Alber-Reihe Philosophie
Karen Gloy Vernunft und das Andere der Vernunft
Zu diesem Buch: Seit mehr als 2000 Jahren hat sich die Philosophie und Geistesgeschichte in Absetzung von dem teils unzugänglichen Übersinnlichen, teils indifferenten, diffusen Sinnlichen, Triebhaften, Natürlichen dem Programm einer Einheit der Vernunft verschrieben. Damit hat sie den Logozentrismus des Abendlandes begründet, der in der Vernunft ein begründendes Denken sieht, das im Klassifikationssystem der Wissenschaften gipfelt. Erst die Postmoderne hat an die Stelle der einen Vernunft eine Pluralität von Vernunfttypen gesetzt, ohne diese jedoch zu definieren. Das Buch analysiert erstmals in der Geschichte verschiedene Denkformen, die zu unterschiedlichen Weltbildern führen: neben dem klassifikatorischen Typ, der für das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken charakteristisch ist, die sumerische Listenmethode, das dialektische Denken und das analogische, das das neue Paradigma der Welterklärung zu werden verspricht. Ab out this book: for more than 2000 years, philosophy and the history of thought have been committed to a program for the unity of reason as opposed to the inaccessible realm of the super-rational on the one hand and the undifferentiated, diffuse matter of sensations, drives, and nature on the other. With this program, the logocentrism of the West was founded, which sees reason as explanatory thought culminating in the classificatory systems of the various sciences. lt was Postmodernism which first set a plurality of types of reason in the place of the one reason, without, however, having defined them. The book analyzes, for the first time, various forms of thought leading to different views of the world: apart from the classificatory type, which is characteristic for the mathematical thought of the natural sciences, the Sumerian method of lists, dialectical thinking, and analogical thinking, which appears promising as a new paradigm. Die Autorin: Dr. phil. Karen Gloy, geb. 1941, ist ordentliche P_rQf~5_S_Qrin fü.rl'J1Jlqsop_hie un_d_ g_eistesgeschichte an der Universität Luzern. Gastprofessuren u. a. in China, Taiwan und Kolumbien. Hauptarbeitsgebiete: Deutscher Idealismus, Rationalität, Naturphilosophie. Veröffentlichungen bei Alber: Bewußtseinstheorien (2. Auf!. 2000); Rationalitätstypen (1999, Hg.); Das Analogiedenken (2000, Hg. zusammen mit Manuel Bachmann).
Karen Gloy
Vernunft und das Andere der Vernunft
Verlag Karl Alb er Freiburg I München
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Vernunft und das Andere der Vernunft I Karen GloyFreiburg (Breisgau); München: Alber, 2001 (Alber-Reihe Philosophie) ISBN 3-495-47890-6 Texterfassung: Autorin Registerbearbeitung: Angelika Kuhlmann Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten- Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2001 Einbandgestaltung: Eberle & Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Harnberg 2001 ISBN 3-495-47890-6
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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1. Vernunftkritik
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2. Der Begriffswandel von Vernunft zu Rationalität
21
3. Von der Einheit zur Pluralität . . . . . . . . . .
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4. Begründung als Grundmuster der abendländischen Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
5. Die Grundbedeutung von Vernunft: das Vermögen zur Strukturierung und seine möglichen Auslegungen
36
Erster Teil: Rationalitätstypen 1. Kapitel: Die Listenmethode
1. 2. 3. 4.
Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . Charakteristik der Strukturierungsprinzipien Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bacons Listenmethode . . . . . . . . . .
2. Kapitel: Der dihairetische Rationalitätstypus 1. 2. 3. 4. 5.
Abgrenzung: philosophisch-mathematische Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakterisierung des philosophisch -dihairetischen Rationalitätstypus . . . . . . . . . . . . . . . Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Relativität der Realität und seine Lösung durch den Duhem-Quineschen Holismus Das Einteilungsproblem und der Wandel der Einteilungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vernunft und das Andere der Vernunft
44 44 49 57
60 67 67 69 81 89 94 A- 7
Inhaltsverzeichnis
6. 7. 8.
Systemtranszendenz oder Systemimmanenz des Systemgrundes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Urteil und Schluß auf der Basis des dihairetischen Rationalitätskonzepts . . . . . . . . . 105 Der mathematische Rationalitätstypus 110 115
3. Kapitel: Der dialektische Rationalitätstypus 1. 2. 3. 4. 5.
Grundstruktur . . . . . Zeitlicher Kreislauf . . Platons Dialektiktypus Hegels Dialektiktypus . Fichtes Dialektiktypus .
115 120 132 143 158 170
4. Kapitel: Der metaparadoxale Rationalitätstypus 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Paradoxie - ein eigener Vernunfttypus oder die Grundstruktur der Dialektik? . . . . . . . . Kurzbeschreibung der Paradoxien . . . . . . Struktur und Mechanismus der Paradoxien . Lösung der Paradoxien? . . . . . . . . . . . Negative Dialektik als Metaparadoxie Fichtes Spätphilosophie als Beispiel für negative Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170 172 181 195 197 200
5. Kapitel: Deranalogische Rationalitätstypus . . . . . . . . 207 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
8
Analogiedenken- Rationalität oder Irrationalität? . . Arcimboldos »Jahreszeiten«-Zyklus und seine diversen Auslegungen . . . . . . . . . . . . . . . Morphologischer Raster des Analogiedenkens Analogieformen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Logik des Analogiedenkens . . . . . . . . Die semantischen (ikonographischen) Analogien in den Bildern Arcimboldos . . . . . . . . . . . . . . . Tropen als linguistische Analogien . . . . . . . . . . Verkehrung und Verschiebung als psychologische Analogien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstähnlichkeit als Analogieform in der fraktalen Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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207 208 213 224 229 236 241 248 264
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Inhaltsverzeichnis
6. Kapitel: Überlegungen zum Zusammenhang der Rationalitätstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 1. 2. 3.
Empirischer oder apriorischer Status der Rationalitätstypen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Vermittlungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Kriterien für einen paradigmatischen Status der Rationalitätstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
Zweiter Teil: Das Andere der Vernunft 1. Kapitel: Das Andere als Sub-, Hyper- und Transrationales . 294 2. Kapitel: Der negative Zugang zum Anderen der Vernunft: die via negativa, demonstriert an Derridas differance-Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3.
Vorgeschichte . . . . . . . . . Derridas Begriff der differance Schwierigkeiten . . . . . . . .
299 299 303 310
3. Kapitel: Der positive Zugang zum Anderen der Vernunft: Nietzsches vitalistische Ansicht . . . . . . . . . . . . . . 312
1.
2. 3.
Kritik am traditionellen dihairetischen Vernunftkonzept . . . . . . . . . Der Wille zur Macht Schwierigkeiten . . .
312 315 319
4. Kapitel: Der metaphorische Zugang zum Anderen der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Literaturverzeichnis Personenverzeichnis Sachverzeichnis . . .
Vernunft und das Andere der Vernunft
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329 341 344
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Einleitung
1. Vernunftkritik »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft Des Menschen allerhöchste Kraft« Goethe: Faust I, Vers 1851 f.
Seit nun schon mehr als einer Philosophengeneration gehört die Vernunftschelte zum Standardrepertoire der Gegenwartsphilosophie. Seitdem in den sechziger Jahren in Frankreich die postmoderne Avantgarde, gestützt auf Vorläufer wie Nietzsche, Heidegger und Bataille, ihren Generalangriff auf die Aufklärung und die mit ihr eingeleitete Moderne startete, die das menschliche Subjekt und mit ihm die Vernunft ins Zentrum gerückt hatte gegenüber dem auf die Polis abgestellten antiken Denken und dem am hierarchischen Kosmos mit Gott an der Spitze orientierten christlich-mittelalterlichen Denken, ist die Kritik an Rolle und Funktion der Vernunft nicht wieder verstummt. Es gehört heute geradezu zur Mode, Vernunftschelte zu betreiben, während Plädoyers für die Vernunft nicht nur selten geworden sind, sondern auch für obsolet gehalten werden. Dabei geht es zumeist nicht nur um eine legitime, moderate Vernunftkritik, die die hypertrophen Ansprüche der Vernunft, ihre möglichen Fehler und Irritationen, sei es auf dem Gebiet des Denkens, Handeins oder Evaluierens, aufdeckt und zurückweist, sondern um eine radikale Vernunftkritik, die die klassische anthropozentrische Bestimmung des Menschen als l;;tpov Myov exov oder animal rationale und die mit ihr zusammenhängende sozio-kulturelle Vorherrschaft des Logos in Frage stellt und im Namen des traditionell unterdrückten, verdrängten oder gar ignorierten Anderen der Vernunft bestreitet, das unter Namen wie äußere und innere Natur, Leiblichkeit, Trieb- und Affektsphäre, Gefühl, Emotionalität, Sinnlichkeit, Phantasie, Traum, Wahnsinn u. ä. auftritt. Der »Logozentrismus«1 des Abendlandes, die dogmatische Verabsolutierung der 1
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J. Derrida:
Grammatologie (Titel der Originalausgabe: De Ia grammatologie, Paris
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Karen Gloy
Einleitung
Vernunft wird als Vernunftmythologie bzw. Vernunftideologie decouvriert. Es ist der die abendländische Geschichte beherrschende Vernunftmonismus, der hier attackiert wird. Dieser absoluten Vernunftherrschaft wird als Konsequenz angelastet, was immer es an Fehlleistungen in Wissenschaft und Technik, Zivilisation und Kultur im privaten wie öffentlichen Leben gibt oder gegeben hat, angefangen von der Rationalisierung der Wissenschaft, der Uniformierung und Globalisierung der Technik, der Bürokratisierung der Verwaltung bis hin zur Verstaatlichung der Gesellschaft und Moralisierung der Lebenswelt. Um die Vernunft möglichst effektiv bekämpfen zu können, baut man einen Popanz auf, den es so historisch nie gegeben hat. Unter Einebnung aller Differenzen und übertriebener Simplifizierung wird die Vernunft uniformiert und universalisiert, zum monolithischen Singular hochstilisiert und die These vertreten, die gesamte abendländische Philosophie von Parmenides bis Hegel sei nichts anderes als Einheitsphilosophie gewesen, die das Viele, Heterogene, Relative nicht ernst nehme und zu eliminieren trachte. Der Aufstand des unterdrückten, geknechteten, geknebelten Anderen der Vernunft ist dann unausweichlich. Er setzt an die Stelle der ordnenden, Regeln und Standards installierenden Macht der Vernunft die Ungeordnetheit der sinnlichen Daten und faktischen Geschehnisse, die Anarchie der Regellosigkeit. Ein illustratives Beispiel hierfür ist Paul Feyer~_bend, der mit seinen propagandistischen und schockierenden Schriften, angefangen von Wider den Methodenzwang 2 bis zu Irrwege der Vernunft 3 , als Vernunft-Schreck in die Geschichte eingegangen ist. Aus der Wissenschaftstheorie kommend- einem Gebiet, das sich üblicherweise der Rationalität verpflichtet weiß -, versucht er anhand einer Analyse der historischen Wissenschaftsentwicklung und des tatsächlichen Vorgehens der Wissenschaftler aufzuzeigen, daß nicht nur der angebliche Wissensfortschritt, sondern auch der vermeintliche Fortschritt der Wissenschaften regellos und irrational
1967), aus dem Französischen von H.-J. Rheinherger und H. Zischler, Frankfurt a.M. 1974, S. 11. 2 P. Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Skizze zu einer anarchistischen Erkenntnistheorie (Titel der Originalausgabe: Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge, 1975), übersetzt von H. Vetter, Frankfurt a. M. 1976. ' P. Feyerabend: Irrwege der Vernunft (Titel der Originalausgabe: Farewell to reason, 1986), aus dem Amerikanischen von J. Blasius, Frankfurt a. M. 1989. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Einleitung
sei, und dies nicht nur im Sinne Kuhns, der bezüglich der Paradig-\ mensubstitution von Rationalitätslücken spricht, sondern im Sinne einer verabsolutierten Regellosigkeit und Unberechenbarkeit. Feyerabends epistemologischer Anarchismus leugnet das Bestehen von normen-, regel- und standardwissenschaftlicher Rationalität überhaupt gemäß dem Motto »anything goes«. Allerdings hat Feyerabend später diese Behauptung zurückgenommen und dahingehend abgemildert, daß auch Regellosigkeit die Geltung von Regeln voraussetze.4 Da mit der Entmachtung und Dezentrierung der Vernunft einer der Grundwerte der europäischen Zivilisation auf dem Spiele steht, r wenn nicht gar der Grundwert überhaupt, wird hier einem Irrationalismus Tür und Tor geöffnet, was sich im Aufleben des Mystizismus, Mythologismus, der Esoterik u. ä. dokumentiert, denen man in der New-Age-Bewegung begegnet. Der Aufgang der Königin der Nacht anstelle des Rationalisten Sarastro -um Bilder aus Mozarts Zauberflöte zu gebrauchen - ist angesagt. Für die Antirationalisten geht es um eine grundsätzliche Neubestimmung der Anthropologie unter Berücksichtigung der bisher vernachlässigten und ignorierten Sphären, zumal das Vernünftige nur einen kleinen Teil des menschlichen Subjekts ausmacht, sogar den kleinsten. Anstelle der verabschiedeten oder zumindest in ihre Schranken verwiesenen Vernunft wird die Herrschaft - entweder die Allein- oder die Mitherrschaft des Irrationalen gefordert, das logisch als das Alogische, ontologisch als das Irreale und moralisch als das Unschickliche auftritt. 5 Die Rationalitätsphilosophie der Vergangenheit soll durch eine »neue Philosophie der Natur, des Leibes und der Phantasie« 6 überwunden werden. So vehement die Kritik an der Vernunft vonseitender Antirationalisten und Irrationalisten, der Gegenaufklärer, ist, so vehement ist auch ihre Verteidigung. Sie reicht von Habermas' rationalistischem Projekt der unvollendeten, also erst in Zukunft zu vollenden-
Vgl. P. Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen( Frankfurt a.M. 1979, S. 87, 17. L. Ferry und A. Renaut: Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen (Titel der Originalausgabe: La Pensee 68. Essai sur anti-humanisme conternporainr Paris 1985), aus dem Französischen von U. Bokelmannr München, Wien 1987, S. 16, sprechen von einem Phallogozentrismus anstelle des Logozentrismus. 6 H. Böhme und G. Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 19851 S. 24.
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den Moderne 7 bis zu Schnädelbachs Restitution der anthropologischen Definition des Menschen als animal rationale 8 • Nun sind freilich Vernunftkritik und Kritik an der Vernunftkritik nicht erst ein Resultat der Gegenwartsphilosophie, initiiert vom französischen Dekonstruktivismus. Sie setzen vielmehr einen älteren Streit um die Vernunft in den dreißiger und vierziger Jahren fort, in dem Adorno und Horkheimer unter dem Titel »Dialektik der Aufklärung« eine Vernunftkritik im Sinne einer Aufklärung der Aufklärung übten, welche offensichtlich bis dahin über sich selbst unaufgeklärt war. Anhand einer Analyse des homerischen Epos der Odyssee wiesen sie' die Ambivalenz der Vernunft, die Gegenläufigkeit ihrer Machtstruktur, den Umschlag von der Beherrschung des Anderen in die Knechtung ihrer selbst auf. Die Emanzipation des Ich von der Natur ist gepaart mit gleichzeitiger Unterdrückung der eigenen Natur. Selbstbehauptung ist immer auch Selbstunterdrückung. Was als Befreiung des Ich aus den Zwängen der Natur erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als Knechtung des eigenen Selbst. Odysseus in seiner Begegnung mit den Sirenen und der Zauberin Circe ist für Adorno und Horkheimer die älteste mythische Figur der Ambivalenz von angestrengter rationaler Selbstbehauptung und versuchender emotionaler Selbstauflösung, wobei der letzteren nur mit Gewalt, nämlich durch die Selbstankettung des Odysseus, begegnet werden kann. Wenn der neuzeitlichen Aufklärung das Verdienst zukommt, der Vernunft und mit ihr der Freiheit zur Herrschaft verholfen zu haben, so birgt sie andererseits gerade Gewalt, Unterdrückung und Hegemonie in sich, insofern sie genötigt ist, gegen das vorzugehen und das zu verdrängen, was sie von innen her aufzulösen droht. Während die Vernunftkritik der Gegenwart Vernunftdestruktion von außen ist, sei es von seiten der Leiblichkeit, der Sinnlichkeit oder der Phantasie, und somit Metakritik; wohingegen die Vernunftkritikder Frankfurter Schuleaufgrund ihrer Selbstkritik Aufweis der internen Dialektik und Widersprüchlichkeit der Vernunft war, reicht die Vernunftkritik als solche bis in die Anfänge der Moderne zurück Sie ist in das Projekt der Moderne selbst eingelassen, zeigt doch schon der Titel von Kants philosophischem Hauptwerk Kritik der J. Haberrnas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985,4. Auf!. 1988. ' H. Schnädelbach: Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt a. M. 1992, vgl. S. 13 ff. 7
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Einleitung
reinen Vernunft, daß es hier um eine kritische Selbstreflexion der Vernunft geht. Kant, der sich als Vollender der Aufklärung verstand, sieht die Legitimation dieser in der Selbstaufklärung der Vernunft. Und auch für die nachkantischen idealistischen Philosophen ist das permanente Ringen um eine Selbstaufklärung der Vernunft hinsichtlich ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen charakteristisch. Dies schließt die Frage nach der Fundiertheit oder Nichtfundiertheit im Anderen ein. Selbst in Hegels universalistischem Rationalitätskonzept, demzufolge Vernunft und Wirklichkeit zusammenfallen und nur das wirklich ist, was auch vernünftig ist, und umgekehrt, und auch nur das erkannt wird, was als vernünftig erkannt werden kann, geht es um den Status und das Selbstverständnis der Vernunft, ganz zu schweigen von Schellings Projekt einer Fundierung der Vernunft im Anderen, sei es in der Natur oder in einem unvordenklichen Grund, sowie von Fichtes in den späten Wissenschaftslehren thematisierter Grenzüberschreitung des Wissens, der Transzendierung der Vernunft in Richtung auf ein unvordenkliches Sein und ihrer Fundierung in diesem. Die Geschichte der Vernunftkritik, sofern darunter die kritische Selbstdurchleuchtung und -verständigung der Vernunft verstanden wird, die immer auch eine Absetzung von Andersartigem einschließt, läßt sich sogar bis auf die Ursprünge der abendländischen Philosophie zurückverfolgen. Sie ist so alt wie die europäische Philosophie selbst, die sich seit ihrem Beginn in der Antike als Logos-Philosophie versteht und gegen andersartige Zugangsweisen zum Seienden, wie sie in Mythos, Religion und Kunst vorliegen, abgrenzt. Die griechische Philosophie, die für sich reklamiert, den Weg vom Mythos zum Logos zurückgelegt und mit dem Logos auch die Kriterien für Wahrheit, Gutheit und Schönheit erstellt zu haben, ist gleichwohl gegen Attakken gegen ihr Konzept nicht gefeit gewesen. Sie mußte stets Gegenkritik aushalten, wovon die Werke Platons und Aristoteles', aber auch die der Sophisten Zeugnis ablegen. Retrospektiv läßt sich eine zweifache Vernunftkritik konstatieren, von denen die eine interner, die andere externer Art ist, die erstere von einer prinzipiellen Akzeptanz des Vernunftkonzepts ausgeht, die letztere dieses gerade bestreitet. Die interne Vernunftkritik hat ihr Vorbild im Kantischen Modell einer selbstreferentiellen Vernunft, der gleicherweise die Funktion eines genitivus obiectivus wie eines genitivus subiectivus zukommt, die also gleicherweise Gegenstand der Kritik wie kritisie: rendes Subjekt ist. Die Vernunft bildet hier die Basis der Kritik und 14
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Einleitung
stellt zugleich das methodische Instrumentarium der Kritik parat. Angesichts eines solchen Konzepts kann die Aufgabe nur darin bestehen, illegitime Ansprüche der Vernunft von legitimen zu sondern, im Bereich des Denkens Fehlschlüsse und -argurnentationen aufzudecken, im Bereich des Erkennens Scheinerkenntnisse von wahrhaften Erkenntnissen zu unterscheiden, im Bereich des Handeins Gutes von Bösern zu trennen, die auf Freiheit und Vernunft beruhenden Willensentscheidungen von Triebmotivationen zu abstrahieren, ganz so, wie es der ursprüngliche Sinn des griechischen Wortes XQLVElV = »sondern«, »scheiden« besagt, der die Spreu vorn Weizen, das Unwesentliche vorn Wesentlichen, das Unberechtigte vorn Berechtigten abtrennen will. Bei einem Universalitäts- und Totalitätsanspruch der Vernunft, der mit der Selbstreferenz einhergeht, resultiert allerdings das Problem, wie die Vernunft von einem rein internen Standpunkt aus Möglichkeit, Umfang und Grenzen ihrer selbst bestimmen könne. Wenn sie schlechthin alles urnfaßt, auch noch das Gegenteil ihrer selbst, wenn sie das Andere der Vernunft als Irnplikat enthält, verfällt eine solche Selbstaufklärung dem Irnrnanentisrnus. Der angebliche Transzensus über die Vernunft hinaus, der für die Grenzziehung erforderlich wäre, erweist sich als Schein. Die externe Vernunftkritik erfolgt von außen, von der Position des Anderen, mag dieses wie im hierarchischen System als Sub- oder Suprarationales auftreten (als Sinnlichkeit, Triebhaftigkeit, Affektivität einerseits, als unvordenklicher Grund, Göttliches andererseits) oder wie im stufennivellierten Modell als gleichwertiges Pendant. Besagte Kritik reicht von der Entthronung und Dezentrierung der Vernunft bei gleichzeitiger Aufwertung des Anderen bis zur Substitution der Vernunft durch das Andere und Glorifizierung desselben. Die erstere Tendenz ist in fast allen nachidealistischen Philosophien beobachtbar, beispielsweise in der Willensphilosophie Schopenhauers und Nietzsches, der Lebensphilosophie Diltheys, der Existenzphilosophie Heideggers, Sartres und Jaspers, im Naturalismus und Soziologisrnus in allen seinen Varianten. Diese Philosophien leugnen die Vernunft nicht schlechthin, sondern drängen sie lediglich ins zweite Glied zurück und betrachten sie als Funktion, Symptom oder Epiphänomen natürlicher Lebensäußerungen und -vorgänge. 9 Die 9 Vgl. hierzu H. Schnädelbach: Zur Rehabilitierung des animal rationale, a. a. 0., S. 43, ebenso S. 24 ff.
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zweite Tendenz ist symptomatisch für die Metaphysik des Irrationalen, des Chaotischen, des Regellosen. Nicht selten geht damit die Verherrlichung von Gewalt, die heimliche oder offene Bewunderung des Abnormen, Anomalen, Exzentrischen einher, die sich gleicherweise auf den ästhetischen Bereich, auf das an keine Regeln gebundene Genie, erstreckt wie auf den politischen und sozialen, auf den »Übermenschen« Nietzschescher Provenienz, auf die faschistischen Führer dieses Jahrhunderts, auf Revolutionäre, Aufrührer und Chaoten.10 Die Attacken gegen die Vorherrschaft der Vernunft in Denken, Erkennen, Handeln und Evaluieren seitens des Anderen der Vernunft zerfallen gemäß dessen Situierung im hierarchischen System in drei Gruppen, in die seitens des Subrationalen, des Suprarationalen und des Transrationalen. (1.) Zum einen meldet sich Kritik an der Vernunftzentrierung seitens des unmittelbaren Lebensvollzugs, nicht nur des macht- und kraftvollen, leidenschaftlichen 11 , sondern auch des ganz natürlichen. Mit der Aufwertung der von der klassischen Philosophie als subrational degradierten; als sogenanntes »unteres«, »niederes« oder gar »inferiorisches« Vermögen verteufelten Sinnlichkeit - dasselbe gilt für Gefühl, Stimmung, Befindlichkeit, Affekt- und Triebleben, Sexualität, Leiblichkeit, Natur überhaupt- und ihrer Akzeptanz als gleichwertiges oder sogar übergeordnetes Vermögen, tritt ein neuer Umgang mit der Vernunft auf den Plan, der sich bewußt ist, daß die Vernunft nicht allein existiert, sondern nur einen kleinen Teil der gesamten Lebenskräfte ausmacht, neben dem die anderen gleiches Recht haben. Die zwingende Konsequenz dieser Konzeption ist eine »neue Kultur« 12 • Dies ist der Titel für das von den Brüdern Hartmut und Gernot Böhme in ihrem Buch Das Andere der Vernunft vorgestellte Projekt, das sie seither in zahlreichen Aufsätzen weiterverfolgt haben. »Gegen die Herrschaft der Vernunftsphilosophie, der wissenschaftlichen Rationalität und der technisierten Lebensform muß diese Kultur durch eine neue Philosophie der Natur, des Leibes und der Phantasie vorbereitet werden,
Vgl. J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Modeme, a. a. 0., S. 249. Vgl. A. Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung oder F. Nietzsches Wille zur Macht. 12 H. Böhme und G. Böhme: Das Andere der Vernunft, a. a. 0, S. 24.
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Einleitung
eine Philosophie, die vernunftkritisch nicht mehr der Vereinnahmung oder Ausgrenzug des Anderen der Vernunft dient.« 13 »Aufstand des Gefühls, des Leibes, der Sexualität«, ein freierer, angstenthobener Umgang mit den bisher verdrängten und verteufelten Vermögen oder, um aktuelle Termini zu benutzen, »Feminismus versus Patriarchalismus« ist das Programm dieser Philosophie, zumal die klassische Rationalitätsphilosophie mit ihrem Dominanzanspruch Verdrängungsmechanismen und -Strategien in dieser Hinsicht ausgebildet hat und stark narzißtische Züge trägt. Eine längere Stelle aus dem oben genannten Buch sei hier angeführt: »[ ... J im Dienst störungsfreier Rationalitätsmaximierung, die die Stimmen des Schmerzes zu übertönen hatte, [wurdeJ ein optimistisches Gemälde historisch sich vollendender Aufklärung stilisiert. Vernunft versperrte sich zunehmend gegen jede Reflexion auf die psycho- und soziogenetischen Bedingungen ihrer Herkunft: diese Absperrung erzeugte den Wahn der Vernullft. Die Hypostase des logoserzeugten Subjekts verdunkelte in der Angst vor jedem >Draußen< und in der Anstrengung, alles seiner abstrakten Identität zu subsumieren, vollends dessen Zusammenhang mit dem, was tatsächlich >draußen< blieb. Im wahnhaften Bemühen, sich von den Abhängigkeiten durchs Draußen- von der Mutternatur, vom Leib, von der Phantasie (selbst diese ist >draußen<: Raum des inneren Auslands) -zu emanzipieren, wurde das Bewußtsein der Trennung verdrängt und ausgelöscht. Dies hieß auch, daß die Erfahrungen des Glücks in der Vermischung mit Anderem abgeschoben wurden und von jeder angemessenen Bearbeitung abgesperrt blieben. Das verlorene Glück wurde zur verteufelten Versuchung der Vernunft- die ihrerseits aus sich selbst Bilder des Glücks hervorzubringen hatte. Getrennt vom Leib, dessen libidinösen Potenzen Bilder des Glücks hätten entnommen werden können; getrennt von einer mütterlichen Natur, die die archaische Imago symbiotischer Ganzheit und nutritiver Behütung enthielt; getrennt vom Weiblichen, mit dem vermischt zu sein zu den Urbildern des Glücks gehörte, erzeugte die Philosophie der bilderberaubten Vernunft nur das grandiose Bewußtsein einer prinzipiellen Überlegenheit des Intelligiblen über die Natur, über die Niedrigkeit von Leib und Frau. Dieses Grandiositätsbewußtsein hatte die Trennungserfahrungen und Entsagungen, die in die Gründungsakte der Vernunft eingeschrieben sind, zu kompensieren. Die Philosophie attribuierte der Vernunft eine Omnipotenz, Unendlichkeit und künftig entstehende Vollkommenheit, wogegen das verlorene Kindschaftsverhältnis zur Natur nichtig erschien. Es sind die Attribute Gottes selbst, in deren Fluchtlinie sich das vernünftige Subjekt situierte. Die geheime Selbstvergottung und der unaufgelöste Trennungsschmerz bilden die psychodynamischen Pole, zwischen de13
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Einleitung
nen das Drama der Selbstbehauptung des vernunftgegründeten Subjekts spielt.« 14
Noch weiter in das Subrationale dringen die Psychoanalysen Sigmund Fr~uds, C. G. Jungs, Alfred Adlers wie auch der Philosophen Jacques Lacan und Claude Levi-Strauss, indem sie das Unbewußte thematisieren, sei es das individuelle oder das kollektive. Daß dieses im strengen Sinn durchaus kein total Unbewußtes und Unzugängliches ist, dokumentiert sich darin, daß es in Träumen, Tag- und Nachtphantasien, Perversionen und Anomalien durchbricht und nicht selten auch in Märchen und Mythen seinen Niederschlag findet. Unbewältigte Probleme, die als Traumata weiterexistieren, lassen das Unbewußte als das verdrängte Andere immer wieder in die helle, durch Rationalitätsstrukturen geordnete Welt einbrechen und hier Erschütterungen und Verwirrungen erzeugen, deren Symptome Angst, Depression und Melancholie sind. Das Andere fordert zumindest seit Beginn dieses Jahrhunqerts im modernen Bewußtsein eine angemessene Berücksichtigung. . Die EtabHerung einer neuen Art von Philosophie verlangt auch die Einführung und Ausbildung einerneuen Terminologie, die an die Stelle der exakten, präzisen, aus- und abgrenzenden Begrifflichkeit tritt und grenzüberschreitend, vermittelnd, integrierend ist wie die von Gernot Böhme aufgeführten phänomenologischen Kategorien der Ekstase, Physiognomie, des Atmosphärischen und Gestischen. 15 (2.) Da die Unmittelbarkeit des Lebensvollzugs nicht nur eine Deutung als Subrationalität zuläßt, sondern im Sinne des Fichtesehen esse in mero actu auch eine als Suprarationalität, operiert die zweite Variante der Vernunftkritik und Gegenaufklärung von Vermögen aus, die als vernunfttranszendent, vernunftumschließend und vernunftfundierend eingestuft werden, wie religiöses Gefühl, Glaube, göttliche Offenbarung, intellektuelle Anschauung, künstlerische Intuition und Imagination, wie sie der Religion, Mystik, Kunst und Mythologie eigen sind. Wenn es im Neuen Testament heißt: »selig sind, die da geistlich (=geistig) arm sind« 16 oder wenn davon
A. a. 0., S. 22 f. Vgl. G. Böhme: Ästhetische Erkenntnis der Natur, in: K. Gloy (Hrsg.): Natur- und Technikbegriffe. Historische und systematische Aspekte: von der Antike bis zur ökologischen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik, Bonn 1996, S. 118-145, bes. S. 132-143. 16 Matthäus 5, 3. 14
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Einleitung
die Rede ist, daß der Friede Gottes höher ist als alle Vernunft 17 , so deutet dieser spezifische Antirationalismus auf eine Zurückstauchung der menschlichen Vernunft auf ein endliches Maß, auf eine Einschränkung derselben von einem höheren, göttlichen Vermögen aus, das als Ursprung und unvordenklicher Grund angenommen wird und dem menschlichen Intellekt nicht mehr zugänglich ist. Die Einschränkung der auf Rationalität basierenden Reflexions- und Subjektivitätstheorie durch die Offenbarungsphilosophie bildet seit Jacobi über Hölderlin bis zu Heidegger und anderen Rationalitätsopponenten eine starke Strömung innerhalb der Philosophie. Was die Kunst betrifft, so legitimiert sie ihre Aufwertung durch Berufung auf die Symbolik, die das Ganze im Teil ad hoc zu repräsentieren vermag - das griechische O'UIJ.ßaA.A.ELv meint die Zusammenziehung der Teile im Moment-, wohingegen die analytisch-synthetische, sezierende und wieder zusammensetzende Rationalität es nur zu einer nachträglichen Rekonstruktion des Ganzen aus Teilen bringt. Die immer wieder erhobene Forderung, Philosophie in Kunst zu überführen und in ihr endigen zu lassen - ein Postulat, das seit Schelling 18 bis Heidegger wiederkehrt -, bildet ein Grundanliegen und Desiderat der Moderne, das als Alternativprogramm zur rationalistischen Position auftritt, wurde doch in der Tradition von Platon bis Hegel von einer Subordination von Kunst und Religion unter Philosophie ausgegangen. Kunst und Religion galten lediglich als Vorstufen und Präfigurationen der Philosophie. . (3.) Als transrational sind Vermögen einzustufen, die weder eindeutig der sub- noch der suprarationalen Sphäre angehören, vielmehr beiden, die ineinander übergehen, wie sich dies in Kunst und Religion beobachten läßt. Zu diesem Typus gehört die Erfahrungsdimension des Erotischen. Primär dem sinnlichen Bereich zugehörig, hat das körperliche Ereignis stets einen Transzendenzcharakter auf ein Jenseitiges: Das Vereinigungserlebnis zweier Menschen steht stellvertretend für die unio mystica, das Einswerden des Menschen mit Gott. Der sinnliche Bereich öffnet sich hier dem sakralen. Nicht Philipper 4, 7. Vgl. F. Rosenzweig (Hrsg.): Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund, in: Sitzungsberichte der Heide/herger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1917, 5. Abhandlung, Heidelberg 1917, S. 31-50; neuere Ausgabe: Ch. Jamme und H. Schneider (Hrsg.): Mythologie der Vernunft. Hegels >>ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus«, Frankfurt a.M.1984.
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zufällig wird dieselbe Bildersprache hier wie dort verwendet. Vorstellungen wie Verschmelzen, Einswerden, Aufheben der scheidenden und unterscheidenden Grenzen treten in beiden Bereichen auf, Bilder der sinnlichen Vereinigung wie des Flüssigen, des Wassers, des Feuers haben zugleich symbolische Kraft und dienen als Metaphern für religiöse Einheit. Entsprechendes trifft auf Rauschzustände zu: Ekstasen, Halluzi-. nationen, Trance, bacchantischen Taumel, ästhetische Verzückungen, mögen sie durch Drogen, Psychopharmaka, religiöse Praktiken oder ästhetische Erlebnisse verursacht sein. Sie gelten als grenzüberschreitende Erfahrungen, als Bewußtseinserweiterungen und Entrückungen. Mit Foucaults Buch Wahnsinn und Gesellschaft 19 und der daran anschließenden Diskussion sind auch diese Erfahrungsweisen, die seit der Renaissance philosophisch, literarisch wie sozio-kulturell verdrängt und unterdrückt waren, wieder hoffähig geworden. Während der Wahnsinn im Altertum und Mittelalter zu den gottgewollten Schickungen und Heimsuchungen gehörte, ähnlich wie die Epilepsie, sogar auf eine besonders enge Verbindung mit dem übernatürlich Göttlichen deutete, erfuhr er mit der Alleinherrschaft der Vernunft im Rationalismus und in der Aufklärung eine Verdrängung, was Foucault anhand der Internierung, Asylierung und Kasernierung Wahnsinniger, d. h. am Faktum ihrer Ausgrenzung, und anhand ihrer medizinischen Behandlung nachweist, die von der Idee der Wiederherstellung der sogenannten Normalität und der Reintegration des Behandelten in die sogenannte normale Gesellschaft geleitet war. Selbst wenn sich der Wahnsinn als eine andersgeartete Vernünftigkeit als die >>normale« erweisen sollte - in diesem Sinne wird er in der Chaos- und Selbstorganisationstheorie interpretiert-, ist er im Rahmen der Kritik an der Vernunft der Sphäre der Andersheit zugeordnet. Die aufgezählten Stoßrichtungen vereinen sich in der Gegenwart zu einer massiven Kritik des Anderen am Vernunftbegriff der M. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (Titel der Originalausgabe: Histoire de Ia Folie, Paris 1961), aus dem Französischen von U. Köppen, Frankfurt a. M. 1969. Vgl. auch ders.: Psychologie und Geisteskrankheit (Titel der Originalausgabe: Maladie mentale et Personalit€, Paris 1954), aus dem Französischen übersetzt von A. Botond, Frankfurt a. M. 1968. Ferner J. Derrida: Cogito und Geschichte des Wahnsinns, in: ders.: Die Schrift und die Differenz (Titel der Originalausgabe: I:Ecriture et Ia Difference, Paris 1967), aus dem Französischen von R. Gasehe und U. Köppen, Frankfurt a. M. 1972, S. 53-101.
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Tradition. Mit dieser Fundamentalkritik stehen Sinn und Funktion, Aufgabe und Leistung der Vernunft, ja ihre Rolle überhaupt in Denken und Handeln auf dem Spiel, die es zu untersuchen und zu überprüfen und in ihrer Beziehung zum Anderen aufzuhellen gilt. Dabei sind von Anfang an drei Punkte zu berücksichtigen: erstens der Begriffswandel von Vernunft zu Rationalität, zweitens der Zerfall der Einen Vernunft in eine Pluralität von Vernunfttypen und drittens die einseitige Kaprizierung auf den europäischen Vernunftbzw. Rationalitätstypus.
2. Der Begriffswandel von Vernunft zu Rationalität Es fällt auf, daß in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion und Literatur im Unterschied zur Vergangenheit nicht von Vernunft, sondern von Rationalität die Rede ist. Mag die Präferenz eines lateinischen Terminus gegenüber einem deutschen auch eine Modeerscheinung sein, die für die gegenwärtige, sich weitgehend als intellektuelles Spiel verstehende Philosophie typisch ist, der tiefere Grund für die Wahl des lateinischen substantivierten Adjektivs (»Rationalität« aus »rational«) anstelle des deutschen Substantivs »Vernunft« dürfte mit einer Präzisierung zusammenhängen, die gleichzeitig eine Verengung des ursprünglichen Begriffs durch den Nachfolgebegriff mit sich bringt. Eine analoge Entwicklung läßt sich bei dem heute für antiquiert geltenden Seelenbegriff und seiner Substitution durch den moderneren, wiewohl eingeschränkteren Bewußtseinsbegriff konstatieren. War der Begriff- griechisch '4J'UX~ lateinisch anima, deutsch Seelebis ins 18. Jahrhundert hinein, sogar noch bis Kant, geläufig (vgl. »Seelenlehre«, »rationale Seelenlehre«), so ist er heute durchgehend durch den Begriff »Bewußtsein« oder »Mentales« ersetzt. Die Absicht dieser Substitution, bei der es sich um die Ersetzung eines Substantivs durch ein substantiviertes Adjektiv handelt (»Bewußtsein« aus »bewußt«), ist die Vermeidung jeglichen Anklangs an eine substanzontologische Auffassung, die mit dem traditionellen Seelenbegriff-der griechisch-homerischen Hauchseele - einherging und ein fein-, ja feinststoffliches Lebensprinzip, den Odem, bezeichnete, der mit dem Tod des Menschen bei seinem letzten Atemzug ausgehaucht wurde. Die materialistische Auffassung klingt selbst noch in Descartes' res cogitans, der Seelen- bzw. Denksubstanz, nach, welche in Analogie Vernunft und das Andere der Vernunft
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zur res extensa, der ausgedehnten materiellen Substanz, konzipiert ist. Zum anderen sollen alle theologischen und metaphysischen Implikationen vermieden werden, mit denen der traditionelle Seelenbegriff belastet ist, wie die einer Prä- und Postexistenz, eines himmlischen oder höllischen Weiterlebens der Seele. Mit der Restriktion geht gleichzeitig eine Präzision einher: Von der weiten Semantik, die den traditionellen Seelenbegriff charakterisiert und die sich mit »Leben schlechthin« bezeichnen läßt- die Seele gilt als Lebensprinzip, der beseelte Körper (Organismus) als belebter im Unterschied zum unbelebten, toten- und die nach der aristotelischen Klassifikation in einen vegetativen, sensitiven und intelligiblen Teil zerfällt, bleibt nur der letzte, höchste Teil erhalten und findet eine Fortsetzung im Bewußtseinsbegriff. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Vernunftbegriff Die Substitution von Vernunft durch Rationalität beabsichtigt, jede Assoziation an eine substanztheoretische oder sogar materialistische Auffassung zu eliminieren, die mit der voii;-Konzeption anfänglich verbunden war. Bei Anaxagoras, der historisch als einer der ersten den voii;-Begriff in philosophischem Kontext benutzte, hat er eine spezifisch materielle Bedeutung, bezeichnet er doch den Wirbel, der als kosmogonisch-kosmologisches Prinzip bei der Entstehung der in sich differenten Welt aus dem undifferenzierten, diffusen Stoff für die Scheidung und Differenzierung des Materials verantwortlich ist, dafür, daß das Leichte zum Leichten, das Schwere zum Schweren gelangt, jenes nach oben an den Rand des Himmels, dieses nach unten zum Mittelpunkt der Erde, und so durch materielle Scheidung überhaupt erst logisch unterscheidbar wird. Auch wenn die weitere Entwicklung zu einer zunehmenden Entmaterialisierung des voii;-Prinzips führte, blieb doch der psychologische Vermögensbegriff wirksam. Nicht zufällig gehört der voii; nach der Platonischen Seelenkonzeption 20 zur Seele. Auch wenn er in deren hierarchischem Aufbau aus A.oyLo-nxov, 'l'ttJ(-tOW~E; bn'l'ttJ(-tY]"tLXOV den höchsten Teil repräsentiert, der sich gegenüber den beiden anderen, der Vergänglichkeit anheimfallenden und insofern stofflich-materiellen Teilen durch Unvergänglichkeit, Ewigkeit auszeichnet und nur in Form reiner Geistigkeit gedacht werden kann, bildet er doch andererseits einen Teil bzw. ei~_f_\lnktion desSeekny~rmögens und steht folglich in einem problematischen Verhältnis zu den anderen 20
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Vgl. Platon: Polit_f!_i:!_~~?_c_~ '!44 a, Phädros 246 a ff., bes. 247 c.
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Teilen. Der psychologische Vermögensbegriff, wenngleich nicht als Organ gedacht, wirkt noch in Kants Vernunftkonzeption nach. So wird Vernunft als Erkenntnisvermögen des Menschen neben dem Begehrungsvermögen und dem Gefühl von Lust und Unlust angenommen, die zusammen das Gesamtvermögen des Gemüts ausmachen. Der Austausch des Vernunftbegriffs durch den Rationalitätsbegriff erhält die Aufgabe, alle irritierenden Assoziationen auszuschalten. Auf einen anderen Aspekt im Wandel des Vernunftbegriffs hat Max Horkheimer hingewiesen, und zwar auf den Übergang von der Objektivität zur Subjektivität und schließlich zur bloßen Instrumentalität der Vernunft. In der Abhandlung Zur Kritik der instrumentellen Vernunft 21 und in der Zusammenfassung Zum Begriff der Vernunft2 2 dokumentiert er anhand der Entmythologisierungsgeschichte, die über drei Stufen verläuft, seine These, daß das antike und mittelalterliche Konzept der objektiven Vernunft, in welchem die Vernunft (Logos) als Inbegriff intelligibler Strukturen der Welt auftritt, als Inbegriff, den die Stoa als Grundgesetz des Kosmos auf.. faßt, die christliche Metaphysik als Gott und von dem sich noch Hegel in seiner Wissenschaft der Logik bei der »Darstellung Gottes [... ],wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist« 23 , leiten läßt, in der Neuzeit in das Konzept einer subjektiven Vernunft übergeht, wie es bei Descartes in den ideae innatae vorliegt und bei Kant im subjektiven Vernunftvermögen, das zugleich Bedingung der Möglichkeit objektiver Welterfahrung ist. Der Abstieg von der Ontotheologie zur Anthropologie und Psychologie findet sein Ende erst in der Instrumentalisierung der Vernunft, die in dem Augenblick einsetzt, in dem die Vernunft wie in der modernen Naturwissenschaft und Technik nur noch als strategisches Handeln, als praktisch-technisch instrumentelle Vernunft, angesehen wird. Der Prozeß stellt zugleich eine zunehmende Marginalisierung der Vernunft dar: von einer einst an sich seienden, M. Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende, hrsg. von A. Schmidt, Frankfurt a. M. 1985, wiederholte Auf!. 1992, bes. das Kapitel »Mittel und Zwecke<<, S. 15-62. 22 M. Horkheimer: Zum Begriff der Vernunft, in: M. Horkheimer und Th. W. Adorno: Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurt a. M. 1962, S. 193-204. 23 G. W. F. Hege!: Wissenschaft der Logik, in: Werke in 20 Bden. und 1 Reg.-Bd. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a.M. 1986 [abgekürzt: Werke], Bd. 5, S. 44. 21
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objektiven Struktur zu einem subjektiven Vernunftvermögen, das allerdings noch mit einem objektiven Verweisungscharakter ausgestattet ist, nämlich der Fähigkeit des Menschen zu weltbezogenem Denken, Erkennen und Handeln, schließlich zu einem bloß formalen, methodischen Instrumentarium der Weltbeherrschung. Diese Entwicklung von der Objektivität zur Subjektivität und weiter zur Instrumentalität kommt nach Horkheimer in der Ablösung des Substantivs . »Vernunft« durch den Dispositionsbegriff »vernünftig« bzw. »rational«· I »Vernünftigkeit« bzw. »Rationalität« zum Ausdruck. In der sprachlichen Modifikation von »rational« zu »rationell«, ebenso von »Rationalität« zu »Rationalisierung« deutet sich eine weitere Bedeutungsverschiebung an. Von dem ursprünglich weiten Bedeutungsumfang, der den ganzen Bereich des Logos abdeckt und sowohl die noetische wie die dianoetische Erkenntnis (vou~ wie öuivma) umfaßt und gleicherweise als »Vernunft« wie als »Verstand« wiedergegeben werden kann, bleibt nur die intellektuelle, funktionelle Komponente übrig, wie sie in der technisch instrumentellen Vernunftzum Ausdruck kommt. Daß Begriffe wie »rationell« und »Rationalisierung« einen pejorativen Beiklang haben, erklärt sich daraus, daß mit der ausschließlichen Konzentration auf strategisch funktionale Aspekte und die sie ermöglichenden isolierten Strukturen das Ganze aus dem Blick gerät, das ursprünglich mit dem Vernunftbegriff verbunden war. Der Gebrauch von Wörtern wie »Wegrationalisierung« oder »Rationalisierungsmaßnahmen« im Sinne des Abbaus menschlicher Arbeitskraft und der Ersetzung durch Maschinen, Computer und Roboter in Technik und Verwaltung sowie die damit eingeleitete Anonymisierung des Arbeitsprozesses und Inhumanisierung der Lebenswelt haben diese negative Tendenz noch verstärkt. Auch die mit der Vernunft zumeist verbundenen Macht- und Herrschaftsstrukturen, sei es gegenüber der Natur, der Gesellschaft, dem Individuum oder der Leiblichkeit, lassen sich aus einem zunehmenden Abrücken von der Idee des Ganzen erklären. Die Gleichsetzung der Formel »Vernunft = Rationalität« mit der Formel »Rationalität= Rationalisierung« führt zur Unterschlagung der essentiellen Beziehung zwischen theoretischer und praktischer Rationalität, anders gesagt, zur Ablösung der Einsicht vom Handeln, deren Einheit ursprünglich die Vernünftigkeit des Handeins begründete. Die nun nur noch praktisch wahrgenommene Rationalität wird, wor24
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Einleitung
auf Herbert Schnädelbach 24 aufmerksam gemacht hat, im Übergang von Rationalität zu Rationalisierung nochmals verkürzt zur technisch-instrumentellen Rationalität, zur Zweckrationalität, mit Unterschlagung der Wertrationalität (Max Weber), was sich in Naturbeherrschung, Bürokratisierung und Verstaatlichung der Gesellschaft manifestiert.
3. Von der Einheit zur Pluralität
Ein weiterer wichtiger Punkt ist hervorzuheben. Es fällt auf, daß nach dem durch Historismus, Relativismus, Empirismus und Positivismus bedingten nachhegelschen Traditionseinbruch nicht mehr von der einen Vernunft bzw. von der einen Vernunft in ihren diversen Aspekten, dem theoretischen, praktischen und ästhetischen, die Rede ist wie in der gesamten klassischen Periode von Platon über Kant bis HegeP, sondern nur noch von einer Pluralität von Rationalitäten. Auch hierin dokumentiert sich ein BegriffswandeL An die Stelle der einen Vernunft ist eine Vielzahl in Geschichte, Gesellschaft und Natur situierter Rationalitätskonzepte getreten, die das Programm einer geschlossenen Vernunft aufgeweicht und überführt haben in eine Vielzahl disparater, atomisierter Theorien über Vernunft. Insbesondere die sich großer Beliebtheit erfreuende Formel »Vernunft und Geschichte« 26 deutet an, daß es heute nicht nur um das Verhältnis der Geschichte zur Vernunft und ihrer möglichen Fundiertheit in dieser geht, sondern umgekehrt um das Verhältnis der Vernunft zur Geschichte mit der Konsequenz einer Historisierung der Vernunft. Das Programm einer Einheit der Vernunft hat sich als illusorisch erwiesen und ist einer Vielzahl heterogener Rationalitätsentwürfe gewichen, die sich jedem Klassifikationsversuch widersetzen. So finden wir heute, um einen Ausspruch Platons in bezug auf die Tugend H. Schnädelbach: Zur Rehabilitierung des animal rationale. a. a. 0., S. 16 f. Bei Platon tritt die eine Vernunft als Kalokagathia in der triadischen Gliederung von Wahrheit, Gutheit und Schönheit auf. Auch bei Kant fächert sich die eine Vernunft in eine theoretisch-kognitive, ethische und ästhetische. Die dieser Auffächerung zugrundeliegenden Vermögen: Verstand, Begehrungsvermögen (Wille) und Urteilskraft sind insgesamt Funktionen der einen Vernunft. Bei Hege! steht sowieso die eine Vernunft im Vordergnmd. 26 Vgl. H. Schnädelbach: Vernunft und Geschichte. Vorträge und Abhandlungen, Frankfurt a.M. 1987. 24
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zu variieren, nicht nur eine Vernunft, sondern einen ganzen Schwarm von Vernunftkonzepten. 27 Über die schier unüberschaubare Zahl von Einteilungen und Einteilungshinsichten belehren die folgenden Beispiele: Auf Max Weber 28 geht die Unterscheidung von Zweck- und Wertrationalität zurück, von denen die erste ein erfolgsorientiertes Handeln bezeichnet, das möglichst effektiv die Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels einsetzt und Zweck, Mittel und Nebenfolgen gegeneinander abwägt, und von denen die zweite ein nicht primär erfolgsorientiertes, sondern durch den Glauben an ethische, ästhetische, religiöse oder wie immer geartete Werte geleitetes Handeln meint, also ein durch den unbedingten Eigenwert des Verhaltens bestimmtes gesinnungsethisches Handeln. Karl-Otto Apel führt in seiner Abhandlung Das Problem einer philosophischen Theorie der Rationalitätstypen 29 als fundamentalsten Unterschied möglicher Rationalitätstypen den von formal-logischer und mathematischer Rationalität einerseits und transzendental-philosophischer Rationalität andererseits an, indem er den ersteren Typus an der syntaktisch-semantischen Widerspruchsfreiheit in einem formalisierbaren und axiomatisierbaren System propositionaler Sätze bemißt, den letzteren an der pragmatischen Widerspruchsfreiheit von Sprechakten bzw. von performativ-propositionalen Sätzen. In seinem Aufsatz Types of Rationality Today: the Continuum of Reason between Science and Ethics 30 führt er eine Vielzahl von Rationalitätstypen auf, neben dem wissenschaftlich-technologischen den philosophischen, sprich: transzendental-pragmatischen mit den Unterarten des hermeneutischen, ethischen und dialektisch-strategischen. Helmut F. Spinner: Max Weber, Carl Schmitt, Bert Brecht als Wegweiser zum ganzen Rationalismus der Doppelvernunft31 weist mit seinem Konzept der Vgl. Platon: Menon 72 a. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 1921, 5. rev. Auf!., besorgt von J. Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1980, S. 12f. 29 K.-0. Apel: Das Problem einer philosophischen Theorie der Rationalitätstypen. Programmatische Vorüberlegungen: Theorie der Rationalitätstypen als mögliche Antwort der Philosophie auf die Herausforderung eines neuen Irrationalismus, in: H. Schnädelbach (Hrsg.): Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt a. M. 1984, S. 15-31, bes. S. 23. 30 K.-0. Apel: Types of Rationality Today: the Continuum of Reason between Science and Ethics, in: Th. F. Geraets (Hrsg. ): Rationality to-day. La Rationalite aujourd'hui, Ottawa 1979, S. 307-340. 31 H. F. Spinner: Max Weber, Carl Schmitt, Bert Brecht als Wegweiser zum ganzen 27 28
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»Doppelvernunft« auf eine generelle und okkasionelle Vernunftform hin, von denen die eine als »Grundsatzvernunft« allgemeinen Regeln und Prinzipien folgt wie in der Wissenschaft, die andere als »Gelegenheitsvernunft« situationsgebunden außerhalb der Wissenschaft auftritt. P. S. Cohen unterscheidet in seinem Artikel Rationalität im Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe 32 zwischen traditionalistischer und anti-traditionalistischer Rationalität, wobei er zur letzteren jede Kausalbeziehung mit Ausnahme bloß reflexiven Verhaltens rechnet, zur ersteren nur solche Konzepte, die darüber hinaus eine Reihe von Bedingungen erfüllen, wie erstens die Verfolgung eines bestimmten Ziels, zweitens die Anwendung von Mitteln zur Erreichung desselben (Mittelanwendung), drittens die Benutzung empirisch begründeter Annahmen, die Mittel und Ziel verknüpfen, viertens die Supposition normativer Rahmenbedingungen, die die Präferenz für ein gewisses Ziel begründen, fünftens den bestmöglichen Gebrauch handlungsrelevanter Kenntnisse und Informationen, sechstens den Einbau der Handlung in breitere Strategien und siebtens die Benutzung logischer Prozeduren. Jürgen Mittelstraß 33 stellt innerhalb der europäischen Tradition eine auf Platon und Aristoteles zurückgehende Dichotomie von Rationalitätsmodellen fest, von denen die einen der Feststellung und Bestimmung von Gegenständen, mithin der Konstitution dieser dienen, die anderen der Erklärung von Gegenständen, d. h. der Geltungssicherung gegenstandsbezogener Aussagen. Daraus habe sich der Doppelaspekt von Forschungsrationalität und Darstellungsrationalität entwickelt, von denen die erstere Objektrationalität bzw. Objektkompetenz, die zweite Begründungsrationalität bzw. Metakompetenz sei. Herbert Schnädelbach wiederum sucht in seinem Buch Zur Rehabilitierung des animal rationale 34 auf der Basis eines Vorverständnisses der Vernunft als Begründungsstrategie eine Einteilung nach objektiven und subjektiven Gründen sowohl innerhalb des theoretischen wie des praktischen Bereichs. So gelangt er zur Unterscheidung von vier Typen, erstens Rationalismus der Doppe/vernunft. über die beiden äußersten Möglichkeiten, sich in einer irrationalen Welt rational zu orientieren, in: Merkur, Nr. 453 (1986), S. 923-935. 32 P. S. Cohen: Rationalität, in: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, hrsg. von J. Speck, 3 Bde., Göttingen 1980, Bd. 3, S. 531-537. 33 J. Mittelstraß: Forschung, Begründung, Rekonstruktion. Wege aus dem Begründungsstreit, in: H. Schnädelbach (Hrsg.): Rationalität, a. a. 0., S. 117-140, bes. S. 118120. 34 H. Schnädelbach: Zur Rehabilitierung des animal rationale, a. a. 0., S. 64-66. Vernunft und das Andere der Vernunft
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der kognitivistischen Rationalität, welche objektiven theoretischen Gründen folgt, seien sie kausaler, teleologischer oder funktionaler Art, zweitens der epistemischen Rationalität, welche durch subjektive theoretische Gründe, durch die Arten und Weisen zu erkennen und zu wissen, bestimmt ist, drittens der instrumentalistischen Rationalität, welche auf objektiven praktischen Gründen basiert und, da sie den Zusammenhang zwischen Handlungen und objektiven Handlungsbedingungen oder -folgen herzustellen vermag, als technische Begründung auftritt, und viertens der praktisch-kommunikativen Rationalität, welche auf subjektiven Handlungsgründen basiert, auf Absichten, Motiven, Interessen usw., mithin eine intentionale Begründung ist und im Bereich kommunikativen Handeins als argumentativ gestützte Koordination erscheint. Auf schließlich zwanzig Rationalitätstypen hat es Hans Lenk in seinem Aufsatz Rationalitätstypen35 in einer freilich von ihm selbst als unsystematisch deklarierten Liste gebracht, die sowohl offenkundige Überlagerungen wie auch offenkundige Reduktionsmöglichkeiten enthält. Er unterscheidet: 1. reine Folgerungsrationalität, traditionell »formale Rationalität« genannt, mit den Untergruppen a. deduktive Folgerichtigkeit b. Beweisbarkeit 2. hierarchisch-architektonische Rationalität 3. materiale Rationalität 4. rationale Rekonstruktion 5. Mittelrationalität oder instrumentelle Rationalität (Webers Zweckrationalität) 6. entscheidungstheoretische Rationalität mit den Untergruppen a. abstrakt-formale Entscheidungsrationalität b. strategische (spieltheoretische) Rationalität c. dialogische Rationalität 7. Rationalität als nachträgliche Selbstrechtfertigung 8. Wertrationalität (nach Weber) 9. moralische Rationalität (universelle deontologische Rationalität) 10. Rationalität als öffentliche Vertretbarkeit H. Lenk: Rationalitätstypen, in: Rationalität und Wissenschaft. Eine Ringvorlesung hrsg. im Auftrag des Zentrum Philosophische Grundlagen der Wissenschaften von G. Pasternack, Bd. 6, Bremen 1988, 5. 9-22, bes. 5. 11 ff.
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Einleitung
11. Verständigungsrationalität 12. pragmatische Vereinbarkeitsrationalität 13. reflexive Rationalität 14. konstruktivistische Rationalität 15. szientistische Rationalität 16. funktionalistische Systemrationalität 17.a. prinzipielle Rationalität 18.a. »Gelegenheitsvernunft« oder situationsflexible »okkasionelle Rationalität« (nach Spinner) 17. b./18. b. globale und lokale Rationalität (nach Elster) 36 19. vollständige Rationalität (nach ElsterJ3 7 20. unvollständige Rationalität (nach Elster) 38 • Die sachliche und sprachliche Verwirrung könnte nicht größer sein. Angesichts einer solchen rein rhapsodischen, narrativen Aufzählung nach den unterschiedlichsten Perspektiven wird das Bedürfnis nach Systematisierung und Orientierung um so dringlicher, ohne daß damit einem neuen Systematisierungszwang und Klassifikationsrigorismus mit »rigiden Einheitsimperativen« 39 das Wort geredet würde, gegen die sich die Postmoderne so vehement auflehnt. Da keine begriffliche Fixierung ganz ohne konventionelle Festlegungen auskommt, müssen auch hier aus Gründen der Präzisierung und Exaktheit solche getroffen werden. Ohne leitende zusammenfassende Hinsichten wie auch Distinktionen innerhalb einer Systematik ist philosophische Reflexion schlechterdings unmöglich. Unterscheiden lassen sich im Blick auf ein mögliches Vernunftsystem in weitester Bedeutung, handle es sich um ein geschlossenes oder offenes, folgende Einteilungsverfahren: (1.) eine paradigmatische Klassifikation. Unter einer solchen sollen die Auftrittsweisen und Ausgestaltungen der Vernunft aus den verschiedenen philosophischen Richtungen und Strömungen verstanden werden, etwa das transzendentalphilosophische oder transzendentalpragmatische oder hermeneutische oder wissenschaftstheoretische Rationalitätskonzept. Bei den Vernunftparadigmen laufen stets mehrere, im folgenden zu unterscheidende Intentionen, sektorielle wie strukturelle, zusammen. 36 37 38 39
J. Elster: Subversion der Rationalität, Frankfurt a. M., New York 1987, S. 40-48. A. a. 0., S. 33 ff. A. a. 0., S. 67. W. Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, S. 265.
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(2.) eine anwendungsorientierte Klassifikation. Bei dieser sind die Applikationsgebiete der Vernunft ausschlaggebend für die Einteilung, etwa der theoretische, praktische, ästhetische Bereich oder die Bereiche: Natur, Geschichte, Gesellschaft, Wissenschaft, Mythos. Unterstellt wird bei dieser bereichsspezifischen Einteilung, daß es sich um eine und dieselbe Vernunft handelt, die durch ihre Anwendung auf verschiedene Gebiete ihr jeweiliges äußeres Profil gewinnt. Theoretische, praktische, ästhetische, mythische Vernunft usw. wären hiernach lediglich sektoriell bedingte Aspekte einer einheitlichen Vernunft. Geht man jedoch davon aus, daß die Spezifität des Bereichs nicht ohne Auswirkung auf die Vernunftstruktur bleibt und sich theoretische, praktische, ästhetische Vernunft auch ihrer strukturellen Verfassung und Organisation nach unterscheiden, so gelangt man (3.) zu einer strukturellen Klassifikation. Hier geht es um die Auffindung und Zusammenstellung diverser Rationalitätsformen. Die Untersuchung wird auch unter dem von Hans Leisegang in die Diskussion eingebrachten Titel »Denkformen« 40 geführt. Daß Vernunft in Wissenschaft und Praxis einen je anderen Charakter hat und noch wieder einen anderen in Kunst und Mythos, ja daß sich auch innerhalb der Wissenschaft unterschiedliche Vernunftformationen finden, versteht sich von selbst. Im Unterschied zu den in den Naturwissenschaften gebräuchlichen Gesetzesformen, mit denen allgemeine, wiederholbare Strukturen bezeichnet werden, handelt es sich hier um signifikante Strukturmuster, um Typen- um einen geisteswissenschaftlichen Ausdruck zu benutzen -, wobei ein solcher Typus auch auf Natur- und Geisteswissenschaften selbst angewandt werden kann. Bevor sich das Ziel dieser Untersuchung mit Blick auf die getroffenen Distinktionen genauer fixieren läßt, ist noch eine weitere Klärung erforderlich, und zwar aufgrunddes Umstandes, daß das gesamte Spektrum von Rationalität durch den dominanten europäischen Rationalitätstypus verstellt ist.
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H. Leisegang: Denkformen, Berlin, Leipzig 1928.
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4. Begründung als Grundmuster der abendländischen Rationalität
Will man den Vernunftbegriff hinreichend weit fassen und die Vielfalt seiner Ausgestaltungen einbeziehen, ohne ihn vorschnell einzuengen, so muß man gegen ein Auslegungskonzept vorgehen, das für die abendländische Tradition dominant ist: gegen das Konzept des Myov ÖLMvm (rationem reddere), d.h. des Begründens, Argumentierens, Rechenschaft Gebens. Es hat seinen Ursprung in der griechischen Antike und wurde explizit erstmals von Platon im Phaidon 41 formuliert. Die dort technisch verwendete Formel weist bereits auf eine längere schulmäßige Tradition. Historisch entstand dieses Vernunftkonzept in der sogenannten griechischen Aufklärung im 6. Jahrhundert v. Chr. in kritischer Auseinandersetzung mit dem Mythos und in Absetzung von ihm. Die griechische Philosophie, die den Weg »vom Mythos zum Logos« beschritt, wie ein Buchtitel von Walter Nestle 42 lautet, gewann ihr Selbstverständnis in der Abgrenzung vom Mythos. In dem Maße, in dem die mythische Welt an Überzeugungskraft verlor und nicht länger mehr eine individuelle, soziale und kulturelle Identifikation gestattete, mußte nach einer anderen Form der Legitimation Ausschau gehalten werden, die den neuen Bedürfnissen entsprach: Dies war der philosophische Diskurs, der kritisch-argumentative Durchgang durch Sachverhalte, das Erwägen und Abwägen von Gründen, das dem forensischen Bereich entstammt. Obwohl sich die Auseinandersetzung über Jahrhunderte hinzog und das mythische Denken nie gänzlich suspendiert wurde, vielmehr unterschwellig in Märchen und Geschichten sowie in der religiösen Praxis weiterlebte, ging mit der alleinigen Inanspruchnahme der Vernunft durch den philosophischen Diskurs der Mythos als potentielle Rationalitätsform für die abendländische Tradition verloren. Daß die mythische Welt- und Wirklichkeitserfahrung keineswegs von Beginn an als irrationales Oppositum zum rationalen philosophischen Diskurs verstanden wurde, sondern eher als Komplement und Supplement der philosophischen Weltdeutung, geht aus dem schon erwähnten Phaidon hervor, in dem Platon den Mythos Platon: Phaidon 76 b, 95 d, 101 d. W. Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, 2. Auf!. Stuttgart 1975.
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neben der Argumentation zuläßt. Thema des Phaidon ist die Unsterblichkeit der Seele. Zu deren Erweis werden zwei Strategien akzeptiert, sowohl das A.Oyov Ötö6vm als rationales Begründen und Beweisen, kurzum als wissenschaftliches Argumentieren, wie auch das J!Uß-oA.oyEI:v, das Mythologisieren als Veranschaulichen und Bildermachen. Ihr Verhältnis zueinander wird nicht als Exklusionsverhältnis, sondern als Komplettierungs- und Komplementärverhältnis bestimmt .. Zwar stellt nach Platons Auffassung das wissenschaftliche Argumentieren die zu präferierende Zugangsweise zur Welt dar, doch tritt im Falle ihres Scheiterns oder ihrer Begrenzung ergänzend der Mythos hinzu. Auch dem Mythos wird eine Erklärungskompetenz eingeräumt, wenngleich eine andere als die argumentative. Ob dies eine verkappte oder unterentwickelte oder eigene Form von Rationalität ist, sei im Moment dahingestellt. 43 Wiewohl das Verhältnis »Logos- Mythos« an dieser Stelle nicht in extenso erörtert werden soll, seien einige markante Punkte hervorgehoben, in denen sich logisches und mythisches Denken voneinander unterscheiden. (1.) Selbst für den Fall, daß dem Mythos in präphilosophischer Zeit dieselbe Erklärungsfunktion bezüglich der Welt zugebilligt wurde wie in philosophisch-wissenschaftlicher dem Logos, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden darin, daß der Mythos unmittelbar auf die Wirklichkeit bezogen ist, der Logos mittelbar. Während der Mythos in Bildern, Vergleichen, Parabeln und unter Verwendung von Götter- und Heroengeschichten, die als Vorbilder der Menschenwelt und ihrer Ordnung fungieren, ein unmittelbarer anschaulicher Spiegel der Wirklichkeit ist, ist der philosophisch-wissenschaftliche Diskurs aufgrund seiner Begriffskonstruktionen ein mittelbares ErklärungsmodelL (2.) Mit der Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit hängen auch die Simultaneität und Sukzessivität der Darstellung zusammen. Während der Mythos die Welt holistisch erfaßt, gelingt dem philosophischen Diskurs ein Zugang zum Ganzen nur über den sukzessiven Durchgang durch die Teile. Nach dem Verlust der ursprünglichen Einheit und dem Zerfall der Ganzheit ist dem wissenschaftlichen DisHierzu bestehen verschiedene Thesen. Während nach E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, Tübingen 1924, 8. Auf!. Darm-
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stadt 1987, der Mythos eine Vorstufe und Präfiguration des Logos ist, wird er in dieser Arbeit als eine logische Form sui generis dargestellt.
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kurs die Ganzheit nur noch in Form einer Zusammensetzung der Teile zugänglich. Für den Mythos hingegen ist das pars-pro-totoVerhältnis symptomatisch, das im Teil bzw. im Moment das Ganze präsent sein läßt. So repräsentiert ein Erdklumpen nicht nur das ganze Feld, sondern ist dieses, ebenso wie der der Athene geweihte Ölbaum auf der Akropolis nicht nur alle Ölbäume Griechenlands repräsentiert, sondern die Gesamtheit derselben ist. (3.) Während der Mythos die Fülle der Wirklichkeit mit ihren heterogenen, antagonistischen Tendenzen, Kräften und Mächten, ihren latenten oder evidenten Widersprüchen unmittelbar einfängt und wiedergibt, versucht der rektifizierende Logos eine reduktionistische Wiedergabe durch ein konsistentes und kohärentes Relationssystem, das er wie ein Gradnetz der Wirklichkeit überstülpt, um diese einzufangen und auf Klarheit und Präzision hin festzulegen. (4.) Während der Mythos numinose Wesenheiten und Substanzen als Erklärungsgründe der Welt angibt, die Kurt Hübner »Individuen mit Allgemeinheitsbedeutung« 44 nennt und die man auch als »konkrete Allgemeinheitsstrukturen« bezeichnen könnte, weil sie überall an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten ohne Identitätsverlust mit derselben Bedeutung auftreten, erfolgt im wissenschaftlichen Diskurs die Trennung in konkreten Einzelfall und abstrakten Allgemeinbegriff bzw. Allgemeingesetz. Was im Mythos nivelliert ist, tritt im wissenschaftlichen Weltbild auseinander in Konkretes und Abstraktes, Einzelnes und Allgemeines, Reelles und Ideelles. Wenn der Mythos den Zyklus der Jahreszeiten durch den Abstieg Persephones in die Unterwelt und ihr Wiedererscheinen im Frühjahr sowie die Ausbreitung ihres Wesens über die ganze Sphäre erklärt oder den Wechsel von Tag und Nacht durch die Geburt des einen aus dem anderen, erklärt der Logos dies durch Naturgesetze wie die planetarischen Konstellationen und Veränderungen. Ein illustratives Beispiel findet sich in Platons Timaios 45 , in dem mythische und wissenschaftliche Erklärungsweise miteinander um die Vorherrschaft ringen. Danach läßt sich z. B. eine Feuersbrunst auf der Erde sowohl mythologisch-bildhaft wie wissenschaftlichastronomisch erklären, ersteres durch die Unfähigkeit des HeliosSohnes Phaethon, den Sonnenwagen seines Vaters zu lenken, wo44
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K. Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 111, 113. Platon: Timaios 22 c f.
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durch dieser von seiner Bahn gerät und die Katastrophe verursacht, letzteres durch die Abweichung der Planeten von ihrer normalen Umlaufbahn. (5.) Während der Mythos vorzugsweise biologische, der Lebenswelt entnommene Kategorien und Vorstellungen verwendet wie die von Geburt und Tod, Vermählung, Zeugung, Altern und Sterben, reduziert der wissenschaftlich-philosophische Diskurs die Sachverhalte auf Formales und Formalisierbares, nach Möglichkeit auf Quantifizierbares, das dem Bereich der Logik und Mathematik angehört. (6.) Einmal abgetrennt von der Realität, werden die Begriffe und Gesetze in der wissenschaftlichen Verwendung selbst in einen Begründungskontext gebracht von der Art eines Systems aus Stufen und Metastufen, indem speziellere Begriffe und Gesetze allgemeineren subordiniert werden und diese noch allgemeineren. Die Logifizierung einschließlich der Quantifizierung ist nicht das einzige, was das Myov ÖLÖ6vm vom !-L'U1toA.oyEi:v unterscheidet. Gerade im Phaidon, in dem der Terminus für das Begründen eingeführt wird, nämlich Myov ÖLÖÜvm, bemüht sich Platon um eine vollständige Eruierung der Begründungsursachen. In der Passage 95 e ff. versucht er anhand einer historischen Aufrollung des AitiaProblems im Durchgang durch die diversen Vorsokratischen Projekte eine systematische Zusammenstellung möglicher Gründe. Als aL'tlaL =Ursachen, d. h. ursächliche Sachen, aus denen alles entstanden ist, in die alles wieder vergehen wird und aus denen alles besteht, die somit allem zugrunde liegen und es erklären, nennt er zum einen materielle Ursachen wie Wasser, Luft und Feuer oder andere Konkreta. So wird die Frage, wodurch eines größer sei als ein anderes, aus materialistischer Perspektive durch die konkrete Kopflänge beantwortet, wohingegen eine logische Erklärung als Grund den Begriff der Größe angeben würde. Oder die Frage, wodurch ein Gegenstand schön sei, wird durch Farbe, Muster u. ä. beantwortet und nicht durch den logischen Begriff der Schönheit. Zum anderen wird das anaxagoreische Teleologie-Prinzip angeführt, das auf die Frage antworten soll, warum es für ein jedes Ding das beste sei, so zu sein, wie es ist, und sich so zu verhalten, wie es sich faktisch verhält, beispielsweise für die Erde, nach antiker Kosmologie im Mittelpunkt des Alls zu stehen, was nur im Blick auf das Ganze durch Angabe von dessen Selbsterhaltung und Konstanz erklärt werden kann. Als drittes nennt Platon logische Gründe, wie er sie in seiner Ideentheorie vertritt.
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Zwar handelt es sich nicht um die bestmögliche Begründung wie im Falle der teleologischen, gesetzt, daß eine solche überhaupt gelingt, wohl aber um die zweitbeste und sicherste Methode. Indem hier die Sinnendinge auf logische Begriffe und Gesetze gebracht werden, läßt sich die Frage, weswegen ein Ding schön sei, schlicht mit der Reduktion auf den Begriff »Schönheit« beantworten. Des weiteren kennt Platon noch den Unterschied zwischen eigentlichen und uneigentlichen Gründen, wobei die letzteren als bloße Mitursachen (conditio sine qua non) verstanden werden. So muß die Frage, warum Sokrates im Gefängnis ausharre anstatt zu fliehen, einerseits mit dem moralischen Argument - dem eigentlichen Grund - der Aufrechterhaltung der Staatsräson und der Akzeptierung des Urteils begründet werden, andererseits mit der Angabe der physiologischen Beschaffenheit des Sokrates - den uneigentlichen Gründen -, wie der Aufzählung der Knochen, Muskeln, Sehnen usw., die das Sitzenbleiben im Gefängnis erklären. Die letzteren Gründe entsprechen kausalen Ursachen. Bekanntlich hat Aristoteles diese Vorlage zu einem vierfachen Ursachen-( =Gründe-)system ausgebaut, das erstens die causa materialis, zweitens die causa formalis, drittens die causa efficiens und viertens die causa finalis enthält. Im Laufe der Geschichte haben diese vier Ursachen (Gründe) unterschiedliche Gewichtung erfahren, wobei sich die materiellen Ursachen als die problematischsten erwiesen. Schon Platon deutet im Phaidon auf die Inkompatibilität derselben mit den logischen Gesetzen, widerstreitet doch die Angabe materieller Gründe wie z. B. einer Kopflänge, durch die der eine größer, der andere kleiner ist als sein Vergleichspartner, dem logischen Gesetz, wonach gleiche Gründe gleiche Folgen haben. Während die kausalen Ursachen in der Neuzeit das mechanistische Denken dominieren und nicht nur den physikalischen Bereich okkupieren, sondern auch in den biologischen eindringen und aus diesem zeitweise selbst das teleologische Prinzip verdrängen wie im Darwinismus, hat sich in diesem Bereich am weitgehendsten das teleologische Prinzip erhalten. Fundamental aber für das gesamte europäische Denken ist die formale, logische Begründung geworden. Sie wird folglich mit der Verstandes- und Vernunftkultur schlechthin identifiziert und gilt als definiens der Vernunft überhaupt. Die Vorherrschaft eines bestimmten Vernunfttypus innerhalb eines Kulturraumes und die Verdrängung anderer darf jedoch nicht dazu verleiten, diesen für den ausschließlichen zu Vernunft und das Andere der Vernunft
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nehmen. Vielmehr gilt es, Ausschau zu halten nach anderen Vernunfttypen, die sich teils im außereuropäischen Raum wie im vorderen Orient, Indien und China durchgesetzt haben, teils selbst noch am Anfang unserer Kultur auftreten und auch später immer wieder in diese einbrechen. Es gilt zu untersuchen, ob nicht auch in Mythos, Kunst, Religion, Lebenswelt u. ä. verdeckte oder besser andere, bislang verkannte Formen von Rationalität vorliegen. Für diesen Zweck ist nach der Grundbedeutung von Vernunft bzw. Rationalität zu fragen, vorausgesetzt, daß sich eine solche überhaupt finden läßt, angesichts der heterogenen Ausprägungen. Welche Schwierigkeiten sich. hier auftun, ist daraus ersichtlich, daß man immer über den jeweiligen Vernunfttypus hinausgehen muß, in dem man zeit- oder kulturbedingt steht. Konkret heißt das, daß man fähig sein muß, sich in verschiedenen Denkstrukturen und Kontexten zu bewegen, um den eigenen eingeschliffenen Typus, in dem man weiterhin operiert, in seiner Begrenztheit zu erkennen. Nimmt man die eine Vernunft ernst, so ist nach dem Zustandekommen der Vielheit zu fragen, nimmt man die Vielheit und Hete- · rogenität ernst,. so ist zu fragen, ob sich diese noch unter einen Oberbegriff »Vernunft« subsumieren läßt und was dieser bedeutet.
5. Die Grundbedeutung von Vernunft: das Vermögen zur Strukturierung und seine möglichen Auslegungen
Auch wenn man nach Wittgensteins radikaler Sprachkritik nicht mehr naiv die Wesensfrage an eine Sache richten kann, wie dies in der sokratisch-platonischen Tradition mit der 'tL ean-Frage der Fall war, auch wenn man anstelle eines festumrissenen, verbindlichen Merkmalkomplexes sich eventuell mit Familienähnlichkeiten, mit prägnanten Mustern und Grundfiguren sowohl innerhalb eines Sprachspiels wie zwischen Sprachspielen zufrieden geben muß, so kommt man doch beim Definitionsversuch einer Sache - hier der Vernunft- um die Angabe gewisser fundamentaler Bestimmungen nicht herum. Zwar ist mit Wittgensteins Kritik die substanztheoretische Einstellung als Scheinproblem entlarvt, die einer substantiierten Zeit, einem substantiierten Nichts, einer substantiierten Vernunft nachforschte und den Anschein einer festen Gegenstandsbezogenheit der Begriffe erweckte, doch bleibt die legitime Frage nach der Verwendungsweise der Begriffe in einer Sprache, auch wenn statt des 36
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Substantivs »Vernunft« I »Ratio« Adjektive wie »vernünftig« I »rational« präferiert werden sollten. Die Frage nach der Grundbedeutung von Vernunft mag vorläufig mit einer Schilderung aus Platons Timaios 46 beantwortet werden. Im Timaios findet sich ein Schöpfungsbericht, der in manchen Aspekten dem alttestamentlichen Schöpfungsbericht ähnelt, nur mit dem gravierenden Unterschied, daß dieser, zumindest in seiner mittelalterlich kanonisierten, dogmatischen Interpretation, eine creatio ex nihilo meint, d. h. eine Erschaffung von Form und Materie aus dem Nichts, jener hingegen die Formung und Gestaltung der Welt aus vorgegebenem Material nach vorgegebenen Ideen. Dem göttlichen Demiurgen (Handwerker) fällt die Aufgabe zu, den vorliegenden ungeformten Stoff auf bestmögliche Weise nach vorgegebenen Ideen zu gestalten. Entsprechend den dualistischen Prinzipien Form und Materie weist der Timaios zwei Anfänge auf, deren erster die ideellen Formen betrifft, zu denen die begrifflich-logischen und mathematischen Strukturen gehören, und deren zweiter die amorphe Materie anbelangt. Am Beginn des zweiten Anfangs bestimmt Platon das Verhältnis beider Prinzipien, die dort unter dem Namen voü~ und UVUYXTJ auftreten, dahingehend, daß der VO'Ü~ die UVUYXTJ überreden müsse, seine noetischen Strukturen anzunehmen. Nicht von einer gewaltsamen Oktroyierung der Vernunftstrukturen auf das Andere der Vernunft ist die Rede, nicht von einer Versklavung der Materie durch den Geist, sondern von einer sanften, behutsamen Fügung und Aneignung, wiewohl der Prozeß ein Vorgang aktiver Gestaltung in bezug auf eine passiv verstandene Materie ist. Dieses Konzept hat nicht nur für die Antike, sondern für die gesamte abendländische, griechisch beeinflußte Tradition das Paradigma der Bedeutungsauslegung der Vernunft und ihres Verhältnisses zum Anderen abgegeben und kann in einem weiter gesteckten Rahmen auch zum Vorbild für das Verständnis von Vernunft überhaupt dienen. Unter Vernunft ist das Vermögen der Strukturierung der Welt zu verstehen, wobei Vermögen hier allerdings nicht im vermögenspsychologischen Sinne und schon gar nicht im leibphysiologischen Sinne gemeint ist, so wie das Sehen das Vermögen des Auges, also eines leiblichen Organs, ist. Die Fähigkeit zur Strukturierung, die gleicherweise dem Erkennen wie Handeln zukommt und letztlich de46
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ren Zusammengehörigkeit erklärt, reduziert sich hier auf eine reine Formanalyse, wobei es von sekundärem Belang ist, ob die Form bereits vorgegeben sind, in den Dingen liegen und lediglich durch Vernunft herausgehoben und ins Bewußtsein gebracht werden wie in realistischer Deutung oder ob sie seitens des Subjekts der Welt auferlegt werden wie in transzendentalphilosophischer Auslegung oder ob eine Parallelität zwischen beiden besteht. Wichtig ist nur, daß sowohl in epistemologischer wie handlungstheoretischer Hinsicht der aktive Aspekt gewahrt bleibt und auch in ersterem Kontext nie ganz verlorengeht, wie Platon dies bereits im Timaios andeutet, wenn er den Erkenntnisprozeß am Handlungsprozeß orientiert. Gemäß der These, daß man nur das wirklich einsieht und versteht, was man im Prinzip auch erzeugen kann, wird Erkenntnis als intellektuelle Rekonstruktion eines fingierten ursprünglichen Produktionsprozesses, als Nachvollzug einer ursprünglichen Handlung interpretiert. Dies weist Platons Schöpfungsbericht als Metapher für den Erkenntnisprozeß aus. Historisch hat sich die Orientierung der Erkenntnis an der Handlung über Laktanz' Ausspruch, daß nur der Urheber sein Werk kenne 47 , bis zu Kants aktiver, spontaner Erkenntniskonzeption und der im Opus postum um stereotyp wiederkehrenden Formel, daß wir die Erfahrung selbst machen, statt sie uns durch Wahrnehmung vorgeben zu lassen 48 , erhalten, ja weiter noch bis zum Operationalismus und Konstruktivismus der Erlanger Schule, und selbst Heideggers Primat des praxisbezogenen Besorgens vor dem theorieorientierten Anschauen und Denken erklärt sich daraus, daß dieses der abkünftige Modus jenes ist, quasi die interessenlos gewordene, ruhiggestellte Handlung. 49 Wenn Vernunft in Theorie und Praxis ein strukturiertes und strukturierendes Handeln ist, eine Verfahrensweise des Subjekts in bezug auf die Welt, dann läßt sie sich über den Handlungsbegriff sowohl seitens des Subjekts wie des Objekts aussagen. Wir begegnen daher der Vernunft in mehrfacher Hinsicht, die sich aus der SubjektObjekt-Spaltung und ihrer Relation ergibt. Zum einen heißen HandVgL Lactantius: De opificio dei, lib.14, 9, in: Opera omnia, rescensuerunt S. Brandt et G. Laubmann, Pars II, Fasciculus I, Prag, Wien, Leipzig 1893, S. 50. 48 Vgl. I. Kant: Opus postumum, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 22, Berlin, Leipzig 1938, S. 362, 366, 391, 392, 395 u.ö. 49 Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit [1927], 9. Auf!. Tübingen 1960, S. 149, vgl. S. 147, ebenso S. 153 ff., bes. 157 f. 47
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lungen im weitesten Sinne »vernünftig«: Aktivitäten, Vorgehen, Verfahren, Prozeduren. Hierzu gehören Denkakte, Erkenntnisleistungen mitsamt Beweisen, Begründungen, Argumentationen, Diskursen, Definitionen, Deduktionen, Schlüssen ebenso wie Sprachhandlungen, Lebensvollzüge, praktisch-technische Verfahren. Des weiteren werden die Vollzieher dieser Handlungen »vernünftig« genannt, mögen es Personen, Systeme, Institutionen oder sonstige Instanzen sein. Zum dritten heißen die auf solche Handlungen bezogenen Ziele und die aus solchen Handlungen hervorgehenden Resultate »vernünftig«. Sachen und Sachverhalte außerhalb dieser Handlungszusammenhänge werden ebensowenig »vernünftig« genannt wie reine, an sich seiende Ereignisse in Natur und Geschichte. Wenn in der philosophischen Tradition, z. B. bei Platon, Planetenumläufe als vernünftig bezeichnet werden oder in der Stoa das Weltgesetz, so deshalb, weil sie entweder, wie im ersteren Fall, selbst vernünftige Wesen sind, vernünftiger noch als menschliche Subjekte, und ihre Vernünftigkeit das Paradigma sogar für die menschlichen vernünftigen Handlungen und Verhaltensweisen abgibt, oder weil das Weltgesetz selbst die Struktur des Weltgeistes ist. Ebenso ist für Hegel die Geschichte deshalb vernünftig, weil man sie vernünftig ansieht. »Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an«, heißt es in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. 50 Anzumerken gilt es zwei Punkte: (1.) Die Definition der Vernunft als strukturiert-strukturierendes Handeln ist nicht eo ipso gleichbedeutend mit strategischem Handeln, wie es in der instrumentellen Vernunft gedacht wird, die auf einen möglichst effektiven Mitteleinsatz zur Einlösung der von ihr anvisierten Ziele aus ist, ohne ethische oder ästhetische Werte mitzubedenken. In dieser Instrumentalisierung der Vernunft, wie sie sich in der Neuzeit im Rahmen von Wissenschaft und Technik ausgebildet hat und nicht zu Unrecht mit einem negativen Beiklang versehen wird, fungiert die Vernunft nur noch als Mittel zur Beherrschung der Natur und zur Durchsetzung bestimmter Zwecke, unangesehen von deren Wert. Zwar gehört strategisches Handeln mit zur Vernunftveranlagung, zwar ist nicht zu bestreiten, daß die Ausbildung desselben gerade in der europäischen Geschichte zur HerrG. W. F. Hege!: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, S. 23.
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schaftsideologie geführt hat, doch ist die Verfassung der Vernunft hierauf nicht beschränkt, sondern weitergespannt; sie umfaßt ebenso Wertrationalität. Die Verfassung der Vernunft als strukturiert-strukturierendes Handeln ist als solches gänzlich unabhängig von einer Einstufung als Verfügungs- oder bloßes Orientierungswissen, um Ausdrücke von Mittelstraß zu gebrauchen. 51 (2.) Sofern Vernunft eine Methode, d. h. eine Verfahrensart von Erkennen und Handeln ist, steht sie notwendig im Spannungsfeld zwischen Anfang und Ende (Ziel) eines Weges, zwischen Teil und Ganzem, wobei es im Moment gleichgültig ist, ob es sich um ein geschlossenes Ganzes oder um ein offenes Feld handelt, in dem Ziele willkürlich gesteckt werden. Als f.tE'Ö'oÖo~, d. h. als Weg von hier nach dort 52 , muß sie stets das Ganze, sowohl das absolute wie das relative, im Blick haben. Diese Konstellation ist derart konstitutiv für die Vernunft, daß sie auch als Radikalvermögen bezeichnet wird, 53 das auf den Grund des Ganzen geht und das Ganze in seiner Ganzheit auslotet. Vom Zugang zum Ganzen, von der Art und Weise der Erfassung desselben bestimmt sich auch die Auftrittsweise der Vernunft. Wird eine instantane Erfassung des Ganzen, d. h. auf einmal oder mit einem Schlag; wie Fichte sagt 5\ unterstellt, so begegnet Vernunft als Intuition (intellektuelle Anschauung) oder Imagination. Noetische Erkenntnis ist eine Ganzheitserfahrung. Doch stellt diese intuitive Vernunft nicht die einzige Zugangsweise dar. Sie bildet ein zwar notwendiges, aber nicht exklusives Moment im Gesamtgefüge »Vernunft«. Sofern endliches Erkennen seinen Weg stets über Teile zum Ganzen und durch Teile hindurch nimmt, gehört die Diskursivität (dianoetische Erkenntnis) als zweites Moment notwendig mit zur Internverfassung. Noetische und dianoetische Erkenntnis, Vernunft und Verstand sind zwei Seiten eines und desselben Vermögens. Bezüglich der Diskursivität hat man mit diversen Strategien zu rech}. Mittelstraß: Der unheimliche Ort der Geisteswissenschaften, in: U. Engler (Hrsg.): Zweites Stuttgarter Bildungsforum. Orientierungswissen versus Verfügungswissen: Die Rolle der Geisteswissenschaften in einer technologisch orientierten Gesellschaft, Stuttgart 1995, S. 30-39. 52 !J.E'Itoöo<; meint griechisch» Weg<<. 53 Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 114, A 649 B 677. »Radikal<< kommt von lateinisch radix =»Wurzel<<. 54 Vgl. }. G. Fichte: Wissenschaftslehre 1804, in: Werlee (fotomechanischer Nachdruck von ]ohann Gottlieb Fichtes nachgelassene Wer/ce, hrsg. von I. H. Fichte, 3 Bde., Bann 1834/35), Berlin 1971, Bd. 10, S. 134, vgl. S. 115, 116.
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nen. In der folgenden Untersuchung geht es im ersten Teil darum, die möglichen, überhaupt denkbaren Strukturierungsweisen der Vernunft, d. h. die verschiedenen Vernunfttypen zu eruieren. Da sie stets auf das Ganze gehen, sind mit ihnen verschiedene Logiken angesprochen. Ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, lassen sich aufgrund empirischer Fakten, wie sie der Geistesgeschichte und dem Kulturvergleich zu entnehmen sind, folgende Typen differenzieren: 1. der lineare, additive Vernunfttypus (Listenmethode), 2. der dihairetisch sich verzweigende, hierarchische Vernunfttypus (Klassifikationsmethode ), 3. der zirkuläre (kreisförmige) Vernunfttypus (dialektische Methode), 4. der positive und negative Dialektik verbindende, metaparadoxale Vernunfttypus, der vom Nichts auf die zirkuläre Paradoxie verweist, 5. der analogische, assoziative Vernunfttypus (Entsprechungsmethode). Die Tatsache, daß die Gliederung mit Raumstrukturen operiert, verrät die tiefe Raumverwurzelung selbst abstraktester Begriffe wie desjenigen der Vernunft, wie sie auch sonst bei logischen Über-, Unterund Nebenordnungen zu beobachten ist oder bei der Sprechweise von Begriffsumfängen, ihrer wechselweisen Inklusion und Exklusion, bei der Darstellung logischer Strukturen durch die Eulerschen Kreise, Vennschen Diagramme usw. Diese Strategien gilt es zu analysieren. Im Anschluß daran ist ihr Verhältnis untereinander zu diskutieren. Was berechtigt, angesichts einer solchen Pluralität und Heterogenität noch den Allgemeinbegriff »Vernunft« zu verwenden? Sollte die Verwendung berechtigt sein, so kann sie gewiß nicht mehr im Sinne einer Klassifikation erfolgen, da so eine Teilstruktur zum Ganzen hypostasiert würde, während jeder Vernunfttypus Anspruch auf die Erschließung des Ganzen erhebt. Aus demselben Grunde scheidet auch jeder andere Typus als Superstruktur aus. Im zweiten Teil der Arbeit stehen das Andere der Vernunft und seine diversen Zugangsweisen zur Disposition, wobei zu eruieren ist, ob sich das Andere nur von seiten der Ratio erschließt oder eigene Erkenntnis- und Zugangsweisen besitzt. Die Erörterung umfaßt: 1. die via negativavon seiten der Ratio, 2. die positive Erschließung durch den Ansatz eines eigenen Vermögens, 3. die metaphorische Redeweise. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Da sich die Untersuchung möglichst unvoreingenommen der Vernunft und ihrem Anderen zuwenden will und daher mit einer Reihe von Vorurteilen aufräumen muß, gilt es, insbesondere auf jene in Mythos, Kunst, Lebenswelt usw. begegnenden Erschließungsweisen ein Augenmerk zu richten, die bislang als Opposita der Vernunft angesehen wurden. Sollte sich herausstellen, daß auch sie rationalen Prinzipien folgen, freilich anderen als denen des traditionellen Vernunftverständnisses, so gelangte man damit zu einer neuen Bewertung derselben.
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Erster Teil Rationalitätstypen
1. Kapitel Die Listenmethode
1. Bestandsaufnahme Eine der ältesten Wissenschaftsmethoden der Menschheit ist die sogenannte Listenmethode. Sie ist insbesondere aus dem altorientalischen, vorderasiatischen Kulturraum bekannt, während für den europäischen, griechisch geprägten Kulturraum und sein Wissenschaftsverständnis die dihairetische Klassifikationsmethode charakteristisch ist und die Basis für die formale axiomatische Logik abgegeben hat, die zusammen mit der ebenso formalistischen Mathematik das Grundmuster unserer Wissenschaftsauffassung bildet. Von den Sumerern im 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. erfunden die ältesten auf Tontafeln verzeichneten Wort- und Zeichenlisten stammen aus dem 4. Jahrtausend v. Chr., die ältesten, in Schuruppak gefundenen Gegenstandslisten aus dem 3. Jahrtausend (etwa 26002500 v. Chr.) -, wurde die Methode nach der Eroberung des ursprünglich von den Sumerern bewohnten Landes durch die Akkader von diesen übernommen und ausgebaut, insbesondere kanonisiert und zu großen Tafelserien zusammengefaßt. Die später in das Land eingefallenen Babyionier und Assyrer haben diese Tradition weitergepflegt. Aufgrund der vielfältigen kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Vorderasien und den angrenzenden Ländern findet sich diese Methode auch in Ägypten 1; auch dem frühen und klassischen Griechentum ist sie nicht unbekannt. Wie Platons frühe und mittlere Dialoge dokumentieren, gilt sie als eine Definitionsmethode, die jedoch unter dem Maßstab eines andersgearteten Wissenschaftsverständnisses als inadäquat kritisiert wird. Sporadisch taucht sie auch innerhalb des europäischen Wissenschaftsansatzes
Vgl. Th. Schneider: Die Waffe der Analogie. Altägyptische Magie als System, in: K. Gloy und M. Bachmann (Hrsg.): Das Analogiedenken- Vorstöße in ein neu es Gebiet der Rationalität, Freiburg, München 2000, S. 37-85. Ob die sumerische oder die ägyp-
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tische Auflistungsmethode älter ist und welche Verbindungen zwischen beiden bestehen, ist ungeklärt.
