscht. Der Raum der Internierung wird so von neuen Werten bewohnt und einer ganzen Bewegung, die ihm fremd war, so daß dann, und ersi dann, die Medizin Besitz vom Asyl ergreifen und alle Erfahrunger des Wahnsinns zu sich zurückführen können wird. Nicht das ärztlich Denken hat die Pforten der Internierung aufgestoßen. Wenn du Ärzte heute im Asyl herrschen, so nicht aufgrund eines Eroberung
rechtes oder dank einer lebhaften Kraft ihrer Philanthropie oder ihrer Sorge um wissenschaftliche Objektivität, sondern weil die Internierung selbst allmählich einen therapeutischen Wert angenommen hat - und das durch die Anpassung aller gesellschaftlichen oder politischen Gesten, aller Riten, seien sie nun imaginär oder moralisch, die seit mehr als einem Jahrhundert den Wahnsinn und die Unvernunft verbannt hatten. Die Internierung nimmt ein anderes Aussehen an, aber in dem Komplex, den der Wahnsinn mit ihr bildet und in dem die Trennung nie in voller Strenge möglich ist, verändert sich der Wahnsinn seinerseits. Er knüpft mit jener Halbfreiheit, die man ihm anbietet, nicht ohne sie zu messen, mit der Zeit, in der er verläuft, mit den Blicken schließlich, die ihn überwachen und einkreisen, neue Beziehungen an. Er bildet notwendig eine Einheit mit jener abgeschlossenen Welt, die gleichzeitig für ihn seine Wahrheit und sein Aufenthalt ist. Durch einen Rückgriff, der nur seltsam ist, wenn man den Wahnsinn vor den ihn bezeichnenden und betreffenden Praktiken ansetzt, wird seine Situation ihm zur Natur. Seine Zwänge nehmen einen deterministischen Sinn an, und die ihn fixierende Sprache wird zur Sprache einer Wahrheit, die von alleine spricht. Das Genie von Cabanis und die von ihm 1791 geschriebenen Texte1'·» stehen an dem entscheidenden und zugleich doppeldeutigen Punkt, in dem die Perspektive zu wanken beginnt. Was soziale Reform der internierung war, wird zur Treue gegenüber den tiefen Wahrheiten des Wahnsinns, und die Art, wie man den Irren entfremdet, wird vergessen, um als Natur der Aliénation wiederzuerscheinen. Die Inlernierung ist im Begriff, sich nach den Formen zu ordnen, die sie hat entstehen lassen. Das Problem des Wahnsinns wird nicht mehr vom Gesichtspunkt der Vernunft oder der Ordnung angepackt, sondern vom Gesichtspunkt des Rechts des freien Individuums. Kein Zwang, keine Mildtätigkeit können sie beschneiden. »Man muß vor allem auf die Freiheit und die Sicherheit der Personen achten. Wenn man wohltätig ist, darf nan nicht die Regeln der Gerechtigkeit verletzen.« Freiheit und Ver-- Rapport adressé au département de Paris par l'un de ses membres sur l'état d « tolles à la Salpêtrière et adoptation d'un projet de règlement sur l'admission iouss zitiert bei Tuetey, a . a . O . , Bd. 3, S. 489-506. Dieser 1791 verfaßte Text Jann in großen Teilen wieder aufgenommen worden von Cabanis, Vues sur le' urs publics (1798).
nunft haben die gleichen Grenzen. Wenn die Vernunft befallen ist, kann die Freiheit unter Zwänge geraten, jedoch muß dieser Befall der Vernunft genau so sein, daß die Existenz des Individuums oder die Freiheit der anderen bedroht ist: »Wenn die Menschen sich ihrer rationalen Fähigkeiten erfreuen, das heißt, solange sie nicht soweit verändert sind, daß sie die Sicherheit und Ruhe anderer Leute in Frage stellen oder sich selbst tödlichen Gefahren aussetzen, hat niemand das Recht, nicht einmal die ganze Gesellschaft, den geringsten Angriff auf ihre Unabhängigkeit zu machen.«'" So entsteht eine Definition des Wahnsinns von den Beziehungen aus, die die Freiheit mit sich selbst unterhalten kann. Die alten juristischen Konzeptionen, die den Irren von seiner strafrechtlichen Verantwortung freisprachen und ihn seiner bürgerlichen Rechte beraubten, bildeten keine Psychologie des Wahnsinns. Jene Aufhebung der Freiheit war nur die Ordnung der juristischen Folgen. Mit Cabanis aber ist die Freiheit dem Menschen zur Natur geworden. Was ihren legitimen Gebrauch behindert, muß notwendig die natürlichen Formen, die sie im Menschen annimmt, verändert haben. Die Internierung des Irren darf dann nicht mehr nur die Sanktionierung eines Tatbestandes, die Ubersetzung in juristische Begriffe einer Beseitigung der Freiheit sein, die auf psychologischer Ebene bereits erreicht ist. Und durch jenen Rückgriff des Rechtes auf die Natur wird die große Ambiguität begründet, die das zeitgenössische Denken so sehr hinsichtlich des Wahnsinns zögern läßt. Wenn die NichtVerantwortlichkeit sich mit dem Fehlen der Freiheit identifiziert, gibt es keinen psychologischen Determinismus, der nicht wieder schuldlossprechen könnte, das heißt, es gibt keine Wahrheit für die Psychologie, die nicht gleichzeitig Entfremdung für den Menschen wäre. Das Verschwinden der Freiheit wird zur Grundlage, zum Geheimnis, zum Wesen des Wahnsinns; und dieses Wesen muß vorschreiben, was man der materiellen Freiheit der Irren an Restriktionen auferlegen muß. Eine Kontrolle wird eingeführt, die den Wahnsinn über ihn selbst befragt und für die man nebeneinander - so sehr bleibt da« Verschwinden der Freiheit noch undeutlich - Beamte, Juristen, Ärzte und ganz einfach Menschen mit Erfahrung heranzieht: »Deshalb müssen die Orte, an denen die Irren gehalten werden, unaufhörlid der Inspektion verschiedener Beamter und der Aufsicht der Polizc 195 Pierre-Jean-Georges Cabanis, Vues sur les secours publics, in: ders., Œm philosophiques, Paris i j j f i , 1. Teil, S. 49.
unterworfen bleiben.« Wenn ein Irrer an einen Ort der Verwahrung gebracht wird, »wird man, ohne Zeit zu verlieren, ihn nach allen Beziehungen beobachten; ihn durch Gesundheitsbeamte beobachten lassen, von den intelligentesten und bei der Beobachtung des Wahnsinns in allen seinen Variationen erfahrensten Leuten überwachen lassen«.1'5 Die Internierung muß gewissermaßen eine A r t permanenten Maßes des Wahnsinns spielen, sich unaufhörlich an seine sich wandelnde Wahrheit anpassen und nur Zwang ausüben, wo und innerhalb welcher Grenzen die Freiheit sich verändert: »Die Menschlichkeit, die Gerechtigkeit und die gute Medizin schreiben vor, nur die Irren einzusperren, die wirklich anderen Leuten Schaden zufügen können; nur die in Fesseln zu legen, die, täte man es nicht, sich selbst Schaden zufügen würden.« Die Gerechtigkeit, die im Asyl herrscht, ist nicht mehr die der Bestrafung, sondern die der Wahrheit. Sie besteht in einer bestimmten Exaktheit im Gebrauch der Freiheiten und Restriktionen, einer möglichst strengen Konformität des Zwangs zur Aliénation der Freiheit. Die konkrete Form dieser Gerechtigkeit, ihr sichtbares Symbol findet sich nicht mehr in der Kette (einer absoluten und strafenden Restriktion, die »jeden Tag die Teile quält, die sie bedrückt«), sondern in der so berühmten Zwangsjacke, »einer engen Weste aus Zwillich oder starkem Tuch, die die Arme fesselt und einengt«1'? und die die Bewegungen um so mehr hemmen muß, je heftiger sie werden. Man darf sich die Zwangsjacke nicht als Humanisierung der Ketten, nicht als einen Fortschritt zur »selfrestraint« vorstellen. Es gibt eine begriffliche Deduktion der Zwangsjacke 1 ' 8 , die zeigt, daß man im Wahnsinn nicht mehr die Erfahrung einer absoluten Gegenüberstellung der Vernunft und der Unvernunft macht, sondern die eines stets relativen, stets beweglichen Spiels der Freiheit und ihrer Grenzen. Oer Plan einer Ordnung, der dem Rapport adressé au Département le Paris folgt, schlägt die detaillierte Anwendung der grundlegenden (dee vor, die Cabanis in seinem Text entwickelt: »Die Zulassung der Wahnsinnigen oder der Irren in den Häusern, die ihnen bestimmt nd oder im ganzen Ausmaß des Département von Paris bestimmt -in werden, wird nach einem ärztlichen und chirurgischen, gesetzlich nerkannten Bericht erfolgen, der von zwei Zeugen, Verwandten, )•·> A.a.O.,S. $i. 'V A.a.O.,S. 58. Tenon schätzte die Zwangsjacke sehr, die er in Saint-Luke kennengelernt hatte. P-ojet de rapport au nom du comité des seco»rj, £° 232.
Freunden oder Nachbarn unterzeichnet und von einem Friedensrichter der Sektion oder des Kantons bestätigt worden ist.« Der Bericht gibt aber eine weitere Interpretation der Ordnung. Die hervorragende Rolle des Arztes bei der Bestimmung des Wahnsinns wird darin klar kontrolliert; dies geschieht genau wegen einer Erfahrung mit dem Asyl, die als der Wahrheit näherstehend deshalb betrachtet wird, weil sie zugleich auf zahlreicheren Fällen beruht und in gewisser Weise den Wahnsinn freier über sich sprechen läßt. »Nehmen wir also an, daß ein Wahnsinniger in ein Hospital gebracht wird ( . . . ) . Der Kranke kommt an, von seiner Familie, Nachbarn, Freunden oder mildtätigen Personen gebracht. Diese Personen bestätigen, daß er wahnsinnig ist. Sie besitzen oder besitzen keine ärztliche Beglaubigung. Dem Anschein nach ist der von ihnen Geleitete jedoch nicht wahnsinnig. Welcher Meinung man dann über den Zustand des Kranken auch sein mag, man muß ihn wenigstens provisorisch aufnehmen, wenn im übrigen die Beweise für die Armut authentisch sind.« Danach muß eine lange Beobachtung erfolgen, die ebenso von den »Dienstleuten« wie auch von den »Gesundheitsbeamten« vollzogen wird. In dem Privileg der Internierung und dem Blick einer von ihr gereinigten Beobachtung vollzieht sich die Trennung. Wenn die Person manifeste Anzeichen für Wahnsinn aufweist, »schwindet jeder Zweifel. Man kann sie ohne Bedenken festhalten, muß sie pflegen und sie vor ihren eigenen Verirrungen schützen und ihr tapfer die verordneten Heilmittel verabreichen. Wenn sie hingegen nach der als angemessen erschienenen Zeit keine Symptome für Wahnsinn mehr zeigt, wenn die vorsichtig angestellten Nachforschungen nichts beibringen, was darauf schließen ließe, daß diese ruhige Zeit nur ein Intervall der Klarheit war, wenn schließlich der Kranke verlangt, das Hospital verlassen zu dürfen, wäre es ein Verbrechen, ihn gewaltsam festzuhalten. Man muß ihn ohne Verzug sich selbst und der Gesellschaft wiedergeben.« Das ärztliche Zertifikat beim Eintritt in das Asyl liefert also auch nur eine zweifelhafte Garantie. Das definitive Kriterium, das man nicht in Zweifel ziehen kann, muß von der Internierung erbracht werden. In ihr erscheint der Wahnsinn von jeder Illusion frei und einem absolut fragenden Blick ausgesetzt, denn nicht mehr das Interesse der Familie oder ihre Gewalt oder ihre Willkür oder die Vorurteile der Medizin äußern sich, sondern die Internierung drückt sich aus, und zwar in dem ihr eigenen Vokabular. Es handelt sich um jene Begriffe von Freiheit und Zwang, die das Wesen de Wahnsinns zutiefst berühren. Die Wächter, die an der Schwelle der
Internierung auf der Hut sind, besitzen die Möglichkeit einer positiven Erkenntnis des Wahnsinns. So kommt Cabanis zu der eigenartigen und wahrscheinlich neuesten Idee eines »Tagebuchs des Asyls«. In der klassischen Internierung war die Unvernunft im strengen Sinne des Wortes zum Schweigen gebracht worden. Von alledem, was sie solange gewesen ist, wissen wir außer einigen rätselhaften Zeichen, die sie in den Registern der Internierungshäuser bezeichnen, nichts. Ihre konkreten Gestalten, ihre Sprache und das Anwachsen jener delirierenden Existenzen sind wahrscheinlich für uns verloren. Damals war der Wahnsinn ohne Erinnerung, und die Internierung bildete das Siegel dieses Vergessens. K ü n f tig wird sie hingegen das sein, worin der Wahnsinn seine Wahrheit formuliert. Sie muß in jedem Augenblick seine Maße bestimmen und sich in ihm totalisieren, wodurch sie zum Entscheidungspunkt gelangt: »Es wird ein Tagebuch geführt, in dem das Bild jeder Krankheit, die Wirkungen der Heilmittel, die Öffnung der Leichen mit größter Genauigkeit vermerkt werden. Alle Individuen des Abschnittes werden dort namentlich aufgeführt, so daß die Verwaltung sich damit namentlich über ihren Zustand berichten lassen kann, und dies wöchentlich, ja täglich, wenn sie es für nötig erachtet.« Der Wahnsinn gewinnt so Gebiete der Wahrheit, die die Unvernunft nie erreicht hatte. Er dringt in die Zeit ein, entrinnt der reinen Zufälligkeit, durch die man einst seine verschiedenen Episoden bezeichnet hatte, um in der Geschichte eine autonome Gestalt anzunehmen. Seine Vergangenheit und seine Entwicklung sind Teil seiner Wahrheit, und was ihn enthüllt, ist eben nicht mehr jener stets plötzliche Bruch mit der Wahrheit, an dem man die Unvernunft erkannte. Es gibt eine Zeit des Wahnsinns, die mit der des Kalenders identisch ist, nicht mit dem rhythmischen Kalender der Jahreszeiten, die ihn den dunklen K r ä f ten der Welt verwandt macht, sondern dem täglichen Kalender der Menschen, in dem man die Rechnung der Geschichte macht. Durch die Internierung in seiner Wahrheit freigelegt, in der Zeit der Chroniken und der Geschichte eingerichtet, von allem befreit, was die tiefe Präsenz der Unvernunft irreduzibel machen konnte, kann der so entwaffnete Wahnsinn gefahrlos in das Spiel des Austausches nieder eintreten. Er wird kommunizierbar, jedoch in der neutralisierten Form einer dargebotenen Objektivität. Er kann erneut eine öffent'iche Existenz annehmen, zwar nicht in jener skandalauslösenden form, die plötzlich und rückhaltlos alles in Frage stellte, was es am Renschen an Wesentlichstem und in der Wahrheit an Wahrstem gibt.
sondern in der Form eines ruhigen Objekts, das in Distanz gerückt wird, ohne daß sich etwas in ihm entzieht, und ohne Verschwiegenheit für Geheimnisse offen ist, die nicht verwirren, sondern belehren. »Die Administration wird wahrscheinlich meinen, daß das Ergebnis jenes Tagebuchs und seiner wertvollsten Details jenem gleichen Publikum gehöre, das das beklagenswerte Material dafür geliefert hat. Wahrscheinlich wird sie den Eindruck ein wenig ordnen, und wenn der Redaktor ein wenig Philosophie und ärztliche Kenntnis mitbringt, wird jene Sammlung, die von Jahr zu Jahr neue Fakten, neue Beobachtungen, neue Erfahrungen, die auch wahr sind, bietet, für die Wissenschaft vom menschlichen Körper und der Moral eine unermeßliche Quelle von Reichtümern werden.« 1 " Damit ist der Wahnsinn den Blicken freigegeben, was bereits in der klassischen Internierung geschah, als er das Schauspiel seiner Animalität bieten durfte. Der Blick, den man damals aber auf ihn warf, war ein faszinierter in dem Sinne, daß der Mensch in jenem so fremden Gesicht eine Bestialität betrachtete, die seine eigene war, und die er auf undeutliche Weise als unendlich nah und unendlich entfernt erkannte; jene Existenz, die eine delirierende Monstrosität unmenschlich werden ließ und an das Ende der Welt verbannte, war insgeheim jene, die er in sich selbst verspürte. Der Blick, der jetzt den Wahnsinn trifft, ist nicht von solcher Komplizität beladen. Er wird auf einen Gegenstand gelenkt, den er durch die alleinige Vermittlung einer diskursiven, bereits formulierten Wahrheit erreicht. Der Irre erscheint ihm nur durch die Abstraktion des Wahnsinns abgeklärt. Wenn es in jenem Schauspiel etwas gibt, das das vernünftige Individuum betrifft, dann ist es nicht in dem Maße vorhanden, in dem der Wahnsinn für sich den ganzen Menschen in Frage stellen kann, sondern in dem Maße, in dem er etwas zu dem hinzufügen kann, was man über den Menschen weiß. Er darf sich nicht in die Negativität der Existenz als eine ihrer abruptesten Figuren einschreiben, sondern muß fortschreitend in der Positivität der bekannten Dinge Platz finden. In jenem neuen Blick, in dem die Infragestellungen beschworen werden, wird auch das Gitter beseitigt. Der Irre und der Nicht-Irre sind einander direkt gegenübergestellt - mit freigelegtem Gesicht. Zwischen ihnen gibt es keine Entfernung mehr außer der, die der Blick unmittelbar mißt. Aber wenn die Entfernung unwahrnehmbar geworden ist,
199 Cabanis, »Rapport adressé au Département de Paris ( . . . ) « , zitiert bei Tuetei a. a. 0 . , B d . 3, S. 492 f.
ist sie dadurch zugleich unüberwindlicher geworden. Die in der Internierung erworbene Freiheit, die Möglichkeit, darin eine Wahrheit und eine Sprache anzunehmen, sind in der Tat für den Wahnsinn nur die andere Seite einer Bewegung, ihr einen Status in der Erkenntnis zu geben. Unter dem ihn jetzt einhüllenden Blick entledigt er sich des ganzen Prestige, das ihn unlängst noch zur verbannten Gestalt gemacht hat, sobald er wahrgenommen wurde. Er wird jetzt betrachtete Form, durch die Sprache umhülltes Ding, erkannte Wirklichkeit; er wird zum Objekt. Wenn der neue Raum der Internierung den Wahnsinn und die Vernunft bis zu dem Punkt annähert, daß er sie in einem gemischten Aufenthalt vereinigt, errichtet er zwischen ihnen eine noch gefährlichere Distanz, ein Ungleichgewicht, das nicht mehr beseitigt werden kann. Daher wird der Wahnsinn, mag er in der vom vernünftigen Menschen für ihn geschaffenen Welt auch noch so frei sein, mag er dessen Geist und Herz auch noch so nahe sein, für den vernünftigen Menschen stets nur ein Objekt sein, nicht mehr die stets drohende Umkehrung seiner eigenen Existenz, sondern ein mögliches Ereignis in der Verkettung der Dinge. Jener Sturz in die Objektivität beherrscht den Wahnsinn tiefer und besser als seine alte Versklavung durch die Unvernunft. Die Internierung in ihren neuen Aspekten kann dem Wahnsinn wohl den Luxus einer neuen Freiheit bieten, denn sie ist jetzt Sklavin und ihrer stärksten Kräfte beraubt. Wenn man mit einem Wort diese ganze Entwicklung zusammenfassen sollte, dann könnte man wahrscheinlich sagen, daß das der Erfahrung mit der Unvernunft Eigene darin liegt, daß der Wahnsinn dabei seiner selbst Herr war, daß aber in der sich bildenden Erfahrung am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Wahnsinn in Beziehung zu sich selbst in den Objektstatus, den er erhält, entfremdet wird. Cabanis träumt für den Wahnsinn von jenem Halbschlaf, in den das \syl ihn zwingen sollte. Er versucht, ihn in jener heiteren Problematik zu erschöpfen. Das Eigenartige ist, daß im gleichen Augenblick der Wahnsinn woanders wieder auflebt und einen ganz konkreten Inhalt erhält. Während er sich für die Erkenntnis reinigt und sich von •ünen alten Komplizitäten löst, tritt er in eine Reihe von Fragen ein, die die Moral sidi stellt. Er dringt ins tägliche Leben ein, bietet sich 'ür elementare Wahlen und Entscheidungen an, ruft vergebliche Wünhe hervor und zwingt das, was man die »öffentliche Meinung« nennen kann, das Wertesystem, das ihn betrifft, zu revidieren. Die bklärung, die Reinigung, die sidi bei Colombier, bei Tenon, bei Ca-
banis durdi die Anstrengung einer kontinuierlichen Überlegung vollzogen hat, wird sofort ausgeglichen und in Frage gestellt durch jene spontane Arbeit, die sich täglich am Rande des Bewußtseins vollzieht. In jenem kaum wahrnehmbaren Gewimmel von alltäglichen und kleinen Erfahrungen jedoch wird der Wahnsinn eine moralische Gestalt annehmen, die Pinel und Tuke ihm von Anfang an zuerkennen. Die Internierung verschwindet, und der Wahnsinn taucht erneut in der Öffentlichkeit auf. Er erscheint wieder, als werde er von einer langsamen und stillen Invasionswelle getragen, durch die die Richter, die Familien und alle für die Ordnung Verantwortlichen befragt werden. Während man einen Status für ihn sucht, stellt er drängende Fragen. Der alte familiäre, polizeiliche und gesellschaftliche Begriff vom unvernünftigen Menschen löst sich auf und hinterläßt den juristischen Begriff der Nichtzurechnungsfähigkeit und die unvermittelte Erfahrung mit dem Wahnsinn in einer unmittelbaren Konfrontation. Eine ganze Arbeit beginnt, durch die der negative Begriff der Aliénation, so wie ihn die Juristen definierten, sich allmählich von den moralischen Bedeutungen durchdringen und verändern läßt, die der Alltagsmensch dem Wahnsinn verleiht. »Man muß im Polizeidirektor den Beamten und den Verwalter unterscheiden. Der Erste ist der des Gesetzes, der Zweite der der Regierung.«200 Und des Essarts kommentiert einige Jahre später diese Definition, die er selbst gegeben hatte: »Wenn ich im April 1789 jenen 1784 redigierten Artikel noch einmal lese, muß ich hinzufügen, daß die Nation wünscht, daß jener Teil der Verwaltung zerschlagen oder zumindest verändert wird, so daß die Freiheit der Bürger auf unverletzliche Weise garantiert wird.« Die Neuorganisation der Polizei am Anfang der Revolution, durch die jene unabhängige und zugleich gemischte Gewalt verschwindet, vertraut den Bürgern deren Privilegien an, wobei der Bürger gleichzeitig Privatmann ist und zur Bildung eines kollektiven Willens beiträgt. Die Wahlbezirke, die durch das Dekret vom 28. März 1789 geschaffen werden, sollen als Rahmen für die Neuorganisation der Polizei dienen. In jedem der Pariser Distrikte werden fünf Kompanien eingeteilt, von denen die eine bezahlt wird (es handelt sich meistens um die alte Polizei), während die vier anderen aus Freiwilligen gebildet werden.201 Von einem 2co Nicolas-Toussaint Le Moyne, dit Des Essart, Dictionnaire universel de Police 7 vols., Paris 1786-1789, Bd. 7, S. 526. 201 Durch die Dekrete vom 21. Mai bis 7. Juni 1790 werden die 70 Distrikte durd. 48 Sektionen ersetzt.
Tag zum anderen findet sich der Privatmann damit belastet, jene unmittelbare soziale Trennung vorzunehmen, die noch vor dem juristischen A k t liegt und die Aufgabe jeder Polizei ist. Er hat direkt und unvermittelt, ohne jegliche Kontrolle mit dem ganzen menschlichen Material zu tun, das einst für die Internierung vorgeschlagen wurde: mit den Vagabunden, den Prostituierten, den Zügellosen, den Unmoralischen und selbstverständlich all den konfusen Formen, die von der Gewalttätigkeit bis zum Furor, von der Geistesschwäche bis zur Demenz reichen. Der Mensch als Bürger wird dazu aufgerufen, innerhalb seiner Gruppe die vorübergehend absolute Gewalt der Polizei auszuüben. Er hat die dunkle und souveräne Geste zu vollziehen, durch die eine Gesellschaft ein Individuum als für die von ihr gebildete Einheit unerwünscht oder fremd bezeichnet. Seine Aufgabe ist es, die Grenzen der Ordnung und der Unordnung, der Freiheit und des Skandals, der Moral und der Unmoral zu beurteilen. In ihm und in seinem Bewußtsein liegt jetzt die Macht, durch die sich unmittelbar und vor jeder Überlegung die Trennung von Moral und Wahnsinn vollziehen muß. Der Bürger ist universale Vernunft und zwar in doppeltem Sinne. Er ist unmittelbare Wahrheit der menschlichen Natur, Maß jeder Gesetzgebung, aber er ist gleichzeitig derjenige, für den die Unvernunft sich von der Vernunft trennt. Er ist in den spontansten Formen seines Bewußtseins, in den Entscheidungen, die er von vornherein treffen muß, und zwar vor jeder juristischen Elaboration, zugleich der Ort, das Instrument und der Richter der Trennung. Der Mensch in der Klassik erkannte, wie wir sahen, ebenfalls den Wahnsinn vor jeder Gelehrsamkeit und in einer unmittelbaren Auffassung. Jedoch machte er dabei spontan Gebrauch von seinem gesunden Menschenverstand und nicht von seinen politischen Rechten. Es war der Mensch als Mensdi, der urteilte und kommentarlos einen tatsächlichen Unterschied wahrnahm. Jetzt, da er mit dem Wahnsinn zu tun hat, übt der Bürger eine fundamentale Gewalt aus, die ihm gestattet, zugleich Mensch des Gesetzes« und »Mensch der Regierung« zu sein. Als alleiniger Souverän des bürgerlichen Staates ist der freie Mensch zum ersten Richter über den Wahnsinn geworden. Dadurch stellt der konkrete Mensch, der alltägliche Mensch mit dem Wahnsinn wieder jene Kontakte her, die das klassische Zeitalter abgebrochen hatte. Aber er nimmt sie ohne Dialog und Konfrontation in der bereits vorgegebenen Form der Souveränität und in der absoluten und schweigenden \usübung seiner Rechte wieder auf. Die fundamentalen Prinzipien
seiner bürgerlichen Gesellschaft gestatten jenem zugleich privaten und universalen Bewußtsein, über den Wahnsinn vor jeder möglichen Kontestation zu herrschen. Als dieses Bewußtsein den Wahnsinn der juristischen oder ärztlichen Erfahrung wieder übergibt, was in den Gerichten oder Asylen geschieht, hat es ihn bereits insgeheim bezähmt. Diese Herrschaft hat ihre erste und vorübergehende Form in den »Familientribunalen«, einer alten Idee, die aus der Zeit vor der Revolution stammt und die die Gewohnheiten des Ancien Régime vorab abzuzeichnen schienen. Hinsichtlich des Einverständnisses, durch das die Familien lettres de cachet verlangten, schrieb der Polizeidirektor Bertin den Intendanten am ersten Juni 1764: »Sie müssen ganz besondere Vorsichtsmaßnahmen in folgenden zwei Punkten ergreifen. Erstens müssen die Protokolle von den nächsten Verwandten väterlicher- und mütterlicherseits unterzeichnet sein. Zweitens müssen sie einen genauen Vermerk über diejenigen aufweisen, die nicht unterzeichnet haben, und anmerken, was sie daran gehindert hat.«101 Breteuil wird später daran denken, eine Familienjustiz zu legalisieren. Schließlich gibt es ein Dekret der Constituante, das Familientribunale im Mai 1790 einführte. Sie sollten die elementare Zelle der bürgerlichen Rechtsprechung bilden, aber ihre Entscheidungen konnten keine Exekutivkraft annehmen, es sei denn, eine spezielle Anweisung war von den Instanzen des Distrikts erlassen worden. Diese Tribunale sollten die staatliche Rechtsprechung von den zahllosen Vorgängen entlasten, die die Interessenstreitigkeiten der Familien, der Erbschaften, der Besitzteilungen betrafen. Man schreibt ihnen aber gleichzeitig einen anderen Zweck zu. Sie sollten Maßnahmen eine juristische Form und einen juristischen Status geben, die einst die Familien direkt von der königlichen Autorität verlangt hatten: verschwenderische Väter, Söhne, die den Besitz verschleuderten, zur Verwaltung ihres Erbteiles unfähige Erben, all diese Formen einer Defizienz, einer Ordnungslosigkeit oder eines Fehlverhaltens, die eine lettre de cachet einst bestrafte, weil es keinen Vorgang der völligen Absprache der bürgerlichen Ehrenrechte gab, gehören jetzt zu jener Familienrechtsprechung. In einem bestimmten Sinn schließt die Constituante eine Entwicklung ab, die sich während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts vollzogen 202 Zitiert bei Aristide Joly, Les lettres de cachet dans la généralité de Caen m XVIII'
siècle, Paris 1864, S. 18, Anm. 1.
hat, indem sie jener spontanen Praxis eine institutionelle Gestalt gab. Tatsächlich fehlte aber noch viel daran, daß die Willkür der Familien und die Relativität ihrer Interessen dadurch begrenzt wurden. Während im Ancien Régime jedes Einverständnis zur Internierung eine polizeiliche Untersuchung mit sich brachte, in der die Behauptungen der Angehörigen überprüft wurden 1 " 3 , hat man bei der neuen Rechtsprechung lediglich das Recht, hinsichtlich der Entscheidungen des Familientribunals die nächsthöheren Instanzen anzurufen. Wahrscheinlich haben diese Tribunale ziemlich fehlerhaft funktioniert 2 " 4 , und die verschiedenen Neuorganisationen der Justiz bereiteten ihnen bald ein Ende. Ziemlich bezeichnend ist es jedoch, daß für eine bestimmte Zeit die Familie selbst zu einer juristischen Instanz aufgebaut worden ist und in Fragen des Fehlverhaltens, der Ordnungslosigkeit, der verschiedenen Formen der Unfähigkeit und des Wahnsinns die Vorrechte eines Tribunals genoß. Einen Moment lang erschien die Familie in aller Klarheit so, wie sie geworden war und wie sie im Dunkeln bleiben sollte: als unmittelbare Instanz, die die Trennung zwischen Vernunft und Wahnsinn vornimmt, jene gerichtliche, rohe Form, die die Lebensregeln, die Gesetze der Ökonomie und der Familienmoral mit den Normen der Vernunft, der Gesundheit und der Freiheit in Annäherung zu bringen versucht. In der als Institution betrachteten und als Tribunal definierten Familie nimmt das nicht geschriebene Gesetz eine Naturbedeutung an, und gleichzeitig erhält der Privatmann den Status eines Richters, wodurch er seinen täglichen Dialog mit der Unvernunft auf das Gebiet der öffentlichen Auseinandersetzung trägt. Künftig gibt es einen öffentlichen und institutionellen Einfluß des privaten Bewußtseins auf den Wahnsinn. Andere Transformationen bezeichnen diesen neuen Einfluß bis zur Evidenz. Das gilt vor allem für die Modifikationen, die die A r t der Bestrafung erfahren hat. Manchmal bildete, wie wir sahen2"', die Internierung eine Abschwächung der Bestrafung; öfter jedoch versuchte sie die Monstrosität des Verbrechens zu verbergen, wenn diese einen Exzeß, eine Gewalttätigkeit enthüllte, die ihrerseits unmenschliche 103 Der weiter oben zitierte Text von Bertin präzisiert die Vorsichtsmaßnahmen: Unabhängig von der genauen Überprüfung ihrer Angaben ( . . . ) . « 20a Vgl. den Bericht des Justizministers an die Législative (Archives parlementaires. supplément à la séance du 20 mai 1792, Bd. 43, S. 613). V o m 11. Dezember 1790 bis zum ι. Mai 1792 hat das Gericht in Saint-Germain-en-Laye nur 4$ Familienrteile bestätigt. -0« Vgl. Teil I.Kapitel 3.