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Die Listenmethode
auf, wenngleich unter modifizierten Bedingungen, so zu Beginn der Neuzeit bei Francis Bacon, wo sie als eine der Grundoperationen wissenschaftlicher Forschung aufgeführt wird. Bevor die Frage beantwortet werden kann, ob es sich hier überhaupt um eine Wissenschaftsmethode handelt und, im Falle einer positiven Beantwortung, welcher Rationalitätstypus ihr zugrunde liegt, gilt es, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen und die Methode selbst näher zu kennzeichnen. 2 Zu diesem Zweck sei von der großen akkadischen Tafelserie barra-bubullu (»Zinsverpflichtung«) ausgegangen, die auf ältere sumerische Gegenstandslisten zurückgeht und weite Teile derselben kanonisiert. Sie umfaßt 24 Tafeln, auf denen Gegenstandsbegriffe in entsprechenden Keilschriftzeichen angebracht sind, und zwar linear untereinander geschrieben in satzloser Form. Ihre Anordnung erfolgt nach Bäumen und Holzgegenständen (Tafeln III-VII), Rohrarten und -gegenständen (Tafeln VIII-IX), irdenen Sachen (Tafel X), Leder, Häuten, chemischen Stoffen (Tafel XI), Metallen und Metallgegenständen (Tafel XII), Haus- und Wildtieren (Tafeln XIII-XIV), Fleisch und Körperteilen (Tafel XV), Steinen und Steinobjekten (Tafel XVI), Pflanzen (Tafel XVII), Fischen und Vögeln (Tafel XVIII), Wolle und Textilien (Tafel XIX), geographischen wie Sternennamen (Tafeln XX-XXII), Lebensmitteln und Menschenklassen (Berufsklassen) (Tafeln XXIII-XXIV). 3 Die Namen Vgl. hierzu den Aufsatz von W. von Soden: Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft, in: B. Landsherger und W. von Soden: Die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt. Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft, Darmstadt 1974, S. 21-133; J. Ritter: Babyion - 1800, in: M. Serres (Hrsg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1994, S. 39-71; D. 0. Edzard: Sumerisch-akkadische Listenwissenschaft und andere Aspekte altmesopotamischer Rationalität, in: K. Gloy (Hrsg.): Rationalitätstypen, Freiburg, München
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1999, s. 246- 267. Die Tafeln sind publiziert in Materialien zum sumerischen Lexikon I Materials for the Sumerian Lexicon, Rom 1937ff. Zur Anordnung vgl. L. Matou: Die lexikalischen Tafelserien der Babyionier und Assyrer, Bd. 1, Berlin 1933; W. von Soden: Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft, a. a. 0., S. 45 Anm.; D. 0. Edzard: Sumerisch-akkadische Listenwissenschaft .. ., a. a. 0., S. 254ff. Zur Rekonstruktion der babylonischen Pflanzenlisten vgl. R. C. Thompson: A Dictionary of Assyrian Botany, London 1949; zur Mineralogie vgl. R. C. Thompson: A Dictionary of Assyrian Chemistry and Geology, Oxford 1936; zur Fauna B. Landsherger unter Mitwirkung von I. Krumbiegel: Die Fauna des Alten Mesopotamien nach der 14. Tafel der Serie Ijarra =Ijubullu, Leipzig 1934; zu Töpferwaren vgl. W. Sallaberger: Der babylonische Töpfer und seine Gefässe. Nach Urkunden altsumerischer bis altbabylonischer Zeit sowie lexikalischen und literarischen Zeugnissen, Ghent 1996; zu Textilien und Beklei-
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Erster Teil: Rationalitätstypen
der Sterne werden nur kurz erwähnt, da hierfür gesonderte Tafeln zur Verfügung standen. Die Katalogisierung umfaßt somit vom Standpunkt unseres Wissenschaftsverständnisses botanische, zoologische, chemische, geologische, metallurgische, geographische, viktualische und berufsspezifische Bereiche, wobei in der Botanik Pflanzen und pflanzliche Produkte, in der Metallurgie Metalle und deren Erzeugnisse, in der Zoologie Tiere und Körperteile zusammengefaßt sind und die geographischen Listen mit der Bezeichnung von Feldern, Flüssen, Bergen und Ortschaften zugleich politische Listen darstellen. Den eigentlichen Gegenstandslisten sind in dieser Tafelserie zwei Tafeln (I und II) mit juristischen Begriffen und Phrasen vorangestellt. Außer dieser Tafelserie gibt es umfangreiche weitere Auflistungen zu den verschiedensten Sachbereichen. So sind Listen mit Götternamen bekannt, in denen in babylonischer Zeit 2000-3000 Namen auftauchen- Namen von Landes- bzw. Staatsgöttern, die zugleich die Götter der großen herrschenden Städte waren, von kleineren Stadtgottheiten sowie von Clan-, Sippen- und Familiengöttern. Die Namen der Könige samt ihren Regierungszeiten werden in chronologischen Listen bzw. Dynastienlisten aufgeführt und nach den Regentschaften vor wie nach der Sintflut unterschieden. 4 Auf dem Gebiete der Mathematik existieren vielfältige und verschiedenartige Rechentafeln, für die die sukzessive, tabellarische Aufführung von Rechenresultaten charakteristisch ist. Da Multiplikation, z. B. 4 x 22, nur sukzessiv ausgeführt werden konnte in Form von 22 + 22 + 22 + 22, die Multiplikation aber gerade bei den Landvermessungen des Fruchtlandes in Babylonien nach Überschwemmungen erforderlich war, führen die Multiplikationstabellen die Produkte der Seitenlängen von Rechtecken - umgeformt gleich in gebräuchliche Flächenmaße - in auf- und absteigender Zahlenfolge dung vgl. Artikel »Kleidung«, »Kopfbedeckung«, »Leinen«, in: Reallexikon der Assyriologie [ab Bd. 3: und Vorderasiatischen Archäologie], hrsg. von E. Ebeling und B. Meissner u.a., Bd.lff., Berlin, Leipzig u.a. 1928ff. [abgekürzt: RIA], Bd. 6, Berlin, New York 1980-1983, S. 31 ff., 197 ff., 583 ff. 4 Vgl. Th. Paffrath: Zur Götterlehre in den altbabylonischen Königsinschriften: mit einem ausführlichen Register der auf die altbabylonischen Götterlehre bezüglichen Stellen, Paderborn 1913, der drei Gruppen von Göttern im sumerischen Pantheon unterscheidet: Landesgottheiten, Stadtgottheiten und Familienschutzgottheiten. Zu Götterlisten allgemein vgl. W. G. Lambert: RlA, Bd. 3, Berlin, New York 1957-1971, S. 473 ff.; R. Litke: A Reconstruction of the Assyro-Babylonian God Lists, AN: JA-nuum and AN: Anu sa ameli (Diss., Yale Univ. 1958).
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Die Listenmethode
auf, so daß sie vom Feldmesser nur noch abgelesen zu werden brauchten. Anstelle des unbekannten Dividierens tauchen sogenannte Reziprokentabellen auf, die Division durch Multiplikation mit einem Reziproken substituieren, z. B. statt 32 : 8 32 x Ya rechnen. Daneben gibt es Tafeln, die mathematische Aufgaben formulieren, sogenannte Aufgabentexte, und zum Teil auch Lösungen und Lösungsmethoden mitliefern. Die letzteren werden als »Verfahrenstafeln« den bloß auflistenden »Tabellen« gegenübergestellt. 5 In späterer, babylonischer Zeit kommen astronomische Tafelserien auf, zunächst mit den Namen der Sternbilder; dann auch mit dem Stand der Planeten sowie Berechnungen der Mond- und Gestirnsbahnen. Sie ermöglichen Prognosen über die Periodizität der Finsternisse und führen aufgrund sorgfältiger Annalen über alle wesentlichen astronomischen Ereignisse zu neuen Einsichten über die Präzession der Tag- und Nachtgleichen. Breiten Raum nehmen die Omentafeln ein, die teils natürliche, teils künstlich herbeigeführte Vorzeichen sammeln, wobei Opfertierschau, z. B. Leberbeschauung, bei der Gestalt und Farbe der Leber ausschlaggebend sind, des weiteren Muttermale auf der Haut, Formen des Rauchs von Räucherbecken oder Reaktionen bei der Mischung von Öl und Wasser eine Rolle spielen. Diese Vorausschauen machen sich die Beobachtung physikalischer Vorgänge ebenso zunutze wie das Studium von Physiognomien und damit verbundenen Verhaltensweisen, Gedanken und Träumen. Auf medizinischem Gebiet gibt es Krankheitstafeln, die die Krankheitssymptome einschließlich ihrer Diagnose und die dazugehörigen Heilungsrezepturen aufführen, wobei oft mehrere zur Auswahl oder gegenseitigen Ergänzung angeführt werden. Angegeben werden nicht allein Arzneien samt Herstellung, sondern auch rituelle Gebote, magische Vorschriften. Im Bereich der Jurisprudenz finden sich Tafeln mit juristischen Begriffen und Phrasen, desgleichen Gesetzessammlungen, darunter das berühmte Gesetzes- und Reformwerk Hammurabis. 6 5 Vgl. J. Ritter: Babyion -1800; a. a. 0., S. 61. ' Während W. von Soden: Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft, a. a. 0., S. 112 f., diese wegen ihres angeblichen Verzichts auf die in anderen Gebieten zu beobachtende Vollständigkeit in der Stoffbearbeitung nicht zur wissenschaftlichen Literatur rechnet, ist es H. Petschow: Zur Systematik und Gesetzestechnik im Codex Hammurabi, in: Zeitschrift für Assyriologie und Vorderasiatische Archäologie, Bd. 57 (1965), S. 146-172, gelungen, nicht nur eine Systematik- einen Aufbau
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Eine besonders reichhaltige Tätigkeit entwickelte sich auf philologischem Gebiet bei der Erstellung lexikalischer und grammatikalischer Tafeln, die zu Übersetzungszwecken des Sumerischen ins Akkadische erforderlich wurden. Die zwei- bzw. dreispaltigen lexikalischen Tafeln bieten auf der linken Seite die sumerischen Begriffe, auf der rechten die akkadischen Synonyme sowie gelegentlich Glossen zur Aussprache des sumerischen Wortzeichens, zumal wenn dieses für mehrere sumerische Wörter gleichzeitig gebraucht wurde. Bei den grammatikalischen Tafeln handelt es sich um ein Spezifikum des Akkadischen. Sie stellen rein philologische Hilfsmittel zur richtigen Erfassung der fremden sumerischen Grammatik dar. Sie enthalten lange Beispielreihen für Formbildung und Satzbau des Sumerischen, wobei jede Form durch eine oder mehrere entsprechende akkadische Formen erklärt wird. Listen und Beispielsammlungen finden sich auf den verschiedensten damals bekannten Sachgebieten, wenngleich diese nicht immer den Stoffgebieten unserer Wissenschaft entsprechen, sei es, daß ihre Einteilungen wesentlich gröber ausfallen, sei es, daß sie sich für unser Verständnis überlagern. Wegen der Stereotypizität der Verfahrensweise und des sich darin dokumentierenden Ordnungs- und Gestaltungswillens wird die sumerisch-akkadisch-babylonische Wissenschaft nicht zu Unrecht eine Listenwissenschaft genannt. Typisch für die Listen ist die Beschränkung auf Substantive und substantivische Zusammensetzungen, die ursprünglich stets auf Gegenständliches wiesen; Verben und Attribute dagegen fehlen gänzlich, allenfalls kommen sie in Form von Nominalzusammensetzungen oder erläuternden Attributen zu Substantiven vor. Dies ist ein eindeutiges Indiz dafür, daß sich die Listenmethode nicht primär auf die Ordnung des Sprachschatzes bezieht, der gleicherweise Substantive wie Verben wie Attribute umfaßt, sondern auf die Ordnung der Wirklichkeit. Auch der Ursprung der Listenmethode, der in praktischen Bedürfnissen liegt, bestätigt dies. Angesichts der beträchtlichen technischen Probleme bei der Gravur von Stein- und Tontafeln mit dem Meißel wird man davon ausgehen müssen, daß zunächst nur die wichtigsten Gegenstände auf Tafeln verzeichnet wurden, etwa der Besitz von Tieren, Rohmaterial (Rohr), Haushaltsgegenständen eines nach Allgemein- und Individualsphäre- nachzuweisen, sondern auch für die Übergänge assoziative Gesichtspunkte anzugeben, die den lexikalischen Listen nicht unähnlich sind.
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Die Listenmethode
Herren, die Ländereien eines Fürsten, die Besitztümer und Güter eines Tempels. Es dürfte sich in erster Linie um Wirtschafts- und Verwaltungsurkunden, Besitzverzeichnisse und Felderpläne gehandelt haben, insbesondere in einem Land wie dem Zweistromland, dessen gesamte Ökonomie, Gesellschaftsstruktur und Kultur auf den jährlichen Überschwemmungen von Euphrat und Tigris und den dadurch bedingten Feldvermessungen basierte. In den chronologischen Listen versuchten die Herrscher darüber hinaus, ihren Herrschaftsanspruch durch Rückführung auf mythische Vorfahren zu legitimieren. Durch Festlegung der Genealegien sollte die Erinnerung an die Vorzeit wachgehalten werden. So hatten die Listen nicht nur die Aufgabe, Kenntnisse über das gegenwärtige räumliche Gebiet zu strukturieren, sondern auch die, diese Strukturierung nach rückwärts in die Zeit auszudehnen. Im Zuge einer immer umfassender und subtiler werdenden Beherrschung der Wirklichkeit einerseits, einer zunehmenden Ablösung von rein praktischen Bedürfnissen andererseits, verbunden mit einer Verselbständigung der Listenwissenschaft, ergab sich daraus das Verlangen nach sachlicher Vollständigkeit, wie es für die sumerisch-akkadischen Tafeln charakteristisch ist. Alle bekannten Pflanzen, Tiere, Mineralien und das aus ihnen Hergestellte wie Speisen und Getränke, Kleider, Schmuck, Geräte und Bauwerke, ebenso alle Götternamen, Sterne, Gemarkungen, Ortschaften und Flüsse, kurzum, die gesamte damals bekannte, zumindest relevante Welt sollte auf diese Weise erfaßt und geordnet werden. Die Listen dokumentieren so zugleich das theoretische Bedürfnis nach enzyklopädischer Erfassung der Welt.
2. Charakteristik der Strukturierungsprinzipien Für das Verständnis der Listen und das in ihnen obwaltende Ordnungsschema sind die Grundsätze von Belang, die bei der Auswahl und Anordnung der Gegenstände eine Rolle spielen. Sie definieren letztlich das Ordnungsgefüge. Zunächst fällt auf, daß es im Sumerischen weder einen Oberbegriff für Tiere noch einen für Pflanzen gibt, unter welchem die diversen Tier- und Pflanzenarten rubriziert würden. Beweis dafür ist, daß in aarra-aubullu, deren Listen als geschlossene sachliche Gruppen verstanden werden müssen, Pflanzen (Entsprechendes gilt für Tiere) an verschiedenen Stellen auftauchen, z. B. Bäume vor HolzVernunft und das Andere der Vernunft
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gerätenauf den Tafeln III-VII, Rohr- und Schilfarten vor Gegenständen daraus auf den Tafeln VIII und IX, sonstige Pflanzen (Kräuter, Gemüse) auf Tafel XVII. Ebenso gilt für die Tierarten, daß ein Teil der Fauna des alten Mesopotamien auf Tafel XIII und XIV zur Sprache kommt, besonders Haustiere- Schafe, Rinder, Kaniden und Feliden-, aber auch bestimmte andere Säugetiere, Reptilien, Amphibien, Krebse, Insekten, Schnecken; Vögel und Fische kommen getrennt von den anderen Tierarten auf Tafel XVIII vor. Auch das aus der griechischen Philosophie bekannte und heute im wissenschaftlichen Alltag gebräuchliche Schema von Über- und Unterordnung nach Gattung, Art und Unterart, also nach einem abstrakten Allgemeinbegriff, der als Oberbegriff fungiert, unter den, hierarchisch gestuft, die spezielleren Art- und Unterartbegriffe subordiniert werden bis hin zur Subsumption der Individuen, findet keine Anwendung. Dagegen wird eine bestimmte, aus dem Alltag bekannte, mehr oder weniger konkrete Einzelvorstellung, eine anschauliche Gestalt, etwa ein Hund, ein Rohr, eine Dattelpalme oder ein Schwert, ausgewählt, und ihr gemäß werden alle ähnlichen, mehr oder weniger verwandten Dinge, in denen diese Gestalt wiederkehrt, zu semantischen Gruppen zusammengestellt, so daß diese Gestalt als Sammel- wie auch als Abgrenzungskriterium gegen andere Gruppen und somit als Ordnungsprinzip fungiert. Sie spielt die Rolle eines topalogischen Prinzips, das ein Kästchendenken ermöglicht. Im älteren, an Wortwurzeln armen Sumerischen hat diese Funktion ein einfaches Wurzelwort, dem meistens ein einfaches Zeichen der Keilschrift entspricht. Im Akkadischen übernimmt diese Funktion ein Determinativ, das so bereits etymologisch die Zugehörigkeit von Gegenständen zu einer bestimmten Gruppe indiziert. Solche Wortwurzeln sind z. B. dulc = »Gefäß«, dingir =»Gott«, giS =»Baum« und Holz, ur= »Hund, Löwe«, mus = »Schlange«. Soweit die Gestalt, z. B. die Hunde-(Löwen-)gestalt als ein Tierkörper mit vier Beinen, einem Schwanz und einem Kopf mit aufrechten Ohren, wie er auf den Ziegelglasuren der Pylonen der babylonischen Prozessionsstraßen zu sehen ist, in den Dingen identifiziert werden kann, wenngleich in je anderer Modifikation, in Löwe, Tiger, Gepard, Dachs, Biber, rechtfertigt dieser Tatbestand die Aufnahme derselben in die Klasse des Hunde- bzw. Löwenartigen und die sprachliche Derivation von ur. Die Modifikation kann durch Größe oder Kleinheit, Maskulinität oder Femininität, Wildheit oder Häuslichkeit, durch Gegenden wie Land und Wasser, bebautes oder unbebautes Land, Farben usw. gegeben sein; die darin anzutreffende 50
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Die Listenmethode
Gestalt aber ist das Gemeinsame. So ist der Wolf der »fremdartige Hund« (ur.bar.ra) gegenüber dem Haus- oder Wachhund als »angebundenem Hund« (ur.zir), der Dachs der »Erdhund« (ur.ki), der Biber oder Fischotter der» Wasserhund« (ur.a). Ebenso gilt für die Schlange (mus), daß es kleine und große und riesige, wilde und blinde, gürtelartige und horntragende gibt. » Riesenraupe« (Lindwurm) (mus.usumgal) ist die Bezeichnung für Drachen, »grüne (gelbe) Schlange« (mus.sig) die Bezeichnung für Waran, »Aalschlange« (mus.gu.bi) die Bezeichnung für Aal, »wilde Schlange« (muS.idim) die Bezeichnung für Viper, »blinde Schlange« (mus.igi.nu.gal) die Bezeichnung für Typhlons. In allen Fällen wird die Abwandlung etymologisch durch das Anhängen eines Zusatzes an das Determinativ ausgedrückt. Gleiches läßt sich am Beispiel »Seite« belegen, die, vom Menschen ausgesagt (akkadisch alju sa ameli =»Seite vom Menschen gesagt«), »Arm« bedeutet, hingegen vom Fluß ausgesagt (akkadisch abu sa nari =»Seite vom Fluß gesagt«), »Ufer«. 7 Hier wird deutlich, daß es dieselbe Gestalt ist, nämlich die in bezug auf ein Ganzes genommene Hälfte, die sowohl am Menschen wie am Fluß entdeckt werden kann und die die verschiedenen Erscheinungsformen als Derivate einer einzigen Gestalt verständlich macht. Versucht man, das hier obwaltende Ordnungsprinzip seiner Eigenart nach zu charakterisieren, so läßt es sich unter Verwendung der uns vertrauten Explikationsmittel und in gleichzeitiger Absetzung von diesen beschreiben: nicht als verstandesmäßiger Oberbegriff, unter den eine Vielzahl subordinierter Begriffe in hierarchischer Abstufung fällt, was bereits ein dianoetisches Vernunftvermögen, einen diskursiven Verstand, voraussetzte, sondern als anschauliche Gestalt, die allerdings nicht mit den Sinnesorganen wahrgenommen wird, da sich diese nur auf Einzelnes, Individuelles, unmittelbar Präsentes beziehen, sondern mittels eines Erkenntnisvermögens, das man von einer schon differenzierteren Betrachtungsweise aus als intuitive Vernunft (Vernunfteinsicht) oder intellektuelle Anschauung beschreiben kann. Es handelt sich um eine Gestalterkenntnis, um die Anschauung eines in gewissem Sinne vom Individuellen abstrahierten, aber dennoch figürlichen Schemas nach Art mathematischer Erkenntnisse. Auch diese verwenden bei der Konstruktion eines DreiVgl. W. von Soden: Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft, a. a. 0., S. 43.
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ecks oder Kreises jeweils ein bestimmtes, sei es spitz-, stumpf- oder rechtwinkliges Dreieck oder einen Kreis mit bestimmtem Umfang und Durchmesser, wobei es sich weder um individuelle Figuren handelt, da sie eine gewisse Variationsbreite und Iterierbarkeit aufweisen, noch um Allgemeinbegriffe, da sie auf bestimmte Formen beschränkt sind. ·Man hat bezüglich dieses Denkens, das noch nicht mit Generalisationen in Begriffen, Gesetzen und Regeln operiert wie das griechische, auch von Modellen gesprochen, handelt es sich doch bei diesen um jeweils einzelne anschauliche Vorbilder, Paradigmen, die in entsprechender Modifikation einen Gesamtbereich abzudecken vermögen. 8 Die hier begegnende Einzelgestalt hat eine Fortsetzung in der platonischen Idee (döo~, töea) gefunden, die, wie bereits die Herkunft des Wortes von griechisch LÖELV (lateinisch videre) =»sehen«, »schauen« erkennen läßt, die anschauliche Form der Dinge, ihr Aussehen, ihren Anblick meint, dessen gesamtheitliehe Erfassung nur über die intellektuelle Anschauung möglich ist. Ihrer ursprünglichen ontologischen,· noch nicht logifizierten, begrifflichen oder prädikativen Bedeutung nach ist die Idee das in den Dingen real präsente Gemeinsame. Die Tatsache, daß sich dies nur ad hoc, instantan, holistisch erfassen läßt, hindert nicht die nachträgliche Analyse, ja qualifiziert das Betreffende geradezu zur Basis einer begrifflichen Analyse durch den definierenden diskursiven Verstand; denn ohne die intuitive Erfassung dessen, was z. B. einen Kreis ausmacht, wäre seine logische Definition als Linie aller Punkte, die vom Mittelpunkt gleichen Abstand haben, nicht möglich. Mag auch die nachträgliche begriffliche Definition, sofern sie wahr wie falsch sein kann, einem wahrheitstheoretischen Dualismus unterliegen, die ihr zugrundeliegende Idee ist stets wahr, sofern sie erfaßt wird - oder sie wird nicht erfaßt -; für sie ist ein wahrheitstheoretischer Singularismus konstitutiv. Um ein solches bildhaftes Schema kommt auch die ganz anders geartete Kantische Erkenntnistheorie nicht herum, die sich dezidiert Vgl. }. Ritter: Babyion - 1800, a. a. 0., S. 56. Ritter zeigt anhand der altmesopotamischen Verfahrenstexte in Medizin und Mathematik, die Aufgaben und Lösungen samt Lösungswegen enthalten (in der Medizin die Angabe von Symptomen, Krankheiten und Rezepturen), daß sie als Vorbilder zur Lösung von Problemen benutzt wurden, die je nach Sachverhalt und Situation abgewandelt und interpoliert wurden und so einem Raster gleich die Wirklichkeit einfingen.
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Die Listenmethode op~rationalistisch und konstruktivistisch gibt, insofern sie das den unmittelbar sinnlich wahrgenommenen, konkreten Gegenstand mit dem abstrakten Verstandesbegriff vermittelnde Schema als eine Handlungsanweisung versteht, wie das sinnliche Datenmaterial unter den Allgemeinbegriff zu bringen ist. Die Operationsvorschrift bedarf einer synoptischen figürlichen Vorstellung, eines »Bildes«, zur Vermittlung des Allgemeinbegriffs mit dem individuellen Gegenstand, wobei Kant noch Stufen unterscheidet: das Schema eines Dreiecks überhaupt als allgemeine Erzeugungsregel eines Dreiecks, unabhängig von dessen Spitz-, Stumpf- oder Rechtwinkligkeit, sowie das schematische Bild als Erzeugungsregel für ein spitz-, stumpfoder rechtwinkliges Dreieck. Nahe legt sich vor allem ein Vergleich mit Goethes Urpflanze, die er auf seiner Italienreise 1787 in Palermoangesichts der südlichen Vielfalt von Pflanzen zu entdecken glaubte und die ihm als Archetypus aller Pflanzen, als deren nur intuitiv zu erfassendes Muster erschien, das in jeder von ihnen auf spezifische Weise verwirklicht ist. In sein Reisetagebuch notierte er unter dem 17. April1787:
»Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja die größte Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte. Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?«'
Das Spezifikum der Goetheschen Auffassung wird in seiner Kontroverse mit Schiller deutlich. Als Goethe Schiller seine Gedanken von der Urpflanze vortrug, erwiderte dieser: »Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.« 10 Während sich für den Kantianer Schiller die Idee ganz im Kantischen Sinne als ein Vernunftbegriff darstellt, der, selbst noch den Verstandesbegriffen übergeordnet, ein rein heuristisches Prinzip ist, ein bloßer Leitfaden auf der Suche nach Ganzheit und Vollständigkeit, der allenfalls zur Projektion eines Systemganzen in Form eines focus imaginarius 11 fähig ist, bleibt sie für Goethe in der 9 Goethes Werke. Harnburger Ausgabe in 14. Bden., Harnburg 1948-1960, wiederholte Auf!. [abgekürzt: Werke], Bd. 11, S. 266. 10 A. a. 0., Bd. 10, S. 540 (Glückliches Ereignis). 11 Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 644 B 672.
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Nachfolge Platons ein in den Dingen selbst präsentes anschauliches Prinzip, eine repraesentatio singularis, allerdings von universellem Charakter. In der erwähnten Auseinandersetzung mit Schiller nennt er sie auch eine »symbolische Pflanze« 12, wobei der Ausdruck »Symbol« (entstanden aus griechisch ou~ßaA.A.ELv) auf die Zusammenziehung einer Vielheit im prägnanten Ausdruck hinweist. Welche Gestalt bei der additiven, seriellen Zusammenstellung von Gegenständen in den sumerisch-akkadischen Listen jeweils leitend ist, ist aus heutiger, oft anders gearteter Sicht nicht immer leicht zu beurteilen, da sich die Sachgebiete bei einem Vergleich nicht ohne weiteres decken und man sich hüten muß, die heute vertrauten Differenzierungen, wie z. B. die zwischen Pflanzen und Tieren, eo ipso auf die sumerisch-akkadischen Kl~ssifikationen anzuwenden. Wenn in jenen Listen Pflanzen und pflanzliche Produkte, Bäume und Holzgegenstände, Tiere, Fleisch und Körperteile, Tongefäße und Brennöfen zusammengestellt werden, während wir diese als natürliche Gegenstände und künstliche Produkte oder als Ganzheiten und Teile oder als Produkte und Produktionsmittel unterscheiden, haben die Sumerer und Akkader hier offensichtlich Gemeinsamkeiten und Zusammengehörigkeiten empfunden, etwa von der Art des Pflanzlichen oder Tierischen überhaupt oder nach dem, was mit Ton zusammenhängt, was sie berechtigte, alles hierher Gehörige unter derselben Rubrik aufzuführen. Einteilungen und Schnitte sind im Seienden nicht definitiv vorgegeben, sondern lassen Variationen zu, ganz abgesehen von Komplettierungen und Sublimierungen, wie sie in der Wissenschaftsgeschichte beobachtet werden können, versteht sich doch von selbst, daß mit der Ausweitung des Gesichtskreises und Handlungsspielraumes sowie mit der Intensivierung der Forschung auch die Gliederungen ausgreifender und subtiler werden. Schnitte und Einteilungen sind weitgehend Produkte des menschlichen Geistes. Wie sie erfolgen, hängt von der jeweiligen Sichtweise des Klassifizierenden - des Einzelnen wie des Volkes - ab, von seinen Bedürfnissen, Interessen und Präferenzen. Dies bestätigt auch ein Kulturvergleich. Während Eskimosaufgrund ihrer klimatischen Situation unzählige Schneearten unterscheiden, den in Flockenwirbeln fallenden Schnee, die vom Sturm gepeitschten Schneefahnen, den am Boden liegenden Schnee usw.B, wird mit zunehmender Entfernung 12
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Goethe: Werke, Bd. 10, S. 540. Vgl. W. Müller: Indianische Welterfahrung, Stuttgart 1976, S. 18; P. Feyerabend: Irr-
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vom Polarkreis auch die Differenzierung begrenzter, und während die Aborigines in Australien aufgrundder geologischen Beschaffenheit ihres Landes, des Lößbodens, unzählige Ockertöne kennen 1\ schrumpft die Farbskala andernorts auf wenige Unterschiede zusammen. Die Leistung der Gestalterkenntnis, wie sie für die Listenmethode typisch ist, besteht grundsätzlich in der Einteilung des Seienden und Abgrenzung der Dinge voneinander gemäß der jeweils leitenden Gestalt. Dadurch, daß die Dinge mit einem bestimmten Namen oder Zeichen belegt werden, treten sie aus dem indifferenten, diffusen Hintergrund hervor und erlangen so überhaupt erst Existenz. Zugleich werden sie durch die Namen unterschieden. Namengebung und Schöpfung sind in der Vorstellung der Sumerer identisch. Die Benennung hat poetische Kraft. Eine vergleichbare Auffassung begegnet in der magischen Weitsicht, wie sie u. a. im Genesis-Bericht des Alten Testaments faßbar ist, wo Gottes Wort schöpferische, welterzeugende Kraft hat. Mag Goethe als Vertreter einer modernen Weltsicht im Faust darüber sinnieren, ob am Anfang das Wort oder der Sinn oder die Kraft oder die Tat war 15, für das mythische Denken fällt dies zusammen. Wenn die Leistung jeder Sprache darin besteht, eine - nämlich ihre- Welt zu erschaffen, mag es sich um eine statisch-substantielle wie in unserer Tradition seit Aristoteles oder um eine dynamischfluktuierende wie bei den Delaware-Indianern handeln, die Prozesse statt substanter Dinge mit Eigenschaften und Handlungen beschreiben16, oder um sonst eine, so liegt die besondere Bedeutung des Sumerischen in der eindimensional gliedernden Weitsicht. Die Welt wird mit einer Anzahl gleichrangiger Serien oder Reihen zusammengehöriger Dinge überzogen, die nebeneinander bestehen, ohne in einer globalen, hierarchisch oder zentralistisch gegliederten Weltordnung vereint zu sein. Allenfalls läßt sich die Zusammenstellung der Reihen nach Assoziationsgesetzen erklären, indem z. B. die ersten beiden Tafeln der barra-bubullu, die juristische Termini aufführen und mit Ausdrücken für Steuer, Tribut, Ertrag, Verpflichtung enden, wegeder Vernunft (Titel der Originalausgabe: Farewell to reason, 1986), aus dem Amerikanischen von J. Blasius, Frankfurt a. M. 1989, S. 163. Beobachtungen des Künstlers Nikolaus Lang, vorgetragen auf dem Symposium über Goethes Farbenlehre arn Goethe-Institut in Weimar vorn 11.- 15. 5. 98. 15 Vgl. J. W. von Goethe: Faust I, Vers 1224ff., in: Werke, Bd. 3, S. 44. 16 Vgl. P. Feyerabend: Irrwege der Vernunft, a.a.O., S. 163. 14
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in die »Holz«-Tafeln übergehen, weil im holzarmen Land Mesopotamien wertvolle Hölzer importiert oder als Tribut geliefert werden mußten und »Tribut leisten« wörtlich heißt »sich Holz auf den Nakken legen«, Oder es folgen auf die Holztafeln die Rohrtafeln, da gis und gi, »Holz« und »Rohr«, als die wichtigsten Rohmaterialien bei der Produktion miteinander wetteiferten. Um ein drittes Beispiel zu nennen: Nach der Aufstellung der Rohmaterialien: Holz, Rohr, Ton fehlen noch die für Zivilisationsgegenstände ebenso wichtigen Materialien: Leder und Metall, die prompt daraufhin erscheinen. 17 Nicht nur die Serien existieren innerlich unableitbar nebeneinander, allenfalls äußerlich assoziativ verbunden, auch die in ihnen zusammengefaßten Gegenstände werden trotz ihrer Ähnlichkeitsbeziehung nur aneinander- und aufgereiht, nicht aber auseinander abgeleitet. Eine Ausnahme könnte die Anordnung nach dem Kriterium der Einfachheit bzw. Komplexität bilden, wenn von einfachen Gegenständen- Baum, Rohr- ausgegangen wird und Zusammensetzungen oder Produkte daraus - Holzgegenstände, Schilfgegenstände - angeschlossen werden. Ungeachtet dessen ermöglichen die Kettenoder Reihensysteme, die an manche indianische Webmuster erinnern, lediglich ein Schubladenwissen. Sie sind nicht auf eine uni~ verselle einheitliche Ordnung ausgerichtet, sondern allenfalls auf Vollständigkeit der Reihen und Vollständigkeit der Gegenstände innerhalb der Reihen. Da aber auch diese Methode ein Schema zur Herstellung von Gliederung, Ordnung und Gestaltung ist, haben wir es hier mit einem bestimmten Rationalitätstypus zu tun, und zwar dem linear gliedernden, seriellen, additiven. Er weist auf ein parataktisches Denken im Gegensatz zu unserem hypotaktischen, wie es seit der griechischen Antike begegnet. Er strukturiert nicht nur das Denken und die Logik, sondern auch die Kunst, z. B. die Architektur. Findet man bei den Griechen zentralistisch ausgerichtete Tempel und Wohnkomplexe mit Vorhalle und Hauptraum, die nach einem vorgängig konzipierten Bauplan gestaltet sind, so im Vorderen Orient additiv, scheinbar willkürlich und wirr aneinandergereihte Bauelemente ohne zentrale Leitidee, für die auch der Name »Labyrinth-Bauweise« gebräuchlich ist. Die Tatsache, daß die Listenmethode historisch gesehen einer Frühkultur angehört, hat bei manchen Forschern zu der Meinung 17
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Vgl. hierzu D. 0. Edzard: Sumerisch-akkadische Listenwissenschaft, a. a. 0., S. 254 ff.
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geführt, daß es sich bei ihr um keine wissenschaftliche, rationale Methode handle, sondern allenfalls um eine vorwissenschaftliche, um eine »primitive Vorstufe« 18 unserer Wissenschaft und der ihr immanenten Rationalität. Selbstverständlich wird die Festlegung dessen, was als wissenschaftlich und rational zu gelten hat und was nicht, stets eine Definitionsangelegenheit bleiben. Wird der erst mit den Griechen ausgebildete und für das europäische Wissenschaftsverständnis charakteristische dihairetisch klassifizierende Rationalitätstypus als Wissenschaftsideal aufgestellt, dann scheidet jeder andere Typus als möglicher Kandidat aus. Wird hingegen ein anderer als ideal statuiert, dann bemißt sich an ihm der dihairetisch klassifizierende Typus als eine Vorform oder Abart oder Nebenform. Sofern es sich bei jeder der Verfahrensarten um eine verallgemeinerbare, ablösbare und generell anwendbare Methode handelt, um ein iterierbares Vorgehen, kann jede zu Recht Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Dies gilt auch für die sumerisch-akkadisch-babylonische Listenmethode, und zwar um so mehr, als ihre Kanonisierung und schriftliche Fixierung es erlaubte, über Generationen hinweg vom Lehrer auf den Schüler tradiert zu werden und so eine soziale und kulturelle Identität zu begründen.
3. Kritik
Wenn sich die Gegenstandslisten als Wissenschaftsmethode nicht haben durchsetzen können, sondern durch die griechische Wissenschaftskonzeption verdrängt wurden, so hat dies interne Gründe, die in der kritischen Auseinandersetzung Platons mit diesem Wissenschaftsmodell sichtbar werden. (1.) In den frühen und mittleren Dialogen Platons steht die Listenmethode oder Beispielsammlung wiederholt zur Disposition, und zwar im Kontext einer Wesensbestimmung der Dinge gemäß der sokratisch-platonischen 'tL eon-Frage, die auf das Wesen bzw. die innere Natur der Sachen und Sachverhalte abzielt. In solchen Kontexten wird sie als ein möglicher Kandidat für die Definition von Gegenständen verhandelt. Im Menon, in dem es um die Definition der UQ'YJ't~ (Tugend, W. von Soden: Leistung und Grenzen sumerischer und babylonischer Wissenschaft, a.a.O. S. 115.
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Tüchtigkeit) geht, beginnt der Mitunterredner mit einer Aufzählung von Fällen der Tugend im Sinne eines ostentativen, demonstrativen Hinweises »es gibt« oder »da sind« die Tugend des Mannes, der Frau, des Alten, des Kindes, des Knaben, des Mädchens, des Freien, des Sklaven und so nach jedem Alter, jedem Geschäft und jeder Handlungsweise19, worauf Platon einwendet, daß er nicht nach einem Schwarm von Tugenden gefragt habe, sondern nach der einen essentiellen Tugend, der Einheit ihres Wesens. 20 Ganz ähnlich verhält es sich im Laches, in dem die Definition der Tapferkeit ansteht. Den ersten Versuch, der in einer Aufzählung von Fällen der Tapferkeit besteht, wie sie nicht nur im Krieg beim Fußvolk und bei der Reiterei zu beobachten sind, sondern auch in Gefahren auf See, bei Krankheit und Armut, desgleichen in der Staatsverwaltung, und nicht nur bei Schmerz und Furcht, sondern auch bei Begierde und Lust 21 , kontert Sokrates mit dem Hinweis, daß es ihm um die Eruierung dessen gehe, was in allen diesen Fällen die Tapferkeit als solche in ihrer einheitlichen und durchgängigen Gestalt ausmache. 22 Gemessen· an der platonischen Intention, der es um die begriffliche Hervorhebung und Definition des in allen Einzelfällen durchgängig sich erhaltenden Prinzips (Gestalt) und um dessen Absetzung von anderen Gestalten geht, muß eine bloß summarische Aufzählung von Fällen als inadäquat erscheinen. Denn eine solche nimmt das Prinzip nur in Anspruch, expliziert es aber nicht. Das Problem wird erst lösbar mit einer eindeutigen Distinktion von Gestalt und Beispielen für diese Gestalt, von Einheit und Vielheit, Identität und Differenz, Allgemeinheit und Besonderheit, Ideellem und Reellem. (2.) Die Tatsache, daß bei der Auflistung die Gestalt, die eine Serie von Beispielen leitet, als anschaulich faßbare durch alle Glieder der Reihe hindurchgeht, also ein »Individuum mit Allgemeinheitsbedeutung«23 ist, wirft die Frage nach dem genauen Verhältnis zu den Gliedern der Reihe auf. Ein begriffliches Spezifikationsverhältnis nach Art einer hierarchischen Klassifikation scheidet aus, da sich das Verhältnis auf
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Vgl. Platon: Menon 71 ef. Vgl. a. a. 0., 72 aff. Vgl. Platon: Laches 190 eff., bes. 191 cff. Vgl. a. a. 0., 191 e. K. Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 111, vgl. S. 113.
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einer und derselben anschaulichen Ebene abspielt und nicht auf diversen Ebenen und somit die anschauliche Gestalt nicht als übergeordneter Begriff für subordinierte konkrete Fälle in Betracht kommt. Die durchgängige Gestalt verhindert das Hinauswachsen zu einem übergeordneten Allgemeinbegriff, dem die anderen Glieder der Serie zu subordinieren wären; sie verhindert die Trennung von Begriff und Anschauung. Auch an eine genealogische Ableitung, wie sie aus Hesiods genealogischen Klassifikationen, etwa des Dunklen, Nächtlichen bekannt ist, ist nicht zu denken. Bei dieser werden die diversen Glieder einer Reihe als sukzessive Derivate aufgefaßt, die sich von einem gemeinsamen Ursprung, sei es einem einzelnen Stammvater oder einer Stammutter oder einem Stammelternpaar, nach Art der Zeugung ableiten und folglich in näheren oder ferneren Verwandtschaftsbeziehungen und Nachfolgeverhältnissen stehen. Wenn Hesiod an den Anfang das Chaos stellt, dem Gaia, Erde, Tartaros und Eros folgen, oder wenn er aus dem Chaos das Schattenreich des Erebos und die Nacht hervorgehen läßt, aus der Nacht hinwiederum den Schlaf, Traum, Tod, die Mairen und die Keren, die Nemesis, den Streit und die im Westen, dem Ort des Sonnenuntergangs, wohnenden Hesperiden 24 , dann sind diese Reihen irreversibel. Übrig bleiben dann nur jene problematischen Verhältnisse zwischen der einen und selben anschaulichen Gestalt und den vielen verschiedenen Beispielsfällen; die Platon in der Einleitung seines Parmenides-Dialogs kritisch diskutiert. 25 Hiernach wäre die anschauliche, in allen Gliedern der Serie zugleich präsente Gestalt in diesen wie ein aufgespanntes Segeltuch über den Köpfen verschiedener Personen, nämlich in jedem nur teil- und stückweise. Und für den Fall, daß sie in jedem einzelnen nicht teilweise, sondern ganz als eine und dieselbe wäre, müßte sie von sich getrennt und verschieden sein. Sowohl die quantitative wie die qualitative Interpretation des Verhältnisses zwischen dem anschaulich Gestalthaften und seinen Beispielen führt zu Absurditäten, einmal deswegen, weil die Gestalt nicht wie ein Raumstück ein anschauliches, extensionales Ganzes ist, von dem die Glieder eingeschränkte Teile bilden, zum anderen deswegen, weil unter Beibehaltung des Identitätsgedankens die Gestalt niemals als
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Vgl. Hesiod: Theogonie 116ff., 2llff. Vgl. Platon: Parmenides 130 e ff.
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eine und dieselbe, d. h. als relativ ganze in einer Vielzahl differenter Fälle auftreten kann. Eine Interpretation nach dem Urbild-Abbild-Schema, die ebenfalls ausprobiert wird, scheitert ebenso. Denn wird wie beim anschaulichen Reihensystem keine Differenzierung von Ebenen oder Stufen zugelassen, wie dies nur beim begrifflichen Hierarchiesystem der Fall ist, dann ist ein regressus ad infinitum unausweichlich. Wenn nicht allein die Abbilder am Urbild als ihrem Paradigma orientiert sind, sondern auch das Urbild an den Abbildern, dann ist ein tertium comparationis erforderlich, das wiederum in bezug auf jene nach dem Urbild-Abbildverhältnis zu interpretieren wäre und so ad infinitum. Dasselbe gilt für die Herauskristallisierung des Gemeinsamen aus einer Mehrzahl von Beispielen, z. B. der Größe aus allen großen Gegenständen. Wird dieses Gemeinsame, das platonische Elöo~, im ursprünglich eidetischen, nämlich anschaulichen Sinne genommen genau wie die anschaulich-konkreten Gegenstände, so sinkt es auf dasselbe Niveau herab wie diese, aus denen es doch abstrahiert werden sollte. Die Nivellierung erfordert dann ein neues zusammenfassendes Drittes und ebenso ein Viertes, Fünftes usw. Die Schwierigkeiten lösen sich erst mit einer prinzipiellen Positionsänderung, der Unterscheidung von Anschauungs- und Begriffsebene sowie dem Übergang von dem der Anschauungsebene zugehörigen linear-seriellen Raster und Rationalitätstypus zur Begriffsebene mit dem ihr eigenen dihairetisch-hierarchischen Rationalitätstypus. Letzterer hat kulturell eine ganz andere Denk-, Wissenschafts- und Lebensweise eingeleitet.
4. Bacons Listenmethode
Die Listenmethode begegnet mutatis mutandis auch innerhalb des ausgebildeten europäischen Wissenschaftsverständnisses zu Beginn der Neuzeit bei Francis Bacon, und zwar speziell im Rahmen des gerade zu jener Zeit erstarkenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsprogramms. Bacon empfiehlt die Listenmethode als eine methodische Grundoperation, die, basierend auf Kenntnissen der Naturfakten, zusammen mit der Generalisationsmethode, dem induktiven Schluß, das methodische Instrumentarium der exakten, präzisen mathematischen Naturwissenschaften bildet. Diesem Um60
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stand, nämlich der Kombination der Listenmethode mit der Generalisationsmethode, die das pyramidale Klassifikationssystem des europäischen Wissenschaftstypus mit seiner Unterscheidung von Begriffs- und Anschauungsebene sowie seiner Auf- und Abstiegsmöglichkeit zwischen über- und untergeordneten Begriffen voraussetzt, ist bereits zu entnehmen, daß die Listenmethode hier einen gänzlich anderen Status hat als in altorientalischer Zeit und lediglich einen integrativen Bestandteil des europäischen Wissenschaftsdenkens bildet. Sie begegnet nicht mehr als die Wissenschaftsmethode schlechthin, sondern ist herabgesetzt zu einer Operationsweise unter anderen, wenngleich zu einer für Bacon bedeutsamen. Entsprechend der Relevanz dieser Methode nimmt ihre Deskription und Exemplifikation in Bacons Hauptwerk, dem Novum Organum, breiten Raum ein, und zwar so breiten, daß sie nach der Explikation der methodischen Prinzipien von Bacons Wissenschaftskonzept in Paragraph 10 des zweiten Teilbandes den gesamten Rest des Buches ausmacht und sich über mehr als vierzig Paragraphen hinzieht. Alle Wissenschaft stützt sich, wie Bacon in Paragraph 10 des Novum Organum IJ26, ausführt, vorab auf eine hinreichende Kenntnis des Untersuchungsfeldes, wie sie die Natur- und Experimentalgeschichte liefert. Dies entspricht dem Bedürfnis der Sinne (sensus), die immer, auch bei wissenschaftlicher Erfassung der Welt, involviert sind, geht es doch in den Wissenschaften nicht darum, zu erdichten und auszudenken, sondern aufzufinden, was die Natur von sich aus darbietet. Da diese Materialkenntnisse jedoch bunt und verwirrend sind, bedarf es zum Zwecke ihrer intellektuellen Bearbeitung zunächst der Sichtung und Ordnung, was in Zusammenstellungen, Tafeln und Auflistungen geschieht und nicht zuletzt wegen der Übersichtlichkeit dem Bedürfnis des Gedächtnisses (memoria) entgegenkommt. Erst auf dieser Basis kann der Verstand (mens sive ratio) als drittes Erkenntnisvermögen neben der Sinnlichkeit und dem Gedächtnis durch induktive Schlüsse, d. h. im Ausgang vom vorliegenden Besonderen und Rückgang auf das voraus- und zugrundeliegende Allgemeine die Grundsätze der Naturwissenschaft gewinnen. Da die Natur- und Experimentalgeschichte, die vom jeweiligen Erkenntnisstand der empirischen Forschung abhängt, nur den Rückgriff auf bislang schon bekannte Daten erlaubt und da das rein logische Induk26 F. Bacon: Neues Organon, 2 Teilbde. hrsg. und mit einer Einleitung von W. Krohn, lateinisch-deutsch, Harnburg 1990, Bd. 2, S. 300/301.
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tionsverfahren als Schluß vom konkreten Besonderen auf das abstrakte Allgemeine ebenfalls hinreichend bekannt ist, und zwar schon seit Aristoteles, sieht Bacon es als seine Wissenschaftsaufgabe an, sich auf die Explikation der Listenmethode zu konzentrieren. Diesbezüglich unterscheidet er mehrere Arten der Auflistung, die sich nicht aus verschiedenen Sachgesichtspunkten und -einteilungsprinzipien ergeben, sondern aus den verschiedenen Modi, d. h. den Auftrittsweisen einer und derselben Sache, beispielsweise dem Vorliegen oder Nichtvorliegen (Fehlen) einer bestimmten Eigenschaft oder ihrem differenzierten Vorliegen. So unterscheidet Bacon zwischen Listen positiver Fälle (tabulae essentiae et praesentiae) 27 , in denen Beispiele für das Vorkommen einer Sache aufgeführt werden, Listen negativer Fälle (tabulae declinationis sive absentiae in proximo) 28 , in denen in genauer Entsprechung zu den bejahenden Fällen die verneinenden aufgezählt werden, und Listen gradueller Unterschiede (tabulae graduum sive comparativae) 29 , in welchen positive Fälle entsprechend den jeweils variierten Umständen angeführt werden. Im Falle des Versagens der dreifachen Listen ist auf Subsidiärmaßnahmen zurückzugreifen, die in der Aufführung weiterer, insgesamt 27 Listen von sogenannten Vorzugsfällen (tabulae praerogativarum instantiarum) 30 bestehen, die durch ihre besondere Art mehr zu erklären vermögen als die gewöhnlichen Fälle. Um dies an einem Beispiel zu demonstrieren, der von Bacon selbst ausführlich erörterten Wärme: Stellt sich die Aufgabe, eine physikalische Wärmetheorie zu entwickeln, d. h. das Wesen der Wärme (forma calidi)31 zu erklären, dann sind in einem ersten Schritt alle positiven Vorkommnisse, d. h. alle Naturerscheinungen, an denen Wärme beobachtet wird, zu benennen und zusammenzustellen, als da sind: 1. Sonnenstrahlen 2. reflektierte Sonnenstrahlen, zustande kommend z. B. durch Brennspiegel 3. feurige Lufterscheinungen 4. Blitze Vgl. a.a.O., Vgl. a.a.O., 29 Vgl. a. a. 0., 30 Vgl. a. a. 0., rismus 52). 31 Vgl. a. a. 0., 27
28
62
S. 306 (Aphorismus 11). S. 306 (Aphorismus 12). S. 330 (Aphorismus 13). S. 374 (Aphorismus 21); zur Übersicht der Fälle S. 606 f. I 607 f. (AphoS. 302 (Aphorismus 11).
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Die Listenmethode
5. feuerspeiende Berge 6. Flammen 7. feurige feste Körper 8. natürliche heiße Quellen 9. kochende oder erhitzte Flüssigkeiten 10. Dämpfe, heißer Rauch, überhitzte Luft z. B. aus Hochöfen 11. trockene heiße Winde 12. Luft, die in unterirdischen Höhlen eingeschlossen ist 13. alles Haarige wie Wolle, Tierpelze, Vogelgefieder 14. alle dem Feuer eine Zeitlang ausgesetzten Körper 15. Funken, die aus Kieselstein oder Stahl durch starkes Anschlagen herausspringen 16. stark geriebene Körper usw. Unter 18. wird ungelöschter, mit Wasser begossener Kalk aufgeführt, unter 21. Pferdemist und anderer frischer Tierkot, unter 25. Gewürze und erhitzende Kräuter. In einem zweiten Schritt werden in die Liste der negativen Fälle in genauer Korrespondenz zu den positivenalljene Naturphänomene eingetragen, denen die Eigenschaft der Wärme fehlt, z. B.: 1. Mondstrahlen sowie Strahlen der Sterne und Kometen 2. reflektierte Sonnenstrahlen in höheren Regionen und in Polargebieten sowie weitere Gegenbeispiele 3. Kometen, Feuersäulen, Feuerbalken und andere Lufterscheinungen, die öfter im Winter als im Sommer auftreten und meistens mit großer Kälte und Trockenheit verbunden sind 4. Wetterleuchten, das nur leuchtet, aber nicht brennt 5. feuerspeiende Berge in kalten Regionen, z. B. in Island und Gränland 6. Irrlichter, die keine oder nur wenig Wärme erzeugen, Glorienscheine, das Leuchten des Meerwassers bei Nacht unter starken Ruderschlägen 7. Phosphoreszenz, z. B. bei faulendem Holz, das nachts leuchtet, ohne warm zu sein, ebenso bei den Schuppen faulender Fische, die nachts glänzen, ohne sich warm anzufühlen, bei Johanneswürmchen und Leuchtkäfern 8. hier fehlt ein verneinender Fall bzw. eine hinreichende Erforschung 9. Flüssigkeit in ihrer natürlichen Beschaffenheit, die nur eine Zeitlang die Wärme als eine von außen angenommene Eigenschaft hält und diese alsbald wieder abgibt Vernunft und das Andere der Vernunft
Jlr 63
Erster Teil: Rationalitätstypen
10. kühler Dampf, die Ausdünstungen von Ölen oder die Luft an sich, die der heißen Luft als verneinender Fall gegenübersteht 11. kalte Stürme je nach Jahreszeit, z. B. der Nordwind 12. Luft im Keller während des Sommers 13. Wolle, Felle, Federn u. ä., die nur von außen Wärme erhalten, usw. In die Liste der Grade oder der Vergleiche werden zum einen Fälle aufgenommen, die nicht aktuell Wärme aufweisen, jedoch eine gewisse Potenz (Anlage oder innere Bereitschaft) zur Wärme zeigen, zum anderen Fälle verschiedener Stärke und Grade von Wärme. Zu den ersteren zählen feste Körper wie Steine, Metalle, Schwefel, Erz, Holz, Wasser, die nur von außen Wärme zu empfangen vermögen, leblose oder abgetrennte Körperteile, deren Wärme gleich Null ist, Gegenstände, die vorher warm waren und sich abkühlen und einen Rest von Wärme bewahren wie Asche und Ruß oder Pferdemist, Pflanzen und Pflanzen teile, die zwar für das menschliche Gefühl keine Wärme aufweisen, sich aber dennoch wie eingeschlossenes Gras erwärmen können, Düngemittel aller Art, Kreide, Meersand, Salz, die eine Anlage zur Wärme haben. Die Beispiele lassen erkennen, daß sich Bacon um die Auffindung von Fällen bemüht, die entweder die Fähigkeit zur Erwärmung haben oder die Wärme als eine potentielle, nicht aktuelle in sich bergen. Zur zweiten Beispielreihe gehören Fälle mit unterschiedlicher Temperatur. Angestellt werden Vergleiche zwischen allen möglichen Gegenständen, angefangen von Tiergattungen untereinander - Fischen, Vielfüßlern, Schlangen, Vögeln-, über Tierarten- Löwe, Geier, Mensch-, über die verschiedenen Tierteile und -glieder untereinander bis hin zu den Himmelskörpern- Sonne, Planeten, Gestirnenund zu den übrigen Gegenständen - Metallen und anderen Stoffen -, wobei die unterschiedlichen Ursachen und die durch sie bedingten Grade untersucht werden. Wie Bewegung, Anstrengung, Genuß von Wein und Speisen, starkes Fieber und Schmerzen unterschiedlich hohe Temperaturen bei lebendigen Wesen erzeugen, so erzeugen die Gestirnskonstellationen, senkrechte Stellung, Erdnähe, Verbindung und Gruppierung der Sterne im celestrischen Bereich unterschiedliche Wärmegrade. Aus dieser Sammlung und Sichtung soll nach Bacon durch induktives Schlußverfahren vom Besonderen auf das Allgemeine die Form (forma) der Wärme erschlossen werden, welche hier ganz im 64
ALBER PHILOSOPHIE
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Die Listenmethode
platonisch-aristotelischen Sinne als Wesen bzw. innere Natur (quidditas) der Wärme verstanden wird. Wenn Bacon in diesem Kontext die Bewegung anführt unter Berufung insbesondere auf die Bewegung der Flamme oder die Bewegung kochender, brodelnder Flüssigkeiten oder unter Berufung auf die Wärmesteigerung bei vermehrter Bewegungszufuhr und Wärmeminderung bei Erlöschen der Flamme und Niederhalten der Bewegung32 , und wenn er Wärme als Spezialfall einer sich »ausdehnenden, gehemmten und sich auf die kleineren Teile stützenden Bewegung« 33 definiert, so rekurriert er hier auf eine im 17. Jahrhundert wohlbekannte Wärmetheorie, nämlich die Korpuskulartheorie, erschließt dieselbe aber mitnichten aus den beobachteten Fällen. Erschlossen werden kann allenfalls die bei Wärme zu beobachtende Expansion des Körpers hinsichtlich seines Volumens, nicht aber die Interaktion seiner Teile, das Aneinanderstoßen und wechselseitige Sich-Hemmen, das eine atomare oder korpuskulare Theorie der Materie voraussetzt. Wiewohl Bacon in der »ersten Lese über die Form des Warmen«34 ausdrücklich erklärt, daß es sich beim Verhältnis »Bewegung- Wärme« nicht um ein Kausalverhältnis handle, das sich wie alle Kausalverhältnisse auf einer und derselben realen Ebene zwischen zwei Instanzen abspielt, sondern um ein Verhältnis von Gattung und Art bzw. Individuum, wie es auch der Induktionsschluß verlangt, der zwischen realer und logischer Ebene oder zwischen verschiedenen logischen Ebenen spielt, ist genau dies nicht ersichtlich. Mag man darüber streiten, ob Bewegung Ursache von Wärme oder Wärme Ursache von Bewegung ist, ganz unverständlich bleibt aufgrund des beobachteten Materials, daß Wärme eine Spezifikation von Bewegung sein soll. Vielmehr handelt es sich hier um eine theoretische Erklärung bezüglich der beobachteten und beobachtbaren Erscheinungen, um eine physikalische Hypothese oder ein physikalisches Konstrukt hinter den Erscheinungen, das eine !lE'taßam~ d~ aÄÄo yevo~ verlangt. Hierin zeigt sich das Defizit der Listenmethode Bacons. Die bei der Auflistung leitende Gestalt oder Form kann immer nur eine phänomenale Gestalt sein, die der Phänomenalität verhaftet bleibt, niemals aber im Modus einer ganz andersartigen Erklärung diese Stufe 32 Vgl. a.a.O., S. 362/363 (Aphorismus 20). " A. a. 0., S. 373 (Aphorismus 20). 34 A.a.O., S. 361 (Aphorismus 20).
Vernunft und das Andere der Vernunft
.Pr 65
Erster Teil: Rationalitätstypen
übersteigt und ein theoretisches Konstrukt in bezugauf die Sinnlichkeit abgibt. Von dieser Art aber ist das Bedingungs- und Erklärungsverhältnis zwischen Theorie und Wirklichkeit, deren Glieder total different sind. Die grundsätzlich phänomenal ausgerichtete Listenmethode, die bei Bacon bereits in die logische Spezifikationsmethode eingebaut ist, kann eine !!E"taßamc; ELc; äA.A.o yf_voc; nicht leisten. Die weitere Entwicklung der wissenschaftlichen Methodik bei Zabarella und Galilei sowie in der neuzeitlichen Naturforschung überhaupt wird in die Richtung gehen, die Induktion durch Konstruktion zu ersetzen. An die Stelle der Auflistung und des induktiven Schlusses wird die zweigliedrige Methode des methodos resolutiva und des methodos demonstrativa treten, von denen der erste im ratenden Aufspüren von theoretisch begrifflichen Erklärungsgründen zu den zu erforschenden Erscheinungen besteht und der zweite im deduktiven Nachweis, daß die vorliegenden Erscheinungen tatsächlich aus den angenommenen Prinzipien folgen.
66
ALBER PHILOSOPHIE
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2. Kapitel Der dihairetische Rationalitätstypus
1. Abgrenzung: philosophisch-mathematische Rationalität Der im abendländischen Kulturraum vorherrschende Rationalitätstypus ist der dihairetische. Zusammen mit der mathematischen Rationalität gehört er zum formalen Kernbestand unseres durch die Griechen geprägten Wissenschaftsverständnisses. Er artikuliert eines der beiden Grundelemente des westlichen szientifischen Paradigmas, das inzwischen eine globale Ausweitung erfahren hat und als Ideal von Wissenschaftlichkeit überhaupt gilt. Der diesen Tatbestand ausdrückende Name »formallogische und mathematische Rationalität« 1 stammt zwar von Karl-Otto Apel, reicht aber der Sache nach bis in die Antike zurück. Die enge Zusammengehörigkeit von formaler Logik und formaler Mathematik, von rein begrifflichen Operationen und mathematischen Deduktionen und Konstruktionen, wurde erstmals von Platon zum Thema erhoben und gibt seither das Paradigma unseres Wissenschaftsverständnisses ab. Am Ende des fünften Buches der Politeia expliziert Platon anhand des Liniengleichnisses seine Ontologie und Epistemologie, dergestalt, daß er dem oberen Teil einer senkrecht zu denkenden, quatemal-proportional eingeteilten Linie auf ontologischer Seite die Ideen und Mathematika (Zahlen und Figuren) zuordnet und dem unteren Teil die konkreten Gegenstände und deren Abbilder und Spiegelbilder. Den Ideen und Mathematika entsprechen auf epistemologischer Seite noetische und dianoetische Erkenntnis (Vernunft und Verstand). Zielt das noetische Vermögen ausschließlich auf die intellektuell-intuitive, holistische Erfassung der Ideen, so bezieht Vgl. K.-0. Apel: Das Problem einer philosophischen Theorie der Rationalitätstypen. Programmatische Vorüberlegungen: Theorie der Rationalitätstypen als mögliche Antwort der Philosophie auf die Herausforderung eines neuen Irrationalismus, in: H. Schnädelbach (Hrsg.): Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt a. M. 1984, S. 15-31, bes. S. 25; ders.: Types of Rationality Today: the Continuum of Reason between Science and Ethics, in: Th. F. Geraets (Hrsg.): Rationality to-day. La Rationalite aujourd'hui, Ottawa 1979, S. 307-340, bes. 318.
1
Vernunft und das Andere der Vernunft
A- 67
Erster Teil: Rationalitätstypen
sich das dianoetische Vermögen auf den diskursiven Umgang mit den Ideen, ihre Synthese wie Analyse sowohl im philosophischen wie im mathematischen Bereich, wobei die eine Verfahrensweise dort beginnt, wo die andere aufhört. Während der dianoetische Verstand innerhalb der Mathematik nach dem Paradigma der euklidischen Axiomatik mit der hypothetischen Ansetzung von Axiomen, Definitionen, Postulaten usw. beginnt, deren Evidenz zwar für das daraus deduzierte System supponiert wird, aber nicht an sich unhinterfragbar ist, und aus ihnen die systeminternen Folgerungen zieht, bildlich gesprochen von oben nach unten verfährt, verfährt das philosophisch-dihairetische Vermögen umgekehrt von unten nach oben, indem es die anscheinend festen, sicheren Grundsätze der Mathematik auf höhere, umfassendere Gründe zu reduzieren versucht und diese wieder auf noch höhere, allgemeinere, bis es - zumindest theoretisch -zu einem voraussetzungslosen, absoluten Grund (avv:n:61tE'tOV) gelangt, der zwar Grund von allem anderen ist, selbst aber nicht mehr aus anderem begründet werden kann. Und während sich das mathematische Verfahren zur Demonstration seiner abstrakten Beweise der realen Gegenstände bedient, mithin anschauungsbezogen operiert, vollzieht sich der philosophische Diskurs im Medium der reinen Begriffe, indem er bei Begriffen (bei Platon Ideen) beginnt, bei solchen endet und durch solche hindurch verläuft. Beide Verfahren sind über die Grundsätze der Mathematik wie in einem Dreh- und Angelpunkt miteinander verknüpft. Darüber hinaus zeigen sie Gemeinsamkeiten, indem das mathematische Verfahren das logisch-begriffliche System auf Anschauung anwendet und das logisch-begriffliche Verfahren mit seinen Vorstellungen von Über-, Unter- und Nebenordnung nicht ohne anschaulichen Raumbezug auskommt. Obwohl beide dem oberen, intellektuellen Erkenn.tnisvermögen (yvG:Jm~) angehören und daher häufig unter den weiten griechischen Begriff des Logos subsumiert werden, zeigen sie spezifische Differenzen, die es ratsam erscheinen lassen, sie zunächst gesondert zu betrachten und erst nach ihrer isolierten Darstellung ihr Zusammenwirken zum szientifischen Paradigma zu erörtern. Da Anlässe, Intentionen, Programme, aber auch Schwierigkeiten von Verfahrensweisen (hier: Rationalitätstypen) in Entstehungssituationen häufig deutlicher hervortreten als im abgeschliffenen Gebrauch, folgen wir der Maxime, den logisch-begrifflichen, dihairetischen Typus zunächst dort aufzusuchen und zu studieren, wo er sich herausbildete, nämlich bei Platon. 68
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Der dihairetische Rationalitätstypus
2. Charakterisierung des philosophisch-dihairetischen Rationalitätstypus Platon hat vor allem in seinen Spätdialogen, dem Sophistes und Politikos, eine Reihe von Exempeln für dihairetische Rationalität angeführt, die er dort zur Definition des Sophisten und des Staatsmannes heranzieht. Darüber hinaus ist diese Methode als Gegenstand von Übungen innerhalb der Platonischen Akademie belegt, wo sie mit einer solchen Intensität und Extensität praktiziert wurde, daß sie den Spott des Komödiendichters Epikrates herausforderte. Ein Fragment belegt dies: »[ ... ] an den Panathenäen sah ich eine Schar Jünglinge zusammenkommen und hörte im Gymnasion der Akademie gar seltsame Reden. Sie stellten Definitionen über die Natur auf und bestimmten die Unterschiede in der Lebensführung der Tiere, im Wesen der Bäume und den Arten der Gemüse. Dabei kamen sie auf den Kürbis zu sprechen, zu welcher Art der gehöre. Zu welchem Resultate kamen sie da? -Zunächst machten sie sich wortlos an die Arbeit und verharrten geraume Zeit in nachdenklich gebückter Stellung. Dann rief plötzlich, während die andern noch nachdachten und nach einer Lösung suchten, einer, der Kürbis sei ein rundes Gemüse, ein anderer, er sei ein Gras, ein dritter, er sei ein Baum.« 2
Dem Bericht zufolge wird die Lektion in diesem Augenblick unterbrochen, dadurch daß ein zuhörender sizilianischer Arzt seinem Ärger über dieses Geschwätz in drastischer Weise Luft macht, wodurch sich aber die Schüler nicht stören lassen, und auch Platon selbst nicht ungeduldig wird, sondern den Schülern aufgibt, von neuem zu definieren: Sie aber teilten und teilten. Im Sophistes wird in der Absicht, den Sophisten definitorisch einzufangen, die Methode zunächst an einem wohlgewählten, hintergründigen Beispiel, dem des Angelfischers, demonstriert, das als Paradigma für die weiteren Definitionen fungiert und daher einer detaillierteren Analyse unterzogen werden soll. Ausgehend von der aus den frühen und mittleren Dialogen Platons bekannten ·d E
2
Vernunft und das Andere der Vernunft
/Ir 69
Erster Teil: Rationalitätstypen
Angelfischer Künstler
Künstler
(-texvt~l']~)
,/ '\. Sophist 6 hervorbringende erwerbende Kunst (rcOL!']~L><~ ~EXVI'])
,/
Sophist 2
umsetzende
(mittels Geld, Geschenk) (f1EmßA!']"tLXOV)
Sophist 5
Kunst
(><~!']~L><~ ~EXYTJ)
'\. bezwingende Kunst (mittels Gewalt)
Art und Weise
(XELQW'tL>
,/ Kampf
'-." Art und Weise
Nachstellung
( ayroVUTtLXOV) ( ß!']QEU"tLXOV)
,/ auf Lebloses (<'hpuxov) Sophist 1
'\.
auf Belebtes (ef1'1j!uxov) ,/ '\. auf Landtiere auf Tiere im Flüssigen
(rtEQ081']QLXOV)
Objekt
Gebiet
(EVUYQ081']QLXOV)
,/ in der Luft (Vogeljagd) ( OQVLßEU'tL><'I\)
'\. im Wasser (Fischfang)
Gebiet
(aALEU"tL><'I\)
,/ '\. mit Gehege mit Verwundung (Netzfang) (Wundfischerei) (EQ>
,/ bei Nacht
Mittel
(:!tAI']><"tL><'I\)
'\. bei Tag
Zeit
( VUX'tEQLVOV) ( ayXLO"tQEU"tLXOv)
,/ mit Harpune
'-." mit Haken
Richtung
('tQLOÖOV't[a) (aorcaALEU"tL><'I\)
70
ALBER PHILOSOPHIE
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Der dihairetische Rationalitätstypus
2., 3. und 4. Definition des Sophisten erwerbende Kunst (><1:T]1:L>GTJ 1:E)(VT])
/ Sophist 2
umsetzende (aH.a>
<~)
/ Kampf/Handel (ayOQ
/ Sophist 4
Zwischenhandel
/
Schenken (ÖOJQT]'tLKOV)
/
Art und Weise der Mittel
\. Eigenhandel
Art und Weise der Ware
\.
zwischen Städten in der Stadt =Großhandel = Krämer (>G<~) (E!J.ltOQL><~) Handel mit Seele
(ihjQEU'tL%~)
\.
(J.LE'taßÄTJn><~) ( mhorrOJÄL><~)
Sophist 3
\. nachstellende
Ort
\. mit Leib
Objekt
('\jJU)(E!J.ltOQLK~)
/ Kenntnisverkauf
\. Schaustellung
(J.L<~) (EltLÖEL><'tLK~)
/
Art und Weise der Kenntnisse
\.
Tugendverkauf Kunstverkauf (1:E)(VOltOJÄL%0V) (1jJU)(EJ.IltOQL%~ ltEQL Myou(; >
Vernunft und das Andere der Vernunft
A-71
Erster Teil: Rationalitätstypen
5. Definition des Sophisten Kan:.pf ( ayWVL!TJ) ,/ ',. Wettkampf Gefecht (UJ.LLAAT]"tL>IOV) (J.LCI)(TJ'tL>IOV) ,/ ',. Leib gegen Wort gegen Wort= Leib= Wortstreit Gewalttätigkeit (ßtno~L>IOV) (UJ.L!flLOßTJ~TJ~L>IOV) ,/ ',. kunstlos kunstvoll [ohne Namen] (Streitgespräch) (EQL
Art und Weise
Mittel
Art und Weise
Mittel
(XQTJJ.LCI~O!pßOQL>IOV) (XQTJJ.LCI~L!OV)
,/ Geschwätz ( MoA.to)(Lxov)
',. Sophistik (OO!pL
Art und Weise
6. Definition des Sophisten Sonderungskunst ni)(VTJ) ,/ ',. [Name fehlt] Reinigungskunst (Ähnliches vom (Gutes vom Ähnlichen) Schlechten) (>!Clf:l<XQ'tL>!TJ) ,/ Leib Seele (OÖlJ.L<X) (1Jmxi]) ,/ ',. ,/ ',. Lebendiges Unlebendiges Bändigung Belehrung (EJ.L'Ijlti)(OV) (Ü'Ijlti)(OV) (xoÄa!TJ) (ÖLÖ<XO>IUAL>!TJ) ,/ ',. ,/ ',. innere äußere Lehre wie Erziehung Reinigung bei Handwerkern Reinigung (xcißaQOL\;) (:rtEQL 1:0 OÖlJ.L<X) (ÖLÖUO>ICIAL>!TJ) (:rtaLÖEu'tL>!TJ) (ÖTJJ.LLOtiQYLXa[) ,/ ',. ,/ ',. Gymnastik Medizin/Baderkunst Ermahnung Prüfung (gegen (gegen (voußE~TJ'tL>!TJ) (EAEY)(O\;) Häßlichkeit) Krankheit) (yuJ.LVU!TJ) (ta..:QLXTj/ßaA.nvtu'tL>!TJ) (ÖLCI>IQL'tL>I~
72
ALBER PHILOSOPHIE
Art und Weise des Objekts
Objekt
Art und Weise des Objekts Art und Weise des Objekts
Art und Weise der Handlung
Karen Gloy
Der dihairetische Rationalitätstypus
7. Definition des Sophisten hervorbringende Kunst
(ltotT]tL'K'ij tEXVTJ)
./
'>
göttliche
menschliche
(~aia)
(
Seinsgebiet
1
1 eigentliche
eigentliche
(UlJ'tOltOLTjtL1<1\) (UUt0ltOLTftLX1\) nachbildende
Art und Weise
nachbildende
(El.öwA.onouK1\) (eil\wA.onmLK1\)
./
'>
ebenbildnerisch
trugbildnerisch
(EL'KUOtLX1\)
( <pavtam:LK1\)
./
Art und Weise
'> Mittel
[ohne Namen] Nachahmung (mit Wirkung) (durch sich selbst)
(ll4!Tfl:L1<1\)
./
'>
kundige Nachahmung (mit Kenntnis)
Dünkelnachahmung (ohne Kenntnis)
(latoQL'KTJ jlLjlTfOLS)
(1\o!;oll'llTf-rL'Kl\)
./
Mittel
'>
Einfältigkeit (glauben zu wissen)
Verstellung (nicht glauben zu wissen)
(anA.oü, jlLjlT]t1\,)
(EiQOJVLXO' jlLjlTft1\,)
./
Art und Weise
'>
Langredner (Staatsmann)
Kurzredner (Sophist)
(j.LU'KQOAOyrotEQO')
(ßQUXEOL A.6ym,)
./
Art und Weise
'>
~
Nachahmer des Weisen
(!lL!lTfTTJ' toü oo<poii)
Vernunft und das Andere der Vernunft
~
73
Erster Teil: Rationalitätstypen
fiseher unter diesen Begriff falle, also auf jeden Fall ein l:EXVL't'Yjt;, ein Künstler bzw. Kunstfertiger oder, wie wir heute sagen würden, ein Sachverständiger, ein Experte sei. Sodann werden in einem zweiten Schritt die den l:EXVLL'Yjt; auszeichnenden 1:exvm (Künste, Fertigkeiten) unterteilt in die Klasse der hervorbringenden, produzierenden und die der erwerbenden, d. h. das Vorgegebene oder Produzierte umsetzenden. Auch hier wird Einvernehmlichkeit hergestellt, daß der Angelfischer in die Klasse der erwerbenden und nicht der produzierenden Sachverständigen falle. Im weiteren Verlauf wird die erwerbende Kunst geteilt in die besitznehmende aufgrundvon Geld oder Miete und in die besitzergreifende mittels Gewalt. Auch hier erfolgt eine konsensuell abgesicherte Ein- und Unterordnung des Angelfischers unter die letztere und so auch in allen folgenden Fällen, wobei immer ein Ausschnitt und Unterglied, und zwar das, unter dem der Angelfischer zu stehen kommt, weiter eingeteilt wird. In diesem Sinne wird die gewaltsam besitzergreifende, bezwingende Kunst geteilt in eine offene und eine heimliche Bezwingung, d. h. in Kampf und in Nachstellung, die letztere wiederum in eine solche auf Unbelebtes oder Belebtes, die Nachstellung auf Belebtes ihrerseits wieder in eine solche auf Tiere auf dem Land oder im Flüssigen, letztere in die auf Tiere in der Luft (Vogeljagd) und im Wasser (Fischfang). Der Fischfang seinerseits findet eine Unterteilung nach den dabei verwendeten Mitteln von Gehegen (Netzfang) oder Verwundung (Wundfang), dieser wiederum in Wundfang bei Nacht und in Wundfang bei Tag. Als letzte Unterteilung folgt die des Wundfangs bei Tag nach Geräten, entweder Harpunen oder Haken, von denen die ersteren von oben nach unten verwendet werden, die letzteren umgekehrt von unten nach oben. Das Resultat der Einteilung läßt sich bildlich in einer Gliederung ausdrücken, deren jeweils rechter Seite, nach Ausklammerung der linken, der Angelfischer zugeordnet wird. Dieser bestimmt sich als Experte, der der erwerbenden Kunst nachgeht, innerhalb dieser der bezwingenden, innerhalb dieser der heimlichen Nachstellung, innerhalb dieser der Jagd auf Belebtes, innerhalb dieser der Jagd auf Belebtes im Flüssigen, innerhalb dieser der auf Fische, innerhalb dieser der mittels Verwundung, innerhalb dieser der bei Tag, innerhalb dieser der mittels Haken. Das Beispiel vermittelt grundlegende Einsichten in die Struktur des dihairetischen Rationalitätstypus. Die Einteilung des durch den l:EXV'Yj-Begriff abgesteckten Seinsbereichs erfolgt nach dem Klassifikationsschema von genus proximum per differentiam specificam, 74
ALBER PHILOSOPHIE
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Der dihairetische Rationalitätstypus
wobei ein frei gewähltes Genus von möglichst hohem Rang zugrunde gelegt wird- sei es ein Ding, eine Eigenschaft, eine Verhaltensweise oder sonst etwas - und aus diesem dur~h Angabe einer spezifischen Differenz, eines Unterscheidungsmerkmals, die Arten gewonnen werden, aus diesen nach demselben Schema die Unterarten usw. Auf diese Weise resultiert durch Iteration des Schemas ein hierarchisch gestuftes System aus Gattungen, Arten, Unterarten, Unterunterarten usw., das bildlich als Begriffspyramide auftritt. Da es ebenfalls einem auf den Kopf gestellten, sich verzweigenden und verästelnden Baum gleicht, spricht man unter Verwendung nicht mehr mechanistischer, sondern organizistischer Kategorien auch von arbor Porphyriana. Platon selbst gebraucht im Sophistes 3 den Ausdruck cpüA.ov, Kant spricht wiederholt von der gemeinsamen Wurzel sowie den daraus entspringenden zwei Stämmen und weiteren Verzweigungen\ oder er benutzt den Vergleich mit einem tierischen Gliederbau5. Eingeteilt wird in zweierlei Hinsicht, zum einen in Hinsicht auf den Inhalt, der durch das definiens bzw. die definientia, die charakteristischen Bestimmungen einer Sache, bezeichnet wird und mit zunehmender Spezifikation anwächst, zum anderen in Hinsicht auf den Umfang, der die Gesamtheit der durch die Merkmale bestimmten Fälle umfaßt und mit absteigender Spezifikation enger wird. Zwischen Inhalt und Umfang besteht Reziprozität dergestalt, daß, je größer und reichhaltiger der Inhalt ist, desto kleiner, beschränkter der Umfang ausfällt, und umgekehrt je schmaler und eingeschränkter der Inhalt, desto größer der Umfang. Je abstrakter inhaltlich ein Begriff ist, je höher er in der Begriffspyramide aufsteigt, desto weiter und umfassender ist sein Umfang. Und je konkreter er durch zunehmende Spezifikation und Differenzierung wird, d. h. je weiter er in der Hierarchie absteigt, desto schmaler ist sein Applikationsbereich. Der vollständig und durchgängig bestimmte Begriff fällt idealiter mit dem konkreten Einzelfall, dem Individuum, zusammen. Anders ausgedrückt: Das Individuum als vollständig und durchgängig bestimmter Begriff fungiert als Limes eines unendlichen Spezifikationsprozesses und gibt als solcher das Ziel desselben vor, das aber unerreichbar bleibt. Individuum est ineffabile, lautet ein scho3 Platon: Sophistes 218 c. • Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 15 B 29; A 835 B 863. 5 Vgl. a. a. 0., A XIX; B XLIV; A 833 B 861.
Vernunft und das Andere der Vernunft
~
75
Erster Teil: Rationalitätstypen
lastischer Ausspruch. Während der abstrakte Begriff des Künstlers bzw. des Sachverständigen alle Arten der Kunst umfaßt, impliziert der relativ konkrete Begriff des Angelfischers nur noch wenige. Veranschaulicht man den Umfang des Genus durch ein Quadrat, so resultiert aus der inhaltlichen Spezifikation eine umfangmäßige Teilung in zwei Rechtecke, welche die Arten repräsentieren, aus deren weiterer inhaltlicher Spezifikation eine weitere Teilung in immer kleinere Abschnitte folgt und so in infinitum. Die umfangmäßige Teilung veranschaulicht der horizontale Schnitt durch die Begriffspyramide. Da jedem Rechteck inhaltlich ein charakteristischer Merkmalskompies entspricht, dessen Zustandekommen sich dadurch erklärt, daß das Genus idealiter durch ein Merkmal definiert ist, die folgenden Arten durch zwei, nämlich durch das vorhergehende und ein weiteres, die dann folgenden Unterarten durch die vorangehenden plus einer weiteren usw., vermag der vertikale Schnitt durch die Begriffspyramide das schrittweise Anwachsen der Bestimmungen zu zeigen. Konzentriert man sein Augenmerk auf das Grundschema genus proximum per differentiam specificam, das der iterativen Anwendung zugrunde liegt, so erkennt man zwischen Gattung und Art inhaltlich ein Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis, indem die Gattung die Grundlage und Voraussetzung der Arten bildet, während die Arten ihrerseits nur unter der Bedingung der Gattung möglich sind. Da die Arten selbst wiederum in bezug auf niedere Arten als Gattungen fungieren, iteriert sich die Relation von Grund und Folge. Der Fortgang ist die Fortschreibung dieser Dependenz. Und umfangmäßig besteht zwischen Gattung und Arten ein Teilungs- bzw. Inklusionsverhältnis derart, daß der Umfang der Gattung die Umfänge der Arten umfaßt und diese die Umfänge der ihnen subordinierten Arten usw. Der bisherigen Deskription und Analyse lassen sich wichtige Gesetze und Eigentümlichkeiten im Aufbau der dihairetischen Rationalität entnehmen: (1.) Die Dihairesis wird beherrscht von den drei klassischen Grundregeln: 1. dem Satz der Identität, 2. dem Satz des auszuschließenden Widerspruchs und 3. dem Satz des ausgeschlossenen Dritten. Der Satz der Identität bringt zum Ausdruck, daß jeder Begriff innerhalb der Begriffspyramide eindeutig und unverrückbar durch ein oder mehrere Merkmale charakterisiert ist, die sich aus der zugrun76
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Der dihairetische Rationalitätstypus
deliegenden Gattung und dem jeweils hinzukommenden spezifischen Artmerkmal ergeben. Da dies für alle Begriffe gilt, läßt sich deren Ort innerhalb der Begriffspyramide durch Auf- und Absteigen und Abgrenzen exakt definieren. Der Satz des auszuschließenden Widerspruchs besagt, daß ein Begriff, der durch ein bestimmtes Merkmal charakterisiert ist, nicht auch durch ein diesem widersprechendes charakterisiert sein kann. Ist ein Begriff durch A definiert, so kann er nicht auch durch non A definiert sein. Der Weißhaarige kann nicht auch nicht weißhaarig sein. Unter bestimmten Bedingungen, nämlich unter der Supposition der Geschlossenheit eines Systems, hat der Satz eine weitergehende Bedeutung. Er besagt dann, daß, wenn ein Begriff durch A bestimmt ist, er nicht durch B bestimmt sein kann, wobei non A mit B zusammenfällt. Denn sofern innerhalb einer geschlossenen Sphäre A und non A (= B) die einzigen Bestimmungen sind, die sich diese Sphäre teilen, impliziert die Negation von A eo ipso die Position des kontradiktorischen Gegenteils non A = B. Hier zeigt sich, daß die logischen Prinzipien zugleich eine ontologische Basis haben, aufgrund deren im Falle eines geschlossenen Systems Widerspruch und Gegensatz (Kontradiktion und Kontrarietät) identisch sind. Nicht so jedoch beim Ansatz eines offenen Systems, das, wie das unendliche Urteil zeigt, beliebig viele Möglichkeiten offenläßt. Um ein Beispiel zu nennen': Die Kreide ist entweder weiß oder nicht weiß. Wenn die Kreide nicht weiß ist, so braucht sie deshalb noch nicht schwarz zu sein, sondern kann jede andere mögliche Farbe aufweisen: blau, gelb, rot usw. Schwarz als konträres Merkmal zu weiß gilt nur unter der Prämisse der Geschlossenheit des Systems. Der formallogische Satz vom auszuschließenden Widerspruch impliziert also zunächst für non A keine positive Bestimmung, weder B noch C, D usw.; dies gilt nur für den Fall der Ontologisierung des formallogischen Systems. Echter Widerspruch setzt eine Reihe von Bedingungen voraus, die erfüllt sein müssen, damit überhaupt von einer Verletzung der Identität die Rede sein kann. Die Zahl der Bedingungen differiert zwischen rein logischer und realer Sphäre. Um ihre Nahmhaftmachung hat sich insbesondere Platon in der Politeia und im Sophistes bemüht. Nach der Politeia 6 sind es fünf Bedingungen, deren Festhalten oder Loslassen für das Zustandekommen oder das Unterbleiben von Widerspruch verantwortlich ist: erstens die Selbigkeit des Sub6
Platon: Politeia 436 b; vgl. 436 d f.
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jekts, zweitens die Selbigkeit des Prädikats, drittens die Selbigkeit der Beziehung auf anderes (Fremdrelation), viertens die Selbigkeit der Beziehung auf sich (Selbstrelation), fünftens die Selbigkeit der Zeit (in der Realität). So kann Sokrates in der Zeit, nämlich nacheinander, kleiner wie größer sein, das eine als Kind, das andere als Erwachsener. Ein Widerspruch stellt sich erst bei Gleichzeitigkeit der Behauptungen ein. Ebenso kann Sokrates in verschiedener Hinsicht als kleiner oder als größer bezeichnet werden, das eine in bezug auf diese Person, das andere in bezugauf jene. 7 Erst bei gleicher Hinsicht ist ein Widerspruch unvermeidlich. Und ebenso kann Sokrates in Beziehung auf sich eines wie vieles genannt werden, sofern er einmal als eine ganze Person und Gestalt im Unterschied zu einer anderen genommen wird, das andere Mal als Vielheit seiner Körperteile. Widerspruch tritt erst bei Gleichheit der Beziehung ein. Welche Konstellationen das Festhalten der Selbigkeit von Subjekt und Prädikat im rein logischen Bereich mit sich bringt, zeigt die Selbstprädikation höchster, generischer Begriffe, wie etwa des Einen, das immer auch ein Seiendes, ein mit sich Identisches und von anderem Verschiedenes, ein in sich Ruhendes usw. ist, also eine Vielfalt sich überlagernder Begriffe, die nur bei ausschließlichem Festhalten eines Moments zu Widerspruch und Selbstaufhebung führen, ansonsten zur ständigen Regeneration. Wenn daher gesagt wird, Eines sei auch nicht Eines, sondern Vieles, so ist dies noch kein Widerspruch, da das Eine nur gedacht und ausgesagt werden kann als Vieles: Seiendes, Identisches, Differentes, Ruhendes usw. Echter Widerspruch wie auch seine Vermeidung sind immer an gewisse Bedingungen geknüpft. Da im Blick auf ein geschlossenes System die Gesamtsphäre durchgehend zweigeteilt ist nach dem dichotomischen Prinzip in A und non A = B, ist ein Drittes ausgeschlossen (tertium non datur). Jeder Begriff fällt daher entweder unter A oder non A = B, was sich auf die Formel des Entweder-oder zuspitzen läßt; eine dritte Möglichkeit existiert nicht. Spätestens hier wird deutlich, daß die genannten Grundsätze die zweiwertige klassische Logik begründen. Wiewohl mit den genannten drei Grundregeln die gängigen logischen Prinzipien benannt sind, erschöpfen sich diese keineswegs hierin. Ebenso wichtig wäre es, die Prinzipien der Negation, der Differenz (Verschiedenheit), des Gegensatzes, der Kontinuität und Disparatheit, der Unendlichkeit und Endlichkeit usw. anzuführen. Iden7
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Im Phaidon 102 b wird Simmias größer als Sokrates, aber kleiner als Phaidon genannt.
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tität etwa, wie sie der Satz der Identität verlangt, ist als positives Zusprechen von Bestimmungen ohne gleichzeitige Negation und Abgrenzung von anderem nicht möglich. Die spinozistische Formel omnis determinatio est negatio hat diesen Sachverhalt auf den Punkt gebracht. Ebenso wäre die Frage der Durchgängigkeit (Kontinuität) oder Nichtdurchgängigkeit (Disparatheit) der systematischen Einteilung zu erwägen, wie sie Kant in der Kritik der reinen Vernunft 8 und in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft 9 angesprochen hat. Für eine systematisch durchgängige und zugleich vollständige Klassifikation des Seienden wären drei Prinzipien erforderlich: erstens das Spezifikationsgesetz, das die Gattung bzw. Art spezifizierend zerlegt, zweitens bei umgekehrter Perspektive das Klassifikationsgesetz, das die Arten auf ein gemeinsames Genus hin synthetisiert und ihm subordiniert, und drittens das Kontinuitätsgesetz, das die schrittweise, graduelle Abstufung verlangt. Wenn diese Prinzipien gewöhnlich nicht im Kontext der formalen Logik behandelt werden, so dürfte dies ausschließlich historische Gründe haben. Die Diskussion dieser Prinzipien wird auf die spätere Erörterung im Rahmen der dialektischen Rationalität verschoben. (2.) Eine vollständige, erschöpfende Einteilung, die die Gesamtheit des Seienden erfaßt, kann, wenn überhaupt, nur bei Anwendung eines dichotomischen Prinzips erwartet werden. Zwar ist eine trichotomische oder polytomisehe Einteilung der Sphäre möglich, aber gerade sie garantieren nicht die exhaustive Erfassung des Seienden. Daß hier ein Problem liegt, zeigt bereits die terminologische Distinktion von yf_vor; und f.tEQor;, Art und Teil, von denen das erste Glied der begrifflichen Sphäre, das zweite der extentionalen angehört. Gibt es zwischen beiden überhaupt eine Eins-zu-Eins-Relation und somit eine Deckung, oder ist dies ein Idealfall, dessen Realisierung ungewiß ist? (3.) Im Blick auf die Ganzheit des formalen Systems und den internen Spezifikationsprozeß besteht zwischen Anfang und Ende eine Asymmetrie, insofern das Ausgangsgenus für das formale System absolut gesetzt ist, mithin einen absoluten Anfang bildet, während das Ende wegen der beliebigen Iterationsfähigkeit des Grundschemas immer weiter hinausgeschoben werden kann in einem regressus ad infinitum. Verantwortlich für diesen ist letztlich die ins 8 9
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 657 f. B 685 f. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, Einleitung, Kap. IV und V.
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Unendliche teilbare Raumvorstellung, die im Hintergrund steht. Ein (h:of-tOV döo~ einen letzten, unteilbaren Begriff, der die Totalität der Bestimmungen repräsentierte, gibt es nicht, da zwischen je zwei Individuen, die als vollständig bestimmte Begriffe gelten müssen, stets noch ein weiteres gemeinsames Merkmal gefunden werden kann. Wenn ein Abbruch der Spezifikation erfolgt mit der Nennung eines ch:Of-tOV döo~, ist dies ein willkürlicher Akt. Platon führt im Politikos 10 aus, daß es je einen kürzeren und einen längeren Weg zur Definition eines Gegenstands gebe, indem man bei der Angabe der Bestimmungen Stufen überspringen oder diese auch ausdehnen könne. So könnte die Definition des Angelfischers beim Fischer enden, aber auch weitergehen bis zum Fischer mit Haken und prinzipiell noch weiter. (4.) Die Tatsache, daß die dihairetische Explikation unter Rekurs auf die Raumanschauung erfolgt und nicht unter Rekurs auf die Zeit, obwohl der Spezifikationsprozeß ein sukzessiv-temporaler ist, zeigt, daß es sich beim Klassifikationssystem um ein statisches System handelt. Supra-, Sub- und Koordination machen Gebrauch von räumlichen Vorstellungen und lassen sich ohne solche gar nicht denken. Sie drücken konstante Zuordnungen aus, so daß das Ganze den Eindruck eines starren Gefüges macht, auch wenn dasselbe im Spezifikationsprozeß nur zeitlich erobert werden kann. Von hier wird verständlich, daß das dihairetische System eine Ordnungs- und Herrschaftsfunktion wahrnimmt. Indem es jedem Seienden innerhalb der Hierarchie seine genaue unverbrüchliche Stelle zuweist, die von jeder anderen aus methodisch durch Aufund Abstieg oder Abgrenzung erreichbar ist, ermöglicht es nicht nur Übersicht, sondern auch Orientierung und damit Identifikation und Reidentifikation. In diesem Sinne Orientierungswissen, ist es immer auch ein Machtinstrument, ganz abgesehen davon, daß es in der Wissenschaft der Neuzeit als Verfügungswissen praktiziert wird. Die vorausgehenden Analysen haben deutlich gemacht, daß es sich bei der auf die dihairetische Methode stützenden Begriffspyramide um ein ideales logisches System mit ideallogischen Bedingungen handelt, das der Wirklichkeit oktroyiert wird, um diese begreifbar und beherrschbar zu machen. Zwischen dem denkbaren System und der durch die sinnliche Wahrnehmung zugänglichen Realität be10
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Platon: Politikos 265 a; vgl. 264 a f.
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steht eine Diskrepanz, da das formale System konstant und invariant ist, die Realität hingegen fluktuierend und veränderlich, durch Bewegung bestimmt. Bewegung meint nach griechischem Verständnis nicht nur wie heute Orts- bzw. Relationsänderung, sondern impliziert zumindest den vierfachen aristotelischen Sinn: erstens der lokalen Veränderung (Ortsbewegung), zweitens der quantitativen Zuund Abnahme, drittens der qualitativen Veränderung und viertens des substantiellen Entstehens und Vergehens. 11 Eine in diesem Sinne durch Ortswechsel, quantitative und qualitative Veränderung, Entstehen und Vergehen, kurzum durch Werden und nicht durch statisches Sein charakterisierte Welt fügt sich gerade nicht den logischen Gesetzen der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Vielmehr sind die realen Gegenstände nicht mit sich identisch und nicht eindeutig identifizierbar. Sie schließen Widerspruch und Gegensatz gerade nicht aus, sondern ein, unterstehen gerade nicht der zweiwertigen Logik, sondern lassen eine dritte Möglichkeit offen, sie sind vage und unpräzis, undeutlich und verschwommen, veränderlich und nicht selten indifferent. 12 Schwierigkeiten bei der Vermittlung des dichotomisch-dihairetischen Systems mit der Wirklichkeit sind geradezu vorprogrammiert.
3. Komplikationen
Die Realisierung des dichotomisch-dihairetischen Rationalitätstypus, seine Anwendung auf die Wirklichkeit bringt auf verss:hiedenen Ebenen und in verschiedenen Hinsichten Schwierigkeiten mit sich, und zwar erstens bezüglich der Namengebung (ÖVOJla- Myoc;), zweitens bezüglich des Verhältnisses von logischem und realem Gegenstand (A6yoc;- JtQÜYJla) und drittens bezüglich der Internstruktur des realitätsbezogenen logischen Systems. (1.) Wie die Platonischen Einteilungsübungen zeigen, finden sich des öfteren zu den logischen Einteilungen keine Namen (ÖVOJla) in der Sprache, entweder keine treffsicheren, prägnanten oder überVgl. Aristoteles: Physik, II, 1, 192 b 13ff.; III, 1, 201 a 9ff. Die zwölf Platonischen Bewegungsbegriffe drücken weitgehend Raumformen der Bewegung aus wie Gradlinigkeit, Kreisförmigkeit usw. oder ideelle Bewegung wie Autokinesis. 12 Vgl. die chaotische Mannigfaltigkeit von H. Schmitz: System der Philosophie, Bd. 1, Bonn 1964, S. 311f. 11
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haupt keine. 13 Der Grund ist darin zu sehen, daß die allein aus der logischen Übung entspringenden Einteilungen oft beliebig, nicht in der Sache begründet und daher im Alltag ungebräuchlich und ohne Namen sind. Zwar läßt sich für jede dihairetische Einteilung ein Logos, eine definitorische Erklärung durch Angabe von Gattungs- und Artbegriff geben, wegen der willkürlichen Einteilung aber nicht auch ein Name finden. Sondert man aus einer Gesamtsphäre einen x-beliebigen Teil aus, z. B. eine Myriade 14 oder 10 oder 12, so kann es zwar für diesen Teil einen eigenen Namen geben, und gegebenenfalls mag er sogar sinnvoll sein wie die Dekade oder Hundertschaft im Falle des Dezimalsystems, die Zwölf oder Sechzig im Sexagesimalsystem, für den Rest aber, der nach Absonderung dieses Teils übrigbleibt, findet sich keine spezifische und schon gar nicht eine sinnvolle Bezeichnung. Ebenso mag bei der Einteilung der Menschen in Hellenen und Barbaren 15 ein Name vorhanden sein, doch ist er nur im Falle der Hellenen auch sachlich in der Einheit des Volkes, der Gleichheit der Sprache, Herkunft und Kultur fundiert, während im Falle der Barbaren der Name nur eine Sammelbezeichnung für die vielen Volksgruppen mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Herkünften außerhalb Griechenlands ist. Zum Scherz fügt Platon im Politikos 16 hinzu, daß die Kraniche, wenn sie denken könnten, die gesamte Sphäre des Lebendigen in Kraniche und die übrigen Tiere einschließlich des Menschen einteilen würden, d. h. in das aus ihrer Sicht Relevante und Irrelevante. (2.) Mit dem Problem der Namengebung für eine logische Gattung oder Art deutet sich ein weiteres Problem an, das der Beziehung zwischen dem rein logischen System und der Realität. Gemeint ist damit das Problem der sachgerechten Definition. Die Konformität zwischen logischem und ontologischem System ist nur dann gewährleistet, wenn die Einteilung die in der Sache selbst liegenden Schnitte trifft. Das Geschäft des Logikers besteht daher darin, sachgerechte logische Einteilungen zu finden. In diesem Kontext vergleicht Platon den Logiker mit einem Opferpriester, der das Opfertier gliedgerecht entsprechend seinem natürlichen Organismus zerlegt und nicht willkürlich wie der Fleischer, der es in beliebige Stücke zerschneidet. 13 14 15 16
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Platon: Sophistes 226 d; Politilcos 265 c. Platon: Politilcos 262 d f. a. a.O., 262 c f. a. a. 0., 263 d.
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Damit wird angedeutet, daß zwischen dem rein logischen System und der Sache eine Diskrepanz besteht, die Platon u. a. anhand der nicht deckungsgleichen Termini döo~ und f!EQO~ (Art und Teil) erörtert. Wie die obigen Beispiele zeigten, z. B. das der Einteilung einer beliebigen Menge in eine Myriade und den Rest oder der Menschen in Hellenen und die übrigen Völker, trifft die Einteilung oft nur einen beliebigen, kontingenten Ausschnitt aus einer Gesamtmenge, sei es einen quantitativen oder qualitativen, aber nicht die Wesensbestimmungen. Die Garantie für eine sachgerechte Definition wäre nur unter zwei Bedingungen gegeben: erstens unter der Prämisse eines geschlossenen Systems und zweitens unter der einer dichotomischen Einteilung. Nur wenn feststünde, daß die das Ganze bezeichnende Gattung in zwei und nur zwei Arten zerfiele und diese wiederum in zwei und nur zwei Unterarten usw., so daß auf diese Weise die Gesamtsphäre des Seienden ohne Ausnahme stufenweise gegliedert wäre, bestünde die Gewähr, daß jede Einteilung genau den Komplex von Bestimmungen träfe, der der Einteilungsstufe und dem Wesen der Sache entspräche. Die Unerfüllbarkeit dieser Forderung wird deutlich an dem hintergründigen Beispiel des Sophisten. Der Versuch, den Sophisten definitorisch einzufangen, führt im SophisJes zu nicht weniger als sieben verschiedenen Definitionen. Vor dem Hintergrund des Definitionsparadigmas vom Angelfischer wird der Sophist in einer ersten Definition als Nachsteiler (Jäger) bestimmt zwar nicht auf Tiere im Flüssigen wie der Angelfischer, wohl aber auf solche auf dem Land, und zwar auf zahme, nicht auf wilde, bezüglich der ersteren auf überredende, nicht auf gewaltsame Weise, und bezüglich jener wieder durch privaten, nicht durch öffentlichen Umgang, bezüglich des erstgenannten durch Lohnforderung, nicht durch Geschenknahme und, was die Lohnforderung betrifft, auf scheinbar belehrende, nicht ergötzende Art. Kurzum, nach der ersten Definition ist der Sophist ein Jäger auf reiche Jünglinge. Die zweite Definition nimmt ihren Ausgang nicht wie beim Jäger von der bezwingenden Kunst, sondern von der umsetzenden und ordnet den Sophisten unter die durch Handel, nicht durch Schenken umsetzende Kunst ein, hier wieder unter die Zwischenhändler, die fremde, nicht eigene Ware umsetzen, hier wieder unter die Großhändler, die zwischen den Städten und nicht wie die Kleinhändler innerhalb einer Stadt Ware austauschen, und zwar Seelenware Vernunft und das Andere der Vernunft
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nicht materielle, auf den Leib bezügliche Güter -, und, was jene betrifft, unter die, die auf Kenntnisverkauf, nicht auf Schaustellung aus sind, des näheren auf Tugend-, nicht auf Kunstverkauf. Zusammengefaßt ist der Sophist ein Großhändler in Kenntnissen der Seele. Die dritte Definition sieht ihn nicht als Großhändler, sondern im Gegenteil als Kleinhändler, als Krämer innerhalb einer Stadt mit derselben Ware, nämlich mit Kenntnissen der Seele. Die vierte Definition bestimmt ihn nicht als Zwischenhändler fremder Ware, sondern als Eigenhändler mit eigener Ware. Die fünfte Definition sieht in dem Sophisten einen Kunstfechter im Streitgespräch, indem sie im Unterschied zur heimlichen Nachstellung vom offenen Kampf ausgeht und den Sophisten hierunter subsumiert. In der sechsten Definition wird ein gänzlich anderer Ausgang als im Angelfischerbeispiel gewählt und der Sophist als Scheidekünstler, genauer Reinigungskünstler in Sachen Seelenangelegenheiten eingestuft, wobei die Beziehung zum -cexvb:yt~ aber ungeklärt bleibt. Wo und wie die Einstufung des Scheidekünstlers qua Künstler erfolgt, bleibt undiskutiert. Die siebente Definition nimmt wiederum vom Angelfischerparadigma ihren Ausgang, aber im Unterschied zu den bisher vorgelegten Definitionen geht sie nicht von der erwerbenden, sondern von der produzierenden Kunst aus und bestimmt den Sophisten als einen angeblichen Sachverständigen, dessen Kunstfertigkeit sich auf menschliche, nicht auf göttliche Produkte bezieht, respektive jener auf solche, die auf trug- und nicht ebenbildnerische Weise zustandekommen, innerhalb jener wieder auf solche, die auf Nachahmung durch sich selbst und nicht auf Nachahmung durch Werkzeuge basieren, und innerhalb jener auf solche, die durch Dünkelnachahmung produziert werden usw. Das Sophistenbeispiel ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich, zeigt es doch die Variabilität und Abhängigkeit der Definition teils von der Relativität des Empirischen, teils von der Wahl der Einschnitte, teils von der Wahl des Ausgangspunktes. (a.) Die Tatsache, daß der Sophist respektive des -cexvhyt~-Sy stems unter verschiedene, im Rahmen eines geschlossenen Systems gegensätzliche Rubriken (Klassen, Arten) eingeordnet werden kann, die sich wechselseitig ausschließen, sowohl unter die der hervorbringenden wie nicht hervorbringenden, sondern erwerbenden Künstler, sowohl unter die der umsetzenden wie nicht umsetzenden, sondern 84
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bezwingenden, sowohl unter die der offenen wie nicht offenen, sondern heimlichen Nachsteller, sowohl unter die der Groß- wie NichtGroß-, sondern Kleinhändler, sowohl unter die der Verkäufer fremder wie nicht fremder, sondern eigener Ware usw., und dies alles bei Akzeptanz der Dialogpartner, deutet darauf, daß der durch den Namen »Sophist« bezeichnete Sachverhalt weder dem Prinzip der Identität noch dem des auszuschließenden Widerspruchs bzw. Gegensatzes noch dem des ausgeschlossenen Dritten untersteht, mithin, als dem Realsystem angehörig, offen und unbestimmt ist. Weder nach oben noch nach unten noch zu den Nebengliedern ist der empirische Sachverhalt innerhalb der Begriffsskala eindeutig fixiert, und indem er keinen festen Platz innerhalb der Systematik einnimmt, entfällt auch eine eindeutige interne Bestimmung. Mit Kant zu sprechen steht der empirische Begriff »niemals zwischen sicheren Grenzen« 17 • Sowohl seiner externen wie internen Abgrenzung nach, d. h. sowohl in bezug auf andere empirische Begriffe wie auch hinsichtlich seiner internen Merkmale ist er unbestimmt, so daß unausgemacht bleibt, ob damit überhaupt das Wesen getroffen ist oder nur ein beliebiger Ausschnitt. 18 Zwar kann der produzierende Künstler qua produzierender nicht erwerbender sein und umgekehrt, der Großhändler qua Großhändler nicht Kleinhändler und umgekehrt, wohl aber kann der unter diese Begriffe fallende Sophist beides sein, nicht nur nacheinander in der Zeit, sondern sogar zugleich in verschiedenen Hinsichten oder in Beziehung auf verschiedene seiner Eigenschaften und Fertigkeiten. So ist es nicht ausgeschlossen, daß er seine Ware sowohl innerhalb der Stadt anbietet wie zwischen verschiedenen Städten und sowohl eigene, selbstproduzierte wie auch fremde, erworbene Ware. Damit echter Widerspruch vorläge, müßten aber, wie gezeigt wurde, eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein, wie Gleichheit des Subjekts und des Prädikats, der Beziehung auf anderes und auf sich, der Zeit usw. Die binäre Logik läßt sich auf empirische Sachverhalte als solche nicht applizieren wie umgekehrt empirische Sachverhalte sich nicht eindeutig bestimmen lassen. Auf sie sind nur verschiedene, wech-
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 728 B 756. An der obigen Stelle sagt Kant vom empirischen Begriff des Goldes, daß >>der eine [... ] sich außer dem Gewichte, der Farbe, der Zähigkeit, noch die Eigenschaft, daß es nicht rostet, denken [kann], der andere davon vielleicht nichts wissen [mag]« (Kritik der reinen Vernunft A 728 B 756). Man bedient sich gewisser Merkmale nur solange, als sie zum Unterscheiden hinreichend sind. 17
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selnde Gradnetze anwendbar in der Absicht, sie in deren Maschen einzufangen. Zwar konzediert Platon, daß es bessere und schlechtere Einteilungen und Definitionen gebe- schon äußerlich kommt dies in den wiederholten und revidierten Ansätzen zum Ausdruck19 - , auch suggeriert er, daß es eine adäquate Definition des Sophisten gebe, die sich kathartisch aus den vielen gescheiterten Definitionen herauskristallisiere und in die Richtung gehe, daß der Sophist kein wahrer, sondern lediglich ein angeblicher Sachverständiger sei, der sich auf Trugbildnerei, auf die Nachahmung des Weisen, verstehe, mithin ein Scheinkünstler, jedoch ist fraglich, ob sich die Relativität der Bestimmung jemals gänzlich beseitigen lasse. Die Scheinhaftigkeit des Sophisten, das ständige Entfliehen seiner Wesensbestimmung ist symptomatisch für alle empirischen Sachverhalte; der Sophist ist insofern ein Paradigma für die Realität. Der Grund für die Relativität ist die Offenheit, Unbegrenztheit und Unbestimmtheit des Realen. Im Philebos 20 bestimmt Platon jeden konkreten Gegenstand als Zusammensetzung aus Einem und Vielem, Begrenztem und Unbegrenztem, wobei das Begrenzte durch die Idee verkörpert wird, das Unbegrenzte durch die sinnliche Anschauung und die mit ihr zusammenfallende Totalität ideeller Bestimmung. Es ist genau diese Unbegrenztheit und Unbestimmtheit, die eine eindeutige Fixierung verhindert. 21 (b.) Das Definitionsbeispiel des Angelfischers, das auch der Definition des Sophisten zugrunde liegt, zeigt ein starkes Schwanken in der Einteilung, das durch einen wiederholten Perspektivenwechsel bedingt ist. Teils folgt die Einteilung der Modalität der. Fertigkeit (Kunst), teils dem räumlichen Gebiet der Ausübung, teils der Zeit, teils den Instrumenten, die bei der Ausführung verwendet werden, teils noch anderen Kriterien. Einmal ist es die Offenheit oder Verdecktheit der Nachstellung, die Art und Weise des Kampfes, die für die Einteilung ausschlaggebend ist, dann das Revier der Jagd, Land Vgl. Platon: Politikos 265 c, wo erörtert wird, ob sich die ungehörnten Landtiere besser in Paarhufer und Nicht-Paarhufer oder in rein- und gemischtrassige einteilen lassen. 20 Platon: Philebos 16 c. 21 Die von Hermann Schmitz in seinem System der Philosophie, a. a. 0., Bd. 1, S. 311 ff., unter dem Begriff des chaotischen Mannigfaltigen herausgearbeitete Unentschiedenheit bzw. Ambivalenz der Wahrnehmungssphäre hinsichtlich Identität und Differenz läßt sich auch auf begrifflicher Ebene nachweisen. 19
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oder Wasser, dann die Zeit: Jagd bei Tag oder bei Nacht, schließlich das Instrumentarium: Jagd mit Harpune oder mit Haken. Im Sophistes 266 a weist Platon selbst auf das Problem hin, indem er bezüglich einer bestimmten Klasse eine unterschiedliche Einteilung zuläßt, bildlich gesprochen, eine vertikale und eine horizontale. So unterteilt er die hervorbringende Kunst einmal nach ihren Produkten: göttlichen und menschlichen, ein andermal nach der Art und Weise der Produktion: eigentlicher und uneigentlicher Hervorbringung, wahrhaftiger und scheinhafter Produktion. Angesichts einer solchen Beliebigkeit müssen die Definitionen einer Sache oft äußerlich und artifiziell erscheinen. So wird die Frage nach den Kriterien einer richtigen, fachgerechten Einteilung unausweichlich. Ein erstes dringendes Erfordernis ist das durchgängige Festhalten an einer und derselben Perspektive. Allerdings bleibt zweifelhaft, ob dies allein das anstehende Problem lösen kann, da selbst bei Durchgängigkeit der Perspektive die Einteilung marginal ausfallen kann, ohne den Wesenskern der Sache zu treffen. (c.) Zur Beliebigkeit der Definition, zur konstitutiven Verfehlung der Konstituentien trägt auch die Willkür des Ausgangspunktes beim Spezifikationsverfahren bei. Der für das rein logische System absolut gesetzte Anfang läßt sich im Realsystem nicht verwirklichen. Platon zeigt dies anhand der Definition des Sophisten, die einmal ihren Ausgang vom 'tEXVh'Y]c; (=Künstler) nimmt, dann vom Scheidekünstler, ohne daß die Beziehung zwischen beiden erörtert würde. Obwohl es naheliegt anzunehmen, daß der Scheidekünstler qua Künstler in die Gattung des 'tEXVhl]c; fällt, ist doch angesichts der weiteren Unterscheidung in hervorbringende und erwerbende Kunst offen, wohin der Scheidekünstler gehört. Selbst im Falle einer Subordination beider unter einen höheren Gattungsbegriff bliebe unausgemacht, welcher dies sein sollte, ob Mensch, Lebewesen, Seiendes überhaupt. Die Garantie für einen absoluten Anfang innerhalb eines Sprachsystems ist nicht gegeben. Auch könnte es sein, daß objektiv mehrere gleichrangige höchste Begriffe existieren- von Platon yeveQU genannt- oder daß subjektiv unter den Dialogpartnern keine Einigkeit über sie erzielt werden kann. Solange der Ausgang hypothetisch ist22 und nur nach dem Kriterium gewählt wird, ob er dem Argumentierenden der überzeugendste 23 zu sein scheint, ohne eine 22 23
Vgl. P!aton: Phaidon 100 a: u:n:o~Ef.tEVO~. Im Phaidon 100 a wird von der stärksten (EQQWf.tEVEm:m:ov) Hypothese gesprochen.
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letzte Möglichkeit der Überprüfung, ob er es wirklich ist, birgt das Verfahren konventionalistische, nominalistische Züge in sich und entgeht damit nicht der Beliebigkeit. (d.) Das Anfangsproblem führt zu Strukturschwierigkeiten im rein logischen Bereich zurück. Gesetzt den Fall, es ließe sich ein absoluter Anfang im logischen Bereich ausmachen und aus ihm idealiter ein durchstrukturiertes dichotomisches System ableiten, so bliebe die Frage, ob sich ein solcher Anfang überhaupt definieren ließe. Zwar stellt der absolute Anfang in Form des höchsten Prinzips die Bedingung und Voraussetzung aller Definitionen dar, die aus ihm durch Spezifikation in Arten und Unterarten gewonnen werden, doch ist er selbst als Ermöglichungsgrund der dihairetischen Definitionen nicht definierbar, d. h. durch das aus ihm Abgeleitete bestimmbar, weder durch die eine noch durch die andere Gattung bzw. Art und auch nicht durch beide zusammen. Als Voraussetzung jeder Definition entzieht er sich dieser. Der absolute Grund wäre nicht Grund von ausnahmslos allem, wenn er selbst noch durch das aus ihm Deduzierte angemessen einholbar wäre. Hier liegt ein Defizit, das Platon im Sonnengleichnis expliziert hat. 24 Wie das Licht im sichtbaren Bereich Ermöglichungsgrund des Sehvorgangs ist, der das Auge zum Gegenstand und diesen zum Auge durchdringen läßt, indem es dem Gegenstand seine Konturen verleiht und dem Auge seine Sehkraft, selbst aber unsichtbar bleibt - denn im Lichte sehen wir, das Licht selbst sehen wir nicht-, so fungiert im epistemologischen Bereich die Idee der Ideen (die töea wü aya'froü) als Ermöglichungsgrund des Erkenntnisvorgangs, der das denkende Subjekt den ideellen Gegenstand erkennen und diesen erkannt werden läßt und ihn in seiner Wahrheit und Offenbarkeit zeigt, der selbst aber der Erkenntnis entzogen bleibt. Weder läßt er sich durch ein einzelnes Relat der Erkenntnisrelation, sei es Objekt oder Subjekt, fassen noch durch die ganze Erkenntnisrelation. Vielmehr entzieht er sich der Erkenntnis. Obwohl im Ausgang von der Erkenntnis und der Welt ein Weder-noch, ist er im Blick auf die Erkenntnis und die Welt ein Sowohl-als-auch. Andererseits wäre zu überlegen, ob der absolute Anfang nicht durch sich selbst in Form einer Selbstprädikation und -begründung definierbar wäre. Auch hierfür gibt es Argumente, insbesondere wenn sich zeigen sollte, daß für den letzten und höchsten Grund stets 24
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Am Ende des 6. Buches der Politeia.
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mehrere höchste Begri'ffe als potentielle Definitionskandidaten in Betracht kommen, die sich wechselseitig in einer OtJf.t:rtÄox~ TWV yEvwv fordern und nur im Diskurs (im dialektischen Durchgang) explizierbar sind. Die Selbstdefinition des Grundes fiele dann mit der Selbstexplikation des Systems zusammen; unexplizierter Grund und expliziertes System wären eins.
4. Das Problem der Relativität der Realität und seine Lösung durch den Duhem-Quineschen Holismus Die bei Platon auftauchenden Probleme haben auch die weitere Tradition beschäftigt. Die Einsicht in die Relativität und Offenheit der Realität hat eine Fortsetzung in der modernen Wissenschaftstheorie gefunden, und zwar in der Erkenntnis, daß jedes empirische Datum durch eine Vielzahl verschiedener, logisch sich ausschließender Theorien interpretiert werden kann und ebenso umkehrt jedes empirische Datum sowohl zur Bestätigung wie zur Widerlegung einer beliebigen Theorie herangezogen werden kann. Ausgesprochen ist diese Annahme im physikalischen Holismus bzw., unter Nennung ihrer Hauptvertreter Pierre Duhem und Willard Van Orman Quine, in der Duhem-Quineschen These. Sie gehört in den Kontext der Rechtfertigungs- und Legitimationsprobleme von wissenschaftlichen Hypothesen und der darauf basierenden Theorien und läßt sich am einfachsten über die Diskussion einer Sequenz von Lösungsalternativen einführen und plausibilisieren. Das Rechtfertigungsproblem -auch Geltungs- oder Wahrheitsausweis genannt - geht von einer Differenz zwischen Hypothese bzw. Theorie und empirischem Sachverhalt aus und verlangt die Überprüfung der betreffenden Hypothese bzw. Theorie sowie der daraus hergeleiteten Prognosen, und zwar in zweierlei Hinsicht, zum einen in logischer durch Integration in ein umfassendes logisches System, zum anderen in empirischer durch Nachweis in der Empirie über Beobachtung und Experiment. Ein erster Lösungsvorschlag geht in die Richtung der Behauptung absoluter Ausweisbarkeit. Die postulierte absolute Sicherheit und Gewißheit wäre nur auf zweifache Weise zu erbringen, entweder durch die Kraft intellektueller Einsicht und apriorischen Wissens wie in den sogenannten ideae innatae Descartes' oder den synthetischen Urteilen a priori Kants oder durch die Evidenz der Sinne in Form Vernunft und das Andere der Vernunft
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empirischen Wissens. Den ersten Weg ist der Rationalismus gegangen, den zweiten der Empirismus. In beiden Fällen ginge bei Erfüllung der Forderung die Hypothetik in apodiktisches Wissen über. Gegenüber diesem apodiktischen Lösungsvorschlag seitens rigoroser Rechtfertigungstheoretiker findet man bei Karl Popper in der Logik der Forschung eine modifizierte Theorie, die eine Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation vorsieht, indem sie wissenschaftliche Hypothesen und Gesetze, die in Form von Allsätzen artikuliert werden, für prinzipiell unverifizierbar, jedoch für definitiv falsifizierbar hält. Da Allsätze zur Verifikation eine unbegrenzte Menge empirischer Fälle benötigen würden, dem menschlichen Beobachter und Experimentator aber stets nur eine begrenzte Anzahl zur Verfügung steht, ist eine definitive Bestätigung unmöglich. Popper spricht daher von einer besseren oder schlechteren Bewährung. Hingegen soll eine definitive Widerlegung einer Hypothese (eines Allsatzes) bereits durch ein einziges abweichendes Beispiel möglich sein. Hierauf gründet Popper seine Falsifikationstheorie. Diese stellt eine Methode dar, via negativa zur Wahrheit zu gelangen. Je größer die Menge der Falsifikationsmöglichkeiten einer Hypothese oder Theorie ist, je mehr Gelegenheit zur Widerlegung besteht, desto größer ist die Chance, daß die widerstehende Theorie eine positive, wahre Aussage über die Welt enthält. Man stelle sich - heißt es bei Popper 25 - einen Kreis mit verschiedenen Sektoren vor. Mindestens ein Sektor, der die Beobachtbarkeit des Vorgangs veranschaulicht, muß durch die Theorie verboten sein. Die Falsifikationsmöglichkeiten von Theorien können dann durch unterschiedlich große Sektoren ausgedrückt werden. Diejenige Theorie, die den größten Sektor, die größte Klasse von möglichen Gegeninstanzen aufweist, d. h. die größte Chance hat, widerlegt zu werden, sagt dann am meisten über die Erfahrungswirklichkeit aus. »Würde es gelingen, eine solche Theorie aufzustellen [daß jede weitere Einschränkung, die man etwa vornehmen wollte, an der Erfahrung tatsächlich scheitern müßte], so wäre damit >Unsere besondere Welt<, >die Welt unserer Erfahrungswirklichkeit<, aus der Menge aller logisch möglichen Erfahrungswirklichkeiten mit der größten für eine theoretische Wissenschaft erreichbaren Genauigkeit ausgezeichnet.« 26
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K. Popper: Logik der Forschung, 2., erweiterte Auflage Tübingen 1966, S. 77 f. A. a. 0., S. 78.
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Der empirische Gehalt einer Theorie steigt mit ihrem Falsifikationsgrad. Folglich besteht nach Popper die Aufgabe der Wissenschaft darin, möglichst leicht falsifizierbare Theorien aufzustellen mit dem Ziel, den Spielraum erlaubter Vorgänge auf ein Minimum einzuschränken und damit der Wahrheitsfindung näherzukommen. Voraussetzung dieser negativen Methode der Wahrheitsfindung ist erstens die Annahme eines geschlossenen Systems, symbolisiert durch einen Kreis oder eine begrenzte Linie, die durch zunehmende Einschränkung der möglichen Aussagen die sukzessive Annäherung an die Wahrheit zulassen und damit auch den Wissenschaftsfortschritt sowie die Behauptung besserer und schlechterer Bewährung rechtfertigen, und zweitens die Annahme einer absolut sicheren Basis empirischer Tatsachen, die zur Widerlegung einer Theorie herangezogen werden können. Alle Formen des Falsifikationismus - ob der naive dogmatische oder der bereits modifizierte, von Lakatos 27 aber auch naiv genannte methodologische Poppers, der zwar von widerlegenden Basissätzen ausgeht, aber schon ein konventionalistisches Moment enthält, indem er nur bestimmte, von einer Forschungsgemeinschaft akzeptierte Tatsachenbehauptungen als Basissätze zuläßt, oder der raffinierte methodologische von Lakatos selbst, der eine normative, bezüglich des Wissenschaftsfortschritts transparadigmatische Methodologie unterstellt, in deren Licht die konkurrierenden Theorien und Methoden bewertet und entschieden werden28 -, kurzum, alle Formen des Falsifikationismus beanspruchen eine sichere Basis widerlegender Tatsachen, um Richtung und Fortschritt der Wissenschaft sowie Annäherung an die Wahrheit erklären zu können. Wird diese Basis aufgegeben, ebenso die Annahme eines geschlossenen Systems und an dessen Stelle ein offenes System gesetzt,
!. Lakatos: Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: !. Lakatos und A. Musgrave (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft, London 1965, Bd. 4 (Titel der Originalausgabe: Criticism and the Growth of Knowledge, London 1970), Übersetzung von P. K. Feyerabend und A. Szab6, Braunschweig 1974, S. 89-189, bes. S. 113. Lakatos (S. 93ff.) unterscheidet drei Formen des Falsifikationismus, den dogmatischen (den >>falsch verstandenen« Popper), den naiven methodologischen (den >>richtig verstandenen« Popper) und den raffinierten (seinen eigenen). 28 Vgl. B. Gräfrath, R. Huber und B. Uhlemann (Hrsg.): Einheit, Interdisziplinarität, Komplementarität. Orientierungsprobleme der Wissenschaft heute, Berlin, New York 1991 (Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Forschungsbericht 3), S. 62 f. 27
Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
dann gelangt man unausweichlich zum Duhem-Quineschen Holismus. Er besagt, daß weder eine definitive Verifikation noch eine definitive Falsifikation von Hypothesen und Theorien möglich sei, so daß letztlich jedes empirische Phänomen jede Theorie, auch kontroverse und logisch unvereinbare, bestätige wie widerlege und umgekehrt jede Theorie mit jedem Phänomen kompatibel wie inkompatibel sei. Die These beruht auf zwei Voraussetzungen: · (1.) auf der Holismus-Annahme, die der Theorie ihren Namen gegeben hat. Duhem wie Quine kritisieren den sogenannten Isolationismus von Hypothesen, der allen bisherigen Lösungsversuchen zugrunde liegt und der eine isolierte Überprüfung aus dem Kontext herausgerissener Hypothesen vorsieht. Statt dessen gehen sie von einem Hypothesengeflecht aus, in das die zu überprüfende Hypothese eingewoben ist, außerdem von Anfangs- und Randbedingungen sowie dem Hintergrundwissen, das der Hypothese bzw. Theorie zugrunde liegt, so daß bei der empirischen Überprüfung in Wirklichkeit nicht nur die eine Hypothese zur Disposition steht, sondern ein ganzes Netz von Annahmen, z. B. im Falle einer astronomischen Aussage die betreffende Hypothese H 1, die Anfangsbedingungen A zum Zeitpunkt t 0 , die Randbedingungen R für das Zeitintervall t 0 bis t 1, die impliziten Voraussetzungen des Hintergrundwissens, seien sie mathematischer oder physikalischer Art, wie etwa die neueste Fassung der elektromagnetischen Theorie des Lichts. Im Falle der Falsifikation kann sich daher die Nichtkonformität auf jede der Komponenten des Gesamtkomplexes beziehen und nicht nur auf die zu überprüfende Haupthypothese. Folglich kann auch die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit auf unterschiedlichste Weise durch Variation jeder der Bedingungen erreicht werden, wodurch ganz unterschiedliche theoretische Konstellationen, selbst inkompatible, zustande kommen. Zur Disposition steht jeweils der gesamte systematische Zusammenhang. Da sich derselbe durch geeignete Modifikation jeder seiner Komponenten in eine Vielzahl divergierender theoretischer Kontexte aufspalten läßt, bedeutet dies, daß ein empirischer Sachverhalt mit diversen Theorien kompatibel ist, da jede derselben nie den ganzen Sachverhalt, sondern stets nur einen Aspekt von ihm einbezieht. So läßt sich, um ein Beispiel anzuführen, die gravitative Wechselwirkung in voller empirischer Äquivalenz sowohl durch eine Theorie erklären, die auf der Annahme einer in der flachen Raum-Zeit wirksamen Gravitationskraft basiert, wie auch durch eine Theorie auf der Basis einer gekrümmten Raum-Zeit nach Art der Riemannschen Ku92
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gelgeometrie. 29 Obwohl diese Theorien miteinander konkurrieren, haben sie doch noch vieles gemein, z. B. die Geometrie überhaupt, und ermöglichen die Ableitung empirisch äquivalenter Beobachtungssätze und Prognosen. Oder um ein anderes Beispiel anzuführen, das Verhältnis »Erde- Sonne«, das sich gleicherweise nach dem alten ptolemäischen geozentrischen Weltbild erklären läßt wie nach dem neuen kopernikanischen heliozentrischen, ohne daß das eine vor dem anderen hinsichtlich der zu erklärenden Tatsachen eine Präferenz aufwiese. Kinematisch ist auch die erste Theorie unwiderlegbar. 30 Das Erde-Sonne-Verhältnis bestätigt also beide sich ausschließenden Theorien. (2.) Zweite Voraussetzung ist die Unterbestimmtheit von Theorien. Man kann dies als die Kehrseite der Kompatibilität eines empirischen Phänomens mit einer Vielzahl konkurrierender Theorien ansehen, was nur möglich ist, wenn die Theorien gegenüber dem Phänomen nicht vollständig bestimmt sind. Unterbestimmtheit besagt, daß eine bestimmte Theorie mit diversen Phänomenen verträglich ist, ohne an ihnen zu scheitern. Wir begegnen hier dem Umstand, daß nicht nur ein empirischer Sachverhalt mit unterschiedlichen Theorien vereinbar ist, sondern auch eine Theorie mit unterschiedlichen Sachverhalten, also durch kein Beispiel endgültig widerlegt werden kann. Theorien decken niemals den gesamten Phänomenbereich ab, sondern operieren erfolgreich immer nur für Ausschnitte und Aspekte. Typisches Beispiel ist die Komplementarität von Feldund Quantennatur des Lichts und anderer elektromagnetischer Effekte, die einerseits nach der klassischen Wellentheorie zu beschreiben sind, was die Interferenzerscheinungen betrifft, andererseits nach der klassischen Korpuskulartheorie, was die Dispersition betrifft. Keine dieser beiden Theorien für sich genommen wird durch die nichtkompatiblen Sachverhalte widerlegt. Grundsätzlich ist nach Meinung des Holismus jede beliebige Hypothese in bezugauf jedes beliebige empirische Datum aufrechtzuerhalten und umgekehrt jedes empirische Datum mit einer Vielzahl verschiedener, selbst konkurrierender Hypothesen vereinbar. " Vgl. J. Audretsch: Ist die Raum-Zeit gekrümmt? Der Aufbau der modernen Gravitationstheorie, in: J. Audretsch und K. Mainzer (Hrsg.): Philosophie und Physik der Raum-Zeit, Mannheim, Wien, Zürich 1988, S. 52-82. 30 Wenn ein Vorzug der letzteren vor der ersteren besteht, dann hat dies externe Gründe, z. B. ästhetische wie Einfachheit, Eleganz und Schönheit der Hypothese, weil sie ohne Subsidiärannahmen auskommt. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Der Vergleich mit Platon liegt auf der Hand, zum einen, weil die Gattungen und Arten je nach ihrer Stellung im logischen Gesamtsystem entweder ein einzelnes Merkmal enthalten oder einen Komplex, jedoch niemals die Gesamtheit der den empirischen Gegenstand kennzeichnenden Bestimmungen, insofern notorisch unterbestimmt sind, und zum anderen, weil der empirische Sachverhalt vage, vieldeutig und schwankend ist und insofern nicht durch eine einzige Definition eingefangen werden kann, sondern mit einer Vielzahl kontrapositioneller Theorien vereinbar ist. In diesem Sinne kann der Sophist gleichzeitig hervorbringender wie erwerbender Künstler, offener wie heimlicher Nachsteiler sein usw. Die Wirklichkeit unterliegt nicht der zweiwertigen Logik.
5. Das Einteilungsproblem und der Wandel der Einteilungsprinzipien Auch das zweite von Platon anvisierte Problem betreffs des Perspektivenwechsels und der Wahl der Einteilungs- und Gliederungsprinzipien bei der Systemherstellung ist Thema der weiteren Theoriegeschichte. Selbst wenn die Uneinheitlichkeit der Perspektive durch Festhalten eines bestimmten Aspekts vermieden werden kann, bleibt die Frage, welches die Beurteilungskriterien für die Wesenhaftigkeit und nicht nur für die Marginalität der Einteilung sind. Wann ist eine Gliederung in der Sache selbst begründet und wann nur äußerlich oktroyiert? Ein Beispiel, das diese Problematik verdeutlicht, ist das heute übliche Klassifikationssystem der Pflanzen. Danach würde ein lila Veilchen (viola odorata) eine Pflanze sein, die zur Abteilung der Phanerogamae im Unterschied zu der der Kryptogamae zählt, innerhalb dieser zur Klasse der Angiospermae im Unterschied zu der der Gymnospermae, innerhalb dieser zur Unterklasse der Dicotyleae im Unterschied zu der der Monocotyleae, innerhalb dieser zur Gruppe der Choripetalae in Abgrenzung von der der Sympetalae, innerhalb dieser zur Familie der viola, und zwar der viola odorata im Unterschied zu der viola tricolor und canina. 31 Das Veilchen wäre demnach zu definieren als offen sich fortzeugend, bedecktsamig, zweikeimblättrig, getrenntblumenblättrig. Mag auch bei dieser Einteilung ein einheitliches Prinzip, das der Fortpflanzung, durchgehalten sein, so 31
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Das Beispiel findet sich bei H. Leisegang: Denkformen, Berlin, Leipzig 1928, S. 203.
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fällt es doch schwer, hierin das Wesentliche und Eigentümliche dieser Blume zu erblicken. 32 Wo bleiben all jene Erfahrungen und Eindrücke nicht nur des analytischen Verstandes, sondern auch der sinnlichen Wahrnehmung, der Leibeserfahrung und des Kunstgenusses, die sich bei der Betrachtung und dem Duft dieser Blume, bei der Entdeckung ihres ersten schüchternen Auftretens im Frühlings oder beim Anblick des Dürerschen Veilchensträußchen einstellen, die Gernot Böhme in der Analyse der ästhetischen Naturerfahrung auf die Kategorien des Atmosphärischen, Physiognomischen, der Ekstase und Gestik gebracht hat. 33 Hier wird das Abstraktive der wissenschaftlichen Definition besonders deutlich. Ein weiteres Beispiel- aus dem Tierreich- mag die Problematik noch verstärken, da eine Einteilung sowohl nach dem Gesichtspunkt der Fortpflanzung erfolgen kann, z. B. in Säugetiere, Vögel, Fische usw. wie auch nach dem der Skelettbildung in Wirbeltiere, Weichtiere, Gliederfüßler usw. wie auch nach dem der Atmung (durch Lungen, Kiemen, Luftröhre usw.). Obwohl alle diese Einteilungshinsichten eher mit dem Wesen der Tiere übereinzustimmen scheinen als im Falle der Pflanzen, also wesensnotwendig und konstitutiv zu sein scheinen, ist die Auswahl angesichts dreier gleichrangiger Kriterien willkürlich. In der Wahl der Einteilungsprinzipien konkurriert heute eine Reihe von Kriterien miteinander. Zu ihnen gehören: (1.) das Äquivalenzkriterium, das besagt, daß das Explikans- die Definition - dem Explikandum möglichst ähnlich sein muß, da sonst Ebenso wird man sich fragen, ob man in der Einteilung der Samen- bzw. Blütenpflanzen in Nackt- und Bedecktsamer, der letzteren in ein- und zweikeimblättrige, dieser in verwachsenkronblättrige und getrennt- bzw. freikronblättrige, der letzteren in Pflanzen mit einfacher und doppelter Blütenhülle und dieser in Hahnenfußgewächse, Mohngewächse, Schmetterlingsblütler, Kreuzblütler usw. und Seerosengewächse die Wesensmerkmale der Seerose, die unter die letzteren fällt, erkennt (vgl. 0. Schmeil: Leitfaden der Pflanzenkunde, 174. Auf!. bearbeitet von W. J. Fischer, Heidelberg 1952, Inhaltsverzeichnis). 33 Vgl. G. Böhme: Ästhetische Erkenntnis der Natur, in: K. Gloy (Hrsg.): Natur- und Technikbegriffe. Historische und systematische Aspekte: von der Antike bis zur ökologischen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik, Bonn 1996, S. 118-145, bes. S. 132 ff.; K. Gloy: Einheit der Natur- Vielheit der Interpretationen. Zum Begriff der Natur aus der Sicht der Geisteswissenschaften, in: K. Komarekund G. Mager! (Hrsg.): Virtualität und Realität. Bild und Wirklichkeit in den Naturwissenschaften, Wien, Köln, Weimar 1998 (Wissenschaft, Bildung, Politik, hrsg. von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, Bd. 2), S. 207-227, bes. S. 210-216.
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nicht mehr von einer Explikation der Sache, sondern nur noch von einer gänzlich willkürlichen Charakteristik gesprochen werden kann. (2.) das Kriterium der Exaktheit, das fordert, daß Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, Vagheit, Inkonsistenz im Gebrauch der definierenden Begriffe zu vermeiden sind. Auch wenn dies ein Ideal bleibt, ist es, soweit wie möglich, anzustreben. (3.) das Fruchtbarkeitskriterium: Es bedeutet, daß von zwei konkurrierenden Einteilungsprinzipien dasjenige den Vorzug genießt, das fruchtbarer ist, d. h. mehr Konsequenzen und Prognosen aus der Definition abzuleiten erlaubt. Zur Demonstration sei auf folgendes Beispiel verwiesen: Während das Vulgärverständnis Walfische, Delphine und Tümmler zu den Fischen rechnet, wie zum Teil schon der Name anzeigt, grenzt das wissenschaftliche Verständnis diese als Warmblütler und Säugetiere aus und stellt sie jenen als Kaltblütlern und kiemenatmenden Tieren gegenüber. (4.) das Kriterium der Reichweite: Eine Definition ist dann der anderen vorzuziehen, wenn sie mehr Phänomene erklärt als jene, insbesondere neuartige oder früher anders eingestufte. (5.) das Kriterium der Einfachheit, das stets die einfachere und elegantere Lösung oder wissenschaftliche Definition präfedert gegenüber der komplizierteren und komplexeren. Diese Kriterien, die die Auswahl konkurrierender Einteilungsprinzipien leiten, stehen selbst untereinander in Konkurrenz. So wird der Gesichtspunkt der Einfachheit und Eleganz häufig zurücktreten müssen, wenn eine kompliziertere, aber fruchtbarere Definition zum Vergleich ansteht. Häufig werden diese Kriterien als »Rationalitätskriterien« bezeichnet, was den Anschein erweckt, als ob sie das wissenschaftlichrationale Denken anleiteten und das bestimmten, was wissenschaftliche Rationalität ausmacht. Dies ist jedoch nur insofern richtig, als sie den Grundtypus wissenschaftlicher Rationalität mitdefinieren. Und nicht einmal alle Kriterien sind diesbezüglich gleichgewichtig, wie der Kampf zwischen Einfachheit und Fruchtbarkeit zeigt. Ließe sich das dihairetische Programm tatsächlich realisieren, so würde auf jeder Stufe nur diejenige Anzahl von Bestimmungen genannt werden, die der Stufe genau entspräche- und dies wäre auch die einfachste und eleganteste Lösung -; die Definition wiese zudem die größtmögliche inhaltliche Fruchtbarkeit und umfangmäßige Reichweite auf; Exaktheit und Adäquatheit wären garantiert. Angesichts der Vielzahl formal gleichrangiger und essentiell gleichwertig er96
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scheinender Einteilungen (wie bei den Tieren) muß an der Realisierbarkeit des Ideals Zweifel gehegt werden. Da die Intention des dihairetischen Modells auf Deduktion und Dependenz zielt, wäre zu fragen, ob die phylogenetische Ableitung (Stammesgeschichte) der Pflanzen und Tiere eine Realisierung des dihairetischen Ideals darstellte, womit in das logische System eine Zeitkomponente gelangte. Auch dies bleibt zweifelhaft, zum einen, weil die alte Gattung trotz Mutation und Entstehen neuer Arten nicht gänzlich in diesen aufgeht, sondern erhalten bleibt und neben ihnen weiterexistiert, zum anderen, weil die Mutationen vielfältig sein können und keineswegs dichotomisch ausfallen, und zum dritten, weil die Auswahl der Mutanten seitens des forschenden und klassifizierenden Subjekts beliebig ist und die Explikation der Stammesgeschichte auch unter ganz anderen Kriterien erfolgen könnte. Angesichts des Spektrums von Variationsmöglichkeiten der Einteilungsprinzipien wird es nicht verwundern, wenn sich in der Geschichte der Wissenschaften nicht nur zur selben Zeit eine Vielzahl von Prinzipien findet, sondern auch ein zeitbedingter Perspektivenwandel konstatieren läßt. Zwischen Antike und Neuzeit fällt ein prinzipieller Einstellungswechsel auf. Während die Antike grundsätzlich an der Gestalt orientiert war, ist diese als Einteilungsprinzip in der Neuzeit zumindest in den mathematischen Naturwissenschaften, die seit Beginn der Neuzeit das Wissenschaftsparadigma bilden, aufgegeben und durch das Gesetz ersetzt worden. An die Stelle der Gestaltklassifikationen sind Gesetzesklassifikationen getreten. Während es sich bei der Gestalt um eine optisch-intellektuell konstatierbare Ganzheit handelt von zumeist statischer Natur, bezeichnet das Gesetz einen gedanklich faßbaren und konstruierbaren invarianten Funktions- und Relationszusammenhang zwischen Variablen innerhalb eines Zeitintervalls. Die Gestalt ist der holistische Eindruck einer gleichbleibenden, konstanten Vielheit von Teilen, das Gesetz die Konstruktion eines konstanten Relationszusammenhangs zwischen austauschbaren Gliedern. Von der Summe als bloßer Aggregation unterscheidet sich die Gestalt insofern, als sie nicht wie jene die willkürliche Zusammenstückelung beliebiger Teile ist, sondern einer aus der spezifischen Zusammenstellung hervorgehenden neuen Gestaltqualität bedarf.3 4 Die Gestaltqualität ist Ausdruck einer
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Der Ausdruck stammt von Christian von Ehrenfels.
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Übersummation. Sie gestattet nur eine beschränkte Variation ihrer Teile innerhalb bestimmter Grenzen. Das Gesetz hingegen artikuliert die als konstant geltende Beziehung zwischen variablen Teilen. Seine Form ist die Wenn-dann-Beziehung (wenn eine bewegte Kugel eine ruhende anstößt, dann passiert das und das; wenn das Wasser erhitzt oder gekühlt wird, dann geschieht das und das). Die hypothetische Wenn-dann-Formulierung gibt einen Hinweis auf die veränderliche Einsetzung der Glieder in die unveränderliche Beziehung. Das Gesetz operiert außerdem vorzugsweise mit Quantitäten (Zählbarem, Meßbarem, Wägbarem) und formalen Relationen, da sich diese exakt bestimmen lassen. Im Horizont dieser Fundamentalunterscheidung von Gestalt und Gesetz lassen sich bezüglich der ersteren noch weitere Distinktionen anbringen und historisch verfolgen. Von Relevanz ist die Einteilung in äußere und innere Gestalt oder- mit Foucault zu reden 35 in Struktur und Organisation. Ihre jeweilige Präferenz innerhalb der Naturgeschichte (Botanik und Zoologie) läßt sich anhand der Klassifikationssysteme der Neuzeit studieren. Für die großen Ordnungssysteme, die Taxonomien von Tournefort, Linne; Buffon, Adanson im 17. und 18. Jahrhundert36 , ist ein M. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Titel der Originalausgabe: Les mots et les choses, 1966), aus dem Französischen von U. Köppen, Frankfurt a. M. 1974, 10. Auf!. 1991, S. 173 ff., 279 ff. 36 J. P. de Tournefort: Institutiones rei herbariae, 3 Bde., 3. Auf!. Paris 1719; ders.: Elemens de botanique ou methode pour connoitre !es plantes, 3 Bde., Paris 1694; C. von Unne: Systema naturae in quo naturae regna tria, secundum classes, ordines, genera, species, systematice proponuntur, 2. Auf!. Stockholm 1740; ders.: Systema naturae, sive regna tria naturae systematice proposita per classes, ordines, genera et species I Natur=Systema, Oder Die in ordentlichem Zusammenhange vorgetragene Drey Reiche der Natur, nach ihren Classen, Ordnungen, Geschlechtern und Arten, in die Deutsche Sprache übersetzet und mit einer Vorrede hrsg. von J. J. Langen, Halle 1740; Des Ritters Carl von Linn€ vollständiges Natursystem nach der zwölften lateinischen Ausgabe und nach Anleitung des holländischen Houttuynischen Werks mit einer ausführlichen Erklärung ausgefertiget von Philipp Ludwig Statius Müller, 6 Theile plus 1 Supplementsund Register-Bd., Nürnberg 1773-1776; ders.: Systema vegetabilium secundum classes ordines genera species cum characteribus et differentiis, 15. Auf!. Gottingae 1797; ders.: Genera plantarum eorumque characteres naturales secundum numerum, figuram, siturn, et propositionem omnium fructificationis partium, Holm 1754; ders: Species Plantarum, exhibentes plantas rite cognitas, ad genera relatas, cum differentiis specificis, nominibus trivialibus, synonymis selectis, locis naturalibus, secundum systema sexuale digestas, 2 Bde., 2. Auf!. Holm 1762-1763; G.-L. de Buffon und L. J. Daubenton: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich. 35
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Einteilungstypus kennzeichnend, der sich amBeobachtbaren orientiert. Allerdings werden aus der Fülle sinnlicher Qualitäten nur ganz bestimmte ausgewählt unter Abstraktion der übrigen, insbesondere der Geschmacks-, Geruchs-, Tast- und Gehörsqualitäten. Eindeutige Präferenz erhält der Gesichtssinn. Allenfalls kommen neben den visuellen Qualitäten in bescheidenem Maße taktile in Betracht wie glatt und rauh. Aber auch bezüglich der visuellen Qualitäten geht es nicht primär um Farben, Grade der Helligkeit und Dunkelheit usw., sondern um geometrische Eigenschaften wie Linien, Gestalten, Oberflächen, Reliefs, auf die der Gesichtssinn hinführt. Es sind die sogenannten primären Sinnesqualitäten, nicht die sekundären, die zur Einteilung dienen. Übereinstimmend werden vier Kriterien genannt: erstens die Zahl der Elemente, zweitens ihre Größe, drittens ihre Form und viertens ihre Anordnung. So sagt Linne in seiner Philosophia botanica: >>nota characteristica omnis erui debet a Numero, Figura, Proportione & Situ omnium partium Fructificationis differentium« (»jedes Merkmal muß aus der Zahl, der Gestalt, der Proportion und der Lage aller verschiedenen Teile der Fruchtung gezogen werden«)3 7 , und Buffon und Daubenton, obwohl Gegner Linnes, pflichten ihm bei: Es ist »wohl zu verstehen, daß die Aehnlichkeiten und Unähnlichkeiten nicht bloß von einem Theile, sondern von dem Ganzen, hergenommen werden müssen, und daß diese anschauende Methode sich auf die Gestalt, auf die Größe, auf das äußerliche Ansehen, auf die verschiedenen Theile, auf ihre Anzahl, auf ihre Stellung, ja sogar auf ihre Materie gründen muß« 38 • Dieses Schema wird auf die Teile der Pflanzen und Tiere angewandt, z. B. auf Blüten, Stiele, Blätter, Wurzeln und Früchte. Die Zahl der Staubfäden, der Stempel, ihre Größe und Gestalt, ihre geometrische Anordnung im Kreis, Dreieck oder Sechseck werden aufgeführt und zu Klassifikationszwecken benutzt. Zwei der Merkmale, Anzahl und Größe, sind quantitativer Art, die beiden anderen, Form und Anordnung, verlangen die Identifikation mit geometrischen Figuren oder biologischen Mustern, für die Mit einer Vorrede von Albrecht von Haller, 5 Teile, Hamburg, Leipzig 1750-1766; M. Adanson: Familles des Plantes, 2 Bde., Paris 1763. 37 C. Linne: Philosophia botanica in qua explicantur fundamenta botanica cum definitionibus partium, exemplis terminorum, observationibus rariorum, adjectis figuris Aeneis, 2. Aufl. Wien 1763, S. 120 (§ 167); vgl. S. 261 (§327). 38 G.-L. de Buffon und L. J. Daubenton: Von der Art, die Historie der Natur zu erlernen und abzuhandeln, in: dies.: Allgemeine Historie der Natur, a. a. 0. Bd. 1, S. 14 f. Vernunft und das Andere der Vernunft
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hauptsächlich menschliche Formen und Maße "Wie Haare, Nägel, Finger, Daumen, Handspanne, Auge, Ohr usw. Pate gestanden haben. Auf diese Weise ist gewährleistet, daß es sich um allgemeinverständliche, intersubjektiv kommunikable Merkmale und nicht um privatsubjektive, einmalige handelt, die von Beobachter zu Beobachter wechseln. Die Allgemeinverständlichkeit, die quantitativ-geometrischen Strukturen eigen ist, garantiert, daß jeder dieselbe Beschreibung von Einzelwesen gibt und daß umgekehrt aufgrund dieser Beschreibung jeder dieselbe Pflanze, dasselbe Tier erkennt. Die Wahl der primären Sinnesqualitäten, der quantitativen wie geometrischen Eigenschaften, setzt kulturhistorisch und philosophisch den Cartesianismus voraus. Mit seiner Grundunterscheidung von res extensa und res cogitans und bezüglich der ersteren von primären und sekundären Sinnesqualitäten gelangte Descartes zu den räumlich-zeitlichen Bestimmungen der Größe, Gestalt (Figur), Lage, Bewegung, die ihm als alleinverbindlich galten, da sie klare und deutliche, also wohlunterschiedene Erkenntnis ermöglichen. Das Ideal quantitativ-geometrischer Bestimmungen wurde auch für das System der Naturgegenstände innerhalb der Naturkunde und -geschichte leitend, wenngleich dort an die Stelle der Zahlen und Maße Beschreibungen traten. Adanson 39 hat die Vermutung ausgesprochen, daß die Botanik eines Tages genau wie eine strenge mathematische Wissenschaft behandelt werden könne mit ähnlichen Problemstellungen und Lösungen. Das Vorbild für die Taxonomien der Natur gab die mathesis universalis ab, mit der ein Gesamtsystem angestrebt wurde. Eine Gefahr dieser Methode besteht allerdings darin, daß sie trotz Orientierung an Form, Figur, Muster ähnlich wie die Geometrie den Teilen vor dem Ganzen einen Primat einräumt. Das Prinzip verfährt eher analytisch als synthetisch. Es ist weniger holistisch an den einheitlichen Gestalten und Figurationen ausgerichtet als vielmehr an deren einzelnen Teilen (partes extra partes), so an der Zahl der Staubfäden, Griffel usw. Von ganz anderer Art ist das Einteilungsprinzip im ausgehenden 18. Jahrhundert, in der Zeit zwischen 1775 und 1795, in dem die Klassifikationssysteme von Jussieu, Vicq d' Azyr, Lamarck und Candolle entstanden. 40 Es zielt nicht mehr auf die äußere, sichtbare Ge" M. Adanson: Familles des Plantes, a. a.O, Bd. 1, Preface, S. CC. 40 A. L. de Jussieu: Genera Plantarum secundum ordines naturales disposita, juxta methodum in horto regio Parisiensi exaratam, anno MDCCLXXIV, Paris 1789; ders.: Die
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stalt, c;ondern auf die Anatomie, den inneren, nicht direkt sichtbaren, allererst durch Sezierung freizulegenden Aufbau und die Funktion seiner Bestandteile. Maßgebend ist jetzt der Zusammenhang und das Zusammenwirken der Teile, die Architektur, die Organisation und die Funktionsweise. Im Unterschied zur Gestalt und Struktur ist hier die Organisation und Funktion leitend. Fragt man beispielsweise bei der Einteilung und Gliederung der Naturgegenstände, was der Zweck der Lebewesen sei und auf welche Weise sie diesen erfüllen, so erhält man bezüglich der Tiere zur Antwort, daß ihre Hauptaufgabe in der Erhaltung des Individuums und der Art bestehe, wobei die Ernährung neben der Fortpflanzung die wichtigste Rolle spiele. Von der Ernährungsart aber hängt der gesamte Körperbau der Lebewesen ab: die Beschaffenheit der Fang- und Kauorgane, des Verdauungs- und Ausscheidungstraktes, der Bewegungsorgane usw. Pflanzenfresser verlangen breite Mahlzähne, einen langen Ernährungstrakt, Fleischfresser scharfe, spitze Reißzähne und Krallen, einen starken Magen usw. Zwischen der Art der Nahrungsaufnahme und der Art des Körperbaus bestehen geregelte Zusammenhänge, wobei nur gegenseitige Ausgewogenheit ein richtiges Funktionieren garantiert. Dasselbe gilt für die Beziehung zwischen der Fortbewegungsart und dem Körperbau. Wird hingegen die Fortpflanzung als das Wesentlichste angesehen, wie sich dies schon im Falle der Pflanzen zeigte, zu deren Zweck völlig unscheinbare, sogar unsichtbare Organe wie Keimapparat und Samenlappen herangezogen wurden, dann ist die Anatomie für die Tiere noch weit wichtiger. Botanik, 4 Bde., aus dem Französischen von G. Kißling, Stuttgart 1844 (Populäre Naturgeschichte der drei Reiche von F. S. Beudant, Milne-Edwards, A. v. Jussieu, Bde. 9-12, Stuttgart 1844); F. Vicq d' Azyr: Premiers discours anatomiques, Paris 1786; ders.: Systeme anatomique. Quadrupedes (1792), in: H. Cloquet und F. Vicq d' Azyr: Encyclopedie methodique. Systeme anatomique .. . , 4 Bde., Paris 1792-1830, Bd. 2; J. B. P. A. de Lamarck: Flore Franfoise Ou Description Succincte De Toutes Les Plantes Qui craissent naturellement en France, Disposee selon une nouvelle methode d' Analyse, & a laquelle on a joint Ia citation de leurs vertus !es moins equivoques en Medicine, & de leur utilite dans !es Arts, 3 Bde., Paris 1778; ders: Memoires de physique et d'histoire naturelle, Paris 1797; ders.: Histoire naturelle des animaux sans vertebres, 11 Bde., 2. Auf!. Paris 1835-1845; J. B. de Lamarck et A. P. de Candolle: Synopsis plantarum in flora Gallica descriptarum, Paris 1806; A. P. de Candolle: Regni vegetabilis systema naturale, sive ordines, genera et species plantarum secundum methodi naturalis normas digestarum et descriptarum, 2 Bde., Paris 1818-1821; ders.: Prodromum systematis naturalis regni vegetabilis, sive enumeratio contracta ordinum generum specierumque plantarum, 15 Bde. plus 2 Index-Bde., Paris 1824-1873. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Diese Art der Einteilung nach der Organisation spiegelt den Geist Lamarcks wieder, wie er im Discours Preliminaire seines dreibändigen Werkes Flore Fran~oise 41 faßbar ist, in dem er neben die Analyse, die sichtbare Einteilung, die Auffindung der Gesamtorganisation setzt. Schnitte und Einteilungen des Seienden können heterogenen Hinsichten folgen je nach der Ziel- und Zwecksetzung, die man dabei verfolgt. Im Prinzip können diese unendlich an der Zahl sein, selbst im Falle essentieller Bestimmungen. Es gibt so viele Einteilungsmöglichkeiten, wie es äußere oder innere Strukturen gibt, und diese dürften angesichts der Strukturtotalität unausschöpfbar sein. »Vernünftig« wird man jedes Prinzip nennen können, das sich bei der Aufteilung und Gliederung des Seienden konsequent durchhalten läßt und das auf das Ganze des Seienden zielt. Die Wahl des Prinzips hängt ab von der intellektuellen Einstellung, Gewöhnung, Zwecksetzung und dem Interesse der Forschergemeinschaften, der Völker, der Kulturkreise und der Zeiten und wechselt mit diesen.
6. Systemtranszendenz oder Systemimmanenz des Systemgrundesr Das im Kontext platonischer Analysen auftauchende Problem der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Definition des Systemgrundes bedarf noch einer Erörterung. Es verweist sachlich auf das, was traditionell unter dem Namen »ontologischer Gottesbeweis« abgehandelt wird. Obwohl der ontologische Gottesbeweis gewöhnlich mit Anselm von Canterbury in Verbindung gebracht wird, ist er der Sache nach älter und reicht tief in die Geschichte zurück auf die rationale Problemkonstellation Platons. Der ontologische Gottesbeweis geht der Frage nach, ob aus dem reinen Begriff von Gott, verstanden als omnitudo realitatis (als Gesamtheit der Seinsprädikate), dessen Existenz erschlossen werden könne. Er affirmiert diese Frage mit dem Argument, daß im Begriff Gottes als Totalität der Seinsprädikate notwendig auch das Prädikat des Seins selbst liege, mithin in diesem signifikanten Fall der Begriff notwendig existiere, während in
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Vgl.
J. B. P. A.
de Lamarck: Flore Fran~oise, a.a.O, Bd. 1: Discours Preliminaire,
S. XXXVII ff.
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Der dihairetische Rationalitätstypus
anderen Begriffsfällen dies nicht mit Notwendigkeit ausgemacht werden könne. Unterzieht man die omnitudo realitatis einer genaueren Betrachtung, so läßt sie sich als das vollständig und durchgängig dihairetisch gegliederte Stufensystem auffassen, das, da es nur positive, wenngleich konträre Bestimmungen impliziert, ein System von Opposita ist. Im Falle der vollständig durchgeführten Spezifikation der Begriffspyramide fiele das Sein mit der Gesamtstruktur zusammen und konstituierte das Ganze. Der Vernunftbegriff, angelegt auf Gliederung und Ordnung, wäre damit erfüllt, d. h. realisiert. Bekanntlich hat Kant im Rahmen einer umfassenden Widerlegung der Gottesbeweise überhaupt 42 - des kosmologischen ebenso wie des physiko-theologischen - auch den ontologischen zu widerlegen versucht, und zwar mittels des genau inversen Arguments, nämlich daß der vollständig und durchgängig bestimmte Begriff von etwas nicht dessen Sein (Existenz) einschließe, dieses vielmehr zusätzlich zu dem schon vollständig bestimmten Begriff als Position des Gegenstands hinzukommen müsse. 43 Sein ist nach Kant kein Prädikat, sondern ein Prädikatenprädikat, nach welchem immer noch gefragt werden kann, auch wenn der Begriff schon vollständig expliziert ist. Zur Erläuterung rekurriert Kant auf den Begriff von hundert möglichen Talern im Unterschied zu hundert wirklichen Talern. Letztere enthalten seiner Ansicht nach kein einziges Merkmal, das über den Begriff von hundert möglichen Talern hinausginge, mit der einen Ausnahme, daß bei den letzteren die Existenz (das Sein) zum vollständig bestimmten Begriff hinzukommt, was nur durch Wahrnehmung gesichert werden kann. Ist nach der ersten Argumentation das Sein ein analytisches Prädikat und Implikat des Gottesbegriffs, der omnitudo realitatis, das identisch ist mit der Gesamtheit der formalen Prädikate, so ist es nach der zweiten ein synthetisches Prädikat, das zur formalen Gesamtheit als Existenz hinzutritt. Daraus ist zu schließen, daß das Vernunftsystem - von Kant auch als transzendentales Vernunftideal bezeichnet 44 - ein formales System auf einem material unbestimmten Hintergrund darstellt. Es ist folglich als eine das Ganze beherrschende Methode zu verstehen, wenn auch nicht als das Ganze selbst. 42
43 44
Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 592ff. B 620ff. Vgl. a.a. 0., A 598ff. B 626ff. Vgl. a.a.O., A 571 B 599, A 574 B 602.
Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Abgesehen davon, daß -wie schon Hege! bemerkte - nicht ohne weiteres von einem endlichen Beispiel auf ein unendliches geschlossen werden könne, abgesehen auch davon, ob die im Begriff der omnitudo realitatis gedachte Unendlichkeit nur in Form eines unendlichen, unabschließbaren Prozesses oder auch in Form eines gegebenen Transfiniten angesetzt werden dürfe, geht es in Beweis wie in Widerlegung um den unterschiedlichen Status des Seins und der übrigen Bestimmungen. Während im ersteren Fall das Sein selbst als formale Bestimmung genommen und in deren Insgesamt integriert ist, ja das Insgesamt ist, fungiert es im zweiten Fall als existentielle Voraussetzung für die übrigen formalen Bestimmungen. Die Konsequenz ist, daß im ersten Fall das formale System und das Sein zusammenfallen, im zweiten das formale System und der Seinsgrund auseinanderklaffen. Zur Klärung dieses kontroversen Sachverhalts sehen wir uns auf Platon zurückverwiesen, und zwar auf seinen Ansatz des höchsten Genus nicht als Transzendenz, sondern als Pluralität höchster Genera: des Seins, des Einen (Einheit), der Identität, der Differenz, der Ruhe, der Bewegung usw. Das zu klärende Problem läuft auf die Frage hinaus, ob Sein, ebenso Eines, Identität, Differenz, Ruhe, Bewegung, kurzum, alle Genera als solche Bestimmungen sind oder ob dies nur für das Eine gilt, das mit seiner numerischen Funktion, der Zahlgebung, begriffliche Aus- und Eingrenzung, mithin Determination, verbindet, wie eine solche bereits sprachlich in Ausdrücken wie terminus (von terminare), definitio (von fines) usw. ihren Niederschlag findet. Im letzteren Fallließe sich das Sein - Gleiches gilt für Identität, Differenz, Ruhe, Bewegung und die übrigen Genera- zwar durch Anwendung des Einen identifizieren und als Bestimmtheit auffassen, ohne das Eine aber bildeten die Genera ein unbestimmtes, unendliches Ideenkontinuum, das zwar die Basis der unendlichen Applikation des Einen samt der Zahlgebung und Bestimmung abgibt, selbst aber kein Bestimmtes ist. Von hier gesehen wäre das vollständige dihairetische System von Bestimmungen, das auf begrifflicher Aus- und Abgrenzung, auf Identifikation, kurzum auf der Verbindung des Einen mit den übrigen Genera basiert, ein formales System von Bestimmungen unter der Voraussetzung eines Unbestimmt-Unendlichen, das hier durch das Sein repräsentiert würde. Explizites System und Systemgrund blieben getrennt. Wenn andererseits das Eine zu seiner eigenen Existenz der Gattung des Seins bedarf - Gleiches gilt für Identität, Differenz usw. 104
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Der dihairetische Rationalitätstypus
und nicht unabhängig davon existieren kann, dann muß man ebenfalls argumentieren dürfen, daß das System formaler Bestimmungen zugleich ein seiendes ist und folglich das System der Wesensbestimmungen mit dem Dasein zusammenfällt, die Essenz mit der Existenz. Allerdings wird hier von einer Argumentationsfigur Gebrauch gemacht, die die Wechselimplikation der Genera und ihre Selbstreferentialität in Anspruch nimmt und sich über das Andere herstellt eine Argumentationsfigur, die es noch näher aufzuklären gilt. Gemäß dieser Argumentation fielen Systemexplikation und Systemgrund zusammen. Hier wäre nicht erst das Insgesamt das Ganze, sondern bereits jede Stufe der Dihairesis. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des ontologischen Gottesbeweises als Metapher für die Selbstexplikation des Systems bleibt wegen der Ambivalenz des Arguments offen.
7. Urteil und Schluß auf der Basis des dihairetischen Rationalitätskonzepts Fand der dihairetische Rationalitätstypus seine Ausgestaltung in der Begriffspyramide, so bildet diese ihrerseits die Basis für die logische Urteils- und Schlußlehre. Die Zusammengehörigkeit dieser drei Bestandteile: Begriff, Urteil, Schluß ist schon seit der Antike Gemeingut der Logiker und führte zur Zusammennahme aller drei im Logos, dessen Internstruktur sie bilden. Sie formieren das, was seitdem »logisches Denken« heißt und mit dem Attribut »vernünftig« bzw. »rational« versehen wird. Das Urteil ist eine Verknüpfung von Begriffen (Oll!!JtAox~ 'tWV döwv), freilich keine willkürliche, sei es nur von Nomen oder nur von Verben, d. h. von gleichartigen und gleichrangigen Begriffen, sondern eine Verknüpfung im einfachsten Fall von Nomen bzw. Pronomen und Verb, wobei letzteres auch eine Ist-Konstruktion sein kann, bestehend aus Hilfswerb und Adjektiv oder Partizip Präsens oder einem Substantiv usw. Wie ein Blick auf das dihairetische Begriffssystem lehrt, ist eine sinnvolle Verknüpfung nur von unter- und übergeordneten Begriffen, nicht von nebengeordneten möglich, also von Art- und Gattungsbegriffen, nicht aber von Art- und Art- oder Gattungs- und Gattungsbegriffen. So ist der Angelfischer, um bei unserem Beispiel zu bleiben, ein Künstler ('tEXVLT'YJ~), ein erwerbender Künstler, ein Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
bezwingend erwerbender Künstler usw. bis hin zum Harpunenfischer. Mit der Subordination eines Artbegriffs oder auch Individuums unter einen Gattungsbegriff oder, anders gesagt, mit der Prädikation eines Gattungsbegriffs von einem Artbegriff bzw. einem Individuum kommen diesem sämtliche im Gattungsbegriff enthaltenen Bestimmungen zu, die aus dessen eigener Subordination unter höhere Gattungsbegriffe resultieren. Diese Subordination reicht bis zur Selbstexplikation, indem subordinierter und subordinierender Begriff in Form einer Tautologie zusammenfallen. Die so entstandenen Urteile folgen den logischen Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Es handelt sich um analytische Sätze - in Kantischer Terminologie und deren Explikation, mag diese unvollständig oder vollständig sein. Während das positive Urteil im Blick auf das Gesamtsystem der Prädikate die eine der beiden oppositionellen Seiten der Begriffspyramide artikuliert, schließt das mit ihm verbundene negative Urteil die Gegenseite aus. Der Angelfischer ist nicht produzierender Künstler, nicht umsetzender Künstler, nicht offener Kämpfer usw. Indem er das eine ist, z. R erwerbend, bezwingend, nachstellend, ist er das andere nicht, so wie es die spinozistische Formel omnis determinatio est negatio und ihre Umkehrung omnis negatio est determinatio ausdrückt. 45 Beim offenen System läßt sich nur die Negation (Nichtkonformität) des Negats aussprechen: Der Angelfischer ist nicht nicht-erwerbend. Ein analytisches positives oder negatives Urteil wäre nur dann absolut richtig, d. h. logisch wahr, wenn sowohl die Subordination des untergeordneten Begriffs unter den höheren wie auch die Bestimmung des letzteren eindeutig wären, die sich aus dessen eigener Subordination unter den höheren Begriff ergibt usw. Genau dies ist aber nicht der Fall, wie die Variabilität der Einteilungsperspektiven und die Variabilität der Subordinationen zeigen. So kann der Sophist faktisch unter konträre, inkompatible Begriffe eingeordnet werden, sowohl unter den des Großhändlers wie den des Kleinkrämers, sowohl unter den des offenen wie des verdeckten Kämpfers, sowohl unter
In diesem Sinne ist auch das Beispiel in Platons Sophistes 263 a >> Theaitet fliegt« zu verstehen, das analytisch falsch ist. Sofern Theaitet Mensch ist und damit Landlebewesen und nicht ein im Flüssigen, sei es im Wasser oder in der Luft schwimmendes Wesen, Fisch oder Vogel, kann er nur sitzen, gehen, stehen, liegen, nicht aber fliegen wie die Opposita. Ihm kommen nur die Attribute des Menschseins, nicht die des Vogelseins zu.
45
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Der dihairetische Rationalitätstypus
den des hervorbringenden wie des erwerbenden Künstlers usw. Ein Entweder-Oder ist hier nicht möglich, nur ein Sowohl-als-auch. Die mit einem analytischen Urteil verbundene logische Wahrheit ist demnach nur eine hypothetische, die unter der Bedingung gilt, daß C unter B und B unter A fällt, wobei offen ist, ob A und B tatsächlich in der vorgegebenen Weise existieren, und die daher nur in Wenn-dann-Form artikuliert werden kann. »Wenn der Angelfischer ein Jäger ist und dieser ein NachsteUer so wie dieser seinerseits ein gewaltsamer Bezwinger und dieser ein Erwerbender usw., dann gilt, daß der Angelfischer nachstellend, bezwingend, erwerbend usw. ist.« Die Teilhabe (~-tE1'l-E1;L~) eines Begriffs an einem anderen, übergeordneten einschließlich seiner Merkmale ist in diesem Sinne ein hypothetisches, ideelles Konstrukt und teilt alle Schwierigkeiten des dihairetischen Rationalitätstypus. Obzwar die Syllogistik erst von Aristoteles entwickelt und in der Analytica priora expliziert wurde, ist sie nur auf dem Hintergrund des von Platon entdeckten und elaborierten dichotomisch-dihairetischen Vernunftbegriffs verständlich; denn ihre Konstruktion vollzieht sich über mehrere, mindestens drei Stufen der Begriffspyramide, die sie miteinander verbindet. Ein Syllogismus besteht aus drei Sätzen oder Urteilen: einem Obersatz (maior), einem Untersatz (minor) und einer Schlußfolgerung (conclusio), wobei die Verbindung der äußersten Sätze bzw. Urteile über einen Mittelbegriff erfolgt. In der Analytica priora definiert Aristoteles das Schlußverfahren folgendermaßen: »Wenn sich also drei Begriffe zueinander so verhalten, daß der letzte (der Unterbegriff) in dem mittleren als ganzem ist, und der mittlere in dem ersten (dem Oberbegriff) als Ganzem entweder ist oder nicht ist, so ergibt sich notwendig für die Außenbegriffe ein vollkommener Schluß.« 46
Als Paradigma mag der Schluß vom Typus barbara dienen: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.
Im Obersatz (der ersten Prämisse) wird der Gattungsbegriff »Mensch« seinem vollen Umfang nach dem höherstufigen und umAristoteles: Analytica priora 4, 25 b 32 ff. (Übersetzung von E. Rolfes, in: Aristoteles: Lehre vom Schluß oder Erste Analytik (Organon III), übersetzt und mit Anmerkungen
46
versehen, Harnburg 1975 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1921), S. 6. Vernunft und das Andere der Vernunft
~
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Erster Teil: Rationalitätstypen
fassenderen Gattungsbegriff »Sterbliches Wesen« subordiniert. Im Untersatz (der zweiten Prämisse) wird dem Gattungsbegriff »Mensch« ein Einzelwesen »Sokrates« subsumiert, um dann im Schlußsatz Sokrates über den Menschen dem sterblichen Wesen subordinieren zu können. Lebewesen
Sterbliche
Unsterbliche
/
Mensch
I Sokrates
Umfangmäßig läßt sich dies durch ineinandergeschachtelte Kreise veranschaulichen, wobei der durch Sokrates bezeichnete Kreis eines Einzelwesens in den größeren Kreis der Gattung »Mensch« fällt und dieser in den noch größeren der sterblichen Wesen. Die Stringenz des Schlusses liegt in der anschaulich nachvollziehbaren Subsumption oder, bildlich gesprochen, in der Inklusion einer Umfangssphäre in die andere. Daß auch hier die logischen Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten gelten, versteht sich. Die Subsumption eines untergeordneten Begriffs unter einen übergeordneten über einen Mittelbegriff, kraft dessen dieser jenem zugesprochen wird, ist im Kontext der Begriffspyramide ein analytischer und nicht synthetischer Vorgang und hält sich damit an die Spielregeln von Identität, Widerspruch und ausgeschlossenem Dritten. Die übrigen Schlußtypen sind Varianten und Konvertierungen des ersten. Stieg der erste problemlos von unten nach oben auf durch Subsumption bzw. Subordination, so ist beim umgekehrten Ausgang, dem Abstieg von oben nach unten, zu beachten, daß sich überund untergeordnete Begriffe im positiven Urteil nur konvertieren lassen, wenn der übergeordnete Begriff auf den Umfang des untergeordneten eingeschränkt wird:
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Der dihairetische Rationalitätstypus
Einige Lebewesen sind Menschen. Einige Menschen sind Sokrates, x, y. Also ist Sokrates, x, y, ein Lebewesen.
Die Syllogismen in scholastischer Nomenklatura, wie sie seit Petrus Hispanus (gestorben 1277) üblich ist, lauten:
A ä B & B ä C ~ A ä C (barbara) A e B & B ä C ~ A e C (celarent) A ä B & B 1 C ~ A 1 C (darii) A e B & B 1 C ~ A 6 C (ferio)
Zu lesen sind diese: A kommt allen B zu und B kommt allen A zu, also kommt A allen C zu. A kommt keinem B zu und B kommt allen C zu, also kommt A keinem C zu. A kommt allen B zu und B kommt einigen, zumindest einem C zu, also kommt A einigen, zumindest einem C zu. A kommt keinem B zu und B kommt einigen C zu, also kommt A einigen, mindestens einem C zu. Während Aristoteles auf der Basis des dichotomisch-dihairetischen Begriffssystems schrittweise vorgeht und je drei unmittelbar miteinander zusammenhängende Stufen verbindet, springt Platon, dessen Angelfischerbeispiel ja im Grunde nichts anderes als ein unexplizierter, verdeckter Syllogismus ist, in einem Riesenschritt von der untersten zur höchsten Stufe: »Der Angelfischer ist ein Künstler« und subordiniert dann die übrigen dihairetisch gewonnenen Zwischenglieder nach der Art: Alle bezwingenden Künstler sind auch erwerbende Künstler. Der Angelfischer ist ein bezwingender Künstler. Also ist der Angelfischer auch ein erwerbender Künstler. Alle (heimlichen) Nachsteiler sind bezwingende Künstler. Der Angelfischer ist ein (heimlicher) Nachsteller. Also ist der Angelfischer auch ein bezwingender Künstler ... Alle Fischer (Jäger auf Tiere im Flüssigen) sind Jäger auf Belebtes. Der Angelfischer ist ein Fischer. Also ist der Angelfischer auch ein Jäger auf Belebtes.
Mit ihrer Fundierung in der Begriffspyramide teilen die Schlüsse sämtliche Schwierigkeiten und Mängel des dihairetischen RationaliVernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
tätstypus. Sie verbürgen keine absolute Gewißheit, sondern nur eine hypothetische. Der obige Schluß von Sokrates' Sterblichkeit gilt nur unter der Bedingung, daß erstens Menschen sterbliche Wesen sind und daß zweitens Sokrates zur Gattung »Mensch« gehört, so daß auch Schlüsse in senso stricto in Wenn-dann-Form formuliert werden müßten: Wenn alle Menschen sterblich sind und wenn Sokrates ein Mensch ist, dann gilt, daß Sokrates sterblich ist.
Gewöhnlich wird nur den Schlüssen das Charakteristikum »vernünftig«, »rational«, »logisch« zugebilligt, nicht den Begriffen und den Urteilen. Schlüsse werden als »logisch« oder »Vernünftig« bezeichnet, nicht Urteile, zumindest nicht in dem hier gerneinten formalen und nicht inhaltlichen Sinne. Dies drückt sich bis in die Namengebung aus; so spricht etwa Kant von Vernunftschlüssen. Der Grund ist darin zu sehen, daß Begriffe und Urteile zwar Bestandteile der Logik sind, jedoch nur Schlüsse Konstruktionen innerhalb des idealen, hypothetischen Begriffsgeflechts, das der fluktuierenden, schwankenden Wirklichkeit als ein konstantes, invariantes Relationssystem übergespülpt wird, dessen allgerneine Evidenz, Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit sowie intersubjektive Kornrnunikabilität absolute interne Stringenz garantiert.
8. Der mathematische Rationalitätstypus Nach dem Platonischen Rationalitätsrnodell, wie es in der Politeia 47 expliziert wird, gehören der logisch-dihairetische und der mathematische Rationalitätstypus eng zusammen, dergestalt, daß der mathematische - bildlich gesprochen - nach unten an den logischen anschließt, wenn man die Deszendenz im Auge hat, und der logische dort ansetzt, wo der mathematische auf seiner höchsten Spitze endet, also nach oben aufsteigt, wenn man auf die Aszendenz achtet. Nicht die Methode als solche differiert, wenn man einmal davon absieht, daß die Mathematik sich der realen Gegenstände zur Demonstration bedient, während die Logik im ideellen Bereich verbleibt, nur der Ansatz und die Richtung des Verfahrens differieren. 47
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Platon: Politeia 510 b ff.
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Der dihairetische Rationalitätstypus
Nach dem Paradigma des euklidischen Axiomensystems der Geometrie konzipiert Platon die Mathematik als ein axiomatisches System, das auf Axiomen, Definitionen und Postulaten basiert und aus diesen auf rein logisch deduktive Weise die übrigen Sätze des Systems gewinnt. Das Verhältnis zwischen undefinierten Lehrsätzen und definierten, deduzierten Sätzen ist das der Explikation. Wir haben es mit einem analytischen Verfahren und System zu tun, das auf den logischen Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten basiert. Wichtig ist, festzuhalten, daß bereits Platon die Axiome nicht als absolut gewisse Sätze ansieht, deren Sicherheit sich nur auf Intuition oder empirische Erfahrung stützen könnte, sondern als Annahmen, Voraussetzungen, Hypothesen, wie das euklidische Parallelenpostulat. Damit ergibt sich für die Beziehung zwischen Axiomen und abgeleiteten Sätzen eine Wenn-dann-Konstruktion: Die deduzierten Sätze sind nur unter der Bedingung gültig, daß die Axiome gültig sind, ansonsten ist ihre Wahrheit eine rein logisch immanente, nämlich die Folgerichtigkeit und Stringenz der Ableitung. In der Neuzeit hat der Mathematiker David Hilbert diesen hypothetischen Charakter axiomatischer Systeme hervorgehoben und damit auf die rein immanente Deutung und Geltung der Sätze aufmerksam gemacht, die sie zu sogenannten impliziten Definitionen stempelt. Danach haben die in den Axiomen vorkommenden Ausdrücke zunächst keinerlei Realitätsgehalt. Ihre Bedeutung wird erst durch die Definition festgelegt. Die Axiome sind nicht als Aussagen zu verstehen, in denen bereits bestehende, letztlich der Erfahrung entnommene Begriffe miteinander verbunden werden; vielmehr werden durch die Axiome die Begriffe allererst eingeführt. Ob diese dann auf die Realität applikabel sind oder formal bleiben, muß die externe Interpretation klären. Daraus folgt, daß die Definitionen überhaupt erst die Sicht auf potentielle Objekte freigeben und festlegen, was als Objekt in Betracht kommt. Im arithmetischen Axiomensystem z. B. sind Eins, Zahl, Nachfolger usw. Grundelemente, im geometrischen Punkt, Gerade, Ebene usw. Trifft man nun in der Erfahrung auf Objekte, die in unabschließbaren Reihen abzählbar sind, die ein erstes, aber nicht ein letztes Element aufweisen und außerdem so beschaffen sind, daß jedes Glied in einer Folge von Schritten von Eins aus erreicht werden kann, dann gilt dies als Realmodell für die formale Struktur der Zahlenreihe. Ebenso wäre als reales Modell des (euklidisch-)geometrischen A:xioVernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
mensystems dasjenige anzusehen, das die in den axiomatischen Begriffen angesprochenen Eigenschaften kraft physikalischer Kriterien erfüllte, wie z. B. die physikalische Gerade, die als Weg von Lichtstrahlen beschrieben werden kann. Wie diverse Realsysteme um die angemessene Interpretation des formalen Axiomensystems miteinander konkurrieren können, so lassen sich auch umgekehrt Korrekturen am formalen Axiomensystem seitens der Realität denken. So gehen Physiker heute meist nicht mehr von der euklidischen Struktur des empirischen Raumes aus, sondern von der Riemannschen des Kugelraumes. Während die bisherige Exposition die mathematische Rationalität auf logische Operationen reduzierte und damit das mathematische System zu einem analytischen machte, das allein logischen Prinzipien genügt, gibt es in der Mathematik immer wieder Versuche, den synthetischen Charakter und damit die Eigenständigkeit der mathematischen Rationalität zu erweisen. So berufen sich der Intuitionismus (Brouwer) und Konstruktivismus (Lorenzen, Erlanger Schule) darauf, daß die mathematische Grundoperation das Zählen, ursprünglich mit Hilfe der Finger, sei, das Addieren von Einheiten auf der Basis der konkreten wie reinen Anschauung. Demonstriert an dem berühmten Kautischen Beispiel der Summe aus 7 + 5 = 12, bedeutet dies, daß das Resultat 12 kein analytisches Implikat der Summe aus 7 + 5 ist, da es weder in den sieben Einheiten noch in den fünf Einheiten noch in dem Summenzeichen liegt, sondern ein synthetisches, neu hinzukommendes Produkt auf der Basis der Konstruktion in der Anschauung. Konstruktion ist nach Kant und seinen intuitionistischen und operationalistischen Nachfolgern die Darstellung eines Begriffs in der reinen Anschauung gemäß der in ihm liegenden Konstruktionsoder Handlungsanweisung. Jeder mathematische Begriff, jeder mathematische Beweis wie z. B. der, daß die Winkelsumme eines Dreiecks in der ebenen Geometrie 180 beträgt, enthält eine Handlungsanweisung oder sogar einen ganzen Satz solcher, deren Ausführung in der reinen Anschauung die schematische Darstellung ergibt. Demnach kommt Mathematik ohne ein anschauliches Moment nicht aus. Man darf vermuten, daß diese Einsicht schon für Platon leitend war, wenn er davon spricht, daß sich die Mathematik der realen Gegenstände als Demonstrationsmittel bediene. Denn daß es hierbei nicht um die realen Gegenstände als reale geht, sondern um deren schematische Funktion und Modellcharakter, ist klar. Zudem ist darauf hin112
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Der dihairetische Rationalitätstypus
zuweisen, daß anschauliche Vorstellungen, sowohl räumliche wie zeitliche, bereits der reinen Logik in Form von Über-, Unter- und Nebenordnung der Begriffe im Klassifikationssystem zugrunde liegen. Ohne sie wären zudem Umfangsbestimmungen und Vergleiche sowie die sukzessiv durchgeführte Dihairesis unverständlich. Wir sprechen in bezugauf das Begriffssystem von linker und rechter Seite, von oben und unten, von engeren und weiteren Begriffsumfängen, wir verwenden das anschauliche Bild der Begriffspyramide und des Gliederbaums, das lineare Modell wie auch das Kreis- und Spiralenmodell, um den Gedankenkreis oder den circulus vitiosus und die petitio principii auszudrücken. Dieser Appell an die Anschauung bereits in der Logik ist keineswegs bloße Metaphorik, sondern für das Verständnis von Sub- und Koordination usw. notwendig. Eine Vermittlungsposition zwischen analytischer und synthetischer Methode nimmt Leibniz mit seinem Kalkülbegriff ein, wie er ihn in der mathesis universalis entwirft. Obgleich Leibniz eine Reduktion der Mathematik auf Logik vornimmt, intendiert er mit der Mathematik kein rein analytisches, dihairetisch-deduktives Explikationssystem nach Art der euklidischen Axiomatik; vielmehr möchte er ein synthetisches Moment des Erkennens einbringen, dergestalt, daß die Begriffsanalyse zugleich die Kriterien einer sach- und gegenstandsbezogenen Erkenntnis liefert. Dies sei anhand von Leibniz' Raumvorstellung demonstriert. Phänomenale Räumlichkeit wie Distanz, Entfernung, Extension überhaupt gelten Leibniz nicht als primäre, sondern als sekundäre Charaktere, abgeleitet aus logischen Ordnungsverhältnissen. Die Grundbestandteile seiner Logik in ihrer spezifischen Anwendung auf den Raum sind Lage und Relation. Aus diesem Minimum an Grundelementen ergibt sich für ihn ein Maximum an Bestimmungen. So ist die Gerade Ausdruck einer bestimmten Ordnungsfunktion von Punkten, Resultat eines eindeutig geregelten Übergangs von einem Punkt zum anderen. Richtung, Ebene, jede Raumfigur versteht sich in funktioneller Abhängigkeit von zwei oder mehreren Punkten. Der Raum selbst ist ein geordnetes Beziehungsgeflecht von Stellen, was bedeutet, daß jede Stelle durch interne Beziehungen zu jeder anderen in einem Ordnungsgefüge festgelegt ist. Eine Stelle bestimmt sich nicht durch ihre Relation zum vorgängig gegebenen, umfassenden phänomenalen Raum, sondern ist gleichursprünglich mit dem gesamten Stellensystem. Wenn sich damit der Kalkül einerseits von der konstruktiven Methode unterscheidet, die den Raum als Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
gegebene Anschauung voraussetzt, um in ihr ihre Begriffe darzustellen, so unterscheidet er sich andererseits von der rein axiomatischen Methode dadurch, daß er nicht wie sie aus einem einzigen Ursprung in Form einer linearen Kette sequentieller Abhängigkeit Folgesätze ableitet, also aus Einheit Vielheit deduziert, sondern Vielheit auf derselben Ebene ansetzt und so zur Bestimmung einer jeden Stelle das Gesamtsystem verlangt. Vielheit wird hier nicht auf eine ausgezeichnete externe Einheit reliert, sondern ist der Einheit immanent. Daß bei dieser holistisch-ästhetischen Konzeption der theologische Gedanke der visio beatifica, der seligen Schau, Pate gestanden hat, unterliegt keinem Zweifel. Wenn die analytische Methode aus einer endlichen Menge von Basissätzen eine Unendlichkeit von Aussagen ableiten muß, so verfügt der Kalkül von Anfang an mit wenigen Grundbestandteilen über unbegrenzt viele Alternativen, die zudem relational definiert sind. 48 Die mathematische Rationalität, ob es sich um die logische Axiomatik, die formale Konstruktion im vorausgesetzten Anschauungsraum oder den Kalkül handelt, ist wie der rein logisch-dihairetische Rationalitätstypus eine formale Methode, vom Konkreten ablösbar und universell applikabel. Sie ist allgemeinverständlich, generell überprüfbar und intersubjektiv mitteilbar. Ihre Plausibilität erklärt sich aus der Evidenz genau wie bei der logisch-dihairetischen Rationalität, nicht zuletzt deswegen, weil die eine wie die andere Anschaulichkeit beansprucht.
48
Vgl. zu den unterschiedlichen Methoden und Systemkonzeptionen N. Rescher:
Cognitive Systematization: A systems-theoretic approach to a coherentist theory of knowledge, Totowa, N.# J., 1979; ders.: The Systematization of Knowledge, in: Philosophy in Context. An Experiment in Teaching, Bd. 6 (1977), S. 20-42. Rescher nutzt die
Kategorien des Fundamentalismus und Kohärentismus zur unterscheidenden Abhebung.
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3. Kapitel Der dialektische Rationalitätstypus
1. Grundstruktur Neben dem dihairetischen Rationalitätstypus findet sich in Platons Werk, insbesondere in den Spätdialogen Sophistes und Parmenides, noch ein weiterer Rationalitätstypus, der dialektische. Zusammen mit dem ersten bildet er das methodische Instrumentarium der von Platon unter dem Begriff ('naA.Ex:nxij 'tEXV'YJ »dialektische Kunst« oder »Philosophie« zusammengefaßten Wissenschaft, die das gesamte Vernunftsystem ausmacht. Ebenso wie die dihairetische Methode operiert die dialektische mit Gattungen und Arten, jedoch mit dem Unterschied, daß der Gattungsumfang in den Artumfängen erhalten bleibt und diese trotz der inhaltlichen Spezifikation umfangmäßig das Ganze bezeichnen. Obwohl die Arten inhaltlich Teile des Gattungsganzen bilden und sich demnach auch umfangmäßig die Sphäre teilen sollten, repräsentieren sie jede für sich das Ganze. Genau genommen repräsentieren sie es nicht nur, sondern sind das Ganze, das sie unter einem je verschiedenen Aspekt darstellen. 1 Insofern legt sich hier die Rede nicht so sehr von quantitativen Teilen eines Ganzen nahe, die den Inbegriff des Ganzen bilden,-als vielmehr von Aspekten oder Momenten einer Totalität. Das differenzbildende Gefälle zwischen Gattung und Arten, das für die dihairetische Konstruktion typisch ist, wird hier nivelliert, insofern die Arten umfangmäßig selbst Gattungsbegriffe sind und die Gattung nichts anderes ist als die Artbegriffe. Die Koinzidenz von Gattung und Arten ist nur unter der Prämisse möglich, daß nicht wie im dihairetischen Rationalitätsmodell eine einzige oberste, allumfassende Gattung supponiert wird, von Angesichts dieser Eigentümlichkeit, die mit der pars-pro-toto-Funktion im Mythos Ähnlichkeit aufweist, zeigt sich hier eine Verwandtschaft zum mythisch-analogischen Denken. Denn auch im Mythos bedeutet, genauer ist ein Korn die gesamte Ernte, der Ölbaum Athenes auf der Akropolis die Gesamtheit der Ölbäume Griechenlands und ein Erdklumpen das gesamte Feld. .
1
Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
der auszugehen ist, sondern mehrere, mindestens zwei, wenn nicht beliebig viele gleichrangige. Die Kompossibilität gleichursprünglicher und gleichuniverseller Gattungsbegriffe aber kann nur gedacht werden in Form einer Überlagerung oder Überlappung, einer Wechselimplikation, die Platon G"Uf.lJtJ"ox~ "tWV yevö':lv nennt, Zusammenflechtung, Netzwerk höchster Begriffe. Von außen betrachtet zeigt sich das Eine-Ganze in sich gespalten in eine Vielheit von Momenten, in denen es aber andererseits als Ganzes erhalten bleibt und somit immer schon über die Entzweiten, Gespalteten wieder mit sich zusammengegangen ist. Seine Grundstruktur ist das EV cha
A
nonA
=B
Dasselbe läßt sich im Ausgang von B durchführen, da beide Glieder gleichrangig sind. Eine scheinbar dritte Möglichkeit, vom Ganzen AB - auszugehen und alternativ zu den beiden Gliedern überzugehen, um wieder beim Ganzen zu landen, fällt mit den beiden anderen Wegen zusammen, da das Ganze immer nur als Teil - als A oder als B - den Ausgang des sukzessiven Durchgangs durch die Triade bilden kann. Unschwer wird man in diesem Dreischritt die Trias aus These (A), Antithese (non A = B) und Synthese (A + B) erkennen. Die mit der Synthese erfolgte Explikation des Ganzen ist 116
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Der dialektische Rationalitätstypus
zwar Resultat des Diskurses, gleichzeitig aber liegt das Ganze unexpliziert dem Diskurs von Beginn an zugrunde, so daß sich der Durchgang zwar einerseits als ein synthetischer Fortschritt erweist, andererseits jedoch als ein analytischer Explikationsprozeß. Wegen des Zusammenfalls des Endes des Prozesses mit dem Anfang läßt sich die Struktur auch durch einen Kreis symbolisieren oder, wegen der ständigen Iterierbarkeit, durch einen in sich kreisenden Kreis oder durch eine Spirale. Im Kreismodell fungiert jeder Anfang zugleich als Ende eines Umlaufs und jedes Ende als Neuanfang, da beide koinzidieren. So hat nach dem Durchlauf des Ganzen die Synthese aus These und Antithese den Status eines Neubeginns, d. h. einer neuen These innerhalb eines neuen triadischen Durchgangs und so in infinitum. Es leuchtet ein, daß die logischen Prinzipien des dialektischen Rationalitätstypus andere sein müssen als die des dihairetischen. Für das dialektische Modell hat das Prinzip der Identität, zumindest in der Form, in der es im dichotomisch-dihairetischen Modell auftritt, keine Gültigkeit mehr. Auf seiner Basis lassen sich im Klassifikationsmodell allen Begriffen bzw. den durch sie bezeichneten Gegenständen die im jeweiligen Begriff latent enthaltenen Merkmale zusprechen, und zwar in Form explizierender analytischer Urteile entweder von der Art der Tautologie (»Angelfischer ist Angelfischer«) oder von der Art mehr oder weniger vollständiger analytischer Urteile (»der Angelfischer ist ein Künstler«, »der Angelfischer ist ein erwerbender, bezwingender, nachstellender Künstler, dessen Nachstellung auf Belebtes, genauer auf Tiere im Flüssigen, nämlich im Wasser, über die Verwundung mittels Haken geht«). Das Zusprechen von Prädikaten übernimmt hier zugleich die Funktion des Absprechensund Ausschließens inkompatibler Bestimmungen. Anders im dialektischen Modell, in dem das Ganze die (konträren) Gegensatzglieder, die wegen der pars-pro-toto-Stellung in diesem signifikanten Fall zugleich kontradiktorisch sind, in sich enthält. Die dem Ganzen zugeschriebene Identität ist nur unter Einschluß des Gegensatzes bzw. des Widerspruchs möglich, so daß hier Identität und Gegensatz bzw. Widerspruch zusammenfallen in dem Sinne, daß die Sich-selbst-Gleichheit nur über die Andersheit möglich ist. Dialektische Identität schließt in der Selbstzuwendung Selbstgegensatz bzw. Selbstwiderspruch ein. Wir haben es hier mit einer Identität zu tun, der die Gedankenfigur der Selbstreferenz zugrunde liegt. Wie alle Referenz, so tritt Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
auch sie als zweistellige Relation auf. Eine derart charakterisierte Identität unterscheidet sich nicht von ihrem Oppositum, der Differenz, mag diese als Verschiedenheit, Gegensatz oder Widerspruch begegnen. Bedeutet Differenz den Unterschied eines Etwas von einem anderen Etwas, so bedeutet Identität die Selbigkeit eines Etwas mit sich als dem anderen Etwas. Wegen des Zusammenfalls der differenten Relata erfolgt in der Selbstreferenz die Selbstidentifikation nur über den Differenz- bzw. Fremdbezug, also mit Inklusion desselben. Auch der Widerspruch, der im dichotomisch-dihairetischen System wegen der drohenden Gefahr der Konfusion und des Nonsenses zu eliminieren war, erhält im dialektischen Konzept einen gänzlich anderen Stellenwert, indem er hier mit zum System gehört. Denn wenn aufgrund der pars-pro-toto-Stellung jedes Artbegriffs zwei miteinander konkurrierende, unversöhnliche Arten (A und non A = B) das Ganze zu sein beanspruchen, dann ist der Widerspruch unvermeidbar und konstitutiv für das System, indem er abwechselnd das Ganze vernichtet und restituiert. Die Konsequenz ist der Verzicht auf die zweiwertige Logik. Der Unterschied zwischen dihairetischer und dialektischer Logik läßt sich daran festmachen, daß die erstere - auch formale axiomatische Logik genannt- ein erfahrungsindependentes, artifizielles System mit eindeutiger Identifikation und Feststellung des Widersprüchlichen auf der Basis von wahr und falsch ist, das der Realität oktroyiert wird. Soll die Realität selbst adäquat erfaßt werden, so kann dies nur in dialektischer Form geschehen durch den sukzessiven triadischen Durchgang, wobei selbstverständlich die Fixierung und Bestimmung der antithetischen Glieder fomallogischen Prinzipien folgt, die jedoch in die dialektische Logik integriert werden. Was den Satz des ausgeschlossenen Dritten aus der dihairetischen Logik betrifft, so ist er in der dialektischen Logik mit der Geltung des Widerspruchs außer Kraft gesetzt. Herrschte in jener das Entweder-oder, so in dieser das Sowohl-als-auch. Die dialektische Logik steht aber nicht nur in einem Unterscheidungsverhältnis zur dihairetischen Logik, sondern auch in Beziehungen zu ihr, indem sie deren Begriffe - Gattungs- und Artbegriffe sowie deren Gesetze aufnimmt und uminterpretiert. Der Grund ist darin zu sehen, daß sie die Basis jener bildet. Denn da das von der dihairetischen Logik unterstellte höchste, absolute Genus faktisch unauffindbar ist und in einer Vielzahl höchster Genera endet, endet auch die dihairetische Logik in der dialektischen.
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Karen Gloy
Der dialektische Rationalitätstypus
Wurde bisher die Grundstruktur der Dialektik beschrieben, so läßt sich diese ergänzen und modifizieren, wodurch diverse Dialektikformen zustandekommen. Zum einen läßt sich das Eine-Ganze nicht nur dichotomisch spalten in A und das Gegenteil von A (= B), sondern auch trichotomisch und polytomisch in A, B, C, D usw., kurzum in A und das von A Verschiedene (1:&.A.A.a), aus dem sukzessiv die Einzelglieder herausgehoben und verabsolutiert werden können, wobei ihr oppositioneller bzw. widersprüchlicher Status aus ihrem Absolutheits- und parspro-toto-Anspruch resultiert. Das gilt für jedes zwischen Anfang und Ende eingeschobene Element. Zum anderen gestattet die Diremption des Einen-Ganzen und die Wiederzusammensetzung der Dirimierten zum Ganzen sowohl eine temporale wie eine atemporale Interpretation, auf die schon Platon im Sophistes 2 hingewiesen hat, wenn er dort diejenigen Philosophen, die Zerfall und Zusammensetzung nacheinander annehmen, von denjenigen unterscheidet, die sie als zugleich geschehend oder als immer schon geschehen unterstellen. Während die erste Interpretation zum zeitlichen Kreislauf im Sinne von Veränderung führt, führt die zweite zur begrifflichen Explikation, die für ein endliches Erkenntniswesen angesichts des Ganzen zwar auch im sukzessivtemporalen Diskurs geschieht, aber eine atemporale Struktur zur Grundlage hat. Selbst wenn man die temporale Explikation dem Ganzen nicht äußerlich adjungiert denkt, sondern als internes Moment des Ganzen auffaßt, so daß Inhalt und Form, Gehalt und Methode zusammenfallen, drückt die zeitliche Darstellungsform ein Überzeitliches aus, ein stehendes Geschehen. Diese ewige Gegenwart ist die Einheit von Sein und Genesis. Anders als beim Klassifikationsmodelt in welchem die Diskrepanz zwischen Form und Realität unüberwindlich ist, allenfalls im Individuum aufgehoben gedacht werden kann, insofern dieses als durchgängig bestimmter Gegenstand vor dem Hintergrund der Totalität der Seinsbestimmungen eine bestimmte Weise des Totalitätssystems darstellt, fallen im dialektischen Modell wegen der parspro-toto-Beziehung und des Absolutheitanspruchs der Teile diese mit dem Ganzen der Realität zusammen. Insofern kann man von
2
Platon: Sophistes 252 b.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
realen Formen wie dem zeitlichen Kreislauf ausgehen, um daran die begrifflichen Formen, die aber gleichwohl realitätshaltig sind, anzuschließen. Ist wegen des Realitätsgehalts das dialektische Modell nun weniger wissenschaftlich als andere Rationalitätsstrukturen, auf die sich die Wissenschaften berufen? Wohl kaum, wenngleich zugegeben werden muß, daß es wegen seiner Komplexität und Kompliziertheit ein unhandliches Instrumentarium abgibt und daher bei Wissenschaftlern oft in Mißkredit geraten ist. Da es die Welt im ganzen erfaßt und adäquat nur im Diskurs durch sämtliche Momente darstellen kann, kommt es dem für die Wissenschaften so eminent wichtigen Simplizitätsgedanken, der Identifikation, Reidentifikation und Ordnung ermöglicht, nicht entgegen. Denn Wissenschaft ist nicht nur eine Methode der Exaktheit und Präzision, sondern auch der Simplifikation, die durch Generalisierung und Abstraktion erreicht wird und auf einen Schematismus hinausläuft. In die genau entgegengesetzte Richtung aber zielt die Dialektik. Zwar ist auch sie eine formale Methode, aber eine, die latent das inhaltliche Ganze mit sich führt und dessen Bestimmungen sukzessiv aktualisiert. Sofern die von der Rationalität bereitgestellten Denkmodelle und -methoden aber allgemeinverständlich und nachvollziehbar sind - und das gilt auch für die Dialektik -, begründen sie Wissenschaftlichkeit, selbst wenn die einen den anderen präferiert werden.
2. Zeitlicher Kreislauf
Das Aufmerken auf reale zeitliche Zyklen in der Natur, auf die Wiederkehr des Gleichen, gehört zu den frühesten Beobachtungen der Menschheit; es ist ursprünglicher als das Wissen von Fortschritt und Evolution. Man begegnet ihm bereits in mythischer Zeit, aber auch in den Anfängen der griechischen Philosophie. Auf der Annahme vom natürlichen Kreislauf der Dinge basiert nicht nur Thales' Lehre, daß das Wasser das in allem Wechsel sich erhaltende Prinzip sei, sondern auch die Lehre Anaximenes', die Entsprechendes von der Luft annimmt, ebenso Heraklits Lehre, die solches vom Feuer unterstellt. Darüber hinaus lehrt Heraklit den Kreislauf der Seele, worin Leben und Tod nur verschiedene Seiten eines beide umfassenden Geschehens sind.