Kräfte freilegte." 6 Die Internierung zog die Grenze, jenseits derer der Skandal unannehmbar wird. Für das bürgerliche Bewußtsein hingegen wird der Skandal eines der Machtinstrumente seiner Souveränität. In seiner absoluten Macht ist er nicht nur Richter, sondern gleichzeitig, durch sich selbst, Bestrafung. »Erkennen«, so wie das bürgerliche Bewußtsein jetzt das Recht auffaßt, bedeutet nicht nur Instruktion und Urteil, sondern auch, einen Fehler öffentlich zu machen und auf eklatante Weise seinen eigenen Augen manifest werden zu lassen, wodurch dieser seine Bestrafung findet. Im bürgerlichen Bewußtsein müssen sich Urteil und Exekution der Strafe und das Loskaufen durch den idealen und plötzlichen A k t des Blickes vollziehen. Die Erkenntnis übernimmt in dem organisierten Spiel des Skandals die Totalität der Verurteilung. In seiner Théorie des lois criminelles zeigt Brissot, daß der Skandal eine ideale Bestrafung darstellt, die stets der Verfehlung angemessen und von jedem physischen Stigma frei, dabei aber unmittelbar den Erfordernissen des moralischen Bewußtseins adäquat ist. Er nimmt die alte Unterscheidung zwischen Sünde, Bruch der göttlichen Ordnung, dessen Bestrafung Gott vorbehalten ist, dem Verbrechen, das zum Schaden des Nächsten begangen worden ist und mit harten Strafen belegt werden muß, und dem Laster, »einer nur im Verhältnis zu uns bestehenden Ordnungslosigkeit«, die durch die Schande bestraft werden muß, wieder auf.2"7 Weil das Laster innerlicher ist, ist es auch primitiver; es ist das Verbrechen selbst, aber vor seiner Vollendung, von der Quelle im Herzen des Menschen aus. Der Kriminelle hat, bevor er die Gesetze brach, stets die stummen Regeln beachtet, die dem Bewußtsein der Menschen gegenwärtig sind: »Die Laster sind in der Tat für die Sitten das, was für die Verbrechen die Gesetze sind, und das Laster erzeugt stets das Verbrechen. Eine Rasse von Monstren scheint sich wie in jener erschreckenden Genealogie der Sünde, die Milton beschrieben hat, hier zu reproduzieren. Ich sehe einen Unglücklichen, der sogleich sterben soll ( . . . ) . Warum steigt er auf das Schafott? Folgt man der Kette seiner Handlungen, dann sieht man. daß die erste darin fast immer die Verletzung der heiligen Schranke der Sitten war.«208 Wenn man die Verbrechen vermeiden will, dann darf man nicht das Gesetz stärken oder die Bestrafung erhöhen. Man muß den Sitten zu größerer Herrschaft verhelfen, ihre Regeln ein206 V g l . Teil I, Kapitel 4. 207 Brissot de Warville, Théorie des lois criminelles, S. 101. 208 A . a. O., S. 49 f.
dringlicher werden lassen und jedesmal den Skandal beschwören, wenn ein Laster bekannt wird. Dies scheint eine fiktive Bestrafung zu sein, und sie ist es tatsächlich in einem tyrannischen Zustand, in dem die Wachsamkeit des Bewußtseins und der Skandal nur die Hypokrisie hervorrufen können, »weil die öffentliche Meinung keinen Nerv mehr hat, ( . . . ) weil schließlich, man muß des Rätsels Wort aussprechen, die Güte der Sitten kein wesentlicher und integrativer Teil der monarchischen Regierungen wie der Republiken ist«.109 Wenn aber die Sitten die Substanz des Staates selbst und die öffentliche Meinung das festeste Band der Gesellschaft bilden, wird der Skandal zur gefährlichsten Form der Aliénation. Durch ihn wird der Mensch unwiederherstellbar fremd gegenüber dem in der Gesellschaft Wesentlichsten, und die Bestrafung nimmt die Form des Universellen an, statt den besonderen Charakter einer Wiedergutmachung zu bewahren. Die Bestrafung ist im Bewußtsein eines jeden präsent und wird durch den Willen aller bewirkt. »Gesetzgeber, wenn ihr die Verbrechen verhindern wollt, dann achtet auch den Weg, den alle Kriminellen nehmen, bezeichnet auch die erste Schwelle, die sie überschreiten, die der Sitten, macht sie also unüberwindbar, und ihr werdet nicht so oft gezwungen sein, zur Bestrafung zu greifen.« 110 Der Skandal wird so zur im doppelten Sinne idealen Bestrafung, gewissermaßen die unmittelbare Entsprechung zur Verfehlung und Mittel, ihr zuvorzukommen, bevor sie eine kriminelle Form annimmt. Was von der Internierung ganz bewußt in Schatten eingeschlossen wurde, will das revolutionäre Bewußtsein der Öffentlichkeit darbieten, wobei sich zeigt, daß die Darstellung zum Wesen der Bestrafung wird. Alle relativen Werte des Geheimnisses und des Skandals sind so umgestürzt worden, an die Stelle der dunklen Tiefe der Bestrafung, die den begangenen Fehler umhüllte, hat man den oberflächlichen Eklat des Skandals gesetzt, um das im Herzen der Menschen Dunkelste, Tiefste und noch am unvollständigsten Ausformulierte zu sanktionieren. Auf seltsame Weise findet das revolutionäre Bewußtsein den alten Wert der öffentlichen Bestrafungen und gewissermaßen die Exaltation der stummen Kräfte der Unvernunft wieder. 11 ' Indessen 109 A . a . O . , S . 114. n o A . a . O . , S. 50. H l Am 30. August 1791 verurteilt man eine Frau wegen Sexualverbredlens dazu, an alle belebten Stellen und Kreuzungen, namentlidi auf die Place du Palais Royal geführt zu werden, und zwar nackt, auf einem Esel verkehrt herum sitzend, das Gesicht zum Hinterteil, einen Strohhut auf dem K o p f und vorn und hinten ein
ist dies nur Schein, denn es handelt sich nicht mehr nur darum, dem Angesicht der Welt den Irrsinn, sondern die Immoralität dem skandalisierten Bewußtsein darzustellen. Dadurch entsteht eine ganze Psychologie, die die wesentlichen Bedeutungen des Wahnsinns austauscht und eine neue Beschreibung der Beziehungen des Menschen zu den verborgenen Formen der Unvernunft vorschlägt. Es ist seltsam, daß die Psychologie des Verbrechens in ihren noch rudimentären Aspekten - oder zumindest die Sorge, bis zu seinen Ursprüngen im Herzen des Menschen vorzudringen - nicht aus einer Humanisierung der Justiz, sondern aus einer zusätzlichen Forderung der Moral, einer Art Verstaatlichung der Sitten und gewissermaßen der Verfeinerung der Formen, sich zu indignieren, entstanden sein soll. Diese Psychologie ist vor allem das umgekehrte Bild der klassischen Justiz. Was sich darin verbarg, wird von ihr in einer manifesten Wahrheit gezeigt. Sie wird all das bezeugen, was bis dahin ohne Zeugen bleiben mußte. Infolgedessen sind die Psychologie und die Erkenntnis aller inneren Dinge im Menschen genau daraus entstanden, daß das öffentliche Bewußtsein als universale Instanz, als unmittelbar gültige Form der Vernunft und der Moral berufen worden ist, um die Menschen zu beurteilen. Die psychologische Innerlichkeit ist von der Äußerlichkeit des skandalisierten Bewußtseins gebildet worden. Alles, was den Inhalt der alten, klassischen Unvernunft ausgemacht hat, kann in den Formen der psychologischen Erkenntnis wieder aufgenommen werden. Jene Welt, die in eine irreduzible Distanz verbannt worden war, wird plötzlich dem alltäglichen Bewußtsein vertraut, da es darüber urteilen muß. Es teilt sich jetzt gemäß der Oberfläche einer völlig von den unreflektiertesten und unmittelbarsten Formen der Moral getragenen Psychologie auf. Alles das nimmt die Form einer Institution in der großen Strafjustizreform an. Die Jury muß darin genau die Instanz des bürgerlichen Bewußtseins, also dessen ideale Herrschaft über alles das darstellen, was der Mensch an geheimen und unmenschlichen Kräften haben kann. Die Regel der öffentlichen Auseinandersetzungen gibt dieser Souveränität, die die Geschworenen für einen Moment delegiert bekommen, eine theoretisch unendliche Ausdehnung: der ganze Körper der Nation urteilt durch sie und befindet sich in einer AuseinanderSchild mit der Aufschrift: »Jugendverderbende Frauc, nackt mit Ruten gesdilap zu werden und mit einem Eisen in Form der Lilie gebrannt z u werden.« {Gazeu des Tribunaux, I, N r . ιβ, S. 284. Vgl. auch a. a. Ο., ι, N r . 36, S. 14$).
Setzung mit allen Formen der Gewalttätigkeit, der Profanierung und der Unvernunft, die die Internierung verbarg. Jetzt verinnerlicht sich das Verbrechen, und seine Bedeutung wird immer privater durdi eine paradoxe Bewegung, die noch heute nicht ihr Ende gefunden hat: und zwar in dem Maße, in dem die Instanz, die beurteilt, um ihre Gerechtigkeit zu begründen, mehr Universalität beansprucht; in dem Maße, in dem sie den Regeln der speziellen Jurisprudenz die allgemeine Norm der Redite und Pfliditen des Menschen auferlegt; in dem Maße, in dem ihre Urteile ihre Wahrheit in einem bestimmten öffentlichen Bewußtsein bekräftigen können. Die Kriminalität verliert den absoluten Sinn und die Einheit, die sie in der vollzogenen Geste, in der begangenen Schuld annahm. Sie teilt sich nach zwei Maßstäben, die mit der Zeit irreduzibler werden; nämlich nach dem einen, der die Verfehlungen und die Strafe dafür in Einklang bringt, ein Maßstab, der den Normen des öffentlichen Bewußtseins, den Erfordernissen des Skandals, den Regeln der juristischen Haltung entnommen wird, die Bestrafung und Manifestation in Annäherung bringt; und nach dem Maßstab, der die Beziehung zwischen der Verfehlung und ihren Ursprüngen definiert, ein Maßstab, der zur Ordnung der Erkenntnis, der individuellen und geheimen Zuweisung gehört. Diese Dissoziation würde genügen, den Beweis zu erbringen (wenn dies nötig wäre), daß die Psychologie als Erkenntnis des Individuums historisch in einer fundamentalen Beziehung zu den Urteilsformen gesehen werden muß, die das öffentliche Bewußtsein hervorbringt. Eine Individualpsychologie konnte es nur durch eine Reorganisation des Skandals im gesellschaftlichen Bewußtsein geben. Die Verkettung der Erbschaften, der Vergangenheit, der Motivationen zu erkennen, ist erst von dem Tag an möglich geworden, an dem die Verfehlung und das Verbrechen aufhörten, nur autodithone Werte zu haben und nur in Beziehung zu sich selbst zu bestehen, und ihre eanze Bedeutung dem universalen Blick des bürgerlichen Bewußtseins entnommen haben. In dieser Spaltung zwischen Skandal und Geheimnis hat das Verbrechen seine wirkliche Dichte verloren. Es hat in einer halb privaten, halb öffentlichen Welt Platz gefunden, wobei insofern es der privaten Welt zugehört, Verirrung, Delirium, reine 'magination, also Niditexistenz wird; insofern es der öffentlichen Welt zugehört, das Unmenschliche, das Irre, das, worin das Bewußtaller sidi nicht wiedererkennen kann, das, was nicht in diesem "ußtsein begründet ist, also das manifestiert, was kein Recht zur îsienz hat. Auf jeden Fall wird das Verbrechen irreal, und im
Nicht-Sein, das es manifestiert, entdeckt es seine tiefe Verwandtschat! mit dem Wahnsinn. Die klassische Internierung war doch bereits das Zeichen, daß diese Verwandtschaft seit langer Zeit geknüpft war. Wurden in der Internierung nicht in einer gleichen Monotonie die Geistesschwäche und dir Schwierigkeiten, sich zu benehmen, die Gewaltsamkeiten in Worten und in Taten verwechselt, wobei sie in einer massiven Auffassung der Unvernunft eingehüllt waren? Das geschah aber nicht, um ihnen eine gemeinsame Psychologie zuzuweisen, die bei den einen und den anderen die gleichen Mechanismen des Wahnsinns denunzieren sollte. Di« Neutralisierung wurde als Wirkung darin gesucht. Die Nichtexisten: wird jetzt als Ursprung zugewiesen, und durch einen Rüdegriff wird das, was in der Internierung als Folge erhalten wurde, als Assimila tionsprinzip zwischen Wahnsinn und Verbrechen entdeckt. Die gen graphische Nähe, in die man beide zwang, um sie zu reduzieren, wird zur genealogischen Nachbarschaft im Nicht-Sein. Diese Veränderung ist bereits in der ersten Affaire eines Verbrecher, aus Leidenschaft wahrnehmbar, die in Frankreich vor einem Geschwi renengeridit in öffentlicher Sitzung verhandelt wurde. Ein Ereigni wie dieses wird gewöhnlich von den Historikern der Psychologie kaum festgehalten, aber wer die Bedeutung jener psychologische Welt erkennen will, die sich dem abendländischen Menschen am End des achtzehnten Jahrhunderts auftat und in der er dazu gebrach wurde, tiefer und tiefer seine Wahrheit zu suchen, so daß er sie iet darin bis zum letzten Wort entziffern will, wer wissen will, was die Psychologie ist, nicht als Erkenntniskorpus, sondern als Tatsache un zivilisatorischer, der modernen Welt eigener Ausdruck, für den sin.: dieser Prozeß und die Art, in der er geführt und wie darin plädür wurde, als Maßstab einer Schwelle oder einer Theorie der Erinnerun von Bedeutung. Eine völlig neue Beziehung des Menschen zu sein. Wahrheit beginnt sich darin zu formulieren. Wenn man ihn exakt einordnen will, kann man ihn mit irgendein anderen Strafprozeß oder mit einer Wahnsinnsaffaire vergleid. die im Laufe der vorangegangenen Jahre verhandelt wurde. Lim Beispiel aus der Zeit zu nennen, in der Joly de Fleury Justizmin·« war, so versuchte damals ein Mann namens Bourgeois eine Frau ermorden, die ihm Geld verweigerte.- 12 Er wird verhaftet, worau! Familie sofort eine Eingabe macht, »um die Erlaubnis zu erhalten 212 Bibliothèque Nationale, Collection Joly de Fleury, Ms. 1246, f ° s 132-166.
'.ntersuchung vornehmen zu lassen, in der bewiesen werden soll, daß der beschuldigte Bourgeois zu allen Zeiten Anzeichen von Wahnsinn and Verschwendungssucht gezeigt hat, um so zu erreichen, daß er eingesperrt oder auf die Inseln gebracht wird«. Zeugen können bestätigen, daß der Angeklagte wiederholt »einen abwesenden Eindruck gemacht und das Benehmen eines Irren gehabt hat«, daß er ziemlich oft sehr viel rumgeschwätzt« hat, wobei man den Eindruck gewann, Jaß er »den Kopf verliert«. Der Steuerwanwalt neigt dazu, der Umebung Genugtuung zuteil werden zu lassen; nicht, weil er den Zutand des Schuldigen in Betracht zieht, sondern aus Achtung gegenüber der Ehrwürdigkeit und dem Elend seiner Familie: »Aufgrund •1er Bitte der ehrenwerten, jetzt entsetzten Familie,« schreibt er an |ob de Fleury, »die nur ein sehr geringes Vermögen besitzt und sich plötzlich mit sechs Kindern auf sich allein gestellt sieht, die der ge.annte Bourgeois im furchtbarsten Elend in ihren Armen zurückläßt, .abe ich die Ehre, Euch die beiliegende Kopie zu senden, damit mit Hilfe Eures Schutzes die Familie diesen bösen Mann, der sie durch . 'ahnsinnszüge entehrt hat, die seit einigen Jahren aufgetaucht sind, η einem Zuchthaus einschließen lassen kann.« Joly de Fleury ant•rtet, daß der Prozeß durchgeführt werden muß, und zwar entorechend den vorgeschriebenen Regeln. Keinesfalls dürfe, selbst .an der Wahnsinn evident sei, die Internierung den Lauf der Gejuigkeit unterbrechen oder einer Bestrafung zuvorkommen, aber hrend des Prozesses müsse man der Untersuchung über den Wahnnn einen gewissen Raum einräumen. Der Angeklagte muß »gehört d von dem berichterstattenden Ratsmitglied vernommen werden, -r Arzt und Chirurg des Hofes muß ihn sehen und untersuchen, daist die Anwesenheit eines seiner Stellvertreter erforderlich«. Tatllich findet der Prozeß statt, und am ersten März 1783 setzt die Timer der Tournelle Criminelle fest, »daß Bourgeois in das Arahaus des Schlosses von Bicêtre gebracht wird, damit er dort festilten, ernährt, behandelt und mit Medikamenten versorgt wird die anderen Irren«. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Abteiun.: der Geisteskranken stellt man fest, daß er wenige Anzeichen von nnsinn aufweist. Man fürchtet, es mit einem Simulanten zu tun zu .n. und man sperrt ihn in eine kleine Zelle. Bald verlangt er (und 'd ihm zugestanden, da er kein Anzeichen von Gewaltsamkeit . zu den Irren zurückzukommen, wo er »einen kleinen Posten - üt- der ihn in die Lage versetzt, sich kleine Annehmlichkeiten zu '•er .halfen". Er verfaßt eine Eingabe, um seine Freilassung zu erlan-
gen. »Der Herr Präsident hat geantwortet, daß seine Festsetzung eine Gunst ist, und daß er möglicherweise ad omnia citra mortem verurteilt werden könnte.« Darin liegt auch der wesentliche Punkt, denn der Aufenthalt unter den Irren, zu dem man den Kriminellen verurteilt, ist kein Anzeichen dafür, daß man ihn freispricht. Der Aufenthalt bleibt auf jeden Fall eine Gunst. Die Anerkennung des Wahnsinns ist, selbst wenn sie im Laufe des Prozesses vollzogen worden ist, kein integrierender Bestandteil des Urteils. Diese Anerkennung ist dem Urteil aufgesetzt, hat dessen Folgen modifiziert, ohne am Wesentlichen etwas zu verändern. Die Bedeutung des Verbrechens, seine Schwere, der absolute Wert jener Geste bleibt davon unberührt. Der Wahnsinn dringt nicht bis zum Zentrum des Aktes vor, um diesen »unwirklich« werden zu lassen, selbst wenn der Wahnsinn von den Ärzten anerkannt wird. Das Verbrechen bleibt, was es ist, und läßt denjenigen, der es begangen hat, auf abgeschwächte Weise die Strafe erleiden. Es konstituiert sich also in der Bestrafung eine komplexe und umkehrbare Struktureine Art oszillierender Strafe. Wenn der Verbrecher keine offensichtlichen Anzeichen von Wahnsinn aufweist, wird er von den Irren zu den Gefangenen gebracht. Wenn er aber sich in einer kleinen Zelle vernünftig zeigt, wenn er keine Gewalttätigkeit zeigt, wenn sein gutes Benehmen sein Verbrechen vergessen lassen kann, bringt man ihr wieder unter die Irren, deren Behandlung weniger streng ist. Die Gewalttätigkeit, die im Zentrum des Aktes liegt, ist wechselweise daswas der Wahnsinn bedeutet und was eine rigorose Bestrafung rechtfertigt. Aliénation und Verbrechen drehen sich um jenes bewegliche Thema, und zwar in einer konfusen Komplementärbeziehung, in einer Beziehung von Nachbarschaft und Ausschluß. Auf jeden Fall bleiben jedoch ihre Beziehungen äußerlich. Was zu entdecken bleibt und was eben genau 1792 formuliert wird, ist im Gegenteil eine innerlich Beziehung, in der alle Bedeutungen eines Verbrechens in Bewegung geraten und in einem Fragesystem erfaßt werden, das noch heutzutage keine Antwort erhalten hat. 1792 muß der Rechtsanwalt Bellart einen Arbeiter von 52 Jahrr·namens Gras in der Berufungs verhandlung verteidigen, der zum Tod verurteilt worden ist, weil er seine Geliebte ermordet hat, nachdem er sie bei einem A k t der Untreue ertappt hatte. Zum ersten Mal wurde ein Prozeß, bei dem es um Leidenschaften geht, in der öffentlichkr und vor einer Jury verhandelt. Zum ersten Mal drang die große Au einandersetzung zwischen Verbrechen und Aliénation an das otfer
Licht, und das öffentliche Bewußtsein versuchte, die Grenze zwischen der psychologischen Zuweisung und der Verantwortlichkeit für das ^erbrechen zu ziehen. Das Plädoyer von Bellart bringt keine neue Erkenntnis auf dem Gebiet der Wissenschaft von Seele oder Herz; es tut mehr: es grenzt für diese Gelehrsamkeit einen ganz neuen Raum ab, in dem sie ihre Bedeutung annehmen kann. Es entdeckt eine jener Operationen, durch die die Psychologie in der abendländischen Zivilisation zur Wahrheit des Menschen geworden ist. in einer ersten Annäherung findet man in dem Text von Bellart die Loslösung von einer Psychologie in Beziehung zur literarischen und moralischen Mythologie der Leidenschaft, die dem ganzen achtzehnten Jahrhundert gleichzeitig als Norm und Wahrheit gedient hatte. Zum ersten Mal hört die Wahrheit der Leidenschaft auf, mit der Ethik der wahren Leidenschaften zusammenzufallen. Man kennt eine bestimmte moralische Wahrheit der Liebe, die aus Wahrscheinlichkeit, Naturell und lebhafter Spontaneität besteht und in unklarer Weise Jas psychologische Gesetz ihrer Genesis und die Form ihrer Festigkeit darstellt. Es gibt keine empfindliche Seele im achtzehnten Jahrhundert, die des Grieux nicht verstanden und freigesprochen hätte, "iahe man anstatt jenes alten Mannes von zweiundfünfzig Jahren, Jer. laut Anklage, eine zweifelhafte Mätresse aus Eifersucht getötet haben soll, »einen jungen, in voller Blüte der Kraft und seines Alters •ehenden Mann, der durch seine Schönheit und vielleicht durch seine Leidenschaft interessant ist, so wäre das Interesse für ihn vielleicht :anz allgemein ( . . . ) . Die Liebe gehört der Jugend.«213 Jenseits jener Liebe aber, die die moralische Sensibilität unmittelbar erkennt, gibt eine andere, die unabhängig von der Schönheit und der Jugend enttehen und lange Zeit in den Herzen überleben kann. Ihre Wahrheit ist es. unwahrscheinlich zu sein, ihre Natur ist es, gegen die Natur zu n. Sie ist nicht wie die erste an die verschiedenen Lebensabschnitte ebunden. Sie ist nicht »der Diener der Natur, der dazu geschaffen irden ist, ihren Absichten zu dienen und ihr die Existenz zu verleihen . Während die Harmonie der ersten mit dem Glück im Bunde ;ht. nährt sich die zweite nur von Leiden. Wenn die eine »die KöstJikeiten der Jugend ausmacht und den Trost des reifen Alters«, bilät die zweite »zu oft die Qual des Alters«.21·» Der Text der Leiden'arten. den das achtzehnte Jahrhundert undifferenziert in psycho-
Vicolas-François de Bellarr, Œuvres, 6 vols., Paris 1827 f., Bd. I, S. 103. ebda.
logischen und moralischen Begriffen entzifferte, wird jetzt aufgelöst. Er teilt sich in zwei Wahrheitsformen. Er wird in zwei Systemen der Naturzugehörigkeit aufgefaßt. Eine Psychologie zeichnet sich ab, die nicht mehr die Sensibilität angeht, sondern allein die Erkenntnis, eine Psychologie, die von einer menschlichen Natur spricht, in der die Gestalten der Wahrheit keine Formen moralischer Festigkeit mehr sind. Diese Liebe, die die Weisheit der Natur nicht mehr begrenzt, ist ihren eigenen Exzessen völlig ausgeliefert. Sie ist wie die Wut eines leeren Herzens, das losgelöste Spiel einer gegenstandslosen Leidenschaft. Ihre ganze Anhänglichkeit ist gegenüber der Wahrheit des geliebten Objekts indifferent, so sehr liefert sie sich mit Heftigkeit den Bewegungen allein ihrer Vorstellungskraft aus. »Sie lebt vor allem im Herzen, eifersüchtig und wütend wie es.« Diese völlig in sich absorbieret Wut ist gleichzeitig die Liebe in einer A r t freigelegter Wahrheit und der Wahnsinn in der Einsamkeit seiner Illusionen. Es kommt ein Augenblick, an dem die Leidenschaft sich verfremdet, weil sie mit ihrer mechanischen Wahrheit zu konform war, so daß die Inbewegungsetzung genügt, um sie zum Delirium zu bringen. Infolgedessen stellt man, wenn man eine Geste der Gewaltsamkeit zur Gewaltsamkeit der Leidenschaft in Beziehung setzt und ihre psychologische Wahrheit auf den Reinzustand bringt, sie in eine Welt der Blindheit, der Illusionen und des Wahnsinns, die ihre kriminelle Realität verbirgt. Wa Bellart zum ersten Mal in seinem Plädoyer enthüllte, ist jene für un fundamentale Beziehung, die in jeder menschlichen Geste ein umgr kehrtes Verhältnis zwischen ihrer Wahrheit und ihrer Realität herstellt. Die Wahrheit eines Verhaltens kann nicht umhin, es irreal werden zu lassen; sie hat die dunkle Tendenz, ihm als äußerste und unanalysierbare Form dessen, was sie ihnsgeheim ist, den Wahnsin vorzuschlagen. Von dem tödlichen Verbrechen von Gras bleibt schliet lieh nur noch eine leere Geste übrig, die von einer »einzigen schuld gen Hand« ausgeführt worden ist, und andererseits verbleibt cir »unglückliche Fatalität«, die »in der Abwesenheit der Vernunft unJ in der Qual einer unwiderstehlichen Leidenschaft« gespielt hat. Wenn man den Menschen von allen moralischen Mythen befreit, denen seine Wahrheit gefangen war, bemerkt man, daß die Wahrh. jener verfremdeten Wahrheit nichts anderes ist als die Aliénât' selbst. Was man künftig »unter der psychologischen Wahrheit des Mensche21 j A . a . O . , Bd. I , S . 76 f.
erstehen wird, übernimmt so die Funktion und den Sinn, die die Uncrnunft lange innehatte. Der Mensch entdeckt in der Tiefe seiner .elbst, am extremen Punkt seiner Einsamkeit, den das Glück, die Wahrscheinlichkeit und die Moral nie erreichen, die alten Kräfte, die das klassische Zeitalter verbannt und an die fernsten Grenzen der Gesellschaft verwiesen hatte. Die Unvernunft wird gewaltsam in dem •hiektiviert, was es an Subjektivstem, Innerlichstem und Tiefstem im Menschen gibt. Nachdem sie lange Zeit schuldhafte Manifestation gewesen ist, wird sie jetzt zur Unschuld und zum Geheimnis. Sie hatte iene Formen des Irrtums exaltiert, in denen der Mensch seine Wahrheit vernichtet, und wird jenseits v o n der Erscheinungswelt und jen>cits von der Realität selbst zur reinsten Wahrheit. Im menschlichen fierzen gefangen, in ihm begraben, kann der Wahnsinn das formulieren, was es im Menschen an ursprünglich Wahrem gibt. Erst dann beginnt eine langsame Arbeit, die heute schließlich auf einen jener bedeutenden Widersprüche unseres moralischen Lebens hinausläuft, dies, was als Wahrheit des Menschen formuliert wird, wird auf das K.onto der Nichtzurechnungsfähigkeit und jener Unschuld geschrieben. die stets im abendländischen Recht das Eigentümliche des Wahn.nns letzten Grades gewesen ist: »Wenn Gras in dem Augenblick, in dem er die Witwe Lefèvre getötet hat, aber durch irgendeine absorbierende Leidenschaft beherrscht worden ist, daß es ihm unmöglich ar. zu wissen, was er tat, und sich von der Vernunft leiten zu lassen, Ann man ihn unmöglich zum Tode verurteilen.« 2 ' 6 Die erneute Inragestellung der Strafe, der Verurteilung, ja des Sinnes des Verbrelens durch eine Psychologie, die die Unschuld des Wahnsinns insgedm in das Herz jeder Wahrheit stellt, die man über den Menschen «sprechen wird, war bereits virtuell in dem Plädoyer von Bellart irhanden. Das Wort Unschuld darf jedoch nicht in jenem absoluten Sinne Veranden werden. Es handelt sich nicht um eine Befreiung des Psychotischen im Verhältnis zur Moral, sondern vielmehr um eine Um•ukturierung des Gleichgewichts. Die psychologische Wahrheit macht jr in einem sehr präzisen M a ß unschuldig. Jene »Liebe, die vor alin im Herzen lebt«, darf, wenn sie die Nichtzurechnungsfähigkeit •runden soll, kein lediglich psychologischer Mechanismus sein. Sie iiß ein Anzeichen einer anderen Moral sein, die nur eine sehr seltene <m der Moral selbst ist. Ein junger Mann in der Blüte seiner Jahre. V.a.O., Bd. I, S. 97.
der »durdi seine Schönheit interessant ist«, verläßt seine Geliebte, wenn sie ihn betrügt. Mehr als einer »hätte an der Stelle von Gras über die Untreue seiner Geliebten gelacht und sich eine andere genommen«. Die Leidenschaft des Angeklagten aber lebt allein und für sich, sie kann jene Untreue nicht ertragen und gibt sich mit keiner Veränderung zufrieden: »Gras sah mit Verzweiflung, wie er das letzte Herz verlor, über das er zu herrschen hoffen konnte, und alle seine Handlungen mußten den Eindruck dieser Verzweiflung tragen.«21" Er ist absolut treu, die Blindheit seiner Liebe hat ihn zu einer ungewöhnlichen und herausfordernden, tyrannischen Tugend gebracht, die man aber unmöglich verurteilen kann. Muß man mit der Treue streng verfahren, wenn man gegenüber der Unbeständigkeit nachsichtig ist? Und wenn der Verteidiger verlangt, daß sein Klient nicht zum Tode verurteilt wird, dann geschieht das im Namen einer Tugend, die die Sitten des achtzehnten Jahrhunderts vielleicht nicht schätzten, die man aber jetzt ehren muß, wenn man zu der Tugend von einst zurückkommen will. Jenes Gebiet von Wahnsinn und Furor, in dem die verbrecherische Geste entsteht, spricht den Täter genau nur in dem Maße frei, in dem es nicht von einer strengen moralischen Neutralität ist, sondern einr ganz genaue Rolle spielt: wo es einen Wert exaltiert, den die Gesellschaft anerkennt, ohne seinen Umlauf zu gestatten. Man schreibt die Hochzeit vor und ist gezwungen, gegenüber der Untreue die Augen zu schließen. Der Wahnsinn wird die Kraft einer Entschuldigung haben, wenn er Eifersucht, Hartnäckigkeit, Treue manifestiert - selbst um den Preis der Rache. Die Psychologie muß sich im Innern eine·: schlechten Bewußtseins ansiedeln, im Spiel zwischen anerkannten und geforderten Werten. Dann, und nur dann, kann sie die Wirklichkeit des Verbrechens auflösen und in einer A r t Donquichotterie der unpraktikablen Tugenden von der Schuld freisprechen. Wenn das Verbrechen jene unzugänglichen Werte nicht durchscheiner läßt, kann es ebenso determiniert werden, wie man es durch die Gesetze der Psychologie und der Mechanismen des Herzens will. Es verdient keine Nachsicht, es enthüllt nur Laster, Perversion und Verbrechertum. Bellart bemüht sich, eine grobe »Unterscheidung zwischei: den Verbrechen herzustellen; die einen sind niedrig und zeugen von einer schmutzigen Seele, wie zum Beispiel der Diebstahl«; in diesen Verbrechen kann die bürgerliche Gesellschaft selbstverständlich ke:217 A . a . O . , B d . I, S. 103.
len Wert, nicht einmal einen ideellen, erkennen. Man muß ihnen andere Handlungen nebenordnen, die noch furchtbarer sind und »eine mit Verbrechen wie Mord oder Totschlag befleckte Seele erkennen lassen-. Andere aber enthüllen »eine lebhafte und leidenschaftliche Seele, wie alle diejenigen, die durch die erste Bewegung fortgerissen "erden, wie es zum Beispiel im Fall von Gras geschehen ist«.2'8 Der Grad der Determination einer Geste setzt also nicht die Verantwortlichkeit desjenigen fest, der sie ausführt. Im Gegenteil ist eine Handlung, je mehr sie aus der Entfernung zu entstehen und ihre Wurzel in icnen »Schmutznaturen« zu haben scheint, um so schuldbeladener. Entsteht sie dagegen unvorhergesehen und tritt sie überraschend auf in Jner reinen Bewegung des Herzens zu einer A r t einsamen und absurden Heroismus, verdient sie eine geringere Bestrafung. Man ist schuld, "enn man eine perverse Natur hat oder zum Laster erzogen worden ist. Unschuldig aber ist man in dem unmittelbaren und heftigen Wechsel von einer Moral zur anderen, das heißt von einer praktizierten Moral, die man kaum anzuerkennen wagt, zu einer exaltierten Moral, die man zu praktizieren ablehnt, weil es um das Wohl aller geht. Wer in seiner Kindheit eine gesunde Erziehung gehabt hat und 'lücklicherweise deren Prinzipien auch im hohen Alter hat bewahren können, kann mit Sicherheit annehmen, ohne daß es ihn große Mühe kostet, daß kein ähnliches Verbrechen wie die genannten« — die der befleckten Seelen - »je sein Leben beflecken wird. Aber, welcher Mensch wäre so kühn, daß er zu behaupten wagte, daß in dem Ausbruch einer großen Leidenschaft er nie ein Verbrechen der zweiten Kategorie begehen wird? Wer würde versichern können, daß in der Obersteigerung des Furor und der Verzweiflung er seine Hände nie mit Blut befleckt, vielleicht mit sehr wertvollem Blut?« 21 ' So vollzieht sich erneut eine Trennung des Wahnsinns, bei der auf der .inen Seite ein seiner Perversion überlassener Wahnsinn verbleibt, •len kein Determinismus je entschuldigen kann, während auf der anderen Seite ein Wahnsinn steht, der in Richtung eines Heroismus veräuft. der das umgekehrte, aber komplementäre Bild der bürgerlichen "Werte ausmacht. Dieser, und nur dieser Wahnsinn wird allmählich Jas Stadtrecht in der Vernunft erwerben oder vielmehr in den Intermittenzen der Vernunft. In ihm wird sich die Verantwortlichkeit abhwächen, wird das Verbrechen gleichzeitig menschlicher und weniger strafbar werden. Man hält ihn für erklärbar, weil man ihn völlig .!< A. a. O., Bd. I, S. 90. iç A. a. O., Bd. I, S. 90f.
von moralischen Optionen durchdrungen findet, in denen man sich wiederfindet. Es gibt jedoch die andere Seite der Aliénation, von der Royer-Collard wahrscheinlich in seinem berühmten Brief an Fouché sprach, als er den »Wahnsinn des Lasters« evozierte. Jener Wahnsinn ist weniger als der Wahnsinn, weil er absolut der moralischen Welt fremd ist und weil sein Delirium darin nur vom Bösen spricht. Während der erste Wahnsinn sich der Vernunft annähert, sich mit ihr vermengt und von ihr aus verstehen läßt, wird der andere in das äußere Dunkel zurückgeworfen. Dort entstehen jene eigenartigen Begriffe, die nacheinander im neunzehnten Jahrhundert den moralischen Wahnsinn, die Degeneration, den geborenen Verbrecher und die Perversität ausgemacht haben: so viele »böse Wahnsinnsarten«, die das moderne Bewußtsein nicht zu assimilieren vermochte und die den irreduziblen Bodensatz der Unvernunft bilden, wovor man sich nur durch eine durch und durch negative Weise, durch die Ablehnung und die absolute Verurteilung schützen kann. In den ersten großen Strafprozessen, die in der Revolution öffentlich stattgefunden haben, wird die ganze alte Welt des Wahnsinns erneut in einer fast alltäglichen Erfahrung an den Tag gebracht, aber die Normen jener Erfahrung gestatten ihr nicht mehr, sein ganzes Gewicht auf sich zu nehmen, und das, was das sechzehnte Jahrhundert in der weitschweifigen Totalität einer imaginären Welt aufgenommen hatte, wird vom neunzehnten Jahrhundert nach den Regeln einer moralischen Wahrnehmung gespalten. Das neunzehnte Jahrhunden wird den guten und den bösen Wahnsinn erkennen, jenen, dessen konfuse Präsenz man am Rande der Vernunft, im Spiel der Moral und des schlechten Bewußtseins, der Zurechnungsfähigkeit und der Unschuld akzeptiert; und jenen Wahnsinn, auf den man das alte Anathema und das ganze Gewicht der nicht wieder gutzumachenden Sünde zurückfallen lassen wird. Der Zusammenbruch der Internierung war in Frankreich brutaler als überall sonst. Während der kurzen Jahre, die der Reform von Pinel vorausgehen, bleiben die Unterbringungsorte der Wahnsinnigen und die Elaboration, die sie verändert, freigelegt. Eine ganze Arbeit wird sichtbar, deren Aspekte wir festzulegen versucht haben. Diese Arbeit scheint beim ersten Blick eine Bewußtwerdung zu sein bei der der Wahnsinn endlich in einer ihm eigenen Problematik bezeichnet wird. Daher muß man dieser Bewußtwerdung auch die Füll ihres Sinnes geben. Es handelt sich weniger um eine plötzliche Ent-
Deckung als um eine lange Einkreisung, als sei in dieser Bewußtwerdung das Ergreifen bedeutender als die Neuheit der Erhellung. Es gibt eine bestimmte Bewußtseinsform, die sich historisch feststellen läßt, durch die der Wahnsinn erfaßt und in seinem Sinne ergriffen «Orden ist. Wenn dieses neue Bewußtsein dem Wahnsinn seine Freiheit und eine positive Wahrheit wiederzugeben scheint, so geschieht das nicht allein durch das Verschwinden der alten Zwänge, sondern dank dem Gleichgewicht zweier Serien von positiven Prozessen. Die einen haben zum Inhalt das An-den-Tag-bringen, das Herauslösen und, wenn man so will, die Befreiung. Die anderen dagegen errichten hastig neue Strukturen des Schutzes, die der Vernunft gestatten, sich zu lösen und sich in dem Moment abzusichern, in dem sie den Wahnsinn erneut in einer unmittelbaren Nähe entdeckt. Diese beiden Ganzheiten stehen sich nicht gegenüber, sie ergänzen sich auch nicht nur, -ondern sind ein und dieselbe Sache, die kohärente Einheit einer Ge"te. durch die der Wahnsinn der Erkenntnis in einer Struktur angeboten wird, die von Anfang an entfremdend ist. Hier ändern sich definitiv die Bedingungen der klassischen Erfahrung des Wahnsinns, und es ist letzten Endes möglich, die Tabelle jener konkreten Kategorien im Spiel ihrer offenbaren Opposition aufzustellen: Formen der Befreiung
Schutzstrukturen
Beseitigung einer Internierung, die den Wahnsinn mit allen anderen Formen Jer Unvernunft vermischt.
r. Entwicklung einer Internierung f ü r die Wahnsinnigen, die nicht mehr Gebiet des Ausschlusses, sondern privilegierter O r t ist, an dem sie ihre Wahrheit finden müssen,
i. Bildung eines Asyls, das nur ärztliche Ziele hat.