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Der dialektische Rationalitätstypus
»Und es ist immer ein und dasselbe, was in uns wohnt: Lebendes und Totes und Waches und Schlafendes und Junges und Altes. Denn dieses ist umschlagend jenes und jenes zurück umschlagend dieses.«'
Die Palingenesis, die Wiedergeburt und ständige Neuinkorporation der Seele, hat ein Pendant im Weltgeschehen. Über die Interpretation der Seele als Feuer wird das Seelengeschehen mit Totengericht und Wiederauferstehung in Parallele zum kosmischen Prozeß mit Weltenbrand und Neubeginn gesetzt. Vor allem findet sich der Gedanke vom Kreislauf der Dinge in religiösen Kontexten, etwa in der Orphik, aus der das Bild vom Kreis (xuxA.o~) oder Rad ('tQOX.O~) der Geburten stammt. Für den Buddhismus ist das Rad als Symbol des Schicksals und der Geschichte geradezu symptomatisch. Nicht weniger bekannt ist das Bild vom Uroboros, der sich in den Schwanz beißenden Schlange, das in verschiedenen Religionen und Mythen auftritt. Wenngleich der jüdischen Religion aufgrund einer anders gearteten, zukunftsorientierten, eschatologisch-sotheriologischen Zeitvorstellung die Gedankenfigur vom Kreislauf der Dinge fremd ist, findet sie sich wieder in Kontexten des Christentums, ausgeprägt bei Paulus im Römer- und Korintherbrief4 sowie bei den mittelalterlichen Mystikern Tauler, Seuse, Böhme und anderen. Auch den idealistischen Philosophen Hegel und Schelling ist sie nicht fremd, ebensowenig deren Gegnern, etwa Nietzsche mit seiner Theorie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. 5 Die Vorstellung prägt einen nicht geringen Teil unseres alltäglichen Weltverständnisses, ebenso hat sie Eingang in die Wissenschaften gefunden, wenngleich in der Moderne der lineare, durch den Zeitpfeil explizierte Zeitprozeß, der auf Fortschritt und Evolution zielt, präferiert wird. Und schließlich ist auch die momentan aktuelle Theorie der Autopoiesis, die den Anspruch erhebt, das neue Paradigma der Welterklärung zu sein, ohne Rekursivität nicht denkbar.
3 Heraklit: Frag. 22 [12] B 88, in: W. Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratike1; griechisch-deutsch von H. Diels, Bd. 1, 18. Auf!. Zürich, Hildesheirn 1989, S. 170. ' Vgl. H. Leisegang, in: Der Apostel Paulus als Denker, Leipzig 1923; ders.: Denkformen, Berlin, Leipzig 1928, S. 87ff. 5 Vgl. F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bden., hrsg. von G. Colli und M. Montinari, 2. Auf!. Berlin, New York 1988, Bd. 9, S. 502 (Aph. 11 [157]): >>Der Kreislauf ist nichts Gewordenes, er ist das Urgesetz [... ]Alles Werden ist innerhalb des Kreislaufs [ ... ]. «
Vernunft und das Andere der Vernunft
A- 121
Erster Teil: Rationalitätstypen
Entsprechend den sachlichen Ebenen lassen sich folgende Zyklen unterscheiden: - Kreisläufe im elementaren Bereich wie der Wechsel der Aggregatszustände. - Kreisläufe im organischen Bereich wie das Ein- und Ausatmen, der Herzrhythmus und Pulsschlag, das pflanzliche und tierische Entstehen und Vergehen. Kreisläufe im psychischen Bereich wie die Palingenesis. Kreisläufe in der Natur überhaupt wie der Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Frühling und Herbst, der Kreislauf des Lebens, Weltentstehung und Weltuntergang. Die Diversifizierungen sind zugegebenermaßen kontingent. Manche Fälle sind als immanentes Naturgeschehen beobachtbar, andere stellen Hypostasierungen dar und beruhen lediglich auf Glauben. Dennoch sind die Prozesse einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. (1.) Im Timaios hat Platon eine Deskription und Explikation jenes elementaren Kreislaufs gegeben, den wir heute als Wechsel der Aggregatszustände bezeichnen. »Zuerst sehen wir das, was wir eben Wasser nannten, verdichtet zu Steinen, wie wir glauben, und Erde werden, ebendasselbe aber dann wieder, verdünnt und aufgelöst, zu Wind und Luft, die entzündete Luft zu Feuer, dieses zusammengesunken und verlöscht wieder in Luftgestalt übergehend, die Luft aber durch Vereinigung und Verdichtung in Wolken und Nebel, welchen bei noch stärkerem Zusammendrängen Wasser entströmt, das sich wieder zu Steinen und Erde gestaltet; und wir bemerken so, daß sie als Kreis an einander, wie es scheint, das Entstehen übergeben.« 6
Hier wird anhand der vier Elemente, die in der Antike als Grundstoffe der Welt galten, der Übergang von Wasser zu Erde, zurück zu Wasser, weiter zu Luft und Feuer und zurück zu Luft und Wasser geschildert entsprechend der Erkühlung oder der Erwärmung, was sich bildlich darstellen läßt.
Platon: Timaios 49 bf. (Übersetzung von Hieronyrnus Müller, in: Platon: Sämtliche Werke. In der Übersetzung von F. Schleiermacher und H. Müller, hrsg. von W. F. Otto, E. Grassi und G. Plamböck, Bd. 5, Reinbek b. Harnburg 1961, 5. 171).
6
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ALBER PHILOSOPHIE
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Der dialektische Rationalitätstypus
Feuer Luft
OLuft
Wasser
Wasser Erde
O
Feuer Luft Wasser Erde
Zwischen Ausgang und Ende sind diverse Glieder eingeschaltet. Während der einfachste Fall der mit einem Zwischenglied von der Gestalt ABA wäre, handelt es sich bei dem hier beschriebenen um einen mit drei Gliedern von der komplizierteren Form ABACDCA, der aber ebenfalls nach Durchlauf durch alle Elemente zum Anfang zurückführt. Soll das Ende des Prozesses mit dem Anfang zusammenfallen und einen geschlossenen Kreislauf bilden, so muß es trotz der diversen Stationen ein alles durchziehendes und in allem sich erhaltendes, konstantes Prinzip geben, das die durchgängige Einheit und Ganzheit garantiert und von dem die differenten Etappen nur Modifikationen sind. Platon hat den Unterschied zwischen den wechselnden Differenten und dem konstanten Identischen sprachlich durch die Unterscheidung von »SO beschaffen« (wwütov) und »das« (toÖE) bzw. »dies« (toüwf zum Ausdruck gebracht, wobei er mit dem ersteren auf die differenten Modi und Auftrittsweisen hinweist, mit dem letzteren auf das in allen Modi sich erhaltende Prinzip. Hier zeigt sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung zweier Ebenen, einer substantiellen und einer akzidentellen, einer, die als Trägerebene fungiert und die Einheit und Ganzheit verbürgt, und einer, die die verschiedenen Erscheinungsweisen des Trägers artikuliert. Das Substanz-Akzidens-Modell läßt sich auf das dialektische Grundschema, wie es oben dargestellt wurde, A B A, reduzieren. Es ist lediglich eine Variante desselben, von der Hegel in der Phänomenologie des Geistes sagt: »Der Kreis, der in sich geschlossen ruht und als Substanz seine Momente hält, ist das unmittelbare und darum nicht verwundersame Verhältnis.« 8 Vgl. a. a. 0. 49 d f. ' G. W. F. Hege!: Phänomenologie des Geistes, in: Werlee in 20 Bden. und 1 Reg.-Bd. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a.M. 1986 [abgekürzt: Werke], Bd. 3, S. 36.
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Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Der Unterschied des zeitlichen Verhältnisses zur nicht-zeitlichen Grundstruktur besteht lediglich darin, daß ersteres die im dialektischen Grundschema existierende Kontrarietät bzw. Kontradiktion in ein temporales Nacheinander auflöst, mithin Gegensatz und Widerspruch als Wechsel an einer beharrenden Substanz begreift. 9 Da die Terminologie von Substanz und Akzidens jedoch die Vorstellung nahelegt, als werde einem Zugrundeliegenden (fmoxdJ..LEvov) bzw. Unterstehenden (subsistens) etwas zufällig Vorkommendes äußerlich zugesprochen, während der Kreisgang die Vorstellung eines im Wechsel der differenten Modi identisch auf sich Bezogenen verlangt, erscheint die Terminologie der Selbst- und Fremdbeziehung, die den Kreislauf als Selbstverhältnis mit Inklusion des Fremdverhältnisses deutet, angemessener. Ansätze zur Erklärung des Kreislaufs mittels des Substanz-Akzidens-Modells oder des Modells von Selbst- und Fremdbeziehung finden sich schon bei den frühen griechischen Philosophen Thales und Anaximenes. Bei Heraklit, dessen Philosophie gewöhnlich für dunkel und hermetisch erachtet wird, trifft man auf den Versuch, die sachlich bedingte Struktur sprachlich abzubilden und hierdurch zu begreifen. So begegnet auch bei ihm das Beispiel vom Kreislauf der Elemente: »Für Seelen ist es Tod[,] Wasser zu werden, für Wasser aber Tod [,] Erde zu werden. Aus Erde aber wird Wasser und aus Wasser Seele.« 10 Setzt man für die in der Antike als feinststoffliches Gebilde verstandene Seele Feuer, so resultiert der Kreis Seele = Feuer
( \ \__EWe~
Wasser
Wasser
Das zeitliche Verhältnis mildert die Härte des für die Dialektik typischen Widerspruchs durch Verteilung des Ganzen und des ihn konstituierenden Widerspruchs auf verschiedene Ebenen, die substantielle und die akzidentelle. 10 Heraklit: Frag. 22 [12] B 36, in: W. Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, a. a. 0., Bd. 1, S. 159, vgl. 22 [12] B 72, a. a. 0., S. 168.
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Der dialektische Rationalitätstypus
Bis in die Sprachkonstruktion hinein dokumentiert sich hier der Kreislauf der Elemente. Die Sprache dient als Spiegel der Realität. Dies ist auch andernorts bei Heraklit zu beobachten, z. B. in den Aussprüchen: »Aus Allem Eins und aus Einem Alles« 11 oder »Unsterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche, denn das Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener der Tod dieser.« 12 Mag dies zunächst nur als ein dichterischer Kunstgriff erscheinen, so ist doch die Absicht unverkennbar, die Sprache der Realstruktur anzupassen, dies um so mehr, als die antike Elementen- oder Stoicheia-Theorie davon ausgeht, daß sowohl die Realität aus Elementen besteht wie auch die Sprache -letztere aus Sätzen, diese aus Wörtern, diese aus Silben und diese wiederum aus Buchstaben -und daß durch die jeweilige Zusammensetzung die Einheit der Realität wie die der Sprache zustande kommt. (2.) Nicht weniger bekannt sind Kreislaufbeispiele aus dem organischen Bereich. Sie werden seit der Antike mit nicht geringerer Intensität diskutiert als die aus dem elementaren Bereich. Die organische Sphäre ist sogar derart relevant für die Kreislaufstruktur, daß nach ihr das diesbezügliche Denken als organisches (nicht statisches) bezeichnet wird. Am Wachstums-, Reife- und Verfallsprozeß der Pflanzen, an ihrem Keimen, Wachsen, Erblühen, Früchtetragen und anschließenden Verwelken und Absterben sowie am Neuaufkeimen aus der Frucht ist der Kreislauf des Organischen ablesbar. Der Kulminationspunkt ihres Wachsens und Reifens ist zugleich der Umschlagpunkt zu ihrem Untergang. Das extensivste und expressivste Stadium erweist sich im Ganzen zugleich als das, das den Niedergang einleitet, und das eingeschränkteste, zusammengezogenste als das, aus dem der Neubeginn hervorgeht. So sagt Phiion im Anschluß an stoische Quellen: »Denn aus den Pflanzen wird die Frucht, wie wenn aus dem Anfang das Ende entsteht, und aus der Frucht, die den Samen in sich schließt, wird wieder die Pflanze, wie wenn aus dem Ende der Anfang hervorgeht.« 13
Und auch bei SeheHing und Hege! taucht die Beschreibung wieder auf, bei SeheHing in den Weltaltern:
Frag. 22 [12] B 10, a. a. 0., S. 153. Frag. 22 [12] B 62, a. a. 0., S. 164. 13 Philon: De opificio mundi, 44, p. 9 M, in: Philonis Alexandrini Opera qvae svpersvnt, Bd. 1, ed. L. Cohn, Berlin 1896, S. 14 (Übersetzung von Verfasserin). 11
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Erster Teil: Rationalitätstypen
»Der Baum z. B. treibt immerfort von der Wurzel bis zur Frucht, und wenn er im Gipfel angekommen, wirft er alles wieder ab, geht zurück in den Stand der Unfruchtbarkeit, und macht sich selbst wieder zur Wurzel, nur um wieder aufzusteigen. Die ganze Tätigkeit der Pflanze geht auf Erzeugung des Samens, nur um in diesem wieder von vorn anzufangen und durch neuen fortschreitenden Prozeß wieder nur Samen zu erzeugen und wieder zu beginnen. Aber die ganze sichtbare Natur scheint zu keiner Beständigkeit gelangen zu können und in einem ähnlichen Zirkel unermüdlich umzuwandeln.« 14 Und bei Hegel in der Phänomenologie des Geistes heißt es: »Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser.« 15 Entsprechendes gilt für den biologischen Prozeß der Tiere und Menschen. Die Struktur ist dieselbe wie im pflanzlichen Bereich. (3.) Der Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt bis hin zur fleischlichen Auferstehung ist Thema zumeist von Religionen, Mysterien und Kulten; doch auch der Philosophie ist er nicht fremd, wie die Behandlung bei Heraklit oder bei Platon im Phaidon zeigt. Aus ihm ist der Gedanke der ständigen Reinkarnation erwachsen, aus dem die Erlösungsreligionen ein Entkommen unter gewissen Bedingungen versprechen. Ansonsten setzt sich die Inkorporation der Seele in einen Leib bei der Geburt und der Austritt aus diesem beim Tod ins Unendliche fort. Soll auch hier ein wirklicher Wiederanschluß des Endes an den Anfang stattfinden, so muß es ein durchgehendes, beharrliches Prinzip geben, das sowohl Heraklit wie auch Platon mit der Seele identifizieren und letzterer angesichts der Tatsache, daß es sich nicht im materiellen Bereich, sondern ausschließlich im geistigen findet, durch Selbstreferenz charakterisiert. Denn nur ein selbstreferentielles Prinzip ist suisuffizient und autonom. In diesem Sinne ist sowohl Platons Kennzeichnung der Seele als autokinetisches Prinzip im Phädros 16 zu verstehen, das als selbstbeweglich Grund und Folge seiner selbst ist, wie auch Platons Kennzeichnung der Seele als Emm;~!-l'YJ Eamfj~ im Charmides 17, die als wissende Selbstbeziehung alE W. J. Schelling: Die Weltalter, in: Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, 1. Abt., 10 Bde., Stuttgart, Augsburg 1856-1861, Bd. 8, S. 231. 15 G. W. F. Hege!: Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, S. 12. 16 Platon: Phädros 245 c ff. 17 Platon: Charmides 166 c. 14
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Der dialektische Rationalitätstypus
les einschließt, zu dem eine Wissensbeziehung hergestellt werden kann und daher Selbst- und Weltbewußtsein in einem ist. Da die Inklusion des Anderen im Grunde die allbefassende Weltseele voraussetzt, kann die individuelle Seele letztlich nur vor dem Hintergrund der Allseele verstanden werden, sei es als Ingrediens oder Derivat derselben. Wenn bei den Griechen und in der weiteren Tradition die Selbstreferenz mit der Seele bzw. dem Geist (Logos) in Verbindung gebracht wird, so ist dies Ausdruck einer Geschlossenheit der Weltsicht gegenüber der Offenheit, wie sie für die Neuzeit und Moderne kennzeichnend ist. Ihr bildhafter Ausdruck ist der Kreis. (4.) Die Annahme einer Weltseele, die das Weltgeschehen insgesamt, Natur- wie Lebenskreislauf, erklären soll, führt in metaphysische und religiöse Dimensionen, und so finden wir dieselbe nicht zufällig in mystischen Kontexten, z. B. bei Seuse. In einer seiner Schriften heißt es: »Und die Meister sprechen, in dem Ausflusse der Kreatur aus dem ersten Ursprung sei ein zirkelrundes Wiederbeugen des Ende auf den Anbeginn; denn wie das Ausfließen der Personen aus Gott Vorbild und Urbild ist des Ursprunges der Kreatur, also ist es auch ein Vorspiel des Wiederfließens der Kreatur zurück in Gott.« 18
Zu Ausgang und Rückkehr der Kreatur zu Gott gibt es eine Illustration in der Berliner Handschrift vom Leben Seuses 19, die den Ausgang und die Rückkehr der Kreaturen zu Gott darstellt, derart daß kreisförmig verschiedene Wesen: Engel, Menschen, Christus angeordnet und durch einy Linie miteinander verbunden sind, die jeweils von ihrem Innersten, dem Herzen, ausgeht. Ihren Ausgang nimmt sie von der Dreifaltigkeit Gottes, in der sie auch endet und sich so zum Kreis schließt. Das Bild ist ein sprechendes Zeugnis für die These, daß die göttliche Lebenskraft in die Vielheit der Wesen eingeht, sich in ihnen manifestiert, in ihnen pulsiert und zum Ausgang zurückkehrt. Insofern symbolisiert das Bild die durchgehende Lebenskraft Gottes und ist Ausdruck einer pantheistischen Weitsicht. Gott wird hier nicht welttranszendent, sondern weltimmanent gedacht, als Einheit und Ganzheit, die sich in die Vielheit der Welt entVgl. Deutsche Mystiker, Bd. 1: Seuse, ausgewählt und hrsg. von W. Oehl, Kempten, München 1910, S. 127. 19 Abgedruckt in: J. Bernhart: Die philosophische Mystik des Mittelalters von ihren antiken Ursprüngen bis zur Renaissance, München 1922, Vorblatt.
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läßt und sich aus ihr wieder in die Einheit und Ganzheit zurücknimmt und nichts anderes ist als dieser dynamische Prozeß. Das Wesen Gottes erscheint hier als selbstbezügliche Kraft, die alles aus sich hervorbringt und wieder in sich zurücknimmt und sich von neuem entfaltet nach dem Gesetz der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Oft wird in pantheistischen Kontexten der Kosmos nach Analogie eines Organismus vorgestellt. So wie sich in der Entwicklung des Organismus das Leben zunächst im Samen konzentriert, dann in den vielgliedrigen Organismus auseinanderlegt, der sein Endprodukt wieder im Samen hat, selbst dabei zugrunde geht, während sein Samen von neuem die Entwicklung beginnt, so wird auch das Weltgeschehen gedeutet als sich entwickelnd aus der konzentrierten Gotteskraft und in dieser wieder sich sammelnd. Wenn die vorangehenden Bilder nur unzulänglich und äußerlich das ständig in sich kreisende Geschehen wiedergeben, so hat Platon im Parmenides 20 im Rahmen einer Explikation der Dialektik eine Interpretation des zeitlichen Geschehens des Universums vorgelegt, die zwar extrem hermetisch und schwer verständlich ist, aber den Sachverhalt der stehenden, in sich kreisenden Zeit exakt trifft. Anhand des Alls sowohl in bezug auf es selbst als Einheit wie in bezug auf das Andere seiner selbst, die Vielheit bzw. Allheit, zeigt er in allen Zeitmodi des Ist, War, Gewordenseins, Wirdseins und Werdens das Älterwerden des Kosmos, das zugleich ein Jüngerwerden und ein Gleichen-Schritt-mit-sich-Halten, also ein Gleich-alt-Sein, ist. Dabei operiert er zum einen mit dem rationalen Zahl- und Teilmodell, die beide Maßsysteme sind, und zum anderen mit der Kategorie der Relativität, wie sie aus den Zenanisehen Paradoxien, insbesondere dem Argument von Achill und der Schildkröte und dem Stadium-Argument, bekannt ist. Die Argumente gliedern sich wie folgt: Eine erste Argumentationskette bezieht sich auf das All-Eine selbstY Wenn das All-Eine in der Zeit ist und am Wesen der Zeit, an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, teilhat, muß es immer älter werden. Da Älterwerden ein Relationsbegriff ist und Älteres nur in bezugauf Jüngeres existiert, muß das All-Eine, da hier die Beziehung auf es selbst im Blick steht, sowohl älter werden als es selbst wie auch jünger werden als es selbst. 20 21
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Platon: Parmenides 151 e ff. V gl. a. a. 0., 151 e - 152 e.
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Desgleichen wird es nicht nur älter und jünger als es selbst, sondern ist auch von dieser Art, wenn es im Fortschreiten in der Zeit ins gegenwärtige Jetzt gelangt, das stets und durchgehend ein Jetzt ist. In jedem Augenblick im Jetzt seiend, ist das All-Eine immer auch ein Älter- wie Jünger-Seiendes als es selbst. Wie das All-Eine sowohl älter wie jünger als es selbst ist und wird, hält es auch gleichen Schritt mit sich, indem es nicht mehr Zeit als es selbst ist und wird. Es ist und wird damit auch nicht älter und jünger als es selbst, sondern ist gleichalt mit sich und wird es auch immer. In bezugauf das Andere, Viele lautet die Argumentation: 22 Da das Andere zahlenmäßig Vieles und insofern die Addition von Einsen ist, die Eins aber die Grundlage der Zählung und Addition bildet, gilt für das All, sofern es Eins ist, daß es früher, also älter ist als das Andere, weil es dessen Ausgangspunkt und Basis bildet, und für das Andere, daß es als Addition der Einsen und insofern als abhängig von Eins später, also jünger ist. Gleichzeitig aber gilt auch, daß das All-Eine, sofern es Alles ist, als Zusammensetzung aller Einsen später, mithin jünger ist und das Andere (Viele) als die Teile früher, mithin älter. Zum dritten gilt, daß das Eine, da es mit der Zählung des Vielen gleichen Schritt hält, in Eins einmal, in Zwei zweimal, in Drei dreimal ist usw., daß es gleichalt mit allen Anderen (Vielen) ist, also auch weder älter noch jünger, und ebenso die Anderen. Platon macht hier von der Zahlstruktur Gebrauch, derzufolge jede Zahl einschließlich der Eins die Einheit einer Vielheit ist, folglich drei Elemente enthält: erstens die Eins als Grundlage des Vielen, zweitens die Vielen; drittens die neue, aus dem All der Vielen hervorgegangene Einheit. Dasselbe läßt sich nicht nur arithmetisch am abstrakten Zahlbegriff durchspielen, sondern auch geometrisch am anschaulich extensionalen Verhältnis von Ganzem und Teilen, weist doch das Ganze denselben Charakter auf wie die Eins (das Eine), während die Teile alle Eigenschaften des Vielen besitzen. So ist das Ganze qua Ein( e)s früher, also älter als die vielen Teile, diesen zugrundeliegend, die von ihm abhängigen Teile später, also jünger, ebenso aber sind die Teile auch früher, somit älter als das Ganze, das aus ihnen aufgebaut und zusammengesetzt ist, und das Ganze später, also jünger als die Teile.
22
Vgl. a. a. 0., 152 e -155 c.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Zudem hält das Ganze qua Ein( e)s gleichen Schritt mit den vielen Teilen und diese mit ihm, so daß sie gleichalt sind. Aber nicht nur älter und jünger und gleichalt ist das All-Eine mit den Anderen (Vielen, Teilen), sondern wird es auch. 23 Zum Beweis bedient sich Platon des Gedankens der Relativität, der, wie schon angedeutet, auch in den Zenonischen Paradoxien eine Rolle spielt bei der Erklärung der Gleichmächtigkeit verschiedener Mengen. Wenn hier gleiche Einheiten bzw. Teile zu ungleichen, zu einem Mehr oder Weniger an Zeit, addiert oder subtrahiert werden, so hat dies zur Konsequenz, daß das Ältere, das längere Zeit existiert, in bezug auf das Jüngere, das weniger Zeit existiert, immer jünger wird und das Jüngere in bezugauf das Ältere immer älter. Da Älter- und Jüngersein Relationsbegriffe sind und nur von zwei Relata ausgesagt werden können, von denen das eine älter ist als das andere, das andere jünger als das erste, muß, wenn zum Älter- und Mehrsein immer dasselbe Zeitmaß hinzugefügt wird wie zum Jünger- und Wenigersein, sich der Zeitabstand zwischen beiden vermindern bzw. im letzteren Fall vergrößern: Das Ältere muß proportional zum Jüngeren immer jünger werden, das Jüngere proportional zum Älteren immer älter. Ist das All-Eine qua Eines das Ältere, so wird es immer jünger und das Andere, die Vielen, die Teile, als das Jüngere immer älter. Sind sie aber das Ältere, so werden sie immer jünger und das All-Eine als das Jüngere immer älter. Wegen der Korrelation werden beide auch weder jünger noch älter gegeneinander, sondern bleiben sich in dieser Beziehung gleich. Was einmal dieselbe Unterschiedsspanne hat (der Zeit oder dem Abstand nach), bewahrt diese. Wegen der zeitlichen Zyklik präsentiert sich das Universum hier als ein allpräsentes, da die zyklische Bewegung ja nicht nur nach einer Richtung voranschreitet, sondern ebenso in umgekehrter Richtung zurückschreitet. Ein ähnliches Modell der Zeitauffassung mit dem Zusammenfall von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart begegnet in der modernen Physik. Zeitlicher Fortschritt existiert hier nur aus menschlicher Sicht, während von einer Superposition aus, sei es der eines göttlichen oder übermenschlichen Wesens, Vergaugenes zukünftig, Zukünftiges vergangen sowie beides gegenwärtig ist und Gegenwärtiges zukünftig wie vergangen. Wir haben hier eine stehende, in sich rotierende Zeit und ein ebensolches All vor uns. 23
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Vgl. a. a. 0., 154 a ff.
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Blickt man auf die diversen Kreislaufbeispiele aus den verschiedenen Bereichen zurück, so lassen sich dieselben nur als einzelne, separate Kreise wiedergeben, die allenfalls gemäß ihrer Ausdehnung, ihres Umfangs, konzentrisch angeordnet werden können. Wenn Heraklit beispielsweise Kreisläufe von der Art des Satzes mit der Zusammensetzung und Trennung von Elementen, der menschlichen Seele mit Leben und Tod, des Weltgeschehens mit Aufgang und Untergang erörtert, so lassen sich diese äußerlich in das Schema konzentrischer Kreise bringen, ohne allerdings die Übergänge erklären zu können. Seele Weltgeschehen Satz (Rede)
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Auch Seuse hebt auf konzentrische Kreise ab, die auch sonst in der Literatur nicht ungebräuchlich sind 24 , versucht aber deren Entstehung mit dem Bild eines Steinwurfs ins Wasser zu erklären. »Hier nimm dies in deine bildliehe Betrachtung: wenn jemand mit einem schweren Stein fest in ein stillstebendes Wasser würfe, so entstünde ein Ring im Wasser. Und der Ring macht aus seiner Kraft einen anderen, und der abermals einen andern; und nach der Kraft des ersten Wurfes werden auch die Kreise weit und breit. Das Vermögen des Wurfes könnte also kräftig sein, daß das Wasser alles überginge. Hier nimm bildlich im ersten Ringe die vermögende göttliche Kraft im Vater, die grundlos ist; sie gebiert, sich gleich, einen anderen Ring nach der Person, das ist der Sohn; und die zweie die dritte, das ist ihrer beider Geist, gleich ewig, gleich allmächtig. Das bezeichnen die drei Kreise: Vater, Sohn, heiliger Geist.« 25
Die Fortzeugung eines Kreises im anderen erfolgt hier durch die immanente Kraft des Ursprungs, die sich auf die weiteren Kreise überträgt. Das Bild macht Gebrauch von einer durchgehenden Kraft, die nicht nur jeden einzelnen Kreislauf beherrscht, sondern das Insgesamt der Kreise. Dies aber ist bislang nur ein Bild, das der Explikation
" Vgl. Platon: Alkibiades I bezüglich des Selbst. Vgl. dazu K. Gloy: Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg, München 1998, S. 115 f. 25 Deutsche Mystiker; Bd. 1: Seuse, a.a.O., S. 140f. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
harrt. Ob hierzu dialektische Mittel allein ausreichen oder ob andersartige, z. B. analogische 26 , hinzukommen müssen, bleibt zu fragen.
3. Platons Dialektiktypus
Platons Parmenides liefert das Paradigma für ein atemporales Dialektikkonzept. Der Dialog gibt nicht nur eine methodische Explikation des Platonischen Dialektiktypus, sondern enthält auch eine breit angelegte Durchführung des exponierten Programms anhand eines ausgewählten, historisch signifikanten Beispiels, nämlich des Einen, welches das Grundprinzip des historischen Parmenides war. In der Passage 135 e- 136 e gibt Platon zunächst eine detaillierte Beschreibung und Analyse des Dialektikverfahrens am Beispiel des Vielen, dann summarisch und generalisierend für alle generischen Ideen; in 136 e ff. schließt er eine Exemplifikation des generell Explizierten am Beispiel des Einen an, die den gesamten Hauptteil des Dialogs einnimmt. Wegen der Wichtigkeit seien die allgemeinen Ausführungen zur dialektischen Methode hier in extenso zitiert: »Außerdem ~ußt du aber noch dies tun, daß du nicht nur etwas als seiend voraussetzend untersuchst, was sich aus der Voraussetzung ergibt: sondern auch, daß jenes nämliche nicht sei, mußt du hernach zugrunde legen, wenn du dich noch besser üben willst. -Wie meinst du das 7 fragte Sokrates. -Zum Beispiel, sagte Parmenides, nach der Voraussetzung, von welcher Zenon ausgegangen ist, wenn Vieles ist, was muß sich dann ergeben für das Viele selbst an sich und in Beziehung auf das Eins, und auch für das Eins an sich und in Beziehung auf das Viele; und ebenso mußt du dann auch untersuchen, wenn Vieles nicht ist, was sich dann ergeben muß für das Eins sowohl als für das Viele jedes an sich und in Beziehung auf einander. Ebenso wenn du voraussetzt, wenn es Ähnlichkeit gibt oder wenn es sie nicht gibt, ist zu sehen, was aus jeder von beiden Voraussetzungen folgt, sowohl für das Vorausgesetzte selbst als für das Andere insgesamt, an sich und in Beziehung auf einander. Auch von dem Unähnlichen gilt dasselbe und von der Bewegung und Ruhe, von dem Entstehen und Vergehen, ja von dem Sein selbst und dem Nichtsein. Und mit einem Worte, was du auch zugrunde legst, es als seiend und nicht seiend oder was sonst davon annehmend, davon mußt du sehen, was sich jedesmal ergibt für das Gesetzte selbst und für jedes andere Einzelne, was du herausnehmen willst, sowohl für Mehreres als auch für Alles insgesamt ebenso. Ebenso auch, was sich für das Übrige ergibt, an sich und in Beziehung 26
132
Vgl. S. 207ff., bes. S. 214ff. dieser Arbeit.
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Der dialektische Rationalitätstypus
auf jedes Einzelne, was du jedesmal herausnehmen willst, du magst nun das; wovon du ausgingst, als seiend voraussetzen oder als nichtseiend, wenn du vollkommen geübt auch die Wahrheit gründlich durchschauen willst.« 27
Um den Platonischen Dialektiktypus in seiner Eigenart zu begreifen, ist vorab auf das Ideengeflecht, die O'Uf!JtAOXYJ 'tWV yEvfuv, einzugehen, die die dialektische Operation ermöglichen soll. (1.) Nachdrücklich betont Platon 28 , daß es sich um eine Ideen(Begriffs-)Dialektik und nicht um eine Dialektik innerhalb der sinnlichen Sphäre handelt. Unter Rekurs auf Zenans Schrift, in der die Unmöglichkeit von Vielheit dargetan wird, um so apagogisch den Parmenideischen Satz von der alleinigen Existenz des Einen zu beweisen, bemerkt Platon bzw. im Dialog Sokrates, daß es nichts Ungewöhnliches sei, sondern etwas Selbstverständliches, wenn ein Sinnending eines wie vieles, ähnlich wie unähnlich usw. genannt werde, nämlich in verschiedener Hinsicht, z. B. wenn die Person des Sokrates, als Ganzheit genommen und in Abgrenzung von anderen, als Eines und in Anbetracht der Gliedmaßen als Vieles bezeichnet werde. Bemerkenswert sei allein, wenn dies den Prädikaten selbst widerfahre, daß sie nämlich sie selbst wie auch nicht sie selbst seien, das Prädikat »Eines« nicht nur Eines, sondern auch Vieles, das Prädikat »Vieles« nicht nur Vieles, sondern auch Eines. Die dialektische Explikation soll sich hiernach ausschließlich auf den ideellen Bereich beziehen. (2.) Da für eine dialektische Begriffsexplikation im Unterschied zu einer dihairetischen nur die höchsten Begriffe in Betracht kommen, müssen die das System konstituierenden Ideen die Kriterien der Gleichursprünglichkeit und Gleichuniversalität erfüllen. In Betracht kommen hierfür eine ganze Reihe generischer Ideen. Im Sophistes sind es Ruhe, Bewegung, Identität, Differenz und, als eminente Idee, Sein. Sieht man genauer hin, so haben auch die im Sophistes 29 genannten Ideen von Ganzem und Teil denselben Status, ebenso die auf Bewegung basierenden Ideen des Lebens, der Seele und der Vernunft (voii~, cpQOV1']0L~) 30 • Im Parmenides 31 werden einleitend außer Einheit und Vielheit Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Ruhe und Bewegung, Entstehen und Vergehen, Sein und Nichtsein aufgezählt, 27
18
29
30 31
Platon: Parmenides 135 e ff. A. a. 0., 129 b f, 135 e. Platon: Sophistes 244 d ff. Vgl. a.a. 0., 248 e f. Platon: Parmenides 136 b.
Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
und im Hauptteil bei der Durchführung des Programms wiederholt sich stereotyp eine bestimmte Liste, bestehend aus den räumlichen Bestimmungen: Ganzes, Teil einschließlich Anfang, Mitte, Ende sowie Gestalt, den auf räumlichen Verhältnissen basierenden Bestimmungen: Bewegung und Ruhe, sofern mit ihnen das Immer-in-anderem-Sein und das Immer-in-sich-Sein gemeint ist, den ebenfalls auf Relata basierenden Bestimmungen des Einerlei- und Verschiedenseins dieser Relata (der Identität mit sich und mit anderem, der Differenz von sich und von anderem), der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, der Gleichheit und Ungleichheit, den temporalen Relationsbestimmungen Jünger-, Älter- und Gleichaltsein (=weder Älter- noch Jüngersein) sowohl im Modus des Seins wie des Werdens wie des Gewordenseins und den epistemologischen Bestimmungen der Benennung, Erklärung, des Wissens, der Wahrnehmung, der Vorstellung, welche ontologische Bestimmungen zu ihrem Relat haben. Die Variabilität der Auflistungen läßt darauf schließen, daß das System, wiewohl nach außen gegenüber nicht-universellen Ideen geschlossen, hinsichtlich der Zahl und Art universeller, generischer Ideen offen ist, zumindest nicht fixiert und der Erweiterung fähig. (3.) Obwohl Platon fast durchweg Gegensatzpaare anführt wie Einheit - Vielheit, Identität- Differenz, Ruhe -Bewegung usw. und damit den Eindruck eines in sich gegensätzlich konstruierten Systems erzeugt, stehen die einzelnen Bestimmungen im Ideengeflecht zueinander nicht im Verhältnis des Gegensatzes, sondern im Verhältnis der Verschiedenheit, was seinen expliziten Ausdruck in der Formel Ev - ·diA.A.a (Eines - das Andere) findet. Der Grund hierfür liegt einerseits darin, daß die Pluralität der Bestimmungen an der Verschiedenheit teilhat, welche das gesamte Seiende durchzieht, andererseits darin, daß die Negation einer bestimmten Idee nicht eo ipso ihr Oppositum ergibt, sondern wegen der Pluralität der Gattungsideen zunächst das von ihr Verschiedene. So ist die Negation des Einen innerhalb der O'U~-trtA.oxi] 'tWV yEvwv nicht automatisch das Viele, sondern mit gleichem Recht das Sein, die Identität, Differenz, Ruhe, Bewegung usw., mithin alles übrige außer dem Einen, nämlich ,;&A.A.a, das Andere. Die Negation von Identität ist nicht eo ipso Differenz, sondern ebenso Einheit, Sein, Ruhe, Bewegung usw., mithin alle anderen Ideen außer der Identität, wie auch die Negation von Sein nicht automatisch Nichtsein (= Nichtexistenz) ist, sondern die Gesamtheit der übrigen generischen Ideen außer dem Sein, also das vom Sein Verschiedene. Nur in der Extremform resultiert das Ge-
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Der dialektische Rationalitätstypus
genteil, und zwar unter einem je eigenen, von Platon allerdings nicht eigens genannten Aspekt. So stehen sich unter quantitativem Aspekt Einheit und Vielheit gegenüber, unter relationalem Ruhe und Bewegung, unter qualitativem Identität und Differenz, unter ontologischem Sein und Nichtsein, unter epistemologischem Sein und Erkenntnis usw. Die Theorie des Gegensatzes hat ihre Voraussetzung in der Theorie der Verschiedenheit. Trotz Gegensatz und Verschiedenheit, die die Sphäre zu teilen scheinen, bleibt die dialektische Grundkonstellation erhalten, wonach jedes Glied zugleich das Ganze ist. (4.) Angesichts der Tatsache, daß jede Idee eine spezifische Bedeutung hat und eine entsprechende Funktion innerhalb des Beziehungsgeflechts erfüllt, welche im Fall des Einen Zahlgebung ist, die ihrerseits auf Ein- und Ausgrenzung von etwas aus einem Feld beruht, muß das Andere des Einen die numerisch ungezählte, unbestimmte und unbegrenzte Ideenmasse sein. Dieses zahllose, ungeteilte, ungegliederte und unbegrenzte Ideenkontinuum bildet allererst die Basis für Zählung und Bestimmung. Dasselbe ließe sich auch im Fall der Identität und aller anderen Genera (Differenz, Ganzes, Teil, Sein usw.) sagen, bei deren Entfall das Andere, selbst wenn sich das Eine darunter befände, indifferent und unstrukturiert wäre. Denn was nicht durch Identität oder Differenz oder andere Bestimmungen strukturiert ist, ist unbestimmt. Das Ideengeflecht, bestehend aus der Totalität generischer Ideen, impliziert demnach sowohl ein Moment der Bestimmtheit wie eines der Unbestimmtheit. Welche Differenz besteht angesichts dieser Konstellation überhaupt noch zwischen der Ideenmasse und der xroga, die Platon im Timaios als Oppositum der Ideen bezeichnet, sofern Ideen Bestimmungen sind, während die xroga gestaltlos, wenngleich allempfänglich ist und auf eine höchst unzugängliche Weise am Denkbaren teilnimmt und äußerst schwierig zu erfassen istP2 Die xroga bildet die Grundlage aller Bestimmung und Gestaltung und tritt uns im Verein mit den Ideen in den konkreten, wahrnehmbaren Gegenständen entgegen. Im Parmenides entfällt diese Differenz zwischen Idealität (Begrifflichkeit) und Sinnlichkeit, insofern das Ideengeflecht selbst die Momente der Bestimmung und des Bestimmbaren in sich trägt. Die 32
Vgl. Platon: Timaios 51 a f.
Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
XWQU gehört hier in Form des Anderen selbst mit zum Ideengeflecht. Als logischer Raum bildet sie den einen Bestandteil desselben. So erweist sich das Ideengeflecht als Totalitätssystem, das nicht nur die ideelle Welt, sondern die gesamte umfaßt. Da mit dem Anderen sowohl das Andere gegenüber den Ideen insgesamt, das räumlich Materielle, gemeint sein kann wie auch die anderen Ideen außer der je bestimmenden - hier dem Einen -, fallen beide - anschauliche und logische Sphäre - ununterscheidbar zusammen. (5.) Vor diesem Hintergrund ist die dialektische Operation selbst zu analysieren. Angesichts der Pluralität gleichoriginärer und gleichuniverseller Ideen ist der Ausgang beliebig: Er kann sowohl beim Einen wie beim Vielen, bei der Identität wie bei der Differenz erfolgen. Die vollständige dialektische Explikation wäre diejenige, die von jeder generischen Idee ausginge und im Anschluß an sie das dialektische Programm entfaltete, was jedoch nach Platons eigener Aussage »ein unendliches Geschäft« 33 wäre. Desgleichen ist auch der Übergang von einer generischen Idee zur anderen prinzipiell beliebig. Zwar suggeriert die stereotype Durchführung des dialektischen Programms im Parmenides ein festes Schema, dessen Abfolge eine gewisse Plausibilität hat, indem sich an die räumlichen Bestimmungen des Ganzen und der Teile und die damit zusammenhängenden der Begrenzung und Gestalt Bewegung und Ruhe als räumliche Bestimmungen anschließen, nämlich als stets In-anderem- und stets In-sich-Sein, sodann Identität und Differenz (Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Gleichheit und Ungleichheit), welche ebenfalls Relationsbestimmungen sind, sofern Identität und Differenz Einerleiheit und Verschiedenheit mit und von sich sowie mit und von anderem bedeuten, daran zeitliche Relationsbestimmungen (Älter-, Jünger- und Gleichaltsein) knüpfen und schließlich epistemologische der Beziehung zwischen den Erkenntnisleistungenund dem Sein. 34 Dennoch wird das Schema nicht streng festgehalten, und je weiter sich die Durchführung dem Ende zuneigt, desto schematischer und kürzer fällt sie aus. Auch die doppelte Betrachtungsweise jedes Genus in Beziehung auf sich (JtQO~ airt6) und in Beziehung auf anderes (JtQO~ äA.A.o) kann beliebig gehandhabt werden, sei es im Ausgang von der ersten und im Übergang zur zweiten oder umgekehrt. In der Tat zeigt die 33 34
136
Platon: Parmenides 136 c. Relationalität durchzieht alle Bestimmungen.
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konkrete Durchführung im Parmenides ein Schwanken, indem die erste Hypothese spiegelsymmetrisch aufgebaut ist: Das Eine wird zunächst in Beziehung auf sich, dann in Beziehung auf anderes betrachtet, das Andere seinerseits zunächst in Beziehung auf das Eine, dann in Beziehung auf sich. Die zweite Hypothese hingegen geht alternierend vor, indem sie abwechselnd die Beziehung auf anderes und die Beziehung auf sich erörtert. In dieser Beliebigkeit, was den Ausgangspunkt und den Übergang innerhalb des Ideensystems sowie den Wechsel von Selbst- und Fremdbeziehung betrifft, unterscheidet sich Platons Dialektik radikal von der Hegelschen, in der Ausgang und Übergänge strikt festgelegt sind und der Gang als ein stringenter Explikationsprozeß aufgefaßt wird. Platons dialektisches System gleicht eher einem Schaukelsystem, bei dem bald von diesem, bald von jenem Punkt ausgegangen wird. Es vermittelt den Eindruck eines internen Webens in einem vorgegebenen Ganzen. (6.) Trotz der Beliebigkeit respektive der drei genannten Punkte ist die Verfahrensweise der Platonischen Dialektik keineswegs willkürlich. Denn nach der Wahl eines bestimmten Ausgangspunktes, der Annahme (These) eines bestimmten Genus- z. B. des Einen-, und seiner Betrachtung nach den beiden möglichen Beziehungen, der Selbst- und Fremdbeziehung, jeweils unter detaillierter Durchführung des gesamten Ideensystems wird zum Anderen der Antithese -zum Vielen- übergegangen und dieses in derselben Manier, nämlich nach seiner Selbst- und Fremdbeziehung, behandelt, ebenfalls jeweils unter detaillierter Durchführung des gesamten Ideensystems. Da hiermit der Durchgang der ideellen Bestimmung erschöpft ist, könnte im Prinzip von vorn begonnen werden, und zwar im Ausgang von einem anderen Genus. Daß dies nicht direkt geschieht, ist darauf zurückzuführen, daß Platon nach der positiven Behandlung eine negative anschließt. (7.) Nach Platon ist die dialektische Behandlung der generischen Ideen erst dann vollständig, wenn nicht nur ihre Position wie in der ersten Hypothese, sondern auch ihre Negation wie in der zweiten diskutiert wird. Dem System positiver Bestimmungen stellt er ein System negativer gegenüber. Die Negation läßt eine zweifache Interpretation zu, erstens als Aufhebung der jeweils thematischen Bestimmung, wobei die übrigen bestehen bleiben, und zweitens als Totalaufhebung sowohl der thematischen Bestimmung wie des Restes. Am Beispiel des Einen demonstriert, heißt dies, daß das Nichtsein des Vernunft und das Andere der Vernunft
~
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Einen einmal die Negation des Einen bei Verbleib des Anderen einschließlich des Seins bedeuten kann, zum anderen die Totalaufhebung mit der Konsequenz des absoluten Nichts. Gegenüber der ersten Hypothese hat sich die Situation insofern geändert, als mit dem Wegfall des Einen, dem Nicht-Eines-Sein, im Anderen die Bestimmungen von Identität, Differenz, Ruhe, Bewegung usw. nur noch aufscheinen, nicht mehr wirklich sind. 35 Hier taucht innerhalb des ideellen Gefüges mit der bloßen Ideenmaterie die Sphäre der Sinnlichkeit auf analog jener Position, die später Hegel bei der Konzeption der Natur, dem Anderssein der Idee (der Idee in ihrem Anderssein), benutzt hat, in der die Bestimmungen nur als Schein vorkommen. Mit der zweiten Interpretationsversion, der Totalaufhebung, dem Nichtsein des Einen, versinkt alles in Nichts. (8.) Im Zuge der positiven wie negativen Behandlung der jeweils thematischen Idee treten mit der reinen Selbstbeziehung und der totalen Fremdbeziehung der Idee Extrempositionen auf, die der Vermittlung bedürfen. Ihre Vermittlung erfolgt in der Synthese, die allerdings im Parmenides nur an einem einzigen Beispiel, der Vermittlung von erster und zweiter Position, demonstriert wird, jedoch auf alle anderen gegensätzlichen Positionen übertragbar ist. Aus dieser Konstellation läßt sich das von Platon am Beispiel des Einen exemplifizierte methodische Programm ableiten, das zusammen mit den jeweiligen Resultaten der Selbst- und Fremdbeziehung folgendes Schema ergibt: l. Hypothese: Wenn Eines ist, was folgt für das Eine in Beziehung auf sichwas folgt für das Eine in Beziehung auf das Andere-
Nichts. Alles.
[Synthese] was folgt für das Andere in Beziehung auf das Einewas folgt für das Andere in Beziehung auf sich-
Alles. Nichts.
2. Hypothese: Wenn Eines nicht ist, was folgt für das Nicht-Eines-Seiende in Beziehung auf das Anderewas folgt für das nichtseiende Eine in Beziehung auf sichwas folgt für das Andere in Beziehung auf das Nicht-Eines-Seiendewas folgt für das Andere [bei Ansatz des nichtseienden Einen] in Beziehung auf sich35
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Alles. Nichts. Alles. Nichts.
Vgl. Platon: Parmenides 164 b ff.
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Der dialektische Rationalitätstypus
(9.) Die Eigenart der Platonischen Dialektik erschließt sich erst bei Betrachtung des jeweiligen Resultats einer Position. Platons Dialektik ist Ergebnisdialektik Die erste Hypothese, die das Sein des Einen (Eines ist) zugrunde legt, zeigt, wie aus der reinen Selbstbezüglichkeit des Einen, wonach Eines und nur Eines und nichts weiter ist, die Negation von allem folgt. Denn ein solches Eines kann weder als Ganzes noch als Teil aufgefaßt werden, weil dies bereits eine Mehrheit verlangt. Ebensowenig kann es als Gestalt mit Anfang, Mitte und Ende aufgefaßt werden, auch nicht als Ruhendes oder Bewegtes, da auch dies räumliche Teile (Relata) und somit Vielheit voraussetzt. Auch Identität und Differenz scheiden aus - aus demselben Grunde, da Relationalität fehlt-, ferner zeitliche Bestimmtheit, nämlich Älter-, Jünger-, Gleichaltsein - sowohl -sein wie -werden -, da auch hierzu Relationalität und Vielheit erforderlich ist, und schließlich auch Benennung, Erklärung, Erkenntnis, Wahrnehmung, Vorstellung, da dies die epistemologische Relation zwischen Subjekt und Objekt verlangt. Da dem reinen, selbstbezüglichen Einen sämtliche Prädikate einschließlich des Seins und letztlich auch des Eines-Seins abzusprechen sind, hebt sich das Eine im Selbstwiderspruch auf: Das Eine ist nicht Eines (wenn Eines ist, ist Eines nicht). Umgekehrt führt die Beziehung des Einen auf das Andere und des Anderen auf das Eine, die ebenfalls in der Hypothese des EinesSeins liegt, zur Prädikation alles dessen, was in der ersten Position abgesprochen wurde. Die Verbindung des Einen mit dem Sein, das stellvertretend für die übrigen Genera steht, bildet ein Ganzes aus Teilen, deren Teile selbst wieder Ganze aus Teilen sind und so in infinitum, so daß mit dieser Verbindung nicht nur eine unendliche Menge von Teilen, sondern die gesamte Zahlenreihe gegeben ist. Mit der Verbindung zur Ganzheit ist ebenso Gestalt mit Anfang, Mitte und Ende gegeben wie Identität und Differenz (Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Gleichheit und Ungleichheit), desgleichen sämtliche zeitlichen und epistemologischen Bestimmungen, letzteres insofern, als das seiende Eine benennbar, erkennbar, vorstellbar usw. ist und die Relation »Eines-Sein« auf die Erkenntnisrelation »Subjekt- Objekt« verweist. Das Eines-Seiende ist Alles-Seiende. Das in der Formel »wenn Eines ist« auftretende Sein wird hier nur explizit gemacht. (10.) Es ist Platons Intention, mit der dialektischen Behandlung der Genera zu zeigen, daß aus reiner Selbstbezüglichkeit unausweichlich Selbstwidersprüchlichkeit und -elimination folgt. Das Eine des historischen Parmenides führt sich selbst ad absurdum. Zwischen Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
den Genera besteht eine totale Verknüpfung dahingehend, daß jede generische Idee zugleich auf alle anderen einschließlich ihres Oppositums verweist und ohne diese nicht gedacht werden kann. Das Eine ist immer auch Vieles bzw. Alles und das Viele immer auch Eines, ohne sich selbst zu verlieren, zeigt doch gerade die Beziehung auf die anderen Genera - die verschiedenen wie gegensätzlichen - die Selbstbewahrung und Selbstidentität eines Genus. Trotz kontradiktorischer Bestimmung hebt sich die betreffende Gattungsidee nicht auf, sondern restituiert sich und so auch das Gesamtsystem, das auf diese Weise den Widerspruch aushält. Der für Dialektik symptomatische Widerspruch spielt hier eine zweifache Rolle, indem er einmal, bei reinem Selbstbezug, zur Selbstaufhebung führt, das andere Mal, bei totalem Fremdbezug, zur Restitution des Genus. Echter Widerspruch liegt nur im ersten Fall vor, in dem die Gleichheit des Subjekts und die Beziehung des Subjekts auf sich gewahrt sind, während im zweiten Fall aufgrund der Unterschiedlichkeit der Hinsichten - der Beziehung auf anderes und der Beziehung auf sich - kein Widerspruch mit der Konsequenz der Selbstaufhebung vorliegt, sondern ein Ganzes, das den Widerspruch inkludiert und von ihm lebt: der lebendige, existierende Widerspruch. Nichts - Alles, Selbstaufhebung - Selbsterhalt des Einen mit Einschluß des Anderen, das sind die alternierenden Resultate dieser Dialektik. (11.) Für die Vermittlung des Resultats der reinen Selbstbezogenheit der generischen Ideen (Nichts) mit dem Resultat ihrer durchgängigen Fremdbezogenheit (Alles) ist die paradigmatische synthetische Position vorgesehen, die sich im Anhang zur zweiten Position findet. Wie aber lassen sich Nichts und Alles durchgängig in der Zeit miteinander verbinden? Nur so, daß das Nichts parallelläuft mit dem All des Seienden in seinen gesamtzeitlichen Verknüpfungen. Die Verknüpfung der zeitlichen Bestimmungen, die insgesamt von der Art von Bewegung und Ruhe sind, d. h. kontinuierlicher und diskreter Bestimmungen, ist in der Zeit selbst nicht möglich. Denn solange etwas in Bewegung ist, ist es nicht in Ruhe, und solange es in Ruhe ist, ist es nicht in Bewegung. Der Übergang kann daher nur außerhalb der Zeit erfolgen, im ort- und stellenlosen E~atcpv1')~ (plötzlich)36, in das hinein und aus dem heraus der Übergang bzw. Umschlag geschieht. Das nicht bestimmbare E~atcpv1')~ fällt hier mit 36
140
Platon a. a. 0., 156 d nennt das el;al
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dem Nichts zusammen, das als Ermöglichungsgrund und Vermittlungsprinzip des temporal Seienden fungiert. (12.) Eine offene Frage bleibt, ob der Geist- voii~ oder öuivma -mit zum System der generischen Bestimmungen gehört und dessen Explikation mitvollzieht, und zwar notwendig, oder außerhalb desselben zu lokalisieren ist als Vermögen, das die potentielle, unexplizierte Seinsdialektik aufgrund seiner Erkenntniskraft zu erschließen vermag. Im ersten Fall teilt er den Charakter der anderen generischen Ideen, zugleich Teil und Ganzes zu sein, im zweiten ist er ein Vermögen, das die gesamte dialektische Seinsstruktur zwar zu begreifen vermag, ihr gegenüber aber frei ist, was Vollzug oder Nichtvollzug betrifft. Der Parmenides weist in die erste Richtung, da die Erkenntnisrelation zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Erkenntnisleistung und Seiendem interner Bestandteil des Systems ist, während der Timaios mit seinem Konstruktionsgedanken und der Konzeption der Weltseele als 'tO:rtO~ dö&v oder yev&v sowie deren Nachvollzug im menschlichen Geist in die zweite Richtung deutet. Während im Parmenides der Geist als zugehörig zum bestehenden Strukturgeflecht dem dialektischen Explikationsprozeß unterliegt, scheint ihm in anderen Dialogen die Explikation oder Nichtexplikation des Geflechts offenzustehen. Die Durchführung der Dialektik ist dann in seine freie Entscheidung gestellt. Während das im zweiten Kapitel beschriebene Rationalitätsverfahren: die begriffliche Dihairesis und die mathematische Konstruktion als wissenschaftskonstitutiv gelten, kann dies von der Dialektik nicht behauptet werden. Die Dialektik steht vielmehr im Ruf, wissenschaftsfeindlich zu sein, nicht nur wegen ihrer Hermetik und Kompliziertheit 37, sondern mehr noch wegen ihrer Widersprüchlichkeit und der ausdrücklichen Akzeptanz dieser. Seit Aristoteles wird das Wissenschaftsideal an der axiomatischen, Widersprüche vermeidenden Logik orientiert. Eine so verstandene Wissenschaft sucht die schwankende, unstete, durch Bewegung, Veränderung, Entstehen und Vergehen charakterisierte Sinnlichkeit durch Beziehung auf vermeintlich eindeutige, invariante Begriffe, ideale Formen und Gesetze des Denkens zu fixieren und damit der Bewegung und Veränderung zu entreißen, ein Unterfangen, das zwar, wie Platon zeigt, unvermeidlich ist zur Präzision und Exaktheit, aber der Selbsttäuschung unterliegt. 37
Vgl. S. 120 dieser Arbeit.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Für Platon hingegen ist die Dialektik die eigentliche Wissenschaft, die die Widersprüche nicht meidet, sondern integriert, indem sie alles mit allem, auch Entgegengesetztem, verbindet. Allein die vollständige Durchführung des von ihm aufgestellten Dialektikprogramms würde die Erfassung der Wahrheit garantieren, was allerdings eine unendliche und kaum einzulösende Aufgabe ist, da hierzu die Totalität des Seins dialektisch erfaßt werden müßte. Zu diesem Zweck müßte nicht nur von einem jeden der einleitend im Parmenides genannten und in der Durchführung schematisch aufgeführten Genera ausgegangen werden, sowohl in positiver wie negativer Setzung, sondern auch zu einem jeden anderen zum System gehörigen übergegangen und ihre Beziehungen durchgespielt werden. Geht man nur einmal von 24 namhaft gemachten Genera aus, so ergibt 24 x 2 x 24 allein schon 752 Argumentationsgänge von der Größe des Parmenides. Dem Reduktions- und Simplifikationsbedürfnis der Wissenschaft, das auf praktische Handhabung eines Schemas zwecks Orientierung aus ist, läuft dies zuwider, da hier das genaue Gegenteil intendiert wird, nämlich Vollständigkeit. Außerdem wird die Dialektik im Allgemeinverständnis wegen ihrer Nähe zur Sophistik, welche nach Platons Urteil eine Scheinkunst ist, da sie Schein statt Wahrheit erzeugt und Widersprüche um ihrer selbst willen aufstellt ohne Berücksichtigung der jeweiligen Hinsicht und der übrigen Konditionen, als »Geschwätz« 38 gebrandmarkt und für unnütz erachtet. Richtig verstanden aber macht die Erkenntnis von Widersprüchen, die von jedem Genus einzeln und von allen insgesamt ausgesagt werden können, in moralischer Hinsicht toleranter und milder. Insofern hat sie auch eine pädagogische Aufgabe. Sie entfernt von Dogmatismus, Borniertheit und Verstocktheit und macht empfänglich für die Fülle der Wirklichkeit.
38
142
Vgl. Platon: Parmenides 135 d.
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4. Hegels Dialektiktypus
a) Analyse des Modells Wenn Hegel Platon als Erfinder der antiken Dialektik rühmt3 9, wenn er den Parmenides »das berühmteste Meisterstück der Platonischen Dialektik« nennt 40 , so ist dastrotzaller Vorbehalte und Einwände, die Hegel gegenüber Platons Dialektikkonzeption vom Standpunkt seiner eigenen anführt, ernst gemeint. Wiewohl die Differenzen beträchtlich sind und Hegel vom Bewußtsein des Fortschritts und der Vollendung der dialektischen Methode gegenüber Platon getragen war, wäre seine Dialektik ohne das Paradigma der Platonischen und ohne die Übernahme wesentlicher Elemente derselben nicht verständlich. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie kristallisiert er zwei Formen Platonischer Dialektik heraus, jene, die er für uneigentlich erachtet, weil sie zwischen Sinnen- und Ideenwelt (Sinnlichkeit und Begrifflichkeit) spielt und die Widersprüche der Sinnlichkeit, nämlich die gleichzeitige Geltung von Gegensätzen in Bewegung und Veränderung, durch Bezug auf die konstante Ideen(Begriffs-)sphäre auflöst, und jene, die der reinen Ideen-(Begriffs-)sphäre angehört und die Widersprüche und deren Aufhebung in die Selbstbezüglichkeit der universellen Ideen (Begriffe) verlagert. Während Hegel die erste Form als Kandidaten für eigentliche Dialektik ablehnt wegen der Konfundierung von begrifflich Allgemeinem und sinnlichen Einzelvorstellungen, genauer wegen des Impliziertseins des Allgemeinen im sinnlich Einzelnen, akzeptiert er prinzipiell die zweite Form: die reine Begriffs- und Gedankendialektik, modifiziert sie aber gegenüber Platon, wobei er Errungenschaften aus der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie, insbesondere aus Kants und Fichtes Methodologien; einbaut. Der wichtigste Unterschied neuzeitlicher Dialektik inklusive der Hegeischen gegenüber der antiken besteht darin, daß sie nicht als Seinsdialektik mit Einschluß der geistigen Aktivitäten, sondern umgekehrt als Reflexionsdialektik mit Einschluß der Ideen in den sich selbst reflektierenden Geist (Logos) auftritt und als Prozeß des zu Vgl. G. W. F. Hege!: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Werke, Bd. 8, 5. 174. 40 G. W. F. Hege!: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, Bd. 19, 5. 79.
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sich kommenden, sich explizierenden Wissens stattfindet. Der dialektische Prozeß der Kategorienexplikation spielt sich bei Hegel im Logos ab als dessen Selbstexplikation. Während bei Platon der Logos wie im Parmenides ein Moment unter anderen, und zwar ein epistemisches in der O'U~-t:rtAO%~ 'tWV yEvwv ist oder wie im Timaios äußerlich dem Ideengeflecht gegenübersteht, wird er bei Hegel zum Ort des dialektischen Geschehens. Ist die an sich bestehende O'U!-1-:rtAO'X.ij bei Platon im letzteren Fall nur eine potentielle Seinsdialektik, die seitens des Logos aktualisiert werden kann, aber nicht muß, so handelt es sich bei Hegel um einen notwendigen Prozeß des aktiven Geistes. Denn wird das absolute Ganze mit der selbstreferentiellen Vernunft identifiziert, deren Eigenart Selbsttätigkeit bzw. Selbstbewegung ist, so wird der dialektische Vollzug unausweichlich. Es ist genau dieser Punkt, den Status des dialektischen Prozesses betreffend, d. h. die Identifikation des Wesens der Dinge mit der Vernunft bzw. mit dem absoluten Geist, den Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von Platon einfordert, wenn er moniert, Platon habe zwar die Einsicht in diesen Sachverhalt besessen, sie aber nicht expressis verbis artikuliert. 41 In der Einleitung zur Wissenschaft der Logik heißt es denn auch, die Logik sei »die Darstellung Gottes [... ], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist« 42 , die Darstellung Gottes in seiner Bewegung, was nicht als äußerliche Darstellung Gottes durch uns, den endlichen Geist, sondern als Selbstdarstellung Gottes zu verstehen ist, die der endliche Geist anschauend mitvollzieht. Ein weiterer damit zusammenhängender gravierender Unterschied zu Platons Dialektik besteht in dem Anspruch Hegels, das Ganze des gedanklich Seienden nicht von einem äußeren Standpunkt in äußerer Reflexion zu erfassen, wodurch aufgrund der Freiheit gegenüber dem Ganzen der Anfang beliebig setzbar und die Übergänge beliebig alternierbar werden, sondern von einem inneren Standpunkt in innerer Reflexion, bei der der Standpunkt in den Prozeß integriert ist. Das hat zur Folge, daß sich der Prozeß in einem einzigen, einsinnigen Durchgang abspielt, der einen wohldefinierten Ausgang und ein wohldefiniertes Ende hat und einen stringenten Verlauf mit festgelegten Übergängen aufweist. Der Prozeß ist damit der Beliebigkeit 41 42
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Vgl. a. a. 0., S. 83. Vgl. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, in: Werke, Bd. 5, S. 44.
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entzogen. Während bei Platon das Erste im Gange des Denkens und die Übergänge zu den anderen Genera willkürlich sind, ebenso der Wechsel der Perspektiven »für sich« und »für anderes«, supponiert Hegel einen absolut notwendigen Gang, der mit einem absoluten Anfang beginnt und in der Erschöpfung des Ganzen sein absolutes Ende findet und in seinen Schritten absolut festgelegt ist. Seine These ist, daß das ontologisch Erste auch methodisch das Erste im Gange des Denkens sein müsse 43 , und da das Denken als epistemologische Relation auf Sein bezogen ist, bedeutet dies den Ausgang vom Sein in der Selbstreflexion des Denkens. Platons hin- und herschwankende, das Ganze des Ideengeflechts auswebende Dialektik ist für ihn ein »subjektives Schaukelsystem von hin- und herübergehendem Räsonnement«44, dem die Strenge des Explikationsprozesses fehlt. Dieser Sachverhalt zieht weitreichende Konsequenzen nach sich. Obzwar Hegel von Platon die beiden Betrachtungsweisen 31{>0~ aut6 und 3tQÜ~ öJ.. A.o, Selbstbeziehung (Beziehung auf sich) und Fremdbeziehung (Beziehung auf anderes), übernimmt, die bei ihm unter dem Namen »Reflexion-in-sich« und »Reflexion-in-anderes« auftreten, verbindet er sie gegenüber jenem zu einem einzigen System. Während Platon, ausgehend von irgendeinem Genus, dieses sowohl in Beziehung auf sich wie in Beziehung auf anderes betrachtet, dann zum Gegensätzlichen übergeht, um dieses in derselben Weise zu behandeln, ohne jedoch den Kreis explizit zu schließen, hierzu vielmehr ein vermittelndes Drittes, die äußerlich hinzutretende Synthesis, benötigt, vollzieht Hegel genau diesen Schritt und konstituiert damit ein selbstreferentielles triadisches System, bestehend aus reiner Selbstbeziehung, Beziehung auf anderes und der aus der Beziehung auf anderes erwachsenden, sich wiederherstellenden Selbstbeziehung, also der Selbstbeziehung auf der Basis von Fremdbeziehung und mit Integration derselben. 45 Bestehen mehr als zwei Momente, die durch diese Struktur eingefangen werden sollen- undangesichtseiner Totalität von Bestimmungen versteht sich dies von selbst -, dann iteriert sich der Kreis solange, bis die Totalität ausgeschöpft ist, und zwar in der Weise, daß in jedem neuen Anfang der bisher durchlaufene Kreis impliziert ist 43 44
Vgl. a.a.O., S. 66. G. W. F. Hege!: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in:
Werke, Bd. 8, S. 172. Eine andere Explikationsweise dieses Prozesses erfolgt unter den Termini »Unmittelbarkeit«, >>Vermittlung« und >>vermittelte Unmittelbarkeit<< oder >>totale Vermittlung«.
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und im folgenden Durchgang weiterbestimmt wird, so daß sich ein Fortgang von einfachen zu immer komlexeren und kompakteren Kreisen ergibt, in die der Fortschritt von einfachen zu immer reicheren Bestimmungen eingeschlossen ist. Hegel spricht daher nicht einfach von einem Kreis, sondern von einem »Kreis von Kreisen« 46 • Genauer noch wäre das Verfahren mit dem Bild einer sich ständig erweiternden Spirale wiedergegeben. Diese Gedankenfigur resultiert aus der doppelten Forderung, einerseits eine auf Fremdreferenz basierende Selbstreferenz, also einen selbstbezüglichen Prozeß, zu konstruieren und andererseits einen einzigen einsinnigen, die Totalität begrifflicher Bestimmungen in geregelter Folge erfassenden Prozeß anzusetzen. In dieser Forderung verbinden sich die Postulate der Reversibilität und Irreversibilität. Während normalerweise zwischen Form und Inhalt differenziert wird und die Methode in einem bestimmten konstanten Schema besteht, das auf beliebige Inhalte applizierbar und insofern Unendlichfach iterierbar ist, wird im vorliegenden Prozeß aufgrunddes Zusammenfalls von Methode und Inhalt die Methode durch den je besonderen Inhalt spezifiziert, so daß jeder der Kreise seine je eigene Färbung und Modifikation aufweist. Einerseits zwar existiert eine einzige, durchgehend gleichartige Methode in der selbstreferentiellen Dialektikstruktur, andererseits jedoch wird diese ständig modifiziert durch die Abfolge der Bestimmungen, so daß kein Kreis dem anderen völlig gleicht. Hegels Dialektikkonzeption stellt demnach kein einheitliches Programm dar, sondern eine Sequenz unterschiedlicher, intern abgewandelter Dialektiktypen. Die Konzeption zeigt eine gewisse Analogie zum Aufbau des natürlichen Zahlensystems. Denn in diesem kehrt die selbstreferentielle Struktur der synthetischen Einheit einer Vielheit in jeder Zahl wieder, wird aber gleichzeitig sukzessiv modifiziert durch die je verschiedene Anzahl. Allerdings schließt sich die unendliche Zahlenreihe nicht zum Kreis, wie Hegel dies für sein System beansprucht. Versucht man, die einzelnen selbstreferentiellen Triaden hinsichtlich ihrer allgemeinen Struktur zu beschreiben, so bestehen sie erstens aus einer These oder Setzung, in der ein bestimmter Universalbegriff in seiner reinen Selbstbeziehung angesetzt wird, zweitens aus der Antithese oder Entgegensetzung, in der das zu ihm Gegensätzliche auftritt, und zwar als seine Beziehung zum Anderen, wobei G. W. F. Hege!: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Werke, Bd. 8, S. 60.
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diese Beziehung freilich wegen der Selbstreferenz Selbstentgegensetzung bleibt, und drittens aus einer Synthese, die die selbstbezügliche These und die fremdbezügliche Antithese verbindet in einer Selbstbeziehung auf der Basis von Fremdbeziehung. Da die Synthese eine Doppelstruktur aufweist, indem sie retrospektiv These wie Antithese und damit die Gesamtheit der Momente impliziert und prospektiv eine neue, aus der Verbindung resultierende Bestimmung aufweist, die als neues thetisches Moment auftritt, vollendet sie einerseits den Kreis und legt andererseits, indem sie an den Anfang anknüpft, mit der These den Grundstein für einen neuen Dreischritt. Aufgrund der Tatsache, daß der dritte Schritt Synthese wie These ist, die beide im Verhältnis der Andersheit (Antithese, Entgegensetzung) stehen, sind im dritten Glied alle Momente der Triade vereint. Dasselbe gilt auch für das erste Glied, die These. Insofern sie vom Hintergrund der Synthese lebt, enthält auch sie die Synthese und mit deren Verhältnis zu sich zugleich das antithetische Moment. Und schließlich läßt sich auch für das zweite Glied, die Antithese, das Involviertsein aller anderen Momente nachweisen. Denn indem sie selbst, obwohl als Entgegensetzung auftretend, eine Setzung, These, ist, enthält sie mit These und Antithese die Gesamtheit der Momente, die Synthese. Jeder der die Trias konstituierenden Schritte impliziert alle anderen und damit das Ganze, was sich auch so ausdrücken läßt, daß in jedem Moment der Totalität die Totalität enthalten ist oder daß jedes Relat der Relation die ganze Relation umfaßt. 47 Eine Differenz der Glieder angesichts dieser Gleichstrukturiertheitergibt sich aus dem einsinnig gerichteten Verlauf, in dem jedes der Momente eine spezifische Aufgabe und Funktion in der Thematisierung oder, hegelisch, in der Setzung des erst in seiner Gesamtheit vollendeten Ganzen wahrnimmt. Obwohl jedes der drei Glieder auch die anderen impliziert, thematisiert es nur sich selbst als ganz spezifisches Glied, während es die anderen unthematisch mit sich trägt. Damit erweist sich der Kreisgang als ein teleologischer Prozeß: Er strebt auf ein Ziel zu, das erst am Ende bei vollständiger Explikation erreicht ist, wenngleich es bereits am Anfang latent existiert und Vgl. hierzu auch K. Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit. Eine Strukturanalyse des >>und<<. Systematische Untersuchungen zum Einheits- und Mannigfaltigkeitsbegriff bei Platon, Fichte, Hege! sowie in der Moderne, Berlin, New York 1981, S. 190ff.
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während des gesamten Prozesses wirksam ist. Hegel drückt dies durch die Begriffe des »an sich« und »an und für sich« aus. Da dieser Fortschritt in der synthetischen Bestimmung zugleich ein Rückgang in den von Beginn an leitenden Grund ist, verbinden sich hier synthetisches und analytisches Verfahren: synthetisch progressive Bestimmung und analytisch regressive Explikation. Dieser Prozeß kann auch als Selbstaufklärung von Voraussetzungen gelesen werden; denn da die sukzessiv synthetisch fortschreitende Reihe der Bestimmungen an sich nur den Status unreflektierter Setzungen, nämlich Behauptungen bzw. Präsuppositionen hat, ist mit deren gleichzeitiger rückläufiger Einbettung in das Ganze eine Selbstaufklärung verbunden. Die dialektische Trias gestattet eine zweifache Betrachtungsweise, eine externe und eine interne, von denen sich nur die letztere als wirklich adäquat erweist. Von einem äußeren Standpunkt aus läßt sich die Trias als eine Einheit beschreiben, die in sich gespalten ist in Gegensätze und sichtrotz derselben und über dieselben als »gefüllte« Einheit erhält nach dem bekannten Muster des EV ÖtacpEQOV Ev EUU1:1{>. 48 Hier legt sich die Meinung nahe, als enthalte die Synthese gleichberechtigt und austauschbar These wie Antithese, als sei die These das relativ Andere zur Antithese wie die Antithese das relativ Andere zur These. Die interne Betrachtungsweise, die nicht von einem fixen äußeren Standpunkt ausgeht, sondern die Bewegung des zielgerichteten dialektischen Prozesses mitvollzieht, belehrt jedoch darüber, daß jedes nachfolgende Glied das vorhergehende irreversibel verdrängt, indem es als sein Nachfolger an seine Stelle tritt. Da es sich um eine Selbstverdrängung handelt, nimmt es das vorhergehende Moment in sich auf und trägt es weiter. So ist die Antithese eine selbständige Setzung (These), die den Gegensatz zum ersten Moment (Fremdbeziehung) zum Inhalt hat und darin die erste Setzung (These) in ihrer Selbstbeziehung als negiertes Relat impliziert. Die Synthese ihrerseits, die zum Inhalt den totalen Fremdbezug hat, welcher nichts außer sich läßt, zu dem noch eine Beziehung hergestellt werden könnte, vielmehr alles integriert und so das Ganze ausmacht, versteht sich als 48 Man hat diesbezüglich auch von einer organischen Einheit gesprochen und darauf die These gegründet, daß Hegels dialektische Methode am organischen Prozeß orientiert sei, allerdings mit dem Unterschied, daß in diesem die Zeitkomponente eine Rolle spielt, bei Hege! nicht.
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Resultat dieses Fremdbezugs. Die Abhebung des Selbstbezugs qua Selbstbezugs vom Fremdbezug als seiner Basis ergibt die These usw. Gemäß dieser Betrachtungsweise kann nur von einer Weiterbestimmung mit Aufhebung des vorangegangenen Moments gesprochen werden, was im Hegeischen Sinne ein ambivalenter Vorgang ist und sowohl Suspendierung, Elimination, Verabschiedung wie auch Hinaufheben auf eine neue Stufe meint. Um diesen Vorgang der Selbstbestimmung logisch adäquat auszudrücken, führt Hegel die Operationsterme von Position, Negation und Negation der Negation ein, wobei die letztere identisch ist mit Position. Hierbei übernimmt er aus der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie Handlungsweisen des Subjekts (der Vernunft, des Logos), die bereits von Fichte erarbeitet wurden. Dabei fungiert die Negation, die Hegel auch »die ungeheure Macht des Negativen« 49 nennt, als das eigentliche Movens des dialektischen Prozesses. Während die einfache Negation, die als bestimmte stets Negation von etwas ist, sich auf die Position bezieht und diese negierend weiterführt, bezieht sich die Negation der Negation auf die einfache Negation, die ihrerseits die Position impliziert. Sie ist Aufhebung der Negation der Position und damit Wiederherstellung der Position. Diese negationstheoretischen Operationen orientieren sich an der lateinischen und neuhochdeutschen Grammatik, in denen doppelte Negation gleichbedeutend mit Position ist, während im Griechischen wie auch im Alt- und Mittelhochdeutschen sowie in der neuhochdeutschen Literatur doppelte Verneinung rhetorisch zur Verstärkung der Negation wird. 5° Daß doppelte Negation 49
Vgl. G. W. F. Hege!: Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, S. 36.
° Für das Griechische gilt folgende Regelung: Doppelte Negation führt zur Aufhebung,
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wenn die einfachen Verneinungspartikeln ou und ftiJ auf einen zusammengesetzten Ausdruck folgen oder wenn ou auf ft'l\ oder ftiJ auf ou folgt. In allen anderen Kombinationsfällen bedeutet die Verdoppelung der Verneinung eine Verstärkung der einfachen Negation. Vgl. H. Menge: Repetitorium der griechischen Syntax, 6. Auf!. Wolfenbüttel 1909, S. 127 (Nr. 191). Z. B. oüx etvm cpT]OLv oüMv ([APliTOTEAOk] IIEPI fOPriOY, cap. 5, 979 all, in: Aristotelis qui fertur de Melisso Xenophane Gorgia libellus, ed. H. Diels [Philosophische und historische Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin], Berlin 1900, S. 30); Öl]A.ot ftEV öi] xal oüto<; 6 Myo<;, ÖtL EtETjL ouötv LOftEV 1tEQL oüöev6<; (»Auch diese Darlegung macht ja klar, daß wir in Wirklichkeit von nichts irgend etwas wissen«): Demokrit aus Sextus Empiricus VII, 137 (W. Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, a. a. 0., Bd. 2, S. 138 f., frag. 7). Eine reiche Zusammenstellung gehäufter Verneinungen aus der deutschen Literatur im Sinne der Bekräftigung der einfachen Negation findet sich bei R. Hildebrand: Gehäufte Vernunft und das Andere der Vernunft
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zur Position zurückführt, hat seinen Grund im ontologischen Ansatz eines geschlossenen, selbstreferentiellen Systems, demzufolge die doppelte Negation nicht einfach eine fremde Negation negiert, was nur verstärkend wirken könnte, sondern sich selbst, d. h. sich als Negation aufhebt. Nach diesen Analysen kann nun auch die strittige Frage entschieden werden, ob das Hegeische Dialektikkonzept mit Gegensätzen oder mit Widersprüchen arbeite, wobei genauer besehen drei Termini zur Disposition stehen: erstens Verschiedenheit als schwächste Variante, die aus der bloßen Negation der Position resultiert und die Fixierung des Anderen offenläßt, mag es sich um ein geschlossenes oder um ein offenes System handeln, zweitens Gegensatz, der im Falle eines geschlossenen, dichotomisch strukturierten Systems eintritt, in welchem die Negation mit der Position des kontradiktorischen Gegenteils zusammenfällt, und drittens Widerspruch, der bei Ausfüllung der Gesamtsphäre durch die Position und deren Selbstaufhebung vorliegt. Hege! gebraucht alle drei Termini. 51 Während Verschiedenheit und Gegensatz der äußeren Perspektive angehören und sich nur hinsichtlich ihrer Radikalität unterscheiden, gehört der Widerspruch in den Kontext der inneren Bewegung, bei der jedes Glied irreversibel an die Stelle des anderen tritt, zunächst die Position die gesamte Sphäre erfüllt, dann die Negation der Position als Aufhebung derselben, d. h. als Widerspruch, schließlich die Negation der Negation, die als Aufhebung des Widerspruchs die Wiedereinsetzung der Position mit sich bringt. Selbstsetzung, Selbstnegation bzw. Selbstwiderspruch, Selbstaufhebung des Widerspruchs und Selbstinstantiierung sind die Operationsweisen der internen Dialektik des Einen-Ganzen. Das Schwanken zwischen Gegensatz und Widerspruch ist unvermeidlich, sofern das aus der externen Perspektive besehene System von Gegensätzen intern nur in Form einer Selbstbewegung des Ganzen über Selbstsetzung, Selbstwiderspruch und Selbstaufhebung des Widerspruchs eingeholt werden kann. Hegel selbst beschreibt den Mechanismus seiner Dialektik vorzüglich unter Verwendungdreier Termini: erstens des Abstrakten Vemeinungen, in: Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur deutschen Philologie und zum deutschen Unterricht, Leipzig 1890, S. 214-224. 51 V gl. G. W. F. Hege!: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Werke, Bd. 8, S. 169ff. (§80 Verschiedenheit), (§81 Gegensatz), (§81 Widerspruch).
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oder Verständigen, zweitens des Dialektischen oder Negativ-Vernünftigen und drittens des Spekulativen oder Positiv-Vernünftigen 52, die zusammen erst die Grundstruktur ergeben und daher in isolierter Betrachtung unzulänglich und irritierend sind. Das verständige Moment betrifft die Begriffsbildung. Hier geht es zum einen um das Verhältnis der Begriffssphäre zur Sinnlichkeit, sofern die allgemeinen und abstrakten Begriffe aus dem sinnlichen Material über die logischen Operationen der Komparation, Reflexion und Abstraktion gewonnen werden. Zum anderen geht es um das Verhältnis der Begriffe untereinander, das entweder in der Subordination zur Begriffspyramide oder in der Koordination gleichoriginärer und gleichuniverseller Begriffe besteht. Gleichrangige Begriffe stehen grundsätzlich im Verhältnis des wechselseitigen Ausschlusses. Mit ihrer Festlegung auf etwas Bestimmtes schließen sie das Andere aus. Für sich genommen weist das Verständige zwei Defizite auf: erstens begriffliche Abstraktion gegenüber der sinnlichen Konkretheit und zweitens Erstarrung der Begriffe, die sich in deren Isolation bekundet. Mit dem dialektischen Moment kommt Bewegung in die erstarrte Begriffswelt. Es ist dasjennige, was die Begriffe verflüssigt 53 , indem es sie ineinander übergehen und umschlagen läßt. Dialektik, beruhend auf Selbstnegation, bedeutet Aufhebung der Fixierung und Isolierung, worauf sich die Möglichkeit des Zusammenhangs gründet. Auf diese Weise erzeugt die Dialektik die Dynamik der Begrifflichkeit. Solange jedoch das dialektische Moment aus dem Kontext des systematischen Ganzen herausgelöst bleibt und für sich betrachtet wird, erweist es sich als rein negativ, als bloße Herstellung von Widersprüchen. Das Festhalten am Negativen, die Erzeugung von Widersprüchen um der Widersprüche willen, führt philosophisch zum Skeptizismus und erklärt nicht zuletzt das negative Image der Dialektik als Scheinwissenschaft, wie Kant sie verstand. Erst die Integration des dialektischen Moments in das Ganze, die verbunden ist mit der Aufhebung der Widersprüche in der positiven Einheit des Begriffs, führt zum Positiv-Vernünftigen oder Spekulativen. Mit diesem Moment ist die Aufhebung der Widersprüchlichkeit angesichts des Ganzen gemeint. »Spekulativ«, »Spekulation«, was sich von lateinisch speculari ableitet, meint das Anschauen bzw. Be51 53
A. a. 0., S. 168 ff. (§§ 79 ff.). Vgl. G. W. F. Hege!: Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, S. 12f., 39 f., 59 f.
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trachten des Ganzen, dessen begriffliche Bewältigung allerdings nur über den Diskurs vermittels der negativen Dialektik möglich ist. Es ist leicht einzusehen, daß mit dieser relativ dürftigen Methodenbeschreibung keineswegs die komplexe Fülle des Hegeischen Dialektiktypus eingefangen ist. Zwar gilt Hegel als Meister der Dialektik, der diese virtuos zu handhaben vermochte, aber er gilt nicht ebenso auch als guter Analytiker und Explikator seiner eigenen Methode. Zum einen finden sich in seinem Werk nur spärliche Angaben zum dialektischen Verfahren, zum anderen sind diese allzu schematisch und simplifizierend, als daß sie hinreichenden Aufschluß gewährten. Mit ihnen soll nur summarisch wie am Ende der Logik durch Heraushebung einzelner Dialektikformen aus der Gesamtsequenz an einzelne Stationen erinnert werden, während die Dialektik in ihrer vollen Gestalt nur durch die Nachzeichnung der gesamten Wissenschaft der Logik vorgeführt werden könnte. Bedeutend sind die vorliegenden Explikationen insofern, als sie eine Beurteilung des Verhältnisses von dialektisch-spekulativer und axiomatischer Logik vorzunehmen erlauben. Beide Logiken stehen nicht in einem .Exklusions-, sondern in einem Inklusionsverhältnis derart, daß die dialektisch-spekulative Logik die Basis für die axiomatische Logik bildet. Da das Moment des Verständigen, auf dem die Begriffsbildung und Systematik der axiomatischen Logik einschließlich der Urteils- und Schlußtheorie beruht, ein integratives Moment der spekulativen Logik bildet, ist damit der Ort benannt, an dem die Einordnung der Verstandeslogik in die Vernunftlogik stattfindet. Wie die axiomatische Logik neben der Begriffstheorie die Theorien von Satz und Schluß umfaßt, letztere insofern, als deren Konstruktionen nur vor dem Hintergrund der dihairetischen Begriffspyramide möglich sind, so enthält auch die Hegeische Logik die entsprechenden Theorien, jedoch mit dem Unterschied, daß nicht mehr der normale Satz und Schluß zur Disposition stehen, sondern der spekulative, wie Hegel sie in der Phänomenologie des Geistes und in der Wissenschaft der Logik beschreibt. Während im normalen Satz, bestehend aus Subjekt und Prädikat, die Sphäre des Subjektbegriffs ganz oder teilweise in die Sphäre des Prädikatbegriffs fällt oder dieser subsumiert ist, sind im spekulativen Satz Subjekt und Prädikat austauschbar: Das Subjekt kann gleicherweise als Prädikat fungieren wie das Prädikat als Subjekt. Demonstriert am Beispiel »Gott ist das Sein« oder »die Wirklichkeit ist das Allgemeine«, bezeichnet das Prädikat nicht ein mehr oder weni152
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ger kontingentes Merkmal in dem Sinne: »Gott ist seiend«, »das Wirkliche ist allgemein«, sondern das zum Wesen selbst erhobene Prinzip, so daß das Subjekt im Prädikat auf- und untergeht und umgekehrt. 54 Der spekulative Satz drückt nicht das Verhältnis fixer, statischer Begriffe zueinander aus, sondern die Bewegung des Übergeheus bzw. Umschiagens ineinander. In der Wissenschaft der Logik hat Hegel dies detailliert beschrieben: »Das Subjekt ist das Prädikat, ist zunächst das, was das Urteil aussagt; aber da das Prädikat nicht das sein soll, was das Subjekt ist, so ist ein Widerspruch vorhanden, der sich auflösen, in ein Resultat übergehen muß. Vielmehr aber, da an und für sich Subjekt und Prädikat die Totalität des Begriffes sind und das Urteil die Realität des Begriffes ist, so ist seine Fortbewegung nur Entwicklung; es ist in ihm dasjenige schon vorhanden, was in ihm hervortritt, und die Demonstration ist insofern nur eine Monstration, eine Reflexion als Setzen desjenigen, was in den Extremen des Urteils schon vorhanden ist; aber auch dies Setzen ist schon vorhanden; es ist die Beziehung der Extreme.« 55
Obwohl Subjekt- und Prädikatbegriff aufgrundihres Übergehens ineinander an sich schon die Totalität des einen ganzen Begriffs sind, ist dieser selbst noch nicht thematisch oder, hegelisch gesprochen, gesetzt. Thematisch oder gesetzt ist bislang erst der Widerspruch zwischen Subjekt und Prädikat qua Unterschiedener einerseits und Subjekt und Prädikat qua Identischer andererseits. Die Widersprüchlichkeit ist in diesem Stadium der Argumentation noch unaufgehoben. Von hier erhält der spekulative Schluß seine Aufgabe. Er bedeutet nicht wie in der »normalen« formalen Logik ein Subsumptionsverhältnis zwischen zwei Prämissen, das in der conclusio expliziert wird, sondern im Anschluß an die Etymologie des Wortes »schließen« den Zusammenschlußzweier Sätze zur totalen Einheit. Während die beiden zusammenzuschließenden Einzelurteile zwar schon an sich die Totalität sind, aber nur erst Momente an ihr thematisieren, vollendet der Schluß die Thematisierung in der vollständigen Setzung des Begriffs. Hegel drückt dies so aus: >>Das Urteil enthält wohl die Einheit des in seine selbständigen Momente verlorenen Begriffes, aber sie ist nicht gesetzt. Sie wird dies durch die dialektische Bewegung des Urteils, das hierdurch der Schluß geworden ist, zum vollständig gesetzten Begriff, indem im Schluß ebensowohl die Momente
54 55
Vgl. G. W. F. Hege!: Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, S. 59f. G. W. F. Hege!: Wissenschaft der Logik, in: Werke, Bd. 6, S. 310.
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desselben als selbständige Extreme wie auch deren vermittelnde Einheit gesetzt ist.« 56
Versucht man die Grundzüge des Hegeischen Dialektiktypus herauszustellen und zu markieren, worin er sich von anderen unterscheidet, so gelangt man zu folgenden Merkmalen: (1.) Hegels Intention geht dahin, das Absolute in Form eines einzigen einsinnigen, stringenten Kreislaufs zu erfassen, was sich im Bild eines Großkreises ausdrücken läßt. (2.) Mit der Gedankenfigur »Selbstbeziehung- Beziehung auf anderes - Selbstbeziehung auf der Basis von Fremdbeziehung« gewinnt Hegel ein Operationsschema, das einen kleinen Kreis beschreibt. (3.) Die Vermittlung zwischen Klein- und Großkreis erfolgt durch die Iteration des elementaren Kreises, der auf diese Weise durch den auszuschöpfenden Inhalt der Totalität ständig modifiziert und spezifiziert wird. Jeder folgende Kreis trägt und bestimmt den vorhergehenden weiter, so daß das Ganze einer sich erweiternden Spirale gleicht. (4.) Ein weiteres Spezifikum ist die Verlagerung der Dialektik aus dem ontologischen Bereich, in dem sie in der Antike lokalisiert war und in dem die Vernunft allenfalls ein Moment unter anderen ausmachte, in die Vernunft selbst, womit die Bestimmungen und Verhältnisse zwischen den Bestimmungen wie Position, Negation, Abgrenzung, Unterscheidung, Gegensatz, Widerspruch und anderes mehr zu Handlungen des Subjekts werden. Trotz gegenteiligen Anscheins handelt es sich nicht einfach um eine Verlagerung der Dialektik aus dem objektiven in den subjektiven Bereich, sondern um eine Subjekt-Objekt-Einheit, von der Hegel beansprucht, dieselbe als absolute Identität darzustellen und nicht nur wie Fichte als »subjektives Subjekt-Objekt« 57 • b) Schwierigkeiten
Trotz allen Fortschritts über die antike Dialektik hinaus ist Hegels Konzeption nicht frei von Schwierigkeiten. Als gravierendste Defizite sind folgende zu nennen: A. a. 0., S. 272. G. W. F. Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke, Bd. 2, S. 50. Zur Kontroverse vgl. S. 158ff. dieser Arbeit.
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(1.) Zum einen krankt der Aufbau des Systems im ganzen wie im Detail an einer unaufhebbaren Diskrepanz, die aus der Verwendung zweier inkompatibler Strukturen resultiert, einerseits des auf Abschluß und Vollendung, auf vollständige Ausschöpfung des Ganzen drängenden absoluten Kreisgangs, der ein geschlossenes System voraussetzt, andererseits der potentiell unendlichfachen Iteration des Elementarkreises, die sich aus der inhaltlichen Totalität ergibt. Geschlossenheit und Offenheit, Begrenztheit und Unbegrenztheit sind unvereinbar. Das Problern wird deutlich beim Blick auf den Aufbau der natürlichen Zahlenreihe, welche ebenfalls mit der selbstreferentiellen Synthese und der Iteration operiert. Während sich die selbstreferentielle Struktur der Synthese in jeder Zahl identisch wiederholt, bringt die unbegrenzte Menge der Elemente immer neue Zahlen hervor, deren Abschluß per definitionern ausgeschlossen ist. Das Abschlußproblern stellt sich bei Hegel auf verschiedenen Ebenen, sowohl bezüglich der Teilsysteme wie bezüglich des Gesamtsystems: Nach der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse soll sich das Gesamtsystem aus drei Großkreisen zusammensetzen: der Logik, der Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes, wobei jeder dieser Großkreise seinerseits wieder aus drei größeren Kreisen besteht, z. B. die Logik aus Seins-, Wesens- und Begriffslogik, diese ihrerseits wieder aus drei Kreisen, z. B. die Seinslogik aus dem Kreis der Qualität, der Quantität und des Maßes, und jeder dieser wieder aus drei kleineren Kreisen, z. B. der Qualitätskreis aus dem des Seins, des Daseins und des Für-sich-Seins, und jeder dieser wieder aus drei Bestimmungen, z. B. der Seinskreis aus Sein, Nichts und Werden. Für die konkrete Ausfüllung der übrigen Kreise genügt ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis. Abgesehen von der Frage, warum der Rückgang auf immer kleinere Kreise plötzlich an ein Ende bzw. an einen absoluten Anfang gelangt, ohne in der bekannten Manier fortschreiten zu können, stellt sich auch in umgekehrter Richtung das Problem, ob mit dem größten Kreis, dem Kreis aus Kreisen von Kreisen usw., die Gesamtheit der begrifflichen Bestimmungen erschöpft sei und nicht noch weitere Großkreise über die Logik, Natur- und Geistphilosophie hinaus angeschlossen werden könnten. Wer garantiert die Vollständigkeit des Systems? Diese Frage stellt sich um so dringender, als in Hegels philosophischer Entwicklung verschiedene Entwürfe zu verzeichnen sind. So bestehen nicht nur gravierende Differenzen zwischen dem ersten Jenenser GeVernunft und das Andere der Vernunft
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samtentwurfund der späteren Enzyklopädie, sondern auch zwischen dem Programm der Phänomenologie des Geistes, die als Propädeutik der Wissenschaft der Logik konzipiert ist und ersichtlich die weiteren Kreise erst eröffnet, und ihrer späteren Einordnung als internes Moment des enzyklopädischen Systems, und zwar im subjektiven Teil der Philosophie des Geistes. Dasselbe Problem des vermeintlichen Abschlusses taucht am Ende der Logik im Kontext der absoluten Idee auf. Wer garantiert, daß außer den bis dahin durchlaufenen begrifflichen Momenten und Kreisen nicht noch weitere gefunden werden können? Welches ist das Kriterium, das eine verbindliche Entscheidung über die Vollständigkeit der begrifflichen Bestimmungen zu fällen erlaubt? Die Frage ist um so virulenter, als tatsächlich ein Überschritt zu einem neuen Kreis erfolgt, der durch die Idee in ihrem Anderssein bestimmt ist und durch ein freies Sich-Entlassen -wie Hegel sagt - der Idee in ihr Anderssein erreicht wird. (2.) Ein weiteres Problem betrifft die Abfolge der Kategorien. Hegel unterstreicht mehrfach die Notwendigkeit des logischen Ganges, die, wenn auch nicht im Sinne einer logischen Deduktion zu verstehen, so doch nicht willkürlich ist. Sie soll an der Sache selbst orientiert sein. An keiner Stelle aber hat Hegel diese Notwendigkeit einsichtig machen können. Zudem lassen sein Spiel mit Varianten, seine Umdisposition von Kategorien sowie seine Äußerung, daß er die Logik lieber 77mal geschrieben hätte, Zweifel an der Erfüllung der geforderten Notwendigkeit aufkommen. So stellt sich insbesondere die Frage, ob nicht sinnvollerweise mit der Wesenslogik und ihren Relationsbegriffen statt mit der Seinslogik zu beginnen wäre 58 oder gar mit der Begriffslogik in Anbetracht der Tatsache, daß es sich um Begriffe und nicht um Vorstellungen oder sinnliche Anschauungen handelt. Auch wenn man dem ersten Einwand mit dem Argument begegnen kann, daß Hegel die Einzelelemente für fundamentaler erachtet als ihre Relation untereinander, so z. B. das Sein und das Nichts für grundlegender als ihre Zusammensetzung zum Werden, so bleibt doch uneinsichtig, warum das Sein dem Nichts vorausgeht und nicht umgekehrt das Nichts dem Sein wie in den östlichen Philosophien, zumal diese Version im Schon Kant und Fichte beginnen mit Relationskategorien. Vgl. die Dissertation von K. Reich: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, 2. Auf!. Berlin 1948, die eine Priorität der Relationskategorien nachweist.
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Schöpfungsgedanken als Übergang vom Nichts ins Sein Plausibilität hat. Hegel selbst hat in einer Anmerkung zum Hauptteil5 9 diese Konzeption durchgespielt, gleichwohl im Haupttext an der ersten festgehalten. Zur Rechtfertigung ließe sich allenfalls anführen, daß Nichts eine Reduktionsform der Negation ist und, da diese stets etwas negiert und folglich auf ein anderes bezogen ist, Relationalität und so auch die Beziehung auf Sein impliziert. Doch auch das Sein läßt sich als eine Reduktionsform des Etwas deuten, das seinerseits nur aus der Beziehung »Etwas und Anderes« verständlich ist. Selbst die schlichte Charakterisierung des Seins durch »unbestimmte Unmittelbarkeit« und »Gleichheit nur mit sich« 60 macht von Reflexions- bzw. Relationsbegriffen Gebrauch, meint doch Un-Mittelbarkeit die Negation von Vermittlung, die insofern selbst ein Vermittlungsbegriff ist, und Un-Bestimmtheit die Negation von Bestimmung, die selbst eine Bestimmung ist. Ebenso ist Gleichheit nur mit sich ein Relationsbegriff. Die Festlegung auf einen bestimmten absoluten Anfang widerspricht prinzipiell der Kreisstruktur, in der kein Element vor dem anderen privilegiert ist. Hegel selbst hat im einleitenden Kapitel zur Logik: »Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?« darauf hingewiesen: »Das Wesentliche für die Wissenschaft ist nicht so sehr, daß ein rein Unmittelbares der Anfang sei, sondern daß das Ganze derselben ein Kreislauf in sich selbst ist, worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erstewird.« 61
(3.) Eine weitere gravierende Schwierigkeit betrifft die Operationsmittel, die entgegen sonstiger Methodik nicht von außen auf das System angewendet werden, sondern mit zum System gehören und innerhalb desselben ihren genau bestimmten Ort haben, an dem sie thematisiert werden. Sie erfüllen damit die Bedingung innerer Konsistenz, womit ihre widerspruchsfreie Definition im Rahmen des Systems mit dessen eigenen Mitteln gemeint ist. So gehören Selbstbeziehung und Beziehung auf anderes, Reflexion-in-sich und Reflexion-in-anderes, Unmittelbarkeit und Vermittlung, Position und Negation insgesamt zu den Reflexionsbegriffen innerhalb der Wesenslogik. Gleichwohl werden sie durchgehend zur Systemkonstruktion benutzt, auch an Stellen, an denen sie gar nicht thematisch sind " G. W. F. Hege!: Wissenschaft der Logik, in: Werke, Bd. 5, S. 104 (Anm. 3). 60 A. a. 0., S. 82. 61 A. a. 0., S. 70. Vernunft und das Andere der Vernunft
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wie in dem eben erwähnten Fall des Seinsam Anfang der Logik, das antizipatorisch durch »unbestimmte Unmittelbarkeit« und »Gleichheit nur mit sich« gefaßt wird. Und wenn die Idee am Ende der Logik durch »Gleichheit mit sich« beschrieben wird, so geschieht dies ebenfalls durch einen Terminus, der nicht hier, sondern in der Wesenslogik seinen spezifischen Ort hat. Soll es sich hier nicht um Inkonsequenzen handeln, so müssen alle Bestimmungen an allen Orten vorkommen, auch wenn sie an bestimmten Orten noch nicht oder nicht mehr thematisch sind, was durchaus der These vom Involviertsein des Ganzen in jedem Teil entspricht. Einen Hinweis hierauf könnte man dem Umstand entnehmen, daß Hegel nicht nur die genannten Termini als Operationsmittel verwendet, sondern noch eine Vielzahl weiterer, wie Einheit und Vielheit, Identität und Differenz - so spricht er von der Einheit aus Einheit und Vielheit oder der Identität aus Identität und Differenz-, Ganzes und Teil, Etwas und Anderes, wenngleich nicht alle in derselben Ausführlichkeit zur Anwendung kommen. Damit hängt nicht zuletzt das Schillernde der Hegeischen Methode zusammen. Die Alternative hierzu wäre die Auszeichnung bestimmter Begriffsmomente und· Formen, die deren durchgängige Verwendung legitimierte. Für eine solche These finden sich aber keine Indizien. Die Konsequenz der dargelegten Konzeption ist, daß die Hegeische Dialektik nur im vollständig explizierten Durchgang durch das Gesamtsystem adäquat erfaßbar ist.
5. Fichtes Dialektiktypus a)
Fichtes Dialektik- eine Vorstufe Hegels?
überblickt man die Geschichte der Philosophie, so zeigt sich eine Mehrzahl von Dialektiktypen im Idealismus, die außer an den Namen von Hegelanden von Fichte und SeheHing gebunden ist. Wenn Hegels Typus Anknüpfungspunkte an die Dialektikkonstruktion Platons wie auch Ansätze zur Weiterentwicklung über Platon hinaus zeigt: erstens die Transformation der Ontodialektik in eine Geistdialektik, zweitens die Ersetzung der potentiellen Seinsdialektik durch eine aktuelle Prozeßdialektik und drittens die Einsinnigkeit des Prozesses anstelle der Schaukeldialektik, so begegnet bei Fichte in der Frühphase bis 1800, faßbar vor allem in der Grundlage der gesamten 158
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Wissenschaftslehre von 1794/95, ein Typus, der, abgesehen von der prinzipiellen Situierung im Bewußtsein, Strukturmomente des Platonischen wie des Hegeischen Typus umfaßt. Werner Hartkopf 62 hat diese beiden Merkmale als »extensive« und »intensive« Dialektik voneinander abzuheben versucht, damit meinend, daß die Schritte der dialektischen Grundtriade Fichtes einerseits ausgreifend, also extensiv seien, indem sie zunächst einen Teil der Gesamtsphäre, dann den anderen benennen würden, um so das Ganze zu erschließen, andererseits intensiv, insofern nach der Erschließung des Ganzen die dialektischen Triaden lediglich interne Ausdifferenzierungen und Spezifizierungen seien, mithin nach innen gingen. Die Beobachtung ist insofern richtig, als bei Fichte alle auf die Grundsynthese folgenden Dialektiksynthesen Fortbestimmungen sind, die jedoch gehalten und getragen werden von der Grundsynthese, welche als Beziehungs- und Unterscheidungsgrund fungiert. Die Schritte sind so trotz ihres sukzessiv synthetischen Charakters analytisch explikativ, interne Auffächerungen der Grundsynthese. Dennoch trifft diese Interpretation nicht das Wesentliche; denn der Grund für die Externität oder Internität ist der jeweils bezogene Standpunkt, der im Falle der sich konstituierenden Grundsynthese ein interner ist wie bei Hegel und zwangsläufig zum einsinnig gerichteten Vollzug der Prozeßdialektik führt, während er im Falle der dihairetisch absteigenden, sich spezifizierenden Folgesynthesen ein externer ist, der aufgrund seiner Freiheit und Unabhängigkeit und aufgrund der Alternation der Perspektive den Eindruck willkürlichen Hin- und Herschwankens macht. Da er vom formallogischen Moment der Spezifikation Gebrauch macht, vermischen sich in Fichtes Dialektikkonstruktion zwei unterschiedliche Rationalitätsstrukturen, die einen uneinheitlichen, changierenden Eindruck hinterlassen und der Grund dafür gewesen sein dürften, daß Fichtes Dialektik dem allgemeinen Urteil nach als Vorstufe der Hegeischen Dialektik gilt. So hat z. B. Richard Kroner sein zweihändiges Werk unter den sprechenden Titel Von Kant bis Hegel 63 gestellt, und auch Werner Hartkopf, obwohl er die Eigenständigkeit des Fichteschen dialektischen Verfahrens herausarbeitet, wählt doch als Titel seiner Untersuchung Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik. W. Hartkopf: Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialelctik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 21 (1967), S. 173-207, bes. S. 190 und 193. " R. Kroner: Von Kant bis Hege/, 2 Bde., Tübingen 1921-1924,3. Auf!. 1977.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Nicht wenig zu diesem Urteil hat Hegel selbst beigetragen: In der Differenzschrift moniert er an Fichtes Konzeption zum einen den Tatbestand reiner Bewußtseinsdialektik und damit verbunden die Transferierung der Welt in das Subjekt, was diese Dialektik zu einer bloßen Ich-Dialektik mit Vernachlässigung des Anderen mache, zu einem einseitigen, abstrakten Idealismus mit einem subjektiven Subjekt-Objekt, und zum anderen moniert er die Verkennung der absoluten Negativität als Wesen der Dialektik, die in der Selbstdifferenzierung bestehe, in der Einheit aus bestimmtem Unterschied und Nicht-Unterschied. Die Verkennung führe zur bloßen Versicherung kategorialer Unterschiede, nicht aber zu deren Erweis. Diese Kritik war für Fichte tödlich; von ihr hat er sich im Urteil der Späterentrotz gelegentlicher Ansätze, die seine Selbständigkeit zu erweisen suchen64, nicht wieder erholt. Ob nun Fichtes Dialektiktypus historisch eine Vor- und Zwischenstufe auf dem Wege zu Hegels Dialektiktypus darstellt oder nicht, hier soll er aus sachlich-strukturellen Gründen als autochthoner Typus des Idealismus gewürdigt und exponiert werden.
b) Die Doppelstruktur des Fichteschen Dialektiktypus (1.) Charakteristisch für Fichtes Dialektik ist ihre Verlagerung von der ontologischen Ebene in die bewußtseinstheoretische sowie ihre Verortung im Bewußtsein. Im Unterschied zu Platons Ontodialektik und Hegels Geistdialektik tritt Fichtes Dialektik als Bewußtseinsdialektik auf. Fichte erweist sich damit als Kind seiner Zeit und als typischer Vertreter der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie, die, in der Tradition des cartesischen cogito und der Kantischen Apperzeption stehend, das Selbstbewußtsein für das letzte und höchste Prinzipaller Selbst- und Welterkenntnis hält. Aufgrund seiner signifikanten Struktur als spezifisches Relationsgefüge qualifiziert sich das Selbstbewußtsein zum Repräsentanten des dialektischen Dreischritts. Es ist ein markantes Beispiel für die generelle Dialektikstruktur des ilv (haqJEQOV ev Ea'U't~(i>, für FichVgl. W. Hartkopf: Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik, a. a. 0.; W. Janke: Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx, Berlin, New York 1977, S. 100ff.; ders.: Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin, New York 1993, S. 187ff.; K. Gloy: Der Streit um den Zugang zum Absoluten. Fichtes indirekte Hegel-Kritik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 36 (1982), S. 25-48.
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Der dialektische Rationalitätstypus
te sogar der Ursprungsort und das Paradigma dieser Struktur. Seiner Verfassung nach ist das Selbstbewußtsein eine organische Einheit mit interner Zweiheit (Vielheit), Differenz und Relationalität. Indem das Bewußtsein in der Funktion des Subjekts von sich ausgeht und auf sich in der Funktion des Objekts zurückkommt, ohne sich in der Vielheit und Differenz zu verlieren, geht es über die Differenten wieder mit sich zusammen zur nunmehr gefüllten Einheit und Identität. Seine Selbstreferenz, die über die Beziehung zum Anderen zu sich zurück verläuft, erweist sich so als eine Selbstbeziehung mit Einschluß der Fremdbeziehung. Allerdings gibt es einen Unterschied in der Auslegung dieser Konzeption zwischen Fichte und Hegel (Gleiches gilt für Schelling). Während das Selbstbewußtsein bei Fichte die Gesamtheit der Welt impliziert, so daß die Dialektik speziell als Ich-Dialektik auftritt, fällt es bei Hegel und SeheHing mit der Welt zusammen, ist also mit dem Anderen seiner selbst identisch, was deren Dialektik zu einer Universaldialektik macht, die in der Einheit von Reflexions- und Seinsdialektik, subjektiver und objektiver besteht. Sie entgeht so dem Vorwurf der Subjektivität, den Hegel dem subjektiven Subjekt-Objekt Fichtes nicht ersparen kann. In dem von Walter Schulz herausgegebenen Briefwechsel zwischen Fichte und Schelling aus den Jahren 1800 bis 1802 ist dieser Positionsunterschied auf eine prägnante Formel gebracht: Entweder Ich= Alles oder Alles= Ich; entweder ist Alles im Ich und auf dieses reduzierbar bzw. aus diesem deduzierbar, somit das Ich Alles - dies ist Fichtes Position -, oder Alles ist Ich, hat die Struktur des Ich, der Subjekt-Objekt-Einheit, wie dies grundsätzlich Schellings und auch Hegels Position entspricht. Schelling hat seine Version im genannten Briefwechsel unter Verkehrung der Fichteschen Position in dem Satz formuliert: »Es wird offenbar, daß alles wirklich nur in demselben lebt und webt und in welchem hohen Sinne alles= Ich und nur= Ich seye.« 65 (2.) Das zweite Charakteristikum der Fichteschen Dialektik im Vergleich zu der Hegels läßt sich mittels der Termini von innerer und äußerer Reflexion fixieren. Während Hegel einen internen Standpunkt bezieht, indem er sich auf den sukzessiven Explikationsprozeß einläßt und dessen Bewegung mitvollzieht und so zwingend zu einer Prozeßdialektik gelangt, die auch »Werdens- und Geschehensdialek" Fichte-Schelling-Briefwechsel, hrsg. von W. Schulz, Frankfurt a. M. 1968, S. 122 (Brief vorn 24. Mai 1801). Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
tik« 66 genannt wird, ist bei Fichte ein Wechsel der Standpunkte zu konstatieren, derart, daß er bezüglich der dialektischen Grundsynthese einen internen Standpunkt einnimmt, der ähnlich wie der Hegelsche den Prozeß der Selbstkonstitution und -explikation des Selbstbewußtseins mitvollzieht, und bezüglich der weiteren Synthesen, deren Auffächerung auf der Basis und im Rahmen der konstituierten Grundsynthese erfolgt, einen externen, der aufgrund seiner Externität einen beliebigen Perspektivenwechsel gestattet. Hier im Verfolg der weiteren Synthesen haben wir es mit einer arbiträren Überblicksdialektik zu tun, die, was Ausgangspunkt und Übergang betrifft, Anklänge an Platons Schaukelsystem erkennen läßt. Fichte spricht von einem »Schweben«, weil es gleichgültig sei, ob man bei A ansetze und zu B übergehe oder umgekehrt bei B und zu A übergehe. 67 Das Schweben setzt das gleichursprüngliche Bestehen aller dialektischen Glieder voraus, die nur sukzessiv expliziert werden. Daß es sich hier tatsächlich um einen äußeren Standpunkt mit einer äußerlich bleibenden Darstellung handelt, geht aus dem Umstand hervor, daß der Wiederanschluß des explizierten Systems an den unexplizierten Systemgrund mißlingt. Während Hegel aufgrund des Mitgehens mit der Kreisbewegung den Anschluß des Endes jeder Triade an deren Anfang und so insgesamt des Endes aller Triaden, der absoluten Idee, an den Anfang, das Sein, zeigen kann, bleibt Fichte die Herstellung der spekulativen Einheit versagt. Sie wird lediglich am Schluß der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre im praktischen Teil in Form des Sollens postuliert. Das hat Fichtes Dialektik das Ansehen eingetragen, bloß »analytisch« zu sein, nicht wie Hegels »analytisch-synthetisch« 68 • Zwar müssen auch in Fichtes System die reduktionistisch aus den Systemableitungen gewonnenen Systemprinzipien, die Grundsätze des Systems, legitimiert werden und können dies nur deduktionistisch anhand eben jener Ableitungen, aus denen sie gewonnen " W. Hartkopf: Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik, a.a.O., S. 198, vgl. S. 204, 206. 67 Vgl. Fichtes Werke, hrsg. von I. H. Fichte, 11 Bde., Berlin 1971 (fotomechanischer Nachdruck von Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, hrsg. von I. H. Fichte, 8 Bde., Berlin 1845/1846, und Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke, hrsg. von I. H. Fichte, 3 Bde., Bonn 1834/1835) [abgekürzt: Werke], Bd. 1, S. 216, 217. 68 Zur Kritik der Fichteschen Dialektik vgl. E. von Hartmann: Über die dialektische Methode. Historisch-kritische Untersuchungen, 1868, 2. Auf!. Bad Sachsa 1912, S. 27 f.; R. Kroner: Von Kant bis Hege/, a. a. 0., Bd. 1, S. 402 f.
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wurden, also anhand des vollständig ausgearbeiteten Systems, was zu einer Zirkelbewegung und immanenten Selbstbegründung führt. Jedoch ist diese Redundanz von anderer Art als die dialektische Kreisbewegung Hegels. Sie erfolgt von außen, nicht wie bei Regel von innen. Das hängt damit zusammen, daß Hegels Dialektik echte Widerspruchsdialektik ist, deren Glieder, da sie jeweils das Ganze zu sein beanspruchen, sich aufheben und gleichwohl, da das Ganze nicht definitiv untergeht, sich auch wieder setzen in einem ununterbrochenen Prozeß von Selbstaufhebung und Selbstsetzung. Um den Wiederanschluß des explizierten Begriffs an den Anfang zu ermöglichen, bedarf es der Zusammennahme und Zusammenziehung desselben. Bei Fichte hingegen bestätigt sich zwar auch die Grundsynthese in allen ihren Spezifikationen, doch expandiert das System mit zunehmender Ableitung, ohne daß es bei dem externen Standpunkt gelänge, das Ende wieder in den Anfang zurückzuschlingen. Hierzu bedarf es vielmehr des dezidierten Willensaktes. Hingegen kann man Fichte als Verdienst anrechnen, die für die neuzeitliche Dialektik unwegdenkbaren Operationen der These, Antithese und Synthese, d. h. der Setzung, Entgegensetzung und Zusammensetzung, die Regel wie selbstverständlich benutzt, nicht aber deduziert, erstmals durch Fundierung im Selbstbewußtsein als Tathandlungen des aktiven Ich legitimiert zu haben. Sie werden in den drei das Selbstbewußtsein konstituierenden Grundsätzen artikuliert: erstens das Ich setzt sich selbst, zweitens das Ich setzt sich ein NichtIch entgegen, und drittens das Ich setzt im Ich einem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen. 69 Zwischen den drei Grundsätzen besteht ein bestimmtes Stufungs- und Abhängigkeitsverhältnis, das Aufschluß über die Art des Zusammenhangs und über die Internverfassung des Selbstbewußtseins gibt. Während der erste Grundsatz für absolut, d. h. in jeder Hinsicht, formaler wie materialer, für unbedingt gilt, gilt der zweite in formaler Hinsicht für unbedingt, in materialer hingegen für bedingt und abhängig vom ersten. Das erklärt sich daraus, daß die Handlung der Entgegensetzung stets eine Handlung der Setzung voraussetzt. Während jene material auf die Selbstsetzung des Ich angewiesen ist und dies durch das Nicht-Ich als bezogen auf das Ich ausdrückt, ist die Struktur der Entgegensetzung, die die Negationsform beinhaltet, aus der ersten Setzung unableitbar. Die Negation ist 69
Vgl. Fichte: Werke, Bd. 1, S. 98, 104, 110.
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die der Entgegensetzung und nur ihr eigentümliche Form. Der dritte Grundsatz hingegen gilt in materialer Hinsicht für unbedingt, in formaler für bedingt. Seine formale Verfassung resultiert aus der Aufgabe der Vermittlung der beiden vorangehenden Sätze, was nur durch Teilung der Gesamtsphäre, mithin durch quantitative Einschränkung möglich ist. Mit der Handlung der Zusammensetzung geht daher die Handlung der Teilung und Einschränkung einher, was dazu geführt hat, diese Dialektikart auch als »limitative Dialektik«70 zu bezeichnen. Die Tatsache, daß der dritte Grundsatz material unabhängig sein soll, obwohl der zweite Grundsatz bereits material abhängig war, läßt darauf schließen, daß hier unter Wiederaufnahme des unendlichen, unbegrenzten Ich des ersten Grundsatzes eine Setzung der Teilsphären von endlichem Ich und endlichem Nicht-Ich, nämlich Welt, erfolgt. Zugleich wird deutlich, daß hier keine Widerspruchsdialektik im Sinne Begelseher Provenienz vorliegt, die sich in einer einsinnigen Abhängigkeitskette über Selbstsetzung, Selbstnegation, Negation der Negation und Selbstwiedereinsetzung konstituierte, sondern eine Gegensatzdialektik, insofern zweiter und dritter Grundsatz wegen ihrer relativen Abhängigkeit - der eine in materialer Hinsicht, der andere in formaler -gleichwertig sind. Trotz des Kreisgangs deutet sich schon hier bei der Grundlegung ein Unterschied zwischen Fichtesund Hegels Dialektiktypus an, insofern als der eine Philosoph sich völlig auf den Prozeß einläßt, der andere eine Distanz zu ihm bewahrt. Ebenso entscheidend wie die Fundierung der dialektischen Grundoperationen in den Bewußtseinsaktivitäten ist der Nachweis, daß die formale Logik und ihre Axiome, die die Struktur der Objekte prägen, in den dialektischen Strukturen des Selbstbewußtseins begründet sind. Mit diesem Programm einer Reduktion der Objektstrukturen auf Bewußtseinsstrukturen findet die formale axiomatische Logik eine Verankerung in der umfassenderen dialektischen Logik. Als Axiome der formalen Logik gelten der Satz der Identität »A =A«, der Satz des auszuschließenden Widerspruchs »A #non A« und der Satz des ausgeschlossenen Dritten »wenn A, dann nicht non A, wenn non A, dann nicht A«. Der erste Grundsatz, der Identitätssatz, der die Selbstgleichheit eines Dinges oder Sachverhalts mit 70 W. ]anke: Historische Dialektik, a. a. 0., S. 100 ff.; ders.: Vom Bilde des Absoluten, a.a.O., S.l87ff.
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sich ausdrückt, hat ein Pendant in der Selbstidentität des Ich (Ich= Ich). Ein Unterschied zwischen beiden besteht jedoch darin, daß der erste einen hypothetischen Charakter hat und nur unter der Bedingung gilt, daß A existiert, wobei zweifelhaft ist, ob A wirklich existiert. Im Falle des Ich aber gibt es gar keine andere Möglichkeit als die Annahme der Existenz des Ich, da andernfalls keine logische Operation, weder die der Identifikation noch irgendeine andere, vollzogen werden könnte. Das Existenzurteil »Ich bin«, das aus der Selbstsetzung hervorgeht, ist daher die unerläßliche Voraussetzung aller Identität. Der Satz des auszuschließenden Widerspruchs »A =f non A« besagt, daß keinem Ding, das durch ein bestimmtes Prädikat A charakterisiert ist, ein kontradiktorisches - non A - zugesprochen werden darf. Der geforderte Ausschluß, die Negation des Negats, läßt sich, wie früher gezeigt wurde 71 , nur vor dem Hintergrund des formallogischen Systems der durchgängigen Bestimmung aller Dinge verständlich machen, das vorsieht, daß jedem Ding von allen möglichen Prädikaten das eine zukommt, das andere nicht. Nur unter der Prämisse eines geschlossenen alternativen Systems steht fest, daß im Falle der Negation von A die Position des kontadiktorischen Gegenteils, also die Entgegensetzung von A, gegeben ist. Es ist diese Grundoperation, die Fichte benutzt, um den formallogischen Satz des auszuschließenden Widerspruchs in der transzendentalen Handlung der Entgegensetzung, nämlich der Setzung des Anderen zum Ersten, zu begründen. Von echtem Widerspruch kann hier nicht die Rede sein, sondern nur von Entgegensetzung. Denn Widerspruch würde bedeuten, daß in bezug auf dasselbe - hier das Ich - Kontradiktorisches, nämlich Ich und Nicht-Ich, ausgesagt würde, wohingegen es hier um die positive Setzung des aus der Negation gewonnenen NichtIch, der Natur, der Welt, außerhalb des Ich geht. Auch hier zeigt sich noch einmal, daß Fichtes Dialektik im Unterschied zu der Hegels keine Widerspruchsdialektik ist, welche die Selbstaufhebung einschließt, sondern Entgegensetzungsdialektik ohne Selbstaufhebung. Freilich soll damit nicht gesagt sein, daß es nicht bei allen Sätzen um Handlungen des Ich ginge, sowohl beim ersten um die Selbstsetzung wie auch beim zweiten um die Selbstentgegensetzung, die sich damit als interne Entgegensetzung entpuppt. Der dritte formallogische Grundsatz, eigentlich der Satz vorn 71
Vgl. 5. 77f. dieser Arbeit.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
ausgeschlossenen Dritten (»entweder A oder non A, ein Drittes ist unmöglich«), findet seine transzendentalphilosophische Begründung im Satz vom zureichenden Grund »A zum Teil non A und non A zum Teil A«, der die vorausgehenden Antithesen durch Teilung der Gesamtsphäre vermittelt. Daß auch hier zum Verständnis der Fundierungsbeziehung des formallogischen Satzes im transzendentallogischen das System der durchgängigen Bestimmung aller Dinge den Hintergrund bildet, versteht sich von selbst. Die Vermittlung erfolgt über die Grundoperationen der Analyse und Synthese; denn Vermittlung ist ein Vergleich Unterschiedener im Hinblick auf ein gemeinsames Drittes, dadurch daß in den Verschiedenen das Gleiche und im Gleichen das Verschiedene herausgestellt wird. Keine Synthese ohne Analyse und keine Analyse ohne Synthese. »Die Antithesis besteht ja darin«, sagt Fichte, »dass in Gleichen das entgegengesetzte Merkmal aufgesucht wird; aber die Gleichen wären nicht gleich, wenn sie nicht erst durch eine synthetische Handlung gleichgesetzt wären.« 72 Da Analyse und Synthese als Grundoperationen des Spezifikationsverfahrens der dihairetischen Logik gelten, nämlich als Einteilung der Gattung in Arten und Zusammennahme dieser zur Gattung, zeigt sich auch hier die Verankerung der dihairetischen Logik in der dialektischen, allerdings ohne daß die Spezifikation schon zum Vollzug käme. Gleichwohl bildet das in der Internstruktur des Selbstbewußtseins verankerte Analyse-Synthese-Verfahren das Fundament für die nachfolgenden internen Spezifikationen der Grundtriade. Mit dem Aufweis der triplizitären Struktur von Setzung, Entgegensetzung und Zusammensetzung ist der Aufbau der dialektischen Grundform abgeschlossen, der im Ganzen der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre eine Zäsur markiert. Die weiteren Explikationen sind nur im Rahmen dieser Grundsynthese verständlich als deren interne Auffächerung aufgrund eines immer tieferen Eindringens in die Internverfassung des Ich. Die von jetzt ab leitende Methode ist die eines spezifizierenden Herabsteigens, wobei das dichotomische Spezifikationsgesetz der formalen Logik verbindlich ist. Welche der beiden Seiten der Spezifikation jedoch zunächst thematisiert wird und welche danach und nach welchem Prinzip der Spezifikation überhaupt verfahren wird, bleibt undeterminiert. Vorgegangen wird heu72
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G. W. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschafts/ehre, in: Werke, Bd. 1, S. 113.
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ristisch nach einem grundsätzlich offenen, experimentierenden Verfahren, indem durch Perspektivenwechsel, durch Verlagerung des Interesses neue Aspekte an der Grundsynthese aufgewiesen werden,. die bislang noch keine Berücksichtigung fanden. Dieser grundsätzlich suchende, tastende Charakter der Fortbestimmung der Grundsynthese ist allerdings auch Hegels Wissenschaft der Logik eigen. 73 Gemäß dem genannten Spezifikationsverfahren wird die ursprüngliche Synthese zergliedert, jedoch nicht einfach in die Teile, aus denen sie besteht, sondern unter Wahrung ihrer Einheit unter einem neuen, bisher noch nicht thematisierten Aspekt. Die erste konkrete Gliederung, die sich auf diese Weise ergibt, führt zum theoretischen und praktischen Teil der Wissenschaftslehre, indem bezüglich des sich selbst limitierenden Ich, das ein teilbares Ich und ein teilbares Nicht-Ich in sich vereint, der Akzent zum einen auf die Beschränkung und Bestimmung des Ich durch das Nicht-Ich, zum anderen auf die Beschränkung und Bestimmung des Nicht-Ich durch das Ich gesetzt wird. Die Verfolgung der weiteren Analysen im theoretischen Teil ergibt, daß das durch das Nicht-Ich bestimmte Ich, welches kraft der sich erhaltenden Synthese aber Selbstbestimmung bleibt, in die Teilsätze zerfällt »das Ich bestimmt sich selbst«, was der Spontaneität des Ich entspricht, und »das Nicht-Ich bestimmt das Ich«, was die Affektion und Bestimmung durch das Objekt ausdrückt. Die aufgrund der Wechselseitigkeit weiterbestimmte Synthese bezeichnet die Relation der Wechselwirkung zwischen Ich und Nicht-Ich. Diese selbst zerlegt sich wiederum in zwei Teile, einerseits unter Akzentuierung der Bestimmung des Ich durch das Nicht-Ich, andererseits unter Akzentuierung der Selbstbestimmung des Ich. Unter der Dominanz der ersteren resultieren in diesem Teil die Alternativen: »Das Nicht-Ich hat Realität« und »das Nicht-Ich hat keine Realität«, welche zusammengenommen die Ursache- Wirkungsrelation zwischen Natur und Ich ergeben, nämlich die Kategorie der Kausalität, wonach das Nicht-Ich Realität hat, sofern und soweit das Ich leidet. W. Hartkopf: Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik, a. a. 0., S. 188 ff., hat dieses Verfahren in Zusammenhang mit der regula falsi gebracht. Bei dieser handelt es sich um eine Korrekturmethode, die die definitive Lösung über eine fortgesetzte Korrektur ansteuert, wobei der zweite Lösungsvorschlag den ersten plus einer ersten Korrektur enthält (L2 = L1 + K1 ), der dritte die zweite Lösung plus einer zweiten Korrektur (L3 = L2 + K2 ) usw. Ein Unterschied besteht allerdings darin, daß es sich bei Fichte nicht um einfache Korrekturen handelt, sondern um Synthesen.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Unter der Dominanz der zweiten Bestimmung ergeben sich in diesem Teil die Alternativen: »Das Ich ist bestimmend (tätig)«- »das Ich ist bestimmt (leidend)«, welche zusammengefaßt werden in der Relation von Substanz und Akzidens. Das Ich leidet durch Selbsteinschränkung und Minderung seiner Tätigkeit, was sich in einem begrenzten Prädikat ausdrückt. Denn »insofern das Ich betrachtet wird, als den ganzen, schlechthin bestimmten Umkreis aller Realitäten umfassend, ist es Substanz«, und »inwiefern es in eine nicht schlechthin bestimmte Sphäre [... ] dieses Umkreises gesetzt wird, insofern ist es aceidenteil [ ... ]« 74 • Schematisch resultiert folgendes Bild: Ich
Realität
/~ Ich
Nicht-Ich
Negation
~/
/------
Limitation
im Ich teilbares Ich und teilbares Nicht-Ich Ich wird bestimmt durch Nicht-Ich (theoretischer Teil) = Ich bestimmt sich als bestimmt durch Nicht-Ich
~
-----._
Ich bestimmt sich selbst (Spontaneität)
-----._
Ich bestimmt Nicht-Ich (praktischer Teil)
Nicht-Ich bestimmt Ich (Affektion)
~
Wechselwirkung
~
-----._ Nicht-Ich bestimmt Ich =Ich bestimmt durch Nicht-Ich
Ich bestimmt sich selbst
/~
/~ Ich ist bestimmend
Ich ist bestimmt
Nicht-Ich hat keine Realität
Nicht-Ich hat Realität
~// Ich leidet durch eingeschränkte Tätigkeit (Substanz -Akzidens)
Nicht-Ich hat Realität soweit Ich leidet (Ursache- Wirkung)
Fichte: Werke, Bd. 1, S. 142. Hier liegt ein Verhältnis von Substanz und Akzidens vor, das im Unterschied zum traditionellen Modell der Bezogenheit der Akzidenzien auf eine gemeinsame Substanz das Modell der Teilung einer substantiellen Gesamtsphäre in akzidentelle Teile ist.
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Der dialektische Rationalitätstypus
Die Schwierigkeit einer Konzeption absteigender dichotomischer Spezifikation, wie sie hier vorliegt, besteht darin, daß wie bei dem rein dichotomischen Dihairesisverfahren der formalen Logik, welches zu einem Stufensystem führt, ein Ende des Fortschritts nicht abzusehen ist, selbst wenn die Spezifikation durch die dialektische Grundtriade gehalten wird. Die lineare Denkform gestattet keinen Abschluß. Das Aufhören der Fortbestimmung im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre und der Übergang zum praktischen Teil stellen einen Abbruch und Akt der Willkür dar, was ebenso für das Ende des praktischen Teils gilt. Mutatis mutandis einer Fregeschen Formulierung könnte man hier von einer »ungesättigten Lösung« sprechen. Wie aus der Fortbestimmung der Grundsynthese im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre ersichtlich wird, geht mit dieser eine Deduktion der Kategorien einher, und zwar speziell der Relationskategorien: der Wechselwirkung, der Kausalität und des Substanz-Akzidens-Schemas. Auch die zugrundeliegende Grundsynthese und ihre Glieder lassen die Zuordnung von Kategorien erkennen, und zwar der Qualitätskategorien: Realität, Negation und Limitation, wobei die letztere auch als Quantitätskategorie gelesen werden kann, da qualitative Bestimmung und quantitative Einschränkung Hand in Hand gehen. 75 Außer der kategorialen Deduktion läßt sich zumindest in rudimentärer Form eine Herleitung der Urteile konstatieren, und zwar der qualitativen: des positiven, des negativen und des unendlichen Urteils, derart, daß das positive oder affirmative Urteil in Gestalt der Tautologie »A = A«, der Gleichheit von Subjekt und Prädikat, mit der These der Selbstsetzung des Ich in Zusammenhang gebracht werden kann, das negative Urteil als Absprechen von etwas (# A) mit der Antithese, die immer auch, trotz der positiven Entgegensetzung, ein negatives Moment aufweist, während das unendliche Urteil, das, aus Kants transzendentaler Urteilstafel stammend, die Position des Negats bedeutet und hierfür einen unendlichen Raum verlangt, mit der limitativen Synthese in Verbindung gebracht werden kann, da der Boden der Limitation ein unendlicher ist.
75 Schon in Kants Kategorientafel wechselt die dritte Qualitätskategorie in das Genus der Quantität über und scheint daher fehl am Platze zu sein, es sei denn, man verbindet qualitative Begrenzung stets mit Einschränkung und umgekehrt.
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4. Kapitel Der metaparadoxale Rationalitätstypus
1. Paradoxie - ein eigener Vernunfttypus oder die Grundstruktur der Dialektild
Blieben im Vorangehenden trotz aller Bemühungen um die methodische Explikation von Dialektikstrukturen diese letztlich doch dem Kontext metaphysischer Systeme ontologischer; geist- oder bewußtseinstheoretischer Art verhaftet, dann wird die Frage unabwendbar, ob sich generelle dialektische Strukturen unabhängig vom jeweiligen System herauskristallisieren und für sich exponieren lassen. Hier bietet sich das Paradox an, das auch außerhalb von Systemen, die für speziell dialektisch gelten, auftritt. Es ist zu eruieren, ob die paradoxale Struktur Dreh- und Angelpunkt der Dialektik ist, also die Grundstruktur derselben, oder noch eine darüber hinausgehende Methode, die einen eigenständigen Denktypus begründet, der Dialektik impliziert, ähnlich wie die Dialektik Spezifikation impliziert.
Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, lautet ein von Paul Geyer und Roland Hagenbüchle herausgegebener Sammelband. 1 In der Tat stellen Paradoxien eine Zumutung für das normale Denken dar, was sich schon in ihrer Namengebung ausdrückt. IlaQaÖol;ov meint das, was wider die gewöhnliche Meinung oder Ansicht ist, was nicht erwartet wird und daher psychologisch mit einem Überraschungseffekt verbunden ist, der als Stachel und Ansporn für das gewöhnliche Nachdenken dient, nicht selten aber auch als Indiz einer Krise des Denkens empfunden wird. Diese kritisch-negative Seite teilt das Paradox mit anderen mehr oder weniger verwandten Operationen wie der Antinomie, dem Dilemma, der Ironie usw. 2 Die größte Nähe scheint zur DialekP. Geyer und R. Hagenbüchle (Hrsg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992. 2 In der Literatur werden Paradoxien oft mit Antinomien in Zusammenhang gebracht, indem sie teils mit ihnen konfundiert, teils von ihnen unterschieden werden, wobei Paradoxie als der weitere Begriff, Antinomie als der engere gilt (vgl. G. Vollmer: Paradoxien und Antinomien. Stolpersteine auf dem Weg zur Wahrheit, in: P. Geyer und R. Hagenbüchle (Hrsg.): Das Paradox, a. a. 0., S. 159-189, bes. S. 161). Zur Begründung wird
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Der metaparadoxale Rationalitätstypus
tik zu bestehen. Hierauf hat bereits Platon im Parmenides-Dialog hingewiesen, wenn er die Zenanisehen Paradoxien bezüglich Einheit und Vielheit in Verbindung mit Begriff und Programm der ()LaA.Ex'tLX~ 'tEXV'YJ bringt. Während jedoch die Zenanisehen Paradoxien aus einer Inkompatibilät von Anschauung und Intellekt, Extentionalität und Punktualität erwachsen, insofern z. B. ein Mensch gegenüber anderen Menschen auf anschaulich-phänomenaler Ebene einer ist und gleichwohl hinsichtlich seiner begreifbaren Teile Vieles, steigert sich die Merkwüdigkeit noch, wenn sich die Ambivalenz auf logischbegrifflicher Ebene zeigt und der Begriff »Eines« selbst auch Vieles ist. Dies nötigt zu einer Klärung des Verhältnisses von Dialektik und Paradoxie, wobei sich mehrere Möglichkeiten abzeichnen: auf den Namen verwiesen, der im Falle der Paradoxie (:n:aQU ö6l;av) das meint, was der Erwartung zuwiderläuft, während Antinomie (av'tl VO!!OV) im strengeren Sinne das bezeichnet, was dem Gesetz zuwider ist. Da jedoch weder die Etymologie noch die gerade im Falle der Antinomie außerordentlich wechselvolle Bedeutungsgeschichte ein hinreichendes und verbindliches Abgrenzungskriterium bildet, kommt man um eine gewisse definitorische Festlegung nicht herum. Angesichts der Tatsache, daß im Gegenwartsbewußtsein die Kantischen Antinomien aus der Kritik der reinen Vernunft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen und zum Gemeingut avanciert sind, kann ihre Konstruktionsweise bei Abgrenzungsfragen nicht außer acht bleiben. Kants kosmologische Antinomien: erstens die Welt hat einen Anfang in Raum und Zeit I hat keinen Anfang in Raum und Zeit, zweitens die Welt ist unendlich teilbar I besteht aus letzten, unteilbaren Elementen, drittens alles in der Welt erfolgt gemäß dem Determinismus I erfolgt gemäß der Freiheit, viertens alles in der Welt ist zufällig I ist notwendig, bedienen sich des Entweder-oder, indem sie einem Subjekt (der Welt) widersprüchliche Prädikate zusprechen, welche beide gleichermaßen Plausibilität beanspruchen. Ihr jeweiliger Beweis erfolgt apagogisch über die Widerlegung des Gegenteils. Während die Antinomien an das Substanz-Akzidens-Modell anknüpfen, indem sie einer selbständigen Substanz kontradiktorische Bestimmungen zusprechen, die als solche unabhängig voneinander sind, allenfalls über den apagogischen Beweis miteinander zusammenhängen, sind Paradoxien so geformt, daß ihre kontradiktorischen Bestimmungen ineinandergreifen und über eine Interdependenz ein selbstreferentielles Bestimmungsgeflecht bilden. Sie nehmen das Selbstreferenzmodell für sich in Anspruch, das inkompatible Momente in sich enthält. Der Selbstbezug der Momente hat hier das Substanz-Akzidens-Modell ersetzt. Zugrunde liegt die Idee eines Ganzen, das sich in sich selbst spaltet und über die Gespaltenen wieder mit sich zusammengeht. Diese Festlegung gilt unabhängig davon, ob die Paradoxien einem äußeren oder inneren Reflexionsstandpunkt entspringen, d. h. ob das Begriffsgeflecht alternativ expliziert wird oder in Form eines einsinnigen Prozesses. - Als Dilemma wird meist eine Situation definiert, die ausweglos ist, weil die alternativen Möglichkeiten gleichgewichtig sind und beide inakzeptabel. Da dies häufig bei Paradoxien der Fall ist, stehen die fraglichen Begriffe oft austauschbar (vgl. das Gefangenenparadox oder das Gefangenendilemma).- Die Ironie ist eine Denk- und Sprachfigur, die in sich umkippt, indem das explizit Gesagte das Gegenteil meint sowohl in positiver wie negativer Absicht. Zur Ironie vgl. S. 245 f., 256 dieser Arbeit. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
(1.) Die Paradoxie in Form der Inkompatibilität von Anschauung und Intellekt stellt eine Propädeutik zur Dialektik dar, welche im eigentlichen Sinne auf logischer Ebene stattfindet. (2.) Die Paradoxie fällt mit der Dialektik zusammen, indem sie deren Grundoperation, sozusagen deren Scharnier bildet. (3.) Die Paradoxie übersteigt die logische Dialektik, indem sie nicht nur deren Grundoperation bildet, sondern auf diese selbst noch anwendbar ist in Form einer Dialektik der Dialektik oder Paradoxie der Paradoxie und zum Resultat die Aufhebung von Dialektik bzw. Paradoxie hat. Dialektik bzw. Paradoxie gründete dann in einem Nichtdialektischen bzw. Nichtparadoxalen, das transrational als Indifferenz, Unvordenklichkeit zu bezeichnen wäre. Die Dialektik oder Paradoxie wäre dann insofern selbst paradox, als sie an sich undialektisch bzw. nichtparadox wäre. Die beiden letzteren Operationen pflegt man als positive und negative Dialektik voneinander abzuheben. 3 Um die Frage nach der Eigenständigkeit oder Uneigenständigkeit der Paradoxie zu entscheiden, gilt es zunächst, einen Überblick über die verschiedenartigen in der Geschichte aufgetretenen und als Paradoxien behandelten Phänomene zu gewinnen, zumal die Paradoxien zumeist selbständig und unabhängig von der Dialektik als Kuriositäten auftreten.
2. Kurzbeschreibung der Paradoxien Die ersten historisch für uns faßbaren Paradoxien tauchen im Zusammenhang mit dem Bewegungsphänomen auf. Wenn es bei Heraklit in den fragmentarisch überlieferten Sprüchen heißt: »Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen«\ »in dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht« 5 oder »denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und wieder andere Wasserfluten zu« 6 , so wird hier die Zusammennahme unvereinbarer, mithin widersprüchlicher Vorstellungen, der von Vgl. Th. Adorno: Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1973. 4 Heraklit: Fragment B 22 [12], 91 in: W. Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch-deutsch von H. Diels, Bd. 1, 18. Auf!. 1989, S. 171. 5 Fragm. B 22 [12], 49a, a. a. 0., Bd. 1, S. 161. ' Fragm. 22 [12], 12, a. a. 0., Bd. 1, S. 154.
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Identität und Differenz, Konstanz und Variabilität artikuliert. Der phänomenale Fluß als Ganzes ist einer und derselbe, gleichbleibend, unveränderlich und zugleich hinsichtlich seiner intellektuell differenzierbaren Teile Vieles, immer Anderes, veränderlich. Der Sachverhalt läßt sich auch in der Form wiedergeben, daß die Vorstellung der Allbewegung selbst unbewegt ist in unaufhebbarern Widerspruch zu sich; denn würde auch sie sich bewegen, also verändern, so stünden dem Nonsens Tür und Tor offen. Die Bedeutung der Vorstellung »Allbewegung«, die auch für sie selbst qua Vorstellung gelten müßte, trifft auf sie gerade nicht zu, wenn sie Gültigkeit haben soll. Zenon hat in der Absicht, die parmenideische These von der alleinigen Herrschaft des Seins und mit ihm der Ruhe, Einheit und Identität zu erweisen, die immanente Widersprüchlichkeit der herakliteischen Gegenthese von der Bewegung und der mit ihr einhergehenden Vielheit und Differenz anhand einer Reihe von Argurnentationen aufgezeigt, die mit der Inkompatibilität von Ruhe und Bewegung, (phänomenaler) Einheit/Ganzheit und (intellektueller) Vielheit, begrifflicher Gleichmächtigkeit und phänomenaler Relativität operieren. Das erste der vier Argumente, das unter dem Namen »fliegender Pfeil« bekannt ist, besagt, daß ein Pfeil. der während seines Fluges in jedem Augenblick in einem bestimmten Punkt ist, in diesem ruht, also im Widerspruch zur Annahme nicht fliegt. Das Argument wird auch in der Form vorgetragen, daß eine endliche Strecke nicht über unendlich viele Punkte oder Teile zurückgelegt werden kann. Der Vorstellungen von Einheit und Vielheit, Endlichkeit und Unendlichkeit bedient sich insbesondere das zweite, sogenannte Dichotomie-Argument. Es demonstriert, daß jemand, um an das Ende einer Strecke zu gelangen, zunächst zum Mittelpunkt M derselben gelangen muß, um diesen zu erreichen, zunächst zum Mittelpunkt M1 der vorausliegenden Strecke, um an diesen zu gelangen, zunächst zum Mittelpunkt M 2 der ersten Hälfte und so in infinitum. Das Argument läßt sich auch umkehren und dann als unendliche Approximation an das Ziellesen auf der Basis, daß der Läufer stets zunächst den Mittelpunkt der jeweils zweiten Streckenhälfte erreichen muß. In beiden Fällen ist eine Unendlichkeit von Teilen bzw. Punkten zu durchqueren, um eine endliche Strecke zu durchmessen, was absurd ist. Dasselbe trifft nicht nur auf die räumliche Strecke zu, sondern auch auf die Zeitspanne. Die beiden anderen komplexeren Argumente nehmen das bisVernunft und das Andere der Vernunft
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herige Argumentationspotential Ruhe und Bewegung, Einheit und Vielheit, Endlichkeit und Unendlichkeit zusammen. Mit »Achill und der Schildkröte« soll bewiesen werden, daß der Schnellere den Langsameren bei einem Vorsprung desselben niemals einholt; denn wenn Achill den Ausgangspunkt der Schildkröte erreicht hat, ist diese bereits ein Stückehen weitergelaufen. Obwohl sich Achill sukzessiv der Schildkröte nähert, vermag er sie doch nie zu erreichen. Zum einen läßt das Argument die Interpretation zu, daß endliche Strecken- hier zwei - niemals über unendlich viele Punkte und Teile überwunden werden können, zum anderen die, daß trotz Gleichmächtigkeit der Punkte und Teile, nämlich unendlich vieler, beide dennoch verschiedene Extensionen aufweisen, also nicht gleich sind, was, auf Bewegung und Ruhe übertragen, bedeutet, daß die Schildkröte mit ihrer kleineren Strecke sich nicht nur bewegt, sondern auch ruht. Letztere Gedankenfigur wird noch deutlicher am »Stadion-Argument«. In einem Stadion befinden sich drei Läuferstaffeln A, B, C mit gleich vielen Elementen, deren eine ruht, die beiden anderen sich gegeneinander bewegen. Die Staffel B passiert in bezug auf die ruhende Staffel A in derselben Zeit halb so viele Elemente wie in bezug auf die ihr entgegenkommende Staffel C, so daß die Hälfte gleich dem Ganzen oder das Einfache gleich dem Doppelten ist. Sie muß also während der halben Zeit geruht haben, um im einen Fall nur die halbe Anzahl der Elemente, im anderen Fall die gesamte Anzahl zu passieren, oder, in bezug auf die zurückgelegte Strecke formuliert, die halben Raumteile übersprungen haben. Dies läßt sich auch so ausdrücken, daß die Gleichmächtigkeit der Elemente mit einer Unterschiedlichkeit von Raum- und Zeitextension verbunden ist, was widersprüchlich ist. 7 Nicht mittels qualitativer und quantitativer Bestimmungen wie Ruhe und Bewegung, Identität und Differenz, Einheit und Vielheit wie in den Bewegungsparadoxien, sondern mittels epistemischer Modalitäten werden die sogenannten epistemologischen Paradoxien formuliert, wie sie von Sokrates' Ausspruch »Ich weiß, daß ich nichts weiß« 8 bekannt sind oder von Gorgias' sophistisch-eristischem Satz, daß man nicht lernen könne, was man nicht wisse; denn wisse man etwas, so brauche man es nicht zu lernen, und wisse man es nicht, so Zu den Zenanisehen Paradoxien vgl. K. Gloy: Aristoteles' Zenon-Kritik, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch, Bd. 10 (1984), S. 229-248. 8 Vgl. Platon: Apologie 21 b, 21 d, 29 b. 7
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könne man das Nichtgewußte auch nicht lernen, da man gar nicht wisse, wonach man suchen solle, und gesetzt den Fall, man träfe zufällig auf das Gesuchte, so könnte man es mangels eines Wissens von dem, was man sucht, nicht als solches identifizieren. 9 Diese epistemologischen Paradoxien setzen sich in Nicolaus Cusanus docta ignorantia, der gelehrten Unwissenheit, fort. Die epistemologischen Paradoxien leiten zur Gruppe der semantischen Paradoxien über, die mit semantischen Ausdrücken wie »ich sage«, »ich lüge«, »ist wahr« usw. operieren. Am berühmtesten ist die Lügnerparadoxie, die u. a. von Paulus im Titus-Brief 1,12 überliefert wird. Es heißt dort: »Es hat einer von ihnen [Kretern] gesagt, ihr eigener Prophet: Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche.« 10 Diese Paradoxie läßt sich auch auf die Kurzformel bringen: »Ein Kreter steht auf dem Marktplatz und sagt: Alle Kreter lügen.« Da die Aussage, daß alle Kreter lügen, auch auf den Aussagenden selbst zutrifft, besteht ihre Wahrheit darin, daß auch er lügt. Der Wahrheitsanspruch der Aussage besteht gerade in der Lüge. Lügt der Kreter, so sagt er die Wahrheit, sagt er die Wahrheit, so lügt er. Der Satz hat eine Vielzahl von Modifikationen erfahren, u. a. mittels der Formulierung »ich lüge«. Sage ich, wenn ich lüge und die Lüge auf mich beziehe, die Wahrheit oder die Falschheit? Oder »dieser Satz ist falsch (nicht wahr)«, ist er dann wahr oder falsch? Oder »der links- bzw. rückseitig geschriebene Satz besagt, daß der rechts bzw. vorderseitig geschriebene Satz falsch sei, dieser aber besagt, daß der andere wahr sei«. Ist der erste Satz, der den zweiten Satz als falsch qualifiziert, richtig, so ist der zweite Satz falsch. Wenn der zweite Satz falsch ist, ist auch der erste falsch. Wenn aber der erste falsch ist, dann ist der zweite wahr, und dann ist auch der erste Satz wahr. Jeder der Sätze ist gerade dann wahr, wenn er falsch ist, und dann falsch, wenn er wahr ist. 11 In die Kategorie der semantischen Paradoxien gehört auch die von Grelling 1908 formulierte Paradoxie des Heterologischen, die, obwohl sie sich explizit nur der Eigenschaftsworte und nicht semantischer Ausdrücke bedient, doch implizit solche enthält. In der SpraVgl. Platon: Menon 80 d f. Die Paradoxie ist auch von Eubulides ca. 350 v. Chr. überliefert, und auch unter dem Namen »Epimedes<< ist sie geläufig, mit dem offensichtlich ein Kreter bezeichnet wird. 11 Vgl. hierzu F. B. Simon: Paradoxien in der Psychologie, in: P. Geyer und R. Hagenbüchle (Hrsg.): Das Paradox, a. a.O. S. 71-88, bes. S. 75 f. 9
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ehe treten Ausdrücke auf, die orthologisch genau das sind, was sie ausdrücken. So ist das deutsche Wort »kurz« selbst kurz, das Wort »deutsch« selbst ein deutsches Wort, das Wort »mehrsilbig« selbst mehrsilbig usw. Derartige Ausdrücke heißen autologisch; des öfteren werden sie auch als »selbstdeskriptiv«, »selbstbezüglich« oder »selbstanwendbar« bezeichnet, so etwa von Tarski. Diejenigen Ausdrücke, die diese Eigenschaft nicht aufweisen, heißen »heterologisch« oder »nicht selbstbezüglich«, »nicht selbstanwendbar«. Es läßt sich nun fragen, ob das Wort »heterologisch« selbst heterologisch oder autologisch ist. Ist es heterologisch, d. h. von seiner Bedeutung verschieden, so ist es autologisch, und ist es autologisch, d. h. mit seiner Bedeutung gleich, so ist es heterologisch. Ausführlicher formuliert: Ist »heterologisch« selbst heterologisch, kommt ihm also die Bedeutung, die es aussagt, nämlich verschieden von sich zu sein, nicht zu, so ist es im Widerspruch zu sich gerade autologisch. Es ist das, was es ausdrückt. Und ist »heterologisch« autologisch, derart, daß ihm seine eigene Bedeutung zukommt, so muß diese Prädikation als heterologisch bezeichnet werden. Aus der Psychiatrie ist das häufig zu beobachtende Schizophrenieparadox bekannt, das Gregory Bateson 12 als »Zwickmühle« oder »Doppelbindung« beschreibt, als Bindung an diverse Ebenen und als Unmöglichkeit, Identität bei Ebenenwechsel festzuhalten. Der Schizophrene steht im Konflikt mit zwei sich ausschließenden Mitteilungen, seiner eigenen subjektiven und der der Außenwelt. Welcher er auch folgt, welche er auch für wahr und verbindlich erachtet, er mißversteht sie. Die Folge ist, daß er nie widerlegt werden kann. Eine halluzinierte Stimme beispielsweise warnt den schizophrenen Patienten, daß die Menschen seiner Umwelt insgesamt gegen ihn verschworen seien, ihn also für verrückt hielten. Diese Halluzination kann der Psychiater nicht Lügen strafen; denn erklärt er, daß die Stimme ein Symptom der Krankheit sei, mithin eingebildet und unwahr, so bestätigt er nur die Befürchtung des Patienten, und gibt er der Stimme recht und anerkennt ihre Richtigkeit, so konzediert er, daß seine eigene psychiatrische Diagnose falsch ist. Ist die Aussage des Psych-
G. Bateson: Double bind, 1969, in: ders.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven (Titel der Originalausgabe: Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution and Epistemology; 1972), übersetzt von H.-G. Hall, Fankfurt a. M. 1981, S. 353361.
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iaters richtig, dann bestätigt er die Stimme- diese hat recht-, und ist die Aussage des Psychiaters falsch, dann hat die Stimme ebenfalls recht; die Stimme hat also immer recht. Dasselbe gilt für die Unbeweisbarkeit der Falschheit aller Wahn- und Traumphänomene. 13 In den Kontext semantischer Paradoxien gehört auch eine Reihe populärer Paradoxien wie das Krokodilparadox: Ein Krokodil hat einer Mutter das Kind geraubt und will es auf deren flehentliche Bitte nur dann zurückgeben, wenn die Mutter genau das prognostiziert, was das Krokodil tun wird. Andernfalls, wenn die Mutter die Prognose verfehlt, wird es das Kind verschlingen. Sagt nun die Mutter: Du wirst mir das Kind zurückgeben, so wird das Krokodil das Kind verschlingen, da die Prognose falsch ist und das Krokodil nicht die Absicht hat, das Kind zurückzugeben. Sagt die Mutter: Du wirst mir das Kind nicht zurückgeben, so ist die Prognose zwar richtig, aber das Krokodil wird genau das tun, was die Mutter vorausgesagt hat, nämlich das Kind verschlingen. Das Krokodil wird auf jeden Fall das Kind verschlingen. Oder das Drachenparadox: »Dein Leben ist verwirkt«, eröffnet der Drache dem Eindringling, »aber du hast wenigstens die Chance, deine Todesart selbst zu bestimmen. Sagst du richtig voraus, wie du stirbst, so wirst du erhängt, sagst du falsch voraus, so wirst du erdrosselt.« Sagt der Eindringling richtig voraus, entweder »ich werde erhängt« oder »ich werde erdrosselt«, so wird er auf jeden Fall erhängt, sagt er falsch voraus, entweder »ich werde erhängt« oder »ich werde erdrosselt«, so wird er auf jeden Fall erdrosselt. Oder das Gefangenenparadox, das Flood und Tucker 14 berichten und das in der Praxis nicht selten vorkommt und insbesondere in der Konfliktforschung diskutiert wird: Der Richter eröffnet zwei Gefangenen: Wenn keiner von euch beiden aussagt, dann bekommt jeder ein Jahr zur Strafe. Gesteht ihr aber beide, so bekommt jeder fünf Jahre, gesteht dagegen nur einer, so wird er freigesprochen, der andere bekommt zehn Jahre. Was wird jeder tun? Einerseits erscheint es jedem das beste, zu reden: Redet der andere auch, so bekommt er fünf Jahre, redet der andere nicht, so geht man frei aus, also reden beide. Aus der Antike ist ein sophistisches Argument bekannt, das un13 Vgl. R. Descartes: Meditationes de prima philosophia I Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Auf Grund der Ausgabe von Arthur Buchenau neu hrsg. von L. Gäbe, Harnburg 1959, S. 32f. I 33f. (Med.l, Nr. 5). 14 Vgl. G. Vollmer: Paradoxien und Antinomien, a. a. 0., S. 187.
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ter dem Namen »Euathlos« auftritt. Euathlos hat bei einem Sophisten Unterricht genommen und schließt mit diesem einen Kontrakt dahingehend, daß er beim Verlieren seines ersten Prozesses kein Schulgeld bezahlen muß, beim Gewinnen hingegen. Da Euathlos nach erfolgtem Unterricht aber keinen Prozeß führt, verklagt ihn der Sophist. Verliert nun Euathlos, d. h. verurteilt ihn das Gericht zur Zahlung, so muß er trotz anderslautenden Vertrags zahlen, gewinnt er aber, d. h. spricht ihn das Gericht von der Zahlung frei, so muß er ebenfalls laut Vertrag zahlen. - In der Neuzeit findet sich eine ähnliche Paradoxie, indem eine Firma jedem ihrer Angestellten eine Belohnung von zweihundert DM verspricht, wenn er einen Vorschlag zur Einsparung macht und dieser Vorschlag verwirklicht wird. Der Angestellte A schlägt vor, das Gehalt zu halbieren. Muß ihm nun die Firma Belohnung zahlen oder das Gehalt halbieren? Ein besonderes Interesse zieht die Gruppe der mengentheoretischen Paradoxien auf sich, die sich quantitativer Argumente bedienen. Bekannt sind sie bereits in der Antike, wo z. B. in Platons Charmides15 vom Großen die Rede ist, das größer ist als alles Große und als es selbst und damit auch kleiner als es selbst, oder vom Schweren, das schwerer ist als alles Schwere und als es selbst und damit auch leichter als es selbst, oder in Platons Parmenides 16, wo in zeitlicher Einkleidung das behandelt wird, was älter ist als es selbst und damit auch jünger als es selbst und so auch gleichalt mit sich selbst. Doch erst seit Ende des letzten Jahrhunderts und Beginn dieses Jahrhunderts sind diese Paradoxien zum präfederten Untersuchungsgegenstand geworden. Als Cantor 1895 auf die mengentheoretischen Paradoxien aufmerksam wurde, beunruhigten sie ihn noch nicht sonderlich; dasselbe gilt für Burali-Forti, der sie 1897 unabhängig entdeckte. Erst als Russell 1902 in einem Brief an Frege nach dessen Präzisierung der Prinzipien der klassischen Logik auf das Problem hinwies und es exakt als Frage nach der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, artikulierte, löste dies eine Krise und Revolution in der Mathematik und Logik aus, wie sie tiefgreifender nicht gedacht werden kann und die Infragestellung des klassischen Konzepts einer zweiwertigen Logik nach sich zog. Cantars Problem läßt sich so formulieren: Bilde die Menge aller Mengen, die »Allmenge« MM, dann 15
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Platon: Charmides 168 b ff. Platon: Parmenides 151 eff. Vgl. auch S. 128ff. dieser Arbeit.
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gilt für die Mächtigkeit der dazugehörigen Potenzmenge P (MM): P (MM) = 2 MM > MM. Da MM alle Mengen enthält, muß sie auch P (MM) und alle Elemente davon enthalten, also gilt auch P (MM) < MM im Widerspruch zu P (MM) > MM. Russells berühmte Formulierung der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, hat die Form MR E MR +-+ MR f; MR. Ist R die Menge aller jener Mengen, die nicht Element ihrer selbst sind, so gilt, was immer X sein mag: »X ist ein R« verhält sich äquivalent zu »X ist nicht ein X«. Gibt man X den Wert R, so gilt »R ist ein R« ist äquivalent mit »Rist nicht ein R«.- Dasselbe läßt sich auch für Kardinal-, Ordinalzahlen und abstrakte Begriffe formulieren: Bilde die Menge aller Kardinalzahlen MK (Ordinalzahlen, abstrakten Begriffe), dann gibt es eine Kardinalzahl (Ordinalzahl, einen abstrakten Begriff), die größer ist als alle Kardinalzahlen (Ordinalzahlen, abstrakten Begriffe), also als sie selbst. Diese ist dann sowohl Kardinalzahl wie auch nicht Kardinalzahl (Gleiches gilt für die Ordinalzahl und den abstrakten Begriff), was ein Widerspruch ist. Eine populäre Einkleidung der Russellschen Paradoxie stellt der Dorfbarbier dar, der alle Männer des Dorfes rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert er sich selbst oder nicht? Auch der sogenannte Russellsche Katalog, der alle Kataloge verzeichnet, die sich nicht selbst verzeichnen, gehört hierher. Verzeichnet er sich nun selbst oder nicht? Zählen die vorgenannten Paradoxien zum Bereich der Logik und Mathematik, so werden neuerdings in der Biologie und Soziologie im Rahmen der Systemtheorie rekursive Vorgänge, sogenannte Schleifen, wie Selbstproduktion, Selbsterhaltung, Selbstregeneration, Selbstorganisation (Autopoiesis) als Vorgänge von paradoxaler Struktur erörtert. Es handelt sich um Vorgänge der Selbstbeziehung, selbst wenn sie temporal oder evolutionär sind. Paradoxien ergeben sich aufgrund der Überlegung, daß das selbstreferentielle System auf der Relation »System- Umwelt« basiert. So kann beispielsweise die Entstehung und Erhaltung einer Zelle als Ergebnis des Zellstoffwechsels angesehen werden, der seinerseits nur möglich ist, wenn die Zelle eine Einheit bildet und eine Grenze gegenüber der Umwelt hat und so überhaupt erst die Voraussetzung für den Stoffwechsel schafft. Anders gesagt, die Zellmembran muß gleicherweise trennend wie durchlässig sein, trennend, wenn sie durchlässig für Nahrung, Materie-, Energieaustausch, Information sein soll, durchlässig, wenn sie ihre Abgrenzung als geschlossenes System beibehalten will. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Dasselbe läßt sich deutlicher noch über die Selbstbezüglichkeit artikulieren, für die das Selbstbewußtsein innerhalb der Bewußtseinstheorie das Paradigma bildet. Selbstbewußtsein ist die Beziehung des Bewußtseins auf ein Objekt, welches in diesem signifikanten Fall das Bewußtsein selbst ist, so daß die Selbstbeziehung die Objekt- oder Fremdbeziehung einschließt. Selbstbeziehung ist Selbstbeziehung und Fremdbeziehung in einem. Wenn immer dieses Selbstbewußtsein sich selbst thematisieren will, muß es einen Standpunkt außerhalb seiner einnehmen, zwischen dem und dem thematisierten Objekt sich eine Objekt- oder Fremdbeziehung herstellt, die in die Selbstbeziehung eingeholt werden muß im Widerspruch zu sich, und so in einem infiniten Regreß, genauer einem externen infiniten Regreß. Außer der Gedankenfigur der Einheit von Selbst- und Fremdbeziehung bedient sich die Beschreibung des Selbstbewußtseins der Konstruktion einer Identität aus Identität und Differenz. Die Umkehrung dieser Regelsehen Formel zu der von Differenz aus Identität und Differenz hat Luhmann 17 in der Systemtheorie vorgenommen, indem er die Differenzstruktur »System- Umwelt« auf das System selbst anwendet und dieses zur Umwelt erklärt, bezüglich deren sich wieder ein System konstituiert. Auf diese Weise gelangt er zu einem internen Regreß, bei dem das Paradox ein inhärentes Moment der Systemtheorie ist. Die Beispiele für Paradoxien lassen sich vermehren. 18 Während Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1987, 2. Auf!. 1988, bes. S. 593 ff.; ders.: Paradigmenwechsel in der Systemtheorie. Ein Paradigma für Fortschritt?, in: R. Herzog und R. Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12), München 1987, S. 305-322. 18 Außer den bisher genannten Paradoxien werden häufig Phänomene aufgeführt, die teils dem Wahrnehmungsbereich, teils dem religiösen, teils dem rhetorisch-stilistischen angehören. Obwohl auch sie oft als Paradoxe angesprochen werden: als Wahrnehmungsparadoxe, religiöse, stilistische Paradoxe und mit Widerspruchsstrukturen operieren, stellen sie doch nur uneigentliche Paradoxe dar, da sie bei genauerer Untersuchung nicht die typischen Merkmale echter Paradoxien aufweisen wie z. B. Selbstbezüglichkeit. Oft enthalten sie nur eine äußerliche Zusammenstellung von Widersprüchlichem wie das Oxymoron »bitter-süße Liebe« oder überraschende Pointierungen wie Schillers Worte des Konfuzius: »Nur Beharrung führt zum Ziel, Nur die Fülle führt zur Klarheit Und im Abgrund wohnt die Wahrheit« (F. Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert in Verbindung mit H. Stubenrauch, 5 Bde., München 1958-1959, Bd. 1,
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es sich bei den bisher aufgeführten Fällen teils um solche handelt, die zwischen Anschauung und Verstand spielen, teils um rationale mit den Untergruppen der logisch-mathematischen bzw. mengentheoretischen und der semantischen Paradoxien, gibt es noch eine dritte Gruppe, die sich jedoch erst später bei der Selbstanwendung der Paradoxien erklären und beschreiben läßt, die der Metaparadoxien, die die Beziehung zwischen Verstand und unvordenklichem Grund betreffen. Das Einteilungsprinzip für diese drei Gruppen ergibt sich bei allen aus der spannungsreichen Beziehung zwischen begrenzender Ratio (Verstand) und unbegrenztem Untergrund, mag er sinnlich als Anschauung oder übersinnlich als unvordenklicher Grund auftreten. Die Grenze zwischen Vernunft und dem Anderen der Vernunft wird hier in die Operation einbezogen.
3. Struktur und Mechanismus der Paradoxien
So umfangreich und vielfältig die Forschungsliteratur zum Paradoxienproblem in diesem Jahrhundert aufgrund der Grundlagenkrise der Logik und Mathematik auch sein mag, so muß doch registriert werden, daß die meisten Untersuchungen der Sammlung und Sichtung der Paradoxien auf den verschiedensten Gebieten sowie dem Versuch ihrer »Lösung« dienen, nicht jedoch der Analyse ihrer Struktur und der Erörterung des Mechanismus ihres Zustandekommens, obwohl man meinen sollte, daß dies die Voraussetzung zur Lösung sei. 19 Die Freilegung von Struktur und Mechanismus der PaS. 227), oder sie bilden die anschaulich-emotionale Grundlage für Widerspruch wie doppeldeutige Phänomene, Kippfiguren, Vexierspiele, religiöse Phänomene. Hier können sie außer acht bleiben. Zum Teil finden sie ihre Erörterung unter dem analogischen Rationalitätstypus, vgl. S. 229 f. dieser Arbeit. Eine Übersicht über die eigentlichen Paradoxien liefert M. Pirie: The Book of Fallacy: A Training Manual for Intellectual Subversives, London 1985; G. Vollmer: Paradoxien und Antinomien. Stolpersteine auf dem Weg zur Wahrheit, in: P. Geyer und R. Hagenbüchle (Hrsg.): Das Paradox, a.a.O., 5.159-189, bes. 5.173ff.; R. Hagenbüchle: Was heißt »paradox«? Eine Standortbestimmung, in: P. Geyer und R. Hagenbüchle (Hrsg.): Das Paradox, a.a. 0., S. 27-43. 19 Ausnahmen stellen die Arbeit von R. Heiß über den Mechanismus der Paradoxienbildung (Der Mechanismus der Paradoxien und das Gesetz der Paradoxienbildung, in: Philosophischer Anzeiger, Bd. 2 [1927/28], S. 403-433) und die Arbeiten von D. Henrich über die Negation der Negation bei Hege! dar: Formen der Negation in Hegels Vernunft und das Andere der Vernunft
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radoxienbildung muß daher vordringliche Aufgabe sein, wenn die Frage entschieden werden soll, ob Paradoxien vermeidbar oder unvermeidbar seien und ob sie die Grundoperation von Dialektik überhaupt bilden. (1.) Die Paradoxie bezieht sich stets auf ein Totalitätsphänomen und kommt zustande, wenn eine Ganzheitsaussage bezüglich eines bestimmten Bereichs artikuliert wird. Dies gilt gleicherweise für den anschaulichen wie für den begrifflichen Bereich, unangesehen, wie groß derselbe ist. Als Paradigmen gelten daher vorzüglich die quantitativen Paradoxien von der Art der mengentheoretischen oder der Größenaussagen, die entweder in rein arithmetischer oder geometrischer Form als Allaussagen vorkommen und eine Aussage über den gewählten Gesamtbereich machen. Auch wenn Paradoxien nicht rein mathematisch formuliert werden, sondern in anderer Gestalt auftreten, bedienen sie sich oft der Allaussage und lassen bereits durch die Formulierung ihren Anspruch auf den Gesamtbereich erkennen, wie z. B. der Allsatz »alle Kreter lügen«. Dabei ist es gleichgültig, ob der Totalitätsanspruch durch ein Allurteil oder durch ein singuläres Urteil ausgedrückt wird. Entweder füllen alle Aussagensubjekte zusammen die Sphäre (Menge, Klasse) oder bereits ein einziges. 20 Daher wird das Lügner-Paradox einfachheitshalber oft formuliert: »ich lüge« oder »dieser Satz ist falsch (nicht wahr)«, »der Satz auf der Rückseite qualifiziert den Satz auf der Vorderseite als falsch, dieser qualifiziert jenen als richtig«. Hier erfolgt die Formulierung mittels eines Personalpronomens der ersten Person singularis oder eines Demonstrativpronomens (»dieser«) oder einer spezifizierenden Angabe (»der Satz auf der Rückseite - der Satz auf der Vorderseite«), die als indexikalische Wörter ein Logik, in: Hegel-]ahrbuch 1974, S. 245-256 (Nachdruck in: R.-P. Horstmann [Hrsg.]: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, 2. Auf!. Frankfurt a. M. 1989, S. 213229); ders.: Substantivierte und doppelte Negation, in: H. Weinrich (Hrsg.): Positionen der Negativität (Poetik und Hermeneutik, Bd. 6), München 1975, S. 481-487; ders.: Hegels Grundoperation. Eine Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, in: Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für W. Marx, Harnburg 1976, S. 208-230. Heide sind jedoch unzureichend, indem Heiß nur Paradoxientypen behandelt, die auf Negation basieren, und Henrich mit der doppelten absoluten Negation nur bei Aussagen auf aussagenlogischer Ebene bleibt. Eine exzellente, hochsubtile Arbeit über das Paradox hat M. Bachmann: Die Antinomie logischer Grundsätze. Ein Beitrag zum Verhältnis von Axiomatik und Dialektik, Bonn 1998, vorgelegt. 20 Wenn Kant transzendentalphilosophisch zwischen iudicium universale und iudicium singulare unterscheidet, so fallen doch formallogisch beide zusammen.
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ganz bestimmtes Subjekt bezeichnen, das die intendierte Gesamtsphäre ausmacht. Außer den expliziten Totalitätsaussagen mittels All- oder Einzelurteilen begegnen implizite Totalitätsaussagen, bei denen gleichwohl der Totalitätscharakter durchscheint, sei es über eine Bedingung, einen Vertrag, eine Abmachung oder Absprache, die den Rahmen abstecken. Im Falle von Euathlus ist es der Vertrag, der für alle stattfindenden Gerichtsverhandlungen einschließlich der zwischen Euathlus und dem Sophisten gilt, im Falle des Krokodils ist es die Forderung nach allen richtigen Prognosen, im Falle des Gefangenenparadoxes die Absprache des Staatsanwaltes, die alle möglichen Alternativen umfaßt. Selbst wenn eine solche rahmenabsteckende Bedingung nicht expressis verbis formuliert ist wie bei qualitativen, epistemologischen, bewußtseinstheoretischen und anderen Paradoxien, ist sie latent vorhanden und kann leicht ins Bewußtsein gehoben werden. Die Grellingsche Paradoxie des Heterologischen meint die Gesamtsphäre des Heterologischen, die durch den Begriff benannt wird, die Paradoxie des Wissens des Nichtwissens bezeichnet den gesamten Bereich des Wißbaren, der in Abgrenzung vom Nichtwißbaren die Grenze zu diesem bereits überstiegen hat und insofern auch dieses einschließt. (2.) Die dem Paradox zugrundeliegende explizite oder implizite Totalitätsaussage ist mit einem Selbstbezug verbunden, sei es in Form einer Selbstimplikation, Selbstprädikation, Selbstaussage, eines Selbstbewußtseins u. ä. Wenn alle möglichen Fälle einer Sphäre angesprochen sind, so daß nichts ausgeschlossen bleibt, zu dem noch eine Beziehung hergestellt werden könnte, stellt sich notwendig ein Selbstbezug ein. Wenn die Aussage ausnahmslos für alle Subjekte der Sphäre gilt bzw. für das eine einzige, das die Gesamtsphäre konstituiert, so bezieht sich die Aussage auf sich selbst. Mengentheoretisch läßt sich der Sachverhalt so ausdrücken, daß die Allmenge Element ihrer selbst ist, sich selbst mit einschließt. Analog gilt für die anderen in Allsatzform formulierten Paradoxien wie »alle Kreter lügen«, daß die Aussage der Lüge auch auf den Aussagenden selbst zutrifft und diesen mit umfaßt. Bei der Größenparadoxie bezeichnet das, was größer ist als alles Große, nicht nur das Ganze, sondern schließt sich selbst als Teil ein. Kann wie bei singulären Aussagen nicht mit der Struktur »Menge/Element«, »Klasse/Einzelfall«, »Ganzes/Teil« operiert werden, so muß der Unterschied an der singulären Aussage selbst festVernunft und das Andere der Vernunft
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gemacht werden, sei es als Unterschied zwischen Aussageform und Aussageinhalt, Subjekt und Prädikat, Selbstbezug und Fremdbezug oder ähnlichem. So resultiert die Paradoxie des Heterologischen daraus, daß das Heterologisch-Sein nicht nur von allen konkreten Einzelfällen, die unter diesen Begriff fallen, gilt, sondern vom Begriff »heterologisch« selbst: Das Heterologische selbst ist heterologisch. Dadurch daß seine Bedeutung auf es selbst zutrifft, ist es ein Fall seiner selbst: Es ist das, was es ausdrückt. Wie im Hegeischen spekulativen Satz fungiert hier das Prädikat als Subjekt und das Subjekt als Prädikat, indem beide ihre Stellen vertauschen. Und in dem Paradox »dieser Satz ist falsch« ist es das qualifizierende Satzprädikat »ist falsch«, das auf das Satzsubjekt »dieser (falsche) Satz« appliziert wird und es zum Anwendungsfall seiner selbst macht. (3.) Die Tatsache, daß Allaussagen bzw. ihre Synonyme (Einzelaussagen, Ganzheitsaussagen) stets Indiz von Selbstbezüglichkeit sind und umgekehrt Selbstbezüglichkeit Indiz von Allaussagen ist, beide sich also wechselseitig implizieren, weist sie als konstitutive Momente der Paradoxie aus. Sie sind aber nicht die einzigen; zu ihnen gehören weitere an der Wechselimplikation beteiligte äquivalente Ausdrücke wie Einheit, Identität, Gleichheit mit sich, Ruhe, auf bewußtseinstheoretischer Ebene Selbstbewußtsein usw.; denn das Ganze ist stets auch eines (Alleinheit), sich selbst gleich, mit sich identisch, in sich ruhend, sich seiner selbst bewußt usw. So kann die Allbewegung selbst nicht bewegt sein, sondern muß in sich verharren, also ruhen, oder absolute Vielheit muß als Totalität stets auch eines sein. Es gibt eine unbestimmte Anzahl positiver Begriffe, die aufgrundihrer Wechselimplikation explizit oder implizit an der Paradoxienbildung beteiligt sind und an die Reihe positiver Ideen in Platons OUflJtAO%~ 'tWV yevwv oder an das jeweils erste Triadenglied in Hegels spekulativer Dialektik erinnern und damit zugleich einen Hinweis auf die Nähe der Paradoxien zur Dialektik geben. (4.) Auffallend an den Paradoxiebeispielen ist neben der Verwendung positiver Momente die Formulierung mit Negationen wie Lüge, Unwahrheit - auch Wahn, Halluzination, Einbildung, Traum usw. gehören hierher-, »ist falsch«, »ist nicht wahr« usw. Dies hat nicht selten zu der Meinung geführt, daß Allform bzw. Selbstbezüglichkeit und Negation die konstitutiven Momente der Paradoxiebildung seien. 21 Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Sieht man genauer 21
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Vgl. R. Heiß: Der Mechanismus der Paradoxien und das Gesetz der Paradoxienbil-
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Der metaparadoxale Rationalitätstypus
hin, so gelten Negationen (Verneinungen) in sensu stricto nur von aussagenlogisch formulierten Paradoxien wie »ich weiß, daß ich nichts weiß«, »ich weiß, daß ich wahnsinnig bin (nicht normal bin)«, »alle Kreter lügen (sagen nicht die Wahrheit)«, »dieser Satz ist falsch (ist nicht wahr)«. Auf begriffslogischer Ebene entsprechen der Negation (dem negativen Satz) negationshaltige Ausdrücke, genauer Differenzbegriffe. Verständlich machen läßt sich dies anhand der mengentheoretischen Paradoxien, die mit »sich selbst nicht enthaltend« formuliert werden, oder anhand der Paradoxien mit der Formulierung »auf sich selbst nicht anwendbar«= »imprädikabel« oder anhand der Paradoxie des Heterologischen, die das ausdrückt, was »mit sich selbst nicht zusammenstimmt«. Diese negativen Konstruktionen lassen sich auch mit »auf anderes bezüglich«, »fremdbezüglich« wiedergeben, denen die Vorstellung einer Relation mit zwei differenten Relata zugrunde liegt. Das, was nicht sich selbst enthält, was nicht auf sich selbst anwendbar ist, was nicht mit sich selbst zusammenstimmt, enthält anderes, ist auf anderes applikabel, stimmt mit anderem zusammen, kurzum, ihm liegt die Beziehung auf anderes zugrunde, die vom Differenzbegriff Gebrauch macht. Was der Differenzbegriff und seine Synonyme: Andersheit, Verschiedenheit für den qualitativen Bereich bedeuten, bedeutet Vielheit für den quantitativen, Bewegung, Veränderung für den relationalen, Nichtwissen für den bewußtseinstheoretischen usw. Mit dieser Austauschbarkeit und Wechselimplikation operiert z. B. die Paradoxie der Allbewegung und Allveränderung, deren »Immer-in-anderem-Sein« und insofern »lmmer-Anderssein«, d.h. »sich im Übergang von einem zum anderen Befinden«, Vielheit voraussetzt. Der Reihe positiver Begriffe steht eine ebensolche negativer gegenüber: Vielheit im quantitativen Bereich, Verschiedenheit (Andersheit) im qualitativen, Bewegung, Veränderung, Fremdbeziehung im relationalen, Nichtbewußtsein im bewußtseinstheoretischen und Negation im aussagenlogischen-was wiederum auf die Reihe analoger, austauschbarer antithetischer Begriffe in Platons und Hegels Dialektik deutet. (5.) Konstitutiv für Paradoxien ist der Gegensatz: auf aussagen-
dung, a. a. 0., S. 410, 412, 416f.; G. Vollmer: Paradoxien undAntinomien, a. a. 0.,
s. 171.
Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
theoretischer Ebene von positiven und negativen Sätzen, auf begriffstheoretischer von positiven und negativen Begriffen. Das Entscheidende ist jedoch nicht die Gegensätzlichkeit als solche; denn diese führt auch zur Logik des Entweder-oder, wie sie in der klassischen, auf den Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten basierenden dihairetischen Logik vorliegt. Da sich die Gegensatzglieder A und B das Ganze teilen, gilt dort: wenn A, dann nicht B, wenn B, dann nicht A. Im Falle der Paradoxien tritt jedoch eine Verschärfung des Gegensatzes zum Widerspruch ein. Dadurch daß jedes der beiden Gegensatzglieder Anspruch auf das Ganze erhebt, das Ganze sowohl A wie B (non A) ist, kommt es zu einem manifesten Widerspruch, der eine Logik des Sowohl-als-auch begründet. Während in der klassischen Logikjeder Satz mit dem Wahrheitswert 0 oder 1 (richtig oder falsch) versehen werden kann, was eine zweiwertige Logik zur Folge hat, die ein Drittes ausschließt, läßt sich in der paradoxalen Logik jede Bestimmung, jeder Satz zugleich als wahr wie als falsch qualifizieren. Das Resultat ist eine dreiwertige Logik. (6.) Die Explikation des Selbstwiderspruchs, der in der Gleichursprünglichkeit inkompatibler Bestimmungen besteht, läßt sich auf zweierlei Weise denken, entweder von einem externen oder einem internen Standpunkt aus, was eine Assoziation an Hegels Unterscheidung von äußerer und innerer Reflexion nahelegt. Im ersten Fall erfolgt die Explikation in Form eines alternierenden Perspektivenwechsels, indem jedes der beiden Glieder nacheinander auf seine Geltung hin überprüft wird. Paradoxien wie das »Krokodil«, der »Drache« oder das »Gefangenen-Dilemma« legen die Alternation nahe, indem sie erörtern, was folgt, wenn z. B. die Mutter die richtige Prognose macht, und was, wenn sie die falsche macht, oder was geschieht, wenn der eine Gefangene spricht, und was, wenn beide sprechen oder beide schweigen. Die alternative Behandlung sei am Beispiel des Lügners exemplifiziert. Der Satz »alle Kreter lügen« besteht aus dem positiven Element der Satzform, gleich welchen Inhalt diese hat, und dem negativen des Satzinhalts, der Lüge: - Ist der Satzinhalt, daß alle lügen, wahr, so ist die Satzform als solche falsch. - Ist der Satzinhalt, daß alle lügen, falsch, so ist die Satzform als solche wahr. - Ist die Satzform als solche wahr, so ist der Inhalt, die Lüge, falsch. 186
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- Ist die Satzform als solche falsch, so ist der Inhalt, die Lüge, wahr. Satzinhalt wie Satzform sind gleicherweise wahr wie falsch. Oder nehmen wir das mengentheoretische Paradox, das sich aus der positiven Allmenge und der negativen Prädikation »sich selbst nicht enthaltend« zusammensetzt: - Ist das Prädikat »sich selbst nicht enthaltend« wahr und damit die Verifikation einer Menge, die sich selbst nicht enthält, gegeben, so ist die Behauptung der Allmenge falsch. - Ist das Prädikat »sich selbst nicht enthaltend« falsch, d. h. besteht eine solche Menge nicht, so ist die Behauptung der Allmenge wahr. - Ist die Behauptung der Allmenge wahr, so ist das Prädikat »sich selbst nicht enthaltend« falsch. - Ist die Behauptung der Allmenge falsch, so ist das Prädikat »sich selbst nicht enthaltend« wahr. Auch hier sind Prädikat wie Allmenge gleicherweise wahr wie falsch. Ebenso läßt sich die Heterologie-Paradoxie konstruieren, die aus dem positiven Element, dem Subjekt »heterologisch«, besteht, das als solches, d. h. als noch nicht qualifiziertes autologisch ist, desgleichen aus dem negativen Element, dem Prädikat »heterologisch<<: - Ist das Prädikat »heterologisch«, ausgesagt vom an sich autologischen Subjekt, wahr, dann ist das Subjekt falsch. - Ist das Prädikat »heterologisch«, ausgesagt vom an sich autologischen Subjekt, falsch, dann ist das Subjekt wahr. - Ist das an sich autologische Subjekt in bezugauf das Prädikat »heterologisch« wahr, dann ist das Prädikat falsch. - Ist das an sich autologische Subjekt in bezugauf das Prädikat »heterologisch« falsch, dann ist das Prädikat wahr. Auch hier gelten Wahrheit und Falschheit sowohl in bezugauf Prädikat wie Subjekt. Die gleichzeitige Qualifikation von wahr wie falsch läßt sich nur verstehen, wenn man berücksichtigt, daß beide das Ganze konstituierenden Gegensatzglieder das jeweilige Pendant implizieren: A ist dann sowohl A wie non A =Bund B sowohl B wie non B = A; jedes Moment stellt selbst die ganze Totalität dar. Da jedes der beiden Momente wahr wie falsch ist, gilt dies auch vom Ganzen. Die Unausgezeichnetheit beider Seiten ermöglicht den alternativen Perspektivenwechsel bei der Explikation. (7.) Eine besondere Faszination übt nicht so sehr die äußere Paradoxienexplikation aus als vielmehr der innere Automatismus, der zu einer Selbstabspulung der Paradoxien führt. Als Triebfeder der Vernunft und das Andere der Vernunft
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Dynamik gilt die Negation, die im Rahmen der Selbstbezüglichkeit als selbstbezügliche Negation auftritt. Erinnert sei an Hegels Ausspruch von der »ungeheuren Macht des Negativen« 22 in bezug auf die Dialektik. Bezieht sich die einfache Negation auf einen positiven Satz, so bezieht sich die doppelte selbstbezügliche Negation auf den vorangehenden negativen Satz als auf den selbsteigenen. Indem die Negation sich, die Negation, negiert, d. h. eliminiert, führt sie zum Positiven zurück, so daß sich die Schrittfolge ergibt: Position, einfache Negation, Negation der Negation, Position. Damit schließt sich der Kreis, der Prozeß kann erneut beginnen. Die neue Abfolge läßt sich dann entweder als Zirkel oder als Spirale in progressiver oder regressiver Form lesen, die, auf der vorausgehenden Gedankenkonstruktion basierend, diese impliziert und weiterbestimmt. Im Unterschied zur Zickzackbewegung der äußeren Reflexion führt die innere Motorik zu einem einsinnig gerichteten redundanten Prozeß, der beliebig in derselben Richtung iteriert werden kann. Das schließt nicht aus, daß er nach zwei Seiten hin lesbar ist, sowohl vorwärts als Progreß wie rückwärts als Regreß. Für die Konstruktion der aus der selbstbezüglichen Negation hervorgehenden Position pflegt man, wie schon erwähnt23, die grammatikalische Regel duplex negatio est affirmatio heranzuziehen. Der Hinweis auf die bloße Grammatik genügt jedoch nicht, da doppelte Negation in manchen Sprachen auch nur verstärkend wirkt. Hinzukommen muß eine bestimmte Ontologie, die von der Geschlossenheit des Seienden ausgeht, welche hier durch die Selbstbezüglichkeit garantiert ist, und bei Explikation zum In-sichKreisen führt. Angewandt auf das Lügnerparadox »ich lüge«, nimmt dies folgende Gestalt an: Im fraglichen Satz ist bereits eine positive Aussage »ich sage die Wahrheit« in den negativen Satz »ich sage nicht die Wahrheit«= »ich lüge« verkehrt. Da sich der Aussageinhalt auch auf die Aussageform bezieht, die Lüge sich selbst lügen straft oder, anders ausgedrückt, die Negation auf sich selbst zutrifft, bedeutet der Satz »ich sage nicht nicht die Wahrheit« die Aufhebung der Negation, die zum positiven Satz zurückführt »ich sage die Wahrheit«. :J
G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bden. und 1 Reg.-Bd. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, Bd. 3, S. 36. 23 Vgl. S. 149 f. dieser Arbeit. 22
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Die Operation der selbstbezüglichen Negation ist freilich nicht, wie man bisher einhellig gemeint hat24 , der einzige und ausschließliche Mechanismus für die Paradoxienbildung. Sie beschränkt sich auf den aussagenlogischen Bereich, während im begriffslogischen Konstruktionen wie Andersheit der Andersheit, Verschiedenheit der Verschiedenheit, Differenz der Differenz (Differenz zur Differenz), Wandel des Wandels, Vermittlung der Vermittlung, Gegenteil zum Gegenteil, Fremdbezug zum Fremdbezug usw. diese Rolle übernehmen, die zu Selbigkeit, Gleichheit mit sich, Identität, Unveränderung, Unmittelbarkeit, Selbstbezug usw. zurückführen. Auf beiden Ebenen geht es um ein Abstandnehmen von sich selbst, von einem »sich«, das selbst schon Abstandnahme ist, mag dies Selbstspaltung, Selbstteilung, Selbstdifferenzierung, Selbstdistanzierung oder, hegelisch, Abstoßen von sich genannt werden. Deutlich wird dies am Beispiel des Heterologischen: Das zu sich selbst Heterologische ist das Autologische. Oder am Beispiel der sich selbst nicht enthaltenden (=fremdbezüglichen) Allmenge: Die Fremdbezüglichkeit zur Fremdbezüglichkeit dieser Menge ergibt die Selbstbezüglichkeit der Menge. (8.) Aufgrund der bisher genannten Bildungsgesetze, die in der selbstbezüglichen Negation kulminieren, könnte sich nun die Meinung nahelegen, als gäbe es nur negativ formulierte Paradoxien und nicht auch positive; denn ein dem Lügnerparadox analog formulierter positiver Satz wie »alles, was ich sage, ist wahr«, der wie die negative Version das Moment der Allheit bzw. des Selbstbezugs impliziert, im Unterschied dazu aber das Moment der Position, führt nur zu einer iterierten Selbstbestätigung, indem das Prädikat »ist wahr« den Aussageinhalt »alles, was ich sage« bestätigt. Der Inhalt wiederum bestätigt das Prädikat, dieses den Inhalt usw., ohne daß eine Paradoxiebildung ersichtlich ist. Genauer besehen aber setzt die Selbstbestätigung eine Relation zweier differenter Relata, des Prädikats und des Aussageinhalts, voraus, die nicht nur verschieden, sondern auch inkompatibel sind und sich wechselseitig ausschließen. Denn qualifiziert das Prädikat den gesamten Inhalt als wahr, sich selbst eingeschlossen, so ist es als qualifizierendes Prädikat selbst von der Qualifikation »wahr« ausgenommen, kann also selbst nicht als wahr bezeichnet werden. Und ist es selbst nicht wahr, schließt es sich selbst Vgl. R. Heiß: Der Mechanismus der Paradoxien und das Gesetz der Paradoxienbildung, a.a.O., S. 411, 416f. D. Henrich: Formen der Negation in Hegels Logik, a.a.O., S. 248, 251, 254 f.; G. Vollrner: Paradoxien und Antinomien, a. a. 0., S. 171.
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also nicht ein, so qualifiziert es auch nicht den gesamten Inhalt, stellt also keine Allaussage dar, wie dies die Voraussetzung verlangte. Die Aussage ist also zugleich wahr wie nicht wahr (falsch). Zwar mag alles Ausgesagte und Auszusagende wahr sein, ob aber diese Aussage wahr ist, bleibt offen genau wie im Falle der Lüge, wo die Aussage »alles, was ich sage, ist gelogen« offen läßt, ob die Aussage selbst auch gelogen oder wahr ist. Wir haben es hier mit einer verdeckten Paradoxie im Unterschied zur offenen, negationstheoretisch formulierten zu tun, die aber genau wie diese auf gegensätzlichen, letztlich widersprüchlichen Momenten basiert: der Allaussage bzw. der Selbstbezüglichkeit und ihrer Synonyme einerseits, der Differenz- und Negationsbegriffe andererseits. Verdeutlichen wir uns dies anhand weiterer Beispiele: an der sich enthaltenden Allrnenge, die der sich nicht enthaltenden invers ist. Von der Menge aller Mengen, die sich selbst enthalten, gilt, daß sie sich nicht selbst enthält. Denn impliziert sie sich selbst, so ist sie keine umfassende, keine Allmenge mehr. Indern sie sich also impliziert, impliziert sie sich auch nicht. Und impliziert sie sich nicht, ist sie also eine wirklich umfassende Allrnenge, dann impliziert sie sich, anders gesagt, indem sie sich nicht impliziert, impliziert sie sich. Noch deutlicher läßt sich die paradoxale Struktur arn Selbstbewußtsein belegen, das geradezu als Paradigma der positiven Paradoxien gewertet werden kann. Selbstbewußtsein ist Bewußtsein von etwas, von einem Objekt, das hier jedoch mit dem Subjekt zusammenfällt. Das Objekt- oder Fremdbewußtsein ist in diesem signifikanten Fall zugleich Ich- oder Selbstbewußtsein. Da Selbst- und Fremdbewußtsein (Ich- und Objektbewußtsein) inkompatible Bestimmungen sind, gilt hier die paradoxale Konstruktion, daß Selbstbewußtsein Fremdbewußtsein impliziert und nur auf seiner Basis möglich ist. Ebenso gilt vorn totalen Frerndbewußtsein, welches nichts außer sich hat, zu dem es noch in Beziehung treten und von dem es ein Bewußtsein herstellen könnte, daß es mit dem Selbstbewußtsein zusammenfällt. Kurzum, Selbstbewußtsein ist Fremdbewußtsein und Fremdbewußtsein Selbstbewußtsein. Analog laufen die positiven Paradoxien von Einheit, Identität, Ruhe, Selbstbezug usw. Die These von der Einheit (vorn Einen) besagt, daß alles Eines ist, nicht nur alles Konkrete, sondern auch alle~ Begriffliche einschließlich des Begriffs »Einheit (Eines)«, so daß die~ ser zum Fall seiner selbst wird. Mit der Selbstprädikation, der Aus190
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sage des Einsseins vom Einen, ist schon nicht mehr nur Eines angenommen, sondern sind mindestens zwei Instanzen unterstellt, so daß gilt: Eines ist auch nicht Eines, sondern Vieles. Umgekehrt ist das Viele in seiner Totalität als All Eines und somit auch nicht Vieles. Ebenso wird Identität nicht nur von allem anderen ausgesagt, sondern auch von sich selbst. Indem das Prädikat »identisch« auf Identität selbst applikabel ist, setzt es Differenz voraus. Selbstidentifikation ist ohne Differenz nicht denkbar im Widerspruch zu sich. Umgekehrt ist totaler Differenzbezug, bei dem nichts Differentes mehr ausgeschlossen bleibt, nichts anderes als Gleichheit mit sich, ebenfalls im Widerspruch zu sich selbst. Wie Identität als Gleichheit mit sich auf der Differenz der sich gleichen Relata basiert oder, besser, diese impliziert, so impliziert der Differenzbegriff den Identitätsbegriff, indem die Beziehung auf anderes in seiner Gesamtheit Beziehung auf sich, Gleichheit mit sich, ist. (9.) Wie im Falle der negativen Konstruktion läßt sich auch bezüglich der positiven sowohl ein externer wie ein interner Standpunkt beziehen. Ersterer beruht auf einem Perspektivenwechsel und führt zu einer Zickzackbewegung von der Art: Eines, von sich prädiziert, ist nicht Eines, sondern Vieles - Vieles, in seiner Totalität genommen, ist Eines, oder umgekehrt. 25 Der interne Standpunkt hingegen hat einen einsinnig gerichteten Zirkel oder, bei Annahme von Stufen, eine einsinnig gerichtete Spirale zur Folge, die mit den Termini von Grund und Folge, Voraussetzung und Setzung u. ä. operiert: Eines, von sich prädiziert, ergibt Vieles; Vieles, bestehend aus Einem und Vielem, ergibt zusammengenommen in seiner Totalität Eines; Eines als Einheit von Einem und Vielem, welches letztere aus Einem und Vielem zusammengesetzt ist, wiederum von sich prädiziert, ergibt Vieles; Vieles, bestehend aus Einem und Vielem, deren Teile beide mehrfach gefüllt sind, ergibt zusammengenommen wieder Eines usw. Auch diese Konstruktion läßt sich sowohl im Ausgang vom positiven wie vom negativen Moment in gegensätzlichen Richtungen durchführen. Bezüglich des Selbstbewußtseins ist diese Operation schon des Vgl. Platons Parmenides. Dort begegnet auch eine Variante dieses Konstruktionsgesetzes mit ev-Ov statt mit EV-EV.
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öfteren in der Literatur aufgewiesen worden. 26 Sie macht von dem Argument Gebrauch, daß das Ich qua Subjekt (Selbstbezug) sich mit sich qua Objekt (Fremdbezug) nur dann identifizieren kann, wenn es entweder im Subjekt die ganze Relationseinheit aus Subjekt und Objekt (Selbstbezug und Fremdbezug) voraussetzt, die durch den Selbstbezug doch erst zustandekommen soll, von dem sich aber zeigt, daß derselbe nur möglich ist unter der Voraussetzung der gesamten Subjekt-Objekt-Einheit usw. Oder das Subjekt muß im Objekt die ganze Relationseinheit aus Subjekt und Objekt (Selbst- und Fremdbezug) vorfinden, die durch den Reflexionsbezug eigentlich erst erklärt werden soll. So stellt sich entweder auf seiten des Subjekts oder auf seiten des Objekts eine Iteration der Argumentation ein, die als Reflexionseinschachtelung oder Reflexionsaufstockung gelesen werden kann. Beruhte die Zickzackbewegung des externen Explikationsstandpunktes auf dem willkürlichen Akt des Perspektivenwechsels, so ist angesichts des internen Standpunktes nach der Notwendigkeit der einsinnig gerichteten Dynamik zu fragen, die ja nicht wie im Falle der negativen Konstruktion in einer selbstbezüglichen Negation bzw. Andersheit bestehen kann, d. h. im Gesetz des Abstoßens von sich, sondern umgekehrt im Gesetz des Zusammengehens mit sich, der Affirmation bzw. der ausdrücklichen positiven Bestimmung. Wenn in dem Beispiel »alles, was ich sage, ist wahr« das »ist wahr« den Satzinhalt »alles, was ich sage« qualifiziert, so liegt hier eine Affirmation, genauer, eine Selbstaffirmation vor; denn alles Ausgesagte ist als solches immer schon wahrhaft Behauptetes. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine »überflüssige« Redundanz, sondern um eine für die Paradoxienbildung notwendige, da sie Differenz und Negation zur Voraussetzung hat. Wie von der Bestimmung eines Etwas als Etwas der Ausschluß des Anderen, die Unterscheidung von ihm, gilt, so gilt auch von der Affirmation, daß mit ihr die Negation des Anderen verbunden ist. Im Falle der Selbstbestimmung Vgl. D. Henrich: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: R. Buhner, K. Cramer und R. Wiehl (Hrsg.): Hermeneutik und Dialelctilc. Aufsätze I. Methode und Wissenschaft, Lehenswelt und Geschichte. Festschrift für H.-G. Gadamer zum 70. Geburtstag, Tühingen 1970, S. 257-284, bes. S. 266 ff.; U. Pothast: Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Frankfurt a. M. 1971, S. 36 f.; K. Gloy: Studien zur theoretischen Philosophie Kants, Würzburg 1990, S. 154ff.; dies.: Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg, München 1998, S. 204ff.