2. Erfassen des Wahnsinns in einem unüberwindbaren Raum, der zugleich Raum der Darstellung und Raum der Heilung sein soll.
Erlangung des Rechts durch die Wahninnigen, sich auszudrücken, verstanden iu werden, in eigenem Namen zu predien.
3. Ausarbeitung einer A r t absoluten Subjekts um den und über den Wahnsinn, das völlig Blick ist und ihm einen reinen Objektstatus zuweist.
. Einführung des Wahnsinns in den psy- 4. Einreihen des Wahnsinns ins Innere Jiologlsdien Gegenstand als alltägliche einer nicht kohärenten Welt der Werte Wahrheit der Leidenschaft, der Heftigund in das Spiel des schlechten Bewußtheit und des Verbrechens. seins.
Formen der Befreiung
Schutzstrukturen
5. Erkennen des Wahnsinns in seiner Rolle als psychologische Wahrheit, als nicht zurechnungsfähiger Determinismus.
5. Trennung der Wahnsinnsformen nach dichotomisdien Erfordernissen einer moralischen Beurteilung,
Diese doppelte Bewegung der Befreiung und Versklavung bildet die geheimen Schichtungen, auf denen die moderne Erfahrung mit dem Wahnsinn beruht. Von der Objektivität, die wir den Formen der Geisteskrankheit zuerkennen, glauben wir leicht, daß sie als schließlich befreite Wahrheit unserem Wissen angeboten wird. Tatsächlich wird sie nur demjenigen gegeben, der davor bewahrt bleibt. Die Erkenntnis des Wahnsinns setzt bei demjenigen, der sie besitzt, eine bestimmte A r t voraus, sich vom Wahnsinn freizumachen, sich von vornherein von seinen Gefahren und von seinem Zauber zu lösen, worin eine bestimmte Art, nidit irre zu sein, zu sehen ist. Das historische Auftauchen des psychiatrischen Positivismus ist mit der Entwicklung der Erkenntnis nur auf sekundäre Weise verbunden. Ursprünglich liegt darin die Fixierung einer besonderen Art, nicht wahnsinnig zu sein: ein bestimmtes Bewußtsein des Nicht-Wahnsinns, das für den Gegenstand der Gelehrsamkeit zur konkreten Situation, zur soliden Basis wird, von der ausgehend es möglich ist, den Wahnsinn zu erkennen. Wenn man wissen will, was sich im Laufe jener brüsken Veränderung abgespielt hat, die in einigen Jahren an der Oberfläche der europäischen Welt eine neue Erkenntnis und eine neue Behandlung des Wahnsinns eingerichtet hat, ist es unnütz, sich zu fragen, was der bereits erworbenen Gelehrsamkeit hinzugefügt worden ist. Tuke, der kein A r z t war, Pinel, der kein Psychiater war, wußten kaum mehr als Tissot oder Cullen. Was sich so brüsk geändert hat, ist das Bewußtsein, nicht irre zu sein, ein Bewußtsein, das sich seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erneut mit allen lebendigen Formen des Wahnsinns konfrontiert und in ihrem langsamen Aufsteigen gefangen und bald in den Zusammenbruch der Internierung gestürzt findet. Was sich im Laufe der Jahre vor und unmittelbar nach der Revolution ereignet hat, ist eine neue und plötzliche Loslösung dieses Bewußtseins. Man wird sagen, es handle sich dabei um ein rein negatives Phänomen; es ist aber nicht so, wenn man eine nähere Untersuchung macht. Es ist vielmehr das einzige und erste positive Phänomen im Entstehe? des Positivismus. Diese Loslösung ist in der Tat nur durch eine um-
tassende Architektur des Schutzes möglich gewesen, die nacheinander von Colombier, Tenon, Cabanis, Bellart gezeichnet und errichtet worden ist. Und die Festigkeit dieser Strukturen hat ihnen gestattet, unberührt bis zu unseren Tagen fortzubestehen, trotz all der Anstrengungen der Forschungen Freuds. Im klassischen Zeitalter war die Art, nicht irre zu sein, eine doppelte, die sich teilte in eine unmittelbare und nicht alltägliche Auffassung des Unterschieds und ein System des Ausschlusses, das den Wahnsinn mit anderen Gefahren vermengte. Dieses klassische Bewußtsein der Unvernunft war also mit einer Spannung zwischen jener inneren, nie in Frage gestellten Evidenz und der stets kritisierbaren Willkür einer sozialen Trennung beschäftigt. Aber an dem Tag, an dem diese beiden Erfahrungen sich vereint haben, an dem das System sozialen Schutzes in die Bewußtseinsformen hineingenommen worden ist, an dem Tag, an dem die Anerkennung des Wahnsinns sich in der Bewegung vollzogen hat, durch die man sich von dem Wahnsinn trennte und durch die man die Entfernungen an der Oberfläche der Institutionen maß, an jenem Tag ist die Spannung plötzlich reduziert worden, die im achtzehnten Jahrhundert herrschte. Die Formen der Anerkennung und die Strukturen des Schutzes haben sich in einem künftig souveränen Bewußtsein, nicht irre zu sein, überlagert. Jene Möglichkeit, sich den Wahnsinn als bekannt und zugleich beherrscht in einem einzigen Bewußtseinsakt zu geben, liegt im Herfen der positivistischen Erfahrung mit der Geisteskrankheit. Solange diese Möglichkeit nicht unmöglich gemacht wird, und zwar in einer neuen Befreiung des Denkens, wird der Wahnsinn für uns das sein, ,1s was er sich bereits für Pinel und für Tuke ankündigte; er wird in -inem positivistischen Alter gefangen bleiben.
4- Kapitel
Die Entstehung des Asyls Man kennt die Bilder. Sie sind aus allen Werken über die Geschichte der Psychiatrie vertraut, in denen sie die Funktion haben, jenes glückliche Zeitalter zu illustrieren, in dem der Wahnsinn schließlich erkannt und gemäß einer Wahrheit behandelt wird, der gegenüber man nur allzu lange blind geblieben ist. »Die Ehrwürdige Gesellschaft der Quäker ( . . . ) hat denen unter ihren Mitgliedern, die unglücklicherweise die Vernunft verlieren sollten, ohne ein ausreichendes Vermögen zu besitzen, um Zuflucht bei den kostspieligen Einrichtungen zu suchen, alle Quellen der Kunst und alle Annehmlichkeiten des Lebens, die mit ihrem Zustand vereinbar sind, zu sichern gewünscht. Eine freiwillige Stiftung hat den Grund und Boden gesichert, und vor zwei Jahren etwa ist ein Haus in der Nähe von Y o r k gegründet worden, das viele Vorteile mit jeder möglichen Ersparnis zu verbinden scheint. Wenn die Seele einen Moment lang beim Anblick dieser schrecklichen Krankheit leidet, die dazu geschaffen scheint, die menschliche Vernunft zu erniedrigen, verspürt man sofort zarte Emotionen, wenn man all das betrachtet, was eine einfallsreiche Aufmerksamkeit zu ihrer Heilung und Erleichterung hat erfinden können. Jenes Haus ist eine Meile von Y o r k entfernt, liegt mitten in einer fruchtbaren und lachenden Landschaft. Dadurch kommt keinesfalls die Idee eines Gefängnisses auf, sondern eher die eines großen landwirtschaftlichen Betriebes. Es ist von einem großen geschlossener Garten umgeben; es gibt keine Gitter und keine Stäbe vor den Fenstern.«230 Der Bericht über die Befreiung der Geisteskranken von Bicêtre ist berühmt. Es wurde die Entscheidung getroffen, den Gefangenen in ihren Kerkern die Ketten abzunehmen. Couthon besuchte das Hospital, um festzustellen, ob man keine Verdächtigen verborgen hatte. Pinel trat ihm mutig entgegen, während jeder andere bei dem Anblick »des von Männern auf Armen getragenen Kranken« zitterte. Es wat eine Konfrontation des klugen und festen Philanthropen mit den1 220 D e L a Rive, »Sur un établissement pour la guérison des aliénés«, in: Bibliothi que Britannique, S, S. 304. - A u d i in einer gesonderten Broschüre erschienen. D r Besuch v o n de L a R i v e in der Retreat geschah 179S.
paralytischen Monstrum. »Pinel führte ihn sofort in die Abteilung der Erregungszuständen unterworfenen Kranken, wo ihn der Anblick der Kammern peinlich berührte. Er wollte alle Kranken befragen. Jedoch erhielt er von den meisten nur Beleidigungen und unflätige Anreden. Es war unnütz, die Untersuchung länger fortzusetzen. Er wandte sich an Pinel und sagte: >Also, Bürger, bist du selber irre, oder weshalb willst du solche Tiere von den Ketten befreien?« Pinel antwortete ihm ruhig: »Bürger, ich bin der Überzeugung, daß diese Geisteskranken nur deshalb so unzugänglich sind, weil man sie der Luft und der Freiheit beraubt.« - »Dann tu, was du willst, aber ich fürchte, daß du Opfer deiner Vermessenheit wirst.« Danach bringt man Couthon bis zu seinem Wagen. Seine Abreise war eine Erleichterung; man atmete auf; der große Philanthrop machte sich sofort ans Werk.« 121 Das sind die Bilder, in dem Maße, in dem jedejr der beiden Berichte das Wesentliche seiner Kräfte imaginären Formen entnimmt: die patriarchalische Ruhe des Hauses von Tuke, in der sich die Leidenschaften des Herzens und die geistige Unruhe langsam beruhigen; die luzide Festigkeit Pinels, der mit einem einzigen Wort und einer einzigen Geste die beiden Formen animalischen Tobens, die gegen ihn brüllen und ihn beobachten, meistert; und jene Klugheit, die es wohl verstanden hat zu unterscheiden, woher die wirkliche Gefahr kam, von tobsüchtigen Irren oder einem konventionellen Sanguiniker. Diese Bilder tragen lange, bis heute, ein schweres Gewicht. Es ist unnütz, sie abzulehnen; nur wenige wertvollere Dokumente bleiben uns. In ihrer Naivität sind sie außerdem zu kompakt, als daß sie nicht vieles von dem enthielten, was sie verschweigen. In der überraschenden Tiefe eines jeden Bildes müßte man gleichzeitig die konkrete, von ihnen verborgene Situation und die mythischen, von ihnen als Wahrheit ausgegebenen und überlieferten Werte entziffern können. Schließlich bleibt die wirkliche Operation, die ausgeführt worden :st und von der sie nur eine symbolische Übersetzung geben. Zunächst ist Tuke ein Quäker, ein aktives Mitglied einer jener zahllosen -Gesellschaften von Freunden«, die sich in England seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts entwickelt haben. Die englische Gesetzgebung neigt, wie wir gesehen haben, im Laufe Jes achtzehnten Jahrhunderts immer mehr zur Begünstigung der Pri'atinitiative im Bereich der Fürsorge.222 Man organisiert eine A r t von
.21 Scipion Pinel, Traité complet du régime sanitaire des aliénés, Paris 1836, S. 56. 122 Vgl. Teil 3, Kapitel 2.
Versicherungsgruppen und begünstigt die Hilfsvereinigungen. Aus ökonomischen und religiösen Gründen zugleich haben nun die Quäker seit mehr als einem Jahrhundert diese Rolle gespielt und dies am Anfang sogar gegen den Willen der Regierung. »Wir geben kein Geld für Menschen, die schwarz gekleidet sind, um unseren Armen beizustehen, unsere Toten zu begraben, unseren Gläubigen zu predigen. Diese frommen Beschäftigungen sind uns zu teuer, um sie auf andere abzuwälzen.«" 3 Man versteht, daß unter den neuen Bedingungen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts 1793 ein Gesetz verabschiedet worden ist »for the encouragement and Relief of Friendly societies«." 4 Es handelt sich um jene Vereinigungen, deren Beispiel und Eingebung oft bei den Quäkern benutzt worden sind, und die durch Kollekten und Schenkungssysteme Fonds für diejenigen ihrer Mitglieder sammeln, die in N o t geraten, krank oder gebrechlich werden. Der Text des Gesetzes präzisiert, daß man von diesen Institutionen »sehr wohltuende Wirkungen erwarten kann, weil sie das Glück der Individuen unterstützen und gleichzeitig das Bündel der öffentlichen Lasten verringern«. Dabei ist wichtig, daß man die Mitglieder dieser Gesellschaften vom removal befreit, durch das eine Gemeinde sich eines notleidenden oder eines armen Kranken entledigen kann oder muß, wenn er nicht aus der Gegend stammt, indem sie ihn in seine Heimatgemeinde zurückschickt. Man muß feststellen, daß diese Maßnahme des removal, durch die Seulement Act eingeführt, 179$ aufgehoben wird 22 ' und daß man die Verpflichtung für eine Gemeinde vorsieht, sich auch mit einem armen Kranken zu beschäftigen, der nicht aus ihr stammt, wenn dessen Transport gefährlich zu sein droht. Wir haben hier den juristischen Rahmen des besonderen Konflikts, der Ursprung für das Altersheim war. Man kann andererseits annehmen, daß die Quäker sich sehr zeitig hinsichtlich der Pflegemittel und der Fürsorge für den Geisteskranken wachsam gezeigt haben. V o n Anfang an hatten sie mit Internierungshäusern zu tun, denn 1649 waren George Fox und einer seiner Begleiter auf richterlichen Befehl in die Strafanstalt Darby geschickt worden, w o sie geprügelt und sechs Monate wegen Blasphemie eingesperrt
223 Voltaire, Lettres philosophiques (Ausgabe Droz), I, S. 17. 224 33. Georges III, cap. 5, »For the encouragement and Relief of Friendly societies«. 225 35. Georges III, cap. 101. Ober die Aufhebung dieser Settlement Act vgl. Nicholls, a. a. O., S. 112 f.
werden sollten." 6 In Holland wurden die Quäker wiederholt im Hospital von Rotterdam eingesperrt."'' Voltaire, gleich, ob er nun einen bei ihnen gehörten Satz niedergeschrieben hat oder ihnen eine Meinung, die über sie im Umlauf war, nur zuschrieb, läßt seinen Quäker in den Lettres philosophiques sagen, daß der sie inspirierende Hauch nicht unbedingt das Wort Gottes, sondern mitunter das wahnsinnige Gerede der Unvernunft ist: »Wir können nicht wissen, ob ein Mensch, der zum Reden aufsteht, vom Geist oder vom Wahnsinn inspiriert ist.«"® Auf jeden Fall wurden die Quäker wie viele religiöse Sekten am Ende des siebzehnten und am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in die große Auseinandersetzung der religiösen Erfahrung und der Unvernunft einbezogen. 22 ' Für die anderen, vielleicht für sie selbst, sind bestimmte Formen jener Erfahrung in die Doppeldeutigkeit des gesunden Menschenverstandes und des Wahnsinns gestellt. Sie mußten wahrscheinlich in jedem Augenblick die Trennung der beiden vornehmen und trotzdem dem Vorwurf des Wahnsinns, den man ihnen unaufhörlich machte, entgegentreten. Daher rührt wahrscheinlich das ein wenig verdächtige Interesse, das die Friendly Societies für die Behandlung der Irren in den Internierungshäusern gezeigt haben. 1791 wird eine zu dieser Sekte gehörende Frau »in ein Haus für Irre in der Nähe von Y o r k « gebracht; die Familie, die weit entfernt lebt, beauftragt die Sekte, über das ihr bereitete Schicksal zu wachen, aber die Leitung des Asyls läßt keine Besuche zu und wendet ein, der Zustand der Patientin gestatte nicht, daß sie jemanden empfange. Einige Wochen später stirbt die Frau. »Dieser niederdrückende Vorfall rief natürlich Überlegungen über die Situation der Wahnsinnigen und über die möglichen Verbesserungen bei Einrichtungen dieser A r t hervor. Man begriff insbesondere, daß es ein besonderer Vorteil wäre, wenn die Friendly Society ein solches Haus besäße, über das sie selbst wachen könnte, und Behandlungen darin vornehmen könnte, die angemessener wären als die gewöhnlich praktizierten.« 230 Einen solchen Bericht liefert Samuel Tuke zwanzig Jahre nach dem Ereignis.
126 Willem Scwell, The history of the rise, increases and progress of People called Quakers, London "1774, S. 28.
Christian
227 Λ . Ι . Ο . , S. 233. 228 Voltaire,A.A.O., S. IÄ. 22Q Ebenso die protestantischen Mystiker am Ende des siebzehnten Jahrhunderts md die letzten Jansenisten. !'o Samuel Tuke, Description of the Retreat, an Institution near York for insane ferions. York i 8 i 3 , S . 2 2 f
Es ist leicht, den Vorfall als einen der zahlreichen zu betrachten, denen das Gesetz über das seulement Vorschub leistete. Eine ohne größeren Rückhalt lebende Person wird fern von ihrer Heimat krank und soll dem Gesetz nadi dorthin zurückgeschickt werden. Ihr Zustand und vielleicht die Transportkosten zwingen dazu, sie nicht zurückzubringen. Dies ist eine teilweise illegale Situation, die nur durch die unmittelbare Gefahr gerechtfertigt werden kann und im übrigen im vorliegenden Fall durch einen Internierungsbefehl, der von einem Friedensrichter unterzeichnet worden ist, legalisiert wurde. Aber außerhalb des Asyls, in dem die Kranke untergebracht ist, hat keine mildtätige Organisation außer der ihrer Ursprungsgemeinde das Recht, ihr zu Hilfe zu kommen. Ein Armer, der außerhalb seiner Gemeinde schwer krank wird, ist der Willkür der Internierung ausgesetzt, die niemand kontrollieren kann. Dagegen laufen die Wohltätigkeitsorganisationen Sturm, die das Recht erhalten, auf der Stelle diejenigen ihrer Angehörigen aufzunehmen, die krank werden. Durch das Gesetz von 1793 wird dies zwei Jahre nach dem Vorfall, von dem Samuel Tuke spricht, die Regel. Man muß also das Projekt eines kollektiven Privathauses, das für die Irren bestimmt ist, als einen der zahlreichen Proteste gegen die alte Gesetzgebung für die Armen und die Kranken verstehen. Im übrigen sind die Daten klar, selbst wenn Samuel Tuke sich hütet, sie einander anzunähern, weil er von der Sorge getrieben wird, das ganze Verdienst der Unternehmung allein der privaten Großzügigkeit zu überlassen. 1791 gab es den Plan der Quäker von York, am Anfang des Jahres 1793 wurde das Gesetz verabschiedet, das die wohltätigen Friendly Societies anregt und vom removal befreit: die Fürsorge geht so von der Gemeinde zu einem privaten Unternehmen über. Im gleichen Jahr 1793 lancieren die Quäker in Yorl eine Unterschriftensammlung und stimmen über die Ordnung der Gesellschaft ab. Im folgenden Jahr entscheiden sie über den Kauf ein· Grundstüdis. 1795 wird die Seulement Act offiziell aufgehoben. J1 Bau des Altersheims beginnt, und das Haus kann im folgenden Jahr seiner Bestimmung übergeben werden. Das Unternehmen von Tut gehört genau zur großen gesetzlichen Neuorganisation der Fürsor; am Ende des achtzehnten Jahrhunderts innerhalb jener Serie von M? nahmen, durch die der bürgerliche Staat für seine eigenen Bedürfndie private Wohltätigkeit erfindet. Das Ereignis, durch das die Befreiung der »Angeketteten in Bicèr in Frankreich ausgelöst worden ist, ist anderer Natur, und die hi«: rischen Umstände sind viel sdiwieriger zu bestimmen. Das Gesen
<79° hatte die Einrichtung großer, für die Wahnsinnigen bestimmter Hospitäler vorgesehen, aber keines von ihnen existierte vor 1793. Bicêtre war als »Armenhaus« eingerichtet worden. Man traf darin noch wie vor der Revolution in konfuser Mischung Mittellose, Alte, Strafgefangene und Geisteskranke. Zu dieser traditionellen Bevölkerung kommt die hinzu, die von der Revolution dorthin geschickt worden ist; zunächst die politischen Gefangenen: Piersin, ein Aufseher für die Irren in Bicêtre schreibt der Kommission für bürgerliche Verwaltung am achtundzwanzigsten Brumaire des Jahres Drei, das heißt während des Aufenthalts Pinels: »Es gibt bei meiner Arbeit immer noch Gefangene für das Revolutionstribunal.« 231 Außerdem gibt es die Verdächtigen, die sich verbergen. Bicêtre ist ebenso wie die Pension Belhomme, die Maison Douai oder Vernet*52 als Unterschlupf für Verdächtige benutzt worden. Während der Restauration, als man vergessen lassen muß, daß Pinel während der Γ erreur Arzt in Bicêtre war, wird man ihm zugute halten, daß er so Aristokraten oder Priester protegiert hat. »Pinel war in Bicêtre bereits Arzt, als man zu einer Zeit schmerzhaften Angedenkens von dieicr Gefangenenanstalt ihren Tribut für den Tod verlangte. Die 7erreur hatte die Anstalt mit Priestern und mit wieder zurückgekehrten Emigranten angefüllt. Monsieur Pinel wagte, sich der Auslieferung tiner großen Zahl von ihnen entgegenzustellen, indem er vorgab, sie .ien Irre. Sein Widerstand wuchs mit dem Nachdruck der Fragen. Said wurde zur Gewalt gegriffen und nach den Henkern gerufen, i 'ie Energie eines gewöhnlich so zarten und umgänglichen Menschen eticte einer großen Zahl von Opfern das Leben, unter denen man len Prälaten nennt, der augenblicklich einen der Hauptsitze Frank.idis innehat.«·233 Man muß aber auch einer anderen Tatsache Rechm* tragen: Bicêtre ist während der Revolution das Hauptzentrum r Einlieferung von Geisteskranken geworden. Seit den ersten Veraen, das Gesetz von 1790 anzuwenden, waren aus den Zuchthäu• "i freigelassene Irre dorthin geschickt worden, wozu bald auch die iitiert bei Tuetcy, a. a. O., Bd. 3, S. 369. '.'inel und Boyer hatten in der Pension Vernet, rue Scrvandoni, eine Zuflucht idorcet gefunden, als dieser am 8. Juli 1793 verhaftet werden sollte. •
C -illaume Dupuytren, Notice sur Philippe Pinel, Paris 1826. Auszug aus dem :l des Débats vom 7. November 1826, S. 8. Wahrscheinlich macht Dupuytren "'pielung auf den abbé Fournier, der von der K a n z e l herab die Hinrichtung 1 l ivig X V I . angegriffen hat und, nach seiner Internierung in Bicêtre als '-T-. Kaplan Napoleons, dann Bischof von Montpellier wurde.
1
Geistekranken kamen, die die Säle des Hôtel-Dieu überfüllten. 2 » Infolgedessen wird mehr durch die Kraft der Ereignisse als durch ein überlegtes Projekt Bicêtre als Erbe jener ärztlichen Funktion angesehen, die durch das klassische Zeitalter hindurch ohne Vermengung mit der Internierung überlebt hatte und aus dem Hôtel-Dieu das einzige Pariser Hospital hatte werden lassen, in dem die Heilung der Irren systematisch versucht wurde. Was das Hôtel-Dieu seit dem Mittelalter unablässig getan hatte, übernimmt jetzt Bicêtre im Rahmen einer konfuseren Internierung als je. Zum ersten Mal wird Bicêtre ein Hospital, in dem die Irren bis zur Heilung gepflegt werden: »Da die Administration der öffentlichen Anstalten die Einschließung der Irren in einem freien Hospiz seit der Revolution nur dann in Betracht zieht, wenn sie schädlich und für die Gesellschaft gefährlich sind, bleiben sie seit der Revolution nur darin, solange sie krank sind, und sobald man ihrer vollkommenen Heilung sicher ist, läßt man sie in den Schoß ihrer Familien oder in die Arme ihrer Freunde zurückkehren. Der Beweis dafür existiert in Form einer allgemeinen Entlassung all jener, die ihren Verstand wiedererlangt haben, und sogar jener, die zuvor vom Parlament für Lebzeiten eingeschlossen worden sind, denn die Administration hält es für ihre Pflicht, nur die Irren eingesperrt zu halten, die außerstande sind, ihre Freiheit wahrzunehmen.« 2 " Die ärztliche Funktion hat sich in Bicêtre klar durchgesetzt. Es handelt sich jetzt darum, genauestens alle Internierungen aus Gründen der Demenz, die in der Vergangenheit vorgeschrieben worden sind, zu revidieren.236 Zum ersten Mal in der Geschichte des Hôpital général ernennt man für die Krankenstuben von Bicêtre einen Mann, der sich bereits einen gewissen Ruf in der Kenntnis der Geisteskrankheiten erworben hat.23" Die Ernennung Pinels beweist für sich allein, daß die Anwesenheit der Irren in Bicêtre bereits ein medizinisches Problem geworden ist. 234 Vgl. etwa den Erlaß des Comité de Sûreté, einen Geisteskranken nach Bicêtre zu überführen, den man nicht im großen Hospice d'humanité lassen konnte. Vgl. Tuetey, a. a. O., Bd. 3, S. 427 f. 235 Brief von Piersin an die Kommission für bürgerliche Verwaltung vom 19. Frimaire, An III, zitiert bei Tuetey, a. a. O., Bd. 3, S. 172. 236 Nach Piersin gab es am 10. Frimaire. An III. in Bicêtre 207 Irre. - Tuetey. a . a . O . , Bd. 3 , S . 370. 237 Pinel war vor der Revolution Redakteur der Gazette de santé, Artikel über Geisteskrankheiten veröffentlicht hat, insbesondere: mélancolie ne sont-ils pas toujours plus fréquents et plus à craindre miers mois de l'hiver?« (17S7), »Observations sur le régime moral
wo er mehrere »Les accès de durant les prequi est le plus
Man kann indessen nidit daran zweifeln, daß es ebenso ein politisches Problem war. Die Sicherheit, daß man unter den Schuldigen auch Unschuldige, vernünftige Menschen unter Tobsüchtigen interniert hatte, gehörte seit langem zur revolutionären Mythologie: »Bicêtre enthält sicher Kriminelle, Räuber, wilde Menschen, ( . . . ) aber ebenfalls, wie man zugeben muß, eine Menge Opfer willkürlicher Herrschaft, der familiären Tyrannei, des väterlichen Despotismus ( . . . ) . Die Kerker enthalten Menschen, unsere Brüder und unseresgleichen, denen die Luft verweigert wird und die das Licht nur durch enge Löcher erblichen.«23® Bicêtre als Gefängnis der Unschuld sucht die Vorstellungskraft wie einst die Bastille heim: »Die Räuber schleichen sich anläßlich des Massakers in den Gefängnissen als Geisteskranke in das Hospiz von Bicêtre unter dem Vorwand ein, bestimmte Opfer der alten Tyrannei zu befreien, die jene mit den Irren zu vermengen suchte. Sie gehen bewaffnet von Zelle zu Zelle, fragen die Gefangenen und gehen weiter, wenn der Wahnsinn bewiesen erscheint. Aber einer der mit Ketten festgehaltenen Gefangenen erregt ihre Aufmerksamkeit durdi vernünftige und sinnvolle Reden und durch die bittersten Klagen. O b es nicht schändlich sei, daß man ihn in Eisen halte und mit anderen Wahnsinnigen verwechsle? ( . . . ) Sogleich erhabt sich unter den Bewaffneten heftiges Gemurmel, und Verwünschungen gegen den Aufseher des Hospizes werden laut; man zwingt ihn Belege für sein Verhalten vorzulegen.« 239 Während der Convention gab es eine neue Heimsuchung. Bicêtre ist immer noch ein immenses Reservoir an Schrecken, aber weil man darin ein Versteck der Verdächtigen sieht, der Aristokraten, die sich in der Maske der Armen verbergen, ausländischer Agenten, die Komplotte schmieden und auf Bestellung den Wahnsinnigen spielen. Nochmals muß man den Wahnsinn denunzieren, damit die Unschuld zutage tritt, damit aber die Duplizität sichtbar wird. So spielt in jenen Schrecken, die Bicêtre während der ganzen Revolution umkreisen und an der Grenze von Paris eine Art großer, fürditenswerter und mysteriöser Kraft aus ihm machen, in der der Feind sich unentwirrbar mit der Vernunft vermischt, der Wahnsinn abwechselnd zwei verfremdende Rollen: er propre à rétablir dans certains cas la raison égarée des maniaques.« (17S9). In der Médecine éclairée par tes sciences physiques hatte er einen Artikel »Sur une espèce particulière de mélancolie qui conduit au suicide« veröffentlicht (1791). 218 Gazette nationale, 12. Dezember 1789. 239 Zitiert bei Louis-René Sémelaigne, Philippe Pinel et son œuvre au point de sue de la médecine mentale, Paris 1888, S. 108 f.