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und Selbstaffirmation werden diese zum Selbstausschluß und zur Selbstnegation, mithin zur Selbstunterscheidung. Die Aufhebung der Negation in der Affirmation aber ist das Wiederzusammengehen der Differenten mit sich. Hier hat auch die Theorie des performativen Widerspruchs ihren systematischen Ort. Denn sie macht deutlich, daß die Notwendigkeit der Affirmation sich aus dem praktischen Vorhandensein eines Widerspruchs ergibt. Läßt sich die Operation auf aussagenlogischer Ebene mit Hilfe der Termini »Affirmation«, »Negation«, »Widerspruch« durchführen, so korrespondiert ihr auf begriffslogischer eine, die sich der Terminologie von Bestimmung, Ausschluß, Ausgrenzung usw. bedient. Zur Demonstration sei auf die Autologie-Paradoxie verwiesen: - Ausgehend von »autologisch«, wird die Selbstbestimmung, nämlich das Autologisch-Sein des Autologischen, zu heterologisch. - Von heterologisch »autologisch« prädiziert, führt zu heterologisch. - Von heterologisch »heterologisch« ausgesagt, führt zu autologisch zurück. Spätestens hier wird deutlich, daß sich positive und negative Paradoxien nicht essentiell, nur in der Schrittfolge unterscheiden. Denn geht man in diesem Beispiel umgekehrt vom Heterologischen der negativen Formulierung aus, so ergeben sich folgende Schritte: - Heterologisch in der Selbstanwendung als heterologisch bestimmt, ergibt autologisch. - Von autologisch »heterologisch« prädiziert, führt zu heterologisch. - Von heterologisch »heterologisch« prädiziert, führt zu autologisch. - Autologisch, in der Selbstanwendung als »autologisch« bestimmt, wird zu heterologisch usw. Die Argumentationsketten greifen ineinander, so daß der Ausgang schließlich gleichgültig ist. In der Konsequenz liegt auch, daß die Aussagen »alles, was ich sage, ist gelogen (nicht wahr)« und »alles, was ich sage, ist wahr« äquivalent sind, ebenso wie die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten und die sich selbst enthalten. Nach diesen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, daß die Paradoxie die Grundstruktur von Dialektik überhaupt ist und die verschiedenen Dialektikarten ermöglicht. Paradoxien treten auf aussagen- wie begriffslogischer Ebene auf, und zwar sowohl in negativer wie positiver Formulierung, als offenkundige wie als verdeckte ParaVernunft und das Andere der Vernunft
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doxien, wobei ihre Konstruktion beide Male sowohl von einem externen wie internen Explikationsstandpunkt aus erfolgen kann. Hat die äußere Explikation einen willkürlichen Perspektivenwechsel zur Folge, so ist die innere Explikation mit einer einsinnigen Dynamik verbunden, die sich im Falle der negativen Fassung aus dem Konstruktionsgesetz der selbstbezüglichen Negation bzw. Andersheit ergibt, im Falle der positiven Fassung aus dem Konstruktionsgesetz der fremdbezüglichen Affirmation bzw. Determination. Negative wie positive Fassung greifen ineinander aufgrund der Verschränktheit der widersprüchlichen Bestimmungen. Mittels dieser Konstruktionsgesetze lassen sich die diversen Formen von Dialektik erzeugen, und es fällt nicht schwer, sie historisch wiederzuerkennen. So gehört Platons Dialektiktypus grundsätzlich der äußeren Reflexion an. Er ist mit einem willkürlichen Perspektivenwechsel bezüglich der OlJf.l:rtAO%TJ 'tWV yEvGJv verbunden, indem er ebenso vom Einen ausgehen und zum Vielen übergehen kann wie umgekehrt vom Vielen und zum Einen gehen kann oder mit Identität beginnen und zu Differenz fortschreiten wie umgekehrt mit Differenz beginnen und zu Identität weitergehen, und so beliebig bei allen anderen generischen Bestimmungen. Im zweiten Teil des Parmenides-Dialogs hat Platon aufgrund des Ausgangs vom Einen ein Beispiel für eine positive Paradoxienkonstruktion geliefert. Unterdessen begegnet in Hegels Dialektiktypus der Standpunkt der inneren Reflexion oder Reflexion-in-sich mit dem Automatismus der Paradoxienbildung aufgrund des Konstruktionsgesetzes: Position- Negation- Negation der Negation- Position usw. Hieraus resultiert ein einsinniger Kreisgang, den Hegel in den drei, die Wissenschaft der Logik ausmachenden Logiken, der Seins-, der Reflexions- und der Begriffslogik wie auch in deren internen Triaden den diversen Ebenen anzupassen und zu modifizieren versucht hat. So läßt sich weder durchgängig die aussagenlogische Konstruktion auf der Basis selbstbezüglicher Negation noch ausschließlich die begriffslogische auf der Basis selbstbezüglicher Andersheit konstatieren, sondern jeweils modifizierte Formen. Während Hegel faktisch in der Wissenschaft der Logikaufgrund des Ausgangs von einer positiven Bestimmung, dem Sein, und des Übergangs zu einer negativen, dem Nichts, den Prozeß in einer bestimmten Richtung demonstriert, ließe sich ebensowohl die Konstruktion des Prozesses in der entgegengesetzten Richtung denken, indem wie in den östlichen Phi194
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losophien vom Nichts ausgegangen und zum Sein, zur Schöpfung, übergegangen würde. Angesichts dieser Konstruktionsmöglichkeiten ist die von Hegel beanspruchte Notwendigkeit und Stringenz des Explikationsganges zu relativieren. Da Paradoxien strengen Gesetzmäßigkeiten folgen, sind sie alles andere als Konfusionen, was ihnen häufig nachgesagt wird. Auch wenn aus dem Widerspruch Beliebiges folgt gemäß dem logischen Gesetz ex contradictione quodlibet sequitur, so geschieht dies doch stets aufgrund der Unterscheidung von Perspektiven.
4. Lösung der Paradoxien~
Paradoxien haben zu allen Zeiten das Denken beunruhigt und nach Lösungen gerufen. Zwar gibt es Denker und Epochen, die sich mit Vorliebe der Paradoxien als Denkfiguren bedienen. Gleichwohl werden sie als Gefahr empfunden, da sie die Grundlagen der formalen axiomatischen Logik mit ihrem Entweder-oder aus den Angeln zu heben drohen, indem sie gerade das dort ausgeschlossene Dritte, das Sowohl-als-auch, zulassen. Damit droht die Eindeutigkeit der Bestimmung, die Exaktheit der Grenzziehung, die Ordnung und Sicherheit, die die klassische Logik auszeichnet, verlorenzugehen. So alt daher die Bekanntschaft mit Paradoxien ist, so alt ist auch der Ruf nach ihrer Behebung. Zwei Lösungsstrategien sind ins Auge gefaßt worden, die zusammengehören und einander komplettieren: erstens eine negative, bestehend im Verbot der Paradoxienbildung sowie der Anwendung ihres Bildungsgesetzes, der Selbstbezüglichkeit, und zweitens eine positive, bestehend in der Differenzierung von Reflexionsstufen. Beide Strategien sind von Russell und Tarski vorgeschlagen worden, vom einen im Kontext mengentheoretischer Paradoxien, vom anderen im Kontext semantischer. Die übrigen Lösungsvorschläge sind Varianten dieser Grundmodelle. (1.) Aufgrund der Einsicht in die Selbstreferentialität paradoxaler Konstruktionen gelangt Russell zu der prophylaktischen Maßnahme des Verbots der Selbstanwendung und zum Postulat einer Hierarchie von Stufen oder Typen, so daß allenfalls eine Anwendung der höheren Stufe auf die niedere erlaubt ist, nicht aber eine Anwendung derselben Stufe auf sich. Russells Typentheorie unterscheidet Typus 0, bestehend aus Individuen, Typus 1, bestehend aus der Klasse Vernunft und das Andere der Vernunft
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der Individuen, und Typus m + 1, bestehend aus allen Klassen (der Klassen der Klassen ... von Individuen) vom Typus m. Für Russell resultieren Paradoxien aus vitiosen, imprädikativen Definitionen. Unter solchen versteht er Definitionen, bei denen ein Terminus nur durch die Gesamtheit, zu der er gehört, definierbar ist. »Hat eine gewisse Gesamtheit ein Ganzes (eine Totalität) nur unter der Bedingung, daß einige seiner Elemente einzig in Termini dieses Ganzen definierbar sind, dann hat die besagte Gesamtheit kein Ganzes.«27 Russell auferlegt daher Formeln von der Art x(m) E y(•l eine Bedeutungsbedingung: x(m) E y(•l ist bedeutungsvoll dann und nur dann, wenn für die Typen von x(m) und y(•l gilt: n = m + 1. Dies läßt sich auch so ausdrücken, daß eine Menge oder Klasse nicht Element ihrer selbst sein darf, sondern nur das einer höheren Menge oder Klasse. (2.) Die zweite Möglichkeit wird von Tarski mittels seiner Wahrheitskonvention ins Auge gefaßt. Auch Tarski glaubt an eine Auflösung der Paradoxien durch Ebenendifferenzierung innerhalb einer generativen Grammatik, eine Differenzierung nach Objekt, Meta-, Meta-Meta-Ebene usw. Damit ist der Unterschied zwischen Vollzugs- und Reflexionsebene, thematisierter und thematisierender Ebene angesprochen, deren erstere nur auf der nachfolgenden, höherstufigen Ebene thematisiert werden kann usw. Konkret versteht Tarski unter der Objektebene eine Sprache S, die die qualifizierenden Prädikate »wahr« und »falsch« nicht enthält. Diese gehören vielmehr der Metaebene an, so daß die Qualifikation eines Satzes aus S nur von dieser höheren Sprachebene aus erfolgen kann. . Tarski setzt dabei den Unterschied zwischen geschlossenen und offenen Sprachen voraus. Semantisch geschlossene sind solche, die außer ihren Termini und Sätzen auch Namen und Bestimmungen für diese Termini und Sätze enthalten, wie u. a. das Prädikat »wahr« und »falsch«, desgleichen Anwendungsregeln für deren angemessenen Gebrauch. Offen werden solche Sprachen genannt, bei denen dies nicht der Fall ist. Da geschlossene Sprachen für die Paradoxienbildung verantwortlich sind, kommen für die Meta-Stufen nur offene in Betracht. Prinzipiell stimmen Russells mengentheoretische und Tarskis semantische Lösungsstrategie überein, gelangen doch beide zu einem Verbot der Selbstanwendung und Geschlossenheit des Systems und der Forderung nach einer unbegrenzten Stufenhierarchie. 27
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Dann sind Sätze über alle Elemente dieses Ganzen unsinnig.
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Der metaparadoxale Rationalitätstypus
Lassen sich Paradoxien auf diese Weise wirklich vermeiden? Dies muß bezweifelt werden. Paradoxien kommen weder aus purer Lust am Widerspruch zustande noch durch Konfundierung der Hinsichten. Vielmehr erfolgen sie nach strengen Gesetzen und unter Beachtung verschiedener Hinsichten, sei es auf derselben oder auf unterschiedlichen Ebenen. Ein durchgängiges Verbot der Selbstanwendung läßt sich nicht aufrechterhalten, da es stets selbstbezügliche Phänomene gibt wie etwa die Sprache, die gleicherweise Expliziertes wie Medium der Explikation ist: Die Sprache spricht über sich selbst. Ähnliches gilt von allen Grundbegriffen, die nur durch sich selbst definierbar sind. Mögen auch Formalsprachen in der Absicht entworfen sein, über die Unterscheidung von Sprachstufen Präzision und Exaktheit zu erreichen, letztlich gründen auch sie in der Normalsprache, die gleichzeitig Subjekt und Objekt, Thematisierendes wie Thematisiertes ist. Angewandt auf die formale Logik, die ebenfalls ein letztes, universelles Grundphänomen zu sein beansprucht, zeigt sich auch bezüglich ihrer die Paradoxie von schrankenloser Geltung ihrer Gesetze und Selbstlegitimation, die nur über eine dialektische Logik erfolgen kann. Die Frage, ob für diese dasselbe gilt, d. h. ob auf die dialektische Logik selbst die dialektische Logik applizierbar ist, so daß diese in der Funktion des Explikans wie des Explikandums auftritt, stellt uns vor die Alternative einer Selbstaufhebung des Paradoxes oder seiner Iteration oder auch vor beides. Ist das Paradox selbst paradox?
5. Negative Dialektik als Metaparadoxie Bisher wurde das Paradox als Grundstruktur der Dialektik eruiert und damit als fundamentale Denkfigur aufgewiesen. Anders als die klassische orthodoxe Logik, die mit den Eindeutigkeit stiftenden Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten operiert, basiert die heterodoxe, dialektische Logik gerade auf dem Zweideutigkeit erzeugenden, zumindest zulassenden Prinzip des Widerspruchs, das in ihr neben dem der Identität gilt. Scheinen sich klassisch-dihairetische und dialektische Logik auf den ersten Blick auszuschließen, so zeigt sich bei genauerem Hinsehen eine Fundierung der ersteren in der letzteren; denn beim Versuch Vernunft und das Andere der Vernunft
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ihrer Selbstaufklärung und -rechtfertigung, d. h. der Freilegung ihrer Strukturen, ihres Umfangs und ihrer Grenzen sowie ihrer Geltung, gerät sie aufgrund der Selbstanwendung in die paradoxe Situation, thematisiertes Objekt und thematisierendes Subjekt zugleich zu sein, wie dies bei allen Selbstanwendungen der Fall ist. In der Formulierung mengentheoretischer Paradoxien ausgedrückt, heißt dies, daß sie- obwohl Ganzes- nur als Element ihrer selbst unter der Bedingung des Ganzen definiert werden kann und damit gerade kein Ganzes ist. Mündet sie aber aufgrund ihrer Selbstapplikation in das Paradox, so iteriert sich bezüglich dieses die Frage, ob auch es aufgrund einer Selbstapplikation der Paradoxie unterliegt und somit selbst paradox ist, d. h. als Paradox sowohl paradox wie nicht paradox. (1.) Wird das Ganze des Paradoxes der paradoxalen Behandlung unterworfen, dann tritt es als Moment der Selbstanwendung auf, d. h. in der Funktion des Objekts, und läßt in dieser Objektivation die paradoxale Struktur des Sowohl-als-auch erkennen. Selbstaufklärung deckt nur auf, was das Paradox immer schon ist: die Gleichgeltung von Identität und Widerspruch. (2.) Mit der Thematisierung und Objektivation, der Herabsetzung des Paradoxes zum Moment geht der Entzug des Paradoxes in der Funktion des thematisierenden Subjekts einher; als solches läßt es sich nur noch durch den Kollaps der paradoxalen Strukturen, durch das Weder-noch, indizieren. Von der logischen Strukturierung aus ist der Vollzug im Vollzug logisch nicht faßbar; bezüglich seiner ist nur das Scheitern und Versagen jeglicher Strukturierung, auch der paradoxalen, angezeigt. Das Paradox zeigt sich damit als Gleichursprünglichkeit oder Nebeneinander von Sowohl-als-auch und Weder-noch. (3.) Freilich läßt sich der Vollzug selbst, diese strukturelle Indifferenz des Weder-noch, in einem zweiten Thematisierungsanlauf und in einer erneuten Selbstzuwendung durchaus thematisieren und objektivieren, also selbst als Moment ausweisen, wobei dann wiederum dieselbe Situation eintritt, daß das Paradox in der Funktion des Objekts als paradoxale Methode auftritt, sei es in der äußeren Form des ständigen Umschlags der Glieder, sei es in der inneren Reflexionsform des selbstbezüglichen Abspulens, während das Paradox in der Funktion des thematisierenden Subjekts sich gleichzeitig jeglicher Strukturierung, auch der paradoxalen, entzieht und zu einem Weder-noch wird. Dieser Vorgang läßt sich in infinitum iterieren. Die paradoxale Logik führt in ihrer Selbstapplikation und 198
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Selbstaufklärung über den paradoxalen Zustand des Sowohl-als-auch wie Weder-noch nicht hinaus. Ihre Selbstlegitimation bleibt ambivalent. Die Tatsache, daß hier neben der strukturellen Totalität stets deren Kollaps begegnet, neben der positiven Dialektik stets deren Negation, hat dieser Argumentationsfigur den Namen »negative Dialektik« eingetragen. Während auf der einen Seite des selbstreferentiellen Prozesses die paradoxalen Strukturen zutage treten und sich iterieren, versinken sie auf der anderen Seite in reiner Negativität, im Nichts. Von dieser Seite aus wird die Paradoxie ständig auf sich selbst zurückgeworfen und in ihr Dasein verwiesen. 28 Will man hier überhaupt von einer Relation sprechen, obwohl nur das eine Relat derselben bekannt ist- das paradoxale Sowohl-alsauch -, während das andere prinzipiell unerkennbar bleibt - ein Weder-noch -, womit der Relationsgedanke streng genommen entfällt, so handelt es sich auf jeden Fall um eine asymmetrische Relation. Indem die Selbstanwendung des Paradoxes einerseits zur Freilegung der paradoxalen Struktur führt, führt sie andererseits zur Aufhebung derselben. Selbstaufklärung ist gleichbedeutend mit Selbstverhüllung, Selbstpreisgabe ist gleichzeitig Selbstentzug. Beide sind nur verschiedene Seiten derselben Medaille. Faßt man die paradoxale Logik als eine Form von Rationalität, so sieht man sich mit der Situation konfrontiert, daß Rationalität in Nicht-Rationalität gründet und in einem Abgrund von Rationalität versinkt. Angesichts der Tatsache, daß das Jenseits der Vernunft nur über den Prozeß der Entfaltung des Paradoxes zugänglich ist, stellt sich die Frage, ob beide letztlich ununterscheidbar zusammenfallen oder unterscheidbar bleiben oder beides sind. Von logisch-rationaler Seite gilt beides: die Koinzidenz des absoluten Nichts, des Weder-noch, mit dem Etwas, dem Sowohl-als-auch, wie auch deren Differenz. Die Konstatierung dieser Paradoxie, einerseits des Auf- und Untergehens des Nichts in der unendlichen Iteration des Paradoxes, andererseits beider Differenz, ist das letzte rational Aussagbare.
In anderem Kontext hat Heidegger dieses Phänomen in seiner Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 (11. Aufl. Frankfurt a.M. 1975) mittels des Begriffs der Nichtung beschrieben, die er als von sich abweisende Verweisung auf das versinkende Seiende im Ganzen bestimmt (vgl. S. 34). Das Entbergen des Seienden geht immer mit einem Verbergen einher, das In-Erscheinung-Treten des Wesens ist stets auch ein Zurücknehmen desselben in die Verborgenheit. 28
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Erster Teil: Rationalitätstypen
6. Fichtes Spätphilosophie als Beispiel für negative Dialektik
Ein Beispiel für negative Dialektik findet sich in Fichtes Spätphilosophie in der vieldiskutierten und in ihren Strukturen weitgehend freigelegten Wissenschaftslehre von 1804 (2. Fassung). 29 Ging es in der Frühphilosophie Fichtes um die Konstitution des Selbstbewußtseins in seinen dialektischen (paradoxalen) Strukturen sowie um die Explikation seiner Internverfassung in Form einer absteigenden Spezifikation und Auffächerung, so ist das Thema der Spätphilosophie die Grundlegung des Selbstbewußtseins, also das Verhältnis des Selbstbewußtseins zu seinem unvordenklichen Ermöglichungsgrund. In Anbetracht der Tatsache, daß eine Begründung des unvordenklichen Selbstbewußtseins wegen der Internität des Standpunktes und der Unmöglichkeit der Einnahme eines archimedischen Standpunktes nur als Selbstbegründung möglich ist, d. h. als Anwendung der dialektischen Strukturen auf sich -auf die dialektischen Strukturen des Selbstbewußtseins -, haben wir es formal mit einer Selbstanwendung der Dialektik, einer Paradoxie der Paradoxie, zu tun, wenngleich nicht in Reinkultur. Mit der Thematisierung des Problems stellt sich notwendig die Frage nach seinem Resultat, welches einerseits im Rückverweis der Dialektik auf sich selbst, mithin in ihrer Freilegung, besteht, andererseits im Entzug des Grundes, seiner Unbegreiflichkeit. Es ist das Paradox von Immanenz und Transzendenz, von Hervortreten des Selbstbewußtseins in seinen dialektischen Strukturen und gleichzeitiger Aufhebung desselben in einem unvordenklichen Grund, der für das Selbstbewußtsein ein Nichts ist. Im Unterschied zur Frühphilosophie Fichtes geht es hier, bildlich gesprochen, nicht um einen Abstieg von der dialektischen Grundtriade zu deren Spezifikationen, sondern um einen Aufstieg von der Grundtriade zu deren Grund. Dabei ist zu bedenken, daß dieser Aufstieg nicht die Gestalt eines Transzensus über das Selbstbewußtsein hinaus in Form einer dialektischen Bewegung haben kann, da das Erkenntnissubjekt stets an das Selbstbewußtsein und dessen Bedingungen gebunden bleibt und diesen Horizont nicht zu überschreiten 29 J. G. Fichte: Die Wissenschaftslehre von 1804, in: Werke (fotomechanischer Nachdruck von ]ohann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke, hrsg. von I. H. Fichte, 3 Bde., Bonn 1834/1835), Berlin 1971, Bd. 10. Zur Interpretation vgl. K. Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit. Eine Strukturanalyse des »und<<. Systematische Untersuchungen zum Einheits- und Mannigfaltigkeitsbegriff bei Platon, Fichte, Hege! sowie in der Moderne, Berlin, New York 1981, bes. S. 86 ff.
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vermag. Operiert werden muß stets im Rahmen und mit Mitteln desselben. Infolgedessen dekouvriert sich dieses Verfahren als Selbstbetrachtung des Selbstbewußtseins, bei dem jeder vermeintliche Hinausgang zu einem Immanentismus wird. Die Anwendung der intern verfügbaren antithetisch-synthetischen Strukturen von These, Antithese und Synthese auf sich selbst führt zwangsläufig sowohl zu deren Freilegung wie auch zu deren Entzug. Mit der Internität des Reflexionsstandpunktes hängt ein weiteres Merkmal und ein Unterschied zu Fichtes Frühphilosophie zusammen. Konnte die Explikation des Selbstbewußtseins in der Frühphilosophie noch weitgehend von außen erfolgen ohne gleichzeitige Thematisierung der Explikationsbedingungen, was einem sekundären Reflexionsschritt vorbehalten blieb, so ist dies jetzt nicht mehr möglich, da es um die Reflexion auf eben diese Bedingungen geht. Die Selbstthematisierung kann daher nur in demselben Akt geschehen, in dem die Bedingungen reflektiert werden, auch wenn der Akt in abstracto zerlegbar ist. Dies zieht eine Änderung der Gegensatzdialektik zur Widerspruchsdialektik nach sich, da jedes der das Ganze konstituierenden Momente für sich das Ganze zu sein reklamiert und somit in Widerspruch zu seinem Pendant gerät. Im Unterschied zu Hegels Widerspruchsdialektik jedoch, die aufgrund ihrer Operation mit Selbstsetzung, Selbstnegation, selbstbezüglicher doppelter Negation und erneuter Selbstsetzung zu einer einsinnigen Verlaufsform gezwungen wird, behält sich Fichte selbst noch auf dieser Stufe, was den Gang des Aufstiegs betrifft, die Freiheit der Wahl des Ausgangspunktes und der Thematisierung der Glieder vor, nimmt also auch hier gleichsam noch einen äußeren Standpunkt ein. Wie im spezifizierenden Abstieg eine beliebige Alternation in der Thematisierung der Glieder möglich war, so wiederholt sich dies im Aufstieg, und wie der Abstieg geleitet war von der heuristisch-experimentierenden Methode, so gilt Entsprechendes auch vom Aufstieg, was der Fichteschen Konstruktion den Charakter des Hin- und Herschwankens verleiht. Genau genommen treffen im Aufstieg zwei heterogene Strukturen zusammen: zum einen das einsinnig genetisierende Verfahren, zum anderen der alternierende PerspektivenwechseL (1.) Insofern nach dem Grund des dialektischen (paradoxalen) Selbstbewußtseins gesucht wird, legt sich die genetisierende Methode nahe mit den. Kategorien von Prinzip und Prinzipiiertem, Ursache und Wirkung, Grund und Folge, ein Verfahren, das Fichte »Genesis« Vernunft und das Andere der Vernunft
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oder »Genetisierung« nennt. Es besteht in der Aufgabe, alle Faktizität auf ein Ursprungsprinzip zu reduzieren und aus diesem zu deduzieren. Wo immer bei der Angabe vermeintlicher Gründe noch Faktisches auftritt, muß dieses weiter genetisiert werden, bis ein absolut letztes, höchstes Prinzip erreicht ist, das Grund von allem ist, selbst aber nicht mehr in anderem gründet. (2.) Die Methode der Genetisierung kann bei ihrem Vorgehen keine anderen Strukturen verwenden als die, die im Selbstbewußtsein liegen, d. h. dialektisch-antithetische, die die Möglichkeit eines freien Ausgangs und Wechsels der Alternativen eröffnen. Während die genetische Methode ein einseitiges Dependenzverhältnis zwischen Prinzip und Prinzipiiertem unterstellt, geht die dialektische von der Gleichursprünglichkeit der Glieder aus. Eine Vermittlung ist nur dadurch möglich, daß der letzte Grund, als selbst unerkennbar, auf die Gleichursprünglichkeit der Glieder verweist. Hinzugefügt werden muß, daß Fichte im Gegensatz zu Hegel kein festes, eindeutig fixiertes Operationsschema benutzt, sondern eines, das mit Ausgängen, Übergängen und Termini spielt, was mit seiner Grundüberzeugung zusammenhängt, daß es um die Sache und nicht um deren äußere Darstellung gehe, wobei diese einmal von dieser Seite, einmal von jener erfaßt werden könne. Dies gilt auch noch bei der Selbstanwendung der dialektischen Strukturen. Obwohl gerade Fichte die Operationstermini These, Antithese, Synthese, Position und Negation als Bewußtseinsoperationen ausweist und legitimiert, finden sie bei ihm keine strenge Anwendung. Statt von Widerspruch und Negation der Negation ist von Abstraktion die Rede, was zwar Negation impliziert, aber derselben keinen systematischen Ort gibt. Den Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre von 1804 bildet das Selbstbewußtsein, das hier »absolutes Wissen« heißt. Es stellt die Einheit und Vermittlung von Denken und Sein dar, was sich aus dem Umstand erklärt, daß die Kenntnis von etwas einschließlich des eigenen Selbst nach keinem der beiden antithetischen Erkenntnisstandpunkte von Idealismus und Realismus allein erklärt werden kann, sondern nur aus ihrer Einheit. Realismus und Idealismus, von denen der eine das Sein, der andere das Denken privilegiert unter jeweiliger Ignoranz des Pendants, konkurrieren in der gesamten Philosophiegeschichte miteinander; sie bilden auch die leitenden, einander widersprechenden Positionen in Form von These und Antithese, die die Wissenschaftslehre von 1804 durchziehen. 202
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Die Tatsache, daß Denken und Sein in der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins miteinander verbunden und zugleich zu Momenten herabgesetzt sind, läßt sich nach Gewinnung dieses Standpunktes genetisch erklären. Hierzu zieht Fichte das Bild einer Trias aus Licht- welches stellvertretend für die ursprüngliche synthetische Einheit des Selbstbewußtseins steht-, Denken und Sein heran sowie das in bezug auf dieses Bild formulierte Grundgesetz alles Wissens, das besagt, daß das Denken mit seiner Begrifflichkeit zunächst angenommen, d. h. gesetzt werden müsse, damit sodann beim Versuch der Erfassung der synthetischen Einheit sein Scheitern gezeigt werden könne und mit dieser Selbstnegation die Freisetzung des Seins als unbewußtes Produkt- Fichte spricht von »todtem Absatz« 30 • Die Reflexion darauf, daß diese Konstruktion vom Selbstbewußtsein vollzogen wird und im Selbstbewußtsein stattfindet, artikuliert sich in zwei antithetisch strukturierten Fragen: Wie haben wir diese Einsicht zustande gebracht? Und: Wie hat sich diese Einsicht in uns erzeugt? Die Beantwortung erfolgt wiederum antithetisch im Sinne des Idealismus und Realismus durch den Hinweis auf den Urbegriff und die Urrealität als jeweils ursächliche Prinzipien. Ihr Zusammengehen erfolgt in der Existenz des Urbegriffs, im sogenannten »Leben des Durch«. Diese ungewöhnliche Formulierung, die auf der Substantivierung einer Präposition basiert, soll einerseits befremden, andererseits den Blick auf das Wesentliche lenken. »Durch« oder »Durcheinander«- griechisch öui, das auch in »Dialektik« steckt- ist Indiz eines diskursiven, verstandesmäßigen Erkennens, das im Übergang von einem zum anderen, im Verweis des einen auf das andere besteht. Es handelt sich um eine typisch begriffliche Verbindungs- und Vermittlungsstruktur, die Ausdruck einer Relationalität ist und hier in der Besonderheit des Bildwissens bzw. der Bildvermittlung auftritt, bei der Abgebildetes (repraesentatum) und Abbildendes (repraesentans) wechselseitig aufeinander bezogen sind. Mit dieser Struktur wird die Selbstobjektivation des Selbstbewußtseins beschrieben, wie sie in dem auf das Dreiecksbild »Licht- Denken- Sein« bezogenen Selbstbewußtsein vorliegt, das Begriffliches und Anschauliches vereint und daher im Bildwissen seinen adäquaten Ausdruck findet. Da es sich beim »Durch« urn eine latente, an sich tote Struktur handelt,
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J. G. Fichte: Die Wissenschaftslehre von 1804, a. a. 0., S. 118.
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bedingt das »Leben des Durch« dessen Aktualität, den realen Übergang und Vollzug. Bezüglich desselben stellen sich wiederum die beiden kontroversen Erklärungsmuster des Selbstbewußtseins ein, das idealistische und das realistische, jeweils in zwei Varianten, einer niederen und einer höheren. Während der niedere, naive Realismus grundsätzlich das Stofflich-Materielle betont, das nur faktisch konstatierbar ist unter Ignorierung der Form der Erkenntnis, geht der niedere, naive Idealismus von der Vorfindlichkeit der Form und der Ignorierung der Stofflichkeit aus, so daß sich beide wegen ihrer Einseitigkeit und ihrem faktischen Verhaftetsein als unzulänglich erweisen und aufheben. Höherer Idealismus und Realismus berücksichtigen jeweils das Pendant, dergestalt, daß der höhere Idealismus zwar seine Selbstnegation angesichts des realistischen Prinzips des Ansichseins konzediert, aber für sich reklamiert, den Anfang dieses Prozesses zu bilden. Der höhere Realismus wiederum, der sich aus der Konstruktion des An-sich erklärt, das zugleich Negation des Für-uns, d.h. der Bewußtseinsbezogenheit ist - denn ist etwas an sich, so ist es ohne unser Zutun, weder durch uns noch für uns -, operiert selbst wieder mit der idealistischen Vermittlungsstruktur und dekouvriert sich so auf seiner höchsten Stufe als ein verkappter Idealismus. Von der Erfassung des absoluten Grundes des Selbstbewußtseins durch eine realistische Einstellung ist ebenso zu abstrahieren wie von der durch eine idealistische. Jeder Versuch einer Bestimmung des Grundes des Selbstbewußtseins vom Selbstbewußtsein aus, so weit er auch vorangetrieben werden mag - und Fichtes Abschluß in der Wissenschaftslehre von 1804 erscheint als ein willkürlicher Abbruch und die Nichtfortsetzung der Bestimmung als ungerechtfertigt -, führt nur wieder in die Objektivation des Selbstbewußtseins zurück, ist also ein proiectum per hiatum irrationalem. Das Resultat dieser Dialektikkonstruktion, nämlich der Anwendung der dialektischen Struktur auf sich selbst, ist der unaufgehobene Widerspruch, indem einerseits ein Grund für das existierende Selbstbewußtsein supponiert werden muß, was sich schon aus dessen Faktizität ergibt, andererseits die Existenz dieses Grundes zweifelhaft ist, da ein transzendenter, das Selbstbewußtsein übersteigender Grund nicht faßbar ist, vielmehr nur die Aktivität des Selbstbewußtseins, also ein immanenter Grund. So wiederholt sich die ständige Verweisung auf das Selbstbewußtsein in seiner antithetischen Struk204
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tur. Die totale Abstraktion von allen widersprüchlichen Interpretamenten, wie sie bei der Erfassung dieses Grundes versucht werden, führt keineswegs zur Sicherheit eines transzendenten Grundes 3\ vielmehr zur Unentschiedenheit und Ambivalenz, nämlich einerseits zur Unerreichbarkeit und Unbegreiflichkeit des Grundes, zum Nichts, andererseits zum ständigen Verweis auf die Faktizität des Selbstbewußtseins. Im Unterschied zur positiven Dialektik der Frühzeit zeigt sich hier ein anderer Typus, ein negativer, besser noch: ein ambivalenter, der offen läßt, ob die Aufhebung des Widerspruchs von idealistischer und realistischer Position zum absoluten Nichts oder zur erneuten Position der Antithetik und Wiederholung des dialektischen Prozesses führt. Genau genommen führt er zu beidem, zum Nichts und zum Vollzug des Selbstbewußtseins. Er läßt den Widerspruch unaufgelöst stehen. In diesem Punkt unterscheidet sich diese Dialektikform grundsätzlich von Hegels Spekulation, die nicht nur die totale Selbsteinholung aller Voraussetzungen beansprucht, sondern dies auch in Form einer Aufhebung aller Widersprüche zu tun reklamiert und insofern einen positiven Charakter hat. Fichtes Bedeutung besteht darin, neben der positiven Dialektikkonzeption zur Explikation des Selbstbewußtseins eine negative bzw. ambivalente Konzeption zur Erfassung des Grundes des Selbstbewußtseins entwickelt zu haben, die in ein Paradox mündet, und zwar in das von Dialektik und Nichtdialektik, von Sowohl-als-auch und Weder-noch, und damit eine Schwierigkeit erkannt und thematisiert zu haben, für die Hegel blind war. Denn mehrfach stellt sich in dessen System die Frage nach der Möglichkeit einer totalen Selbsteinholung oder einem nimmer endenden Prozeß, zunächst am Ende der Logik bei Erreichung der absoluten Idee, wo das Problem auftaucht, ob angesichts der vollständigen kategorialen Exhaustion ein Fortschritt überhaupt noch möglich sei, und beantwortet wird mit dem Übergang in eine andere Sphäre, in die Natur, zuletzt am Ende des enzyklopädischen Systems, wo das Problem unabweisbar wird, ob eine wirkliche Vollendung oder nur ein Abbruch vorliegt. Eine definitive Selbsteinholung scheint unmöglich zu sein, weil eine solche notwendig einen unbegrenzten, unbestimmten Hintergrund voraussetzt, vor dem sie sich in ihrer Geschlossenheit und Vollendung, Wie W. Janke: Fichte. Sein und Reflexion- Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970, S. 391 ff., meint.
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ihrer Ganzheit also, allein abzeichnen kann. Die Unendlichkeit und Unbestimmtheit dieses gänzlich Anderen, die der Geschlossenheit widersprechen, erzwingen vielmehr einen unabschließbaren Prozeß der Fortbestimmung. Die andere Möglichkeit ist die von Fichte anvisierte des Paradoxes. In diesem Punkt ist Fichtes Konzeption der Hegelschen überlegen.
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5. Kapitel Der analegisehe Rationalitätstypus
1. Analogiedenken- Rationalität oder Irrationalität?
Während das Klassifikationsdenken, basierend auf dem dihairetisch spezifizierenden Verstand, seit der Antike das abendländische Denken beherrscht und dessen hypotaktisch-hierarchischen Charakter wesentlich geprägt hat und die Grundlage unseres gängigen Wissenschafts- und Rationalitätsverständnisses bildet, nicht nur in den sachbezogenen Wissenschaften wie der Botanik, Zoologie, Geologie usw., sondern auch in der Methodologie beim Aufbau der Wissenschaftssysteme, während das zyklisch-dialektische Denken, obwohl von Platon als eigentliche und höchste Wissenschaft eingestuft, niemals auf wirkliche Resonanz bei Naturwissenschaftlern stieß und von diesen eher pejorativ angesehen wurde, das metaparadoxale Denken ausschließlich für die Spekulation reserviert blieb und die Listenmethode mit ihrer parataktischen Architektur keinen Eingang in die europäischen Wissenschaften fand, existiert darüber hinaus noch ein weiteres Denkmodell, das mindestens ebenso alt, wenn nicht sogar älter ist als das dihairetische: das Analogie- oder Entsprechungsdenken. Es stammt aus magisch-mythischer Zeit, erfuhr in der Renaissance eine Wiederbelebung und existiert in Relikten wie der Astrologie, Chiromantie, Parapsychologie, Homöopathie bis heute weiter. Gewöhnlich wird es nicht mit Vernunft, Rationalität und Wissenschaftlichkeit in Verbindung gebracht, sondern mit Magie, Okkultismus und Hermetik. Es wird als alogisch und irrational eingestuft. Wenn es aus der Perspektive unseres gängigen, auf Spezifikation und Klassifikation bedachten Wissenschaftstypus nicht als Rationalitätsform akzeptiert wird, so deshalb, weil es mit der Herausbildung und Durchsetzung unseres Wissenschaftskonzepts und Vernunftbegriffs nicht mehr verstanden wurde, in Mißkredit geriet und schließlich suspendiert wurde. Da es sich jedoch um ein formales, schematisierbares Verfahren mit allgemeinverständlichen Gesetzen handelt, das universell applikabel und intersubjektiv kommunikabei ist und genauso wie das klassifikatorische Modell den WissenschaftsVernunft und das Andere der Vernunft
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kriterien der Begreifbarkeit, der semantischen Klarheit und Präzision, der logischen Folgerichtigkeit- wenngleich einer anderen als der der Spezifikation bzw. Klassifikation -, der operativen Handhabung usw. genügt, kann ihm der Status eines eigenen Rationalitätstypus nicht abgesprochen werden. Da dieser allerdings bis heute verkannt ist, muß er erst wieder freigelegt werden. Dies hat so zu erfolgen, daß seine Eigengesetzlichkeit und genuine Logik aufgedeckt werden müssen und nicht nur die dem heutigen Wissenschaftsverständnis analogen Strukturen der empirischen, semantischen und logischen Intersubjektivität, wie Kurt Hübner 1 dies in seiner Analyse des Mythos getan hat. Zu diesem Zweck ist von einem konkreten Beispiel für Analogiebeziehungen auszugehen, um daraus Rückschlüsse auf die Struktur dieses Denkens zu ziehen.
2. Arcimboldos »Jahreszeiten«-Zyklus und seine diversen Auslegungen Bei dem genannten Beispiel handelt es sich um die Gemäldetetralogie des Renaissance-Malers Giuseppe Arcimboldo (1527-1593), die den Namen »Die Jahreszeiten« trägt und vier männliche Porträts aus diversen Lebensperioden zeigt: den Jüngling, den erwachsenen Mann im Zenit des Lebens, den gesetzten, gereiften Mann und den Greis. Ihre Gesichter und Oberkörper sind aus Blüten und Blättern, Früchten, Beeren und Knollen, Wurzeln und Ästen kombiniert, wie sie für die verschiedenen Jahreszeiten typisch sind. So besteht das Bildnis des jungen Mannes ganz aus Blüten und Blättern. Sein Haupt ist von einem bunten, farbenprächtigen Blütenkranz umwunden, auf seiner Wange prangen Rosen und Nelken, seine Augen sind Blütensterne, seine Nase eine geschlossene Lilienknospe, sein Mund und Kinn rote Rosen, seine Zähne Maiglöckchen, sein Ohr eine Tulpe mit einem Akelei-Gehänge. Entsprießt seinem Hinterkopf eine weiße Lilie, so seiner Brust eine blaue Schwertlilie; sein Knappengewand besteht aus frischem, grünen Blattwerk, verziert mit einem weißen Blütenkragen. K. Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 239 ff.; ders.: Rationalität im mythischen Denken, in: K. Hübner und J. Vuillemin (Hrsg.): Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Rationalität. Ein deutsch-französisches Kolloquium, StuttgartBad Cannstatt 1983, S. 49-68.
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Den Kopf des reifen Mannes füllen lauter Früchte aus. Umwunden ist sein Haupt von einem Kranz aus Birnen, Pflaumen, Kirschen, Brombeeren; seine Stirn formt eine braune Zwiebel, seine Augenbrauen eine Ähre, seine Nase eine grüne Gurke, seine Wangen ein praller Apfel, das Kinn eine Birne und den Mund eine Erbsenschote; für Ohren und Hals werden Zwiebeln, Mais, Auberginen und Bananen verwendet; sein Obergewand ist ein Ährenmantel, aus dem auf der Brust eine Artischockenpflanze sprießt. Im dritten Porträt erkennt man die vollen, ausgereiften und scharf gegeneinander abgehobenen Züge des gesetzten Mannes. Es ist ein bacchantisches, süffisant dreinblickendes Gesicht: das Haupt umwunden von einem schweren Kranz aus dunklen Trauben und Weinlaub, der Oberkörper gebildet aus einem Weinzober, umrankt von einer Hagebutte. Das Gesicht besteht aus überreifen Früchten und Knollen. Als Nase dient eine knollenartige Birne, die Wange bildet ein praller Apfel, das Kinn ein hängender Granatapfel, den Bart ein Büschel aus Hirse und Gerste, den Mund eine aufgeplatzte Kastanie. Während den Hinterkopf eine reife Melone formt, gestalten Knollen, Wurzeln und Kartoffeln den Hals. Das Porträt des Greises bildet ein alter, knorriger, fast abgestorbener Baumstumpf mit rissiger, schorfiger Rinde. Nur aus dem hinteren Teil schießt grünes Blattwerk hervor. Die aus dem Haupt hervorragenden Wurzeln und Äste schließen sich zu einer Krone zusammen, die Gehörn gleicht. Die Haut des Alten ist runzlig wie die Rinde des Baumstumpfs. In der Nase erkennt man einen Wurzelfortsatz, im Ohr einen abgebrochenen Ast, der schiefe zahnlose Mund wird durch einen aufgequollenen, aufgeschwommenen Pilz gebildet. Das Kinn ist übersät mit Bartstoppeln, sprich Wurzelästen. Als Gewand dient ein Strohmantel, der durch eine kräftig gelbe Zitrone und leuchtende Apfelsine zusammengehalten wird, die zum dunklen Wurzel- und Ästegeflecht kontrastieren. Dieser Serie korrespondiert eine zweite, die den Namen »Die Elemente« trägt. Dem Frühling (Jüngling) ist das Element der Luft zugeordnet, dem Sommer (Mann) das Element des Feuers, dem Herbst (Gereiften) das Element der Erde und dem Winter (Greis) das Element des Wassers. Die Korrespondenz erklärt sich aus der symmetrischen Anordnung je zwei er links- und rechtsblickender Gesichter. Außerdem bestätigt eine Inschrift auf der Rückseite des Frühlingsbildes die Zuordnung der Luft zum Frühling. Auch diese Bilder zeigen Porträts, jedoch mit dem Unterschied, daß sie nicht Vernunft und das Andere der Vernunft
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Der Frühling (1573) Ö l auf Leinwand, 76 x 64 cm, M usee Nat. du Louvre, Paris
lii Der Herbst (1573) Ö l auf Leinwand, 76 x 64 cm, M usee Nat. du Louvre, Paris
li Der Sommer (1573) Öl auf Leinwnnd, 76 >< 64 cm, Musee Nat. du Louvre, JJaris
lV Der Winter (1573) Öl auf Leinwand, 76 Musee Nat. du
J<: 64 cm,
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Erster Teil: Rationalitätstypen
pflanzliche Bestandteile, sondern Tiere verwenden. Das Bild >>Luft« zeigt Vögel, die aus einem prächtigen Pfau aufsteigen, der die Brust bildet. Das Bild ))Erde« besteht aus erdlebenden Tieren, unter denen das zur Herbstzeit gejagte Wild eine besondere Rolle spielt. Aus Löwe, Schaf (Vlies) und Stier, die den Oberkörper formen, geht eine Vielzahl einheimischer wie fremdländischer Tiere hervor, unter denen die geweihtragenden wie Steinbock, Elch, Hirsch, Gams und Gazelle eine Art Krone bilden. Das Porträt>> Wasser«- offensichtlich ein weibliches Gesicht- stellt ein Arrangement von Wassertieren dar. Es vereint Fische, Amphibien, Reptilien, Krustentiere, Muscheln, Polypen usw. Ein Korallenkrönchen schmückt das Haupt, während eine Perlenkette und ein perlmutternes Ohr mit einer Traubenperle das Gesicht zieren. Als einziges der Serie besteht das Bild ))Feuer« nicht aus Tieren, sondern aus Utensilien, die zum Feuer gehören: aus Feuerstein, Feuerstahl, Docht, Zündhölzern, Kerze, Kerzenhalter, martialischen Geräten wie Kanonenrohr und Flinten, einer güldenen Kette mit Goldenem Vlies. Das Haupt ist von einem Feuerkranz eingefaßt. Die Bilder erwecken auf den ersten Blick den Eindruck des Phantastischen, Irrealen, Utopischen, zumindest des Supranaturalen, was ihre Einordnung in das Genre der phantastischen Malerei nahelegt. Obwohl jedes Detail mit außerordentlicher Sachkenntnis, Naturtreue und Hingabe ausgeführt ist, findet sich doch keine dieser Kompositionen in der Natur. Es sind Gebilde der reinen Phantasie, Ausgeburten von Fieberträumen, Spielereien. Oft kann man ihnen eine gewisse Ironie und Satire nicht absprechen. Nicht zufällig hat man sie mit den Attributen bizzarrie, capricci, scherzi, quadri ghiribizzosi, grilli belegt, eigenwillig, launisch, extravagant genannt 2 , mithin mit Vgl. G. Comanini: 11 Figino. Dialogo Mantovano, Mantova 1591, S. 30, 49, 50; P. Morigia: Historia dell'Antichita di Milano, libri VI, Venezia 1592, S. 562, 566; ders.: La Nobilita di Milano, divisa in sei libri ... , Milano 1595, S. 461; P. A. Orlandi: Abecedario Pittorico, 3. Auf!. Firenze 1731, S. 195; L. Lanzi: Storia pittorica della Italia, 5. Auf!. Firenze 1882, S. 180 f.; vgl. in jüngerer Zeit B. Geiger: Die skurrilen Gemälde des Giuseppe Arcimboldi (1527-1593) (Titel der Originalausgabe: I Dipinti ghiribizzosi di Giuseppe Arcimboldi, Firenze 1954), übertragen von A. Boensch, Wiesbaden 1960, S. 9; S. J. Freedberg: Painting in Italy. 1500 to 1600, Harmondsworth 1971, bes. S. 410; dagegen Th. da Costa Kaufmann: Arcimboldo's Imperial Allegories. G. B. Fonteo and the Interpretation of Arcimboldo's Painting, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 39 (1976), S. 275-296; ders.: Les allegories et leurs significations, in: L' effet d'Arcimboldo. Les transformations du visages au seixieme et au vingtieme siecles, Paris 1987, S. 89-110; P. Hulten: Arcimboldo: trois modes d'interpretation, in: L'effet d'Arcimboldo, a.a.O.,
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allen Merkmalen versehen, die gewöhnlich dem Traum, der Märchenwelt, dem Mythos zukommen. Auch ist es kein Zufall, daß in der modernen Kunst Arcimboldo gerade die Surrealisten Rene Magritte, Salvador Dali, Max Ernst oder auch Picasso inspiriert hat. In diesen Bildern wirkt das aus der antiken Chimärenbildung bekannte Groteskenmotiv nach, das in der Renaissance wieder auflebt. Während die Interpretation der Bilderserie als Kuriosität an der Oberfläche bleibt, gibt ein kommentierendes Gedicht des mit Arcimboldo befreundeten Poeten Giovanni Baptista Fonteo den Hinweis auf eine tiefere Dimension, in der die Bezüge zum sozialen Umfeld, dem die Gemälde angehören, deutlich werden. Arcimboldo war Hofmaler an den Habsburger Kaiserhöfen in Wien und Prag und diente unter drei Kaisern, Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II. Seine Aufgabe als »Hofkonfetter« bestand darin, die kaiserliche Familie und ihr nahestehende Persönlichkeiten zu porträtieren und so zur Glorifizierung der Habsburger Dynastie beizutragen. Das Gedicht weist die Bilder folglich als imperiale Allegorien aus. Es begründet den Rückgriff auf Köpfe aus einer bei Livius überlieferten Legende: Danach sollen die Erbauer des }upiter-Tempels in Rom bei dessen Ausschachtung auf einen ständig blutenden und gleichwohl nicht verwesenden Kopf gestoßen sein. Der Fundort sollte nach einer Wahrsagung als Haupt (caput) ganz Italiens und darüber hinaus der ganzen Welt dienen, was sich im Namen »Capitolium« ausdrückt, desgleichen im Anspruch Roms, Haupt der Welt zu sein. Da die Habsburger Monarchie ihr Kaisertum aus dem römischen Cäsarentum ableitete und sich als Fortsetzung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verstand, deuten die Häupter, in denen man Mitglieder der kaiserlichen Familie erblickt hat - im Winter Maximilian II., im Wasser Kaiserin Maria -, auf den universalen Herrschaftsanspruch, der sich in Übereinstimmung mit der Natur, deren Elementen, Produkten und Zyklen befindet. Dadurch daß den Porträts die für die Jahreszeiten typischen Naturalien zugeordnet, ja geradezu eingeschrieben werden, so daß sich jene als Grund und Träger derselben erweisen, dokumentieren sie ihren Einklang mit diesen. Und nicht nur den Gleichklang mit den Produkten der Natur dokumentieren die Porträts, sondern auch den mit den der Natur S. 18-33, bes. S. 19; W. Kriegeskorte: Giuseppe Arcimboldo. 1527-1593. Ein manieristischer Zauberer, Köln 1984, S. 36 f. Vernunft und das Andere der Vernunft
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zugrundeliegenden Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, was aus der Korrelation der Elementenserie zur Jahreszeitenserie hervorgeht. Damit ist die Dominanz der Habsburger zur universellen Macht über die Natur hypostasiert. Entsprechend der in der Renaissance so beliebten Analogie zwischen Makro- und Mikrokosmos und politischem Stand schließt der durch die Häupter symbolisierte Herrschaftsanspruch den über die Gesellschaft ein. Wie die Pflanzen- und Tierbilder eine Vielzahl von Geschöpfen aus Nord und Süd, Ost und West, heimischer und exotischer Art vereinen (Äpfel und Birnen aus nördlichen Gefilden, Zitronen und Orangen aus den Mittelmeerländern, den Steinbock aus den Tiroler Alpen, Elefant, Löwe, Gazelle aus fremden Gefilden), welche sich trotz der schier unüberschaubaren Menge klar und deutlich voneinander abheben und harmonisch ordnen, so sollen auch die Völker des Vielvölkerstaates Habsburg, in dessen Reich die Sonne niemals unterging, unter der weisen und wohltätigen Regierung der Habsburger harmonisch und friedlich zusammenleben. Die parataktische Anordnung unter der hypotaktischen ist Indiz dieser friedlichen Koexistenz. Die Tatsache, daß die aus verschiedenen Lebensperioden stammenden Häupter dem jahreszeitlichen Rhythmus entsprechen, soll auf die ständig sich regenerierende, immerwährende Herrschaft der Habsburger hinweisen. Wie sich die Jahreszeiten wiederholen, so erneuert sich auch die Herrschaft dieses Geschlechts. Ein Beleg hierfür ist das letzte, »Winter« genannte Bild, das einen Baumstumpf zeigt, aus dessen hinterem Teil neues grünes Blattwerk hervorsprießt. Zudem galt der Winter bei den Römern als ambivalent; er wurde janusköpfig dargestellt, zurückblickend auf das alte Jahr und vorausblikkend auf das neue. Wie der Winter Anfang des neuen Jahres ist und seine Macht über dieses entfaltet, so ist die Personifikation des Winters, Maximilian Il., Haupt der Dynastie und breitet seine Herrschaft über die Welt aus. In jeder Hinsicht stellen die Bilder einen Panegyrikus auf das Habsburger Imperium dar. Möglich ist eine solche Interpretation jedoch nur aufgrund einer tieferliegenden, dem oberflächlichen Blick verborgenen Schicht von Bezügen der Subordination, Koordination und Zyklik zwischen den Elementen aus dem anthropologischen, biologischen und astronomisch-jahreszeitlichen Bereich, die geregelte Übergänge und Verweise gestatten. Diese gilt es eigens freizulegen.
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Der analegisehe Rationalitätstypus
3. Morphologischer Raster des Analogiedenkens
Das als Bezugssystem dienende Weltbild der Renaissance ist komplex und reich sowohl an formalen wie inhaltlichen Verweisungen. Trotz der Fülle gibt es wiederkehrende, typische Züge, die ein Grundmuster bilden. Die Grundüberzeugung der Renaissance dokumentiert sich in der These von der Alleinheit des Seienden. Mit ihr knüpft die Renaissance an eine alte, bis in die magisch-mythische Zeit zurückreichende Vorstellung an, die philosophisch erstmals in Platons Timaios faßbar ist. Dort findet sich die Aussage, daß das Ganze aus lauter Ganzen bestehe 3 , ein Vollkommenes aus lauter Vollkommenen (Ganzen) sei 4 • Für unser Empfinden drückt diese Aussage eine Paradoxie aus, setzt sich doch ein Ganzes aus Teilen, ein Vollkommenes aus noch nicht Vollkommenem zusammen. Platon will mit dieser Aussage zweierlei zum Ausdruck bringen: zum einen im quantitativen Sinne, daß das Ganze umfangmäßig die Gesamtheit der Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer impliziert, zum anderen im qualitativen Sinne, daß das Ganze in einer durchgängigen Vermischung und wechselseitigen Durchdringung der Elemente besteht, so daß jedes, obwohl Teil, das Ganze repräsentiert und selbst ein autarkes, suisuffizientes Ganzes ist. In dieser Aussage wie auch in anderen in denselben Kontext gehörigen, die den Kosmos als nie alterndes, nie siechendes Ganzes von Kugelgestalt - der vollkommensten aller Gestalten beschreiben, bezüglich dessen es weder einen Zu- noch Abgang, mithin keine Veränderung gibt, weder ein Außen noch eine Bewegung in diesem, sondern nur ein ständiges In-sich-Kreisen, erfolgt ein Rückgriff auf die Alleinheitslehre des Parmenides, wie sie in dessen Lehrgedicht expliziert wird. Das All-Eine (EV änav"ta) wird dort als l!v, näv, auvex.et; und Ofloyevet; beschrieben und in das Bild einer wohlgerundeten Kugel gekleidet, die sich nach allen Seiten gleichmäßig und gleichgewichtig erstreckt, nicht hier ein Mehr und dort ein Weniger an Sein aufweist, sondern von durchgängig gleichartigem Sein ist. Droht der Gedanke der Pluralität und Diversität bei Parmenides unter der Annahme eines einheitlich homogenen Ganzen verlorenzugehen und zur bloßen Meinung der Sterblichen zu degradieren, so 3 4
Vgl. Platon: Timaios 33 a. Vgl. a. a. 0., 32 d f.
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erhält er in der anaxagoreischen Homöomerienlehre insofern sein Recht zurück, als diese von der totalen Vermischtheit der Elemente im Urzustand der Welt ausgeht. 'O!!OÜ navta XQ~!!U'W. ~V (»beisammen waren alle Dinge«), heißt es bei Anaxagoras 5, ungesondert und ungeschieden, bis der Nus sie trennte, Leichtes zum Leichten, Schweres zum Schweren assoziierte und mit dieser Distinktion überhaupt erst differenzierbar machte. Die Theorie konnte sich auf die Beobachtung des Wachsens durch Nahrungsaufnahme stützen. Damit sich Fleisch an Fleisch, Knochen an Knochen, Sehne an Sehne anlagern könne, müssen die Bestandteile bereits in der Nahrung impliziert sein. Wie Platon einerseits an frühere Theorien anschließt, so hat er andererseits die nachfolgende Tradition beeinflußt. Die Lehre begegnet wieder bei Cusanus in der These quodlibet in quolibet (»jedes ist in jedem vertreten«); sie liegt ebenfalls Leibniz' Monadologie zugrunde, insofern alle Monaden inhaltlich übereinstimmen und dasselbe vorstellen, nur aus verschiedenen Standpunkten (points de vue) und in verschiedenen Graden der Deutlichkeit und Undeutlichkeit, angefangen von der höchsten, absoluten Klarheit im Selbstbewußtsein bis hin zu den dunklen, sogenannten schlafenden Monaden, der Materie. Und selbst Hegels Wissenschaft der Logik operiert mit der Gedankenfigur, daß die Momente der Totalität selbst bereits die Totalität sind, aber so, daß im anfänglichen Teil das Ganze und Wahre erst in der Form des An-sich-Seins auftritt, erst am Ende der Logik in der vollständig explizierten Form des An-und-für-sich-Seins. Auf dem Boden dieser Alleinheitsthese bedarf die Entstehung von Pluralität, Differenz und Relationalität einer Erklärung. Die Renaissance hat hierfür eine Reihe von Vorstellungen und Bildern entwickelt, die sich in drei Gruppen ordnen je nach der dominanten Raum- und Zeitstruktur, einer vertikalen, einer horizontalen und einer zyklischen. (1.) In die erste Gruppe gehören Stufungs- und Hierarchieverhältnisse in absteigender wie aufsteigender Richtung. Das bekannteste, das Urbild-Abbildverhältnis, auch Spiegelungs-oder Repräsentationsverhältnis genannt, geht wiederum auf Platon zurück und hat seinen locus classicus im sechsten Buch der Politeia 6 in der DarstelW. Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratike1; griechisch-deutsch von H. Diels, Bd. 2, 17. Auf!. Zürich, Bildesheim 1989, S. 32 (B 1). 6 Platon: Politeia 509 dff.; vgl. auch Parmenides 132 cff. 5
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Der analogische Rationalitätstypus
lung des Liniengleichnisses, jener vertikal zu denkenden, quaternal eingeteilten Linie, die Platons Ontologie und Epistemologie demonstriert, und zwar so, daß die beiden oberen Sektoren (die Ideen und Mathematika) den ideellen Bereich verkörpern und die beiden unteren (die konkreten Dinge und deren Spiegelbilder) den sinnlich wahrnehmbaren. Wie der letztere Abbild des ersteren ist, so tritt auch innerhalb jedes dieser beiden Bereiche ein Urbild-Abbildverhältnis auf (Mathematika als Abbilder der Ideen, Spiegelbilder als Abbilder der konkreten Gegenstände), so daß sich eine Stufung von der Art: Abbild des Abbildes des Abbildes des Urbildes usw. ergibt. Das Modell drückt eine Seins- und Erkenntnisstufung aus, mit der sich eine Wert- und Wahrheitstufung einschließlich einer Anzahlstufung verbindet. Je weiter sich die Stufen vom Urbild entfernen, desto schwächer, schlechte1~ verstellter und verzerrter repräsentieren sie dasselbe, während sich gleichzeitig ihre Anzahl und ihr Umfang erweitern. Mit der quantitativen Zunahme des Umfangs geht die qualitative Minderung des Inhalts einher, ähnlich wie bei der Lichtausbreitung. Man mag sich dies am Beispiel des Kreises verdeutlichen. Während es nur einen einzigen Idealkreis gibt, der durch die Linie aller Punkte definiert wird, die vom Mittelpunkt gleichen Abstand haben, finden sich in der Realität unzählig viele sinnlich wahrnehmbare Kreise, die jedoch allesamt von der Norm abweichen, wie Rad, Teller, Scheibe usw., und noch mehr sind deren durch Spiegelung verzerrte Abbilder. Diese graduellen Abstufungs- und Abschattungsverhältnisse resultieren aus einer Multiplikation und Falzung des Seins. Die Renaissance, die lebensweltliche, speziell biologische Termini und Vorstellungen präferiert, drückt dieses Verhältnis durch Genealogien, Abstammungs- und Verwandtschaftsbeziehungen aus, die in zwei Formen begegnen, als Parthenogenese in linear absteigender Folge und als Zeugung durch Elternpaare in zunehmend sich verzweigender Folge. Schon Hesiods Genealogie des Dunklen, Nächtlichen, Schattenhaften liefert ein Beispiel hierfür. Die in der Theogonie' geschilderte Abkunft aus dem anfänglichen Chaos, aus dem Gaia, die Erde, aus dieser Tartaros und Eros hervorgehen, aus dem Chaos weiter das Reich der Finsternis: Erebos und die schwarze Nacht, aus dieser in linearer Folge u. a. Schlaf, Traum, Tod, ferner die Hesperiden. Mairen und Keren, die grausamen Rächer, die Schicksalsgöttinnen Klotho, Lachesis und Atropos, aus der Nemesis 7
Hesiod: Theogonie 116 ff., 211 ff.
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Betrug und Umarmung, Alter und Streit usw., stellt einen sukzessivgraduellen Abstieg mit entsprechender Abschattung dar. Im Falle geschlechtlicher Fortzeugung bildet das Urelternpaar das Paradigma, das in den entferntesten Nachkommen, den Urururenkeln, genetisch erkennbar bleibt. Jeder Nachfahre ist ein Spiegel des Vorfahren. Nähe wie Ferne der Ähnlichkeit sind durch den Verwandtschaftsgrad festgelegt. Neben diesen Vorstellungen verwendet die Renaissance zur Explikation dieses Verhältnisses auch die Himmelsleiter, die dem Patriarchen Jakob im Traum erschien (daher auch Jakobsleiter genannt) 8 und Erde und Himmel verbindet und noch in Goethes Faust wiederkehrt: »Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen Und sich die goldnen Eimer reichen! Mit segenduftenden Schwingen Vom Himmel durch die Erde dringen Harmonischall das All durchklingen! «9
Auch das Bild einer goldenen Kette mit ineinandergreifenden Ringen ist gebräuchlich, das sowohl Homer wie Platon zugeschrieben wird, oder das einer Saite, die Oben und Unten, Himmel und Erde verbindet. Die Verkettung bringt zum Ausdruck, daß in jedem Berührungspunkt der eine Ring an den anderen die Ähnlichkeit weitergibt. So heißt es bei Giambattista della Porta: ) ,,so sehen wir/ daß von der ersten Ursach an gleichsam ein grosses Seil gezogen ist vom Himmel herunter biß in die Tieffe/ durch welches alles zusammen geknüpffet/ und gleichsam zu einem Stücke wird/ also daß/ wann die höchste Krafft ihre Stralen scheinen läst/ dieselben auch biß herunter reichen: Gleich wie/ wann ein ausgespannter Strick an einem Ort gerühret wird/ derselbe gantz durch erzittert/ und auch das Ubrige sich beweget. Und dieses Band nun kan man wol mit an einander hangenden Ringen/ und einer Kette vergleichen/ und hieher die Ringe des Platonis und die güldene Kette des Homeri ziehen [... ] « 10
' Vgl. 1. Genesis 28,12. 9 J. W. von Goethe: Faust l, Vers 447-453, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bden., Harnburg 1948-1960, wiederholte Aufl., Bd. 3, S. 22. 10 J. B. Porta: Magia Naturalis, oder Haus-Kunst- und Wunder-Buch (Titel der Originalausgabe: Magiae naturalis, sive de miraculis rerum naturalium libri IIII, Neapel
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Der analegisehe Rationalitätstypus
In der Kunst haben die perspektivischen Verzerrungen dieselbe Aufgabe, die Expansion eines Punktes über die Kreisfläche bis zur Kugel und umgekehrt die Kontraktion einer Kugel über die Kreisfläche bis zum Punkt zu dokumentieren. Dasselbe gilt für konvexe und konkave Darstellungen. 11 Gerade die Malerei und Architektur der Renaissance, welche die Perspektive erfand, ist voll von deren Gebrauch, um Ähnlichkeitsverhältnisse auch über Entfernungen hinweg auszudrücken und die Rückbezogenheit auf den Ursprung zu wahren. Das bekannteste Urbild-Abbildverhältnis ist die Makro-Mikrokosmos-Analogie, welche Verhaltensweisen und Beziehungen einer idealen Oberwelt, sei es der Welt der Götter oder der Sphäre des Göttlichen überhaupt, sei es des astronomischen Bereichs, in den Verhaltensweisen und Beziehungen der konkreten Sinnen- und Menschenwelt spiegelt und die Rückbindung dieser auf jene garantiert. Wenn Liebe den Menschen überkommt, so ist das die Wirkung der Venus, wenn Haß und Streit in der Seele nisten, so geht dies auf den Kriegsgott Ares zurück, wenn Ehebruch geschieht, so hat dies sein Vorbild im Verhalten des Zeus gegenüber Hera, wenn Glück oder Unglück den Menschen heimsuchen, so sind hierfür planetarische Konstellationen verantwortlich. Die Menschenwelt ist Spiegel der Götterwelt, ihrer Ordnung, Konstellationen, Dispositionen und Eigenschaften. In der derivativen Dimension findet sich ein Abglanz der Ursprungsdimension. (2.) In die zweite Gruppe gehören jene Phänomene, die sich um die Vertikale in horizontaler Anordnung lagern, wie alle Duplexphänomene, Iterationen, Spiegelungen, Symmetrien, Opposita und Antithesen. Der Prototyp für einfache Verdoppelung ist das Zwillingspaar, das am Himmel als Castor und Pollux erscheint, der für symmetrische Verdoppelung das Sternbild der Waage. Gegensätzlichkeiten treten in allen positiven und negativen Verhältnissen auf, wie Tag und Nacht, Leben und Tod, heiß und kalt; auch oben und unten, links und rechts, vorn und hinten gehören hierher. Da sich die Sprache der Renaissance mit Vorliebe der Termini der Lebenswelt, der Trieb-, Wunsch- und Emotionssphäre bedient, drückt
1558). Zuerst von demselben Lateinisch beschrieben; hernach von Ihm selbst vermehret ... , Nürnberg 1680, Bd. 1, S. 47 (Buch 1, Kap. 6, Abschnitt 7). 11 Vgl. das konvexe Selbstporträt von Parmigianino, 1524, im Kunsthistorischen Museum Wien, abgebildet in: G. Maiorino: The Portrait of Eccentricity. Arcimboldo and the Mannerist Grotesque, The Pennsylvania State University Press and London, 1991, S. 54. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
sie die gegenseitigen Beziehungen der um eine Mittelachse angeordneten Phänomene durch Sympathie und Antipathie, Attraktion und Repulsion, Freundschaft und Feindschaft, Liebe und Haß aus oder auch durch musikalisch-psychologische Verhältnisse wie Harmonie und Disharmonie, Zusammenklang und Mißklang. Konvergenz findet ihre Explikation in Ausdrücken wie Paarung, Vermählung, Vereinigung, Vermischung, Divergenz in Trennung, Abschied, Tod. Als elementare Basis für Anziehung und Abstoßung sowie wechselseitigen Ausgleich dienen die vier Elemente und ihre Eigenschaften. Feuer und Wasser bilden aufgrundihrer Attribute, Wärme und Trockenheit einerseits, Kälte und Feuchtigkeit andererseits, feindliche, einander ausschließende Extreme ebenso wie Luft und Erde aufgrundihrer Attribute, Wärme und Feuchtigkeit einerseits, Kälte und Trockenheit andererseits. Zur Erzeugung eines harmonischen Ausgleichs ist daher zwischen Feuer und Wasser die Luft situiert und zwischen Luft und Erde das Wasser; denn aufgrund ihrer Wärme ist die Luft dem Feuer benachbart, aufgrund ihrer Feuchtigkeit dem Wasser, ebenso das Wasseraufgrund seiner Feuchtigkeit der Luft, aufgrund seiner Kälte der Erde. In den Annotations & observations au grand miroir du monde von Duchesne heißt es:
'
»Obwohl die vier Körper (Wasser, Feuer, Luft, Erde) an sich einfach\ind und verschiedene Eigenschaften haben, vor allem, weil der Schöpfer angeordnet hat, daß die elementaren Körper aus den vermischten Elementen gebildet werden, sind die Übereinstimmungen und Abweichungen bemerkenswert, was man an ihren Eigenschaften sieht. Das Element Feuer ist heiß und trokken. Es hat also eine Antipathie zu den Eigenschaften des Wassers, das kalt und feucht ist. Die heiße Luft ist feucht, die kalte Erde ist trocken, daraus folgt Antipathie. Um sie in Einklang zu bringen, ist die Luft zwischen Feuer und Wasser gestellt, das Wasser zwischen Erde und Luft. In der Beziehung, daß die Luft warm ist, ist sie dem Feuer benachbart, und ihre Feuchtigkeit verträgt sich mit der des Wassers. Weil ihre Feuchtigkeit gemäßigt ist, mäßigt sie die Wärme des Feuers und erhält von diesem auch Unterstützung, wie die Luft andererseits durch ihre geringe Wärme die kühle Feuchtigkeit des Wassers erhält. Die Feuchtigkeit des Wassers wird durch die Hitze der Luft erwärmt und erleichtert die Trockenheit der Erde.« 12
Beziehungen positiver wie negativer Art sind sowohl bei Gleichartigem wie bei Ungleichartigem zu beobachten, wie sich dies schon in Joseph Duchesne (Quercetanus): Le grand miroir du monde. Deuxieme edition, ... annotations & observations sur le texte par S. G. S., Lyon 1593, S. 498 (Übersetzung von der Verfasserin).
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Redewendungen und Sprüchen niederschlägt. So heißt es nicht nur: »Gleich zu Gleich gesellt sich gern« und »Gegensätze stoßen sich ab«, sondern auch: »Gegensätze ziehen sich an« und »Gleich mit Gleich verträgt sich nicht«. (3.) In die dritte Gruppe fallen zyklische Vorgänge, wie sie teils durch biologische, teils durch astronomische Prozesse nahegelegt werden, z. B. durch die rhythmisch wiederkehrenden Bewegungen des Herz- und Pulsschlags, des Ein- und Ausatmens, des Einschlafens und Aufwachens, des Tages- und Nachtrhythmus, des Jahreszeitenzyklus. Die orphisch-pythagoreische Tradition hat den Gedanken vom Kreislauf des Lebens und der Palingenesis der Seele zur Lehre ausgebaut, derzufolge nicht nur der Tod aus dem Leben, sondern auch das Leben aus dem Tod hervorgehtY Im Hinduismus wird dieser Gedanke durch das Rad der Wiedergeburten wiedergegeben. Ihre bildliehe Darstellung findet die Zyklik im Kreislauf. Dieser ist ein Zeitphänomen, bei dem heterogene, sogar konträre Instanzen aufeinander und auseinander folgen gemäß dem Kausalitätsgesetz, und zwar so, daß jede Wirkung einer Ursache ihrerseits Ursache einer anderen Wirkung ist und so beliebig fort, jedoch mit der Einschränkung, daß sich auch über noch so viele Zwischenglieder das Ende in den Anfang zurückschlingt. Die Zusammengehörigkeit der zeitlich auseinandergelegten, sukzessiv aufeinanderfolgenden heterogenen Glieder läßt sich durch den Bezug auf eine Ursprungsdimension verständlich machen, bei der das zeitlich expandierte Nacheinander von Ursache und Wirkung in der atemporalen bzw. gleichzeitigen causasui-Beziehung zusammengeschrumpft ist. Zwischen Ursprungsdimension und abgeleiteter Dimension besteht ein Implikations-Explikationsverhältnis. Während der Kreis auf der einen Seite als Zeitgestalt fungiert, kommt ihm auf der anderen eine räumliche Funktion zu. Insbesondere konzentrische, ineinandergeschachtelte Kreise, die sich von einem Zentrum aus wellenförmig zur Peripherie hin ausbreiten, haben die Aufgabe, jene in der Ursprungsdimension zusammengehörigen Ding- und Eigenschaftskomplexe bei der Analyse gemäß der Implikations-Explikationsschematik aufzunehmen. Die Zusammengehörigkeit oft heterogenster Bestandteile erklärt sich aus ihrer notwendigen Angewiesenheit aufeinander, die teils über Komplementarität und gegenseitige Komplettierung, teils über nachbarschaftliebes " Vgl. auch Platon: Phaidon 70 c ff. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Nebeneinander geschieht. Mit einem modernen, von Wittgenstein stammenden Begriff könnte man hier von Familienähnlichkeit sprechen, wobei die Glieder einer Familie: Vater, Mutter, Kind, Onkel, Tante sich nicht in allen Eigenschaften gleichen, sondern nur teilweise Deckungssynthesen aufweisen, indem z. B. die einen in Wuchs und Gang übereinstimmen, die anderen in Gang und Nasenform und wieder andere in Wuchs und Charakter, so daß es für jedes Glied einen Spielraum von Freiheitsgraden gibt, der seine Eigenständigkeit ausdrückt. Bei Agrippa von Nettesheim finden sich in der Schrift De occulta philosophia umfangreiche Analogiereihen am Leitfaden der Planeten: Sonne, Mond, Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur. So heißt es beispielsweise unter dem Leitgestirn »Sonne«: »Unter den Elementen sind solarisch das Feuer und die lichte Flamme; unter den Säften das reine Blut und der Lebensgeist; unter den Geschmäcken der scharfe mit Süßigkeit vermischte; unter den Metallen wegen seines Glanzes das Gold, dem die Sonne eine herzstärkende Eigenschaft verleiht; unter den Steinen solche, welche durch goldene Punkte die Sonnenstrahlen nachahmen, wie der Adlerstein, der solche Punkte hat und eine Kraft gegen die fallen~e Sucht und gegen Gifte besitzt. Der Stein, welcher Sonnenauge heißt und dl'e Figur einer Augenpupille hat, aus deren Mitte ein Strahl hervorschimmert, stärkt das Gehirn und Gesicht [... j « 14
Und unter dem Leitgestirn »Mond« heißt es: »Dem Monde zugehörig (lunarisch) sind unter den Elementen die Erde, sodann das Wasser, sowohl das Meer- als das Flußwasser, und alles Feuchte, die Säfte der Bäume und der Tiere, hauptsächlich die weißen, als Eiweiß, Fett, Schweiß, Schleim und andere Flüssigkeiten der Körper. Von den Geschmäkken gehören dem Monde an der salzige und unschmackhafte. Unter den Metallen ist lunarisch das Silber, unter den Steinen der Kristall, der silberfarbene Markasit und alle weißen und grünen Steine, desgleichen der Selenit oder Mondstein, welcher von honiggelbem Glanze, weißlich durchscheinend ist und nicht nur die Gestalt des Mondes, sondern auch sein tägliches Zu- oder Abnehmen darstellt. Dem Monde gehören auch die Perlen an, die aus Wassertropfen in den Muscheln erzeugt werden, ebenso der Kristall und Beryll. Unter den Pflanzen und Bäumen sind lunarisch das Selenotropium, das sich nach dem Monde wendet, wie die Sonnenwende nach der Sonne; die Palme, welche alle Monate neue Zweige ansetzt; [... ] ferner das Keuschlamm und der Keuschbaum und der Ölbaum, desgleichen das Kraut Chinostares, welH. C. Agrippa von Nettesheirn: Die magischen Werke (Titel der Originalausgabe: De occulta pltilosopltia libri tres, Antwerpen 1531), 4. Auf!. Wiesbaden 1997, S. 59f.
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ches mit dem Monde wächst und abnimmt, nämlich an Substanz und Zahl der Blätter [ ... ] Unter den Tieren gehören diejenigen dem Monde an, die gerne im Umgang mit den Menschen leben und die sich durch verschiedene natürliche Neigungen und Abneigungen gleichermaßen auszeichnen, wie die Hunde jeder Art. Lunarisch ist auch das Chamäleon, das nach der Verschiedenheit der Farbe eines Gegenstandes immer eine ähnliche annimmt, wie der Mond nach Verschiedenheit des Zeichens, in welchem er sich befindet, seine Natur wechselt[ ... ]« 15
Als Gliederungsprinzipien des Sonnenartigen, Mondartigen oder sonstigen Astralischen gelten Agrippa Figur, Bewegung, Strahlen der Himmelskörper, Farbe, Wirkung. Implizit macht er auch von ihrer Umgebung, von Tastqualitäten u. ä. Gebrauch. Wie zur Sonne die Kugelgestalt und abgeleiteterweise die Kreis form, die gelbe Farbe, das Feuer, das Metall »Gold«, der Einfluß der Sonnenstrahlen auf Leben, Wachsen und Gedeihen, das Wohlbefinden, ebenso ihr natürlicher Ort am Himmel gehören, so gehören zum Mond die wechselnde Form: Scheibe, Sichel, die silbrige Farbe, das Metall »Silber«, die Wirkung auf den Menschen bei Nacht: Ruhe und Kühle usw. Die im Leitphänomen assoziierten Momente lassen sich bei Explikation den konzentrischen Kreisen zuordnen, wobei dem einen Kreis, der z. B. die geometrische Sphäre repräsentiert, die Form zukommt, dem anderen, der das Elementarische verkörpert, das Metall, dem nächsten, der das Optische darstellt, die Farbe. Die Reihenfolge ist variabel und austauschbar aufgrund der Koexistenz der Attribute in der Ursprungsdimension. Dieses Kreismodell ermöglicht entlang von Radiallinien, die vom Mittelpunkt zur Peripherie durch die konzentrisch angeordneten Kreise verlaufen, die Beziehung derselben aufeinander. 16 Hierin dürfte der auffälligste und gravierendste Unterschied zum Klassifikationsschema bestehen. Während das Klassifikationsdenken das Seiende nach bestimmten Hinsichten- Gattungen- zusammenfaßt, sei es nach Tieren oder Pflanzen oder Metallen oder Eigenschaften, und innerhalb dieser spezifiziert und differenziert, so beispielsweise die Gattung »Baum« nach Laub- und Nadelbäumen und letztere wieder nach Zypressen und Kieferngewächsen und diese wieder nach Tannen und Fichten usw., ordnet das Analogiedenken A.a.O., S. 62f. Auch eine Anordnung der heterogenen Instanzen auf der jeweiligen Kreislinie ist möglich, die dann die Garantie für die vom Ursprung her bestehende Zusammengehörigkeit der Instanzen bietet. 15
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das Seiende quer durch die Reihe einander zu: Tiere, Pflanzen, Metalle, Eigenschaften, Formen, Farben, Einflüsse, Befindlichkeiten usw. Dasselbe läßt sich nicht nur am Kreismodell veranschaulichen, sondern auch an den für die Renaissance typischen Tabellen, die unter einer als Leitfaden fungierenden Urreihe andere Reihen parallel dazu rubrizieren, die die entsprechenden Tiere, Pflanzen, Metalle, Eigenschaften usw. enthalten. Die Kreislinien des Kreismodells sind hier gleichsam halbiert und parallelisiert. 17 Wie für die Zuordnung der heterogenen Instanzen der Zusammenhang im Urphänomen verantwortlich ist, so lassen sich für die Reihung als solche oft noch spezielle Gesetzmäßigkeiten anführen, wie im Falle der Planeten die Anordnung und Abfolge nach ihrer sichtbaren Entfernung von der Erde aus. Der Arcimboldische Jahreszeitenzyklus weist auf den Vegetationszyklus, andere Reihen auf einen Zeugungs- bzw. Fütterungs-, einen Eroberungs- bzw. Überwindungszyklus, einen Kontrollzyklus, einen Maskierungszyklus usw. 18 Werden beispielsweise Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser als Urreihe genannt, so erklärt sich diese nach dem Erzeugungs- und Fütterungsgesetz derart, daß Holz Feuer erzeugt und Flamme~· nährt, Feuer Asche erzeugt, Asche (Erde) Mineralien (Metalle) hervorbringt, Metall Wasser erzeugt und anzieht (bei nächtlichem Tau), Wasser Pflanzen (Holz) ernährt. Auch das heute in der Wissenschaft als einziges noch gebräuchliche Ursache-Wirkungsgesetz ist ein Erklärungsprinzip für die Wandlungsphasen und damit rechtbesehen kein wissenschaftlicher, sondern ein mythischer Begriff. Die im Vorangehenden aufgezeigten Verhältnisse: Abstufungen und Genealogien in linearer wie sich verzweigender Folge, Duplexund Symmetriephänomene, Kreisbewegung und Kreisgestalt sowie die unter Verwendung derselben gebildeten Gesamtmodelle lassen sich folgendermaßen schematisieren: 17 Bei der anderen Interpretation des Kreismodells (Anm. 16) geben die jeweiligen Radiallinien die Leitlinie und die Parallelisierungen an. 18 Vgl. die Ausführungen von P. Frei zu den chinesischen Darstellungen, die denen der Renaissance entsprechen: Grundfragen der Kategorien/ehre. Untersuchungen zum Wesen und Umfang der Kategorienlehre sowie zur Begriffslehre der Schullogik und der chinesischen bzw. geheimwissenschaftliehen Logik, Basel1999, S. 155 ff.; ders.: Die Begriffs/ehre der chinesischen und geheimwissenschaftliehen Entsprechungslogik, in: K. Gloy und M. Bachmann (Hrsg.): Das Analogiedenken- Vorstöße in einneues Gebiet der Rationalitätstheor·ie, Freiburg, München 2000, S. 324-345, bes. S. 339.
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Der analegisehe Rationalitätstypus einlache Strukturen:
•
• ·l • •
L..usammensetzungen: Sonne
Gold
Saturn
Sonne
Mond
Saturn
Sonne
gelb
Gold
gelb
silber
schwarz
Mond
silber
Silber
Gold
Silber
Blei
Saturn
schwarz
Blei
Sie formen den morphologischen Grundraster des Analogiedenkens, der feste, gesetzmäßige Verbindungswege aufzeigt, freilich andere als die gewohnten des Klassifikationsdenkens. Ein System invarianter Strukturen vertikaler, horizontaler und zyklischer Art überzieht das Seiende und ermöglicht entlang dieser Linien und Radien die Zuordnung der Elemente. Hypotaxis wie Parataxis ist für das System ebenso konstitutiv wie Rotation. 19 19 Zur Strukturierung der hermetischen Weltmodelle der Renaissance vgl. auch die Arbeiten von M. Bachmann: Zur Rationalität der Geisteswissenschaften. Das Koordinatenystem im hermetischen Kosmogramm, in: K. Gloy (Hrsg.): Rationalitätstypen, Freiburg, München 1999, S. 185-212; ders.: Brücken zu einer vergessenen Denkform, in: K. Gloy und M. Bachmann (Hrsg.): Das Analogiedenken- Vorstöße in ein neues Gebiet der Rationalitätstheorie, a. a. 0., S. 11-23; ders.: Die Topologie der Analogie in der Na-
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Erster Teil: Rationalitätstypen
4. Analogieformen
Auf der Basis des skizzierten Gesamtsystems begegnen Analogien mindestens in drei Varianten, die mit den ihnen zugrundeliegenden Raum- und Zeitstrukturen zusammenhängen. Es sind dies erstens räumlich-zeitliche Identität der Analoga, d. h. ihr Zusammenfall, zweitens räumlich-zeitliche Kontiguität, ihr simultanes Nebeneinander oder sukzessives Nacheinander, und drittens ihr Zusammenhang über räumliche und zeitliche Sprünge hinweg. (1.) Die extremste Form der Analogiebildung und wechselseitigen Verweisung der Analoga aufeinander liegt vor bei räumlich-zeitlicher Identität, die im Kontext des Raumes »Polymorphie« heißt, im Kontext der Zeit »Metamorphose«. Man trifft sie an bei analytischer Explikation eines komplexen Leitphänomens in seine diversen formalen wie materialen, quantitativen wie qualitativen, kausalen oder wie immer sonst gearteten Bestandteile. Ein schon genanntes Beispiel ist die Zerlegung der Sonne in die formale Gestalt der Kugel mit deren Ableitungen, dem Kreis und dem kontrahierten Punkt, in die materielle Substanz »Gold« oder »hartes Metall«, in das Element »Feuer«, in die Farbqualität »gelb«, die Tastqualität »brennend heiß«, die Habitualität »Wohlbefinden«, »Wachsen und Gedeihen«, die Zeitangabe ihres Auftretens, den Tag, usw. oder die Zerlegung des Mondes in die formalen Bestimmungen »Scheibe«, »Sichel«, »wechselnde Form«, die materialen Bestimmungen »Silber«, »Stahl«, die Farbqualität »silbrigweiß«, die Tastqualität »kühl«, die Habitualität »Ruhe«, »Stille«, die Zeitangabe »Nacht« usw. Jedes dieser das Insgesamt konstituierenden Momente verweist auf das Ganze wie auf jedes andere Moment, tritt also repräsentativ und austauschbar auf. Das Analogiedenken hat den Charakter desparspro toto, bei dem der Teil für das Ganze steht, das Ganze verkörpert, nicht nur in dem Sinne, daß ein quantitativer Ausschnitt das Ganze vertritt, z. B. ein Getreidekorn die gesamte Ernte oder ein Erdklumpen das ganze Feld, sondern auch in dem, daß eine qualitative Bestimmung Indikator der anderen Bestimmungen ist, z. B. die gelbe Farbe Indikator für Feuer und Flamme, die Scheibe Indikator für Sonne, ebenso für Gold. Diese Polysemie erklärt das abrupte, instantane Umschlagen der Bestandteile ineinander, ihre Oszillation. Die Tatsache, daß jedes Moment tUJ·mystik der Renaissance, a.a.O., S. 117-143; ders.: Die Kategorie der morphologischen Symmetrie in Agrippas Magie, a. a. 0., S. 144-183.
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Der analegisehe R.ationaiitätstypus
sich selbst und auch andere bezeichnet, kann instrumentalisiert werden. (2.) Eine zweite Form der Analogiebildung liegt vor im Falle räumlich-zeitlicher Kontiguität, wie sie sowohl bei simultanem Nebeneinander wie bei sukzessivem Nacheinander vorkommt. Diese nachbarschaftliehe Affinität ist auch unter dem Namen convenientia bekannt. Die Ursache derselben kann zweifacher Art sein: Entweder geht die Ahnlichkeit bei der Koexistenz auf das Zusammenwachsen ursprünglich getrennter und verschiedener Entitäten zurück. Räumlich-zeitliche Nachbarschaft kann eine assimilierende Wirkung haben, wie dies häufig bei Ehepartnern zu beobachten ist, die trotz verschiedener Physiognomie, Herkunft, Erziehung und Bildung aufgrund gleicher Umgebung, gleicher materieller und geistiger Nahrung, gleicher Betätigung usw. sich angleichen. Oder aber eine tieferliegende Ähnlichkeit erklärt die Zusammengehörigkeit äußerlich verschiedener Dinge. So unterstellen beispielsweise die Humanisten, daß das Geweih auf dem Kopf des Hirsches pflanzliches Gebüsch sei und der Bart des Mannes GrasbüscheL Wie sich Moos und Flechten auf dem Gehäuse von Schnecken ansiedeln und mit diesem eine Symbiose eingehen, so sollen auch Hirsch und Gebüsch, Mann und Grasbüschel symbiotisch zusammengehen und auf eine tieferliegende Einheit von Tier und Pflanze deuten, auf den Zoophyten 20 H. Cardanus faßt in seinem Buch De subtilitate eine Kontiguität von Pflanzen und Metallen ins Auge, wahrscheinlich aufgrund der Beobachtung pflanzlicher Einschlüsse im Gestein oder auch aufgrund der Ähnlichkeit baumartig verzweigter Silber- oder sonstiger Erzadern im Gestein mit Bäumen, was auf eine ursprüngliche Einheit zu deuten scheint. »Man begreift, daß Metalle leben, durch das folgende Argument, nämlich weil im Gestein [die Metalle] gleichsam wie Blumen und Früchte entstehen, und zwar nicht anders als Pflanzen mit weit ausgebreiteten Zweigen, Wurzeln, Stämmen, so daß das Metall oder die metallische Substanz nichts anderes als eine verborgene Pflanze ist.<< 21
Vgl. U. Aldrovandi: Monstrorvm historia cvm paralipomenis historiae omnium animalium, Bononiae 1642, S. 663 f. 21 H. Cardanus: De subtilitate libri XXI, in: Opera omnia. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Lyon 1663 mit einer Einleitung von A. Buck, 10 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, Bd. 3, S. 440: >>[ ... ] metallica viuere etiam hoc argumento deprehenditur, quod in montibus non secus ac plantae nascuntur, patulis siquidem ramis, radicibus, truncis, ac 20
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Erster Teil: Rationalitätstypen
In der pseudoparacelsischen Schrift Philosophia ad Athenienses 22 findet sich eine Zuordnung diverser Dinge zu den vier Elementen. Wie diese aus einer Urmutter, dem ungeschaffenen mysterium magnum, hervorgegangen sind, so sind sie selbst auch »Mütter« für die aus ihnen hervorgehenden Dinge. So wird dem Wasser alles Wäßrige zugeordnet, Brunnen, Bäche, Meere, aber auch Fische aller Art und Steine wie Bernstein, Beryll, Kristall, Amethyst, desgleichen Steingewächse wie Korallen, sodann Flußwesen wie Nymphen und Sirenen. Der Erde kommt alles Erdartige zu, Metalle, Mineralien, Edelsteine, Pflanzen und Kräuter, Tiere und Menschen, aber auch Erdgeister wie Gnome, Nachttraute und Riesen, der Luft ihrerseits das Unsichtbare und Unbegreifliche, wozu Schicksale (fata), Eindrücke (impressiones), Träume (somnia), Gesichte (visiones) gehören, ebenso die »luftischen reden, gedanken und taten« 23 und schließlich dem Feuer das ihm Gleichartige wie der Himmel mit Sternen und Planeten, Blitz und Donner, außerdem bestimmte körperliche Wesen, bestimmte Steine wie Kalkstein und Farben. Zugleich ist es Lebens- und Wachstumselement, das sich in der Flamme als lebendige Seele zeigt. Die Zuordnung der diversen Gegenstände zu den jeweiligen Bereichen erfolgt teils aufgrund der Selbigkeit der Substanz (Wasser Bach, Meer), teils aufgrund der Selbigkeit der Eigenschaften (Luftluftige Rede), der Selbigkeit der Kräfte (Feuer- belebendes Prinzip) oder der Selbigkeit des Ortes und der Umgebung (Wasser - Wassertiere und -pflanzen). Jedes Ding hat teil am gemeinsamen Ursprung, sei es kraft seiner Herkunft aus diesem über Ableitungsstufen unter Bewahrung von Inhalten und Formen, sei es kraft Zugehörigkeit zu einem assoziativen Ganzen. 24 So ist der Fisch nicht ohne Wasser denkbar, die Pflanze nicht ohne Erdreich. Wie der erste zum Flüssiveluti floribus, ac fructibus, vt non aliud sit metallum, aut metallica substantia, quam planta sepulta [ ... ] « (Übersetzung von der Verfasserin). 22 Th. B. von Hohenheim, genannt Paracelsus: Sämtliche Werke, 1. Abt.: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, hrsg. von K. Sudhoff, 14 Bde., München, Berlin 1922-1933, Reg.-Bd. von M. Müller (Nova Acta Paracelsica, Supplementum, Einsiedeln 1960), Bd. 13, S. 394-399 (Buch 1, Text 11-20). 23 A. a. 0. S. 398 (Buch 1, Text 19). 24 Ein Beispiel für diese Auffassung begegnet noch in Goethes weltanschaulichen Gedichten (Goethes Wer/ce. Hamburger Ausgabe, a. a. 0., Bd. 1, S. 367): »Wär nicht das Auge sonnenhaft Die Sonne könnt' es nie erblicken; Läg' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?<<
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Der analegisehe Rationalitätstypus
gen als seinem Lebenselement gehört und Anteil am Element des Wassers hat, so gehört die letzte zum Erdreich und hat Anteil am Element der Erde. (3.) Eine dritte Form analoger Beziehung von Instanzen aufeinander liegt vor bei räumlicher und zeitlicher Trennung derselben. Sie besteht über räumliche und zeitliche Sprünge hinweg, selbst bei extremer Distanz, und ist im eigentlichen Sinne unabhängig von Raum und Zeit. Diese als aemulatio bekannte Analogieform ist zum einen anzutreffen bei ähnlichen Gegenständen, die sich über Ableitungsketten herausgebildet haben, deren letztes Glied noch Ähnlichkeit mit dem ersten aufweist wie im Falle von Ururenkel und Urahn, oder die über Reduplikation oder symmetrische Spiegelung entstanden sind und sich im letzteren Fall wie Position und Negation zueinander verhalten wie das ungeheure Sternenmeer am Himmel und die unzähligen sternblütigen Pflanzen auf der Erde. Zum anderen ist sie bei unähnlichen Dingen anzutreffen, sofern diese über die Koexistenz im Leitphänomen zusammengehören. So bilden der Mensch und sein Kleid, die Person und ihr Name oder auch ihr Fußabdruck eine Einheit, was im magisch-mythischen Denken von Naturvölkern eine Rolle spielt, da das Kleid oder andere Accessoires eines Kriegers nicht in die Hände des feindlichen Stammes geraten dürfen, damit dieser nicht Macht über jenen und seinen Stamm gewinne. Auch der Namens- und Bildzauber hat hier seinen Ursprung. Beispiele für Ähnlichkeitsbeziehungen unabhängig von Raum und Zeit bilden die physiologischen Analogien, die die Basis für die vergleichende Anatomie abgeben. Die heutige vergleichende Anatomie geht auf Studien Pierre Belans zurück, der vergleichende Tafeln zwischen Menschen- und Vogelskelett aufstellte und dabei entdeckte, daß die Extremitäten des Menschen den Flügeln und Greiforganen der Vögel entsprechen und der menschliche Knochenbau, was Hände und Füße mit je vier Fingern und einem Daumen bzw. vier Zehen und einem großen Zeh betrifft, dem architektonischen Grundriß der Flügel und Greiforgane mit vier Krallen und einer großen Hinterkralle gleicht. 25 Nicht weniger bekannt sind die Tier- und Pflanzenanalogien, die in der Pflanze Vgl. P. Belon du Mans: L'histoire de Ia nature des oyseaux, avec leurs descriptions, & naifs portraicts. Fac=simile de l'edition de 1555, avec introduction et notespar Ph. Glar-
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don, Genf 1997, S. 38ff. (chap. XII). Vernunft und das Andere der Vernunft
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ein umgestülptes Tier sehen, das seine nahrungsaufnehmenden Organe, den Mund und die Kauwerkzeuge, in Form von Wurzeln ins Erdreich senkt. Auch die inverse Analogie ist geläufig, derzufolge der tierische Bau aus Kopf, Rumpf und Füßen dem pflanzlichen Bau aus Blüte, Stengel und Wurzeln entspricht und der Adernfluß der Tiere genau wie der Säftefluß der Pflanze von unten nach oben verläuft, indem er im unteren Teil des Bauches beginnt und zum Herzen und Kopf aufsteigt. Die über räumliche und zeitliche Distanzen sich erstreckenden Analogien erschließen sich nicht nur dem theoretischen Verständnis, sondern werden auch in der Praxis genutzt, z. B. in der Medizin für homöopathische Zwecke, in der Psychologie für Analyse, Hypnose, Trance, Ekstase und Suggestion, in der Astrologie und Chiromantie für Zukunftsprognosen und in der Zauberei und Hexerei für positive wie negative Einflußnahme. So versucht der Homöopath Kopfschmerzen durch die Verabreichung von Walnüssen zu lindern, da nach dem Gesetz der Ähnlichkeit das Innere der Walnüsse ähnliche Windungen und Schlingen aufweist wie das Gehirn und somit eine Affinität zu diesem hat. Während die Wunden des Gehirnschädels durch die dicke grüne Schale, die dem Walnußkern aufliegt, geheilt werden sollen, sollen sich die inneren Kopfschmerzen nur durch den Kern selbst bekämpfen lassen, der dem Gehirn gleicht. 26 Die Samen des Eisenhuts, die aus kleinen schwarzen Kügelchen in weißen Schalen bestehen und das Aussehen von Augenlidern haben, dienen als AugenheilmitteL Für den Homöopathen gilt es, die Signaturen der Natur zu lesen und zu verstehen und Beziehungen der Ähnlichkeit oder Isomorphie aufzudecken. Die Chiromantie deutet aus den Handlinien zukünftige Schicksalskonstellationen, die in Zusammenhang mit der Gesamtpersönlichkeit und ihrer Verhaltensdisposition stehen. So sind lange Linien das Bild für ein langes Leben, kurze das für ein kurzes. Sich kreuzende Linien deuten auf die Begegnung mit Hindernissen und Gefahren, aufrechte auf Erfolg. Die Breite der Linien ist ein Zeichen für Ansehen und Reichtum, die Kontinuität für
Vgl. 0. Crollius: Tractatus Oe Signaturis lntemis Rerum, Seu Oe Vera Et Viva Anatomia Majoris Et minoris mundi, abgedruckt in: Basilica Chymica, Frankfurt 1609, S. 17. Wiederabdruck in: 0. Crollius: De signaturis internis rerum. Die lateinische Editio princeps (1609) und die deutsche Erstübersetzung (1623), hrsg. und eingeleitet von E. Kühlmann und J. Teile, Stuttgart 1996, S. 94.