verfremdet denjenigen, der als irre betrachtet wird, ohne es zu sein, aber er kann ebensosehr denjenigen verfremden, der durch den Wahnsinn geschützt zu sein glaubt. Er tyrannisiert oder täuscht, ist ein gefährliches Zwischenelement zwischen dem Vernunftmenschen und dem Irren, das den einen wie den anderen verändern kann, und ist für beide die Bedrohung der Ausübung ihrer Freiheit. Er muß auf jeden Fall vereitelt werden, so daß die Wahrheit und die Vernunft in ihrem eigenen Spiel restituiert' werden. In dieser ein wenig konfusen Situation (enges N e t z aus realen Bedingungen und imaginären Kräften) ist es schwierig, die Rolle Pinels zu präzisieren. Er hat seine Funktionen am 2 j . August 1793 übernommen. D a sein Ansehen als A r z t bereits groß war, kann man annehmen, daß man ihn eben zur »Vereitelung« des Wahnsinns gewählt hatte, damit er das genaue ärztliche Maß finde, die Opfer befreie und die Verdächtigen denunziere und schließlich in aller Strenge jene Internierung des Wahnsinns begründe, deren Notwendigkeit man kennt, deren Gefahren man aber zugleich verspürt. Andererseits waren die Gefühle Pinels ziemlich republikanisch, so daß man bei ihm nicht befürchten mußte, daß er die Gefangenen des Ancien Régime eingeschlossen behielte, noch daß er jene begünstigte, die vom neuen Régime eingesperrt würden. In bestimmtem Sinne kann man sagen, daß Pinel mit einer außergewöhnlichen moralischen Macht ausgestattet war. In der klassischen Unvernunft gab es keine Unvereinbarkeit zwischen Wahnsinn und gespieltem Wahnsinn, noch zwischen von außen erkanntem Wahnsinn und dem objektiv zugewiesenen Wahnsinn. Im Gegenteil, es gab vom Wahnsinn zu seinen illusorischen Formen und zur Schuldhaftigkeit, die sich in ihnen verbirgt, eher eine Art wesentlicher Verbindungslinie. Pinel muß sie politisch lösen und eine Trennung vornehmen, die nur noch eine einzige strenge Einheit erscheinen läßt: diejenige, die für die diskursive Erkenntnis den Wahnsinn, seine objektive Wahrheit und seine Unschuld einhüllt. Man muß ihn von allen Fransen des Nicht-Seins befreien, in denen sich die Spiele der Unvernunft entfalteten und in denen er ebenso als Nicht-Wahnsinn, der verfolgt wird, akzeptiert wird als Nicht-Wahnsinn, der verborgen bleibt, ohne jedoch jemals aufzuhören, Wahnsinn zu sein. Was ist in alledem der Sinn der Befreiung der »Angeketteten«? War es die einfache und reine Anwendung der Ideen, die seit verschiedenen Jahren formuliert worden und Teil jener Programme zur Neuorganisierung waren, für die der Plan von Cabanis ein Jahr vor der Ankunft Pinels in Bicêtre das beste Beispiel ist? Den Irren in ihren Ker-
kern die Ketten abzunehmen heißt, ihnen das Gebiet einer Freiheit zu eröffnen, das gleichzeitig das einer Verifikation ist, heißt, sie in einer Objektivität erscheinen zu lassen, die nicht mehr in den Verfolgungen oder den ihnen entsprechenden Tobsuchtsanfällen verhüllt wird; das heißt, ein reines Feld des Asyls zu konstituieren, so wie Cabanis es definierte und wie die Convention aus politischen Gründen es etabliert zu sehen wünschte. Man kann aber ebenso annehmen, daß, indem er das tat, Pinel eine politische Operation umgekehrten Vorzeichens verbarg. Indem er die Irren befreite, vermischte er sie in um so größerem Maße mit der ganzen Bevölkerung in Bicêtre, machte er sie konfuser, unentwirrbarer, hob er alle Kriterien auf, die eine Trennung hätten gestatten können. War es im übrigen nicht die ständige Sorge der Administration von Bicêtre im Laufe jener Zeit, jene Trennungen zu verhindern, die die politischen Autoritäten verlangten?240 Auf jeden Fall steht fest, daß Pinel versetzt und am 13. Mai 1795 für die Salpêtrière ernannt worden ist, das heißt: mehrere Monate nach Thermidor, im Augenblick der politischen Entspannung. 24 ' Es ist wahrscheinlich unmöglich, genau festzustellen, was Pinel zu tun beabsichtigte, als er die Befreiung der Geisteskranken beschloß. Es ist von geringer Bedeutung, denn das Wesentliche liegt gerade in jener Ambiguität, die die ganze Fortsetzung seines Werkes und genau den Sinn bestimmen wird, den es in der modernen Welt annimmt. Dieser liegt in der Bildung eines Gebietes, in dem der Wahnsinn als eine reine Wahrheit erscheint, die zugleich objektiv und unschuldig ist, aber einer Bildung jenes Gebiets in einer idealen, stets unendlich zurückgedrängten Weise, wobei sich jede der Gestalten des Wahnsinns mit dem Nicht-Wahnsinn in einer nicht unterscheidbaren Nähe mischt. Was der Wahnsinn an Präzision in seiner wissenschaftlichen Zeichnung gewinnt, verliert er in der konkreten Perzeption an Stärke. Das Asyl, in dem er seine Wahrheit erlangen muß, gestattet nicht seine Unterscheidung von dem, was seine Wahrheit nicht ist. Je objektiver er ist, von um so geringerer Gewißheit ist er. Die Geste, die ihn zu seiner Verifikation befreit, ist gleichzeitig die Operation, die ihn verstreut und in allen konkreten Formen der Vernunft versteckt. 240 Vgl. die ganze Korrespondenz von Letourneau mit der Commission des Travaux publics, zitiert bei: Tuetey, a . a . O . , B d . 3, S. 397-476. 241 In seinem Bemühen, aus Pinel ein O p f e r der Terreur zu machen, berichte! Dupuytren, daß er »verhaftet und beinahe dem Revolutionstribunal überstellt vurde. Glücklicherweise verspürte man die Notwendigkeit der Pflege, die er den in öicetre Internierten gab, und ließ ihn frei.« A . a. O., S. 9..
Das Werk von Tuke ist durch die ganze Anpassung der Fürsorge in der englischen Gesetzgebung vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts getragen worden, während das von Pinel sidi der Ambiguität der Situation der Irren im Augenblich der Revolution verdankte. Es handelt sidi aber nidit darum, ihre Originalität herabzusetzen. In ihren Werken gab es eine entscheidende Kraft, die man nicht reduzieren kann und die klar, kaum übertragen, in den Riten erscheint, die deren Sinn überliefert haben. Es war von Bedeutung, daß Tuke Quäker war. Nicht weniger von Bedeutung war, daß die retreat ein Landhaus war. »Die Luft ist dort gesund und viel reiner von Rauch als in den industriellen Städten nahen Orten.« 242 Das Haus hat gitterlose Fenster zum Garten, und da es »auf einer Erhebung liegt, beherrscht es eine sehr angenehme Landschaft, die sich nach Süden, soweit der Blick reicht über eine fruchtbare und bewaldete Ebene erstreckt«. Auf den benachbarten Feldern werden Ackerbau und Viehzucht getrieben. Der Garten »trägt Früchte und Gemüse in großer Zahl und bietet gleichzeitig für viele Kranke einen angenehmen Ort zur Erholung und Arbeit«. 243 Die Übung in frischer Luft, regelmäßige Spaziergänge, die Arbeit im Garten und auf dem Bauernhof haben stets einen wohltuenden Effekt und sind für die Heilung der Irren geeignet. Es ist sogar vorgekommen, »daß bestimmte Kranke allein durch die Reise, die sie zur retreat brachte, und die ersten Ruhetage, die sie dort genießen konnten, geheilt worden sind«.244 Alle imaginären Kräfte des einfachen Lebens, des ländlichen Glücks, der Wiederkehr der Jahreszeiten werden hier zusammengenommen, um bei der Heilung der verschiedenen Wahnsinnsarten zu helfen. Der Wahnsinn ist nämlich entsprechend den Ideen des achtzehnten Jahrhunderts eine Krankheit, die nicht von der Natur oder vom Menschen selbst herrührt, sondern von der Gesellschaft. Emotionen, Ungewißheit, Erregung, künstliche Ernährung und viele andere Gründe werden von Tuke wie von seinen Zeitgenossen für den Wahnsinn anerkannt. Als Produkt eines Lebens, das sich von der Natur entfernt, gehört der Wahnsinn stets nur zur Ordnung der Folgen. Er stellt nicht das in Frage, was im Menschen wesentlich ist und was seine unmittelbare Zugehörigkeit zur Natur ist. Er läßt wie ein vorübergehend vergessenes Geheimnis jene Natur des 242 Bericht für die »Friendly Society« vom 5. A p r i l 1793, zitiere bei Samuel Tuke, a . a . O . , S. 3 6. 243 A . a. O., S. 93 f. 244 A . a . O . , S . 1 2 9 f .
Menschen unberührt, die gleichzeitig seine Vernunft ist. Jenes Geheimnis erscheint unter eigenartigen Bedingungen mitunter von neuem, als dringe es durch List und Betrug, durch den Zufall einer neuen Störung ein. Samuel Tuke erwähnt den Fall einer jungen Frau, die in den Zustand einer »vollkommenen Idiotie« geraten ist. Sie blieb jahrelang darin, bis sie an Typhus erkrankte. Mit Zunahme des Fiebers wurde der Geist klarer, hellte sich auf und wurde lebhafter. Während jener ganzen erregten Phase, in der die Kranken gewöhnlich am Delirium leiden, ist die Kranke im Gegenteil völlig vernünftig. Sie erkennt ihre Umgebung, erinnert an vergangene Vorkommnisse, denen sie zuvor keine Aufmerksamkeit zu schenken schien. »Das war jedoch nur ein Leuchten der Vernunft; als das Fieber abnahm, umhüllten die Wolken erneut ihren Geist. Sie dämmerte im beweinenswerten Zustand dahin, der sie auch vorher erfaßt hatte, und blieb so bis zu ihrem Tode, der sich einige Jahre später ereignete.«1·" Hier liegt ein ganzer Kompensationsmechanismus vor. Im Wahnsinn wird die Natur vergessen, nicht aufgehoben, oder vielmehr vom Geist zum Körper verschoben, so daß die Demenz in gewisser Weise eine solide Gesundheit garantiert; ereignet sich jedoch ein Krankheitszustand, dann erscheint die Natur, die im Körper durcheinandergebracht wird, erneut im Geist, und zwar reiner, klarer, als sie je gewesen. Das ist ein Beweis dafür, daß man »die Irren nie als absolut der Vernunft beraubt« betrachten darf, sondern in ihnen vielmehr durch das ganze Spiel der Ähnlichkeiten und Verwandtschaften das evozieren muß, was von der Natur notwendig hinter der Erregung ihres Wahnsinns schlummern muß. Die Jahreszeiten und Tage, die große Ebene von Y o r k , jene Weisheit der Gärten, in der die Natur mit der Ordnung der Menschen zusammenfällt, müssen bis zu ihrem vollen Erwachen die für einen Augenblick verborgene Vernunft verzaubern. In dieses Leben »in einem Suppengarten«, das man den Kranken in der retreut aufzwingt und das nur durch ein unerschütterliches Vertrauen geleitet erscheint, hat sich ein magischer Vorgang geschoben, in dem die Natur durch Ähnlichkeit, Annäherung und mysteriöse Durchdringung die Natur triumphieren läßt, während all das verbannt wird, was die Gesellschaft im Menschen an Gegennatur hat niederlegen können. Hinter all diesen Bildern beginnt ein Mythos Gestalt anzunehmen, der eine der großen organisatorischen Formen der Psychiatrie im neunzehnten Jahrhundert bilden wird, der Mythos der
245 A . a. O., S. 137, Anm.
drei Naturen: Natur-Wahrheit, Natur-Vernunft und Natur-Gesundheit. In diesem Spiel entwickelt sich die Bewegung des Wahnsinns und seiner Heilung. Wenn die Natur-Gesundheit beseitigt werden kann, ist bei der Natur-Vernunft stets nur das Verstecken möglich, während die Natur als Wahrheit der Welt unendlich lange sich selbst gleich bleibt. Von ihr ausgehend wird man die Natur-Vernunft erwecken und wiederherstellen können, deren Ausübung, wenn sie mit der Wahrheit zusammenfällt, die Wiederherstellung der Natur-Gesundheit gestattet. In diesem Sinne zog Tuke dem englischen Terminus insane der französische Wort aliéné vor, »weil es eine genauere Idee dieser A r t von Unordnung enthält als die Termini, die auf irgendeiner Stufe die Beseitigung der Fähigkeit zu denken implizieren«.246 Die retreat stellt den Kranken in eine einfache Dialektik der Natur, errichtet aber gleichzeitig eine gesellschaftliche Gruppe. Das geschieht in einer sehr widersprüchlichen Weise. In der Tat war sie durch U n terschriften begründet worden und muß nach einem Versicherungssystem wie die Hilfsgesellschaften funktionieren, die sich zur gleichen Zeit entwickeln. Jeder Unterzeichner kann einen Kranken bestimmen, dem er Interesse entgegenbringt, und der eine verminderte Pension bezahlt, während die anderen den vollen Tarif begleichen. Die retreat ist eine vertragliche Vereinbarung, eine Konvergenz von nach der A r t einer einfachen Gesellschaft organisierten Interessen.2,17 Gleichzeitig bleibt sie aber in dem Mythos der patriarchalischen Familie erhalten. Sie will eine große brüderliche Gemeinschaft von Kranken und Aufsehern sein, die unter der Autorität der Direktoren und der Verwaltung steht; eine strenge Familie ohne Schwäche und Nachgiebigkeit, die aber gerecht und dem großen Bild der biblischen Familie konform ist. »Die Sorge, die die Intendanten zur Sicherung des Wohlergehens der Kranken aufbringen, zusammen mit dem Eifer, den aufmerksame und gerechte Verwandte haben, ist in vielen Fällen durch fast kindliche Anhänglichkeit belohnt worden.«248 Und in 246 Ebda. 247 Seit dem siebzehnten Jahrhundert haben die Quäker oft das System von Aktiengesellschaften verwandt. Jeder, der für die Retreat mindestens zwanzig Pfund gezeichnet hatte, erhielt 5 °/o Zinsen jährlich. Außerdem scheint die Retreat ein ausgezeichnetes wirtschaftliches Unternehmen gewesen zu sein. Die erzielten Gewinne betrugen in den ersten Jahren: 1798: 268 Pfund, 1799: 245 Pfund, 1800: 800 Pfund. 1801: 145 Pfund, 1802: 45 Pfund, 1803: 258 Pfund, 1804: 449 P f u n d , 1805: J2I Pfund. Samuel Tuke, a. a. O., S. 72-7$. 248 A . a . O . , S . 178.
dieser gemeinsamen Gefühlsregung werden die Kranken ohne Nachsicht, aber ohne Ungerechtigkeit das ruhige Glück und die Sicherheit einer Familie im Reinzustand wiederfinden; sie werden die Kinder der Familie in ihrer ursprünglichen Idealität sein. Vertrag und Familie, wahrgenommene Interessen und natürliche Zuneigung werden von der retreat in einer Vermischung in den beiden großen Mythen eingeschlossen, durch die das achtzehnte Jahrhundert den Usrprung der Gesellschaft und die Wahrheit des gesellschaftlichen Menschen zu definieren versuchte. Sie ist gleichzeitig das individuelle Interesse, das auf sich selbst verzichtet, um sich wiederzufinden, und die spontane Zuneigung, die die Natur bei den Mitgliedern einer Familie entstehen läßt, wodurch sie eine A r t affektiven und jeder Gesellschaft unmittelbaren Modells vorschlägt. In der retreat wird die menschliche Gruppe auf ihre ursprünglichsten und reinsten Formen zurückgeführt. Es handelt sich darum, den Menschen in sozial elementare Beziehungen zurückzuversetzen, die dem Ursprung absolut entsprechen; das heißt: diese müssen zugleich streng begründet und streng moralisch sein. So wird der Kranke sich zu dem Punkt zurückgetragen finden, an dem die Gesellschaft gerade aus der Natur aufzutauchen beginnt und an dem sie sich in einer unmittelbaren Wahrheit erfüllt, die jede Geschichte der Menschen in der Folge zu stören beigetragen hat. Man nimmt an, daß dann aus dem verwirrten Geist all das verschwinden wird, was die gegenwärtige Gesellschaft darin an Künstlichkeiten, nichtigen Störungen, Bindungen und der Natur fremdartigen Verpflichtungen hat niederlegen können. Die mythischen Kräfte der retreat sind Kräfte, die die Zeit beherrschen, die Geschichte in Frage stellen und den Menschen zu seinen wesentlichen Wahrheiten zurückführen und ihn jenseits aller Erinnerung mit dem ersten natürlichen Menschen und dem ersten sozialen Menschen identifizieren. Alle Entfernungen, die ihn von jenem primitiven Wesen trennten, sind ausgelöscht und sehr viele dicke Schichten heruntergerieben. Beim Begriff dieser »Retreat« erscheint schließlich hinter der Aliénation wieder das Nichtveränderbare, das Natur, Wahrheit, Vernunft und reine gesellschaftliche Moralität ist. Das Werk von Tuke schien von einer langen Reformbewegung, die ihm vorangegangen war, getragen und expliziert. So war es tatsächlich, aber die ganze mythische Landschaft, von der es von seinem Ursprung an umgeben war und die es in die alte Welt des Wahnsinns und der Internierung hineinzutragen vermochte, hat aus ihr zugleich einen Bruch und eine Initiation gemacht. Dadurch hat es an die Stelle der linearen
Trennung, die die Internierung zwischen Vernunft und Unvernunft in einfacher Entscheidungsweise vornahm, eine Dialektik gesetzt, die ihre Bewegung im Raum des so gebildeten Mythos aufnimmt. In dieser Dialektik wird der Wahnsinn Aliénation und seine Heilung Rückkehr zum Unveränderbaren. Das Wesentliche ist aber eine bestimmte Kraft, die die Internierung zum ersten Mal annimmt, jedenfalls so, wie sie von den Begründern der retreat geträumt wird. Dank dieser Kraft wird der Mensch in dem Augenblick, in dem der Wahnsinn sich als Aliénation enthüllt, und eben durch die Entdeckung zum Unveränderbaren zurückgeführt. Man kann so im Mythos der retreat gleichzeitig den imaginären Vorgang der Heilung, so wie er dunkel angenommen wird, und das Wesentliche am Wahnsinn, so wie es implizit im neunzehnten Jahrhundert überliefert wird, herstellen: 1. Die Rolle der Internierung ist es, den Wahnsinn auf seine Wahrheit zu reduzieren. 2. Die Wahrheit des Wahnsinns ist der Wahnsinn vermindert um die Welt, die Gesellschaft und die Gegennatur. 3. Diese Wahrheit des Wahnsinns ist der Mensch in dem, was er an ursprünglich Unveränderbarem haben kann. 4. Was es an Unveränderbarem im Menschen gibt, ist gleichzeitig Natur, Wahrheit und Moral ; das heißt : die Vernunft selbst. 5. Die retreat enthält ihre Kraft zu heilen, weil sie den Wahnsinn zu einer Wahrheit zurückbringt, die gleichzeitig Wahrheit des Wahnsinns und Wahrheit der Menschen ist, und zu einer Natur, die Natur der Krankheit und heitere Natur der Welt ist. Man sieht, wo der Positivismus in dieser Dialektik Fuß fassen können wird, wo indessen nichts ihn anzukündigen scheint, weil alles auf moralische Erfahrungen, philosophische Themen und vom Menschen geträumte Bilder verweist. Der Positivismus wird aber nur die Kontraktion jener Bewegung, die Reduktion des mythischen Raumes sein. Er wird von Anbeginn als objektive Evidenz zulassen, daß die Wahrheit des Wahnsinns nur die Vernunft des Menschen ist, wodurch die klassische Konzeption völlig umgekehrt wird, für die die Erfahrung mit der Unvernunft im Wahnsinn all das in Frage stellt, was es an Wahrheit im Menschen geben kann. Künftig wird jedes objektive Begreifen des Wahnsinns, jede Erkenntnis, jede formulierte Wahrheit die Vernunft selbst sein, die wiederentdeckte und triumphierende Vernunft, die Auflösung der Aliénation. In der traditionellen Erzählung von der Befreiung der in Bicêtre
Angeketteten ist ein Punkt nicht mit Sicherheit festgestellt worden. Das ist die Anwesenheit von Couthon. Man hat sagen können, daß sein Besuch unmöglich war, daß eine Verwechslung zwischen ihm und einem Mitglied der Commune von Paris, das auch gelähmt war, vorgelegen haben muß und daß jene gleiche Gebrechlichkeit zuzüglich des finsteren Rufes, den Couthon hatte, sie miteinander hat verwechseln lassen.249 Das Problem ist für uns nebensächlich, wesentlich ist nur, daß die Konfusion vollzogen und überliefert worden ist und daß jenes Bild sich mit solcher Kraft durchgesetzt hat, das den Kranken vor Schreck zurückweichen läßt und jene Irren, die er als »diese Tiere« bezeichnet, ihrem Schicksal überläßt. Im Zentrum des Geschehens steht der von Menschen getragene Gelähmte. Es ist noch zu erwähnen, daß dieser Paralytiker ein gefährliches Mitglied der Convention, für seine Grausamkeit bekannt und dafür berühmt ist, daß er einer derjenigen war, die besonders viele zum Schafott geschickt haben. Infolgedessen ist Couthon als Besucher von Bicêtre einen Augenblick lang Herr über das Schicksal der Irren. Die imaginäre Kraft der Geschichte will es so. Diese seltsame Erzählung verbirgt in der T a t einen entscheidenden Chiasmus in der Mythologie des Wahnsinns. Couthon besucht Bicêtre, um zu erfahren, ob die Irren, die Pinel befreien will, keine Verdächtigen sind. Er hofft, eine Vernunft vorzufinden, die sich dort verbirgt, trifft jedoch eine Animalität, die sich in ihrer ganzen Heftigkeit manifestiert. Er verzichtet darauf, darin die Anzeichen der Intelligenz und der Verstellung zu erkennen, entscheidet, sie sich selbst zu überlassen und den Wahnsinn sich in seiner essentiellen Wildheit auflösen zu lassen. Aber genau da vollzieht sich die Verwandlung. Er, Couthon, der paralytische Revolutionär, der Gebrechliche, der andere enthaupten läßt, verkörpert (in dem Augenblick, in dem er die Irren als Tiere behandelt), ohne es zu wissen, in dem doppelten Stigma seiner Gebrechlichkeit und seiner Verbrechen das, was es in der Unmenschlichkeit an Ungeheuerlichstem geben kann. Deshalb mußte es im Mythos er und nicht irgendein anderer, gesünderer oder weniger grausamer Aensch sein, der damit beauftragt wurde, die letzten Worte zu sprehen, die in der abendländischen Welt zum letzten Mal den Wahnmn seiner eigenen Animalität zugewiesen haben. Als er, getragen un kräftigen Armen, Bicêtre verläßt, glaubt er, die Irren allem ausUy Tatsädilidi konnte nur ein Mitglied der Commune zur Inspektion eines HospiI bezeidinet werden. Couthon aber hat nie zu dieser Versammlung gehört. Vgl. Je Richard, Histoire de l'Hôpital de Bicêtre, Paris 18 89, S. 113, Anm.
geliefert zu haben, was es an Bestialischem in ihnen gibt, in Wirklichkeit aber ist er mit Bestialität beladen, während in der Freiheit, die man den Irren bietet, diese beweisen können, daß sie nichts vom wesentlich Menschlichen verloren hatten. Als er die Animalität der Irren formulierte und ihnen die Freiheit gab, sich darin zu bewegen, hat er sie davon befreit, aber die seine bewiesen und sich darin eingeschlossen. Sein Toben war wahnsinniger, unmenschlicher als der Wahnsinn der Dementen. So ist der Wahnsinn auf die Seite der Wächter gewechselt, und diejenigen, die die Irren wie Tiere einschließen, verfügen jetzt über die ganze animalische Brutalität des Wahnsinns. In ihnen tobt das Tier, und bei den Geisteskranken erscheint dies nur noch als verwirrter Reflex. Ein Geheimnis wird sichtbar: die Bestialität lag nicht im Tier, sondern in seiner Domestizierung, die durch ihre alleinige Strenge jene zu bilden vermochte. Der Irre findet sich so von der Animalität oder wenigstens von jenem Teil der Animalität befreit, der in der Gewalt, Räuberei, dem Toben und der Wildheit besteht. Ihm bleibt nur noch eine gelehrige Animalität, die dem Zwang und der Dressur durch Gewalt nicht mehr gehorcht. Die Legende von der Begegnung Couthons und Pinels berichtet von jener Reinigung; genau gesagt zeigt sie, daß jene Reinigung bereits vollzogen war, als die Legende geschrieben wurde. Nach dem Fortgehen Couthons »begibt sich der Philanthrop sofort ans Werk«. Er entscheidet, zwölf Irre von den Ketten zu befreien. Der erste ist ein englischer Hauptmann, der seit vierzig Jahren in einem Kerker von Bicêtre angekettet ist: »Er wurde als der fürchterlichste von allen Irren betrachtet ( . . . ) ; in einem Anfall von Wut hatte er einen der Pfleger mit einem Schlag seiner Handschellen am Kopf getroffen und auf der Stelle getötet.« Pinel nähert sich ihm, ermahnl ihn, »vernünftig zu sein und niemandem Böses zu tun«. Er versprich) ihm, ihn dafür von seinen Ketten zu befreien und ihm einen Spaziergang im Hof zu gestatten: »Glauben Sie meinen Worten. Seier Sie ruhig und vertrauensvoll, ich werde Ihnen die Freiheit wiedergeben.« Der Hauptmann hört die Worte und bleibt ruhig, während seine Ketten fallen. Kaum ist er frei, stürzt er an die Sonne und »schreit in Ekstase: wie schön das ist!« Der ganze erste Tag der neu entdeckten Freiheit wird von ihm »mit Laufen, Treppensteigen um damit verbracht, daß er unaufhörlich sagt: wie schön das ist!« Am Abend geht er in seine Zelle zurück und schläft friedlich. »Währenzweier Jahre bleibt er noch in Bicêtre, hat keinen Anfall mehr ur macht sich sogar im Haus nützlich, indem er eine bestimmte Aut
rität über die Irren ausübt, die er auf seine Weise kommandiert und über die er eine gewisse Aufsichtsrolle gewinnt.« Eine andere Freilassung ist die des Soldaten Chevingé, die in den Chroniken der ärztlichen Hagiographie nicht weniger bekannt ist. Er war ein Trunksüchtiger, der von Größenwahn befallen war und sich für einen General hielt, aber Pinel hatte erkannt, daß sich »hinter dieser Reizung eine hervorragende Natur« verbarg. Er löst seine Fesseln und erklärt ihm, daß er ihn in seine Dienste nimmt und von ihm die ganze Ergebenheit erwartet, die »ein guter Herr« von einem dankbaren Domestiken erwarten kann. Das Wunder geschieht, die Tugend des getreuen Dieners erwacht plötzlich in dieser gestörten Seele: »Nie gab es in einer menschlichen Intelligenz eine plötzlichere und vollständigere Umwälzung; ( . . . ) unmittelbar nach der Befreiung ist er zuvorkommend und aufmerksam.« Dieser böse, durch soviel Großzügigkeit beschämte Kopf versucht jetzt an Stelle seines neuen Herren die Tobsuchtsanfälle der anderen zu meistern und zu beruhigen. Er -spricht vernünftig und gütig zu den Irren, er, der kurz zuvor sich noch auf ihrer Ebene bewegte, sich jetzt aber um seine ganze Freiheit vor ihnen vergrößert fühlt«.' 50 Er sollte bis zum Ende der Legende Pinels die Rolle seines Herrn spielen. Mit Leib und Leben seinem Herrn ergeben, schützt er ihn, als das Volk von Paris die Pforten von Bicêtre eindrücken will, um »mit den Feinden der Nation« abzurechnen. »Er bildet ein Bollwerk mit seinem Körper und setzt sich -.elbst den Schlägen aus, um ihm das Leben zu retten.« Die Ketten fallen also, und der Irre wird befreit. Und in diesem Augenblick entdeckt er erneut die Vernunft oder vielmehr; es ist nicht die Vernunft, die in sich selbst und für sich wiedererscheint. Es sind völlig fertige, gesellschaftliche Arten, die lange Zeit unter dem Wahnsinn geschlummert haben und sich in einem Block in einer perfekten Konormität mit dem, was sie darstellen, ohne Veränderung und Verzerrungen erheben. Es ist, als erreiche der von der Animalität, zu der die Letten ihn zwangen, befreite Irre die Zugehörigkeit zur Menschheit iur in einem sozialen Typus. Der erste, den man befreit, wird nicht in? einfach zu einem Menschen mit gesundem Verstand, sondern zu "em Offizier, zu einem englischen Hauptmann, der sich gegenüber ' <em Befreier loyal verhält wie gegenüber einem Sieger, der ihn als 'angenen auf Ehrenwort behält, und ist zu den Menschen autoritär,
-cipion Pinel, Traité complet
5 ,6-ij
du régime sanitaire des aliénés, Paris 1836,
über die er sein Prestige als Offizier walten läßt. Seine Gesundheit wird nur in jenen gesellschaftlichen Werten wiederhergestellt, die gleichzeitig das Anzeidien und die konkrete Präsenz davon sind. Seine Vernunft gehört nidit zur Ordnung der Erkenntnis oder des Glücks. Sie besteht nidit in einem guten Funktionieren des Geistes; hier ist die Vernunft Ehre. Für den Soldaten wird sie Treue und Opfer sein. Chevingé wird kein vernünftiger Mensch, sondern Diener. In seiner Geschichte gibt es ungefähr die gleichen mythischen Bedeutungen wie in der von Freitag bei Robinson Crusoe. Zwischen dem weißen, in der Natur isolierten Mann und dem guten Wilden ist die von Defoe errichtete Beziehung keine von Mensch zu Mensch, die sidi in ihrer unmittelbaren Reziprozität erschöpft, sondern eine Beziehung von Herr zu Diener, von Intelligenz zu Hingabe, von kluger Gewalt zu lebendiger Gewalt, von überlegtem Mut zu heroischer Bewußtlosigkeit. K u r z : es ist eine gesellschaftliche Beziehung mit ihrem literarischen Status und all ihren ethischen Koeffizienten, die in den Naturzustand übersetzt wird und zur unmittelbaren Wahrheit jener Gesellschaft wird, die aus zwei Personen besteht. Die gleichen Werte finden sich beim Soldaten Chevingé wieder. Zwischen ihm und Pinel handelt es sich nicht um zwei Vernünftige, die sich erkennen, sondern um zwei wohl determinierte Personen, die in ihrer exakten Anpassung an Typen auftaudien und eine Beziehung nach ihren völlig vorgegebenen Strukturen herstellen. Man sieht, wie die Kraft des Mythos über die ganze psychologische Wahrscheinlichkeit und die ganze streng ärztliche Beobachtung gesiegt hat. Es ist klar, daß die von Pinel befreiten Personen, wenn sie wirklich irre wären, nicht durch die Tatsache der Befreiung geheilt würden und daß ihr Benehmen lange Zeit Spuren der Aliénation bewahren müßte. Aber das spielt für Pinel keine Rolle, denn für ihn ist das Wesentliche, daß die Vernunft durch sehr früh kristallisierte soziale Typen bezeichnet wird, sobald der Irre nicht mehr wie der Fremde, wie das Tier, wie eine dem Menschen und den menschlichen Beziehungen absolut äußerliche Gestalt behandelt wird. Für Pinel wird die Heilung des Irren durch die Stabilisierung in einem gesellschaftlichen, moralisch anerkannten und gebilligten T y p gebildet. Das Wichtige ist nidit die Tatsache, daß die Ketten gelöst worden sind, - eine Maßnahme, die bei verschiedenen Gelegenheiten bereits im achtzehnten Jahrhundert und besonders in Saint-Luke praktizier! worden ist; das Bedeutende ist der Mythos, der jener Befreiung einer Sinn gegeben hat, indem er sie in Richtung einer völlig von sozialen
und moralischen Themen bevölkerten Vernunft geöffnet hat, in der seit langer Zeit durch die Literatur gezeichnete Typen existieren, und indem er die imaginäre Form eines Asyls bildet. Dieses Asyl wäre kein Käfig des seiner Wildheit ausgelieferten Menschen mehr, sondern eine Art Republik des Traumes, in der die Beziehungen nur in einer tugendhaften Transparenz hergestellt würden. Die Ehre, die Treue, der Mut, das Opfer herrschen hier im Reinzustand und bezeichnen gleichzeitig die sozialen Formen der Gesellschaft und die Kriterien der Vernunft. Und dieser Mythos nimmt seine ganze Kraft daher, daß er fast explizit - und da ist die Anwesenheit Couthons nochmals unerläßlich- den Mythen der Revolution, so wie sie sich nach der Periode der Terreur formulierten, entgegengesetzt ist: die konventionelle Republik ist eine Republik der Gewalt, der Leidenschaft, der Wildheit; sie versammelt, ohne es zu wissen, alle Formen des Wahnsinns und der Unvernunft, während die spontan unter jenen Irren, die man ihrer eigenen Gewalt überließ, sich bildende Republik rein von Leidenschaften und der Staat des wesentlichen Gehorsams ist. Couthon ist das Symbol für jene »schlechte Freiheit«, die im Volk die Leidenschaften entfesselt und die Tyrannei des Salut public hervorgerufen hat - eine Freiheit, in deren Namen man die Irren in ihren Ketten läßt. Pinel ist das Symbol der »guten Freiheit«, die die Irrsten und Heftigsten der Menschen befreit, ihre Leidenschaften bezähmt und sie in die ruhige Welt der traditionellen Tugenden einführt. Unter dem Volk von Paris, das nach Bicêtre kommt, um die Feinde der Nation zu verlangen, und dem Soldaten Chevingé, der das Leben Pinels rettet, ist der Wahnsinnigste und der am wenigsten Freie nicht derjenige, den man jahrelang wegen Trunksucht, Deliriums und Gewalttätigkeit eingesperrt hatte. Der Mythos Pinels, wie der von Tuke, verbirgt eine ganze diskursive Bewegung, die gleichzeitig ihren Wert als Beschreibung der Aliénation und als Analyse ihrer Beseitigung hat: ή in der unmenschlichen und tierischen Beziehung, die die Internierung zur Zeit der französischen Klassik auferlegte, teilte der Wahninn seine moralische Wahrheit nicht mit. i. Jene Wahrheit enthüllt sich, sobald man sie frei erscheinen läßt, als eine menschliche Beziehung in ihrer ganzen tugendhaften Idealität: Heroismus, Treue, Opfer usw. 1. Nun ist der Wahnsinn aber Laster, Gewalt, Bosheit, wie es das Toben der Revolutionäre nur allzu gut beweist. 4. Die Befreiung in der Internierung kann in dem Maße, in dem sie
die Wiedererrichtung einer Gesellschaft nach dem Thema der Konformität der Typen ist, die Heilung nicht verfehlen. Der Mythos der retreat und der der von den Ketten Befreiten entsprechen sich Punkt für Punkt in einer unmittelbaren Opposition. Der eine läßt die ganzen Themen der Primitivität zur Geltung kommen, während der andere die konstanten Bilder der sozialen Tugend in Umlauf bringt. Der eine sucht die Wahrheit und die Unterdrükkung des Wahnsinns in dem Punkt, in dem der Mensch sich kaum von der Natur befreit. Der andere Fall verlangt sie eher in einer Art sozialer Perfektion und idealen Funktionierens der menschlichen Beziehungen; aber diese Themen waren noch zu benachbart und waren im achtzehnten Jahrhundert zu oft vermengt worden, als daß sie bei Pinel und bei Tuke einen wohlunterschiedenen Sinn hätten. In beiden Fällen sieht man, wie die gleiche Anstrengung sich abzeichnet, bestimmte Internierungspraktiken in den großen Mythos der Entfremdung aufzunehmen, von dem Hegel einige Jahre später sagen sollte, indem er in der ganzen Strenge die begriffliche Lektion aus dem zog. was sich in der retreat und in Bicêtre abgespielt hatte: »Weswegen auch die wahrhaft psychische Behandlung den Gesichtspunkt festhält, daß die Verrücktheit nicht abstrakter Verlust der Vernunft, sowohl nach der Seite der Intelligenz als des Willens und seiner Zurechnungsfähigkeit, sondern nur Verrücktheit ist, die Behandlung daher den Kranken als Vernünftiges voraussetzt und hieran den festen Halt hat, an dem sie ihn nach dieser Seite erfassen kann, wie nach der Leiblichkeif an der Lebendigkeit, welche als solche noch Gesundheit in sich enthält.« 151 Die klassische Internierung hatte einen Zustand der Entfremdung geschaffen, der nur außerhalb und für die existierte, die den Internierten nur als Fremden oder Tier einsperrten und erkannten. Pinel und Tuke haben mit diesen einfachen Gesten, in denen die positiviPsychiatrie paradoxerweise ihren Ursprung erkannte, die Entfremdung nach innen verlegt, sie in die Internierung versetzt und als Distan des Irren zu sich selbst abgegrenzt, wodurdi sie sie als Mythos ko π stituierten. Man muß wohl von einem Mythos sprechen, wenn madas als Natur ausgibt, was Begriff ist, und als Befreiung von ein. Wahrheit, was Wiedererriditung einer Moral ist, und als spontan Heilung des Wahnsinns, was vielleicht nichts als seine geheimnisvo' Einreihung in eine künstliche Realität ist.
251 Georg Wilhelm Hegel, Encyklopädie der philosophischen Grundrisse, Heldelberg = i827, S. 391, § 408. $02
Wissenschaften
Die Legenden von Pinel und Tuke überliefern mythische Werte, die die Psychiatrie des neunzehnten Jahrhunderts als Naturevidenzen anerkennen wird. Unter den Mythen selbst jedoch gab es eine Serie von Verfahren, die schweigend gleichzeitig die Welt des Asyls, die Heilmethoden und die konkrete Erfahrung mit dem Wahnsinn geordnethaben. Zunächst gehört die Geste Tukes dazu, weil sie gleichzeitig mit der Pinels geschah, weil man sie von einer ganzen »philanthropischen« Bewegung getragen weiß und als eine Geste der »Befreiung« der Geisteskranken gelten läßt. Es handelt sich jedoch um etwas ganz anderes: »Man hat den großen Schaden beobachten können, den die Mitglieder unserer Gesellschaft dadurch erlitten haben, daß man sie Leuten anvertraute, die nicht nur unseren Prinzipien fernstehen, sondern die sie obendrein mit anderen Kranken zusammengebracht haben, die sich eine grobe Sprache und schmähliche Praktiken gestatten. Alles dies hinterläßt oft eine unauslöschliche Wirkung auf die Geister der Kranken, nachdem sie den Gebrauch der Vernunft wiedererlangt haben. indem es sie den religiösen Beziehungen entfremdet, deren Erfahrung sie einst gemacht hatten. Manchmal sind sie sogar durch lalerhafte Angewohnheiten verdorben, die sie vorher nicht kannten.«" 1 Oic retreat muß als Instrument der Abtrennung wirken, als moralische und religiöse Abtrennung, die um den Wahnsinn ein Milieu Herzustellen versucht, das der Gemeinschaft der Quäker so ähnlich «te möglich ist. Das geschieht aus zwei Gründen, einmal, weil das Schauspiel des Bösen für jede empfindliche Seele ein Leiden, der UrDrung all jener schändlichen und lebhaften Leidenschaften wie der les Schreckens, des Hasses, der Verachtung und derjenigen ist, die den Jinsinn bringen oder fortsetzen: »Man hat zu Recht angenommen, •lai' die Mischung, die sich in den großen öffentlichen Häusern aus 'etiontn herstellt, die verschiedene religiöse Gefühle und Praktiken ' -ben, die Mischung der verkommenen und der tugendhaften, der pr< ianen und der ernsthaften Menschen zur Wirkung hatte, den Fortritt bei der Rückkehr zur Vernunft zu hemmen und die Melancholie i die misanthropischen Vorstellungen tiefer einzugraben.« 1!3 Der jptgrund liegt aber woanders, nämlich darin, daß die Religion die ppdrolle von Natur und Regel spielen kann, weil sie in der abgebrachten Gewohnheit, in der Erziehung, in der täglichen Übung
- vamuel Tuke, a . a . O . , S. 50. ; A.a.O.. S. 23.
die Tiefe der Natur angenommen hat und gleichzeitig konstantes Prinzip der Zwangsgerechtigkeit ist. Sie ist zugleich Spontaneität und Zwang und besitzt in diesem Maße allein die Kräfte, die beim Verschwinden der Vernunft die maßlose Gewalt des Wahnsinns ausbalancieren können. Ihre Vorschriften »werden, wenn man sie am Anfang des Lebens stark in sich aufgenommen hat, fast zu Prinzipien unserer Natur, und deren zwingende Kraft wird oft sogar in der delirierenden Erregung des Wahnsinns verspürt. Den Einfluß der religiösen Erregungen auf den Geist der Wahnsinnigen zu unterstützen, ist als Mittel der Heilung von großer Bedeutung.« 2 " In der Dialektik der Entfremdung, in der die Vernunft sich verbirgt, ohne sidi aufzuheben, bildet die Religion die konkrete Form dessen, was sich nicht verändern kann. Sie trägt, was es an Unbesiegbarem in der Vernunft gibt, was unter dem Wahnsinn als Quasi-Natur und um ihn als unaufhörliche Herausforderung des Milieus fortbesteht: »Der Kranke könnte im Laufe seiner Klarzustände oder während seiner Genesung von der Gesellschaft derjenigen profitieren, die die gleichen Ansichter und die gleichen Gewohnheiten wie er haben. 2 " Sie sichert das geheime Wachen der Vernunft über den Wahnsinn und rückt so den Zwang näher und macht ihn unmittelbarer, der bereits in der klassischen Internierung wütete. Dort drängte sich das religiöse und moralische Milieu von außen auf, so daß der Wahnsinn gezügelt, aber nicht geheilt wurde. In der retreat gehört die Religion zu der Bewegung, die trotz allem die Vernunft im Wahnsinn anzeigt und von der Alitnation zur Gesundheit zurückführt. Die religiöse Abtrennung hat einen sehr präzisen Sinn, weil es sich nicht darum handelt, die Kranke" vor dem profanen Einfluß der Nicht-Quäker zu bewahren, sonder'' den Geisteskranken innerhalb eines moralischen Elementes zu placirren, wo er sich im Widerstreit mit sich selbst und seiner Umgebuns befindet. Es handelt sidi darum, ihm ein Milieu zu schaffen, in den-: er, weit davon entfernt, geschützt zu werden, in einer ständigen Unruhe unaufhörlich durch das Gesetz und die Verfehlung bedroh wird. »Das Prinzip der Angst, das im Wahnsinn selten vermindert wird wird als bedeutend für die Behandlung der Irren betrachtet.«2' l'it Angst erscheint als wesentlidie Gestalt des Asyls. Es ist wahrscheinli.h bereits eine alte Gestalt, wenn man an die Schrecken der Internii 254 A . a . O . , S. 121. 2JÇ A . a . O., S. 23. 2$6 A . a . O . , S. 14t.
rung denkt. Aber diese umkreisten den Wahnsinn von außen, fixierten die Grenze der Vernunft und der Unvernunft, spielten mit einer doppelten Gewalt über die Heftigkeit jenes furor, um sie zu bezähmen, und über die Vernunft selbst, um sie fernzuhalten. Diese Angst war sehr oberflächlich, während die in der retreat eingerichtete aus voller Tiefe kommt. Sie reicht von der Vernunft bis zum Wahnsinn wie eine Vermittlung, wie das Evozieren einer gemeinsamen Natur, die ihnen noch gehört und durch die sie deren Verbindung herstellen könnte. Der herrschende Schrecken war das sichtbare Zeichen der Entfremdung des Wahnsinns in der klassischen Welt. Jetzt ist die Angst mit der Kraft einer Desalienation versehen, die ihr gestattet, gewissermaßen ein sehr primitives Einverständnis zwischen dem Irren und dem Vernunftmenschen wiederherzustellen. Sie muß sie erneut solidarisieren. Jetzt muß und kann der Wahnsinn keine Angst mehr verursachen, er wird Angst haben ohne Zuflucht oder Umkehr, dadurch völlig der Pädagogik des gesunden Menschenverstandes, der Wahrheit und der Moral ausgeliefert. Samuel Tuke erzählt, wie man in der retreat einen manisch Kranken aufnahm, der jung und sehr stark war und dessen Anfälle in seiner Umgebung und sogar bei den Wächtern Panik auslösten. Als er in der retreat aufgenommen wird, trägt er viele Ketten, hat Handschellen, sind seine Kleider mit Seilen befestigt. Sofort nach seiner Ankunft nimmt man ihm all seine Fesseln ab, läßt ihn mit den Aufsehern speisen. Seine Erregung hört sogleich auf; »seine Aufmerkamkeit schien durch seine neue Situation gefesselt«. Er wird in sein Zimmer geführt, der Intendant ermahnt ihn, um ihm zu erklären, daß Jas ganze Haus in größter Freiheit und mit größter Bequemlichkeit tür alle organisiert ist, daß man ihm keinen Zwang auferlegen wird, salis er nicht gegen die Hausordnung oder die allgemeinen Prinzipien der Moral verstoße. Der Intendant versichert, daß er die Zwangsmittel nicht anwenden möchte, die zu seiner Verfügung stehen. Der manisch Kranke zeigte sich für die Sanftheit dieser Behandlung empfänglich. Er versprach, sich selbst zu bezwingen.« Manchmal geriet er noch in Erregung, begann zu schreien und erJireckte seine Mitbewohner. Der Intendant wiederholte dann die •rohungen und Versprechungen des ersten Tages; wenn er sich nicht truhigen sollte, müßte man ihm die alten Strafen auferlegen. Die i'-regung des Kranken nahm dann für eine gewisse Zeit zu, danach .rringerte sie sich sehr schnell. »Er hörte die Ermahnungen seines indlichen Besuchers aufmerksam an. Nach ähnlichen Gesprächen
war der Kranke im allgemeinen mehrere Tage in besserem Zustand.« Nach Verlauf von vier Monaten verließ er die retreat und war völlig geheilt.2'? Hier wendet sidi die Angst direkt an den Kranken, nicht mit Hilfe von Instrumenten, sondern durch das Wort. Es handelt sidi nidit mehr darum, eine Freiheit, die tobt, zu begrenzen, sondern ein Gebiet einfacher Verantwortlichkeit abzugrenzen und hervorzuheben, in der jede Manifestation des Wahnsinns sich mit einer Bestrafung verbunden findet. Die dunkle Schuldhaftigkeit, die einst die Verfehlung und die Unvernunft verband, wird so auf einen anderen Platz gerückt. Der Irre als menschliches Wesen, das ursprünglich mit Vernunft begabt ist, ist nicht mehr an seinem Wahnsinn schuld, aber der Irre als Irrer innerhalb jener Krankheit, für die er nichts mehr kann, muß sich verantwortlich für alles das fühlen, was in ihr die Moral und die Gesellschaft zerstören kann, und für die Bestrafung, die er leidet, nur sich selbst verantwortlich machen. Die Zuweisung der Schuldhaftigkeit ist nicht mehr die A r t der Beziehung, die sich zwischen dem Irren und dem vernünftigen Menschen in ihrer Einheit herstellt, sondern sie wird gleichzeitig die Form der konkreten Koexistenz jedes Irren mit seinem Wächter und die Bewußtseinsform, die der Geisteskranke von seinem eigenen Wahnsinn annehmen muß. Man muß also die Bedeutung, die man dem Werk von Tuke zuweist, neu herausarbeiten: Befreiung der Irren, Beseitigung der Zwänge. Errichtung eines menschlichen Milieus - dies sind nur Rechtfertigungen. Die wirklichen Vorgänge sind anders gewesen. Tatsächlich hat Tuke ein Asyl geschaffen, in dem er den vom Wahnsinn freien Schrekken durch die geschlossene Angst der Verantwortlichkeit ersetzt hat. Die Angst herrscht nicht mehr jenseits der Pforten des Gefängnisses, sondern wütet jetzt hinter den Siegeln des Bewußtseins. Die weltlichen Schrecken, unter denen der Irre gefangen war, sind von Tuke ins Herz des Wahnsinns überführt worden. Das Asyl sanktioniert nidn mehr die Schuldhaftigkeit des Irren, sondern geht darüber hinaus es organisiert sie. Es organisiert sie für den Irren als Bewußtsein seiner selbst und als nicht-reziproke Beziehung zum Wächter. Es organisiert sie für den vernünftigen Menschen als Bewußtsein vom anderen und therapeutischen Eingriff in die Existenz des Irren. Das heißt daß durch diese Schuldhaftigkeit der Irre Gegenstand einer beständif ihm und den anderen dargebotenen Bestrafung wird; und der Irr 2 j 7 A . a . O . , S . 146f. 506
muß von der Erkenntnis dieses Objektstatus und von der Bewußtwerdung seiner Schuldhaftigkeit zurückkehren zu seinem Bewußtsein eines freien und verantwortlichen Subjekts, das heißt zur Vernunft. Die Bewegung, durch die der Irre, indem er sich für den anderen objektiviert, wieder zu seiner Freiheit gelangt, ist die Bewegung, die man ebenfalls in der Arbeit und in der Betrachtung findet. Vergessen wir nicht, daß wir uns in der Welt der Quäker bewegen, in der Gott die Menschen nach dem Zeichen ihrer Prosperität segnet. Die Arbeit steht bei der »moralischen Behandlung« an erster Stelle, so wie sie in der retreut praktiziert wird. Die Arbeit besitzt in sich selbst eine Kraft des Zwanges, die allen Formen physischer Unterwerfung überlegen ist und darin besteht, daß die Regelmäßigkeit der Stunden, die erforderte Aufmerksamkeit und die Verpflichtung, zu einem Resulat zu kommen, den Kranken von einer geistigen Freiheit lösen, die ihm zum Verderben gereichen würde, und ihn in ein System der Verantwortlichkeiten einbeziehen: »Die regelmäßige Arbeit muß vom physischen wie vom moralischen Standpunkt her vorgezogen werden ( . . . ) ; es gibt nichts Angenehmeres für den Kranken als sie, und nichts ist den Illusionen seiner Krankheit entgegengesetzter.«-158 Dadurch kehrt der Mensch wieder in die Ordnung der Gebote Gottes zurück, unterwirft seine Freiheit Gesetzen, die gleichzeitig die der Realität und der Moral sind. In diesem Maße ist die Geistesarbeit nicht abzuraten, jedoch muß man mit außerordentlicher Strenge alle Übungen der Vorstellungskraft verbannen, die stets mit den Leidenschaften, den Lüsten und allen delirierenden Illusionen in Komplizitäc stehen. Die Übung dessen, was es an Ewigem in der Natur und an Konformstem mit der Weisheit und der Güte der Vorsehung gibt, ist un größter Wirksamkeit bei der Reduktion der maßlosen Freiheiten des Irren und kann ihn die Formen seiner Verantwortlichkeit entdecken lassen. ->Die verschiedenen Zweige der Mathematik und der Naturwistnschaften bilden die nützlichsten Gegenstände zur Beschäftigung der Hirne der Irren.« 2 " Im Asyl wird die Arbeit von jedem Produktionseri getrennt und setzt sich nur als rein moralische Regel durch. Es • indelt sich um die Begrenzung der Freiheit, die Anerkennung der Ordnung, die Erziehung zur Verantwortlichkeit mit dem alleinigen el. den im Exzeß einer Freiheit, die der physische Zwang nur dem "lovhein nach begrenzt, verlorenen Geist zur Vernunft zu verändern.
A.a. O..S. 156. λ.α. O.. S. 1S3.
Noch wirksamer als die Arbeit ist der Blick der anderen, was von Tuke als »Geltungsbedürfnis« bezeichnet wird: »Dieses Prinzip des menschlichen Geistes beeinflußt ohne Zweifel unser allgemeines Benehmen in einem sehr beunruhigenden Maße, obwohl dies oft in sehr geheimnisvoller Weise geschieht, und wirkt mit ganz besonderer Kraft, wenn wir in einen neuen Beziehungskreis geraten.«240 Der Irre war in der Internierung zur Zeit der Klassik ebenfalls den Blikken ausgesetzt, jedoch erreichten diese Blicke, im Grunde genommen, ihn nicht. Sie erreichten nur seine monströse Oberfläche und seine sichtbare Animalität. Diese Blicke enthielten wenigstens eine Form der Reziprozität, weil der gesunde Mensch darin wie in einem Spiegel die drohende Bewegung seines eigenen Falls ablesen konnte. Der Blick, den Tuke jetzt als eine der großen Komponenten der Existenz im Asyl einrichtet, ist gleichzeitig tiefer und weniger reziprok. Er muß den Irren in den Zeichen, die seinen Wahnsinn am wenigsten spüren lassen, zu umzingeln versuchen, dort, wo er sich heimlich über die Vernunft äußert und sich kaum davon zu lösen beginnt. Der Irre kann diesen Blick in keiner Form erwidern, denn er wird lediglich angesehen und ist wie ein Neuhinzugekommener, wie der Zuletztgekommene in der Welt der Vernunft. Tuke hatte eine ganze Zeremonie um diese Frage des Blickes gebildet. Es handelte sich um Abende nach englischer Mode, bei denen jeder die soziale Existenz in allen ihren formalen Erfordernissen spielen mußte, ohne daß irgend etwas anderes als der Blick umherläuft, der jede Ungeschicklichkeit, jede Unordnung, jede Ungereimtheit beobachtet, in der sich der Wahnsinn verrät. Die Direktoren und Aufseher der retreat laden also regelmäßig einige Kranke zu »Teeparties« ein. Die Eingeladenen »legen ihre beste Kleidung an und rivalisieren an Höflichkeit und Wohlgesittetheit miteinander. Man bewirtet sie mit dem besten Menü, behandelt sie mit solcher Aufmerksamkeit, als seien sie Fremde. Der Abend verläuft allgemein in bester Harmonie und zu größter Zufriedenheit. Selten kommt es zu unangenehmen Ereignissen. Dir Kranken kontrollieren ihre verschiedenen Neigungen in einem außergewöhnlichen Maße. Diese Szene ruft gleichzeitig Erstaunen und einsehr nahegehende Befriedigung hervor.« 2il Eigenartigerweise ist dieser Ritus nicht der der Annäherung, der des Dialogs, des gegenseitigen Kennenlernens, sondern die Anordnung einer Welt um den Irret
26c A . a . O . , S . 157. 261 A . a . O . , S . 178. 508
herum, in der ihm alles ähnlich und nahe ist, aber wo er selbst fremd, der Fremde par excellence bleibt, den man nicht nur nach den äußeren Erscheinungen, sondern nach allem beurteilt, was sie ungewollt verraten und enthüllen können. Ständig in diese leere Rolle des unbekannten Besuchers gedrängt und in allem, was man von ihm kennen kann, abgelehnt, somit an die Oberfläche seiner selbst gezogen durch eine soziale Gestalt, deren Form und Maske man ihm schweigend durch den Blick auferlegt, wird der Irre aufgefordert, sich in den Augen der vernünftigen Vernunft als vollkommener Fremder zu objektivieren, das heißt als derjenige, dessen Fremdheit sich nicht wahrnehmen läßt. Die Gesellschaft der vernünftigen Menschen nimmt ihn nur unter dieser Bedingung und gegen den Preis dieser Konformität mit dem Anonymen auf. Man sieht, daß in der retreat partielle Aufhebung 261 der physischen Zwänge Teil einer Gesamtheit war, deren wesentliches Element die Bildung einer seif restraint war, in der die Freiheit des Kranken, in die Arbeit und den Blick der anderen einbezogen, unaufhörlich durch das Erkennen der Schuldhaftigkeit bedroht wird. Dort, wo man mit einem einfachen negativen Verfahren zu tun zu haben glaubte, das Verbindungen auflöst und die tiefste Natur des Wahnsinns freisetzt, muß man wohl erkennen, daß es sich um ein positives Verfahren handelt, das den Wahnsinn im System der Belohnungen und Bestrafungen einschließt und in der Bewegung des moralischen Bewußtseins festhält. Es ist der Übergang von einer Welt der Réprobation zu einem Universum der Beurteilung. Gleichzeitig aber wird eine Psychologie des Wahnsinns möglich, weil er unter dem Blick an seiner eigenen Oberfläche unaufhörlich dazu aufgefordert wird, seine Verstellung zu leugnen. Man beurteilt ihn nur nach seinen Handlungen, man rragt nicht nach seiner Intention und versucht nicht, seine Geheimnisse zu ergründen. Er ist nur für jenen Teil seiner selbst verantwortlich, der sichtbar ist, während der ganze Rest zum Schweigen verureilt ist. Der Wahnsinn existiert nicht mehr als sichtbares Wesen. Jene •Jähe, die sich im Asyl einstellt, die weder die Ketten noch die Gitter • u brechen vermögen, gestattet keine Reziprozität, weil sie nur Nachbarschaft des wachenden Blickes ist, der bespitzelt, näher herankommt, um besser zu sehen, aber in stets größerem Maße entfernt, weil er Es wurde in der Retreat durchaus noch physischer Z w a n g angewandt. U m In:n zum Essen zu bewegen, empfiehlt Tuke die Anwendung eines einfachen Tür•lü«sels, den man zwischen die Zähne schiebt und nach Belieben drehen kann. A.1.0..S. 170.
nur die Werte des Fremden akzeptiert und anerkennt. Die Wissenschaft der Geisteskrankheiten wird stets, so wie sie sich in den Asylen wird entwickeln können, nur zu Beobachtung und zur Klassifizierung gehören. Sie wird kein Dialog sein und es erst von dem Tag an sein können, an dem die Psychoanalyse jenes Phänomen des Blickes, das für das Asyl des neunzehnten Jahrhunderts wesentlich ist, entzaubert haben und dessen schweigender Magie die Kräfte der Sprache entgegengestellt haben wird. Es wäre noch richtiger, wenn man sagte, daß sie den absoluten Blick des Wächters um das auf unbestimmte Zeit monologe Wort des Überwachens verdoppelt hat, so die alte Asylstruktur des nicht-reziproken Blickes bewahrend, aber auch in einer nicht symmetrischen Reziprozität durch die neue Struktur der Sprache ohne Anwort ein Gleichgewicht schaffend. Überwachung und Beurteilung - bereits zeichnet sich eine neue Gestalt ab, die im Asyl des neunzehnten Jahrhunderts wesentlich sein wird. Tuke selber zeichnet ihr Profil, als er die Geschichte eines Maniakalischen berichtet, der ununterdrückbaren Ausbrüchen von Gewalt unterworfen ist. Eines Tages geht er mit dem Intendanten im Garten des Hauses spazieren, wird sehr plötzlich von einer Erregungsphase ergriffen, entfernt sich einige Schritte, greift zu einem großen Stein, macht bereits die Bewegung, ihn auf seinen Begleiter zu werfen. Der Intendant bleibt stehen, schaut dem Kranken in die Augen, geht einige Schritte vorwärts und »befiehlt ihm mit resoluter Stimme, den Stein niederzulegen«; je weiter er sich nähert, um so mehr läßt der Kranke die Hand sinken und die Waffe fallen. »Er läßt sich dann ruhig in sein Zimmer bringen.« 26 ' Etwas entsteht, das nicht mehr Repression, sondern Autorität ist. Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde die Welt der Irren nur durch die abstrakte und gesichtslose Kraft bevölkert, die sie eingeschlossen hielt. Innerhalb dieser Grenzen war sie leer, bestand diese Leere aus allem dem, was nidit der Wahnsinn selbst ist. Oft wurden die Wächter von den Kranker selbst gestellt. Tuke errichtet dagegen zwischen Wächtern und Kranken, zwischen Vernunft und Wahnsinn ein vermittelndes Element Der von der Gesellschaft für die Aliénation reservierte Raum wird jetzt von denen heimgesucht, die »auf der anderen Seite« stehen und gleichzeitig das Prestige der einschließenden Autorität und die Strenge der urteilenden Vernunft repräsentieren. Der Aufseher greift ohn Waffen, ohne Zwangsinstrumente, allein durch den Blick und sein.
263 A. a. O., S. 172 f.
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Sprache ein. Er nähert sich dem Wahnsinn, frei von allem, was ihn schützen oder gefährlich werden lassen könnte, wodurch er sich einer unmittelbaren und rückhaltlosen Konfrontation aussetzt. Tatsächlich jedoch tritt er dem Wahnsinn nicht als konkrete Person gegenüber, sondern als Vernunftwesen, wobei er eben dadurch, und vor jedem Kampf, mit der Autorität beladen ist. die ihm aus seinem Nichtwahnsinnig-Sein zufließt. Der Sieg der Vernunft über die Unvernunft wurde einst nur durch die materielle Kraft und in einer Art wirklichen Kampfes gesichert. Jetzt ist der Kampf stets schon ausgetragen, ist die Niederlage der Unvernunft von vornherein in die konkrete Situation eingeschrieben, in der sich der Irre und der Nicht-Irre gegenüberstehen. Das Fehlen von Zwängen in den Asylen des neunzehnten Jahrhunderts ist keine befreite Unvernunft, sondern seit langem gemeisterter Wahnsinn. Für jene neue Vernunft, die im Asyl herrscht, repräsentiert der Wahnsinn nicht die neue Form des Widerspruchs, sondern eher eine Art Minderjährigkeit, einen Aspekt seiner selbst, der kein Recht auf Autonomie hat und der nur als der Welt der Vernunft aufgepfropft leben kann. Der Wahnsinn ist Kindheit, alles ist in der retreat organisiert, damit die Irren minorisiert werden. Man betrachtet sie oft »als Kinder, die eine überschüssige Kraft haben und davon einen gefährlichen Gebrauch machen. Sie brauchen Strafen und sofortige Belohnungen. Alles, was ihnen ein wenig ferner steht, hat keine Wirkung auf sie. Man muß ein neues Erziehungssystem auf sie anwenden und ihren Vorstellungen eine neue Richtung geben, sie zunächst unterjochen, sie dann ermutigen, mit Arbeit beschäftigen, ihnen diese Arbeit durch attraktive Mittel angenehm erscheinen lassen.«2'4 Seit 'angem schon hatte das Recht die Geisteskranken für unmündig gehalten. Das war aber eine juristische Situation, die durch die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und die Kuratel abstrakt deîiniert war. Es war keine konkrete A r t der Beziehung von Mensch zu viensch. Der Status der Unmündigkeit wird bei Tuke zu einer Exicenzweise für die Irren und für die Wächter zu einer Art Souveränität. Man legt großen Wert auf den Anstrich der »großen Familie«, len die Gemeinschaft der Irren und ihrer Wächter in der retreat an'tnmt. Dem Anschein nach stellt diese »Familie« den Kranken in ein igleich normales und natürliches Milieu, tatsächlich aber wird er •ch mehr entfremdet: die juristische Unmündigkeit, mit der man De La Rive, a . a . O . , S. 30.
den Irren belegte, war zu seinem Schutze als juristischer Person bestimmt. Jene alte Struktur liefert ihn, indem sie zu einer Form der Koexistenz wird, völlig - auch als psychologisches Subjekt - der Autorität und der Geltung des Vernunftmenschen aus, der für ihn die konkrete Gestalt des Erwachsenen annimmt, das heißt zugleich die der Beherrschung und der Bestimmung. In der großen Neuorganisation der Beziehungen von Wahnsinn und Vernunft spielt am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Familie eine große Rolle - gleichzeitig als imaginäre Landschaft und als wirkliche gesellschaftliche Struktur. V o n ihr geht aus und zu ihr läuft hin das Werk von Tuke. Indem er ihr die Geltung der ursprünglichen Werte verleiht, die im Gesellschaftlichen noch nicht in Frage gestellt sind, läßt er die Familie eine Rolle der Desalienation spielen. In seinem Mythos war sie die Antithese jenes »Milieus«, in dem das achtzehnte Jahrhundert den Ursprung jeden Wahnsinns sah. Er hat sie aber gleichzeitig auf eine sehr reale Weise in die Welt des Asyls eingeführt, in der sie gleichzeitig als Wahrheit und als Norm aller Beziehungen erscheint, die sidi zwischen dem Irren und dem Vernuntlmensdien herstellen können. Durch diese Tatsache selbst wird die Unmündigkeit unter der Tutel der Familie ein juristisches Status, in den die bürgerlichen Rechte des Wahnsinnigen sich verändert haben, zur psychologischen Situation, in der sich seine konkrete Freiheit verändert. Die ganze Existenz des Wahnsinns in der Welt, die man ihm jetzt bereitet, wird in das eingehüllt, was man antizipativ einen elterlichen Komplex« nennen könnte. Die Geltung des Patriarchats belebt alles um ihn herum in der bürgerlichen Familie. Diese historisch Sedimentierung wird die Psychoanalyse später an den Tag bringe· und ihr in einem neuen Mythos die Bedeutung eines Schicksals gebei das die abendländische Kultur und vielleicht jede Zivilisation durd furchen soll, während sie langsam von ihr niedergelegt wurde une: sich erst vor kurzem gefestigt hat, nämlich am Ende des Jahrhunderts, als der Wahnsinn sich innerhalb der Familie zweimal entfrer det fand, einmal durch den Mythos einer Desanlienation in einer patriarchalischen Reinheit, und zum anderen durch die wirklich entfremdende Situation eines nach Familienvorbild geschaffenen AsKünftig und für einen Zeitraum, dessen Ende wir noch nicht fixieren können, werden die Diskurse der Unvernunft unlösbar mit der hi realen, halb imaginären Dialektik der Familie verbunden sein. Dort, wo man in ihrer Gewalt von Profanationen und Blasphemien le, mußte, wird man künftig den ständigen Anschlag auf den Vater ent-
uffern können. So wird in der modernen Welt das, was einst die uniufhebbare Konfrontation der Vernunft und der Unvernunft war, zum stummen Schlagen der Instinkte gegen die Festigkeit der Institution Familie und gegen ihre archaischsten Symptome werden. £s gibt eine erstaunliche Konvergenz zwischen der Bewegung der «arundlegenden Institutionen und jener Entwicklung des Wahnsinns m der Welt der Internierung. Die liberale Ökonomie neigte, wie wir sesehen haben, dazu, die Fürsorge für Arme und Kranke eher der Familie als dem Staat anzuvertrauen. Die Familie wurde so zum Ort esellschaftlicher Verantwortung. Wenn aber der Kranke der Familie invertraut werden kann, ist das beim Irren nicht das gleiche, der zu fremd und zu unmenschlich ist. Tuke bildet nun auf künstliche ^Ceise um den Wahnsinn herum eine heiligtumartige Familie, die eine •nstitutionelle Parodie darstellt, aber eine wirkliche psychologische Situation ist. Dort, wo die Familie fehlt, setzt er ein fiktives familiäres Dekor mit Hilfe von Zeichen und Verhaltensweisen an ihre Stelle, •her durch ein sehr eigenartiges Uberkreuz.en wird eines Tages die tmilie ihre Rolle der Fürsorge und der Erleichterung gegenüber dem -ranken im allgemeinen verlieren, während sie ihre fiktiven Werte tr den Wahnsinn behalten wird. Lange nachdem die Krankheit der men erneut zu einer Angelegenheit des Staates geworden ist, wird s Asyl den Irren in der imperativen Fiktion der Familie behalten, 'er Irre wird unmündig bleiben, und lange Zeit wird die Vernunft tr ihn die Züge des Vaters tragen. jrch diese fiktiven Werte abgeschlossen, wird das Asyl vor der Gendite und der gesellschaftlichen Entwicklung geschützt. Im Geiste 'kes handelte es sich um die Bildung eines Milieus, das die ältesten, nsten, natürlichsten Formen der Koexistenz imitierte, um die Bileines Milieus, das so menschlich wie möglich und zugleich so lig sozial wie möglich sei. Tatsächlich hat er die gesellschaftliche iktur der bürgerlichen Familie abgetrennt, sie symbolisch im Asyl Jerhergestellt und von ihrer historischen Bahn abgelenkt. Das :tt> in Richtung von anachronistischen Strukturen und Symbolen azte Asyl wird außerhalb der Zeiten liegen und schlechterdings ngepaßt sein. Genau dort, w o die Animalität eine Präsenz ohne hichte manifestierte, die stets von neuem begonnen wurde, wer(angsam die erinnerungslosen Spuren des alten Maßes, der alten tamiliären Profanierungen und die vergessenen Zeichen des Inzests -- i der Sühne heraufkommen.