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Der analegisehe Rationalitätstypus
Glück und die Diskontinuität für UngemachY 28 Entsprechendes gilt für die Astrologie, die aus planetarischen Konstellationen auf entsprechende Konstellationen im Schicksal des Menschen schließt und daraus Einflüsse ableitet. Wie sehr selbst das alltägliche Leben von solchen Vorstellungen beherrscht ist, etwa die Feld- und Gartenbestellung, was den Zeitpunkt des Aussäens, Pflanzens und Erntens betrifft, geht aus unzähligen diesbezüglichen Anleitungen hervor, die in der Gegenwart Hochkonjunktur haben.
5. Die Logik des Analogiedenkens
Als Grundlage des Analogiedenkens erweist sich die Alleinheitsvorstellung, die in begrifflicher Notation besagt, daß Alles Eines und Eines Alles sei. Das Analogiedenken versucht die Explikation dieser totalen Einheit durch ein hochkomplexes und hochkompliziertes Relationssystem vertikaler, horizontaler und zyklischer Verweise, in dem Abhängigkeiten linearer wie verzweigter Art, Reduplikationen, Symmetrien, Polaritäten, Rotationssymmetrien usw. vorkommen, so daß auf geregelten Wegen die Verbindung jedes mit jedem nachvollzogen werden kann. Wenn die These von der zugrundeliegenden Alleinheit auch eine Verabsolutierung darstellt, so findet sie eine zumindest partielle phänomenale Stütze in den sogenannten überdeterminierten Phänomenen, wie sie aus der Wahrnehmungspsychologie bekannt sind, aus Kippfiguren wie der Rubinsehen Becherfigur, die einmal eine griechische Amphora, dann zwei sich anblickende Gesichter zeigt, aus Vexierspielen, die aus einer Konfiguration plötzlich in eine andere umschlagen und wieder zurück, aus Zwitterphänomenen, die unentschieden lassen, ob man z. B. bei einem flüchtigen Blick in ein Schaufenster eine Schaufensterpuppe oder eine lebendige Person sieht, aus den Escherschen Figuren, die eine Treppe zeigen, die nicht nur aufund absteigt, sondern sich im Kreise dreht. Vgl. H. Cardanus: Metoposcopie libris tredecim, et octogingentis faciei humanae eiconibus complexa, Paris 1658, S. III-VIII, vgl. den Nachdruck Opera omnia, a. a. 0., Bd. 1, Praefatio. ' 8 Dem Schriftbild fällt dieselbe Rolle zu. Es spiegelt konstitutive Züge und Charaktermerkmale eines Menschen, die auch zur Prognose für dessen zukünftige Schicksalskonstellationen herangezogen werden können, da sich ein Mensch mit diesen oder jenen Eigenarten stets in einer bestimmten Weise in bestimmten Situationen verhalten wird. 27
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Künstlerisch verwendet werden diese Phänomene von der Malerei und Plastik. Gerade die Kunst Arcimboldos ist voll von solchen Umschlagsphänomenen von der anthropomorphen Ebene in die botanische und die jahreszeitliche und umgekehrt. Einmal aufmerksam geworden auf diese ambivalenten Phänomene, entdeckt man sie in der Physik bei der quantentheoretischen Interpretation des Lichts als Welle und Teilchen, nicht weniger in der Psychologie bei der Ausdeutungvon Träumen, die häufig Gegenphänomene zur Wirklichkeit sind, in der Sprache, insbesondere in den älteren morphologischen Schichten des Ägyptischen, Semitischen, aber auch der europäischen Sprachen, in denen Wörter Gegensinne vereinigen können, z. B. das lateinische altus, das »hoch« wie »tief« bedeutet, oder das englische down, das »Berg« wie »Tal« (»nieder«) meint, das deutsche »Boden«, das sowohl den »Dach-« wie den »Fußboden« (»Höchstes« wie »Grund«) bezeichnet. Wie diese Beispiele erkennen lassen, sind mitnichten alle Phänomene eindeutig, vielmehr gibt es eine Vielzahl mehrdeutiger, die von einer Instanz in die andere umschlagen und in der Alleinheitsvorstellung zur absoluten Überdetermination gesteigert sind. Das ontologische Substrat dieser Diaphanität, dieses Durchscheinens mehrerer oder aller Instanzen in einer, dieses Verweisens und Transzendierens kann nur als Fluidität gedacht werden, nicht als starres, festes Sein. Unsere gängige Ontologie mit ihrer festen Gegenstandsauffassung wäre danach zu ersetzen durch eine dynamische Theorie. Angesichts der Tatsache, daß das Analogiedenken dieses Fluidum durch ein hochkomplexes Relations- und Verweisungssystem einzufangen versucht, stellt sich die Frage nach dem in ihm herrschenden Logiktypus und dessen Verhältnis zur klassischen Logik. Bleibt die traditionelle zweiwertige Logik grundsätzlich in Geltung und bedarf lediglich einer Komplettierung durch eine mehrwenige Logik, oder ist sie durch eine Alternativlogik zu ersetzen? Im Unterschied zum Analogiedenken oktroyiert das klassische Rationalitäts- und Wissenschaftsverständnis der ontologischen Grundlage ein relativ simples und daher für die Wissenschaft besonders geeignetes System, das zu einer statischen Gegenstandsauffassung führt, die den Gegenstand als äußerlich wie innerlich wohlbestimmtes Objekt interpretiert, das nach außen gegenüber anderen Objekten scharf abgegrenzt und nach innen hinsichtlich seiner Merkmale differenziert und durchgegliedert ist. Zugrunde liegt dieser Auffassung die Idee einer vollständigen und durchgängigen Be230
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Der analegisehe Rationalitätstypus
stimmung des Gegenstands, derzufolge diesem von der Totalität möglicher Prädikate jeweils das eine zukommt, das andere nicht. Den Leitfaden bildet die dihairetische Klasseneinteilung, im Idealfall die Dichotomie, die die Gattung in zwei und nur zwei Arten und entsprechend in zwei und nur zwei Unterarten usw. einteilt, so daß jeder Gegenstand ein individuelles System möglicher Prädikate ist, wobei sich die Vielheit und Verschiedenheit der Gegenstände durch sukzessiv graduelle Kombination der Prädikate ergibt. Ohne dieses Schema durchgängiger und exklusiver Bestimmung hätte das die klassische Logik charakterisierende Binaritätsprinzip, das alle Grundsätze durchzieht und die beiden Werte »wahr« und »falsch« umfaßt, keinen Ansatzpunkt. Es allein erklärt die Geltung der logischen Axiome, desjenigen der Identität, das die durchgängige Gleichheit des Gegenstands mit sich postuliert, desjenigen des auszuschließenden Widerspruchs, das fordert, daß ein durch ein bestimmtes Prädikat definierter Gegenstand nicht zugleich durch ein kontradiktorisches bestimmt sein darf, und desjenigen des ausgeschlossenen Dritten, das besagt, daß ein Gegenstand nur A oder non A = B sein kann, nicht aber beides zugleich. Versucht nun ein Rationalitätstypus wie das Analogiedenken der Wirklichkeit als Fluidität gerecht zu werden, dann zeigen sich die Grenzen der klassischen Logik. Es ist dann zwar immer noch möglich, sich auf der Oberfläche dieses Fluidums scharf umrissene Gegenstände, Kristallisationspunkten gleich, zu denken, die den Axiomen der klassischen Logik genügen 29 , doch die Diskrepanz zum fluktuierenden Untergrund bleibt unübersehbar. Andererseits droht als Konsequenz aus der Identifizierung des analogischen Denkens mit dem fluktuierenden Untergrund eine logische Anarchie, die nicht nur den Satz des ausgeschlossenen Dritten in Mitleidenschaft zieht und anstelle des Entweder-Oder das Sowohl-als-auch von A und non A = B setzt, sondern auch den Satz der Identität und den des auszuschließenden Widerspruchs. Wenn alles in jedem ohne Exklusion des Widerspruchs enthalten ist, stellt sich der aus der mittelalterlichen Scholastik bekannte aussagenlogische Satz ex contradictione quodlibet sequitur ein, wonach aus Widersprüchlichem alles Mögliche, Wahres wie Falsches, folgt. Auf die Behebung dieser Konsequenz zielen mehrere Lösungsvorschläge: Hier legt sich ein Vergleich mit Schellings Theorie der Objekte nahe, die diese mit Wirbeln auf dem Untergrund eines ständig fließenden Lebensprozesses vergleicht.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
(1.) Die erste Reaktion, die drohende Gefahr einer logischen Anarchie zu bannen, besteht in dem Versuch, an der vertrauten zweiwertigen Logik mit ihren Axiomen festzuhalten, jedoch durch Einführung von Zusatzargumenten die Logik den kritischen Phänomenen anzupassen. Ein solcher Versuch liegt vor in der sogenannten epistemischen Logik, die über die logische Strukturierung der Gegenstände in Aussagen hinaus epistemische Parameter einführt, wie »angenommen«, »behauptet«, »bewiesen«, »gewußt«, »geglaubt«, »verworfen«, usw., die die Art und Weise der Zuschreibung der Wahrheitswerte zu den Aussagen betreffen. Wie auch sonst Widersprüche durch Einführung von Parametern, etwa eines Zeitparameters, vermieden werden, z. B. der widersprüchliche Satz »Peter ist groß und klein« durch Einführung von Zeitpunkten t 1 (Kindheit), t 2 (Erwachsenenalter), auf die die kontradiktorischen Zustände verteilt werden, so dient hier der zusätzliche epistemische Parameter zur Behebung der Widersprüchlichkeit. Von Relevanz ist in diesem Kontext der Parameter der Entschiedenheit. 30 Ist z. B. A die Klasse mit A als einzigem Element und soll bezüglich des kritischen überdeterminierten Phänomens, das AB impliziert, gesagt werden, ob AB zu A gehört oder nicht, so scheint zunächst keine der möglichen Alternativen »AB ist Element von A« oder »AB ist nicht Element von A« zuzutreffen und damit der Satz des tertium non datur widerlegt zu sein. Gemäß dem Vorschlag der epistemischen Logik zieht man sich jedoch auf die Weise aus der Schlinge, daß man die tatsächliche Unentschiedenheit der Situation konstatiert, wonach eine Wahrheitslücke klafft, die nur durch Entschiedenheit überwunden werden kann, etwa in dem Sinne, daß entschieden ist, daß AB Element von A ist, oder entschieden ist, daß AB nicht Element von A ist. In diesem Fall erhält man kontradiktorische Aussagen, von denen nicht die eine, sondern beide falsch und zurückzuweisen sind. Das Festhalten an der traditionellen binären Logik wird hier erkauft um den Preis ihrer universellen Geltung. Verliert jedoch die klassische Logik ihren Anspruch auf Universalität, so decouvriert sie sich als ein artifizielles Gebilde von beschränktem Umfang, das keine Fundierung im Sein hat und daher jederzeit von diesem aus attakkierbar und revidierbar ist. Sie hält sich nur durch den Ausschluß der
" Vgl. den Vorschlag von Hermann Schmitz in seinem Buch System der Philosophie, Bd. 1, Bonn 1964, S. 325 ff., bes. S. 327 f.
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Der analegisehe Rationalitätstypus
Offenheit und Transitivität des Seins am Leben, wohl wissend, daß sie diese letztlich nicht auszuschließen vermag. (2.) Ein zweiter Lösungsvorschlag zielt auf eine Revision der klassischen Logik durch Erweiterung zur mehrwertigen Logik. Dies geschieht durch Einführung von Quasi-Wahrheitswerten wie »halbwahr«, »weiche Negation«, »unbestimmt«, »Wahrheitsgrade« usw. Die Konsequenz ist die Suspendierung des dritten logischen Grundsatzes, des tertium non datur. Bei Sluckij geschieht dies nach dem Vorgang von tukasiewicz und Wajsberg durch Einführung einer dreiwertigen Logik, die außer »wahr« und »falsch« den Wert »halbwahr« benutzt, der, ins Umgangssprachliche übersetzt, ein »Jein« bedeutet, so wie wenn die Lauen auf die Frage, ob sie an Gott glauben, mit einem halbherzigen, zwischen Ja und Nein gelegenen» Jein« antworten. Blau 31 schreibt jedem Prädikat außer einem Positiv- und einem Negativbereich einen Neutralbereich zu und erteilt elementaren Sätzen den Wahrheitswert »unbestimmt«, wenn das Subjekt im Vagheitsbereich des Prädikats liegt. Zadeh 32 , ein amerikanischer Systemtheoretiker, charakterisiert unscharfe Mengen (fuzzy sets) durch Grade von wahr und falsch, wobei er sämtliche reellen Zahlen zwischen 0 und 1 zugrunde legt, also die unendliche Menge derselben (M oo) als Menge der möglichen Enthaltenseinswerte der Elemente in unscharfen Mengen nimmt. Der Nachteil dieser drei- und mehrwertigen Logiken ist der, jeden beliebigen Satz in einen halbwahren überführen zu können. Auf der Flucht vor der Skylla »Inkonsistenz« läuft man hier in den Rachen der Charybdis, nämlich in die Akzeptanz halbwahrer Sätze. (3.) Auf Rescher und Brandom 33 geht der Vorschlag zur Einführung von non-standard worlds zurück, die aus der Verletzung von Axiomen der klassischen Logik resultieren, die die standard worlds beschreiben. Während die Verletzung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten die sogenannte schematische non-standard U. Blau: Zur 3-wertigen Logik der natürlichen Sprache, in: Papiere zur Linguistik, 4 (1973), S. 20-96; ders.: Die dreiwertige Logik der Sprache: ihre Syntax, Semantik und Anwendung in der Sprachanalyse, Berlin, New York 1977. 32 L. A. Zadeh: Fuzzy Sets, in: Information and Contml, Bd. 8 (1965), S. 338-353. 33 N. Rescher and R. Brandom: The Logic of Inconsistency. A Study in Non-Standard Possible-World Semantics and Ontology, Oxford 1980. Vgl. Ch. Strub: Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie, Freiburg, München 1991, S. 438ff.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
world ergibt, in der weder P noch non P gilt, ergibt die Verletzung des Satzes vorn verbotenen Widerspruch die sogenannte inkonsistente non-standard world, in der sowohl P wie non P gilt. Bezeichnet der erste Typus von Welt »ontological underdeterrnination«, so der zweite »ontological overdeterrnination« 34 • Wichtig ist für Rescher und Brandorn die Annahme, daß auch die inkonsistenten Welten nicht unmöglich sind; denn behauptet wird in ihnen nicht, daß wahr sei, daß P und non P gelten, sondern nur, daß wahr sei, daß P, und daß wahr sei, daß non P gilt, wobei beide Wahrheitsbehauptungen strikt unabhängig voneinander sind. P und non P gehören folglich unterschiedlichen Systemen an, deren jedes nur für sich existieren und bewußt werden kann. Die non-standard worlds fallen somit im Grunde mit episternischen Einstellungen zur Welt zusammen und unterliegen deshalb derselben Kritik. (4.) In der letzten Zeit wird häufig die Mehrweltentheorie diskutiert, speziell im Kontext der Quantentheorie, was nicht zufällig ist, da das Licht bzw. elektromagnetische Phänomene zwei widerstreitende, jedoch komplementär aufeinander bezogene Naturen aufweisen, Teilchen- und Feldnatur. So schlägt Everett 35 bezüglich der Welt als objektive Beschreibung eine unreduzierte Wellenfunktion vor. Da nun jedes Meßresultat aufgrundder Irreversibilität des Meßvorgangs eine bestimmte Entscheidung impliziert, die in einer Reduktion des Gesamtwellenpakets besteht und allein dem jeweiligen Beobachter bekannt ist und seine Welt konstituiert, reduziert sich für ihn die Welt auf dieses bestimmte Resultat ohne Kenntnis der anderen Meßergebnisse in den übrigen Zweigen der Wellenfunktion. Nur ein Supertheoretiker, ein übermenschlicher oder göttlicher Geist, könnte alle Meßresultate gleichzeitig überblicken. Für einen menschlichen Beobachter sind aufgrundseiner Endlichkeit die beiden komplementären Eigenschaften »Welle« und »Teilchen;< bei der Messung des Lichts nie zugleich zugänglich, vielmehr verteilen sie sich auf verschiedene, voneinander unabhängige Beobachtungssituationen. Nichts anderes drückt die Heisenbergsche Unschärferelation aus, derzufolge Orts- und Impulsmessung nicht gleichzeitig exakt möglich sind. N. Rescherand R. Brandom: The Logic of Inconsistency, a. a. 0., S. 5. Vgl. H. Everett: >>Relative State« Formulation of Quantum Mechanics, in: Review of Modem Physics, Bd. 29 (1957), S. 454-462; ders: The Theory of Universal Wave Function, in: B. S. de Witt and N. Graham (Hrsg.): The Many Worlds Interpretation of Quantum Mechanics, Princeton, N. J., The University Press, 1973, S. 3-140.
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Der analogische Rationalitätstypus
Ebenso wie die komplementären Eigenschaften »Feld« und »Teilchen« in der Quantentheorie lassen sich auch die ambivalenten oder polymorphen Eigenschaften überdeterminierter Phänomene auf verschiedene unabhängige Welten verteilen, so daß die Frage virulent wird, wie ihre Zusammengehörigkeit dennoch auszumachen se1. Im Nachgang dieser Frage gelangt man zu der Überzeugung, daß die Mehrweltentheorie mit der klassischen Logik und ihren Axiomen in einem ersten Schritt durchaus kompatibel gedacht werden kann. Jede der selbständigen, voneinander unabhängigen Welten könnte gemäß der zweiwertigen Logik strukturiert sein, ein in sich konsistentes und kohärentes System darstellen, sogar auf der Basis der Idee einer durchgängigen und vollständigen Bestimmung des Gegenstands gemäß dem dichotomischen Einteilungsschema von genus proximum per differentiam specificam, also einen pyramidalen Bau mit über- und untergeordneten Gattungen, Arten und Unterarten repräsentieren. Während der Zusammenhalt der Teile des jeweiligen Gegenstandssystems hier durch die Einheit der Gattung garantiert wird und die interne Gliederung am Leitfaden der Spezifikation bzw. Generalisation erfolgt, könnte dies von der Zuordnung der diversen Welten (Gegenstandssysteme) zueinander nicht mehr gesagt werden, da die Einnahme eines archimedischen Standpunktes wie desjenigen des Supertheoretikers für das endliche Erkenntnissubjekt nicht möglich ist, sondern die Betrachtung ihren Ausgang von der jeweiligen Welt des Beobachters nehmen muß. Die Verbindung der diversen Gegenstandssysteme, sei es in Form von Verweis oder Transitus, kann hier nur entlang transversaler Linien erfolgen, die quer durch die Systeme hindurchgehen und diverse Individuen, diverse Arten, diverse Gattungen miteinander verbinden: Tiere, Pflanzen, Steine, Mineralien, Farben, Befindlichkeiten usw., wie dies an den Analogiereihen Agrippas sichtbar wurde. Jeder einzelne Teil eines Gegenstandssystems hat einen Transzendenzcharakter auf alle anderen korrelativen und komplementären Teile der anderen Gegenstandssysteme und über diese auf das Ganze. Er steht damit pars pro toto. In einem zweiten Schritt jedoch müßten die nach der klassischen Logik organisierten, transversal verbundenen Gegenstandssysteme aufgelöst werden nach demselben Prinzip, nach dem sie untereinander verbunden sind. Die anscheinend fest umrissenen Dinge, Eigenschaften und Sachverhalte müssen ihrerseits nach dem Vorbild Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
von Welle und Teilchen interpretiert und auf verschiedene Subsysteme verteilt werden und so in infiniturn, so daß sich das Ganze auflöst in ein durchgängiges Relationsgeflecht mit relativen Teilen. Feste Bestandteile entpuppen sich nur als Bündelungen komplexer Verhältnisse - Knotenpunkten, Symbolen gleich. In einem solchen System sind die klassischen Axiome der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten stets nur vorläufig und letztlich außer Kraft gesetzt. Es ist diese Relativität und Komplexität, die das Analogiedenken mit seiner Logik für die auf Simplizität, Präzision und Exaktheit abhebende Wissenschaft ungeeignet macht und letztlich zu seiner Verdrängung geführt hat.
6. Die semantischen (ikonographischen) Analogien in den Bildern Arcimboldos
Nach diesen Ausführungen ist noch einmal auf den Jahreszeitenzyklus Arcirnboldos zurückzukommen und eine Interpretation desselben gemäß Analogiegesetzen vorzunehmen. Denn es ist unschwer erkennbar, daß es sich bei den Bildern um hochartifizielle und hochintellektuelle Produkte handelt, die wie oft in der Renaissance Anlaß zu gelehrten Diskussionen und kommentierenden Gedichten gaben. Auf den Zusammenhang dieser manieristischen Kunst mit dem rhetorischen Stil ist in der Kunsttheorie schon des öfteren hingewiesen worden. So nennt Roland Barthes 36 Arcirnboldo »un rhetoricien« und seine Werke »un vrai laboratoire de tropes«. Die Bilder repräsentieren einen Zyklus von Menschenantlitzen aus diversen Lebensperioden: Jugend, Reife, Mannes-, Greisenalter, welcher durch einen Zyklus von Naturprodukten: Blütenknospen, reifenden, gereiften Früchten, verdorrten Wurzeln und Ästen expliziert wird, der seinerseits dem Zyklus der Jahreszeiten entspricht. Trotz der Diversität der Ebenen, der anthropologischen, biologischen (botanischen) und jahreszeitlich-astronomischen, sticht die physiologische Ähnlichkeit ins Auge. Das allen Gerneinsame ist der Lebensprozeß, der sich auf anthropologischer Ebene als Zyklus der Lebensalter darstellt, auf biologischer als Zyklus des Wachsens, Reifens und Verfallens und auf astronomischer als Zyklus der Jahreszeiten. Wir begegnen hier einem gemeinsamen Substrat bzw. einem gemein36
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R. Barthes: Arcimboldo, introduction par A. B. Oliva, Parma 1978, S. 30.
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samen Gesetz, das auf verschiedenen Ebenen gemäß den Bedingungen der jeweiligen Ebene wiederkehrt und deren Zusammenhang garantiert. Was für den Zyklus im ganzen gilt, gilt auch für jeden seiner Teile. So besteht eine physiognomische Ähnlichkeit zwischen dem jugendlichen, »blühenden« Gesicht des jungen Mannes und der Blütenfülle des Frühlings, den geformten Gesichtszügen des reifen Mannes und den reifen Früchten des Sommers, dem ausgeprägten, ausgereiften Gesicht des gesetzten Mannes und den vollreifen Beeren, Trauben und Früchten des Herbstes sowie dem verwelkten, runzligen Gesicht des Greises und dem abgestorbenen, kahlen, knorrigen Wurzel- und Ästewerk des Winters. Die Ähnlichkeit und die auf ihr basierende Analogie reicht bis ins Detail. Der jugendlichen wohlgeformten Nase entspricht die noch geschlossene Lilienknospe, der gurkenförmigen Nase die gebogene Gurke, der knollenförmigen die Kartoffelknolle. Auf den Wangen des jungen Mannes prangen rote und weiße Rosen und Nelken; die vollen Pausbacken des reifen Mannes sind vollreife Äpfel, die bacchantischen Züge des gereiften, trunkenen Mannes resultieren von überreifen Trauben und Beeren, der Bart des Alten wird durch Stoppeln und Wurzeln dargestellt, sein aufgequollener, schiefer Mund durch einen schwammigen Pilz. Jedes Detail auf anthropologischer Ebene zeigt eine physiognomische Ähnlichkeit mit jedem Detail der botanischen. Dies setzt sich bis in die Sprache hinein fort, sprechen wir doch von blühender Jugend, vom knorrigen Alten, von Bartstoppeln analog den Ährenstoppeln. Das Spezifikum dieser Bilderserie, das, was künstlerisch ihre Genialität ausmacht, besteht in der räumlich-zeitlichen Überlagerung diverser Ebenen, Prozesse und Gestalten. Sie ist der Grund für den ständigen Umschlag der Ebenen und ihrer Elemente ineinander. Jede indiziert eine andere oder transmutiert in eine andere. Was in den Analogietafeln der Renaissance parallel untereinander geordnet ist oder in dem Modell konzentrischer Kreise konzentrisch, fällt hier signifikanterweise zusammen. Die scheinbar vorhandenen menschlichen Gesichter gehen tatsächlich auf Kombinationen von Blüten, Früchten, Wurzeln und Ästen zurück, die zarte Haut des Jünglings wird vorgetäuscht von blaßfarbenen Blumen, andererseits lassen sich aus dem Arrangement der Naturprodukte anthropomorphe Gestalten herauslesen. Jede Ebene, jedes Detail hat eine doppelte Aussagekraft und Wahrheit, indem sie für sich und zugleich für anderes Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
stehen. Mit dieser Ambivalenz spielt ein zwar nicht auf die vorliegende Serie, wohl aber auf ein ganz ähnliches Bild, namens Flora, bezogenes Gedicht des Hofpoeten Gregorio Comanini, das ein Blumenmädchen zeigt: »Bin ich Flora oder nur Blume? Wenn Blume, dann wie Flora. Bin ich wie das Lachen der Blume? Und ich bin Flora. Wie Flora und nur Blume? Ach, ich bin nicht Blume, bin nicht Flora. Ich bin Flora und Blumen. Tausend Blumen und eine einzige Flora; Lebendig Blumen, lebendige Flora. Aber die Blumen machen Flora, und Flora (macht) die Blumen. Weißt du wie? Die Blumen in Flora Hat der weise Maler gesungen, und Flora in den Blumen.<< 37
Außer der physiologischen und physiognomischen Ähnlichkeit, die als Analogieart auf einen gleichen Ursprung zurückgeht, begegnet jene Art von Analogie, die auf der Koexistenz heterogener Momente (Substanzen, Formen, Eigenschaften, Befindlichkeiten usw.) im Leitphänomen beruht und bei Explikation den Verweis der Momente aufeinander bewahrt. Eine der markantesten Anwendungen hat diese Form in den literarischen Tropen der antiken Rhetorik. 38 Bis ins De-
»Son'io Flora o pur fiori? Se fior, come di Flora. Ho col sembiante il riso? E s'io son Flora, Come Flora e so! fiori 7 Ah non fiori son'io; non io son Flora. Anzi son Flora, e fiori. Fior mille, una so! Flora; Vivi fior, viva Flora. Pero ce i fior fan Flora, e Flora i fiori. Sai come? I fiori in Flora, Cangio saggio Pittore, e Flora in fiori. « In: W. Kriegeskorte: Giuseppe Arcimboldo, a. a. 0., S. 48. 38 Vgl. dazu das folgende Unterkapitel dieser ArbeitS. 241ff. (»7. Tropen als linguistische Analogien«). 37
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Der analegisehe Rationalitätstypus
tail hinein lassen sich dieselben auch in der Malerei Arcimboldos nachweisen. Metonymie als Verschiebung von einer Eigenschaft auf den Träger derselben, von einem Produkt auf den Produzierenden, von einem Resultat auf das Material und vice versa usw. herrscht in allen Fällen, wo leuchtend helle Farben auf den Frühling als Erzeuger derselben deuten, dunkle braune und schwarze auf den Winter, Rot und Weiß den Liebenden als Träger derselben anzeigen, ein bacchantisches Gesicht auf Wein und Herbst als Ursache desselben weist. Synekdochedie Ersetzung eines weiteren Begriffs durch einen engeren und umgekehrt -liegt vor, wenn Blumen den Frühling andeuten, Früchte den Sommer, Trauben den Herbst, kahle Äste und Wurzeln den Winter. In der Funktion von Emblemata und Sinnbildern kommen Rosen und Nelken vor, die für Liebe stehen, Lilien, die Reinheit und Unberührtheit anzeigen, Trauben, die auf Lebensfreude schließen lassen. Die Paronymie, die auf einer Bedeutungsverschiebung gleicher oder ähnlicher Zeichen basiert, begegnet, wenn eine Nase durch einen Hasen (Hasenscharte) oder ein Mund durch einen Fisch (Fischmaul) wiedergegeben wird. Das Oxymoron, die Steigerung der Gegensätzlichkeit, wie sie im Begriffspaar »schön-häßlich«, »puer-senex« vorkommt, charakterisiert den gesamten Bilderzyklus, insofern dieser gleicherweise schön und attraktiv wie häßlich und grotesk ist. Auch dies hat Comanini in einem Gedicht zum Vertumnus-Bild, das ein Früchteantlitz in Frontalansicht zeigt, zum Ausdruck gebracht: »So du im Anschaun nicht gewahrst Die Hässlichkeit, durch die ich schön, Weisst du auch nicht, wie Hässlichkeit Noch jede Schönheit übertrifft.<< 39
Wenn die hier beschriebene Analogieart auf der Assoziation heterogener Momente im Leitphänomen basiert, so begegnet als dritte Art die um die Vertikale zentrierte Symmetrie. Es fällt auf, daß je zwei >>Se 'n mirar non t'ammiri Dei brutto, ond'io son bello, Ben non sai qua! bruttezza Avanzi ogni bellezza.« Vgl. G. Maiorino: The Portrait of Eccentricity, a.a.O., S. 77, Übersetzung in: W. Kriegeskorte: Arcimboldo, a. a. 0. S. 46.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Profile der» Jahreszeiten«-Serie nach rechts und zwei nach links blikken. Ihnen entsprechen in der »Elementen«-Serie umgekehrt zwei links- und zwei rechtsblickende Porträts. Frühling und Luft blicken einander an, ebenso Sommer und Feuer, Herbst und Erde, Winter und Wasser. Darüber hinaus besteht eine Antithese zwischen Sommer und Winter, Feuer und Wasser ebenso wie zwischen Frühling und Herbst, Luft und Erde. Eine besondere Bedeutung kommt dem Bild mit dem Titel» Wasser« zu, kann es doch geradezu als eine Exemplifikation der paracelsischen bzw. pseudoparacelsischen Schrift Philosophia ad Athenienses betrachtet werden. Die gesamte bekannte Wasserfauna: Fische, Reptilien, Muscheln, Korallen wird parataktisch aufgezählt, nebeneinander geordnet und dann insgesamt dem Element »Wasser« subordiniert. So wird verständlich, daß die räumliche Zusammengehörigkeit (convenientia) aus einer tieferliegenden Ähnlichkeit oder qualitativen ZuSammengehörigkeit resultiert, die ihren Ursprung im Wasser hat und die Wasserfauna als Modifikation des Wäßrigen auffaßt. Ein Netz von Analogien überzieht die Gemäldeserie. Für sie sind drei Intentionen leitend, auf die ebenfalls das Gedicht Comaninis zum Vertumnus-Bild einen Hinweis gegeben hat. Zum einen geht es um die kosmologische Entstehung, die Entstehung des Universums aus einem Urgrund, zum anderen um die jahres-und lebenszeitlich bedingte Zusammengehörigkeit diverser Gegenstände. Zum einen sollen die Analogien gemäß dem platonischen Schöpfungsbericht im Timaios die Herkunft der Elemente mitsamt ihren Zusammensetzungen, mithin die Entstehung des gesamten Universums erklären. Dadurch daß den Köpfen (caput) alle Produkte der Natur einbeschrieben, die Elemente zugeordnet und die Jahreszeiten korreliert werden, wird ihre Herrschaftsfunktion über die gesamte Natur festgeschrieben und eine Hierarchie im Ausgang vom Ursprung in Verfolgung einer vertikalen Linie hergestellt. Zum anderen sollen die Analogien das Zusammenbestehen heterogener Momente- hier der jahres- und lebenszeitlich bedingten - gemäß einem parataktischen, simultanen Ordnungsprinzip erklären: Wie das Frühjahr Blüten hervortreibt, Jugend assoziiert, elementarisch warm und feucht ist entsprechend der Luft, so läßt der Sommer Früchte reifen, ist hinsichtlich der Lebensalter mit der Reife des Menschen verbunden, elementarisch mit Hitze und Trockenheit entsprechend dem Feuer. Während der Herbst voll- und überreife Trauben und Früchte 240
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Der analogische Rationalitätstypus
hervorbringt, lebenszeitlich dem gesetzten, gereiften Alter entspricht, elementarisch kalt und trocken ist, läßt der Winter die Pflanzen absterben entsprechend dem Absterben im menschlichen Leben, ist mit Kühle und Feuchtigkeit verbunden entsprechend dem Wasser. Neben der vertikalen und horizontalen Blickrichtung, deren eine die Kosmologie wiedergibt, deren andere eine Zustandsbeschreibung ist, findet sich als drittes Gestaltungsprinzip die zyklische Blickrichtung, ausgedrückt durch die ständige Wiederkehr des Gleichen im Jahreszeitenzyklus, im Zyklus des Naturprozesses wie im Zyklus der Menschenalter, so daß alle drei Raumprinzipien einschließlich der Zeitkomponente und der auf ihnen verlaufenden Analogien vorhanden sind. Die methodisch nachkonstruierbaren Analogiegesetze erschließen ein logisch-metaphysisches Gesamtsystem.
7. Tropen als linguistische Analogien
Wurde mit der Malerei Arcimboldos ein Bereich der darstellenden Kunst als Anwendungsfeld des Analogiedenkens benannt, so eröffnet sich mit der Rhetorik ein Bereich der Sprachkunst. Zwischen beiden bestehen Beziehungen, die nicht unentdeckt geblieben sind, hat man doch Arcimboldos Malerei von linguistischer Seite nicht selten als Reservoir rhetorischer Stilformen und als eine Visualisierung derselben betrachtet. 40 Die antiken griechischen und lateinischen Rhetoriken, etwa die eines Aristoteles, Cicero oder Quintilian 41, geben in ihren Tropenlehren eine Reihe von Analogien an, wie Metaphe~ Synekdoche, Metonymie, Ironie, Litotes u. ä., die zumeist strengen Gesetzmäßigkeiten quantitativer, qualitativer oder kausaler Art folgen, die in Vergrößerung oder Verkleinerung, Erweiterung oder Verengung, Maximierung oder Minimierung, Verschiebung nach dieser oder jener Seite, Negation, Opposition, Zusammennahme der Ge•o Vgl. G. Maiorino: The Portrait of Eccentricity, a. a. 0., S. 37 ff.; vgl. Anm. 36 dieser Arbeit. " Aristoteles: Rhetorik, übersetzt mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von F. G. Sieveke, München 1980; M. T. Cicero: De oratore I Über den Redner, lateinisch-deutsch, übersetzt, kommentiert und eingeleitet von H. Merklin, Stuttgart 1976; ders.: Brutus, lateinisch-deutsch, hrsg. von B. Kytzler, München 1970; M. Fabii Quintiliani Institutionis Oratoriae Libri XII I Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hrsg. und übersetzt von H. Rahn, Zweiter Teil, Buch VII-XII, 3. Auf!. Darmstadt 1995, bes. VIII, 6, S. 216/217-248/249. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
gensätze u. ä. bestehen und sich daher zur Entschlüsselung der formalen Gesetzmäßigkeiten des analogischen Rationalitätstypus besonders eignen. Bei ihrer Exposition soll im wesentlichen der Tropenlehre Quintilians gefolgt werden, wie sie sich im achten Buch seiner Institutio Oratoriae im sechsten Kapitel dargestellt findet. Unter einem Tropus versteht Quintilian »die kunstvolle Vertauschung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Ausdruckes mit einer anderen« 42 • Zwei Merkmale fallen an dieser Definition auf: Erstens im Unterschied zu den sogenannten Redefiguren, handle es sich um Gedanken- oder Wortfiguren, die ebenfalls kunstvolle, von der gewöhnlichen Redeweise abweichende Gestaltungen sind 43 , erfolgt im Tropus die Übertragung einer ursprünglichen oder natürlichen Bedeutung auf eine andere oder, wie die Grammatiker sagen, eines Ausdrucks »von der Stelle, bei der er eigentlich gilt, auf eine Stelle [ ... ], wo er nicht eigentlich gilt« 44 • Handelt es sich bei den Redefiguren um kunstvolle Formen ohne Bedeutungsverschiebung, so ist für die Tropen die Bedeutungsverschiebung bzw. -Vertauschung das Hauptcharakteristikum. Aus diesem Grunde stehen hier Wörter als Sinnträger für andere Sinnträger45, was Tropen den in der Kunst und Psychologie verwendeten Zeichen, die für andere Zeichen stehen, ähnlich macht. Das zweite Charakteristikum ist die kunstvolle Art und Weise der Verschiebung bzw. Vertauschung, die auf eine Geregeltheit und nicht bloße Beliebigkeit hinweist. Beide Merkmale qualifizieren die Tropen zu einem gesetzmäßigen, rational nachvollziehbaren Beziehungsgeflecht, das analogisches Denken ermöglicht. (1.) Der häufigste Tropus ist die Metapher (translatio). Hier wird ein Nomen, Adjektiv oder Verb von einem vertrauten auf einen nicht vertrauten, ihm von Hause aus nicht zukommenden Bereich übertragen, entweder weil in diesem die Bedeutung gänzlich fehlt oder weil die übertragene signifikanter ist. Als Beispiel nennt Quintilian Sätze wie »die Saat dürstet«, »die Frucht hat schwer zu schaffen« oder Ausdrücke wie »Zorn entbrannt«, »von Begierde entflammt«, »Glanzpunkt der Rede«, »Blitze der Beredsamkeit«. Verglichen mit dem ähnlich gearteten Gleichnis, das in einem expliziten Vergleich mit dem Sachverhalt besteht, ist die Metapher 42
M. Fabii Quintiliani Institulianis Oratoriae Libri XII, a. a. 0., S. 217 (VIII,6,1).
43
Vgl. a.a.O., S. 250ff./25lff. (IX,lff.). A. a. 0., S. 251. Vgl. a. a. 0., S. 252/253.
44 45
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Der analegisehe Rationalitätstypus
ein impliziter oder verkürzter Vergleich, der aufgrundeiner Ähnlichkeitsbeziehungden betreffenden sachhaltigen Ausdruck im übertragenen Sinne zu verwenden erlaubt. Statt des Vergleichs »er kämpft wie ein Löwe« sagt die Metapher kurz »er ist ein Löwe«. Obwohl Quintilian als übertragungsfähige Ausdrücke die von Belebtem und Unbelebtem auf Gleichartiges wie auch die von Vernünftigem und Unvernünftigem auf ebensolches und jeweils wechselweise angibt, genügen diese doch mehr inhaltlichen als formalen Kriterien mit Ausnahme der Übertragungsmöglichkeit vom Teil auf das Ganze und umgekehrt. Während die Frage nach der Art und Weise des Vergleichs, ob Geregeltheit oder Willkür, bei der Metapher noch relativ offen bleibt, basieren Synekdoche und Metonymie auf festen Gesetzmäßigkeiten, erstere auf quantitativen Verhältnissen, letztere auf qualitativen. Sie gestatten daher eine feste Schematik. (2.) Die Synekdoche läßt bei der Nennung eines Dinges an andere denken. Entweder verweist sie vom Teil auf das Ganze, von der Art auf die Gattung, vom Vorhergehenden auf das Nachfolgende oder umgekehrt. Sie geht dabei von einer engeren, spezielleren, vorausgehenden Sphäre auf eine weitere, allgemeinere, nachfolgende und vice versa, wobei im wesentlichen quantitative Momente ausschlaggebend sind. Beispiele für die genannten Verweisungen sind »Dach« für »Haus«, »Weißhaarigkeit« für »Alter«. Formalisiert ergibt sich folgendes Bild: 1. Verweis vom Teil auf das Ganze Verweis vom Ganzen auf den Teil 2. Verweis von der Spezies auf das Genus Verweis vom Genus auf die Spezies 3. Verweis vom Vorausgehenden auf das Folgende Verweis vom Folgenden auf das Vorausgehende. (3.) Mit der Synekdoche verwandt ist die Metonymie, die Setzung einer Benennung für eine andere in der Absicht, den Grund für das anzugeben, worüber gesprochen wird, oder umgekehrt die Folge. Als Spezifikationen dieses Grund-Folge-Verhältnisses sind zu nennen: 1. der Verweis vom Erfinder auf das Erfundene und umgekehrt (z. B.: »Vergillesen« statt» Vergils Gedichte lesen«) 2. der Verweis vom Besitzer auf das Besessene und umgekehrt (z. B.: »Vulcanus« für »Feuer«, »Venus« für »Liebe«) 3. der Verweis vom Enthaltenden auf das Enthaltene und umgekehrt (z. B.: »wohlgesittete Städte« statt der »Menschen in wohlgesitteten Städten«) Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
4. der Verweis vom Bewirkenden auf das Bewirkte und umgekehrt (z. B.: »heitere Jugend« statt »Jugend« als Ursache der Heiterkeit, »träge Muße« statt »Muße« als Ursache der Trägheit).46 Die Spezifikationen dieser im wesentlichen qualitativen Art und Weise der Verschiebung fallen in antiken wie neuzeitlichen Rhetoriken unterschiedlich aus. Christian Strub 47 führt als Subklassifizierungen folgende Relationen an: 1. von Person zu Sache und umgekehrt 2. von Beinhaltendem zu Inhalt und umgekehrt 3. von Grund zu Folge und umgekehrt, Hartmut Kubczak 48 nennt die: 1. von Erzeuger und Erzeugnis 2. von Besitzer und Besitz 3. von Inhalt und Gefäß 4. von Einwohner und Ort 5. von Zeitgenosse und Zeit 6. von Produkt und Material. Zu nennen wäre außerdem noch das Verhältnis »EigenschaftsträgerEigenschaft«, »Mittel- Werk«. (4.) Die Antonomasie, die einen Eigennamen entweder durch ein Patronymikon ersetzt- »Achill« durch »der Pelide«- oder durch ein hervorstechendes Attribut - »Cicero« durch »Fürst der Redekunst«-, verfährt ebenfalls nach quantitativen oder qualitativen Kriterien, indem sie für einen engeren Begriff einen weiteren verwendet oder für eine Spezies die Gattung einsetzt oder umgekehrt. (5.) Bei der zur Zeit der Römer kaum noch gebräuchlichen Onomatopoiie, die Begriffe erfindet oder neu bildet, gegebenenfalls unter Verwendung gebräuchlicher, z. B. »Lorbeer gemachte Pfosten« (laureati postes) statt »mit Lorbeer bekränzt« (lauru coronati), sind die Bildungsgesetze weniger erkennbar, allenfalls ist hier Ähnlichkeit im Spiel. (6.) Ähnlichkeit soll auch bei der Katachrese die Übertragung Hiernach ist das Kausalverhältnis im eigentlichen Sinne keine Kategorie des wissenschaftlichen Denkens, sondern des analogischen. Vgl. auch S. 257 ff. dieser Arbeit. 47 Vgl. Ch. Strub: Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie, Freiburg, München 1991, S. 253. 48 H. Kubczak: Metaphern und Metonymien als sprachwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 105 (1986), S. 83-99, bes. S. 95. 46
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einer Bezeichnung auf die Sache leiten, welcher eine eigene Bezeichnung fehlt. Wegen häufiger Mißachtung dieses Gesetzes und Verwendung unpassender oder gar fehlerhafter Ausdrücke, ist dieser Tropus jedoch in Mißkredit geraten. Ein Beispiel ist die Bezeichnung »Vatermörder« für »Brudermörder«. (7.) Zu nennen ist noch die Metalepsis (transsumptio), die den Übergang von einem Tropus zum anderen herstellt, was nur unter Verwendung einer Zwischenstufe verständlich wird. Dieser bei den Griechen häufiger, bei den Römern seltener vorkommende Tropus findet Anwendung vor allem in der Komödie, etwa wenn der redende Eigennamen Chiron (»Geringer«)- der Name eines Kentauren- mit dem Synonym "Hoowv (»Geringer«) ausgetauscht wird und umgekehrt. (8.) Die restlichen Tropen klassifiziert Quintilian als solche, die mehr um des Redeschmucks denn um der Wortbedeutung willen in Anspruch genommen werden. Hierzu gehört u. a. das Epitheton, das schmückende Beiwort, das als Tropus nicht unumstritten ist und nur dann zu einem echten Tropus wird, wenn der Zusatz etwas Neues, Anderes anzeigt, so z. B. »häßliche Armut«, »düsteres Alter«, oder wenn der Zusatz dasselbe besagt wie das Referenzwort »Er, der Karthago und Numantia zerstört hat« für »Scipio«. In diesem Falle aber ist der Tropus mit der Antonomasie identisch. Auch hier dürften bei der Übertragung quantitative Gesetze der Erweiterung oder Verengung sowie qualitative der Gattung-Art-Beziehung ausschlaggebend sein. (9.) Die Allegorie, wörtlich das »Anderssagen«, die im Lateinischen auch inversio (»Umkehrung«) heißt, stellt einen Wortlaut dar, der entweder einen anderen Sinn hat (»Anderssagen«) oder sogar einen entgegengesetzten (»Umkehrung«). So gibt es nach Quintilian zwei Arten, eine, hinter deren Wortlaut sich ein anderer, ähnlicher oder gleichartiger Sinn verbirgt, und eine, die einen dem Wortlaut entgegengesetzten Sinn aufweist. Die erste Art liegt vor, wenn es bei Horaz heißt »Schiff, dich treibt die Flut wieder ins Meer zurück! Weh, was tust du nur jetzt! Tapfer dem Hafen zu!«, wo »Schiff« für »Gemeinwesen«, »Fluten und Stürme« für »Bürgerkriege« und »Hafen« für »Frieden und Eintracht« steht. (10.) Zur zweiten Art der Allegorie, die das Gegenteil vom tatsächlich Gesagten meint, gehört die Ironie, die im Lateinischen auch illusio (»Verspottung«) genannt wird. Sie ist am Tonfall oder am Auftreten einer Person oder am Wesen der Sache selbst erkennbari Vernunft und das Andere der Vernunft
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denn wenn diese dem Wortlaut zuwider sind, ist ersichtlich, daß die Rede etwas vom Ausgesagten Verschiedenes meint. Ironie liegt vor, wenn jemand zu loben vorgibt, in Wirklichkeit aber herabsetzt, oder zu tadeln behauptet, de facto aber lobt. Eine Steigerung stellt der Hohn dar, der das gerraue Gegenteil von dem meint, was er sagt. Als Euphemismus gilt, wenn aus Gründen der Höflichkeit, des Taktes, der Furcht oder aus anderen Motiven Unerfreuliches in weniger harte Worte gekleidet wird, Negatives in positiver Form ausgedrückt wird. (11.) Periphrase oder Umschreibung heißt das Drumherumreden (circumlocutio), das viele Worte für das gebraucht, was sich auch kurz ausdrücken läßt. Teils stellt sie einen zufälligen stilistischen Schmuck dar, teils ist sie zwingend, so wenn sie der Verhüllung dessen dient, was häßlich zu sagen wäre. In diesem Fall bedient sie sich der Darstellung durch das Gegenteil oder der Position statt der Negation. Ein Beispiel hierfür ist die Aussage »was die Natur verlangt« für »Notdurft«. (12.) Beim Hyperbaton, dem Überspringen eines Wortes, sei es durch Voran- oder Nachstellung zusammengehöriger Wörter oder Wortteile, ist der Tropuscharakter wegen der bloßen Wortumstellung strittig. Nur solche Figuren, die mit einer Sinnänderung einhergehen, sind als Tropen zu akzeptieren, wobei die Art und Weise der Wortzusammenstellung offen bleibt. (13.) Die Hyperbel erfolgt wiederum nach einem streng formalen Gesetz, nämlich der Übersteigerung der Wahrheit. Ihre Leistung liegt in der Übertreibung nach dieser oder jener Seite. Als Beispiel läßt sich anführen: »kaum noch Haut und Knochen«. Zustande kommen Über- wie Untertreibung auf verschiedene Weise, entweder durch Vergrößerung oder Verkleinerung (»das Paar der Klippen drohend ragt zum Himmel«), durch Ähnlichkeit (»war's doch, als schwämmen Kykladen entwurzelt«), durch Vergleich (»schneller als Flügel des Blitzes«) oder durch bestimmte Anzeichen (»sie [Camilla] flöge über die Aussaat, selbst ohne die Spitzen zu streifen I noch hätt' im Lauf sie verletzt die zarten Gebilde der Ähren«). In den antiken und neuzeitlichen Rhetoriken werden gelegentlich noch weitere Sprachformen genannt, die bei Quintilian als Tropen fehlen oder unter Wortfiguren rangieren. Hält man am Kriterium der Bedeutungsübertragung und -Verschiebung fest, so sind mindestens noch folgende Formen aufschlußreich: 246
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- die Paronomasie (annominatio), unter der man das Vorkommen gleichklingender Wörter versteht. Zwar zählen auch Fälle des bloßen inneren Objekts hierzu wie »ein Leben leben«, meist aber handelt es sich um klangähnliche, jedoch bedeutungsverschiedene Wörter. Ihre Zusammenstellung wird in Wortspielen (Kalauern) genutzt, die entweder auf dem Doppelsinn eines Wortes basieren oder auf dem Anklang bedeutungsverschiedener Wörter. Ein großer Teil des Witzes (bonmots, Scherz, Anekdote, joke) basiert hierauf. die Anspielung, bei der der Hörer oder Leser der Sprachform etwas hinzufügen muß, um den Sinn vollständig zu verstehen. Die Assoziation kann Regeln folgen, aber auch willkürlich sein und die Kenntnis einer kontingenten Sprache, Kultur, Literatur usw. voraussetzen. - die Litotes, die ein uneigentliches Sprechen ist, insofern als sie etwas Positives durch doppelte Negation, also Verneinung des Gegenteils, ausdrückt. - die Antithese, die in einer Gegenüberstellung von Opposita besteht und daraus ihren Sinn schöpft. das Oxymoron, das eine Verschärfung der Antithetik darstellt und in der Verbindung zweier sich exkludierender Vorstellungen besteht wie »bitter-süß«, »lebender Tod« usw. Synonyma, die das Gegenteil der Antithese sind und in der Verstärkung eines Wortes durch ein anderes mit ähnlicher Bedeutung bestehen. Sie treten häufig in Doppelform auf, deren Bestandteile klanglich verbunden sind wie »Leib und Leben«, »Haus und Hof«. Von der Wortstellung her sind noch bestimmte Redefiguren beachtenswert, da die Wortstellung eine bestimmte parataktische, hypotaktische oder spiegelsymmetrische Anordnung verrät, die der äußere Ausdruck einer tieferliegenden Seinsstruktur sein kann. Zu nennen sind hier: die Reihung mehrerer gleichartiger, ihre Selbständigkeit bewahrender Wörter wie »Äpfel, Birnen, Pfirsiche und Pflaumen«, durch die eine parataktische Anordnung wiedergegeben wird. - die Klimax, die in gleichmäßigen Stufen ansteigt und eine Steigerung ausdrückt wie in Martin Opitz' Trostgedicht: »Er hat das Vieh hinweg: Das Brot ist doch geblieben. Er hat das Brot auch fort: Der Todt wird keinen Dieben:
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Er hat dein Geld geraubt: Behalt nur du den Muth. Er hat dich selbst verwundt: Die Tugend gibt kein Blut [... ] << 49
der Parallelismus, der in parallel geordneten Sätzen besteht wie »heiß ist die Liebe, kalt ist der Schnee«. - die Anapher, die einen parallelen Aufbau durch Wiederholung syntaktisch bedeutender Wörter unterstreicht: >>Ü Mutter! Was ist Seligkeit? 0 Mutter! Was ist Hölle?« 50
- der Chiasmus, dessen Name sich vom griechischen Buchstaben X herleitet und dessen graphisches Bild Ausdruck einer spiegelbildlichen Sprachkonstruktion ist. Er ist ein von Schiller häufig verwendetes Stilmittel, z. B. »in der Nüchternheit kühn, fromm in der Freiheit zu sein« 51 • Das Gemeinsame aller dieser rhetorischen Tropen und Figuren ist ihre rationale Konstruierbarkeit zumeist nach festen Schemata, was sie für einen Vergleich mit den Analogien in anderen Bereichen qualifiziert.
8. Verkehrung und Verschiebung als psychologische Analogien Es war Jacques Lacan, der erstmals auf die enge Verknüpfung rhetorischer Figuren, wie sie bei Quintilian begegnen, mit psychoanalytischen Phänomenen, wie Freud sie herausgearbeitet hat, aufmerksam machte. 52 Dieser Hinweis ist eines genaueren Nachgangs wert. Dabei wird sich zeigen, daß sich mit der Psychoanalyse ein Bereich erschließt, der eine verblüffende Übereinstimmung mit den Analogiegesetzen zeigt, wie sie bisher herauskristallisiert wurden. Die Untersuchung soll am Leitfaden von Freuds Analysen von Traum, Witz und alltäglichen Fehlleistungen wie Versprechen, Ver" Martin Opitz: Trostgedichte, Buch I!, Vers 601 ff., in: Gesammelte Wer/ce. Kritische Ausgabe, hrsg. von G. Schulz-Behrend, Bd. 1: Die Werlee von1614 bis 1621, Stuttgart 1968, s. 228. 50 G. A. Bürger: Leonore, Vers 81 f., in: Sämtliche Wer/ce, hrsg. von G. und H. Häntzschel, München, Berlin 1987, S. 180. 51 F. Schiller: Das Distichon Witz und Verstand, in: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert in Verbindung mit H. Stubenrauch, 5 Bde., München 1958-1959, wiederholte Auf!., Bd. 1, S. 311. 52 J. Lacan: Ecrits, Paris 1966, S. 268.
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Der analogische Rationalitätstypus
lesen, Verschreiben, Vergreifen, Vergessen geschehen. 53 Krankheitssymptome, ebenso neurotische und paranoide Zustände gehören im weiteren Sinne ebenfalls dazu. Den genannten Phänomenen hat Freud umfangreiche Studien gewidmet, allen voran in der Traumdeutung von 1900, in dem Werk Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten von 1905, in den Abhandlungen zur Psychopathologie des Alltagslebens von 1904 sowie in vielen kleineren Fallstudien. Auf den ersten Blick mag es befremden, derart heterogene, teils pathologische, teils nichtpathologische Phänomene miteinander zu vergleichen und auf gemeinsame Strukturen hin zu untersuchen, unterscheiden sich doch beispielsweise Traum und Witz darin, daß der erste ein rein privates und insofern asoziales Bewußtseinsprodukt ist, das nur eine bestimmte Person, nämlich die träumende, betrifft und für alle anderen, mit Ausnahme des Psychoanalytikers, uninteressant und unverständlich ist, während der Witz ein soziales, wenn nicht gar das sozialste Produkt überhaupt darstellt, das auf Gesellschaft, zumindest auf einen Dritten, angelegt ist. Während der Traum auf die großen Probleme des Lebens Bezug nimmt, zielt der Witz auf kleinen Lustgewinn. Hat der Traum die Funktion der Unlustersparnis, so der Witz die des Lusterwerbs. Ist der Traum eine, wenngleich unkenntlich gemachte Wunscherfüllung, so der Witz ein entwickeltes SpieJ.54 Ähnliche Differenzen lassen sich auch zwischen den übrigen Phänomenen konstatieren. Bei näherem Hinsehen jedoch weisen die genannten Vorgänge Gemeinsamkeiten auf, die es erlauben, sie einer einheitlichen Betrachtung zu unterwerfen und den Typus des analogischen Denkens auf sie anzuwenden. Drei wesentliche Merkmale lassen sich herauskristallisieren, die allen genannten psychischen Phänomenen eigen sind und die unerläßliche Bedingung für analogisches Denken bilden: erstens Überdetermination, zweitens Verweisungsstruktur, drittens Gesetzmäßigkeit der Verweisung. (1.) Gemeinsam ist den genannten psychischen Phänomenen Umfangreiche Ausführungen zum Analogiedenken in Freuds Psychoanalyse enthält der Aufsatz der Verfasserin: Das Analogiedenken unter besonderer Berücksichtigung der Psychoanalyse Freuds, in: K. Gloy und M. Bachmann (Hrsg.): Das Analogiedenken- Vorstöße in ein neu es Gebiet der Rationalitätstheorie, a. a. 0., S. 256-297, bes. S. 275 ff. " Vgl. S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Der Humor. Einleitung von P. Gay, Frankfurt a. M. 1992, wiederholte Aufl. 1996, S. 192 f. 53
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eine Überdeterminierung. Besonders deutlich wird dies beim Witz, der geradezu von der Doppeldeutigkeit, der Zweigleisigkeit lebt und daher den Charakter der Anspielung hat. Er ist durch den plötzlichen Umschlag von einer Lesart in die andere charakterisiert, die sich unterschwellig anbahnt und plötzlich auftut. Wehe dem Hörer oder Leser, der die Einstellung eines neuen Sinnes oder den Eintritt einer neuen Lesart nicht rechtzeitig bemerkt! Aus diesem Grunde ist der Witz stets schlüpfrig, nicht so sehr im Sinne sexueller Anspielung als vielmehr im Sinne der Doppelbödigkeit, derzufolge sich hinter dem direkten Sinn stets ein anderer verbirgt. Nicht weniger gilt dies für die alltäglichen Fehlleistungen des Versprechens, Verlesens und Verschreibens, sogar des Vergreifens, insofern sich an die Stelle des vorn Satzsinn her geforderten und erwarteten regulären Wortes ein anderes drängt oder an die Stelle der von der normalen Situation geforderten Sache eine andere setzt. Beim Versprechen geschieht dies aufgrund von Antizipation (z. B. »es war mir auf der Schwest ... « statt »auf der Brust so schwer«), Postposition (»ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen« statt .»anzustoßen«), Kontamination (»er setzt sich auf den Hinterkopf« statt »er setzt sich einen Kopf auf« und »er stellt sich auf die Hinterbeine«), Vertauschung (»die Milo von Venus« statt »die Venus von Milo«) und Substitution (»ich gebe die Präparate in den Briefkasten« statt »in den Brütkasten«). 55 Selbst beim Vergessen eines Namens und beim Verlegen und Nicht-Wiederfinden einer Sache treten an die Stelle des Gesuchten verschiedene Ersatznamen und -sachen, die freilich allesamt verworfen werden. Eine Mehrfachbedeutung, ja sogar eine besondere Bedeutungsdichte liegt auch im Falle des Traumes vor. Freud unterscheidet am Traum den manifesten Traurninhalt, der das nächtliche Traumgeschehen ausmacht und zumeist aus visuellen Vorstellungen, vermischt mit Gefühlen und direkten Reden, besteht, und die latenten Traurngedanken, die sich bei der nachträglichen Traumanalyse im Wachzustand assoziativ an den Inhalt knüpfen. Die sekundär in der Traumanalyse gewonnenen Traumgedanken verhalten sich zum manifesten Trauminhalt jedoch nicht wie Folgen zum Grund, sondern sie werden als ursprünglicher Grund und Anlaß des Trauminhalts Vgl. S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum. Mit einem Vorwort von A. Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1954, wiederholte Aufl. 1996, S. 50.
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unterstellt, aus deren Fülle in der ins Unbewußte verlagerten Traumarbeit durch Zusammenziehung die Traumelemente hervorgehen. Da jedes Element des Inhalts so ein Knotenpunkt unendlich vieler und verschiedenartiger Traumgedanken ist, strahlt es auch umgekehrt symbolhaft eine Fülle latenter Traumgedanken aus. Die Verdichtung der Assoziationen ist beim Traum gegenüber dem Witz und den seelischen Fehlleistungen eklatant. »Die Traumarbeit übertreibt [ ... ] die Anwendung dieser Mittel der indirekten Darstellung ins Schrankenlose.« 56 Entsprechendes gilt auch für das Symptom, das pathologische wie das normale. Wurde es in der klassischen Symptomatologie, wie sie die übliche somatische Medizin charakterisiert, als diagnostisches Zeichen für einen Krankheits- oder Gesundheitszustand betrachtet, so fungiert es nach Freuds Theorie als Symbol, als Zusammenziehung und Verdichtung von Bedeutungen, die gleichsam einen Rebus bilden, der sich nur nachträglich in einer umfassenden Interpretationsarbeit erschließt. (2.) Mit der Überdetermination der genannten Phänomene ist immer auch ihre Verweisung auf anderes verbunden, sei es auf ein oder mehreres andere, handle es sich um einen anderen Sachverhalt, um einen anderen Sinn oder um eine andere Bedeutungsschicht. Bekunden kann sich der Transzendenzcharakter entweder wie beim Witz in der Anspielung, der indirekten, uneigentlichen Rede, im Durchschimmern einer anderen Bedeutung oder im plötzlichen Bedeutungsumschlag, der zum Aha-Erlebnis führt, oder wie bei den alltäglichen psychischen Fehlleistungen in dem Vordringen eines anderen Namens oder einer anderen Sache. Beim Traum und Symptom besteht er in der durch die nachträgliche Analyse ermöglichten assoziativen Anknüpfung der Traumgedanken und Interpretationen. (3.) Entscheidend ist jedoch die Frage, ob der Verweis bzw. Übergang in seinen vielfältigen Ausgestaltungen notwendig oder zufällig ist. Nur im Falle gesetzmäßiger Übergänge läßt sich das darauf basierende analogischeDenken als rationales rechtfertigen. Denn nur die Gesetzmäßigkeit des Übergangs, die allgemeine Einsichtigkeit, Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit rechtfertigen das AnalogiedenS. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum llnbewußten, a. a. 0., S. 185. Dies wird auch daraus ersichtlich, daß die Niederschrift eines Traumes unmittelbar nach dem Erwachen allenfalls eine halbe Seite beträgt, die spätere Traumanalyse jedoch viele Seiten und Hefte füllt.
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Erster Teil: Rationalitätstypen
ken als einen eigenen Rationalitätstypus. Ohne der Hybris zu verfallen, alle Verweisungs- und Übergangsarten klassifizieren und in ihrer spezifischen Eigenart und Geregeltheit verständlich machen zu können, sollen drei Gesetzmäßigkeiten aufgewiesen werden: erstens Gegensätzlichkeit, zweitens Verschiebung und drittens bildhafte Entsprechung, anders formuliert: Ähnlichkeit in Verkehrung, Ähnlichkeit in Verschiebung und Ähnlichkeit als mimetisches Verhältnis.
a) Gegensatz oder Ähnlichlceit als Verkehrung von Identität Es ist eine oft gemachte Beobachtung, daß der Witz mit dem Mittel des Gegensatzes operiert. Er bedient sich dazu der Negation, die einen positiven Sachverhalt in einen negativen oder einen negativen in einen positiven verkehrt und dem Witz dadurch den Charakter der »verkehrten« Welt verleiht. Eine Klasse von Witzen, die Freud »Unifizierungswitze« 57 nennt, zeigt dies besonders deutlich. Ihr Name erklärt sich daraus, daß sie dasselbe Material mehrfach, und zwar in gegensätzlicher Weise verwenden, so daß sich innerhalb der von ihnen hergestellten Sinneinheit ein Gegensatz bildet. Zwei Beispiele mögen dies demonstrieren: 1. »Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Lei-
den schafft.« 56 2. »Das menschliche Leben zerfällt in zwei Hälften, in der ersten wünscht man die zweite herbei, und in der zweiten wünscht man die erste zurück.« 59 Im ersten Fall resultiert die in sich gegensätzliche Einheit aus einer Selbstdefinition, nämlich der Eifersucht als Leidenschaft, die in positiver Absicht sucht, was ihr tatsächlich in negativer Rückwirkung Leiden verschafft; im zweiten Fall ergibt sich die Einheit aus einer Wechselimplikation gegensätzlicher Momente, des Herbeiwünschens und des Zurückwünschens, die ein Ganzes konstituieren: Das Jahr besteht aus zwei Hälften, deren eine herbeisehnt, was die andere zurückwünscht. Sowohl die Selbstdefinition wie die Wechselimplikation operieren mit der Gedankenfigur der Selbstreferenz, die von einem Ganzen mit internen Gegensatzgliedern ausgeht oder ein 57 58 59
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A. a. 0., S. 83, vgl. S. 51, 82. A. a. 0., S. 50. Dieser Witz wird Schleiermacher zugeschrieben. A. a. 0., S. 81.
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Der analegisehe Rationalitätstypus
Ganzes aus solchen herstellt. Hier zeigt sich im übrigen die Nähe des analogischen Denkens zum dialektischen, basiert doch auch dieses auf einer selbstreferentiellen Struktur mit interner Zweiheit und Gegensätzlichkeit, sei es der Subjekt-Objekt-Relation, sei es der Differenz von Identität und Differenz u. ä., die sich aufhebt und gleichwohl wiederherstellt. Es ist diese Paradoxie, die den Anknüpfungspunkt des einen Denktypus an den anderen bildet. Die Pointe eines Witzes oder einer witzigen Bemerkung benutzt häufig gerade die Paradoxie, die auch das dialektische Denken charakterisiert. Mit dem Mittel der Negation operiert auch eine zweite Klasse von Witzen, die sogenannten Widersinnwitze. Sie verfolgen die Absicht, ein Spiegelbild, zumeist der Dummheit, aufzustellen. Von Phokion wird berichtet, daß er anläßlich einer Rede zum Volk, die mit Beifall bedacht wurde, gesagt haben soll, »was habe ich denn so Dummes gesagt, daß es dem Volk gefallen hat? « 60 Der Witz benutzt folgende Bausteine: - den positiven, wonach eine kluge Rede dem Volk eigentlich zu gefallen, eine dumme zu mißfallen hätte, - dessen Umkehrung: Eine dumme Rede gefällt dem Volk - eine kluge mißfällt ihm. Da das Volk selbst dumm ist, findet nur die dumme Rede seinen Beifall; sie wird zum Spiegelbild der Dummheit des Volkes, das sich in ihr reflektiert. Genau genommen wird hier mit dem Schema der Negation der Negation operiert, die zur Position zurückführt. Die dumme Rede ist Negation einer klugen Rede. Indem sich Phokion ironisch, d. h. negierend auf die dumme Rede als Negation der klugen bezieht, kehrt er zum positiven Sachverhalt zurück, der sich jedoch inwendig aus lauter Negativa konstituiert. Auch im Bereich der alltäglichen psychischen Fehlleistungen wie Versprechen, Verlesen, Verschreiben usw. lassen sich Fälle mit Negation, mit Verkehrung finden. Freud berichtet von der Eröffnung einer Sitzung des Österreichischen Abgeordnetenhauses, bei der der Präsident erklärte: »Hohes Haus! Ich konstatiere die Anwesenheit von soundsoviel Herren und erkläre somit die Sitzung für geschlossen [statt für eröffnet]! «61 Der Iapsus linguae, der an die Stelle der Eröffnung der Sitzung die Ankündigung ihres Schließens setzt, erklärt sich 60
Vgl. a. a. 0., S. 74.
61
S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, a. a. 0., S. 54.
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aus dem heimlichen Wunsch des Präsidenten, daß die Sitzung schon beendet sein möge, da sie nichts Erfreuliches erwarten läßt. Beim Traum fungiert die Inversion als bevorzugtes DarstellungsmitteL Zudem weiß jeder Psychiater aus Erfahrung, daß die Negation einer Aussage, je heftiger und affektbeladener sie ausfällt, desto eindeutiger Indiz für das Vorliegen des bestrittenen Sachverhalts ist. Ein »SO verhält es sich nicht« bekräftigt gerade, daß es sich so und nicht anders verhält. 62 Die zärtliche Zuneigung einer Mutter maskiert nicht selten ein aggressives Verhalten; die altruistische Hinwendung zu einem anderen ist oft der verschleierte Ausdruck eines Egoismus, dieselbe Liebe, die man dem anderen zuwendet, selbst zu erfahren. Angstträume, in denen man um einen geliebten Menschen fürchtet, sogar Todesangst hat, sind nach Freud wie alle Träume Wunscherfüllungen und somit der manifeste Ausdruck des Wunsches nach dessen Tod. Die Darstellung durch das Gegenteil dient dazu, der Wunscherfüllung gegen bestimmte widerstrebende Faktoren, die beim Traum eine Rolle spielen, Geltung zu verschaffen. Hinter der Umkehrung verbirgt sich oft der Wunsch: »Wäre es doch so gewesen!« Wegen seiner Bildhaftigkeit vermag der Traum häufig aussagenlogische Negation nicht anders als durch räumliche Verkehrung und Spiegelsymmetrie wiederzugeben, etwa durch Vertauschung von unten und oben, auf und nieder. 63 Typisch ist der von Freud berichtete Wirtshaustraum: »Er fährt mit großer Gesellschaft in die X-Straße, in der sich ein bescheidenes Einkeh1wirtshaus befindet [... ] In den Räumen desselben wird Theater gespielt; er ist bald Publikum, bald Schauspieler. Am Ende heißt es, man müsse sich umziehen, um wieder in die Stadt zu kommen. Ein Teil des Personals wird in die Parterreräume verwiesen, ein anderer in die des ersten Stockes. Dann entsteht ein Streit. Die oben ärgern sich, daß die unten noch nicht fertig sind, so daß sie nicht herunter können. Sein Bruder ist oben, er unten, und er ärgert sich über den Bruder, daß man so gedrängt wird [ ... ] Es war übrigens schon beim Ankommen bestimmt und eingeteilt, wer oben und wer unten sein soll [... ] «64 Vgl. S. Freud: Die Verneimmg, in: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Einleitung von A Holder, Frankfurt a. M. 1992, wiederholte Auf!. 1997, S. 321-325. 63 Vgl. S. Freud: Die Ti·aumdeutung. Nachwort von H. Beland, Frankfurt a. M. 1991, wiederholte Auf!. 1996., S. 329 f. " A a. 0., S. 291.
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Die Traumanalyse ergibt folgenden Sachverhalt: Während im Traum der ältere Bruder des Patienten stets »oben« erscheint, zu den oben Einquartierten gehört oder zu den von oben Herunterkommenden, ist er im realen Leben »heruntergekommen«, befindet sich nach einem wienerischen Ausdruck »Parterre«, weil er Stellung und Vermögen verloren hat. Der Träumer selbst hingegen, der im realen Leben Stellung und Vermögen erhalten hat, erscheint im Traum »unten«. Der Traum kehrt also die Verhältnisse um, zeigt mittels der räumlichen Anordnung das genaue Gegenteil zur Realität. Gleiches gilt für das Auf- und Niedersteigen, von dem Freuds Patienten berichten und das von Freud ausgedeutet wird als sexuelle Beziehung der Träumer zu Personen niederen Standes. Auch hier kehrt der Traum die Verhältnisse der Realität um. Insofern hier spiegelbildliche Symmetrien, inverse räumliche Beziehungen, Umkehrungsverhältnisse, Klappphänomene usw. vorliegen, bieten sich klare Anknüpfungspunkte für das analogische Denken an. Die Bildlichkeit des Traumes, die die Anwendung formaler, sogar geometrischer Verhältnisse gestattet, weist auf eine Formalisierung des Weltbildes und damit auf die Möglichkeit von Analogiebildung. Die hier beschriebene Gegensatzstruktur stellt die extremste Form einer Analogiebeziehung dar, insofern die Ähnlichkeit bzw. Entsprechung der Analoga hier auf der Selbiglceit des Musters basiert, das in positiver wie negativer Form auftritt und so den Schluß von der einen Seite auf die andere gemäß dem Gesetz der Umkehr erlaubt.
b) Ähnlichlceit als Verschiebung Ließen sich die bisherigen Fälle als Kontrastphänomene einstufen, die mit demselben Material, derselben Struktur, derselben Form nur in negativer oder spiegelbildlicher Verkehrung operierten und so dem analogischen Denken einen gesetzmäßigen Übergang durch Gegensätzlichkeit verschafften, so haben wir es bei der nächsten Gruppe von Beispielen mit Verschiebungen und Verzerrungen zu tun, die nicht mehr auf Identität, sondern auf Ähnlichkeit beruhen. Die Ähnlichkeit des Musters kann größer oder kleiner sein, sogar bis zur scheinbaren Unähnlichkeit reichen. Sie kann alle Grade zwischen den Extremen des Gegensatzes einnehmen. Zustande kommt die Abwandlung teils durch ursprünglich räumliche Eigenschaften wie Verschiebung, Vergrößerung oder Verkleinerung, Dehnung oder Kontraktion, Streckung oder Kompression, Maximierung oder MiniVernunft und das Andere der Vernunft
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mierung, wobei diese auch im übertragenen Sinne verwendet werden können, teils durch qualitative Manipulation wie Über- oder Untertreibung, Verstärkung oder Abschwächung. So ist auch die MakroMikrokosmos-Analogie ein Verhältnis nicht zwischen gleichartigen Verhältnissen, sondern zwischen ungleichartigen, einem größeren und einem kleineren bzw. einem idealisierten und einem verendlichten. Beispiele aus dem Bereich des Witzes mögen dies belegen. Gerade der Witz arbeitet häufig mit Über- und Untertreibung. Dasselbe gilt für Ironie, Parodie, Karikatur, Zynismus, Travestie, die teils als selbständige Phänomene auftreten, teils zur Unterstützung des Witzes dienen. So ist die Ironie die Darstellung durch das Gegenteil, freilich nicht in einfacher, sondern in gesteigerter Form, wobei Tonfall oder schriftliche Indizien die Verkehrung und Verstärkung anzeigen. Parodie, Karikatur usw. stehen dem in nichts nach. Zur Gattung der Überbietungswitze zählt beispielsweise die Darstellung der Häßlichkeit einer Frau durch übermäßige Schönheit. Von Heinrich Heine stammt der Witz: >>Diese Frau glich in vielen Punkten der Venus von Melos: sie ist auch außerordentlich alt, hat ebenfalls keine Zähne und auf der gelblichen Oberfläche ihres Körpers einige weiße Flecken.« 65
In dieselbe Kategorie gehört der von Freud erzählte, aus dem Wiener Milieu der Jahrhundertwende stammende Judenwitz, in dem ein Schadchen, einjüdischer Heiratsvermittler, auftritt und dem Heiratskandidaten die Braut anpreist, indem er diesen durch das elterliche Haus der Braut führt und auf die kostbaren Möbel sowie einen Glasschrank mit schwerem Silber aufmerksam macht: »>Da, schauen Sie hin, an diesen Sachen können Sie sehen, wie reich diese Leute sind.<- >Aber<, fragt der mißtrauische junge Mann, >wäre es denn nicht möglich, daß diese schönen Sachen nur für die Gelegenheit zusammengeborgt sind, um den Eindruck des Reichtums zu machen?<- >Was fällt Ihnen ein?< antwortet der Vermittler abweisend. >Wer wird denn den Leuten was borgenf<« 66
Hier bricht plötzlich, veranlaßt durch eine deplazierte Bemerkung, die der Absicht des Heiratsvermittlers zuwiderläuft, die Wahrheit durch, nämlich die tatsächliche Armut der Braut und Brauteltern, 65
66
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S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, a. a. 0., S. 85. A. a. 0., S. 80.
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die durch den Umstand, daß diese Leute kreditunwürdig sind und ihnen niemand etwas borgen würde, noch verstärkt wird. 67 Was die psychopathalogischen Vorkommnisse des Alltagslebens betrifft, so erklären sich etliche nach demselben Muster der Verschiebung. Ein Feldwebel instruiert seine Mannschaft, die genauen Adressen nach Hause zu geben, »damit die Gespeclcstücke nicht verlorengehen«68. Der sprachliche Patzer, der anstelle der »Gepäckstücke« die »Speck-« oder »Gespeckstücke« vordringen läßt, erklärt sich aus der Mangelsituation des Krieges und dem daraus erwachsenden Wunsch nach Nahrung, und zwar nach besonders kalorienreicher, wie sie mit Speck verbunden ist. An die Stelle des zu erwartenden regulären Wortes schiebt sich hier eine Assoziation in Steigerungsform. Besonders ausgeprägt finden sich Verschiebungen beim Traum. Neben der Verdichtung hat Freud die Verschiebung als das zweite Hauptmerkmal des Traumes herausgestellt. Da diese beim Traum von jedem Element auf jedes andere möglich ist, erklärt sich daraus das oft so phantastische, absurde, ja groteske Aussehen des Traumes. So berichtet Freud vom Traum einer Patientin, in dem diese engelgleich, in ein weißes Kleid gehüllt, mit einem Blütenzweig von oben herabsteigend erscheint. 69 Da die Patientin bei der Analyse mit dieser Erscheinung ein Gemälde von Mariä Verkündigung assoziiert, auf dem ein Unschuldsengel mit einem weißen Lilieostengel auftritt, dürfte die Anspielung auf sexuelle Unschuld und Reinheit unverAllerdings muß zugegeben werden, daß eine Vielzahl von Witzen, die sich der Technik der Verschiebung bedient und Anspielung durch Ablenkung oder Abweichung zustande bringt, kultur-, gesellschafts-und sprachspezifisch ist und von Mitgliedern einer anderen Kulturgemeinschaft, Gesellschaftsklasse oder Sprachfamilie nicht verstanden wird. Dies gilt für alle Witze, die nicht mit einer formalen Verschiebung operieren, bei der Sprachusance und Bedeutung zusammenfallen, sondern mit einer, die die rein äußerlichen Spracheigentümlichkeiten betrifft. Folgender Badewitz mag dies demonstrieren: Zwei Juden treffen sich in der Nähe des Badehauses, der eine fragt den anderen: >>Hast du genommen ein Bad?« Der andere entgegnet: >>Wieso? fehlt eins?« (S. Freud, a. a. 0., S. 64.) Die Komik des Witzes erschließt sich nur bei Kenntnis der deutschen Sprache, die außer dem selbständigen, starken Gebrauch des Wortes >>nehmen« im Sinne von >>wegnehmen« den schwachen, zum Hilfsverb herabgesetzten Gebrauch in Kombination mit anderen Wörtern kennt, z. B. >>ein Bad nehmen«. Der Witz kollabiert sofort bei Substitution von >>Bad nehmen« durch >>baden«. So aber wird der Witz doppeldeutig durch die Verschiebung des Akzents von der abgeschwächten auf die volle Bedeutung. 68 S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, S. 63. 69 Vgl. S. Freud: Die Traumdeutung, a. a. 0., S. 322 f. 67
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Erster Teil: Rationalitätstypen
kennbar sein. Am Ende des Traumes sind jedoch die Lilienblüten weitgehend verwelkt und abgefallen, zudem handelt es sich um rote Blüten, womit auf sexuelle Schuld angedeutet wird. Unter Beibehaltung desselben Motivs, nämlich des Lilienstengels, hat sich hier eine Wandlung von weißen zu roten Blüten, von frischen zu verwelkten vollzogen. Die Verschiebung ist hier eine farbliehe und eine dahinterstehende sexuelle. Noch einprägsamer dokumentiert der Traum »lrma« die Verschiebungsarbeit, indem hier metamorphotisch Personen verschoben werden. 70 Unter Wahrung der Identität einer bestimmten Person oder, genereller, eines Ich überhaupt verwandeln sich hier Gestalten ineinander. Die Hauptperson des Traumes, Irma, eine Patientin Freuds und von ihm in einer bestimmten Untersuchungshaltung vorgestellt, schlüpft nacheinander in verschiedene andere Personen. Zunächst nimmt sie die Gestalt einer anderen Patientin an, dann die von Freuds ältester Tochter, von dieser wechselt sie zu einer anderen, namensgleichen Patientin über, von dieser zu einem Kind, schließlich zu Freuds eigener Frau usw., bedingt jeweils durch bestimmte Assoziationen an gleiche Namen, gleiche sich anbahnende Krankheiten, gleiche Untersuchungssituationen. Solche und ähnliche Metamorphosen sind typisch für Träume, und nicht nur für diese, sondern auch für Märchen und Sagen. 71 Sie nehmen dreierlei Gestalt an: Entweder wird eine Person zur Sammelperson, die aktuelle Züge, Eigenschaften, sogar Worte anderer Personen aufnimmt und unter Beibehaltung ihres eigenen Aussehens in sich vereint, oder sie wird zur Mischperson, die sich aus den Eigenschaften zweier oder mehrerer Personen zusammensetzt 72 , oder es geht aus der Projektion zweier Personen und ihrer äußeren wie inneren Merkmale eine neue, dritte Person hervor, die die mittleren Gemeinsamkeiten repräsentiert, wobei sich die übereinstimmenden Vgl. a.a.O., S. 298. Vgl. Novalis' Roman Heinrich von Ofterdingen, wo eine ähnliche Metamorphose geschildert wird, indem der Held zur Blume, zum Tier, zum Stein, zum Stern wird (Novafis Wer/ce, hrsg. und kommentiert von G. Schulz, München 1969, 3. Aufl. 1987 auf der Grundlage der 2., neubearbeiteten Aufl. 1981, S. 283; vgl. auch S. 286, wo es heißt: »Heinrich wird im Wahnsinn Stein- [Blume] klingender Baum- goldner Widder - Heinrich errät den Sinn der Welt - Sein freiwilliger Wahnsinn. Es ist das Rätsel, was ihm aufgegeben wird.«). 72 In diese Rubrik gehören auch die Mensch-Tiergestalten der ägyptischen Mythologie, der griechischen Sagen (z. B. der Kentaur, der halb Mensch, halb Pferd ist, oder Pegasus, das geflügelte Pferd) sowie des Alten Testaments (Engel als Mensch mit Vogelflügeln). 70 71
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Züge verstärken, die abweichenden abschwächen. 73 Ohne den durchgehenden Leitfaden einer Person in dieser oder jener Form brächen die diversen Zustände auseinander; sie ständenunverbunden nebeneinander oder tauchtenunverbunden nacheinander auf, ohne daß die Transmutation einsichtig wäre. Die Möglichkeit einer Transformation ineinander im Ausgang von einem bestimmten Zustand verlangt eine graduell sich modifizierende Grundstruktur, deren diverse aufeinanderfolgende Zustände als zunehmende Abweichung von der Ausgangssituation interpretiert werden können. Beim Traum läßt sich noch eine andere Art der Verschiebung konstatieren, nicht nur eine qualitative Modifikation, sondern auch eine räumliche und zeitliche Vertauschung der Traumteile untereinander. Hierin ist auch der Grund zu sehen, weshalb die räumliche und zeitliche Ordnung der Traumwelt eine total andere ist als die des Wachzustands. Im Traum ist es nichts Ungewöhnliches, daß sich beispielsweise ein Boot auf dem Dach eines Hauses befindet oder eine Figur ohne Kopf läuft. 74 Im übrigen ist dieser Sachverhalt aus Kinderzeichnungen und Darstellungen primitiver Völker bekanntl5 , nicht weniger aus Gemälden Wahnsinniger wie aus der hohen Kunstl 6, wo nicht selten Personen auf dem Kopf stehen oder quer durch die Luft fliegen. Nicht nur, daß Kinder und Primitive noch nicht gelernt haben, die untere, sich zugewandte Seite eines Blattes Papier als Boden zu fixieren und so den Menschen auf die Füße zu stellen, die räumliche Zu- und Anordnung scheint hier völlig belanglos zu sein, wichtig ist offensichtlich nur die jeweilige Figur vor einem Hintergrund. Dasselbe läßt sich bezüglich der zeitlichen Ordnung feststellen. Obwohl auch der Traum die zeitliche Folge kennt, braucht er sich nicht an die Wirklichkeit zu halten. Die zeitliche Folge, sei es das reine Nacheinander oder die kausale Abfolge, kann im Traum vertauscht oder auch als Simultaneität vorgestellt werden. 77 Die Bildhaftigkeit des Traumes und die mit ihr gegebene Simultaneität begünstigen gegenüber der Sukzessivität der Wirklichkeit eine zeit-. Vgl. hierzu auch S. Freud: Die Traumdeutung, a.a.O., S. 299,301. Vgl. a. a. 0., S. 284. 75 Z. B. von Indianerstämmen. 76 Z. B. von Chagall. 77 Die von S. Freud: Die Traumdeutung, a. a. 0., S. 318 ff., gegebene Erklärung, daß kausale Sequenz oft als Vor- und Haupttraum oder als Haupt- und Nachtraum begegnet, dürfte die Situation nicht genau wiedergeben. 73 74
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liehe Verschiebung, sogar eine gleichzeitige Darstellung aufeinanderfolgender Vorgänge. Dies ist auch der Grund, weshalb sich die Logik des Traumes grundlegend von der der Wirklichkeit und den in ihr gemeinhin für gültig erachteten Sätzen: dem Satz der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten unterscheidet. Wie das Moment der Verdichtung und Mehrdeutigkeit des Traumes die Geltung der Gesetze der Wachlogik dementiert und im Unterschied dazu gerade Widersprüchliches, Gegensätzliches toleriert, so läßt auch das Moment der Verschiebung an die Stelle logisch-zeitlicher Folge mit Vorliebe Gleichzeitigkeit treten. 78 Fassen wir die bisher aufgezeigten Verschiebungsmöglichkeiten bei Witz, psychopathalogischen Vorgängen des Alltagslebens und Traum zusammen, so ergeben sich folgende Gesetzmäßigkeiten: erstens die räumliche und zeitliche Verschiebung unter Beibehaltung des Musters, zweitens die quantitative Verschiebung, die auch im übertragenen Sinne verstanden werden kann und zur Vergrößerung oder Verkleinerung, Über- oder Untertreibung usw. führt, und drittens die qualitative Verschiebung, die die graduelle Modifikation und Wandlung der Grundstruktur bedingt.
c) Ähnlichkeit als mimetisches Verhältnis Zum Analogiedenken gehört außer den bisher beschriebenen Formen von Ähnlichkeit noch eine andere, wie sie sich aus der semantischen Beziehung zwischen Darstellung und Darzustellendem ergibt. Auf sie läßt sich das Urbild-Abbildverhältnis anwenden. Zur Erklärung des Zustandekommens der Ebenbildlichkeit bzw. der Entsprechung hat Wittgenstein in seiner Abbildtheorie im Tractatus logico-philosophicus das Verhältnis »Sprache - Wirklichkeit« als Abbildverhältnis interpretiert. In diesem Zusammenhang hat er auch den Begriff der »Form der Abbildung« 79 eingeführt und ihn von
Dasselbe gilt für den Wahnsinn, die Paranoia usw. S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, a. a. 0., S. 184, weist auf die Vermutung Griesingers hin, daß die Delirien Geisteskranker die Funktion der Mitteilung haben, die allerdings nur dann von uns verstanden wird, wenn wir nicht die Anforderungen des bewußten Denkens an sie stellen. 79 L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Nr. 2.17, in: Schriften 1, Frankfurt
76
a. M. 1969, S. 15.
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dem der »Form der Darstellung« 80 unterschieden. Mit dem ersteren bezeichnet er die Gleichartigkeit, mit dem zweiten die Ungleichartigkeit. In jedem Abbildverhältnis muß es sowohl Gemeinsamkeiten wie Unterschiede geben, andernfalls, bei Suspendierung aller Differenzen, fielen beide Relata zusammen, während sie bei totaler Heterogenität inkompatibel wären. Das Eigensein des Abbildes gegenüber dem Original- die »Form der Darstellung« -ist es nun, die dessen Andersheit gegenüber dem Abzubildenden bedingt. Was jeweils als Gemeinsamkeit und was als Unterschied fungiert, hängt von empirisch-psychologischen Faktoren ab. Ist es im einen Fall die Größe, Anordnung der Elemente, Farbe u. ä., worin das Abbild dem Original gleicht, so sind es im anderen Fall gerade diese Eigenschaften, worin es sich von ihm unterscheidet. Die Abbildung zweier Fechter, die in realistisch-plastischer Darstellung außer der Größe, Haltung, Farbe noch die Plastizität wahrt, verliert bei flächenhafter Darstellung die Dreidimensionalität und bei Schwarz-Weiß-Darstellung außerdem noch die Farbe. Ein Minimum an Gemeinsamkeiten muß jedoch erhalten bleiben, um bei aller Reduktion und Abweichung den Zusammenhang zu garantieren. Dies gilt nun auch für den Traum. Zwischen Trauminhalt und Traumgedanken muß es trotz aller Verschiebung, Verstellung und Verzerrung Gemeinsamkeiten geben, mögen sie im Muster, in der Anordnung der Teile, in der Gesamtsituation oder im Detail bestehen. Ansonsten wäre eine semantische Entsprechung unmöglich. Hier stellt sich nun allerdings eine schwierige Frage, nämlich die, welches Glied innerhalb dieser Beziehung als Urbild und welches als Abbild fungiert. Freud und seine Nachfolger, u. a. auch der dem impliziten Sprachdenken Freuds aufgeschlossen gegenüberstehende Habermas 81, gehen wie selbstverständlich von der Prämisse aus, daß die retrospektiv aus der Traumdeutung gewonnenen Traumgedanken, deren Gefüge unserer normalen Wachlogik entspricht und sich daher unserem Verstehen erschließt, das Ursprüngliche und Zugrundeliegende seien, demgegenüber der oft absurd erscheinende und schwer verständliche Traum das Derivative, Verstellte und Verzerrte sei. Es läßt sich aber auch umgekehrt argumentieren, daß der Traum das Erste, Ursprüngliche, weil faktisch Vorausgehende sei und die 80
Nr. 2.173, a. a. 0., S. 16.
81
J. Habermas: Erlcenntnis und Interesse,
Frankfurt a. M. 1968, 6. Auf!. 1981, S. 274 f.,
vgl. auch S. 266. Vernunft und das Andere der Vernunft
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assoziativ angeschlossenen Traumgedanken lediglich ein Ableitungsprodukt seien. Für die Beurteilung der Logik hat dies entscheidende Konsequenzen: Im ersten Fall gibt die normale Wachlogik mit ihrer Eindeutigkeit und Identität, ihrem Ausschluß von Widerspruch und Gegensatz sowie der Unmöglichkeit eines Dritten den Maßstab und die Orientierungsgrundlage ab, während der Traum mit seiner Mehrdeutigkeit, seinen Widersprüchen und Gegensätzen, seiner Gleichzeitigkeit des Sich-Ausschließenden als durch die Traumarbeit des Unbewußten verstellt und unverständlich gemacht gilt. Im zweiten Fall wird die Eigenständigkeit und Originalität der Traumlogik unterstellt, nicht zuletzt, weil sie sich dem analogischen Denken erschließt, während das Zustandekommen der normalen Wachlogik durch Reglementierung, Auswahl und Einspruch der kritischen Vernunft erklärt wird. Als künstliches Abstraktionsprodukt gibt sie nicht die Gesamtheit der Wirklichkeit wieder, sondern nur das, was sich dem konsistenten, kohärentenDenken fügt, während die Traumlogik gerade die Fülle des Lebens mit seiner Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit erschließt. Auffallend ist dies bei Witzen, die sich nicht durch Esprit und Feinsinnigkeit auszeichnen, sondern bloße Klangassoziationen sind oder sogar durch ausgesprochene Dummerhaftigkeit hervortreten. Zu den ersteren gehören die Kalauer. Bei ihnen handelt es sich um reine Klangspiele wie die Predigt des Kapuziners aus Wallensteins
Lager: »Kümmert sich mehr um den Krug als den Krieg, Wetzt lieber den Schnabel als den Sabel [... ] Der Rheinstrom ist worden zu einem Peinstrom, Die Klöster sind ausgenommene Nester, Die Bistümer sind verwandelt in Wüsttümer [... ]« 82
Ein Beispiel für die zweite Art, die sogenannten Dummerchenwitze, die den Anschein der Logik erwecken, aber auf einem Denkfehler basieren, ist der folgende: »Ein Herr kommt in eine Konditorei und läßt sich eine Torte geben; bringt dieselbe aber bald wieder und verlangt an ihrer Statt ein Gläschen Likör. Dieses trinkt er aus und will sich entfernen, ohne gezahlt zu haben. Der Ladenbesitzer hält ihn zurück. >Was wollen Sie F. Schiller: Wallensteins Lager, Vers 500 ff., in: Sämtliche Werke, a. a. 0., S. 292 f. (Vers SOOff.).
82
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Der analegisehe Rationalitätstypus
von mir?<- >Sie sollen den Likör bezahlen.<- >Für den habe ich Ihnen ja die Torte gegeben.< - >Die haben Sie ja auch nicht bezahlt.<- >Die
habe ich ja auch nicht gegessen.<« 63 Der Denkfehler besteht darin, daß hier zwei voneinander unabhängige Vorgänge, das Zurückbringen der Torte und das Nehmen des Likörs, vorn Kunden in eine Beziehung gesetzt werden, und zwar in die eine Entschädigung, die vom Verkäufer aus dessen Sicht nicht verstanden wird und normalerweise auch nicht verstanden werden kann. Die Logik des Käufers konfligiert hier mit der Logik des Verkäufers. Das »dafür« wird doppeldeutig, indem es aus der Sicht des einen das »dafür nehmen«, aus der Sicht des anderen das »dafür bezahlen« bedeutet. Die hier angeführte Sorte von Witzen zeigt eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Traum und seiner zwiefachen Interpretationsmöglichkeit, was die Beziehung zwischen Trauminhalt und latenten Traumgedanken sowie den damit zusammenhängenden Status der Logik betrifft. Bisher wurde die spezifische Gedankenkombination in Witzen aus der Verdichtungs- und Verschiebungsarbeit der Witztechnik erklärt, wobei die normale Logik den Ausgang und ständigen Referenten bildete. Aus Kinderspielen, zu denen Reim, Alliteration, Refrain, Klang- und Gedankenspiele gehören, ist jedoch bekannt, daß der Lustgewinn um so größer ist, je willkürlicher, wahlloser, unverständlicher aus der »normalen« Sicht der Erwachsenen die Wort- und Gedankenkombinationen sind. Das Kind operiert völlig frei und ungebunden mit Worten und Gedanken, erweist sich insofern als schöpferisch in bezug Wort- und Gedankenkornbinationen. Während dieser infantile Zustand normalerweise im Laufe der intellektuellen Entwicklung mehr und mehr eingeschränkt wird und schließlich verlorengeht, hat er sich beim Witz ins Erwachsenenalter hinübergerettet. Könnte dieser Umstand nicht auf die Tatsache weisen, daß die Kinderlogik mit ihrer Mehr- und Vieldeutigkeit, ihrer Widersprüchlichkeit, die wir als »Kinderdurnrnheit« bezeichnen, wie sie auch beim Witz vorliegt, die ursprünglichere ist, von der unsere normale Logik lediglich ein künstliches, reglementiertes Ableitungsprodukt darstellt? Nicht wäre dann die Logik des Witzes aus der normalen Logik durch Verschiebung entstanden, sondern umgekehrt die normale Logik aus der Witzlogik durch Auswahl und Reglementierung. Für das Verhältnis des analogischen Denkens zum angeblich schlüssi83
S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, a. a. 0., S. 75.
Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
gen der normalen Logik hätte dies zur Konsequenz, daß es diesem vorgängig, nicht nachfolgend wäre, zumindest gleichrangig mit ihm. Auf jeden Fall ist die These zu verabschieden, daß das Analogiedenken ins Irrationale gehört, da Rationalität hier nur aus der Perspektive der »normalen« Logik gesehen wird.