Bei Pinel gibt es keine religiöse Trennung oder vielmehr eine Trennung, die sidi in umgekehrter Richtung zu derjenigen vollzieht, die von Tuke praktiziert wird. Die Wohltaten des erneuerten Asyls werden allen, fast allen außer den Fanatikern zuteil, »die sich für inspiriert halten und andere Proselyten zu sdiaffen suchen«. Bicêtre und die Salpêtrière bilden nach der Vorstellung Pinels die Komplementärfigur zu der retreat. Die Religion darf kein moralisches Substrat des Lebens im Asyl sein sondern lediglich Gegenstand der Medizin: »Die religiösen Ansichten dürfen in einem Irrenhospital nur in rein ärztlicher Beziehung betrachtet werden, das heißt, man muß jede andere Betrachtung öffentlichen oder politischen Kults ausklammern und lediglich untersuchen, ob es darauf ankommt, der Übersteigerung der Vorstellunger und der Gefühle entgegenzutreten, die daraus entstehen können, d? mit man zu der Heilung bestimmter Geisteskranker wirkungsvo 1 beitragen kann.« 16 ' Der Katholizismus als Quelle lebhafter Emoti· nen und erschreckender Bilder, die er durch die Furcht vor dem Jenseits hervorruft, löst sehr häufig den Wahnsinn aus. Er trägt zur Entstehen delirierender Glaubensvorstellungen bei, fördert Hallur nationen, führt die Menschen bis zur Verzweiflung und zur Melanch lie. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn man »bei der Durchsici : der Register des Irrenhospitals von Bicêtre viele Priester und Mönd sowie Leute vom Land verzeichnet findet, die durch ein erschreck»-'' des Bild der Zukunft ihre Vernunft verloren haben«.*66 Noch we« ger braucht man sich zu wundern, wenn man die Zahl der religiös Wahnsinnstaten variieren sieht. Im Ancien Régime und während iii Revolution haben die Lebhaftigkeit des Aberglaubens oder die Ii, tigen Kämpfe, die die Republik gegen die katholische Kirche gestr haben, die Zahl der Fälle von Melancholie religiösen Ursprung« höht. Als der Frieden wieder hergestellt war und das Konkordai Kämpfe beendete, verschwanden diese Arten von Delirien. Im jah; Zehn zählte man noch fünfzig Prozent religiösen Wahnsinns ur den Melancholikern in der Salpêtrière, im Jahr darauf dreiunddßig Prozent und im Jahr Zwölf nur noch achtzehn Prozent.-"17 Ό." Asyl muß also von der Religion und all ihren imaginären Verlan Schäften befreit werden; man muß sich davor hüten, »den wegen
265 Pinel, Traité médico-philosophique,
166
S. 265.
A . a . O . , S. 458.
267 Ebda. Die von Pinel erstellten Statistiken befinden sich auf den Seiten 4J"
514
ver Devotion Melancholischen« ihre frommen Bücher zu belassen. Die Erfahrung »zeigt, daß es das sicherste Mittel ist, die Aliénation fort.usetzen oder gar unheilbar zu machen, und je mehr man jene Erlaubnis gibt, in um so geringerem Maße gelangt man zur Beruhigung der Unruhezustände und Skrupel.«268 Nichts entfernt uns weiter von Tuke und seinen Träumen von einer religiösen Gemeinschaft, die gleichtitig der privilegierte Ort der Heilung des Geistes wäre, als jene Vortellung von einem neutralen, von jenen Bildern und jenen Leidenhatten gereinigten Asyl, die durch das Christentum entstehen und lie den Geist auf Irrwege, zu Illusionen, bald zum Delirium und zu Halluzinationen führen. Es handelt sich aber für Pinel um die Reduzierung der imaginären F '"men und nicht um die des moralischen Inhalts der Religion. In ihr ;ibt es, wenn sie einmal abgeklärt ist, eine Kraft der Desalienation, lie die Bilder auflöst, die Leidenschaften beruhigt und den Menschen lern wiedergibt, was es in ihm an Unmittelbarem und Wesentlichem eben kann: sie kann ihn in die Nähe seiner moralischen Wahrheit idcen. Damit ist sie oft in der Lage zu heilen. Pinel erzählt einige esdiichten, die dem Stil nach von Voltaire sein könnten. Zum Beikel spricht er von einer jungen, fünfundzwanzigjährigen Frau, »die "e starke Konstitution hat und durch Heirat mit einem schwachen nd empfindlichen Mann verbunden ist«. Sie hatte »sehr heftige Anlle von Hysterie, stellte sich vor, von dem Dämon besessen zu sein, •r - nach ihr - unterschiedliche Form annahm, mal wie ein Vogel ig. mal traurige Töne, mitunter durchdringende Schreie von sich ib . Glücklicherweise ist der Pfarrer ein wenig mehr in der Natur'ftinn beschlagen als in den Praktiken der Verwünschung untere n . Er glaubt an die Heilung durch Wohlwollen der Natur. Dieaufgeklärte Mann mit zartem und überzeugendem Charakter ann Einfluß auf den Geist der Kranken und konnte sie dazu be,"en. ihr Bett zu verlassen, die häuslichen Arbeiten wieder aufzumen und sogar ihren Garten zu jäten ( . . . ) . Das hatte die glückten Ergebnisse zur Folge, und die Frau war für drei Jahre ge't..ii« Wenn man die Religion auf die extreme Einfachheit dieses .lischen Inhalts zurückführt, kann sie mit der Philosophie nur einer Stufe stehen, ebenso wie mit der Medizin und allen Formen Weisheit und der Wissenschaft, die die Vernunft in einem verwirr-
:-· A.a.O.,S.268.
A.a.O.. S. π S f.
ten Geist wiederherstellen können. Es gibt sogar Fälle, in denen die Religion gewissermaßen als Vorbehandlung dienen kann und die Behandlung im Asyl vorzubereiten vermag. Das bezeugt jenes Mädchen •»mit feurigem Temperament, obwohl es sehr artig und fromm war«, das zwischen »den Neigungen seines Herzens und den strengen Prinzipien seines Benehmens« in Zwiespalt lag. Sein Beichtvater, der ihm vergeblich geraten hatte, sich Gott zuzuwenden, schlug jetzt Beispiele einer festen und maßvollen Heiligkeit vor und »stellte ihr das beste Heilmittel für die großen Leidenschaften, die Geduld und die Zeit, entgegen«. Sie wird in die Salpêtrière gebracht und auf Anordnung Pinels »mit den gleichen moralischen Prinzipien« behandelt, und ihre Krankheit »dauerte nur geringe Zeit«.1?0 Das Asyl nimmt so nicht das soziale Grundthema einer Religion auf, in der die Menschen sich wie Brüder in einer Gemeinschaft und in einer gleichen Kommunion halten, sondern die moralische Kraft des Trostes, des Vertrauens und einer gelehrigen Treue gegenüber der Natur. Es muß die moralische Arbeit der Religion außerhalb ihres phantastischen Textes aufnehmen, lediglich auf der Ebene der Tugend, der Mühe und des sozialen Lebens. Alles, was am A s y l als religiösem Gebiet ohne Religion, als Gebiet reiner Moral und ethischer Uniformierung das Zeichen der alten Unterschiede bewahren konnte, verwischt sich nun. Die letzten Erinnerungen an ein Geheiligtes erlöschen. Einst hatte das Internierungshaus im gesellschaftlichen Raum von den fast absoluten Grenzen des Leprosoriums geerbt und war fremdes Land. Jetzt muß das Asyl die große Kontinuität der gesellschaftlichen Moral darstellen. Die Werte der Familie und der Arbeit, alle anerkannten Tugenden herrschen im Asyl, aber es ist eine doppelte Herrschaft. Zunächst herrschen sie talsächlich, im Herzen des Wahnsinns selbst. Hinter der Gewalt und der Unordnung der Aliénation ist die feste Natur der wesentlichen Tugenden nicht gebrochen. Es gibt eine primitive Moralität, die gewöhnlich nicht einmal von der schlimmsten Demenz angegriffen wird. Sie erscheint und funktioniert gleichzeitig bei der Heilung: »Ich kann irr allgemeinen den reinen Tugenden und ernsten Prinzipien ein hervorragendes Zeugnis ausstellen, das die Heilung oft bestätigt. Nirgend außer in den Romanen habe ich liebenswertere Ehegatten, zärtliche' Väter oder Mütter, leidenschaftlichere Liebende und ihren Pflichttr mehr zugewandte Personen gesehen als die glücklicherweise zu der 270 A . a . O . , S . 2 7 0 f . 516
Stufe der Heilung gebrachten Geisteskranken.« 271 Diese unveränderliche Kraft ist gleichzeitig Wahrheit und Auflösung des Wahnsinns. Deshalb muß sie, wenn sie herrscht, herrschen. Das Asyl reduziert die Unterschiede, beseitigt die Laster und läßt die Unregelmäßigkeiten aufhören. Es denunziert alles, was den wesentlichen Kräften der Gesellschaft entgegensteht: das Zölibat - »die Zahl der unverheirateten Mädchen, die in Idiotie verfallen sind, ist siebenmal größer als die Zahl der verheirateten Frauen in den Jahren X I und X I I I ; für die Demenz handelt es sich um die zweifache bis vierfache Zahl; man kann also sagen, daß die Heirat für Frauen eine A r t Schutzmittel gegen die beiden Arten der Aliénation ist, die am meisten eingewurzelt und am wenigsten heilbar sind«272 - ; die Ausschweifung, schlechtes Benehmen und »die extreme Perversität der Sitten« — »die Gewohnheiten solcher Laster wie Trunksucht, grenzenlose und wahllose Galanterie und ein ungeordneter Lebenswandel oder eine apathische Sorglosigkeit können allmählich die Vernunft herabsetzen und zur Geisteskrankheit führen«273 - ; die Faulheit — »es ist das konstanteste und einhelligste Ergebnis der Erfahrung, die in allen öffentlichen Asylen, in den Gefängnissen und Hospizen gemacht wird, daß die sicherste und vielleicht die einzige Garantie der Aufrechterhaltung der Gesundheit, der Sitten und der Ordnung das Gesetz einer streng angewandten mechanischen Arbeit ist«274. Das Asyl hat zum Ziel die homogene Herrschaft der Moral, ihre strenge Ausdehnung auf alle diejenigen, die ihr zu entgehen versuchen. Gerade dadurch aber läßt das Asyl einen Unterschied entstehen. Wenn das Gesetz nicht universell angewandt wird, gibt es Menschen, die es nicht anerkennen, eine Klasse der Gesellschaft, die in der Unrdnung, in der Nachlässigkeit und fast in der Illegalität lebt: »Wenn man einerseits Familien über Jahre hin im Herzen der Ordnung und 1er Eintracht sich wohl entfalten sieht, gibt es doch sehr viele, vor al'em in den unteren Klassen der Gesellschaft, die den Blick durch ein ibstoßendes Schauspiel der Ausschweifungen, der Streitigkeiten und .iner beschämenden N o t beleidigen ! Darin liegt nach meinen täglichen \ufzeichnungen die häufigste Quelle der Aliénation, die man in den Hospizen zu behandeln hat.«275 : - ! \ . a . O . , S . Ι4Γ. - n A.a.O.,S.417. 171 A.a.O.,S. 122f I?4 A.a.O.,S. 237. 27$ A.a.O.. S. 29 f
In ein und derselben Bewegung wird das Asyl in den Händen Pinels zu einem Instrument moralischer Gleichschaltung und gesellschaftlicher Denunziation. Es handelt sich darum, in den universellen Arten eine Moral herrschen zu lassen, die sich aus dem Inneren denjenigen auferlegt, die ihr noch fremd gegenüberstehen und bei denen die Aliénation bereits gegeben ist, bevor sie sich bei den Individuen manifestiert. Im ersten Fall muß das Asyl als Aufwachen und Erinnerung wirken und eine vergessene Natur wachrufen. Im zweiten Fall muß es durch gesellschaftliche Deplazierung wirken, um das Individuum seiner ursprünglichen Lebensbedingung wiederzugeben. Dieser Vorgang, so wie er in der retreat praktiziert wurde, war noch einfach: religiöse Abtrennung zu Zwecken moralischer Reinigung. Der von Pinel praktizierte Vorgang ist ziemlich komplex, denn es handelt sich darum, moralische Synthesen herzustellen und einen ethischen Zusammenhang zwischen der Welt des Wahnsinns und der der Vernunft zu sichern, dabei jedoch eine gesellschaftliche Trennung zu vollziehen, die der bürgerlichen Moral eine tatsächliche Universalität garantiert und ihr gestattet, sich als Recht allen Formen der Aliénation aufzuzwingen. Im klassischen Zeitalter mischten sich Not, Faulheit, Laster und Wahnsinn in einer gleichen Schuldhaftigkeit innerhalb der Unvernunft. Die Irren waren in die große Internierung des Elends und der Arbeitslosigkeit integriert worden, hatten aber alle eine Nachbar schaff zur Verfehlung, ja zum Wesen des Sündenfalls eingenommen. Der Wahnsinn stellt sich jetzt in verwandtschaftliche Nähe zum sozialen Verfall, der konfus als seine Ursache, sein Modell und seine Grenze erscheint. Ein halbes Jahrhundert später wird die Geisteskrankhei' zur Degeneration. Künftig steigt der wesentliche Wahnsinn, der wir! lieh eine Bedrohung ist, aus den Niederungen der Gesellschaft heraul'Das Asyl Pinels wird nicht ein im Rückzug vor der Welt vorhandene Naturraum und Raum unmittelbarer Wahrheit sein wie das von Tuke, sondern ein uniformes Gebiet der Gesetzgebung, ein Ort mor-lischer Synthesen, an dem sich die Wahnsinnsformen aufheben, die an den äußeren Grenzen der Gesellschaft entstehen.1"4 Das ganze Leb2 7 s Pinel hat der O r d n u n g der Gesetzgebung stets den V o r r a n g über den Erker nisfortsdiritt gegeben. In einem Brief an seinen Bruder v o m 1. Januar 1770 sdir er: »Wenn m a n einen Blick auf die Gesetzgebung w i r f t , die es in der Welt get-'cl1. hat, sieht man, d a ß die Gesetzgebung bei der Einrichtung der Gesellschaft stet' J- ' G l a n z der Wissenschaften und Künste vorausgeht, der ein politisch Organistund durch die Umstände und den L a u f der Zeit zu jener A u t o r i t ä t gelangte« '·.
der Internierten, das ganze Verhalten, das ihnen die Wächter und Ärzte entgegenbringen, werden von Pinel organisiert, damit jene moralischen Synthesen vollzogen werden können. Das geschieht hauptsächlich durch drei Mittel. i. Das Schweigen. Der Fünfte der von Pinel Angeketteten in Bicêtre war ein früherer Kirchenmann, der wegen seines Wahnsinns aus der Kirche vertrieben wurde. Von einem Größenwahnsinn befallen, hielt er sich für Christus. »Er war der Gipfel menschlicher Arroganz im Delirium.« In Bicêtre 178z eingeliefert, ist er zwölf Jahre später immer noch in Ketten. Durch den Stolz seiner Haltung, die Großsprecherei seiner Ideen bildet er eines jener Schauspiele, die im ganzen Hospital geschätzt werden. D a er aber weiß, daß er die Passion Christi neu durchlebt, »erträgt er mit Geduld jenes lange Martyrium und die ständigen Sarkasmen, denen er durch seine Manie ausgesetzt ist.« Pinel hat ihn bezeichnet, damit er als einer der ersten zwölf von den Ketten befreit würde, obwohl sein .Delirium immer noch sehr heftig 'st. Er behandelt ihn aber nicht wie die anderen, spricht keine Ermahnungen aus und verlangt keine Versprechen von ihm. Ohne ein Worr zu sagen, läßt er ihm die Ketten abnehmen und »befiehlt ausdrücklich, daß jeder Zurückhaltung übe und jenem armen Geisteskranken kein einziges Wort sage. Dieses Verbot, das streng beachtet wird, übt auf jenen so von sich selbst überzeugten Menschen eine viel strengere Wirkung aus als die Eisen und der Kerker. Er fühlt sich erniedrigt durch tine Nichtbeachtung und eine für ihn so neue Isolierung innerhalb .einer völligen Freiheit. Nach langem Zögern endlich sieht man ihn • "n sich aus mit den anderen Kranken den Umgang suchen. Von jeicm Tage an kommt er zu vernünftigeren und richtigeren Ideen.«27·' Hier nimmt die Befreiung eine paradoxe Bedeutung an. Der Kerker, iiie Ketten, das fortgesetzte Schauspiel, die Sarkasmen bildeten für das Delirium des Kranken gewissermaßen das Element seiner Frei-ii. Darin anerkannt und durch soviel Komplizität von außen faszi•ert, konnte er nicht aus seiner unmittelbaren Wahrheit gerissen werten. Aber die einmal abgefallenen Ketten, jene Indifferenz und das -tweigen aller schließen ihn in den begrenzten Raum einer leeren reiheit ein. Er ist schweigend einer nicht anerkannten Wahrheit aus• ."-etzt. die den Keim der Literatur bildet. Man kann nicht sagen, daß die Engter ihre Gesetzgebung dem Zustand der Blüte ihrer Wissenschaften und Künste sinken, sondern sie ist diesem um Jahrhunderte vorausgegangen.« Zitiert bei laieiii:. Alimistes et philanthropes, Paris 191z, S. 19 F. •eipinn Pinel, Traité du régime sanitaire, S. 63. S <9
gesetzt, die er vergeblich manifestieren wird, weil man ihn nicht mehr beachtet, und aus der er keine Exaltation gewinnen kann, da er nidn einmal erniedrigt wird. Der Mensch und nicht seine Projektion in das Delirium wird jetzt erniedrigt. An die Stelle des physischen Zwanges wird eine Freiheit gesetzt, die in jedem Augenblick die Grenzen der Einsamkeit trifft, an die Stelle des Dialogs zwischen Delirium und Beleidigung wird der Monolog einer Sprache gesetzt, die sich im Schweigen der anderen erschöpft. An die Stelle des ganzen Schauspiels von Vermessenheit und Herausforderung tritt die Indifferenz. Von da ar ist er in Wirklichkeit mehr eingeschlossen, als er es im Kerker oder in Ketten sein könnte, ist er ein Gefangener von nichts anderem als sidi selbst, ist er in eine Beziehung zu sich, die zur Ordnung der Verfehlung gehört, und in eine Beziehungslosigkeit zu den anderen gestelli. die zur Ordnung der Schmach gehört. Die anderen werden freigesprochen, sie sind keine Verfolger mehr, die Schuldhaftigkeit wird nach innen verlegt und zeigt dem Irren, daß er nur durch seine eigene Vermessenheit fasziniert war. Die feindlichen Gesichter werden ausgelöscht, so daß er ihre Nähe nicht mehr als Blick, sondern als Unaufmerksamkeit, als abgewandten Blick versteht. Die anderen werden für ihn nur noch eine Grenze sein, die sich unaufhörlich rückwäri verlagert, indem er vorwärts schreitet. Von seinen Ketten befreit, iss er jetzt durch die Kraft des Schweigens mit der Verfehlung und dej Schande verkettet. Er fühlte sich bestraft und sah darin das Zeicher seiner Unschuld, während er jetzt, wo er frei von jeder physischen Strafe ist, sich schuldig fühlen muß. Seine Strafe machte vorher seine" Ruhm aus, während ihn jetzt seine Befreiung erniedrigen muß. Im Vergleich mit dem unaufhörlichen Dialog zwischen Vernunft und Wahnsinn in der Renaissance war die klassische Internierung ein Verurteilung zum Schweigen. Die Verurteilung war aber nicht total denn die Sprache fand sich darin eher in die Dinge einbezogen ah wirklich ausgelöscht. Die Internierung, die Gefängnisse, Kerker. <· sogar die Strafen knüpften zwisdien Vernunft und Unvernunft eint-· stummen Dialog an, der Kampf war. Dieser Dialog wird jetzt auf gelöst, das Sdiweigen ist absolut, und es gibt zwischen Wahnsinn und Vernunft keine gemeinsame Spradie mehr. Der Sprache des Del riums kann nur ein Fehlen von Sprache entsprechen, denn das Delirium ist kein Fragment des Dialogs mit der Vernunft, es ist überhaupt keine Sprache. Es verweist schließlich in schweigendem B. wußtsein lediglich auf die Verfehlung. Von da ausgehend kann ci" gemeinsame Sprache erneut nur in dem Maße möglich werden, in der
sie die Sprache der anerkannten Schuldhaftigkeit ist. »Nach langem Zögern endlich sieht man ihn von sich aus mit den anderen Kranken Jen Umgang suchen.« Das Fehlen einer Sprache als fundamentale Struktur des Lebens im Asyl hat zum Korrelativ das an den Tag gebrachte Geständnis. Als Freud in der Psychoanalyse den Austausch vorsichtig wieder anknüpft oder sich vielmehr erneut daran macht, auf diese Sprache zu lauschen, die künftig im Monolog ausgemergelt wird, muß man sich da wundern, daß die wahrgenommenen Formulierungen immer noch die der Verfehlung sind? In jenem verwurzelten Schweigen hatte die Verfehlung sogar die Quellen der Sprache erreicht. 2. Das "Wiedererkennen im Spiegel. In der retreat wurde der Irre betrachtet und wußte, daß er angesehen wurde; aber mit Ausnahme Jieses direkten Büchs, der ihm dagegen nicht gestattete, sich anders ds von der Seite wahrzunehmen, hatte der Wahnsinn keine unmittelbare Gewalt über sich selbst. Bei Pinel hingegen wird der Blick nur innerhalb des durch den Wahnsinn abgegrenzten Raumes ohne Obertläche oder äußere Grenzen eine Rolle spielen. Er wird selbst sehen, »ird von sich selbst gesehen werden, wird gleichzeitig reiner Gegenstand eines Schauspiels und absolutes Subjekt sein. Drei Irre, die sich für Herrscher hielten und jeder den Titel Ludwig X V I . annahmen, bestreiten sich eines Tages die Königswürde und bestehen etwas zu energisch auf ihren Behauptungen. Die Wächterin nähert sich einem von ihnen und zieht ihn etwas zur Seite. Sie tragt ihn, warum er sich mit den beiden anderen in einen Streit einlasse. die doch sichtbar irre seien. >Man weiß doch, daß Sie als Ludwig X V I . anerkannt werden müssen.« Der durch diese Huldigung 1 jeschmeichelte zieht sich sofort zurück und betrachtet die beiden anleren mit einer verachtenden Erhabenheit. Auch bei dem zweiten gelingt der gleiche Kunstgriff, so daß nach einem kurzen Augenblick 1er Streit beigelegt ist.«2''8 Das ist der erste Augenblick, der der Exaltation. Der Wahnsinn ist aufgefordert, sich selbst zu betrachten, aber lei den anderen. Er erscheint in ihnen wie eine nicht begründete Anmaßung, das heißt als lächerlicher Wahnsinn. Währenddessen sichert 1er irre in jenem Blick, der die anderen verurteilt, seine eigene Rechtertigung und die Gewißheit, seinem Delirium adäquat zu sein. Der Riß zwischen Anmaßung und der Wirklichkeit läßt sich nur im Ob.kt erkennen. Er ist dagegen im Subjekt völlig maskiert, das zur uni-
Zitiert bei Sémelaigne, a. a. O., S. 502.
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mittelbaren Wahrheit und zum absoluten Richter wird. Die Souveränität, die in ihrer Exaltation die falsche Souveränität der anderen denunziert, beraubt sie dessen und bestärkt sich darin in der nicht versagenden Fülle ihrer Anmaßung. Der Wahnsinn als einfaches Delirium wird auf die anderen projiziert. Als perfekte Bewußtlosigkeit wird er völlig übernommen. In diesem Augenblick wird der Spiegel als Entmystifizierung zum Komplizen. Ein anderer Kranker in Bicêtre hielt sich ebenfalls für einen König und drückte sidi stets »in dem Ton des Befehls und der hödisten Autorität aus«. Eines Tages war er ruhiger, und der Wächter fragte ihn, als er sidi ihm näherte, warum er, wenn er Souverän sei, nidit seiner Gefangenschaft ein Ende setze und warum er mit den Irren der verschiedenen Arten vermengt werde. A n den folgenden Tagen nahm er sein Gespräch wieder auf und »zeigte ihm langsam das Lächerliche in seinen übertriebenen Äußerungen, zeigte ihm einen anderen, der ebenfalls seit langem überzeugt war, daß er Souverän sei, und seitdem Gegenstand der Lächerlichkeit war. Der Maniakalisthe wirkt zunächst erschüttert, zieht bald seinen Titel in Zweifel und erkennt schließlich seine abwegigen Schimären. Innerhalb von vierzehn Tagen vollzog sich diese moralische und so unerwartete Umkehrung, und nach einigen Monaten Probezeit durfte dieser achtenswerte Vater wieder zu seiner Familie zurückkehren.«2?' Damit ist also die Phase der Erniedrigung erreicht; in der anmaßenden Identifikation mit dem Objekt seines Deliriums erkennt sich der Irre im Spiegel jenes Wahnsinns wieder, dessen lächerliche Anmaßung er denunziert hat. Seine feste Souveränität als Subjekt bricht in jenem Objekt zu sammen, das er entmystifiziert hat, als er es annahm. Er wird jetzt unerbittlich von sich selbst betrachtet. Im Schweigen jener, die dir Vernunft repräsentieren und nur den gefährlichen Spiegel hingeha'· ten haben, erkennt er sich als objektiv irre. So kann man sehen, auf welche Weise und mit welchen Mystifikationen die Therapie des achtzehnten Jahrhunderts den Irren von seinenWahnsinn zu überzeugen versuchte, um ihn besser davon zu befreien.28" Hier jetzt ist die Bewegung von einer ganz anderen Natu;. Es handelt sich nicht darum, die Verirrung durch das beeindruckend Schauspiel einer Wahrheit, auch nur einer gespielten Wahrheit au' zuheben, es handelt sich darum, den Wahnsinn in seiner Arroganz l 273 Philippe Pinel, a. a. O., S. 256. 280 Vgl. Teil 2, Kapitel 4.
erreichen und nicht in seiner Abirrung. Der klassische Geist verurteilte im Wahnsinn eine bestimmte Blindheit gegenüber der Wahrheit. Seit fine! sieht man in ihm eher einen aus den Tiefen gekommenen Schwung, der die juristischen Grenzen des Individuums überschreitet und die moralischen Zuweisungen ignoriert, die ihm gesetzt sind, und der zu einer Apotheose seiner selbst tendiert. Für das neunzehnte Jahrhundert wird das anfängliche Modell des Wahnsinns das sein, daß man sich für Gott hält, während es für die voraufgehenden Jahrhunderte das war, Gott abzulehnen. Also im Schauspiel seiner selbst als erniedrigter Unvernunft wird der Wahnsinn sein Heil finden können, als er, in der absoluten Subjektivität seines Deliriums gefangen, Jas lächerlidie und objektive Bild davon im identischen Irren übernehmen wird. Die Wahrheit schleicht sich gewissermaßen durch eine Überraschung (und nicht durch Gewaltsamkeit in der A r t des achtzehnten Jahrhunderts) in jenes Spiel der reziproken Blicke ein, in Jem sie stets nur sich selbst sieht. Das Asyl aber hat in jener Gemein.chaft der Irren die Spiegel so angeordnet, daß der Irre letzten Endes nicht umhin kann, sich gegen seinen Willen als Irren zu erkennen. Von den Ketten befreit, die aus ihm ein reines Objekt der Betrachtung machten, verliert der Wahnsinn paradoxerweise das Wesentliche seiner Freiheit, die nur diejenige der einsamen Exaltation ist. Er wird verantwortlich für das, was er von seiner Wahrheit weiß, und -_,erät in seinem unendlich auf sich selbst zurückgeworfenen Blick in Gefangenschaft. Er wird schließlich mit der Erniedrigung verkettet, tür sich selbst ein Objekt zu sein. Die Bewußtwerdung ist jetzt mit Jer Schande verbunden, mit jenem anderen identisch zu sein, in ihm α Frage gestellt zu werden und sich bereits selbst verachtet zu haben, ocvor man sich hat erkennen und kennen können. .Die beständige Verurteilung. Durch dieses Spiegelspiel wie durch nes Schweigen wird der Wahnsinn aufgefordert, ohne Aufschub aber sich zu urteilen. Außerdem aber wird er in jedem Augenblick on außen beurteilt, nicht durch ein moralisches oder wissenschaft.dies Bewußtsein, sondern durch eine Art unsichtbaren Tribunals, las in Permanenz tagt. Das Asyl, von dem Pinel träumt und das er •-dlweise in Bicêtre, vor allem aber in der Salpêtrière realisiert hat, ι ein juristischer Mikrokosmos. Diese Justiz muß, um wirksam zu •an. in ihrem Aussehen furchterregend erscheinen, die ganze imaginäre Ausstattung des Richters und des Henkers muß dem Geist des irren präsent sein, damit er wohl versteht, welchem Universum des l rteils er jetzt ausgeliefert ist. Die Inszenierung der Justiz in allem,
was sie an Furchtbarem und Unerbittlichem besitzt, wird also zur Behandlung gehören. Einer der Internierten von Bicêtre hatte ein religiöses Delirium, das durch einen panischen Schrecken vor der Hölle gespeist wurde. Er glaubte, der ewigen Verdammnis nur durch eine rigorose Abstinenz entgehen zu können. Diese Furcht vor einer fernen Gerechtigkeit mußte durch die Präsenz einer unmittelbaren Justiz, die noch furchterregender war, kompensiert werden: »Der unwiderstehliche Lauf seiner finsteren Gedanken konnte nicht anders ausgeglichen werden als im Eindruck einer lebhaften und tiefen Furcht.« Eines Abends besuchte der Direktor den Kranken »mit einem Apparat, der dazu geeignet war, ihn zu erschrecken; er hatte brennende Augen, eine donnernde Stimme und eine Gruppe Dienstleute um sich, die mit starken Ketten versehen waren, die sie lärmend schüttelten. Man gibt dem Kranken eine Suppe und fordert ihn sehr genau auf, diese Suppe nachts zu essen, wenn er nicht grausamer Behandlung unterworfen werden will. Sie ziehen sich zurück und hinterlassen den Irren im furchtbarsten Zustand zwischen der Vorstellung der Bestrafung, die ihn bedroht, und der erschreckenden Perspektive der Qualen im anderen Leben. Nach einem inneren Kampf mehrerer Stunden siegt die erste Vorstellung, und er entscheidet sich, die Nahrung anzunehmen.« 18 ' Die richterliche Instanz, die das Asyl bildet, erkennt keine andere solche Instanz an. Sie verurteilt unmittelbar und in letzter Instanz. Sie besitzt ihre eigenen Strafinstrumente und benutzt sie nach ihrem Gutdünken. Die alte Internierung wurde meist, außerhalb der normalen juristischen Formen praktiziert, aber sie imitierte die Bestrafungen der Verurteilten, benutzte die gleichen Gefängnisse, die gleichen Kerker und die gleichen physischen Qualen. Die Justiz, die im Asyl von Pinel herrscht, entleiht der anderen Justiz keine Arten der Repression, sondern erfindet ihre eigenen. Vielmehr benutzt sie die therapeutischen Methoden, die sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts ausgebreitet hatten, um daraus Bestrafungen zu machen Diese Umkehrung der Medizin in Justiz und der Therapie in Repression ist nicht eines der geringsten Paradoxe des »philanthropischen und »befreienden« Werks von Pinel. In der Medizin der klassischeEpoche wurden Bäder und Duschen als Heilmittel in Zusammenhan: mit den Träumereien der Ärzte über die Natur des Nervensystem· benutzt. Es handelte sich darum, den Organismus abzukühlen, die 281 Philippe Pinel, a. a. O., S. 207 f.
brennenden und ausgetrockneten Fibern zu entspannen.282 Tatsächlich fügte man zu den glücklichen Folgen der kalten Dusche auch den psychologischen Effekt der unangenehmen Überraschung hinzu, die den Lauf der Ideen unterbricht und die Natur der Gefühle verändert, aber wir sind dabei immer noch in der Landschaft der ärztlichen Träume. Mit Pinel wird der Gebrauch der Dusche ganz offen zu einem Strafinstrument. Die Dusche ist die gewöhnliche Bestrafung eines Tribunals einfacher Polizei, das in Permanenz im Asyl tagt: -•Als Mittel der Repression gesehen, reichen die Dusdien oft aus, um eine Wahnsinnige dem allgemeinen Gesetz der Handarbeit zu unterwerfen, wenn sie dafür vorgesehen werden kann; um die hartnäckige Verweigerung der Nahrungsaufnahme zu brechen; um die von einer Art wirrer und überlegter Laune befallenen geisteskranken Frauen zu bezähmen.«283 Alles wird angestellt, damit der Irre sich in einer Welt des Urteils erkennt, die ihn von allen Seiten umgibt. Er muß wissen, daß er überwacht, beurteilt und verurteilt wird. V o n der Verfehlung zur Strafe muß die Verbindung klar verlaufen wie eine von allen anerkannte Schuldhaftigkeit: »Man profitiert von dem Umstand des Bades, man erinnert nochmals an den begangenen Fehler oder die Vernachlässigung einer bedeutenden Pflicht, und mit Hilfe eines Hahns läßt man plötzlich einen kalten Wasserstrahl auf den Kopf laufen, was die Irre oft durcheinanderbringt oder eine fixe Idee durch einen starken oder unerwarteten Eindruck: beiseite schiebt. Ist sie immer noch hartnäckig, dann erneuert man die Dusche, vermeidet aber sorgfältig einen harten Ton oder schockierende Ausdrücke, die eine Revolte auslösen könnten. Man sagt ihr dagegen, daß es zu ihrem eigenen Vorteil ist, and daß man nur mit Bedauern zu diesen heftigen Maßnahmen greift. Mitunter flicht man Scherze ein und behandelt sie nicht zu intensiv..,^ Diese fast arithmetische Evidenz der Strafe, die so oft wie lötig wiederholte Bestrafung, die Anerkennung der Verfehlung durch lie entsprechende Repression, alles das muß zur Verinnerlichung der trafenden Instanz und zur Entstehung von Gewissensbissen im Geist der Kranken führen. Erst an diesem Punkt sind die Richter damit inverstanden, daß die Bestrafung aufhört, weil sie sicher sind, daß .· sich fortwährend im Bewußtsein verlängert. Eine Maniakalische «te die Gewohnheit, ihre Kleider zu zerreißen und alle Gegenstände :8! Vgl. Teil 2, Kapitel 4. ii\ Philippe Pinel, a . a . O . , S. 205. . A.a.O., S. 205.
zu zerbrechen, die in Reichweite ihrer Hände waren. Man behandelt sie mit einer Dusche, legt ihr die Zwangsjacke an, so daß sie schließlich »gedemütigt und konsterniert« erscheint. Aber aus Angst, daß diese Scham vorübergehend und die Gewissensbisse zu oberflächlich seien, »spricht der Direktor, um ihr ein Gefühl des Schreckens zu geben, mit fester Energie, jedoch ohne Wut, mit ihr und sagt ihr, daß sie künftig mit größerer Strenge behandelt werden wird«. Das Ergebnis, das man erwartet hat, läßt nicht auf sich warten: »Ihre Reue kündigt sich in einer Welle von Tränen an, die sie zwei Stunden lang vergießt.«28* Der Kreis ist in doppeltem Sinne geschlossen; die Verfehlung ist bestraft, und ihr Urheber bekennt sich für schuldig. Es gibt dennoch Irre, die dieser Bewegung entgehen und der moralischen Synthese widerstehen, die sie bewirkt. Sie werden im Innern des Asyls noch einmal gesondert eingeschlossen und bilden eine Art von internierter Bevölkerung, die nicht einmal von der Justiz erfaßt werden kann. Wenn man von Pinel und seinem Werk der Befreiung spricht, läßt man zu oft jene zweite Einschließung beiseite. Wir haben bereits gesehen, daß er die Vergünstigung der Asylreform den »Devoten, die an Inspirationen glauben und unaufhörlich andere Proselyten zu schaffen suchen und sich ein perfides Vergnügen daraus machen, die anderen irren Frauen zum Ungehorsam unter dem Vorwand zu bewegen, daß es besser sei, Gott zu gehorchen, als den Menschen«, verweigert hat. Aber die Einschließung und der Kerker werden außerdem für diejenigen Frauen obligatorisch, »die nicht dem allgemeinen Gesetz der Arbeit unterworfen werden können und sich in einer stets übeltuenden Aktivität darin gefallen, die anderen irren Frauen zu provozieren und unaufhörlich Gegenstände der Auseinandersetzung heraufzubeschwören«, und für die Frauen, »die während ihres Anfalls eine unwiderstehliche Neigung haben, alles zu rauben, was ihnen in die Hände fällt«. 286 Ungehorsam aus religiösem Fanatismus, Widerstand gegenüber der Arbeit und Diebstahl sind die drei großen Fehlein der bürgerlichen Gesellschaft, die drei Hauptangriffe auf ihre weseni liehen Werte, und sind somit nicht entschuldbar, nicht einmal durch den Wahnsinn. Sie verdienen ganz einfach die Einsperrung in ihrer rigor· · sesten Form, weil sie alle den gleichen Widerstand gegenüber der mor? lischen und gesellschaftlichen Uniformierung manifestieren, die di raison d'être des Asyls, so wie es von Pinel konzipiert ist, bildet.
285 A . a. O., S. 20Ä. a8fi A . a. O., S. 291, Anm. 1.
Einst wurde die Unvernunft von einer Verurteilung freigestellt, um willkürlich den Kräften der Vernunft ausgeliefert zu werden. Jetzt wird sie beurteilt, und zwar nicht nur einmal, beim Eintritt in das Asyl, damit man sie erkennt, klassifiziert und für immer als unschuldig erklärt, sondern sie ist in einer ständigen Beurteilung gefangen, von der sie unaufhörlich verfolgt und gestraft wird, die ständig ihre Verfehlungen erklärt und angemessene Strafen verlangt; schließlich werden diejenigen ausgeschlossen, deren Verfehlungen die richtige soziale Ordnung für längere Zeit zu kompromittieren drohen. Der Wahnsinn ist der Willkür nur entgangen, um in einer A r t unendlichen Prozeß einzutreten, zu dem das Asyl gleichzeitig Polizisten, Untersuchungsführer, Richter und Henker liefert. Das ist ein Prozeß, in dem jede Verfehlung im Leben durch eine der Existenz im Asyl eigene Kraft zu einem gesellschaftlichen Verbrechen wird, das überwacht, verurteilt und bestraft wird; dieser Prozeß hat nur einen Ausweg: ein ständiger Wiederbeginn in der verinnerlichten Form der Gewissensbisse. Der von Pinel »befreite« Irre und, nach ihm, der Irre der modernen Internierung sind Gestalten eines Prozesses. Wenn sie das Privileg haben, nicht mit Verurteilten vermischt oder ihnen angenähert zu werden, werden sie dazu verurteilt, in jedem Augenblick unter der Wucht einer Anklage zu stehen, deren Text nie gegeben wird, denn ihr ganzes Leben im Asyl formuliert ihn. Das Asyl des positivistischen Zeitalters, für dessen Gründung man Pinel rühmt, ist kein freies Feld der Beobachtung, der Diagnose und der Therapie, sondern ein juristischer Raum, in dem man angeklagt, beurteilt und verurteilt wird und lus dem man nur durch die Wendung dieses Prozesses in die psychologische Tiefe, das heißt in die Reue befreit wird. Der Wahnsinn wird im Asyl bestraft, selbst wenn er außerhalb freigesprochen wird. Für 'ange Zeit und mindestens bis zu unserer Epoche wird er in einer moralischen Welt eingekerkert. i >em Schweigen, dem Wiedererkennen im Spiegel und dieser ständigen Beurteilung müßte man eine vierte Struktur hinzufügen, wie sie Jer Welt des Asyls eigen ist, so wie es sich am Ende des achtzehnten jahrhunderts bildet. Es handelt sich dabei um die Apotheose der ärztichen Person. Von allen Strukturen ist dies wahrscheinlich die wichieste, weil sie nicht nur wichtige Kontakte mit dem Kranken gestattet, sondern eine neue Beziehung zwischen Aliénation und dem etlichen Denken, und weil sie schließlich die ganze moderne Erfahrjng des Wahnsinns bestimmt. Bis jetzt fand man im Asyl genau nur
die Strukturen der Internierung, wenn audi abgestuft und deformiert. Mit dem neuen Status der Person des Arztes wird der tiefste Sinn der Internierung beseitigt. Jetzt ist die Geisteskrankheit in den Bedeutungen, die wir ihr heute geben, möglich geworden. Das Werk von Tuke und das von Pinel, deren Geist und Werte so verschieden sind, verbinden sich in dieser Transformation der Gestalt des Arztes. Der A r z t hatte, wie wir sahen, keinen Anteil am Leben in den Internierungshäusern. Nun wird er zur wesentlichen Gestalt des Asyls, bestimmt über die Aufnahme, wie die Ordnung der retreat es betont: »Die Zulassung der Kranken geschieht durch ein im allgemeinen vom Komitee gefordertes und von einem A r z t unterzeichnetes Zertifikat ( . . . ) . Man muß außerdem feststellen, ob der Kranke von einem anderen Leiden als dem Wahnsinn befallen ist. Ebenfalls ist wünschenswert, daß ein Bericht beigefügt wird, der aufführt, seit wann der Patient krank ist und, falls das der Fall ist, welche Medikamente bisher verwandt worden sind.«28? Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts war die ärztliche Bescheinigung für die Internierung der Irren nahezu obligatorisch geworden.288 Im Innern des Asyls selbst aber nimmt der A r z t eine wichtige Stelle ein, die sich danach bemißt, in welchem Maße er die Internierung ärztlich ausrichtet. Dennoch, und darin liegt das Wesentliche, vollzieht sich der Eingriff des Arztes nicht kraft eines Wissens oder einer ärztlichen Macht, die er als ihm eigen besäße und die durch ein Gebiet objektiver Kenntnisse gerechtfertigt wäre. Nicht als Gelehrter nimmt der homo medicus seine Autorität im Asyl wahr, sondern als Weiser. Wenn der ärztliche Beruf gesucht wird, dann als juristische und moralische Garantie und nicht wegen der Wissenschaft.28' Ein Mann hohen Bewußtseins, integrer Tugendhaftigkeit und von langer Erfahrung mit dem Asyl könnte ebenso an seine Stelle treten.290 Die ärztliche Arbeit ist nämlich nur ein Teil einer riesigen Aufgabe, die im Asyl geleistet werden 287 Ordnung der Retreat, Section III, A r t . j , zitiert bei Samuel Tuke, a . a . O . . S. 89 f. 288 »Die Zulassung der Irren oder Wahnsinnigen in den Häusern, die f ü r sie in der ganzen Ausdehnung des Departement von Paris bestimmt sind oder sein werden, wird nach einem Bericht erfolgen, den ein gesetzlich anerkannter A r z t und Chirurg erstellen.« Projet de Règlement sur l'admission des insensés, zitiert bei Tuetev. a. a. O., Bd. 3, S. 500. 289 Langermann und K a n t meinten, die Rolle sollte ein »Philosoph« übernehmen Das widerspricht übrigens nicht der Anschauung, die Tuke und Pinel vertraten. 290 Vgl., was Pinel v o n Pussin und seiner Frau sagt, die er zu seiner Mitarbeiteri.in der Salpêtrière macht. Sémelaigne, a. a. O., S. 502.
muß und allein die Heilung des Irren garantieren kann: »Ein unverletzliches Gesetz in der Leitung jedes öffentlichen Hauses oder jeder Privatstation für Irre muß sein, dem Maniakalischen die ganze Breite der Freiheit zuzugestehen, die seine persönliche Sicherheit oder die der anderen zulassen kann, die Repression nach der mehr oder weniger starken Bedeutung und der Gefahr seiner Eigenheiten zu bemessen ( . . . ) , alle Tatsachen zu sammeln, die zur Aufklärung des Arztes bei der Behandlung dienen können, sorgfältig die besonderen Unterschiede der Sitten und Temperamente zu studieren und hinsichtlich der Sanftheit oder der Strenge vermittelnde Formen oder den imponierenden Ton der Autorität und eine unbeugsame Strenge zu entfalten.«2'1 Nach Samuel Tuke empfahl sich der erste Arzt, der für die retreat bestellt war, durch seine »unermüdliche Ausdauer«. Wahrscheinlich hatte er keinerlei besondere Kenntnisse über die Geisteskrankheiten, als er in der retreat seinen Dienst aufnahm, aber es war »ein sensibler Kopf, der wohl wußte, daß die wertvollsten Interessen seiner Mitmenschen vom Gebrauch seiner Geschicklichkeit abhingen«. Er versuchte die natürlichen Heilmittel, die ihm sein gesunder Menschenverstand und die Erfahrung seiner Vorgänger aufdrängten. Schnell war er aber enttäuscht, nicht darüber, daß die Resultate schlecht waren, oder daß die Zahl der Heilungen gering war: »Aber die ärztlichen Mittel waren so unvollkommen mit der Entwicklung der Heilung verbunden, daß er nicht umhinkam, den Verdacht zu schöpfen, daß sie eher Begleitumstände als Ursachen waren.« 2 ' 2 Er begriff dabei, daß man mit den bis dahin bekannten ärztlichen Methoden wenig ausrichten konnte. Die Sorge um die Humanität hatte bei ihm das Übergewicht, und er entschied, kein Medikament zu benutzen, das dem Kranken zu unangenehm war. Müßte man aber nicht annehmen, daß die Rolle des Arztes eine geringe Bedeutung in der 'etreat hatte? Durch die von ihm regelmäßig den Kranken abgestatteten Besuche, durch die Autorität, die er im Haus ausübte und die ihn über alle Wächter stellte, »besitzt der Arzt einen größeren Einfluß auf den Geist der Kranken als alle anderen Personen, die über sie TU wachen haben.« 2 " Man glaubt, daß Tuke und Pinel das Asyl für die ärztliche Erkenntnis geöffnet haben. Sie haben keine Wissenschaft hineingetragen, son2oi Philippe Pinel, a. a. O., S. 292 f. 102 Samuel Tuke, a. a. O., S. 110 f. A . a . O . , S. 115.
dem eine Gestalt, deren Kräfte dieser Gelehrsamkeit nur ihre Verkleidung entnahmen oder höchstens ihre Rechtfertigung. Jene Kräfte sind von Natur aus zur moralischen und gesellschaftlichen Ordnung gehörig und haben ihre Wurzeln in der Minorität des Irren, in der Aliénation seiner Person, nicht seines Geistes. Wenn die Gestalt des Arztes den Wahnsinn einkreisen kann, bedeutet das nicht, daß er ihn kennt, sondern, daß er ihn bezähmt. Und was für den Positivismus die Gestalt einer Objektivität annimmt, ist nichts anderes als die Kehrseite, der Rückfall dieser Beherrschung. »Es ist ein sehr Bedeutendes, das Vertrauen jener Kranken zu finden und in ihnen Gefühle der Hochachtung und des Gehorsams zu erregen, was nur das Ergebnis der Überlegenheit, der Unterscheidungsfähigkeit, einer hervorragenden Erziehung und der Würde in Ausdruck und Benehmen sein kann. Die Dummheit, die Ignoranz und der Mangel an Prinzipien, unterstrichen durch eine tyrannische Härte, können die Furcht auslösen, aber sie vermitteln stets Verachtung. Der Wächter einer Anstalt, der über die Irren Überlegenheit gewonnen hat, lenkt und regelt ihr Verhalten nach seinem Gutdünken. Er muß mit einem festen Charakter begabt sein und bei Gelegenheit einen imponierenden Machtapparat entfalten. Er darf nur wenig drohen, aber muß seine Macht ausüben, und wenn man ihm nicht gehorcht, muß die Strafe sofort erfolgen.«294 Der Arzt kann seine absolute Macht über die Welt des Asyls nur in dem Maße ausüben, in dem vom Ursprung her er Vater und Richter, Familie und Gesetz ist, wobei seine ärztliche Praxis lange Zeit nur die alten Riten der Ordnung, der Autorität und der Bestrafung kommentiert. Pinel erkennt wohl, daß der A r z t heilt, wenn er außerhalb der modernen Therapien jene archaischen Gestalten mit ins Spiel bringt. Er nennt den Fall eines siebzehnjährigen Mädchens, das seine Eltern mit »extremer Nachsichtigkeit« erzogen hatten. Es war in ein »fröhliches und irres Delirium gefallen, ohne daß man dessen Ursachen bestimmen konnte«. Im Hospital hatte man dieses Mädchen mit größter Sanftheit behandelt, aber es hatte stets eine »hochmütige Miene-·, di. im Asyl nicht zugelassen werden durfte. Es sprach »von seinen Elten nur mit Schärfe«. So wird entschieden, daß es einem Regime strenp ster Autorität unterworfen wird; »der Wächter benutzt die Gelegenheit des Bades, um diesen unbeugsamen Charakter zu bezähmen, une! 294 John Haslam, Observations on insanity laith practical remarks on ιbis disri. London 1798, zitiert von Pinel, a. a. O., S. 2$3 f.
spricht sich mit Nachdruck gegen bestimmte denaturierte Personen aus, die sich gegen die Anweisungen ihrer Eltern aufzulehnen und ihre Autorität zu bestreiten wagen. Er warnt es, daß es künftig mit aller verdienten Strenge behandelt wird, da es sich selbst seiner Heilung widersetzt und mit unüberwindlicher Hartnäckigkeit die ursprüngliche Ursache seiner Krankheit verbirgt.« Durch diese neue Strenge und durch diese Drohung ist die Kranke »tief bewegt ( . . . ) . Sie gesteht schließlich ihr Unrecht ein und gibt endlich zu, daß sie in diesen Irrweg der Vernunft infolge einer unangebrachten Herzensneigung geraten ist, und nennt den Gegenstand, der dies ausgelöst hat.« Nach diesem ersten Geständnis ist die Heilung leidit: »Es hat sich eine sehr günstige Veränderung vollzogen; ( . . . ) künftig ist sie erleichtert und kann ihre Dankbarkeit gegenüber dem Wäditer nicht oft genug ausdrücken, der ihre ständige Erregtheit beseitigt und ihrem Herzen die Ruhe und Ausgeglichenheit wiedergegeben hat.« Jeden Teil dieser Erzählung könnte man in psychoanalytische Begriffe transkribieren, so sehr ist es wahr, daß die Person des Arztes nach Pinel nicht von einer objektiven Definition der Krankheit oder einer bestimmten klassifikatorischen Diagnose aus handeln darf, sondern indem sie sich auf ic.-ne Zauberwirkung verläßt, in die die Geheimnisse der Familie, der Autorität, der Bestrafung und der Liebe eingesdilossen sind. Wer diese Wirkung ins Spiel bringt, dabei die Maske des Vaters und des Richters annimmt, wird als A r z t durch eine jener starken Verkürzungen, die seine ärztliche Zuständigkeit außer adit lassen, zum fast manischen Bewirker der Heilung und nimmt die Gestalt eines Thaumattireen an. Es genügt, daß er hinschaut und spricht, damit die geheimen Verfehlungen erscheinen, damit die wahnsinnigen Anmaßungen ergehen und der Wahnsinn sich schließlich der Vernunft unterordnet. Seine Gegenwart und seine Worte sind mit jener Kraft, den 'Wahnsinn aufzuheben, ausgestattet, die plötzlich die Verfehlung entedet und die Ordnung der Moral wiederherstellt, ist ein eigenartiges Paradox, die ärztliche Praxis in jenes unbemmte Gebiet des Quasi-Wunders in dem Augenblick eintreten zu hen. in dem die Erkenntnis der Geisteskrankheit versucht, einen . -'itiven Sinn anzunehmen. Auf der einen Seite stellt sich der Wahnsinn in einem objektiven Feld in Distanz, in dem die Drohungen der • "Vernunft wieder schwinden. Aber im gleichen Augenblick hat der i r r e Tendenz, mit dem A r z t in einer untrennbaren Einheit eine Art •r zu bilden, in dem die Komplizität sich durch sehr alte Zugeh'ikeitc-n knüpft. Das Leben im Asyl, so wie es Tuke und Pinel gebil-
det haben, hat der Entstehung jener feinen Struktur Vorschub geleistet, die die wesentliche Zelle des Wahnsinns sein wird, einer Struktur, die gewissermaßen einen Mikrokosmos bildet, in dem die großen massiven Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte symbolisch dargestellt werden: die Beziehungen zwischen Familie und Kindern, rund um das Thema der väterlichen Autorität; die Beziehungen zwischen Verfehlung und Bestrafung, rund um das Thema der unmittelbaren Justiz; die Beziehungen zwischen Wahnsinn und Unordnung, rund um das Thema der gesellschaftlichen und moralischen Ordnung. V o n daher erhält der A r z t seine Kraft zu heilen. Und in dem Maße, in dem durch so viele alte Neigungen der Kranke sich bereits in dem A r z t verändert findet, innerhalb des Paares Arzt und Kranker, hat der A r z t die fast wundersame Kraft, ihn zu heilen. Zur Zeit von Pinel und Tuke hatte diese Kraft nichts Außergewöhnliches, sie erklärte sich und zeigte sich allein in der Wirksamkeit des moralischen Verhaltens. Sie war nicht mysteriöser als die Macht des Arztes im achtzehnten Jahrhundert, wenn er die Flüssigkeiten verdünnte oder die Fibern entspannte Sehr schnell ist aber die Bedeutung jener moralischen Praxis dem Arzt entschlüpft, und zwar in dem Ausmaß, in dem er sein Wissen in die Normen des Positivismus zwängte. Seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wußte der Psychiater nicht mehr genau, welcher Natur die Kraft war, die er von den großen Reformatoren geerbt hatte und deren Wirksamkeit ihm so fremd für die Vorstellung erschien, die er sich von der Geisteskrankheit machte, und so fremd für die Praxis aller anderen Ärzte. Jene psychiatrische Praxis, die in ihrem Mysterium angereichert und für diejenigen, die sie verwandten, verdunkelt worden ist, ist in der eigenartigen Situation des Irren innerhalb der ärztlichen Welt von großer Bedeutung; zunächst, weil die Medizin der Geisteskrankheiten zum ersten Mal in der Geschichte der abendländischen Wissenschaft eine fast vollständige Autonomie erlangt: seit den alten Griechen war sie nur ein Kapitel der Medizin, und wir haben gesehen, wie Willis die Wahnsinnsarten unter der Rubrik der »Krankheiten des Kopfes« untersuchte; nach Pinel und Tuke wird die Psychiatrie eine Medizin von besonderem Stil: die hartnäckigsten Forscher bei der Entdeckung des Ursprungs von Wahnsinn in den organischen Ursachen oder in den erblichen Dispositionen werden diesem Stil nidit entgehen. Sie entgehen ihm sogar um so weniger, als dieser besondere Stil - durch das Auftreten immer dunklerer moralischer Kräfte - der Ursprung einer Art schlechten Bewußtseins sein kann. Sie werden sich
immer mehr in den Positivismus verstricken, je mehr sie merken, wie ihre Praxis sich dem völlig entzieht. In dem Maße, in dem sich der Positivismus der Medizin und insbesondere der Psychiatrie aufdrängt, wird diese Praxis dunkler, die Macht des Psychiaters wunderbarer, und das Paar, das Arzt und Kranker bilden, tritt tiefer in eine fremde Welt ein. In den Augen des Kranken wird der A r z t zum Thaumaturg, und die Autorität, die er der Ordnung, der Moral, der Familie entnahm, scheint er jetzt von sich aus zu besitzen. Man glaubt ihn als A r z t mit diesen Kräften ausgestattet, und während Pinel mit Tuke richtig unterstrich, daß seine moralische Handlung nicht notwendig mit einer wissenschaftlichen Kompetenz verbunden sei, wird man, und als erster der Kranke, glauben, daß in seinem esoterischen Wissen, in einem beinahe dämonischen Geheimnis der Erkenntnis er die Kraft gefunden hat, die Wahnsinnsformen zu entknüpfen. Der Kranke wird immer mehr jene Hingabe in die Hand eines Arztes, der, zugleich Teufel und Satan, auf jeden Fall außerhalb menschlichen Ermessens steht, akzeptieren. Er wird sich immer mehr in ihm verlieren, weil er schon im voraus dessen ganze Zauberkraft annimmt und sich dadurch von Anbeginn einem Willen ausliefert, den er als magisch empfindet, und einem Wissen, das er als Voraussehung und Divination vermutet, wodurch er letzten Endes das ideale und perfekte Korrelativ jener Kräfte wird, die er auf den Arzt projiziert, zum reinen Gegenstand ohne jeden anderen Widerstand als seine Untätigkeit, und in voller Bereitschaft, jene hysterische Gestalt zu sein, in der Charcot die wunderbare Kraft des Arztes exaltierte. Wenn man die tiefen Strukturen der Objektivität in der Erkenntnis und in der psychiatrischen Praxis im neunzehnten Jahrhundert analysieren wollte, und zwar von Pinel bis hin zu Freud2", müßte man genau zeigen, daß jene Objektivität vom Ursprung an eine Verdinglichung magischer Ordnung ist, die sich nur mit der Komplizität des Kranken und ausgehend von einer magischen, transparenten und von Anfang an klaren, aber allmählich in dem Maße vergessenen Praxis hat vollziehen können, wie der Positivismus seine Mythen von wissenschaftlicher Objektivität hat durchsetzen können. Es handelt sich um eine in ihren Ursprüngen und ihrer Bedeutung vergessene Praxis, die jedoch stets angewandt wird und stets präsent ist. Was man nun die psychiatrische Praxis nennt, ist
z i j Diese Strukturen bestehen noch in der nicht psychoanalytischen Psychiatrie und auf verschiedenen Seiten der Psychoanalyse selbst fort.
eine bestimmte moralische, dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts zeitgenössische Taktik, die in den Riten des Lebens im A s y l bewahrt und von den Mythen des Positivismus neu entdeckt wurde. Wenn aber der A r z t schnell zum Thaumaturgen für den Kranken wird, kann er es in seinen eigenen Augen, denen eines positivistischen Arztes, nidit sein. Jener dunklen Kraft, deren Ursprung er nidit mehr kennt, in der er die Komplizität des Kranken nicht mehr entziffern kann, und bei der er nicht zustimmen würde, die alten Kräfte darin anzuerkennen, aus denen er hervorgegangen ist, dieser dunklen Kraft muß er einen Status verleihen. D a nichts in der positiven Erkenntnis eine ähnlidie Willensverschiebung oder ähnlidie, auf Entfernung vorgenommene Veränderungen rechtfertigen kann, wird sdinell der A u genblick kommen, in dem der Wahnsinn für jene Anomalien für verantwortlidi gehalten wird. Jene Heilungen ohne Unterstützung, und bei denen man wohl zugeben muß, daß sie keine falschen Heilungen sind, werden die wahren Heilungen von falschen Krankheiten. Der Wahnsinn war nidit, was man glaubte oder was zu sein er vorgab: er war unendlich weniger als er selbst, eine Ganzheit von Überzeugung und Mystifizierung. Man sieht, wie sidi das abzeidinet, was der Pithiatismus von Babinski sein wird. In einer eigenartigen Umkehr schreitet das Denken fast zwei Jahrhunderte zurück zu der Epoche, in der zwischen Wahnsinn, falschem Wahnsinn und simuliertem Wahnsinn die Grenze schlecht festzustellen war, weshalb eine gemeinsame, konfuse Zugehörigkeit zum Bereich des Wahnsinns ihnen einen einheitlidien O r t gab; und sogar noch weiter entfernt vollzieht das ärztliche Denken schließlich eine Assimilierung, vor der das ganze abendländische Denken seit der griechischen Medizin gezögert hatte: die Assimilierung des Wahnsinns und des Wahnsinns, das heißt: des ärztlichen Begriffs lind des kritischen Begriffs von Wahnsinn. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts und im Denken der Zeitgenossen von Babinski findet man jenes außerordentliche Postulat, das keine Medizin bisher zu formulieren gewagt hatte, nämlich daß der Wahnsinn letzten Endes nur Wahnsinn sei. Während der Geisteskranke völlig in der wirklichen Gestalt seine Arztes entfremdet wird, löst so der A r z t die Realität der Geisteskrankheit im kritischen Begriff von Wahnsinn auf. Infolgedessen bleibt außerhalb der leeren Formel des positivistischen Denkens nur noch eine konkrete Realität übrig: das Paar, das A r z t und Kranker bilden, in dem sich alle Alienationsformen resümieren, verknüpfen und auflösen. In diesem Ausmaß konvergiert die Psychiatrie des neun
zehnten Jahrhunderts erst wirklich auf Freud zu, der als erster die Realität des aus Arzt und Krankem bestehenden Paars akzeptiert hat und sich dazu entschloß, von ihnen seinen Blick und seine Untersuchung nicht abzulenken; der als erster nicht versucht hat, diese Realität in einer psychiatrischen Theorie wohl oder übel zu verschleiern, die mit dem Rest der ärztlichen Kenntnisse in Einklang gebracht würde. Als erster hat er die Konsequenzen, die sich aus der Realität dieses Paares ergaben, mit aller Strenge verfolgt. Freud hat alle anderen Strukturen des Asyls entmystifiziert, er hat das Schweigen und den Blidc beseitigt, er hat das Wiedererkennen des Wahnsinns durch sich selbst im Spiel seines eigenen Schauspiels aufgehoben und läßt die Instanzen der Verurteilung zum Schweigen kommen. Jedoch hat er dagegen die Struktur, die die ärztliche Gestalt einhüllte, ausgebeutet, indem er deren thaumaturgische Kräfte erweitert und dem A r z t den quasi göttlichen Status der Allmächtigkeit verliehen hat. Er hat auf dessen alleinige Anwesenheit, die hinter dem Kranken und über ihm verborgen war, und zwar in einer Abwesenheit, die ebenfalls völlige Anwesenheit ist, alle jene Mächte vereinigt, die in der kollektiven Existenz des Asyls aufgeteilt waren. Er hat aus dem A r z t den absoluten Blick, das reine und stets verhaltene Schweigen, den strafenden und durch ein Urteil, das nicht einmal bis zur Sprache sich herabläßt, belohnenden Richter gemacht. Er hat aus dem Arzt den Spiegel gemacht, in dem der Wahnsinn in einer Art unbeweglicher Bewegung sich seiner selbst vergewissert und entledigt. Freud hat alle Strukturen, die Pinel und Tuke in der Internierung angebracht hatten, in die Hände des Arztes übergehen lassen. Er hat den Kranken zwar von jener Existenz im Asyl befreit, in die ihn seine Befreier« gestellt hatten, aber er hat ihn nicht von dem befreit, was es in dieser Existenz an Essentiellem gab. Er hat seine Kräfte neu gruppiert, er hat sie bis zum Maximum angespannt, indem er sie zwischen den Händen des Arztes verknüpfte. Er hat die psychoanalytische Situation geschaffen, in der durch einen genialen Kurzschluß die Aliénation zur Aufhebung der Aliénation wird, weil sie im Arzt zum Subjekt wird. Der Arzt als alienierende Gestalt bleibt der Schlüssel der Psychoanalyse. Vielleicht kann die Psychoanalyse und vielleicht wird die Psychoanalyse jene Stimmen der Unvernunft nicht hören können, noch tür sie selbst die Zeichen des Irrsinns entziffern können, weil sie jene 'etzte Struktur nicht aufgehoben und darin alle anderen zusammenceführt hat. Die Psychoanalyse kann einige der Wahnsinnsformen
auflösen; sie bleibt der souveränen Arbeit der Unvernunft fremd. Sie kann weder befreien noch transkribieren, geschweige denn erklären, was es in dieser Mühe an Essentiellem gibt. Seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts manifestiert sich das Leben der Unvernunft nur noch im Aufblitzen von Werken wie Hölderlins, Nervals, Nietzsches oder Artauds, die unendlich irreduzibel auf jene Alienationen sind, die heilen, weil sie durch ihre eigene Kraft jenem gigantischsten moralischen Gefangenendasein widerstehen, das man gewöhnlich, wahrscheinlich in einer Antiphrase, die Befreiung der Irren durch Pinel und Tuke nennt.
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Schluß
Der anthropologische Kreis
Es geht hier nicht um einen Abschluß, denn das Werk von Pinel und das von Tuke sind keine Endpunkte. In ihnen manifestiert sich lediglich plötzlich in einer neuen Figur eine Umstrukturierung, deren Ursprung sich in einem Ungleichgewicht verbarg, das der klassischen Erfahrung mit dem Wahnsinn inhärent war. Die Freiheit des Irren, die Pinel und Tuke den Irren gegeben zu haben glaubten, gehörte seit langem seinem Existenzgebiet zu. Diese Freiheit war, das steht fest, in keiner positiven Geste gegeben oder angeboten worden, sondern kreiste stumm um Praktiken und Begriffe, wie eine halberkannte Wahrheit, wie eine noch unbestimmte Forderung an den Grenzen des Gesagten, Gedachten und hinsichtlich des Irren Getanen, als hartnäckige Präsenz, die sich nun völlig erfassen ließ. Dennoch bleibt zu fragen, ob diese Freiheit nicht fest in dem Begriff des Wahnsinns selbst impliziert war, wenn man ihn nur bis zu seinem äußersten Punkte getrieben verstand. War sie nicht notwendig mit jener großen Struktur verbunden, die vom Mißbrauch einer stets mit sich selbst kompl izenhaftcn Leidenschaft bis zur genauen Logik des Deliriums ging? Wie stand es mit jener Bekräftigung, die, indem sie das Bild des Traumes in das Nicht-Sein der Verirrung transformierte, den Wahnsinn ausmachte; konnte man verneinen, daß es darin etwas Freiheit gebe? Im Grunde war der Wahnsinn nur in dem Maße möglich, in dem um ihn herum es jene Weite und jenen Spielraum gab, der der Person gestattete, selbst die Sprache ihres eigenen Wahnsinns zu sprechen und sich als Irrer zu konstituieren. Diese fundamentale Freiheit des Irren nannte Sauvages in der Naivität einer wunderbar fruchtbaren Tautologie »das bißchen Mühe, das die Suche der Wahrheit und unsere Urteilsbildung machen«.2'5 Und jene Freiheit, die die Internierung im Augenblick ihrer Unterdrückung mit dem Finger bezeichnete? In der Befreiung des Individuums von den unendlichen Aufgaben und Folgen seiner Zurechnungsfähigkeit stellt die Internierung das Individuum bei weitem nicht in ein neutralisiertes Milieu, wo alles in der Monotonie eines ipn Boissier de Sauvages, Nosologie méthodique, Bd. 7, S. 4.
gleichen Determinismus ausgeglichen wäre. Tatsächlich interniert man oft, damit die Person einer Verurteilung entgeht, aber man interniert in eine Welt, in der es sich um das Böse und Bestrafung, Libertinage und Unmoral, Buße und Züchtigung handelt. Es ist eine Welt, in der unter diesen Schatten die Freiheit umgeht. Diese Freiheit haben die Ärzte selbst kennengelernt, als sie zum ersten Mal mit dem Wahnsinn in der gemischten Welt der körperlichen Bilder und organischen Mythen in Berührung kamen und entdeckten, daß, eingegliedert in vielerlei Mechanismen, die Verfehlung stumm präsent war: in Leidenschaft, Zügellosigkeit, Müßiggang, angenehmem Leben der Städte, gieriger Lektüre, Komplizität der Vorstellungskraft, gleichzeitig zu erregbarer und zu unruhiger Sensibilität, all den vielen gefährlichen Spielen der Freiheit, in denen die Vernunft wie von selbst in den Wahnsinn zu stürzen droht. Es handelt sich um eine hartnäckige und sehr gefährdete Freiheit. Sie bleibt stets am Horizont des Wahnsinns, aber sobald man sie einkreisen will, verschwindet sie. Sie ist nur in der Form einer drohenden Beseitigung präsent und möglich. Halb erkannt in den extremen Regionen, in denen der Wahnsinn von sich selbst reden könnte, erscheint die Freiheit dann, wenn der Blick sich auf sie heftet, nur noch eingegliedert, gezwungen und reduziert. Die Freiheit des Irren liegt nur in diesem Augenblick und in dieser unwahrnehmbaren Distanz, die ihm die Freiheit geben, seine Freiheit aufzugeben und sich an seinen Wahnsinn zu ketten. Sie ist nur in jenem virtuellen Punkt der Wahl vorhanden, in dem wir uns entscheiden, »uns in die Unfähigkeit zu begeben, unsere Freiheit zu gebrauchen und unsere Irrtümer zu korrigieren«.25'' Dann ist sie nur noch körperlicher Mechanismus, eine Verkettung von Phantasmen und Notwendigkeiten des Deliriums. Saint Vincent de Paul, der diese Freiheit dunkel in der Geste der Internierung vermutete, stellte doch sehr genau den Unterschied zwischen zurechnungsfähigen Libertinern, »schmerzbringenden Kindern ( . . . ) , Makel und Untergang ihres Hauses«, und den Irren fest, die »wirklich Mitleid verdient haben ( . . . ) , weil sie nicht Herr ihres Willens sind und weder Urteilsfähigkeit noch Freiheit besitzen«.2'8 Die Freiheit, von der aus der klassische Wahnsinn möglich ist, erstickt in jenem Wahnsinn und verfällt in das, was auf grausamste Weise seinen Widerspruch ausmacht.
297 Ebda. 298 Louis Abelly, La vie de saint Vincent de Paul, Paris 1813, Bd. 2, Kapitel 13.
Das Paradox jener konstitutiven Freiheit muß das sein, wodurdi der frre zum Irren wird, das heißt auch das, wodurch er mit dem NichtWahnsinn kommunizieren kann, solange der Wahnsinn noch nicht vorhanden ist. Von Anfang an entgeht er sich selbst und seiner Wahrheit als der eines Irren, indem er in einer Region, die weder Wahrheit noch Unschuld ist, auf die Gefahr der Verfehlung, des Verbrechens oder der Komödie trifft. Jene Freiheit, die ihn im sehr ursprünglichen, sehr dunklen und sehr schwierig zuweisbaren Augenblick; der Trennung auf die Wahrheit verzichten ließ, verhindert, daß er jemals zum Gefangenen seiner Wahrheit wird. Er ist nur in dem Maße irre, in dem sein Wahnsinn sich nicht in seiner Wahrheit als der des Irren erschöpft. Deshalb kann der Wahnsinn in der klassischen Erfahrung gleichzeitig etwas kriminell, etwas gespielt, etwas unmoralisch, etwas vernünftig sein. Es geht nicht um eine Konfusion im Denken oder um einen geringeren Grad an Elaboration, sondern es ist nur die logische Wirkung einer sehr kohärenten Struktur. Der Wahnsinn ist nur von einem sehr fernen Augenblick her möglich, der aber sehr notwendig ist und in dem er sich sich selbst in dem freien Raum seiner NichtWahrheit entreißt, wodurch er sich gewissermaßen als Freiheit konstituiert. In genau diesem Punkt steht das Vorgehen von Pinel und Tuke innerhalb der klassischen Erfahrung. Jene Freiheit als konstanter Horizont der Begriffe und Praktiken, als Forderung, die sich selbst verbarg und wie in ihrer eigenen Bewegung aufhob, diese doppeldeutige Freiheit, die im Herzen der Existenz des Irren stand, sucht man jetzt in den Fakten als Rahmen seines realen Lebens und als notwendiges Element für das Erscheinen seiner Wahrheit als der eines Irren. Man versucht, sie in einer objektiven Struktur zu erfassen, aber in dem Augenblick, in dem man sie zu ergreifen, festzumachen und zur Geltung zu bringen glaubt, erreicht man nur die Ironie der Widersprüche: - man läßt die Freiheit des Irren spielen, aber in einem geschlosseneren, festeren, weniger freien Raum als dem der Internierung, der stets ein wenig unbestimmt ist; - man befreit ihn von seiner Verwandtschaft mit dem Verbrechen und dem Bösen, aber um ihn den strengen Mechanismen eines Determinismus einzuschließen. Er ist nur in der Absolutheit einer Nicht-Freiheit völlig schuldlos; - man löst die Ketten, die den Gebrauch seines freien Willens behinderten, aber um ihn jenes Willens zu entledigen, der in den Willen des Arztes verlagert und verändert wird.
Der Irre ist künftig völlig frei und völlig von der Freiheit ausgeschlossen. Einst war er während des kurzen Augenblicks frei, als er seine Freiheit verlor, während er jetzt in dem weiten Raum frei ist, in dem er die Freiheit bereits verloren hat. Es handelt sich nidit um eine Befreiung der Irren am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, sondern um eine Objektivierung des Begriffs ihrer Freiheit. Diese Objektivierung hatte eine dreifache Folge. Zunächst handelt es sich wohl um die Freiheit hinsichtlich des Wahnsinns. Es handelt sich nidit nur um eine Freiheit, die man am Horizont des Möglichen wahrnahm, sondern um eine Freiheit, die man in den Dingen und durch die Mechanismen zu verfolgen versuchte. In der Reflexion über den Wahnsinn und bis in die ärztliche Analyse, die man von ihm macht, wird es sich nicht um die Frage der Verfehlung und des Nicht-Seins, sondern um die Freiheit in ihren realen Determinationen handeln: um das Verlangen und das Wollen, den Determinismus und die Zuredinungsfähigkeit, das Automatische und die Spontaneität. Von Esquirol bis Janet, wie von Reil bis zu Freud oder von Tuke bis zu Jackson wird der Wahnsinn des neunzehnten Jahrhunderts unermüdlidi die Peripetien der Freiheit berichten. Die Nacht des modernen Irren ist nicht mehr die traumhafte Nacht, in der die falsche Wahrheit der Bilder aufsteigt und aufflammt; es ist jene Nacht, die unmögliche Wünsche und die Wildheit eines in der Natur höchst unfreien Wollens mit sich trägt. Jene Freiheit findet sich objektiv auf der Ebene der Tatsachen und Beobachtungen, genau aufgeteilt in einen Determinismus, der sie völlig verneint und eine genaue Schuldhaftigkeit, die sie erhöht. Die Ambiguität des klassischen Denkens über Verfehlung und Wahnsinn wird sich jetzt auflösen, und das psychiatrische Denken des neunzehnten Jahrhunderts wird gleichzeitig den Determinismus suchen und den Punkt des Hineingelangens einer Schuldhaftigkeit zu definieren versuchen. Die Diskussionen über die verbrecherischen Wahnsinnsarten, die Geltung der allgemeinen Paralyse und das große Thema der Degeneration, die Kritik der hysterischen Ersdieinungen, alles dies wird die ärztliche Untersuchung von Esquirol bis zu Freud beleben und rührt von jener doppelten Anstrengung her. Der Irre de·, neunzehnten Jahrhunderts wird determiniert und schuldig sein. Seine Nicht-Freiheit ist mehr von Verfehlungen durchdrungen als die Freiheit, durch die der klassische Irre sich selbst entkam. Der befreite Irre steht jetzt mit sich selbst auf einer Stufe, das heißt, daß er seiner eigenen Wahrheit nicht mehr entgehen kann; er ist in sie
gestürzt, sie konfisziert ihn völlig. Die klassische Freiheit stellte den Irren in eine Beziehung zu seinem Wahnsinn, in eine doppeldeutige, bewegliche, stets losgelöste Beziehung, die jedoch den Irren daran hinderte, mit seinem Wahnsinn nur ein und dasselbe zu bilden. Die Freiheit, die Tuke und Pinel dem Irren auferlegt haben, schließt diesen in eine bestimmte Wahrheit ein, der er nur passiv entgehen kann, wenn er von seinem Wahnsinn befreit wird. Der Wahnsinn ist von dann an nur ein Anzeichen für eine bestimmte Beziehung des Menschen zu der Wahrheit, eine Beziehung, die wenigstens leise stets die Freiheit impliziert. Sie zeigt lediglich eine Beziehung des Menschen zu seiner Wahrheit an. Im Wahnsinn fällt der Mensch in seine Wahrheit; das ist eine Art, völlig wahnsinnig zu sein, aber auch ebenso eine Art, ihn zu verlieren. Der Wahnsinn wird nicht mehr vom NichtSein sprechen, sondern vom Sein des Menschen in dem Inhalt dessen, was er ist, und in dem Vergessen dieses Inhalts. Während er einst in Beziehung zum Sein Fremder war, ein Mensch des Nichts, der Illusion, fatuus (paradoxe Manifestation der Leere des Nicht-Seins), wird er jetzt in seiner eigenen Wahrheit zurückgehalten und dadurch sogar von ihr entfernt. Er wird in Beziehung zu sich ein Fremder sein, ein Entfremdeter. Der Wahnsinn besitzt jetzt eine anthropologische Sprache, durch die er gleichzeitig in einem doppeldeutigen Moment, aus dem er für die moderne Welt seine beunruhigenden Kräfte bezieht, die Wahrheit des Menschen und den Verlust jener Wahrheit und infolgedessen die Wahrheit jener Wahrheit anvisiert. Diese harte Sprache ist in ihren Versprechungen reich und in ihrer Reduktion ironisdi. Es ist die zum ersten Mal seit der Renaissance wiedergefundene Sprache des Wahnsinns, deren erste Worte wir uns anhören sollten. Der klassisdie Wahnsinn gehörte zum Gebiet des Schweigens. Seit langem war jene Sprache seiner selbst über ihn selbst, in der sein Lob gesungen wurde, verstummt. Natürlich sind die Texte des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts sehr zahlreich, in denen es um die Frage des Wahnsinns geht, aber er wird dort als Beispiel, als medizinische Art oder deshalb zitiert, weil er die taube Wirklichkeit der Verfehlung illustriert. Man nimmt den Wahnsinn von der Seite her wahr, in seiner negativen Dimension, weil er ein Beweis a contrario dafür ist. was in ihrer positiven Natur die Vernunft ist. Sein Sinn kann nur dem Arzt und dem Philosophen erscheinen, das heißt jenen, die fähig 'id. die tiefere Natur des Wahnsinns zu erkennen und sie in ihrem
Nicht-Sein zu bezähmen und in Richtung der Wahrheit zu überschreiten. In sich ist er ein stummes Ding; im klassischen Zeitalter gibt es keine Literatur des Wahnsinns in dem Sinne, daß es für den Wahnsinn keine autonome Sprache gibt, keine Möglichkeit, daß er über sich wahrheitsgemäß reden könnte. Man erkannte die geheime Sprache des Deliriums an, man hielt über ihn wahre Reden, aber er hatte nicht die Kraft, von allein durch ein ursprüngliches Recht und durch seine eigene Kraft die Synthese seiner Sprache und der Wahrheit zu vollziehen. Seine Wahrheit konnte nur in einen Diskurs eingehüllt werden, der ihm äußerlich blieb. »Die sind von Sinnen!« Descartes macht in der Bewegung, durch die er bis zur Wahrheit vordringt, die Lyrik der Unvernunft unmöglich. Was bereits der Neveu de Rameau anzeigte und nach ihm eine ganze Literaturmode, ist das Wiedererscheinen des Wahnsinns im Gebiet der Sprache, einer Sprache, in der es gestattet war, in der ersten Person zu reden und unter soviel nichtigen Worten und in der irren Grammatik ihrer Paradoxe etwas auszusprechen, was eine wesentliche Beziehung zur Wahrheit hatte. Diese Beziehung beginnt jetzt, sich zu entwirren und sich in ihrer ganzen diskursiven Entwicklung darzustellen. Was der Wahnsinn über sich selbst sagt, ist für das Denken und die Poesie am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts das. was der Traum in der Unordnung seiner Bilder ebenfalls ausspricht: eine Wahrheit über den Menschen, die sehr archaisch und sehr nahe, sehr schweigend und sehr bedrohlich ist; eine Wahrheit unterhalb jeder Wahrheit, der Entstehung der Subjektivität äußerst benachbart und auf der Ebene der Dinge sehr verbreitet; eine Wahrheit, die der völlige Rückzug der Individualität der Menschen und die inchoative Form des Kosmos ist. So finden sich in der gemeinsamen Sprache von Traum und Delirium die Möglichkeit einer Lyrik des Verlangens und die Möglichkeit einer Poesie dei Welt verbunden, da Wahnsinn und Traum gleichzeitig der Moment der äußersten Subjektivität und der ironischen Objektivität sind und es infolgedessen keinen Widerspruch gibt: die Poesie des Herzens in der endlichen Einsamkeit ist durch eine unmittelbare Umkehrung in der Verzweiflung ihrer Lyrik der ursprüngliche Gang der Dinge. Die angesichts des Tumults des Herzens lange schweigsame Welt findet darin ihre Stimme wieder. Jenseits des langen Schweigens in der klassischen Epoche findet der Wahnsinn also seine Sprache wieder, aber eine Sprache, die völlig andere Bedeutungen trägt. Vergessen sind die alten tragischen Reden der Renaissance, in denen es sich um die Zerrissenheit der Welt, um
das Ende der Zeiten, um den von der Animalität verschlungenen Menschen handelte. Die Sprache des Wahnsinns entsteht von neuem, aber als lyrischer Ausbruch. Es wird die Entdeckung gemacht, daß im Menschen das Innere ebenso äußerlich ist, daß die Subjektivität im Extrem sich mit der unmittelbaren Faszination des Objekts identifiziert, daß jedes Ende für die hartnäckige Wiederkehr bestimmt ist. In dieser Sprache erscheinen nicht mehr die unsichtbaren Gestalten der Welt, sondern die geheimen Wahrheiten des Menschen. In ein und derselben Bewegung stellt sich der Irre als Erkenntnisobjekt in seinen äußersten Determinationen und als Thema des Wiedererkennens dar, indem er umgekehrt jenen einhüllt, der ihn mit allen hinterhältigen Vertrautheiten ihrer gemeinsamen Wahrheit erfaßt. Aber dieses Wiedererkennen wird von der Reflexion im Gegensatz zur lyrischen Erfahrung nicht angenommen. Sie stellt sich dagegen, indem sie mit einem mit der Zeit wachsenden Nachdruck versichert, daß der Irre nur ein Ding, und zwar ein ärztliches Ding sei. A n der Oberfläche der Objektivität so gebrochen, zerstreut sich der unmittelbare Inhalt jenes Erkennens in einer Fülle von Antinomien. Aber täuschen wir uns darin nicht; unter ihrem spekulativen Ernst handelt es sich nämlich um die Beziehung des Menschen zum Irren und um jenes fremde Gesicht, das so lange fremd war, jetzt aber die Kraft eines Spiegels annimmt. I. Der Irre enthüllt die elementare Wahrheit des Menschen. Sie reduziert ihn auf seine primitiven Wünsche, auf seine einfachen Mechanismen, auf die drängendsten Determinationen seines Körpers. Der Wahnsinn ist eine A r t chronologische und gesellschaftliche, psychologische und organische Kindheit des Menschen. »Wieviel Analogie gibt es zwischen der Kunst, die Irren zu leiten, und der, die Jugend zu erziehen!« stellte Pinel fest. 2 " Der Irre enthüllt aber die endgültige Wahrheit des Menschen. Er zeigt, bis wohin die Leidenschaft des Menschen, das gesellschaftliche Leben und alles, was ihn von einer primitiven Natur abhält, die den Wahnsinn nicht kennt, haben bringen können. »Nach dem Zeugnis der Reisenden haben die Wilden keine gestörten geistigen Funktionen.«*00 Der Wahnsinn beginnt mit dem Alter der Welt, und jedes Gesicht, das der Wahnsinn im Laufe der Zeit annimmt, nennt die Form und die Wahrheit jener Verderbnis. J99 Pinel, ohne Angabe zitiert bei Sémelaigne, Philippe Pinel et son oeuvre, S. ι ο ί , ιοο Matthey, a a. Ο., S. 6γ.
2. Der Wahnsinn praktiziert im Menschen eine A r t zeitlosen Einschneidens. Er zerlegt nicht die Zeit, sondern den Raum; er steigt den Lauf der menschlichen Freiheit nidit hinauf, noch hinab; er zeigt deren Unterbrechung, deren Gefangensein im Determinismus des Körpers. In ihm triumphiert das Organische, die einzige Wahrheit des Menschen, die wissenschaftlich objektivierbar ist und wahrgenommen werden kann. Der Wahnsinn »ist die Störung der Hirnfunktionen. ( . . . ) Die Teile des Hirns sind der Sitz des Wahnsinns, wie die Lunge der Sitz der Atembeschwerden und der Magen der Sitz der Dyspepsie ist.«30' Aber der Wahnsinn unterscheidet sich von den Körperkrankheiten darin, daß er eine Wahrheit manifestiert, die in diesen nicht auftaucht. Er läßt eine innere Welt von schlechten Instinkten, von Perversität, von Leiden, von Gereiztheit entstehen, die bis dahin in Schlaf versunken war. Er läßt eine Tiefe erscheinen, die der Freiheit des Menschen ihren ganzen Sinn gibt. Jene im Wahnsinn an den T a g gebrachte Tiefe ist die Bosheit im Naturzustand. » ( . . . ) denn vorhanden ist es [das Böse] in dem Herzen, weil dieses als unmittelbar natürlich und selbstisch ist. Es ist der böse Genius des Menschen, der in der Verrücktheit herrschend wird ( . . .).«30ί Heinroth sagte im gleichen Sinne, daß der Wahnsinn »das Böse überhaupt« sei. 3. Die Unschuld des Irren wird durch die Intensität und die Kratl jenes psychologischen Inhalts garantiert. Durch die Kraft seiner Leidenschaften angekettet und durch die Lebhaftigkeit seiner Wünsche und der Bilder fortgerissen, wird der Irre unzurechnungsfähig. Seine Unzurechnungsfähigkeit ist eine Angelegenheit ärztlichen Abwägens denn sie resultiert aus einem objektiven Determinismus. Der Wahnsinn einer Handlung mißt sich an der Zahl der Gründe, die sie determiniert haben. Der Wahnsinn einer Handlung mißt sich aber genau nach der Tatsache, daß keine Vernunft ihn jemals ausschöpfen kann. Die Wahrheit des Wahnsinns liegt in einem Automatismus ohne Verkettung. Je mehr eine Handlung der Vernunft entbehrt, um so größer ist die Chance, daß sie allein durch die Determinierung des Wahnsinns entstanden ist, weil die Wahrheit des Wahnsinns im Menschen die Wahrheit dessen ist, was vernunftlos ist, dessen, was sich nur.
hing von der Wahrheit und vom Grunde seines Wahnsinns her möglich. Es gibt in der Nicht-Vernunft des Wahnsinns die Vernunft der Umkehr, und wenn die unglückliche Objektivität, in der sich der Irre verliert, noch ein Geheimnis enthält, dann ist es das der möglichen Heilung. Wie die Krankheit nicht den völligen Verlust der Gesundheit bedeutet, so bedeutet der Wahnsinn nicht »den abstrakten Verlust der Vernunft«, sondern »den Widerspruch in der noch existierenden Vernunft«; infolgedessen setzt »die Behandlung daher den Kranken als Vernünftiges (voraus) und (hat) hieran den festen Halt, an dem sie ihn nach dieser Seite erfassen kann ( . . .)«.301 Die menschliche Wahrheit, die der Wahnsinn entdeckt, ist aber der unmittelbare Widerspruch dessen, was die moralische und gesellschaftliche Wahrheit des Menschen ist. Der Anfangsmoment jeder Behandlung muß also die Repression jener unzulässigen Wahrheit, die Beseitigung des darin herrschenden Bösen und das Vergessen jener Gewalttaten und Wünsche sein. Die Heilung des Irren liegt in der Vernunft des anderen, denn seine eigene Vernunft ist nur die Wahrheit des Wahnsinns: »Eure Vernunft sei ihre Verhaltensregel. Eine einzige Saite vibriert noch bei ihnen, die des Schmerzes; seid mutig genug, sie zu berühren.«304 Der Mensch wird also über seine Wahrheit nur in der Heilung, die ihn von seiner entfremdeten Wahrheit zur Wahrheit des Menschen bringt, das Wahre sprechen: »Der gewalttätigste und gefährlichste Irre ist auf zartem und versöhnlichem Wege durch eine rührende Sensibilität der gelehrigste und interessewürdigste Mensch geworden. «305 Unermüdlich werden diese Antinomien wiederaufgenommen und begleiten während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts die Überlegungen hinsichtlich des Wahnsinns. In der unmittelbaren Totalität der poetischen Erfahrung und in der lyrischen Anerkennung des Wahnsinns waren sie bereits in der ungeteilten Form einer mit sich selbst versöhnten Dualität vorhanden. Sie waren bezeichnet, aber in dem kurzen Glück einer noch nicht geteilten Sprache wie der Knoten der Welt und des Wunsches, des Sinns und des Nicht-Sinns, der Nacht der Vollendung und der ursprünglichen Morgenröte. Für die Reflexion werden diese Antinomien dagegen nur in der extremen Dissoziation gegeben sein. Sie werden dann Maß und Entfernung anneh-
103 Ebda. 104 François Leuret, Du traitement moral de la folie, Paris 1840. ιοί Pinel, Traité médico-philosophique, S. 214.
men und in der Langsamkeit der Sprache der Widersprüche wahrgenommen werden. Was das Doppeldeutige war in einer fundamentalen und konstitutiven Erfahrung des Wahnsinns, wird sidi schnell im Netz der theoretischen Konflikte über die zu gebende Interpretation der Ersdieinungsform des Wahnsinns verlieren. Es ist ein Konflikt zwischen einer historischen, soziologischen, relativistischen Konzeption des Wahnsinns (Esquirol, Michéa) und einer Analyse strukturalen Typs, die die Geisteskrankheit als eine Involution, eine Degeneration und ein fortschreitendes Gleiten zum Nullpunkt der menschlichen Natur (Morel) analysiert. Es ist auch ein Konflikt zwischen einer spiritualistischen Theorie, die den Wahnsinn als eine Veränderung der Beziehung des Geistes zu sich selbst definiert (Langermann, Heinroth), und einer materialistischen Bemühung, den Wahnsinn in einen differenzierten organischen Raum zu stellen (Spurzheim, Broussais). Es ist der Konflikt zwischen der Forderung nach einem ärztlichen Urteil, das die Unzurechnungsfähigkeit des Irren am Grad der Determination durch die Mechanismen bemißt, die dabei eine Rolle gespielt haben, und der unmittelbaren Bewertung des wahnsinnigen Charakters in seinem Verhalten (die Polemik zwischen Élias Régnault und Marc). Es ist schließlich der Konflikt zwischen einer humanitären Auffassung der Therapie wie bei Esquirol und der Anwendung der berühmten »moralischen Behandlungsmethoden«, die aus der Internierung das Hauptmittel der Unterwerfung und der Repression machen (Guislain und Leuret). Einer späteren Untersuchung müssen wir die detaillierte Exploration dieser Antinomien vorbehalten. Sie kann sich nur in der sorgfältigen Inventarisierung all dessen vollziehen, was im neunzehnten Jahrhundert die Erfahrung mit dem Wahnsinn in seiner Totalitär ausgemacht hat, das heißt in der Gesamtheit seiner wissenschaftlich erklärten Formen und seiner stummen Aspekte. Wahrscheinlich würde eine solche Analyse ohne Schwierigkeit zeigen, daß das System der Widersprüche sich auf eine verborgene Kohärenz zurückbezieht; daß diese Kohärenz die eines anthropologischen Denkens ist, das sich in der Diversität der wissenschaftlichen Formulierungen aufrechterhält und darin seine Geltung hat; daß sie den historischen, aber beweglichen Boden dafür bildet, daß die Entwicklung der Begriffe von Esquirol und Broussais bis hin zu Janet, Bleuler und Freud möglich war; daß jene anthropologische Struktur mit ihren drei Begriffen - Mensch, Wahnsinn, Wahrheit - sich an die Stelle der binären Struk-
tur der klassischen Unvernunft (Wahrheit und Irrtum, Bild und Phantasma, Sein und Nicht-Sein, Tag und Nacht) gesetzt hat. Es waren im wesentlichen drei Begriffe, die am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Kenntnis vom Wahnsinn neu strukturierten. Allgemeine Paralyse, moralischer Wahnsinn und Monomanie haben sicherlich nicht das gesamte Feld der psychiatrischen Erfahrungen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bedeckt, sie haben es jedoch in weitem Maße ausgefüllt.' 05 Ihre Ausdehnung stellt nicht nur eine Reorganisation des nosographischen Raumes dar, sondern unterhalb der ärztlichen Begriffe auch die Präsenz und die Arbeit einer neuen Erfahrungsstruktur. Die institutionelle Form, die Pinel und Tuke umrissen haben, jene Bildung eines Asylraumes um den Irren, in dem er seine Schuldhaftigkeit anerkennen und sich davon befreien, die Wahrheit seiner Krankheit erscheinen lassen und sie unterdrücken, mit seiner Freiheit erneut eine Verbindung eingehen muß, indem er sie in den Willen des Arztes überträgt, alles das wird jetzt zu einem Apriori der ärztlichen Perzeption. Während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts wird der Irre nicht mehr anders als auf dem Hintergrund einer impliziten Anthropologie gekannt und anerkannt werden, die von der gleichen Schuldhaftigkeit, von der gleichen Wahrheit und der gleichen Aliénation spricht. Allerdings mußte der erst in die Problematik des Menschen gestellte Irre den wahren Menschen mit sich ziehen und ihn mit seinem neuen Schicksal verbinden. Wenn der Wahnsinn für die moderne Welt einen anderen Sinn hat, als Nacht angesichts des Tages der Wahrheit zu sein, wenn es im Geheimsten seiner Sprache um die Frage der Wahrheit des Menschen geht, einer Wahrheit, die ihm vorgängig ist, die ihn begründet, ihn aber beseitigen kann, öffnet sich diese Wahrheit für den Menschen nur in dem Desaster des Wahnsinns und entgeht ihm vom ersten Lichtpunkt der Versöhnung an. N u r in der Nacht des Wahnsinns ist Licht möglich, das verschwindet, wenn sich der von ihm aufgelöste Schatten verwischt. Der Mensch und der Irre sind in ι ο ί Als eine der festesten pathologischen Formen im achtzehnten Jahrhundert verliert die Manie sehr an Bedeutung. Pinel zählt mehr als sechzig Prozent manischer Frauen in der Salpêtrière zwischen 1801 und 180$ (Î240 von 10002), Esquirol in Charenton von 1815 bis 182Î 545 Manische bei 1557 Eingängen ( 3 5 % ) , Calmeil im gleichen Hospital zwischen 185Î und i 8 6 i nur noch Î24 bei 2J24 Eingängen (25 °/o), Marcé zur gleichen Zeit in Bicêtre und in der Salpêtrière 779 von 5481 (ΐ40/ο), Achille Foville in Charenton nur noch 7 % .
der modernen Welt vielleicht fester verbunden, als sie es in den starken tierischen Metamorphosen sein konnten, die einst die von Bosch entzündeten Mühlen beleuchteten. Sie sind durch jenes unaustastbare Band einer reziproken und unvereinbaren Wahrheit verbunden. Sie sagen einander jene Wahrheit ihres Wesens, die verschwindet, weil sie einmal ausgesprochen worden ist. Jedes Licht erlischt durch den Tag, den es hat entstehen lassen, und wird so jener Nacht wiedergegeben, die es zerriß, die es jedoch herbeigerufen hat, und die es auf so grausame Weise manifestierte. Der Mensch unserer Tage hat nur in dem Rätsel des Irren, der er ist und nicht ist, eine Wahrheit. Jeder Irre trägt und trägt nicht jene Wahrheit des Menschen in sich, den er in der Nacktheit seiner Menschlichkeit darstellt. Das durch die Skrupel Pinels errichtete Asyl hat zu nichts gedient und hat die zeitgenössische Welt nicht gegen den Wiederaufstieg des Wahnsinns geschützt. Vielmehr hat es dazu gedient, den Irren von der Unmenschlichkeit seiner Ketten zu befreien und den Menschen und seine Wahrheit mit dem Irren zu verketten. Von jenem Tage an hat der Mensch Zugang zu sich selbst als wahrem Wesen. Aber jenes wahre Wesen ist ihm nur in der Form der Aliénation gegeben. In unserer Naivität haben wir uns vielleicht vorgestellt, einen psychologischen T y p beschrieben zu haben, den Irren durch hundertfünfzig Jahre seiner Geschichte hindurch. Jedoch müssen wir feststellen, daß wir bei der Abfassung der Geschichte des Irren, wenn auch nicht aui der Ebene einer Chronologie der Entdeckungen oder einer Ideengeschichte, sondern indem wir der Verkettung der fundamentalen Strukturen der Erfahrung folgten, die Geschichte dessen geschrieben haben, was das Erscheinen einer Psychologie überhaupt ermöglicht hat. Darunter verstehen wir ein kulturelles Faktum, das der abendländischen Welt seit dem neunzehnten Jahrhundert eigen ist, jenes massive Postulat, das vom modernen Menschen ausgesprochen wird, das aber aui' ihn zurückschlägt: Das menschliche Wesen charakterisiert sich mchi durch eine bestimmte Beziehung zur Wahrheit, sondern enthält als ihm eigen eine gleichzeitig dargebotene und verborgene Wahrheit. Lassen wir der Sprache freien Lauf: der homo psycbologicus ist ein Nachfahre des homo mente captus. Da die Psychologie nur die Sprache der Aliénation sprechen kann IM sie also nur in der Kritik des Menschen möglich oder in der Kritik an sich selbst. Die Psychologie steht immer und von Natur aus an einem Kreuzpunkt der beiden Wege, wo einerseits die Negativität des Menschen bis zu einem extremen Punkt vertieft wird, an dem Liebe und
Tod, Tag und Nacht, zeitlose Wiederholung der Dinge und die Hast der Jahreszeiten, die ihren Lauf nehmen, einander zugehören, und wo schließlich mit Hammerschlägen philosophiert wird; und wo andererseits das Spiel unaufhörlichen Wiederaufnehmens, Zurechtrükkens von Subjekt und Objekt, von Innen und Außen, von Gelebtem und Erkanntem sich übt. Die Psychologie war durch ihren Ursprung notwendig eher das Zweite, wobei sie dies jedoch bestritt. Sie ist unerbittlich Teil der Dialektik des modernen Menschen bei der Auseinandersetzung mit seiner Wahrheit, das heißt, daß sie nie das ausschöpft, was sie auf der Ebene der wirklichen Kenntnisse ist. In diesen geschwätzigen Verbindungen der Dialektik jedoch bleibt die Unvernunft stumm, und das Vergessen kommt aus der stummen Zerrissenheit des Menschen.
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