9. Selbstähnlichkeit als Analogieform in der fraktalen Geometrie
a) Die Entdeckung des 20. Jahrhunderts Das Analogiedenken, das historisch gesehen das Wissenschaftsverständnis der Renaissance ausmacht und in den darauffolgenden Jahrhunderten seitens des Rationalismus, der Aufklärung, der Transzendentalphilosophie, der neuzeitlichen Naturwissenschaft als irrational und unwissenschaftlich disqualifiziert wurde, hat im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine Aufwertung in einem völlig neu ausgearbeiteten Wissenschaftszweig gefunden, und zwar in der von dem polnischen Mathematiker Beno]:t B. Mandelbrot begründeten fraktalen Geometrie. Sie ist im Begriff, die klassische, auf Euklid zurückgehende Gerimetrie mit ihren regulären Strukturen wie Parallele, Winkel, Kreis, Dreieck, Quadrat und ihren stetigen Dynamiken durch eine Geometrie zu ersetzen, die komplizierte, komplexe Gestalten und Dynamiken ins Auge faßt und damit eine Vielzahl von Phänomenen nicht allein aus der Wissenschaft, sondern auch aus dem Alltag, der Natur und Kunst zu erklären vermag, denen die traditionelle Geometrie ratlos gegenüberstand. Da die fraktale Geometrie als Wissenschaft akzeptiert ist, wirft dies retrospektiv ein Licht auch auf den Wissenschaftsstatus des älteren Analogiedenkens. Beobachtungen, die die Mathematik bereits im 19. Jahrhundert beunruhigten, jedoch wegen ihrer Unlösbarkeit für pathologisch gehalten und beiseite geschoben wurden, wie die zwar stetige, aber undifferenzierbare Kurve von Debois Reymond, die raumfüllende Kurve von Giuseppe Piano und andere Monstren, veranlaßten Mandelbrat seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Idee einer neuen Geometrie nachzugehen. Als eigentliches Geburtsjahr dieser Geometrie gilt jedoch das Jahr 1975, in dem Mandelbrot sein Buch Les objets fractals. Forme, hasard et dimension publizierte. 84 Das 84
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Paris 1975, 3. Aufl. 1989. Vgl. auch ders.: On the geometry of homogenaus turbu-
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Der analegisehe Rationalitätstypus
Spezifikum dieser Geometrie besteht darin, daß sie nicht auf dem quantitativen, sondern auf dem qualitativen Maß basiert und insofern eine Gestaltmathematik ist. Sie operiert mit komplizierten, komplexen Mustern, die sich allerdings auf vergleichsweise einfache Erzeugungs- und Verhaltensregeln reduzieren lassen. Da eine Vielzahl mathematischer Begriffe und Hilfsmittel schon vor der Etablierung dieser Geometrie elaboriert war, konnten etliche derselben als mathematische Grundlagen übernommen und in die fraktale Geometrie eingebaut werden, womit dem Exaktheits- und Präzisionsideal der modernen Wissenschaft Genüge getan wurde. Inzwischen zeigt sich die Relevanz dieses Wissenschaftszweiges im Anstieg der Einsichten und Erkenntnisse einschließlich der Fachliteratur und nicht zuletzt in der Anwendung auf immer neue Bereiche der Wissenschaft und Kunst, auf Physik, Chemie, Geologie, Kosmologie, Astronomie, Meteorologie, Anatomie, Biologie, Psychologie, Wissenschaftstheorie, Ökonomie, Malerei, Musik usw. Sie ist ebenso auf räumliche wie zeitliche Strukturen, auf statische geometrische Gebilde wie auf Fluktuationen, auf Turbulenzen, Wellenerscheinungen, Populationskurven, Aktienkurse, Schwankungen des Weltmarktes usw. anwendbar; sie wird zur Erklärung der Entstehung von Blatt-, Baum-, Kohlformen 85 , von Tierfellmaserung, von Blutkreislauf, Nervensystem u. ä. herangezogen. Es gibt kein Gebiet, das sich der fraktalen Geometrie verschlösse. Wiewohl nicht Ursache und Anlaß ihrer Entstehung, so ist doch die moderne Computertechnik aus dieser Disziplin nicht wegdenkbar, da erst die Computersimulation die Visualisierung der Algorithmen, d.h. die Transformation mathematischer Gleichungen in optische Strukturen und Formationen ermöglicht hat; insofern ist sie ein lence, with stress on the fractal dimension of the iso-surfaces of scalars, in: Journal of Fluid Mechanics, Bd. 72 (1975), S. 401-416; ders.: Mecanique des fluides. Geometrie fractale de Ia turbulence. Dimension de Hausdorff, dispersion et nature des singularites du mouvement des fluides, in: Comptes Rendus. Hebdomadaires des Seances de l' Academie des Sciences, Bd. 282- Serie A (Paris 1976), Nr. 1, S. 119-120; ders.: Fractals: form, chance, and dimension, San Francisco 1977; ders. The fractal geometry of trees and other natural phenomena, in: Lecture Notes in Biomathematics, Bd. 23: Geometrical Probality and Biological Structures: Buffon's 200th Anniversary. Proceedings of the Buffon Bicentenary Symposium on Geometrical Probability, Image Analysis, Mathematical Stereology; and Their Relevance to the Determination of Biological Structures, Paris 1977, ed. by R. E. Miles and J. Serres, Berlin, Heidelberg, New York 1978, S. 235249; ders.: Les objets fratals, in: La Recherche, Bd. 9, Nr. 85 (1978), S. 5-13. 85 Besonders beliebte Beispiele sind Farn und Brokkoli. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
wichtiges, nicht wegdenkbares Instrument, komplizierte Zahlen und Verhältnisse zu veranschaulichen. Die fraktale Geometrie ist durch zwei Eigenschaften charakterisiert, zum einen durch Fraktalität, zum anderen durch Selbstähnlichkeit. Von ihnen drückt die erste Gebrochenheit aus, wie sie an Brüchen, gebrochenen Zahlen u. ä. konstatierbar ist. Mit der Zersplitterung geht Irregularität und Unberechenbarkeit einher, wodurch eine Beziehung zur Chaostheorie gegeben ist, die ebenfalls Unberechenbarkeit trotz Determination einzukalkulieren hat. 86 Die zweite Eigenschaft deutet auf Wiederholung des Gleichen, zumindest des Ähnlichen, also auf Iteration; sie schließt Rekursion und Selbstbezüglichkeit ein und weist damit auf Regularität und Ordnung. Die fraktale Geometrie stellt folglich eine Verbindung von Regularität und Irregularität, Ordnung und Kontingenz dar und, da Regelmäßigkeit und Ordnung an Vernunftmethoden gebunden sind, eine Verbindung von Vernunft und dem Anderen der Vernunft, was den Bogen zum Analogiedenken als einer spezifischen Rationalitäts- und Wissenschaftsstruktur schlagen läßt. Geht man vom Begriff des Fraktals aus, so dient das adjektivische »selbstähnlich« im Fundamentalbegriff dieser Geometrie, dem »selbstähnlichen Fraktal«, zur Abschwächung des Moments der Irregularität und Unordnung und deutet auf eine gewisse Ordnung. Geht man hingegen von der Selbstähnlichkeit als primärem Begriff aus, der auf wiederkehrender Gleichheit bzw. Ähnlichkeit basiert und Ordnung impliziert, dann weist das Moment der Fraktalität darauf, daß es eine absolute Homogenität und Dimensionskonkordanz nicht gibt und daß mit Brüchen und Irregularitäten zu rechnen ist. Fraktalität und Selbstähnlichkeit sollen im folgenden zum Leitfaden der Analyse dienen und zugleich den Brückenschlag zum Analogiedenken der Renaissance ermöglichen.
b) Fraktal Der Neologismus »fraktal« wurde von Mandelbrot in Anlehnung an das lateinische frangere ==»brechen«, »Zerbrechen«, »unregelmäßige " Chaos ist hier nicht im Sinne eines passiven Chaos als vollendete Entropie, d. h. als Maximum an Auflösung von Strukturen, zu verstehen, sondern im Sinne eines aktiven, kreativen Prinzips, als Anfangszustand der Gestaltung, als Insgesamt der noch nicht differenzierten Muster und Strukturen.
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Der analegisehe Rationalitätstypus
Bruchstücke erzeugen« geprägt und soll, auf Gegenstände angewandt, nicht nur ihre Komplexität gegenüber den einfachen Gegenständen der euklidischen Geometrie anzeigen, sondern auch auf eine prinzipiell neue Ebene der Betrachtung hinführen, auf die der Zerbrochenheit und Zersplitterung der Gegenstände. Was mit Fraktal näherhin gemeint ist, läßt sich an einem populären Beispiel demonstrieren. Betrachtet man ein Wollknäuel von 10 cm Durchmesser und 1 mm dicken Fäden hinsichtlich seiner Dimension, so wird das Resultat je nach Nähe oder Ferne schwanken. Aus großer Distanz zieht sich das Knäuel für einen Betrachter auf einen Punkt, ein nulldimensionales Gebilde, zusammen. Bei Annäherung zeigt es sich als Kugel, d. h. als dreidimensionales Raumgebilde. Tritt man noch näher heran, so erkennt man nur noch ein Gewirr von Fäden, von eindimensionalen Gebilden, und nähert man sich noch mehr mittels einer Lupe oder eines Mikroskops, so nehmen etwa bei 0,1 mm Auflösung die Fäden die Gestalt einer Säule, also wieder einer dreidimensionalen Raumfigur, an. Bei 0,01 mm löst sich die Säule in eindimensionale Fasern auf. Die Dimensionen schwanken also zwischen 0, 3, 1, 3, 1. Ähnlich verhält es sich bei einem zerknitterten und zum Kügelchen zusammengepreßten Blatt Papier, das sowohl als zweidimensionale Fläche wie als dreidimensionale Kugel verstanden werden kann, oder bei der vielgewundenen, raumerfüllenden Peano-Kurve, die keinen Ort der Fläche untangiert läßt und daher gleicherweise als eindimensionale Linie wie als zweidimensionale Fläche genommen werden kann. Wie die Beispiele zeigen, wechseln die »effektiven Dimensionen« je nach Nähe oder Ferne der Betrachtung. Der scheinbar selbe Gegenstand zerfällt in eine Vielzahl verschieden dimensionaler Gegenstände: Er bricht auseinander und löst sich in eine Pluralität auf. Man kann sich fragen, ob es überhaupt festumrissene, eindeutig definierbare Gegenstände gibt oder ob sich alle Gegenstände in eine Sequenz unterschiedlicher Größenbereiche auflösen. Beobachtetes Objekt und beobachtendes Subjekt stehen in einer unaufhebbaren Interdependenz - eine Erkenntnis, die die fraktale Geometrie mit der Quantenmechanik und Relativitätstheorie teilt. Einen Eindruck von der Fraktalität verschafft man sich am besten über Computermodellationen, die bei Vergrößerung oder Veränderung eines mathematischen oder natürlichen Gegenstands (SyVernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
stems) den Blick in immer neue Welten eröffnen und den Betrachter auf eine Reise in unauslotbare Tiefen mitnehmen. 87 Der Begriff »Fraktal« dient aber nicht nur zur Bezeichnung der Abfolge der effektiven Dimensionen eines Gegenstands, sondern auch zur Bezeichnung des Resultats dieser Abfolge, eben jener nicht eindeutig definierbaren Dimension, die den Übergang zwischen wohldefinierten Zonen ausmacht. Ähnlich wie der Begriff der Summe sich auf den Additionsvorgang wie auf das Resultat beziehen kann, so auch der Begriff des Fraktals. Mit fraktalen Dimensionen sind insbesondere Wellenlinien, mäanderhafte Flußläufe, Gebirgssilhouetten, Küsten- und Grenzlinien, Wolkenformationen, die Windungen des Gehirns u. ä. gemeint. Die oft gestellte Frage, welche Länge die Küstenlinie Großbritanniens hat, sperrt sich gegen eine eindeutige Beantwortung, da die Längenangabe mit dem Maßstab variiert. Wenn bei einer Kartographierung im Maßstab 1:100 000 Buchten und Halbinseln sichtbar sind, so zeigen sich bei einem Maßstab 1: 10 000 neue Details, Unterbuchten und Unterhalbinseln und bei einem Maßstab 1: 1000 wieder neue und so in infinitum, wobei sich die Linie ins .Unendliche ausdehnt, während im entgegengesetzten Fall der Verkleinerung die Details verschwimmen und verwischen. Zum Zwecke des Vergleichs verschiedener unendlicher Linien, beispielsweise der Küstenlinie Englands und der Amerikas, hat man eine bestimmte mathematische Methode, das Hausdorff-BesicovitchVerfahren, entwickelt, das die Komplexität und Krümmung berücksichtigt, wobei wenig gekrümmte Linien, die sich der Eindimensionalität annähern, gegen 1 tendieren, stark gekrümmte, die sich der Zweidimensionalität annähern, gegen 2. So hat z. B. die Küstenlinie Großbritanniens eine Dimension von 1,26; für das menschliche Gehirn scheint eine fraktale Dimension von 2,79 bis 2,73 zu bestehen. Das Fraktal erweist sich damit als ein hochkomplexes, hochdifferenziertes Objekt, das durch unterschiedliche Skalierung, durch Vergrößerung oder Verkleinerung, durch Verschiebung, modifizierte Vgl. das eindrucksvolle, von David Brooks entwickelte und von Dan Kalikow kommentierte Computerprogramm der Mandelbrotmenge in J. Briggs und F. D. Peat: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaos-Theorie. Mit vielen Illustrationen (Titel der Originalausgabe: Turbulent Mirror. An Illustrated Guide to Chaos Theory and the Science of Wholeness, New York 1989), aus dem Amerikanischen übersetzt von C. Carius unter wissenschaftlicher Beratung von P. Kafka, München, Wien 1990, 5.143-148.
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Der analogische Rationalitätstypus
Iteration u. ä. zustande kommt. Im Fraktallöst sich der scheinbar eine mit sich identische Gegenstand in eine Pluralität von Facetten oder, deutlicher noch, in eine Pluralität verschiedener Gegenstände auf. Hier legt sich der Vergleich mit dem Analogiedenken und der von ihm akzeptierten äußeren Verschiedenheit der Gegenstände nahe. Analogie spielt ja nicht innerhalb einer und derselben Gattung oder Art zwischen gleichartigen Instanzen, sondern zwischen heterogenen gleichrangigen Individuen, Arten und Gattungen. Der Diversität der Instanzen, die sich bei analytischer Explikation eines Leitphänomens im Analogiedenken ergeben, entspricht die Diversität der Dimensionen beim Durchgang durch das natürliche oder geometrische Objekt in der fraktalen Geometrie. Wenn im magisch-mythischen Weltbild der Ursprung der Diversifizierung das principium individuationis, die Materie, ist, so ist das Pendant dazu in der fraktalen Geometrie wegen der Reduktion auf mathematische Größen und räumliche Formen das unendliche Reich der Zahlen und des Raumes. Im einen wie im anderen Fall zerfällt die eine Welt in eine Vielheit disparater Stücke, Fragmente, die gleichwohl zusammengehalten und geeint werden, sei es durch die Ursprungszusammengehörigkeit und Verwandtschaft wie im Analogiedenken, sei es durch die noch zu erläuternde Selbstähnlichkeit wie in der fraktalen Geometrie. Gilt für die absolut homogenen Gebilde der euklidischen Geometrie Dimensionskonkordanz, so gilt für die Gebilde der fraktalen Geometrie Dimensionsdiskordanz, was voraussetzt, daß das Invarianzgesetz gegenüber Transformationen, sei es Verschiebungen oder Veränderungen (z. B. Maßstabsveränderung), verletzt, modifiziert oder eingeschränkt werden muß, damit verschiedene Gegenstände zustande kommen. Selbstähnlichkeit, nicht Selbstgleichheit ist die Folge. So erscheinen dieselben Figuren, Muster, Systeme entweder vergrößert oder verkleinert bei Skalenänderung oder gedehnt, gestreckt, gestaucht, gefaltet, vervielfältigt je nach Dehnung, Strekkung, Stauchung, Faltung, Spiegelung usw. Die unterschiedliche Skalierung ist Ursache der modifizierten Iteration desselben Objekts auch über Phasen hinweg wie bei der aemulatio im Analogiedenken. c) Selbstähnlichkeit
Ebenso wie das Moment der Fraktalität gehört auch das der Selbstähnlichkeit und das der ihm zugrundeliegenden Selbstbezüglichkeit (Rekursivität) zur fraktalen Geometrie. Sie lassen sich in der gesamVernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
ten Natur, der anorganischen wie organischen, der mikrokosmischen wie makrokosmischen, der Geometrie wie der Zahlentheorie sowie darüber hinaus der Kunst und Technik nachweisen. Schon früh hat man beim genaueren Studium von Turbulenzen in Fluiden bemerkt, das sich große Turbulenzen aus vielen kleineren konstituieren und diese wieder aus noch kleineren. Lewis F. Richardson entwickelte 1926 aufgrunddieser Beobachtung seine Theorie von Hierarchien der Wirbel, die über Kaskaden verbunden sind. Auf einer Zeichnung von Leonardo da Vinci mit dem Titel »Die Sintflut«, die Mandelbrot seinem Buch Die fraktale Geometrie der Natur 88 beifügt, gibt Leonardo einen Wasserschwall als Überlagerung unzählig vieler, verschieden großer Wirbel, Wellen und Strudel wieder, die sich über, unter und neben den Hauptwirbeln sammeln. Berühmt geworden ist auch der aus dem 18. Jahrhundert stammende Farbholzschnitt »Die große Woge« des Japaners Katsushika Hokusai, der eine gigantische, sich überschlagende Woge zeigt, die an ihren Rändern in Gischt zerfranst. Mit dem Wellenberg im Vordergrund korrespondiert die Silhouette des Fujiyama im Hintergrund, während sich in die Wellentäler schlanke Schiffe einschmiegen. Diese Bilder sind ein früher Ausdruck fraktaler Wahrnehmung und, im Falle Leonardos, eines bereits intensiveren Studiums fraktaler Objekte, noch bevor ihre wissenschaftliche Erforschung einsetzte. Auch das Studium des Wetterverhaltens, dem sich Edward N. Lorenz vom Massachusetts Institute of Technology in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts widmete, ließ bei Langzeitbeobachtung immer wieder ähnliche, wenn auch wegen der extremen Sensibilität und Beeinflußbarkeit 89 nicht genau gleiche Verhaltensweisen erkennen und führte 1963 zur Entdeckung des sogenannten chaotischen oder seltsamen Attraktors. Gemeint ist damit, daß trotz aller Stochastizität und Chaotik bestimmte Verhaltensmuster innerhalb gewisser Grenzen wiederkehren. Den Schlüssel zum Verständnis dieses Verhaltens glaubt man in den lokalen Eigenschaften des Zustandsraumes zu finden, der Streckung einerseits, der Faltung andererseits. Ein exponentielles Auseinanderdriften des Musters (bzw. der Orbits), das zum absoluten Chaos führen würde, wird wegen der EndB. B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur (Titel der Originalausgabe: The Fractal Geometry of Nature, New York 1977, 1982, 1983), aus dem Englischen übersetzt
88
von R. und U. Zähle, Basel, Boston, Berlin 1991, Tafel C 3 zwischen den S. 272 und 273. Siehe Schmetterlingseffekt.
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Der analegisehe Rationalitätstypus
lichkeit des Attraktors verhindert. Auf diese Weise erfolgt eine ständige Zurückführung des Musters auf sich selbst. Inzwischen sind eine Vielzahl selbstähnlicher Strukturen und Formationen in der Natur entdeckt worden. Im organischen Bereich zählt das Luftröhrensystem, der sogenannte Bronchialbaum, dazu, der sich nach einer groben Verästelung in die rechte und linke Luftröhre zunehmend detaillierter verzweigt, bis er in einem schier unentwirrbaren Geflecht kleinster Verästelungen versinkt. Da die Bifurkationen nicht in regelmäßigen Abständen erfolgen, sondern in unterschiedlicher Skalierung, resultieren neue, wenngleich ähnliche Muster. 90 Entsprechendes gilt für den Blutkreislauf und das Nervensystem. Der Aufbau geschieht nach dem Prinzip modifizierter Iteration, so daß sich bezüglich des ersteren eine Verzweigung in die großen Arterien und Venen (ein Versorgungs- und Entsorgungssystem), ergibt und bezüglich dieser wieder kleinere und kleinste Verzweigungen. Strukturell hat dieses System von Auffächerungen sein Pendant im Spezifikationssystem, das ja auch mit zu den Formen analoger Ableitung gehört, auch wenn es unregelmäßige Abstände aufweist und nach bestimmten Hinsichten variiert ist. Selbstähnlichkeit begegnet auch im anorganischen Bereich, im kristallinen ebenso wie im metallischen. Bekannt sind die hexagonalen Rauhreifkristalle oder die wie Tannenbäumchen aussehenden Xenon-Kristalle, die beim Erstarren von Eisenguß oder Stahl entstehen.91 Helge von Koch entwickelte 1904 ein Konstruktionsverfahren zur Erzeugung von Schneeflockengestalten durch fortgesetzte Anwendung desselben Generators, nämlich von Dreiecken, auf immer kleinerer Skala, wodurch eine zunehmend komplexere Gestalt entsteht. Wie im mikrokosmischen Bereich so sind auch im makrokosmischen die Galaxien nach bestimmten Prinzipien gestaltet. Um eine durchaus nicht zufällige Anordnung handelt es sich bei bestimmten " Die Skalierung der ersten sieben Generationen der Bronchialröhre erfolgt nach einer von dem italienischen Mathematiker Filius Bonacci im 13. Jahrhundert entwickelten Skala, der sogenannten Fibonacci-Skala, bei der sich jede nachfolgende Zahl aus der Summe ihrer beiden Vorgängerinnen errechnet. Nach diesen ersten Generationen der Verästelung ändert sich die Skala auffällig. Nach der zwanzigsten Iteration beispielsweise erfolgt eine Verzweigung auf einer kleineren Längenskala, aber mit demselben Luftröhrendurchmesser wie zuvor. Bruce West und Ary Goldherger haben herausgefunden, daß die menschliche Lunge mit einer ganzen Reihe fraktaler Skalen überzogen ist. 91 Vgl. Horizonte. Schweizer Forschungsmagazin, Nr. 31 (1996), S. 14-15. Vernunft und das Andere der Vernunft
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Galaxienhaufen, deren Entstehung man sich als Streuung des galaktischen Staubes auf einem makrokosmischen Gummiband vorstellt, das zunächst gedehnt und dann in regelmäßigen Abständen zerschnitten wird, wobei sich die Teile auf ihre ursprüngliche Länge zusammenziehen. Bezüglich der Teile wiederholt sich der Prozeß, so daß im Endeffekt ein selbstähnlicher, hierarchisch geklumpter Staub entsteht. 92 Eines der ergiebigsten Gebiete ist der Zahlenbereich und seine Veranschaulichung auf dem Computer, wobei sich Mathematik und Ästhetik die Hand reichen. Am bekanntesten dürfte die sogenannte Mandelbrat-Menge sein, die auf dem Bildschirm als Apfelmännchen erscheint, als nierenförmiges Gebilde mit Ausbuchtungen, dem ein weiteres kreisrundes Gebilde ebenfalls mit Ausbuchtungen aufgesetzt ist. Gleich welches Fragment man herausgreift und vergrößert, immer wieder tauchen selbst in den kompliziertesten Mustern, im sogenannten Perlenmuster, Seepferdchenmuster, Filigranmuster usw., Apfelmännchen in verschiedener Größe, Lage und Anordnung auf.93 In aller Vielfalt, ja in aller unüberschaubaren chaotischen Fülle kehrt dieselbe bzw. eine ähnliche Figur wieder. Obwohl die Vergrößerung ins Unendliche fortgesetzt werden kann und allenfalls an der Computerkapazität Schranken findet, geht die Ähnlichkeit gewisser Figuren nicht verloren. Daß sich Selbstähnlichkeit nicht auf visuelle und geometrisierbare Formen beschränkt, sondern auch auf akustische Phänomene in der Musik bezieht, auf psychische in Träumen und auf sinnenhafte in der Literatur, rückt mehr und mehr ins Bewußtsein. Man denke an die Gesangsmuster primitiver Völker, an die Sprachmuster der Kinder, aber auch an die Variation von Leitthemen in Opern und Symphonien. Der Gegenwartskomponist Charles Wuorinen hat nach eigener Aussageaufgrund einer inspirierenden Lektüre von Mandelbrots Buch über die fraktale Geometrie musikalische Stücke unter Verwendung fraktaler Algorithmen komponiert, u. a. das Bamboula Squarde genannte Stück für ein quadrophonisches Tonband und Orchester. Die Themenvariation ist ein bekanntes Stilmittel nicht nur in der Musik, sondern auch in der Dichtung. Verwiesen sei auf das Motiv der Entsagung in Goethes Wilhelm Meister, das in allen Lebensstadien des Helden modifiziert wiederkehrt, oder auf das Motiv des 91 93
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Vgl. B. B. Mandelbrot: Fraktale Geometrie der Natur, a. a. 0., S. 310. Vgl. Anm. 87.
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Strebens in Goethes Faust. 94 Daß auch Träume fraktal strukturiert sind, indem sich das Problem des Träumers in der story wiederholt und in immer subtileren Details reflektiert, ist faktisch seit Freud bekannt, von Montague Ullman wurde es ausdrücklich unter den Aspekt der Fraktalität gestellt. 95 Metaphysische Intentionen verbindet der Physiker David Bohm mit dem Disparatheit und Heterogenität überwindenden Prinzip der Selbstähnlichkeit, das er zur Konstruktion eines Hologramms genutzt hat, das einerseits auf wissenschaftlichen Experimenten basiert, andererseits den Weg für metaphysische Spekulationen eröffnet. Ein Hologramm ist ein aus Laserstrahlen gebildetes, auf Interferenz beruhendes imaginäres Gebilde im dreidimensionalen Raum, um das ein Betrachter herumgehen kann. Es resultiert, wenn Laserstrahlen durch einen halbdurchlässigen Spiegel geschickt werden. Die eine Hälfte des Lichts wird direkt auf eine photographische Platte gelenkt, die andere über die Vermittlung eines Gegenstands. Schneidet man aus diesem Interferenzmuster ein Stückehen heraus, so gibt das Fragment das gesamte Bild wieder, wenngleich in abgeschwächter Form. Aufgrund des holistischen Effekts schließt Bohm, daß das Ganze der Welt in jedem Detail impliziert ist, wiewohl auf modifizierte Weise. Jeder Teil, jedes Einzelphänomen der physischen Welt ist Spiegel des Universums, ein Makrokosmos im Mikrokosmos. Hier taucht die alte Idee des Ganzen im Teil, der Totalität im Moment wieder auf, auf der auch das ältere Analogiedenken basierte, nur daß sie jetzt in wissenschaftlichem Kontext begegnet und einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen wird. Mit der Möglichkeit »wissenschaftlicher« Betrachtung im heutigen Verständnis ist retrospektiv die Rationalität des Analogiedenkens erwiesen.
Ein besonders ergiebiges Feld begegnet in der Malerei. Das Studium alter Meister, etwa des von Hans Memling aus dem 15. Jahrhundert stammenden Porträts der Maria Portinari zeigt, wie sehr diese Künstler mit denselben Formen arbeiten. Im vorliegenden Fall handelt es sich um das Motiv des Mande!förmigen, das nach Größe und Lage, Hell und Dunkel variiert wird. Es tritt nicht nur in den Augen der jungen Patrizierin auf, sondern vergrößert auch im Oval des Gesichts, das sich als heller Fleck vom dunklen Hintergrund abhebt, im Oval des Halsbandes und des Kragens, verkleinert im Bogen des Daumens und in der Hutspitze, im Auslaufen des Hutbandes, das in seiner strengen Form und in seiner dunklen Farbe dem ebenso strengen, aber hellen Kragen korrespondiert. 95 Vgl. M. Ullman: Wholeness and dreaming, in: Quantum Implications. Essays in honour of David Bohm, ed. by B. J. Hiley und F. D. Peat, London, New York 1987, S. 386395. 94
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Wenn das Analogiedenken der Renaissance aufgrund vergleichender Beobachtung die äußere wie innere Ähnlichkeit oder auch die vom Ursprung her bestehende Ähnlichkeit 96 zwischen Dingen aufdeckte und in Kosmogrammen zusammenstellte und diese nicht nur für die theoretische Erklärung der zwischen den Objekten bestehenden Beziehungen heranzog, sondern sie auch praktisch für die wechselseitige Beeinflussung der Objekte nutzte, so geht es jetzt im fraktalen Denken um die mathematisch-formale Darstellung der Strukturzusammenhänge; denn nach heutigem Wissenschaftsverständnis kann Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und auf damit verbundene Exaktheit, Präzision, Eindeutigkeit und Definierbarkeit nur machen, was sich auf mathematisch Explizierbares reduzieren und in formaler Notation wiedergeben läßt. So besteht das Anliegen der fraktalen Geometrie in der Angabe mathematisch formulierbarer Entstehungs- und Bildungsregeln der Objekte. Auf einfache wie eindringliche Weise läßt sich dies an der Mandelbrat-Menge demonstrieren, jener Iterationsgleichung zur Erzeugung von Apfelmännchen, deren Selbstähnlichkeit sich aus der Rückkopplung, nämlich der ständigen Wiedereinführung des Ergebnisses in die Ausgangsgleichung, ergibt. Bei der Mandelbrat-Menge handelt es sich um eine höchst einfache mathematische Grundformel aus zwei Variablen z und c, von denen die eine quadriert und die andere sodann als Konstante subtrahiert wird: z2 - c. Durch ständige Wiedereinführung des Resultats in die Ausgangsfunktion resultiert ein immer komplexer werdendes Gebilde, allerdings unter Wahrung der Selbstähnlichkeit. Interessante graphische Effekte lassen sich jedoch erst bei der Interpretation von z und c durch komplexe Zahlen erzielen, die sich aus einer reellen und einer imaginären Komponente zusammensetzen, deren Schnittstellen in der komplexen Ebene liegen und unendlich sind. Das Frappierende an der Mandelbrat-Menge ist die Tatsache, daß sich Muster von schwindelerregender Komplexität auf relativ einfache Bauformeln und Erzeugungsregeln reduzieren lassen, die dem Prinzip der rekursiven Iteration genügen. 97 Die iterativen Prozesse können sowohllinearer wie nichtlinearer Art sein, angereichert mit Zufallsoperatoren oder auch nicht. AngeDie äußerlich auch als Unähnlichkeit auftreten kann. Vgl. K.-H. Becker und M. Dörfler: Rezept für ein Apfelmännchen, in: K. M. Michel und T. Spengler unter Mitarbeit von H. M. Enzensberger (Hrsg.): Kursbuch, Heft 98: Das Chaos, Berlin 1989, S. 39-41.
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sichts der Vielzahl von Selbstähnlichkeiten muß es Anliegen der fraktalen Geometrie sein, diese nach ihren Aufbauprinzipien zu systematisieren, wobei das Koordinatensystem des älteren Analogiedenkens mit seiner linearen und verzweigten Folge, mit seinen Symmetrien und mit seiner Komplementarität unter einem Leitphänomen zur Anregung und zum Leitfaden dienen kann. Selbstähnlichkeit in linearer Folge läßt sich in allen skalenvarianten Gebilden nachweisen, bei Vergrößerung wie Verkleinerung, Erweiterung wie Teilung. Eine Linie ist ins Unendliche teilbar, wobei sich auf jeder Teilungsstufe die Struktureigenschaften des Ganzen wiederholen. Jeder Teil und jeder Teil des Teils hat selbst wieder Ganzheitsstruktur. So basiert die Kochsehe Insel (Schneeflockengestalt) auf der Potenzierung von Dreiecken auf immer kleinerer Skala. Symmetrien und Inversionen sind in selbstabbildenden Mustern nachweisbar, so in allen spiegelbildlichen Verhältnissen wie im Bronchialstamm, Blutkreislauf- und Nervensystem, deren Verästelung nach rechts und links dem Spezifikationssystem mit seiner Symmetrie entspricht, ebenso in Quadrierungen wie den sogenannten selbstquadrierten Kurven oder im Sankt-Markus-Drachen98 oder in Selbsthomographien, die auf Inversion und Drehung basieren und als Muster aus dem Jugendstil bekannt sind. 99 Bislang noch keine Beachtung und Verortung gefunden hat in der fraktalen Geometrie das aus der Quantentheorie bekannte Phänomen der Komplementarität von Teilchen und Welle, das aber ebenfalls hierher gehört. Komplementäre Erscheinungen sind trotz der Heterogenität ihrer Naturen zusammengehörige, einander ergänzende Phänomene. Trotz Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit besteht eine notwendige wechselseitige Verweisung aufeinander. Obwohl sich Ort und Impuls nicht gleichzeitig exakt messen lassen, verhalten sie sich reziprok zueinander. Die komplementären Phänomene setzen die Tradition der komplexen, auf Agglomeration und Assoziation beruhenden Phänomene des Analogiedenkens fort, die im Leitphänomen heterogene Instanzen, Eigenschaften, Verhaltensweisen usw. vereinen, welche bei Analyse extrapoliert werden, gleichwohl aber aufeinander bezogen bleiben. Die hier vorliegende Form von Selbstähnlichkeit repräsentiert einen Fall, der nur durch die Gleichheit des Ursprungs begründet werden kann, da die extra-
98 Vgl. B. B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie, a. a. 0., S. 197 ff. " Vgl. a.a.O., S.l90f.
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polierten Teile eigentlich einander unähnlich sind. So lassen sich im fraktalen Denken alle wesentlichen Analogieformen wieder antreffen, die aus den älteren Kosmogrammen bekannt sind.
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6. Kapitel Überlegungen zum Zusammenhang der Rationalitätstypen
1. Empirischer oder apriorischer Status der Rationalitätstypenr Im Vorangehenden wurde eine Reihe von Rationalitätstypen präsentiert, die allesamt den Anspruch erhoben, Paradigmen, d. h. einheitliche Welterklärungsmuster zu sein. Fragen bezüglich ihrer erkenntnistheoretischen Herkunft und des damit verbundenen Status, der Vollständigkeit oder Unvollständigkeit der Aufzählung sowie des Verhältnisses der Typen untereinander, blieben dabei meist unbeachtet. Dies mag für eine reine Deskription und Analyse genügen, kann jetzt aber nicht länger mehr ignoriert werden. Die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Ursprung unseres Wissens von verschiedenen Rationalitätstypen läßt nur eine zweifache Beantwortung zu: Entweder haben wir dieses Wissen aus der Empirie, oder wir bringen es a priori in unserer Naturveranlagung mit. Die erste Antwort ist die von der empiristischen, positivistischen und phänomenologischen Schule gegebene. Sie besagt, daß wir unsere Kenntnis der verschiedenen Rationalitätsformen entweder aus der Geschichte, dem Studium vergangener Epochen und Kulturen, schöpfen, wobei schriftliche Dokumente, aber auch andere kulturelle Produkte wie Kunst und soziale Organisationen wichtige Zeugnisse sind, oder aus dem Vergleich gegenwärtiger Kulturen, Denk-, Lebens- und Handlungsweisen von Völkern, wobei auch und gerade die sogenannten primitiven Stufen der Naturvölker eine entscheidende Rolle spielen, da sie oft andere Welterschließungsweisen kennen als die globalisierten und abgeschliffenen. Den Rekurs auf die Empirie wählen die meisten Forscher, die sich mit dieser Thematik befassen, sei es von logischer, sei es von psychologischer Seite. So gewinnt Hans Leisegang in seiner Denkformenlehre1 die heterogenen »Denkformen«, unter denen er, einen Hegeischen Terminus aufgreifend, nicht nur wie Kant die Kategorien, d. h. die Gegenstandsbestimmungen versteht, sondern das zwi1
H. Leisegang: Denlcformen, Berlin, Leipzig 1928.
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sehen diesen bestehende Beziehungsgeflecht, also das in sich zusammenhängende und geschlossene Ganze der Gesetzmäßigkeiten des Denkens, das Menschen oder Gruppen von Menschen bewußt bindet und das wir Logik nennen, aus der empirischen Beobachtung, insbesondere aus Texten, in denen die Denkweisen der Völker schriftlich fixiert sind. Da das menschliche Denken wesentlich auf Anschauliches bezogen ist und sich an ihm orientiert, da jeder Gedankengang sich irgendwie anschaulich darstellen lassen muß, können nach Leisegang die heterogenen Denkformen nirgends anders als in der Anschauung ihr Fundament haben. 2 Hierauf gründet sich für Leisegang die These von der Korrelation von »Denk-form« und »Welt-anschauung«3, wobei er zu vier Denkformen gelangt: zum Gedankenkreis, von der Hegels Dialektik als Kreis von Kreisen eine Abart darstellt, zur Begriffspyramide sowie zum gradlinig-linearen Fortschritt und zur kreisförmigen Entwicklung, denen je verschiedene Weltbilder, teils lebendig-organische, teils starre mechanische, entsprechen. Auch Ernst Cassirer, der in seinen Schriften Philosophie der symbolischen Formen 4 und schon vorher in seiner Studie Die Begriffsform im mythischen Denken 5 von dem gängigen, die abendländische Tradition seit den Griechen beherrschenden wissenschaftlichen Rationalitätstypus einen präwissenschaftlichen, prälogischen, mythischen Rationalitätstypus unterscheidet, jedoch bemüht ist, diesen nicht nur als Vorstufe jenes, sondern in seiner Selbständigkeit und Spezifität zu charakterisieren, gelangt zu dieser Abhebung aufgrund empirischer Studien. Cassirer sieht in den diversen geistigen Produkten wie Sprache, Mythos, Religion und Kunst je eigentümliche Organe des Weltverständnisses und der ideellen Weltschöpfung, die ihre je spezifischen Rationalitätsstrukturen aufweisen. Von diesen zieht insbesondere der mythische sein Interesse auf sich. Nicht anders verhält es sich mit Karl Jaspers, der in seiner Psychologie der Weltanschauungen 6 von Denktechniken statt von Denkformen spricht und eine scholastische Technik, die zu den BeVgl. a.a.O., 5.10. A.a.O. 4 E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil 1923, 2. Teil 1924, 3. Teil 1929, 2. Auf!. Darmstadt 1953 ff. (wiederholte Auf!.). 5 E. Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken. Studien der Bibliothek Warburg, Heft 1, Leipzig, Berlin 1922. 6 K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 4. Auf!. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1954, S. 76ff. 2
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griffspyramiden der traditionellen Logik führt und im Sammeln und Schildern des Erfahrbaren besteht, eine experimentierende Technik, die das natur- wie geisteswissenschaftliche Denken charakterisiert und als Befragung und Konstruktion von Zusammenhängen auftritt, und eine dialektische Technik, die das spekulative Denken auszeichnet und das Ganze statt der abstrakten Teile in den Vordergrund rückt, unterscheidet und zur Auffindung derselben über ein empirisch-psychologisches Studium gelangt, wie dies bereits der Titel seines Werkes andeutet. »In der psychologischen Betrachtung werden wir uns dessen [der diversen formalen Bildungen] bewußt. Aber allein das Studium der Logik kann dies Wissen vermitteln, indem wir die Einsichten der Logik in psychologischer Hinsicht zu Beobachtungen an uns und anderen verwenden.« 7 Und ebenso ist hier Wilhelm Dilthey mit seiner Typologie der philosophischen Weltanschauungen 8 zu nennen, die er induktiv aus historischem Material gewinnt. Einer der frühesten Forscher, der aus dem empirischen Studium von Naturvölkern nicht nur graduell, sondern prinzipiell verschiedene Gesetze eruiert, ist Lucien Levy-Bruhl 9 • Trotz einer noch vorläufigen Terminologie gebührt ihm das Verdienst, verschiedene Logiken im Denken primitiver Völker aufzuweisen, indem er nicht nur deren Vorstellungen herausarbeitet, sondern auch die Verbindungen dieser Vorstellungen untereinander zeigt und auf diese Weise zu Gesetzmäßigkeiten solcher Verbindungen gelangt. -Die Liste der Forscher, die ihr fundamenturn inconcussum in der Empirie finden, ließe sich beliebig fortsetzen. Die empirische Auffindung von Rationalitätstypen hat jedoch mit zwei Grundschwierigkeiten zu kämpfen: Zum einen läßt sich auf diese Weise niemals Vollständigkeit und Ausschließlichkeit hinsichtlich der Art und Zahl der möglichen Typen erreichen, da man sich niemals mit der Gesamtheit möglicher Fälle konfrontiert sieht, sondern immer nur mit bestimmten, beschränkten Ausschnitten. Die Erfahrung kann jederzeit aufgrundneuer Tatsachen weitere StrukA. a. 0., S. 76. Vgl. das Kapitel »Typen der philosophischen Weltanschauung«, in: W. Dilthey: Das Wesen der Philosophie (1907), in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig, Berlin 1924, S. 402ff. 9 L. Levy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, aus dem Französischen übersetzt von P. Friedländer, hrsg. und eingeleitet von W. Jerusalem, 2. Aufl. Wien, Leipzig 1926. 7 8
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turtypen nahelegen, während sie ebenso zur Suspendierung schon vorhandener, anscheinend gesicherter nötigen kann oder auch zu deren Integration in größere Kontexte. Durch eine bloß narrative Aufzählung läßt sich dem Einwand der Kontingenz und Unvollständigkeit nicht begegnen. Zum anderen erweist sich die Annahme eines rein phänomenologischen Zugangs zu den Fakten, der diese rein und unverstellt, ohne jegliche Beimischung metaphysischer oder theoretischer Elemente konstatiert, als eine Illusion. Jedes angeblich reine Datum ist bereits theorieimprägniert und steht unter bestimmten theoretischen Rahmenbedingungen, die unbewußt die Sichtweise auf die Phänomene dirigieren und die Interpretation der Fakten leiten. Dieser Einwand läßt sich nicht dadurch beheben, daß man nachträglich die Prämissen, unter denen man die Erfahrung macht, reflektiert, da auch diese angeblich neutrale Reflexion entweder unter denselben Bedingungen und Voraussetzungen steht wie die Erfahrung selbst oder unter anderen, auf jeden Fall aber unter spezifischen Rahmenbedingungen. Dort, wo Brüche und Inkompatibilitäten der Empirie mit dem vorausgesetzten Theorierahmen auftreten, sogenannte Anomalien, darf man sicher sein, auf Phänomene zu treffen, die eine andere Interpretation verlangen. Die erkenntnistheoretische Alternative zum Empirismus ist der Apriorismus, der von einem natürlichen Mitgegebensein bestimmter Erkenntnisstrukturen im menschlichen Erkenntnissubjekt ausgeht und daraus auf die Konstitutivität und Notwendigkeit eines bestimmten Weltbildes für alle Menschen schließt. Seiner Tendenz nach ist er monistisch: Er läßt nur eine Rationalitätsgestalt gelten, nicht mehrere. Denn für den Fall, daß hypothetisch mehrere angesetzt würden, die sich auf verschiedene menschliche Rassen oder Individuen verteilten, könnten diese doch von anderen Rassen oder anderen Erkenntnissubjekten nicht erkannt werden, da der jeweils Erkennende an seine genuinen Bedingungen, mithin an seinen Rationalitätstypus, gebunden ist und diesen nicht transzendieren kann. Ein universeller Transzendentalismus ist die Konsequenz. Im Sinne eines starren Apriorismus hat Kant den mathematischnaturwissenschaftlichen Rationalitätstypus mit der ihm zugrundeliegenden klassischen Logik angenommen. Das Kategoriensystem, die Urteilstafel als seine Basis, das darauf aufbauende System der Grundsätze sowie das dasselbe einbeziehende durchgängige Klassifikations- bzw. Spezifikationssystem, das von den allgemeinsten zu den 280
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speziellsten Gegenstandsbestimmungen und -gesetzen reicht und den Axiomen der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten folgt, bestimmt konstitutiv oder regulativ, auf jeden Fall aber gesetzmäßig unsere Erkenntnis von der Welt. Freilich hat der Fortschritt der Wissenschaften in nachkantischer Zeit, der Physik nicht weniger als der Psychologie, die Überholtheit des Kantischen Kategoriensystems deutlich gemacht, zumindest einiger Kategorien wie der von Ubiquität (Gleichzeitigkeit), Kausalität, Substanz und Akzidens, wahrscheinlich aber sogar der gesamten kategorialen Objektivität, wofür die fraktale Geometrie spricht. Zudem hat die Krise der Formalwissenschaften, der Logik und Mathematik, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Notwendigkeit anderer Logiken vor Augen geführt, etwa der mehrwenigen Logik. Was hier von innen heraus sichtbar wurde, haben soziokulturelle, ethnologische und empirische Untersuchungen wie die von Levy-Bruhl, Cassirer und Leisegang 10 von außen bestätigt, nämlich die Unvermeidbarkeit der Annahme anderer Rationalitätsformen, so daß der Alleinanspruch eines bestimmten Konzepts unhaltbar wird.
2. Vermittlungsvorschläge
a) Geschlossene Modelle Will man dennoch an einem Vernunftmonismus festhalten, so ist die Vermittlung mit der nicht wegdiskutierbaren Pluralität von Rationalitätstypen nur auf zweierlei Weise möglich: entweder auf spekulative im Sinne der Hegeischen Dialektik oder auf genetische im Sinne von Konrad Lorenz' Nativismus 11 oder Gerhard Vollmers evolutionärer Erkenntnistheorie 12 • Nicht nur in der Phänomenologie des Geistes hat Hegel den Versuch unternommen, eine Vielzahl von Bewußtseinsformen und Weltanschauungen mittels der dialektischen Methode in ein einheitVgl. in jüngerer Zeit: C. Levi-Strauss: Das wilde Denken (Titel der Originalausgabe: La pensee sauvage, Paris 1962), aus dem Französischen von H. Naumann, Frankfurt
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a. M. 1973, 10. Auf!. 1997. K. Lorenz: Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, Bd. 5 (1943), S. 235-409. 12 G. Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie, 2. Auf!. Stuttgart 1980. 11
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liches Korsett zu zwängen, auch in der Wissenschaft der Logik setzt er das Bemühen fort, die verschiedenartigsten Theorien und Metaphysiken in ein umfassendes Konzept zu bannen, das sie allesamt als Stationen eines Weges ausweist, der zu einem letzten umfassenden, eben dem Hegelschen, hinführt. Der »absolute Begriff« bezeichnet eine universelle Theorie, in die alle früheren Theorien als Entwicklungsstadien eingehen. Sie sind Stufen auf dem Wege zu dieser letzten, alles begreifenden, die den Weg dorthin mit einbezieht. Auch wenn von einem Entwicklungsprozeß, von Entwicklungsstufen, Vorformen, Wahrheiten, die erst an sich, noch nicht für sich, erst später an und für sich sind, usw. die Rede ist, so ist hier doch kein historischer Entwicklungsgang gemeint, sondern eine ahistorische, spekulative Reflexionsform, die jeder Theorie unabhängig von ihrem historischen Auftreten ihren genau bestimmten Ort und ihr Verhältnis zu anderen zuweist. Wenn diese spekulative Denkform dann auch noch auf den geschichtlichen Prozeß angewandt wird, so ist dies ein sekundärer Vorgang. Am Hegeischen System läßt sich demonstrieren, wie die Integration anderer Rationalitätstypen, z. B. des klassisch-dihairetischen in ein gänzlich anderes Rationalitätsmodell vonstatten geht. Daß eine solche Einbeschreibung, die die dialektische Logik als Fundament der klassifikatorischen Logik in Anspruch nimmt, einer Uminterpretation bedarf, versteht sich von selbst. Begriffe sind jetzt nicht mehr wie in der »normalen Logik« Abstraktionen, die dem Empirisch-Konkreten gegenüberstehen, sondern Ganzheiten unter je bestimmten Aspekten. In ihnen vereinen sich die Bestimmungen von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, wenngleich mit je unterschiedlicher Akzentuierung. Geht es in dieser Logik darum, die erstarrte Verstandesbegrifflichkeit zu verflüssigen, die Begriffe ineinander zu überführen, dann müssen sie an sich immer schon das Ganze sein, auch wenn dieses nur sukzessiv expliziert werden kann. Das Verhältnis von Allgemeinheit über Besonderheit zu Einzelheit versteht sich folglich nicht als ein spezifizierendes Scheiden und Unterscheiden bzw. umgekehrt als eine zusammenfassende Klassifikation, sondern als ein Herablassen und Heraufholen. Entsprechend wird auch das Urteil gedeutet bzw. umgedeutet, indem es nicht einfach wie in der traditionellen Logik eine Subjekt-Prädikat-Verbindung ist, sondern aufgrund der Austauschbarkeit von Subjekt und Prädikat der real existierende Widerspruch, den es auf dem Wege zur absoluten Einheit zu überwinden gilt. Im spekulativen Satz sind Subjekt 282
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Überlegungen zum Zusammenhang der Rationalitätstypen
und Prädikat einerseits verschieden, andererseits identisch. Das Urteil verkörpert damit den realen Widerspruch, den der Schluß überholen soll. Der Schluß ist ebenfalls nicht wie in der traditionellen klassischen Logik ein Syllogismus, bestehend aus Ober-, Untersatz und Conclusio, sondern der Zusammenschluß von Instanzen, die an sich schon Totalitäten sind, zur vollständigen Totalität. Eine demgegenüber temporale Weise der Vermittlung von Vernunftmonismusund -pluralismus begegnet sowohl in Lorenz' Nativismus, der im Ausgang von Kants Erkenntnistheorie und in naturalistischer Uminterpretation von deren Apriori unterstellt, daß unsere jetzige Raum- und Zeitstruktur einschließlich des Kategoriensystems und der Logik sich entwicklungsgeschichtlich durchgesetzt habe und die gegenwärtig bestangepaßte an die Wirklichkeit sei, wie auch in Vollmers evolutionärer Erkenntnistheorie, die eine Entwicklung der Erkenntnisformen annimmt und unsere jetzige Erkenntnisart als bisheriges Endprodukt einer langen Reihe von Vorformen ansieht. Auf die diversen Rationalitätstypen übertragen, heißt das, daß sie Präfigurationen des jetzt dominanten Rationalitätstypus sind, auf den sie gemäß den Darwinschen Prinzipien von Mutation, Selektion und bestmöglicher Anpassung hingesteuert haben. Ein solcher evolutionärer Gedanke klingt auch bei Levy-Bruhl und Cassirer an, wenn beide die mythische Rationalitätsform als prälogische vom entwickelten Logikverständnis abheben, obwohl sie andererseits bemüht sind, deren Autonomie zu erweisen. Gegen eine solche genetisierende Konzeption ist allerdings einzuwenden, daß sich die Bindung bestimmter Rationalitätstypen an bestimmte Entwicklungsstufen nicht nachweisen läßt. So ist z. B. der mythische Typus, dem das Analogiedenken entspricht, nicht nur auf primitiven, quasi vorwissenschaftliehen Kultur- und Bewußtseinsstufen nachweisbar, sondern taucht ebenso in der Renaissance neben dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Typus mit der klassifikatorischen Logik auf, mit dem er zunächst sogar konfundiert ist, so daß Kurt Hübner nicht zu Unrecht Chemie und Alchemie, Astronomie und Astrologie, Medizin und Alternativmedizin, kurzum Naturwissenschaften und Magie» Töchter desselben Stammes« 13 nennen kann. Und auch heute noch hat der analogisch-mythische Rationalitätstypus sein Fortleben nicht allein in marginalen Bereichen wie der Wahrsagekunst, Chiromantie, Parapsychologie u. ä., sondern auch in 13
K. Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 346.
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der Alltagssprache- man denke an die vielen Tier-Mensch-Analogien wie »stolz wie ein Pfau«, »dumm wie ein Esel«, »schlau wie ein Fuchs« oder an die vielen Materie-Sinn-Analogien wie »ein Herz aus Stein«, »Blutschuld«, »blutjung«, »schwerfällig«, »leichtsinnig« usw. -,desgleichen in der Kunst und Literatur und neuerlich in der fraktalen Geometrie, in der er nach dem Scheitern des herkömmlichen analytischen Wissenschaftsverständnisses das neue Paradigma eines holistischen Wissenschaftskonzepts zu werden verspricht. Und was Hegels spekulative Lösung der Integration diverser Rationalitätstypen in ein einziges, allumfassendes System, in das dialektische, betrifft, so kollabiert sie an internen wie externen Widersprüchen. Der Gedanke der Vollkommenheit und Abgeschlossenheit, den Hege! für sein enzyklopädisches System in Anspruch nimmt und durch das Bild eines Kreises von Kreisen wiedergibt, scheitert bereits daran, daß die Vorstellung von Geschlossenheit stets mit der von Begrenzung und Endlichkeit einhergeht und einen unendlich-unbestimmten Horizont voraussetzt, von dem sich das geschlossene Ganze abhebt und bezüglich dessen es sich in einem unendlich fortschreitenden Prozeß iterieren kann. Hegels angeblicher Absolutheitsbegriff kommt mit dem Abschluß der Enzyklopädie ebensowenig an .ein Ende wie mit dem Abschluß der Logik in der absoluten Idee. Immer ist ein weiterer Überstieg zu anderen Theorie- und Rationalitätsformen möglich und notwendig. Auch von einem systemexternen, nicht-hegeisehen Standpunkt aus läßt sich einwenden, daß Hegels dialektische Logik, so wie sie das Fundament der klassisch-dihairetischen Logik bildet, selbst in einer noch umfassenderen Logik begründet ist, zum einen in der metaparadoxalen, mit der das Problem der Grundlegung der dialektischen Logik in einem Grundlosen angesprochen ist, zum anderen in der analogischen, die den Funktionsbereich der dialektischen Logik, das offene Feld, betrifft, das die Wiederholung der triadischen Kreisstruktur ins Unendliche ermöglicht. Das Verhältnis zwischen der Geschlossenheit des Systems und der Offenheit des Horizontes, das Hegels Denken übersteigt, ist eine Denkfigur des Analogiedenkens, die in der Komplementaritätsvorstellung ihren Niederschlag findet. Das Analogiedenken besitzt, wie die hermetischen Kosmogramme der Renaissance zeigen, kein ausgezeichnetes Zentrum mit umgebenden Marginalbereichen, vielmehr ist hier jeder Marginalbereich selbst Zentrum; anders gesagt: das Zentrum ist überall. Man spricht daher auch von einem ubiquitären Mittelpunkt. Die für Hegels Dialektik 284
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typische Struktur des einsinnig gerichteten teleologischen Prozesses, der sich selbst einholt, findet auch hier Platz, darüber hinaus noch weitere Strukturen. Und schließlich macht Hegels Dialektik bei der Begriffsentwicklung, die nicht nur analytische Begriffsexplikation, sondern auch synthetische Fortbestimmung ist, von Operationen Gebrauch wie der Verschiebung und Verlagerung, die allein aus dem Analogiedenken erklärt werden können. Der Übergang von einem Begriff zum anderen läßt sich nicht nach einem rein formalen antithetischen Schema verstehen, sondern bedarf darüber hinaus des inhaltlichen Moments der Bedeutungsverschiebung. Man hat stets bemerkt, daß Hegels Logik ohne diesen Fremdbestandteil, der dem analogischen Denken entstammt, nicht auskommt. Damit soll nicht schon behauptet sein, daß der analogische Rationalitätstypus der basalste von allen sei, sondern nur, daß es Überlagerungen und Überschneidungen gibt, die das Hineinreichen des einen in den anderen verständlich machen. b) Das offen konstruktivistische Modell
Neben den bisherigen Vermittlungsvorschlägen zwischen der empirisch konstatierbaren Pluralität von Rationalitätstypen und einem monistischen Vernunftentwurf verdient jener Aufmerksamkeit, der nicht von der apriorischen Vorgegebenheit einer bestimmten einheitlichen Vernunftstruktur ausgeht, sondern lediglich von der Möglichkeit zur Rationalitätsbildung überhaupt und die spezifischen Ausformungen von Rationalität in den verschiedenen Kulturen und zu den verschiedenen Zeiten empirisch kontingenten Bedingungen überläßt, z. B. den jeweiligen Lebenssituationen und -erfahrungen, den mentalen und religiösen Unterschieden der Menschen, den ethnischen, geographischen, klimatischen und anderen Besonderheiten. Nur das, was allen Rationalitätstypen eigentümlich ist, wie begriffliche Bestimmung und Herstellung formaler Verknüpfungen (Methode), Folgerichtigkeit, semantische Klarheit und Deutlichkeit, intersubjektive Kommunikabilität und Überprüfbarkeit, wäre als Naturveranlagung mitgegeben, nicht die je spezifischen Ausprägungen. Diese generelle rationale Veranlagung würde auch das Verstehen und Sich-Hineinversetzen in andere Rationalitätstypen als den im eigenen Kulturraum ausgeprägten ermöglichen. Dieses Argument kommt in die Nähe dessen, was in der sprachanalytischen Kant-Diskussion als »transcendental argument« beVernunft und das Andere der Vernunft
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kannt ist. Wie vom Kantischen Apriorismus nach Meinung gewisser Autoren, vor allem Peter F. Strawsons 14, nicht mehr übrigbleibt als ein höchst allgemeines begriffliches Rahmenwerk, dessen Ausfüllung dem jeweiligen Stand der empirischen Forschung obliegt, so ließe sich Entsprechendes auch im jetzigen Kontext sagen. Die Ausgestaltung des unspezifischen Rationalitätsrasters zu spezifischen Rationalitätssystemen hätte man sich so vorzustellen, daß man aus dem unbestimmt-unendlichen Substrat, das ununterscheidbar mit der potentiellen Strukturentotalität zusammenfällt, ein signifikantes Beziehungsgeflecht heraushöbe und mit ihm die Sichtweise auf die Welt festlegte. Die Interpretation trägt konstruktivistische Züge, da sie nicht von einem An-sich-Sein der Welt mit natürlich vorgegebenen Eigenschaften ausgeht, sondern die Einteilung, Gliederung und Strukturierung der Welt vom Erkenntnissubjekt her festlegt. Vertraut ist ein solches Konzept von der mathematisch-naturwissenschaftlichen Weitsicht, mit der man stets einen konstruktivistischoperationalistischen Charakter verbunden hat, da die Gegenstände dieses Konzepts hochartifizielle, widernatürliche Objekte sind, die gemäß einem apriorischen, experimentell umgesetzten Plan aus ihrer natürlichen Umgebung herauspräpariert werden. Wegen des Verlusts der Fülle ihrer in natürlicher Einstellung vorfindliehen Eigenschaften und Verknüpfungen mit der Umwelt werden sie als manipuliert empfunden; an ihnen interessiert nur das, was sich quantitativ und monokausal fassen oder auf solches reduzieren läßt. Da ein solches Konzept über das Experiment der Natur oktroyiert wird, gerät nur das in den Blick, was diesem Konzept entspricht. Die Wirklichkeit wird durch dieses Gradnetz eingefangen; was dessen Maschen nicht konform ist, fällt durch sie hindurch. Was hier ausgegrenzt wird, was jedoch durch andere, nicht weniger rationale Konzepte einholbar ist, zeigen andere Blickweisen auf das Seiende. Gerade die phänomenologischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte, angefangen von Heideggers Entdeckung des Begriffs der Zuhandenheit 15 , Schmitz' sinnes-und leibphysiologischen Analysen 16 bis zu Gernot Böhmes N amhaftmachung anderer als der üblichen kategorialen Gegenstandsbestimmungen wie des AtmoP. F. Strawson: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1959, wiederholte Aufl.; ders.: The Bounds of Sense, London 1966. 15 Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit [1927], 9. Auf!. Tübingen 1960, S. 69ff. 16 H. Schmitz: System der Philosophie, Bd. lff., Bonn 1964ff. 14
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sphärischen, Physiognomischen, Gestischen, Ekstatischen 17, haben uns diese verschütteten Sichtweisen auf die Dinge, die dem analogischen Denken nahestehen, wieder ins Bewußtsein gerufen. So ist es etwas gänzlich anderes, ob eine Gebirgslandschaft bei erwachendem Morgen, wenn der Tau noch auf Blüten und Blättern liegt, die ersten Sonnenstrahlen durch die Nebelschwaden brechen, die Vogelstimmen erwachen, erlebt wird oder bei sinkendem Tag, wenn die lauten Geräusche verklingen, Ruhe eintritt, Dämmerung sich über Berge und Täler legt. Obwohl es sich um »dieselbe« Landschaft handelt, begegnet sie als je und je verschiedene. Durch den Begriffsraster des mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens mit seiner Präferenz von Quantität und klassifikatorischer Selektion läßt sich dieser atmosphärische Gesamteindruck niemals einfangen. Dasselbe gilt für die Physiognomie und Gestik der Natur, die nicht mechanisch über Druck und Stoß, sondern über affektives Betroffensein vermittelt werden. Als Ganzheitseigenschaften bestimmen sie die Dinge ebenso wie das Atmosphärische, wobei das Physiognomische mehr statische Eigenschaften bezeichnet entsprechend seiner Herkunft aus Kretschmers Physiognomie der verschiedenen Menschenrassen, das Gestische mehr Bewegungsanmutungen entsprechend seiner Herkunft aus Klages Deutung von Schriftzügen. In einer Gebirgssilhouette meinen wir oft die Züge eines schlafenden Riesen zu erblicken, dessen geballte Kraft sich jederzeit wieder in Naturgewalten entladen kann; ein in den Himmel ragender Ast gilt uns als Siegesgeste, während herniederhängende Äste und Zweige von uns als Zeichen der Trauer gedeutet werden - wir sprechen von Trauerweide, Trauerbuche usw. Hier werden nicht einfach menschliche Gefühle und Stimmungen extrapoliert, sondern die äußeren Verhältnisse und Verhaltensweisen aufgrund eines allgemeinen, alle Dinge durchziehenden Lebensprozesses mit den eigenen identifiziert. Ebenso gibt es ein reiches Vokabular nonverbaler Kommunikation als Ausdruck des Ekstatischen der Natur, wie Warnrufe, gebietsmarkierende Gesänge, gruppenstabilisierendes Palaver, Drohgebärden von der Art aufgeblähter Backen, Demutsgesten von der Art geneigter Kopfhaltung usw. Nach Jakob Böhme überzieht ein ganzes G. Böhme: Asthetische Erkenntnis der Natur, in: K. Gloy (Hrsg.): Natur- und Technikbegriffe. Historische und systematische Aspekte: von der Antike bis zur ökologischen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik, Bonn 1996, S. 118-145.
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Signaturensystem die Natur, das der Kundige und Arzt kennen muß, um heilen zu können. Dieses dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Denken gänzlich fremde Weltverständnis findet seine Interpretation im analogischen Denken, das im Gegensatz zum ersteren nicht klassifizierend, gattungsanalysierend und sezierend vorgeht, sondern gattungsübergreifende Zusammenhänge herstellt, indem es Gegenstände, Farben,. Befindlichkeiten, Stimmungen, Ausdrucksweisen u. ä. einander zuordnet. Daß mit dem konstruktivistischen Gedanken der Vorwurf der Beliebigkeit und Relativität laut wird, versteht sich; denn es wird nun prinzipiell möglich, aus dem indifferenten Substrat unendlich viele Rationalitätssysteme zu isolieren. Zudem wird der Wahrheitsbegriff, der das ureigenste Anliegen jeder Erkenntnistheorie ist und gemäß der thomistischen Formel von der adaequatio intellectus rei die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit der Welt bedeutet, hinfällig. Zumindest bedarf er einer Neuinterpretation, insofern jedes System seine eigene immanente Wahrheit hat.
3. Kriterien für einen paradigmatischen Status der Rationalitätstypen
Um einem totalen Relativismus entgegenzuwirken, sind die Systembedingungen zu eruieren, denen ein Rationalitätstypus genügen muß, um Anspruch auf einen paradigmatischen Status erheben zu können. Denn es geht ja nicht um irgendeine Methode, sondern um eine solche, die eine bestimmte Weltanschauung eröffnet. Vorab sind einige begriffliche Distinktionen vorzunehmen, die retrospektiv auch auf die bisher dargestellten Rationalitätstypen Licht werfen, wie Hypothese, Theorie, Theoriesystem, Modell, Typus, Paradigma usw. Während eine Hypothese eine inhaltliche Einzelaussage über Seiendes ist und entweder als Arbeitshypothese oder als Experimentalhypothese angesetzt wird, um anschließend durch Beobachtung und Experiment anhand der Wirklichkeit als tauglich oder untauglich erwiesen zu werden, stellt eine Theorie eine Vielheit inhaltlicher Aussagen über einen mehr oder weniger großen Seinsbereich dar, je nachdem, ob mit ihr ein Subsystem oder ein Ganzheitssystem mit der Unterordnung diverser Subsysteme gemeint ist. Außer dem Inhalt spielt hier insbesondere die Form eine Rolle. Die Art und Weise 288
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der Verknüpfung der Aussagen regelt hier den Übergang von einer zur anderen entsprechend dem griechischen Wort !!E'froöo~ = »Weg«, der die formale Beziehung zwischen zwei Punkten bezeichnet. So kann eine Theorie axiomatisch aufgebaut sein, wenn sie von einer bestimmten Anzahl von Axiomen, Definitionen und Postulaten ausgeht wie die euklidische Geometrie oder die Hilbertsche Mathematik und hieraus deduktiv, also im wesentlichen analytisch, die übrigen Sätze des Systems ableitet. Je nach dem Wahrheitsstatus der Ausgangssituation - ob die Axiome für evident gehalten oder bewußt hypothetisch gelassen werden- versteht sich auch der Wahrheitsanspruch der übrigen Sätze. Sie sind entweder gewiß und über jeden Zweifel erhaben oder weisen eine rein immanente Wahrheit auf, die erst einer Bestätigung durch die Außenwelt bedarf. Oder eine Theorie kann wie in den hermetischen Systemen der Renaissance und in den Topologien der chinesischen Philosophie tabellarisch aufgebaut sein gemäß einer horizontalen und vertikalen Koordinate, entlang denen die übrigen Begriffe und Aussagen des Systems rubriziert werden. Dabei kann die horizontale ebenso wie die vertikale Achse die Leitbegriffe enthalten und ihr Pendant die analogen Begriffe. Auch anhand konzentrischer Kreise lassen sich die tabellarischen Topologien darstellen wie ebenfalls in den hermetischen Kosmogrammen, wobei die vertikale Koordinate mit ihren Begriffen zur Radialachse des Kreises mutiert und die horizontale mit ihren Begriffen auf die Kreisumfänge und Sektoren zwischen den Radialachsen verteilt wird. Auch die Umkehrung ist möglich, die Avancierung der Horizontalachse zum Radius, der Vertikalachse zu den Kreisumfängen. Da die Kreise rotieren können, ergeben sich die verschiedenartigsten Zuordnungen und Verbindungen. Wenn inhaltlich Theorien durch den Seinsbereich bestimmt sind, auf den sie sich beziehen, so prägt sich formal in ihnen ein Methodenmuster aus, das sich abstrahieren und schematisch im Raum bzw. unter Einbezug des Raumes darstellen läßt. Dieses hat entweder eine offene oder geschlossene Gestalt, ist linear oder pyramidal, kreisförmig oder antithetisch oder auch komplementär angeordnet. Wie sehr bei formalen Darstellungen Raumanschauungen eine Rolle spielen, zeigt die Tatsache, daß wir bezüglich des Umfangs von Begriffenengere und weitere unterscheiden, bezüglich ihrer Anordnung Über-, Unter- und Nebenordnung, daß wir von Zirkelschlüssen, Kreisargumenten, diametralem Gegensatz usw. sprechen. Die angeblich rein Vernunft und das Andere der Vernunft
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logischen Beziehungen sind durch Raumstrukturen geprägt. Sofern diese Methodenmuster allgemeinverständlich, nachvollziehbar und überprüfbar sind, d. h. der Verstandes- und Vernunfteinsicht zugänglich, sprechen wir von Rationalitätstypen. Sie können mehrere diverse Einzelmethoden enthalten, wie der dihairetische Typus, der im Abstieg vom Allgemeinen zum Besonderen mit der deduktiven Methode operiert, im Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen mit der induktiven. Der analogische Typus vereinigt in sich eine Vielzahl formaler Operationen, neben der generativen Methode in gradlinig absteigender oder sich verzweigender Richtung die zyklische Methode; daneben kommen Symmetrien und Polaritäten vor, die in Verbindung mit Bewegung Spiegel- und Rotationssymmetrie ergeben. Mit dem signifikanten Methodenmuster treffen wir auf einen gestalttheoretischen Begriff, der sich von der Grundkonstellation »Figur - Hintergrund« her versteht. Das Figur-Grund-Schema ist für die gestalttheoretische Erkenntnistheorie das letzte Aussagbare, über das hinaus keine weitere Reduktion möglich ist. In denselben Kontext gehört der Begriff des Typus, der ursprünglich aus den Geisteswissenschaften stammt und dort im Unterschied zu dem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff konzipiert wurde. Während das Gesetz eine invariante Beziehung zwischen Variablen bezeichnet, die generell auf alles applikabel ist, bezeichnet der Typus etwas Besonderes, Einmaliges, Herausragendes. Wie wir Epocheneinteilungen der Geistes- und Ideengeschichte nach Typen vornehmen, die historisch gewachsene Kulminationspunkte einer Entwicklung sind, wie z. B. die Klassik im Verhältnis zur Vor- und Nachklassik, die Romantik im Verhältnis zur Früh- und Spätromantik, so heben sich aus der Vielzahl möglicher Methoden signifikante Strukturen heraus, die, obwohl wiederholbar, doch als solche einmalig und unverkennbar sind. Sofern das Muster zum Vorbild, Leitfaden oder Maßstab für anderes dient, an dem sich dieses orientiert, fungiert es als Modell. Mit diesem wird häufig nicht nur ein anschaulicher Charakter verbunden, der es zum Demonstrationsmittel qualifiziert, sondern auch ein proportionaler, der die Übertragung der Verhältnisse vom Kleinen auf das Große erlaubt. Seitdem im 16. Jahrhundert der VitruvKommentar des Platonischen Timaios den griechischen Ausdruck JtUQUÖELYf!U 18 , der im Kontext der Ideentheorie die Vorbildfunktion 18
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Platon: Timaios 38 c.
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Überlegungen zum Zusammenhang der Rationalitätstypen
der Ideen anzeigt, mit »modello« übersetzte 19, ist diese Bedeutung üblich geworden. Da die Platonische Idee, wie schon aus dem Namen ersichtlich (tÖEa, döo~ = »Anschauungsbild«, »Angeschautes«), die anschauliche Gestalt und nicht das neuzeitliche Gesetz, den Funktionszusammenhang, meint, überträgt sich diese gestalttheoretische Auffassung auch auf das Paradigma oder Modell. Erhebt nun das signifikante Methodenmuster einen Totalitätsanspruch, so avanciert es zum Paradigma im Sinne von Welterklärung. Von dieser Art sind die beschriebenen Rationalitätstypen. Allerdings wird man sich fragen müssen, ob sich nicht ein Widerspruch einstellt, wenn man eine Mehrzahl von Modellen mit Absolutheitsanspruch unterstellt. Im Unterschied zum Einzelmuster müssen solche Muster, die den Status von Universalparadigmen reklamieren, eine Reihe von Kriterien erfüllen. Hierzu gehören Einheit wie Allheit, erstere insofern, als alles Begegnende unter eine einheitliche Perspektive gezwungen wird, und letztere insofern, als diese Perspektive für das gesamte Seiende gelten soll. Da mit den Kriterien der Einheit und Allheit das Ganze bezeichnet ist, kommen auch die Kriterien der Selbst- und Fremdbeziehung ins Spiel, ersteres insofern, als das Ganze keine Beziehung zu anderem außer ihm mehr zuläßt, sondern nur noch eine Selbstbeziehung einschließlich einer Selbsterkenntnis, und letzteres insofern, als totale Fremdbeziehung nichts anderes als Selbstbeziehung ist. Damit scheinen alle Kriterien wiederzukehren, denen wir bei der dialektischen Methode begegneten und die diese als eine absolute, letztbegründende Vernunftmethode auszuzeichnen schienen. Dem stellt sich jedoch sofort der Einwand entgegen, daß der Absolutheitsanspruch in Gestalt der Hegeischen Dialektik scheiterte, da er nur in Form eines unendlichen, nimmer endenden Prozesses, nicht aber in Form definitiver Selbsteinholung einlösbar war. Denn die Vorstellung eines abgeschlossenen Ganzen setzt einen offenen, unabgeschlossenen Horizont voraus, dessen Aneignung durch das angeblich ganze System stets aussteht. Wegen der Nichterfüllbarkeit der Totalitätskriterien kann kein geschlossenes System, geschweige denn ein offenes, Anspruch auf Totalität erheben. Di Lucio Vitruvio Polliane ... De architectura incomenza ... translato in vulgare sermone commentato et affigurato da C. Caesariano, Corno 1521; Neue Ausgabe: Vitruvi De architectura libri decem I Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von C. Fensterbusch, Darmstadt 1964. 19
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Erster Teil: Rationalitätstypen
Die Möglichkeit, eine Mehrzahl »universeller« Systeme, also verschiedener Rationalitätstypen mit Welterklärungsanspruch, anzunehmen, führt uns noch einmal vor die Frage nach ihrem Verhältnis untereinander, ob sie unverbunden nebeneinander bestehen oder in ein allumfassendes System integriert sind, das dann das letzte universelle wäre, oder ob sie sich partial oder total überlagern. Hier zeigt sich eine Merkwürdigkeit, nämlich die, daß jedes der genannten Schemata zugleich als Superschema wie als Subschema auftreten kann. Gemäß der Listenmethode lassen sich alle anderen Typen nebeneinander arrangieren, also reihentheoretisch aufzählen, gemäß dem Klassifikationsschema spezifizieren, allerdings nicht nach einem dichotomischen, sondern polytomisehen Prinzip, so daß sie auch hier gleichberechtigt nebeneinander stehen, gemäß der dialektischen Methode in eine zyklische Abfolge bringen, die jedoch wegen der prinzipiellen Beliebigkeit des Anfangs und Endes und des Arrangements auch hier zu einer Gleichrangigkeit führt, und gemäß der analogischen Methode lassen sie sich in jede mögliche Formation und Anordnung bringen, unter anderem auch in die der tabellarischen Gleichstellung und Austauschbarkeit der Ober- oder Leitbegriffe. Die Tatsache, daß jedes Systemtrotz der Pluralität von Systemen holistisch ist und ein Ganzes ausmacht, das die anderen einbezieht und gleichwohl als deren Teil auftritt, deutet ebenso auf eine Überlagerung wie auf ein Nebeneinander, die zur Ermöglichung einen indifferenten Grund voraussetzen: Raum, Materie, reine Möglichkeit. Diesem Medium, diesem Anderen der Vernunft, soll sich der zweite Teil der Arbeit widmen.
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Zweiter Teil Das Andere der Vernunft
1. Kapitel Das Andere als Sub-, Hyper- und Transrationales
Seit der griechischen Antike, verstärkt noch durch den Einfluß des Christentums, verbindet sich mit der Vernunft ein Allmacht- und Herrschaftsanspruch, der zu dem bekannten Vorwurf vom »Logozentrismus«1 des Abendlandes geführt hat. Der Vorwurf betrifft nicht nur das neuzeitliche mathematisch-naturwissenschaftliche Vernunft- und Wissensverständnis, die auf der dihairetischen Vernunft basierende experimentelle Methode, die seit Bacon als Manipulationsinstrument der Natur gilt, indem sie die Natur artifiziell herrichtet, stellt und damit auch verstellt, mit Heideggers Worten zu einem »Ge-stell« 2 macht, und sich so als instrumentelles Verfügungswissen geriert gegenüber dem kontemplativen Orientierungswissen der Antike, sondern der Vorwurf gilt auch dem letzteren wie jeder Vernunft- und Wissensart; denn jede hat die Aufgabe, allgemeinverständliche und -verbindliche, für jedermann zu jeder Zeit zugängliche und überprüfbare methodische Wege des Denkens und Handeins in das Dickicht der uns umgebenden Fülle von Erscheinungen zu schlagen, mithin Orientierung im Chaos des Seienden zu ermöglichen, was stets auch Macht- und Herrschaftsausübung bedeutet. Leibniz hat unser Wissen mit einem großen Kramladen verglichen, der mit Kenntnissen verschiedenster Art angefüllt ist- modern würde sich der Vergleich mit einer Datenbank mit ihrer immensen Anhäufung abrufbarer Daten nahelegen. Sofern es jedoch keine verbindlichen und gesicherten formalen Wege zur Erschließung dieser potentiellen Informationen gibt, bleibt eine auch noch so große Menge derselben für uns unnütz. 1 J. Derrida: Grammatologie (Titel der Originalausgabe De Ia grammatologie, Paris 1967), aus dem Französischen von H.-J. Rheinherger und H. Zischler, Frankfurt a. M. 1974, S. 11; vgl. S. 10f. Anm. 1 dieser Arbeit. 2 M. Heidegger: Die Frage nach der Technik, in: Die Künste im technischen Zeitalter. Dritte Folge des Jahrbuchs Gestalt und Gedanke, hrsg. von der Bayerischen Akademie der schönen Künste, München 1954, S. 70-108, bes. S. 88.
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Das Andere als Sub-, Hyper- und Transrationales
Gemäß dem Schema von bestimmender Form (Methode) und zu bestimmendem Inhalt (Materie) legt sich für die Beziehung der Vernunft zum Anderen der Vernunft das Dependenzverhältnis nahe, das sich bildlich durch ein Oben und Unten wiedergeben läßt, dergestalt, daß die Vernunft als das Bestimmende »oben« situiert ist und das Andere als das zu bestimmende Substrat (griechisch 'Ö:rtOXELf!EVOV, lateinisch substratum, deutsch Unterliegendes) »unten«. Das Paradigma für dieses Schema findet sich in Platons Liniengleichnis, das anhand der senkrecht zu denkenden, quartemal eingeteilten Linie Platons Auffassung von den ontologischen und epistemologischen Stufungsverhältnissen wiedergibt. Danach ist die Vernunft, bestehend aus voi!~ und (havma mit den entsprechenden ideellen Strukturen, im oberen Bereich angesiedelt, das durch sie Bestimmte und an ihr Partizipierende im unteren. Dieses Schema von oben und unten hat sich durch die Geschichte der Philosophie bis in die Neuzeit hinein erhalten. Es taucht ebenso bei den Rationalisten Leibniz, Wolff, Baumgarten, Meier als Unterscheidung eines superiorischen und inferiorischen Erkenntnisvermögens - Vernunft und Sinnlichkeit - auf wie noch bei Kant im Architektonikkapitel der Kritik der reinen Vernunft 3 , wo sich außer dem oberen Erkenntnisvermögen, bestehend aus dem konstitutiven Verstand mit seinen Kategorien und der regulativen Vernunft mit ihren Ideen, das untere Erkenntnisvermögen, die Sinnlichkeit, findet. Als der Bestimmung Unterworfenes läßt sich dieser Bereich des Unbestimmten am ehesten als Extension, Feld, Horizont, indifferente Materie, chaotisches Mannigfaltiges u. ä. umschreiben. In der Geschichte der Philosophie sind hierfür verschiedene Begriffe benutzt worden, je nachdem, wie das Verhältnis zwischen Bestimmung und Unbestimmtem gesehen wird, ob gestalttheoretisch als Verhältnis zwischen Figur und Umfeld oder spezifikationstheoretisch als Spezifikation eines indifferenten Grundes oder genetisch als Differenzierung des Chaos. Es ist dieses Modell von Herrschaft und Knechtschaft, das erstmals von Nietzsche einer radikalen Kritik unterzogen wurde, mit der gleichzeitig die Einleitung in die Moderne erfolgte. Das von Nietzsche aufgestellte Postulat einer Umwertung aller Werte, welches das Thema der unter dem Titel Wille zur Macht zusammengefaßten Schriften bildet, sieht nicht nur unter Beibehaltung der Grundkon3
Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 835 B 863.
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Zweiter Teil: Das Andere der Vernunft
stellation einen Austausch der Werte vor, dergestalt, daß anstelle des bislang höchsten Prinzips, der Vernunft, nun andere philosophische, religiöse, kulturelle oder soziale Werte treten, sondern eine Suspendierung der gesamten Werteskala, die mit einer Aufwertung des unteren Bereichs, der Sinnlichkeit und der ebenfalls hierher gehörenden Leiblichkeit, verbunden ist. Hierin sind Nietzsche die Existenzialisten, Phänomenologen, Fundamentalontologen wie Postmodernisten gefolgt. Zu beachten ist folgendes: Das Andere der Vernunft fungiert traditionell nicht nur als Substrat der Bestimmung, d. h. als untergeordnetes Medium, auf das die Strukturen quasi von oben herab angewendet werden, sondern auch als Ermöglichungsgrund der Strukturen, also als höchstes, den Strukturen noch übergeordnetes Prinzip, das dieselben überhaupt erst hervortreten läßt. »Grund« wird entsprechend seiner etymologischen Ambivalenz und Gegensinnigkeit sowohl als Basis (Fundament) wie als Prinzip (Ursprung, Quelle) genommen. Auch hierfür hat das Liniengleichnis das Vorbild abgegeben, indem es den Ideen und ihrer Erkenntnis die iöEa mil aya'Ö'oil überordnet. Als Vergleich wird das Licht in seiner Funktion als Ermöglichungsgrund des Sehvorgangs herangezogen. Wie dieses im sichtbaren, realen Bereich den Augen Sehkraft und den Gegenständen Sichtbarkeit, Gestalt, Farbe usw. verleiht, ohne selbst gesehen werden zu können, so verleiht im übersinnlichen, ideellen Bereich die Idee des Guten der Vernunft Erkenntnisfähigkeit und den Ideen ihr Offenbarsein, ihr Sein und ihre Gestalt. Als Ermöglichungsgrund ideeller Erkenntnis ist sie selbst jedoch nicht mehr erkennbar; sie ist EnbtELVU "tfj~ ouota.~, »jenseits des Seins« 4 und, wie ergänzend hinzugefügt werden muß, jenseits der Erkenntnis. Da sie grundsätzlich dieselben Eigenschaften aufweist wie die untergeordnete Materie, unbestimmt und unerkennbar zu sein, wiewohl sie die Strukturen hervortreten läßt und strukturelle Erkenntnis ermöglicht, sind Höchstes und Niederstes letztlich eins und fallen ununterscheidbar zusammen. Das Andere der Vernunft tritt sowohl als Untergeordnetes wie als Übergeordnetes, als Sub- wie als Hyperrationales auf. Daß darüber hinaus auch Gleichrangigkeit zwischen Bestimmungs- und Ermöglichungsgrund in Form einer Transrationalität besteht, zeigt sich, wenn man nicht vom dihairetischen Vernunftmodell ausgeht wie an der genannten Stelle bei Platon, sondern vom dialek• Platon: Politeia 509 b.
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Das Andere als Sub-, Hyper- und Transrationales
tischen wie bei Hegel oder vom analogischen wie in den hermetischen Kosmogrammen. Im dialektischen Modell bilden Methode und Inhalt ein Ganzes, das nur abstraktiv einen Unterschied gestattet. Da es in diesem selbstreferentiellen Ganzen darum geht, die eigenen Voraussetzungen einzuholen, was nur in Form eines unendlichen Prozesses geschehen kann, zeigt sich hier die Gleichrangigkeit und Untrennbarkeit von Bestimmung und zu Bestimmendem, von Grund und Folge. Bilden im dialektischen Modell die Vernunft und das Andere der Vernunft interne Momente und Gegensatzglieder der einen absoluten Vernunft, so treten sie im analogischen Modell als Komplementaritäten auf wie Welle und Teilchen im quantentheoretischen Modell. Wie den hermetischen Kosmogrammen zu entnehmen ist, sind in ihnen die vielfähigsten Strukturierungen im Raum möglich, vertikale, horizontale, zyklische, symmetrische, antithetische, wobei der zugrundeliegende Raum als ubiquitärer Mittelpunkt fungiert, der im All überall zugleich ist. Die Gesamtheit möglicher Strukturen, die Strukturtotalität, ist hier identisch mit dem Raum bzw. der Materie, genauer gesagt, sie ist deren Kehrseite, genau wie im quantentheoretischen Modell unreduzierte Welle und reduziertes Teilchen Umschlagphänomene, Komplementaritäten sind. So stellt sich denn das Andere der Vernunft als gleichwertiges Korrelat zur Vernunftstruktur heraus, von denen jedes auf sein Pendant angewiesen ist. Im folgenden geht es darum, die Zugangsweise und Erfassungsart dieses Anderen zu eruieren, wobei grundsätzlich drei Wege denkbar sind: (1.) ein negativer, der im Ausgang von den Rationalitätsstrukturen, die als allein zugänglich und verfügbar supponiert werden, durch Absprechen derselben das Andere der Vernunft zu erfassen, besser, zu indizieren sucht mit der Konsequenz, daß das Kollabieren jedes Bestimmungsversuchs eine Leerstelle hinterläßt, die auf die Vernunftstrukturen selbst zurückweist. Dieser Weg ist der von der negativen Metaphysik und negativen Theologie beschrittene; auch das Antigrunddenken der Postmoderne hat ihn zu seiner Maxime gemacht. (2.) ein positiver, der durch die Annahme eines anderen als des kognitiven Vermögens der Vernunft sich einen Zugang zum Anderen zu verschaffen beansprucht. Angenommen werden hierbei nicht nur der Vernunft opponierte Vermögen, sondern auch die Vernunft umgreifende. Je nach Auslegung und Bewertung des Anderen als Vernunft und das Andere der Vernunft
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Hyper-, Sub- oder Transrationales - als göttliche Sphäre, sinnlichemotionaler Bereich oder Lebensvollzug - erfolgt seine Konstatierung entweder durch das religiöse Gefühl bzw. eine entsprechende Erfahrung oder durch die Sinnlichkeit mit Anschauung, Wahrnehmung, Phantasie, Empfindung, Gefühl, Stimmung, Befindlichkeit oder durch den Lebensvollzug, das Dasein, die Existenz, den elementaren Willen, also auf vitalistisch-naturalistische Weise. (3.) Als dritter Weg ist der metaphorische zu bedenken, der das Andere der Vernunft mittels Metaphern, Bildern, Gleichnissen und Parabeln beschreibt und auf diese Weise zu erfassen sucht. Präferiert werden bei der Auslegung des Anderen und seines Verhältnisses zu den Rationalitätsstrukturen Vorstellungen wie »Prinzip- Prinzipiiertes«, »Ursache- Wirkung«, »Grund- Folge«, »Bedingung- Bedingtes«, »Ding an sich- Erscheinung«, theologisch »Gott- Schöpfung«, metaphysisch »Sein - Dasein« u. ä. Durch die Übertragung dieser Vorstellungen aus dem uns bekannten und vertrauten Bereich auf den uns unbekannten und unvertrauten konstituiert sich nicht nur ein Verhältnis zwischen jenseitigem Grund und diesseitiger Folge, sondern es konstituiert sich überhaupt erst das Andere der Vernunft als Grund und Voraussetzung dieses Verhältnisses. Da hier Vorstellungenper analogiam von einem Bereich auf den anderen- wenngleich auf einen nur hypothetischen- transferiert werden, fällt dieser Weg mit dem Analogiedenken zusammen. Diese Zugangsarten sollen anhand konkreter philosophischer Positionen exemplifiziert werden.
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2. Kapitel Der negative Zugang zum Anderen der Vernunft: die via negativa, demonstriert an Derridas differance-Begriff 1. Vorgeschichte Es gibt wohl keine zweite Epoche der Philosophiegeschichte, die sich mit einer solchen Vehemenz dem Anderen der Vernunft zugewendet hat wie die Postmoderne, jene in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankreich entstandene und sich bald über Europa und Amerika ausbreitende avantgardistische nouvelle philosophie, ohne die das Denken der Gegenwart unverständlich bliebe. Ebenso nachhaltig ist die mit ihr einhergehende Kritik am traditionellen Monopol und Absolutheitsanspruch der Vernunft, und zwar der als Einheitsprogramm entworfenen klassifikatorischen Vernunft, auf der die klassische Logik basiert. An die Stelle der von dieser postulierten Prinzipien: Einheit, Identität, Grund usw. sind Vielheit, Differenz, Relationalität usw. getreten, allerdings nicht jene immer noch unter der Dominanz von Einheit und Identität stehenden, nämlich die atomisierte, wohlunterschiedene, abzählbare Vielheit, sondern Mannigfaltigkeit, Differenz, Relationalität schlechthin. Wiewohl sich alle Postmodernisten in irgendeiner Weise in ihren Schriften mit dem Anderen der Vernunft befassen, vorzüglich unter dem Differenzbegriff\ gebührt Derrida das Verdienst, sich am radikalsten unter dem verfremdenden Begriff differance dem Anderen zugewandt zu haben, so daß sein Konzept zur Exemplifikation dienen möge. Nicht, daß es überhaupt keine Anknüpfungs- und Bezugspunkte seiner Philosophie an frühere metaphysische Modelle, Argumentationsformen und Gedankenfiguren gäbe und sämtliche Gedankengänge innovativ wären. Wohl aber hat Derrida am rigorosesten die Vgl. J. Derrida: Die differance, in: Randgänge der Philosophie (Titel der Originalausgabe: Marges de Ia philosophie), aus dem Französischen von G. Ahrens, H. Beese, M. Fischer, K. Karabaczek-Schreiner, E. Pfaffenberger-Brückner, G. Sigl, D. W. Tuckwiller, hrsg. von P. Engelmann, Wien 1988, S. 29-52; G. Deleuze: Difference et rep€tition, Paris 1968, deutsch: Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen von J. Vogl, München 1992; J.-F. Lyotard: Le Differend, Paris 1983: G. Vattimo: Le avventure della differenza. Che cosa significa pensare dopo Nietzsche e Heidegger, Mailand 1980.
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Konsequenzen aus dem Ansatz einer Unzugänglichkeit des als Absolutes angesetzten Anderen gezogen. Derrida selbst nennt in seiner Studie differance als Anknüpfungspunkte seiner Philosophie Heideggers Konzept der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem und, noch weiter zurückgehend, die negative Theologie, deren Ursprünge sich bis auf Platons Sonnengleichnis zurückverfolgen lassen. Platons Sonnengleichnis ist insofern von entscheidender Wichtigkeit, als hier erstmals in der Geschichte des Denkens der Transzendenzgedanke und die negative Methode (via negativa) eingeführt werden, wozu sich Platon des Arguments bedient, daß das, was Grund von allem ist -letzter, höchster, umfassender Grund -, nicht adäquat durch das aus ihm Begründete eingeholt werden könne, da sich sonst Begründendes und Begründetes nivellierten. Obwohl das Andere Ermöglichungsgrund des Ideensystems und der entsprechenden Vernunfterkenntnis ist, läßt es sich selbst durch keines der beiden Gegensatzglieder fassen und beschreiben, weder als ideeller Erkenntnisgegenstand noch als ideelle Erkenntnis, so daß keines der aus ihm freigesetzten rationalen Prädikate auf es selbst zutrifft: Es ist weder Einheit noch Vielheit, weder Identität noch Differenz, weder Grund noch Folge, weder Sein noch Bewußtsein. Ebenso wichtig ist die Tatsache, daß es als unbegreiflicher Systemgrund auf das explizite System zurückverweist und, was seine Explikationsmöglichkeit betrifft, gänzlich in diesem aufgeht. Die Argumentation operiert mit den klassischen Kategorien »Grund« und »Folge« bzw. deren Synonymen, auf denen auch das klassische klassifikatorische Vernunftmodell basiert, das ein Begründungssystem, ein hierarchischer Stufenbau aus Gründen und Folgen, ist und die Existenz eines letzten, höchsten Grundes suggeriert, ohne daß dieser vom explizierten System aus zugänglich wäre. Wir begegnen hier der Paradoxie, zwar einen Grund supponieren zu müssen, um das explizite System erklären zu können, ihn aber gleichzeitig der Erkennbarkeit zu entziehen, so daß letztlich unausgemacht bleibt, ob er überhaupt existiert und in ein Verhältnis zum expliziten System gesetzt werden darf, ja ob nicht die ganze Begrifflichkeit von Grund und Folge unangemessen ist. Platoris Antwort bleibt ambivalent. Gelegentlich hat es den Anschein, als wäre die Annahme eines solchen Grundes unerläßlich, gerade auch in seiner Leitfunktion für das explizite System und die Vernunfterkenntnis wie nach dem Höhlengleichnis der Politeia; gelegentlich scheint nur das Nichts zu 300
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Der negative Zugang zum Anderen der Vernunft
bleiben mit dem Verweis auf die OlJf.t:rtA.oxij 'tWV y~::vwv-Struktur wie nach dem Parmenides. Vom Platonischen Sonnengleichnis und seinem Transzendenzgedanken, der sich nur in der Immanenz offenbart, hat die negative Theologie ihren Ausgang genommen, wie sie exemplarisch in Pseudo-Dionysius Areopagitas Schrift De mystica theologia vorliegt, in der Gott, welcher hier die Stelle der ursprünglich neutralen Ursprungsdimension einnimmt, alle nur erdenklichen rationalen Prädikate abgesprochen werden in der Manier: Gott ist nicht ... bzw. Gott ist weder dies noch jenes, weder Größe noch Kleinheit, weder Identität noch Differenz, weder Vernunft noch Gegenstand der Vernunft ... Im fünften Kapitel heißt es: »Noch höher aufsteigend sagen wir von ihr (der Allursache) aus, daß sie weder Seele ist noch Geist; ihr ist auch weder Einbildungskraft, Meinung, Vernunft oder Denken zuzuschreiben, noch ist sie mit Vernunft und Denken gleichzusetzen, noch wird sie ausgesagt, noch gedacht. Sie ist weder Zahl noch Ordnung, weder Größe noch Kleinheit, weder Gleichheit noch Ungleichheit, weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit. Sie hat weder einen festen Stand, noch bewegt sie sich, noch rastet sie. Ihr ist auch weder Kraft zuzuschreiben, noch ist sie mit Kraft identisch, noch mit Licht. Sie ist weder lebendig noch mit Leben identisch. Auch ist sie nicht Sein, nicht Ewigkeit, nicht Zeit. Sie kann aber auch nicht gedanklich erfaßt, noch gewußt werden. Auch ist sie weder mit Wahrheit, noch mit Herrschaft oder Weisheit gleichzusetzen. Sie ist weder eines noch Einheit, weder Gottheit noch Güte. Sie ist auch nicht Geist in dem Sinne, wie wir diesen Ausdruck verstehen, noch mit Sohnschaft oder Vaterschaft gleichzusetzen oder mit irgend etwas anderem, von dem wir oder irgendein anderes Wesen Kenntnis besaßen. Sie gehört weder dem Bereich des Nichtseienden noch dem des Seienden an. Auch erkennen sie die Dinge nicht so, wie sie (tatsächlich) ist, noch erkennt sie die Dinge in ihrem tatsächlichen (begrenzten bzw. zusammengesetzten) Sein. Sie entzieht sich jeder (Wesens-)Bestimmung, Benennung und Erkenntnis. Sie ist weder mit Finsternis noch mit Licht gleichzusetzen, weder mit Irrtum noch mit Wahrheit. Man kann ihr überhaupt weder etwas zusprechen noch absprechen. Wenn wir vielmehr bezüglich dessen, was ihr nachgeordnet ist, bejahende oder verneinende Aussagen machen, dann ist es nicht etwa sie selbst, die wir bejahen oder verneinen. Denn sie, die allvoll endende, einzige Ursache aller Dinge, ist ebenso jeder Bejahung überlegen, wie keine Verneinung an sie heranreicht, sie, die jeder Begrenzung schlechthin enthoben ist und alles übersteigt.« 2 Pseudo-Dionysius Areopagita: De mystica theologia, Kap. 5, in der Übersetzung von A. M. Ritter, in: Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die Mystische Theologie und Brie-
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Zweiter Teil: Das Andere der Vernunft
Des selben Denkschemas bedient sich Heidegger bei der Konzeption seiner ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem, deren erstes Glied die Ursprungsdimension und deren zweites das wohlunterschiedene, bestimmte Seiende bezeichnet. Auch hier findet die Dialektik von Entbergung und Verbergung, Lichtung und Entzug Anwendung. »Das Sein«, heißt es in Holzwege, »entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt.« 3 Das Sein muß gedacht werden als das »entbergend-verbergende Lichten« 4 • »Die Unverborgenheit beruht in der Verborgenheit des Anwesens.« 5 In aller Schärfe bringt die Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 diese Dialektik zum Ausdruck, indem sie die Ursprungsdimension als Nichts bestimmt, das in der Angst erfahren wird, einer Stimmung oder, besser, einer Grundbefindlichkeit des Menschen, in der alle festen, sicheren Grenzen verschwimmen, die vertrauten, Halt gebenden, identifizierbaren Dinge in einem grauen Einerlei versinken, gleichsam in ein schwarzes Loch fallen. Die Kehrseite dieses das Sein charakterisierenden Prozesses ist das Hervortretenlassen des Seienden im ganzen. Im Entzug liegt zugleich das In-Erscheinung-Treten und Sichtbarwerden des Seienden als solchen, so daß Heidegger das Nichts als die von sich selbst »abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen« 6 bestimmen kann. Nicht nur an Heideggers Philosophie, sondern auch an der negativen Theologie meint Derrida eine Inkonsequenz des Antigrunddenkens konstatieren zu müssen, insofern beide allzu leicht die Existenzzweier selbständiger Ebenen suggerieren, die im Verhältnis von Grund und Folge zueinander stehen, ohne zu bedenken, daß dadurch Begriffe der einen Sphäre illegitimerweise auf die andere übertragen werden und so die Ursprungsdimension zu einem zweiten Seienden neben dem eigentlichen Seienden degradiert. Sie wird nicht in ihrer ausschließlich konstituierenden Funktion für das Seiende erfaßt. Bezüglich der negativen Theologie kulminiert der Vorwurf in der
fe, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von A. M. Ritter, Stuttgart 1994 (Bibliothek der griechischen Literatur, hrsg. von P. Wirth und W Gessel, Bd. 40), S. 79 f. (vgl. Patrologiae Graecae, Bd. 3, S. 1045 f. /1046f.). 3 M. Heidegger: Holzwege, in: Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1977, S. 337. 4 M. Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 27. 5 M. Heidegger: Zur Seinsfrage, in: Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt a.M.1976, S. 416. 6 M. Heidegger: Was ist Metaphysik?, 1929, 11. Aufl. Frankfurt a. M. 1975, S. 34.
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Kritik an der Substantialisierung Gottes, bezüglich Heideggers Philosophie gipfelt er in drei Punkten: (1.) Zum einen nivelliert nach Derrida Heideggers Formel von der ontologischen Differenz, die auch als Formel für Entzug I Lichtung bzw. Verbergen I Entbergen gelesen werden kann, das Sein zu einem Seienden, das sich hinter dem letzteren verbirgt. (2.) In dieselbe Richtung zielt der Vorwurf, daß Heidegger in bezug auf das Sein die Wesensfrage stellt, d. h. die Frage nach Sinn und Eigenart des Seins als solchen. Eine solche Frage suggeriert, daß es das Sein gleichsam wie ein Seiendes gebe, nach dessen Beschaffenheit gefragt werden könne. (3.) Heideggers gesamtes Sinnen und Trachten zielt auf eine letzte Wahrheit, einen letzten Sinn. Da der Logos aufgrund seiner Struktur diesen jedoch verbirgt, rückt an seine Stelle der Versuch, mittels des dem Sein näherstehenden poetischen Sprechens das alte Ideal der adaequatio intellectus rei zu verwirklichen. Die Suche nach dem »einzigartigen Namen« 7, der das Unnennbare benennen soll, bleibt nach Derrida jedoch dem Phonolagismus oder Phonozentrismus verhaftet, der von der metaphysischen Obsession der Anwesenheit und ihrer Transparenz geprägt ist. Sollen diese Monita- zum einen die metaphysischen Anklänge an die Anwesenheit, zum anderen die Wesensfrage und zum dritten die Wahrheitsdefinition - vermieden werden, so ist mit der These ernst zu machen, das Andere der Vernunft in seiner ausschließlichen Konstitutionsfunktion für das durch Rationalitätsstrukturen zu erfassende Seiende aufzuzeigen, es weder im Sinne eines statischen substantiellen Prinzips noch im Sinne eines dynamischen Anfangs oder Ursprungs, sondern allein in seiner Bewegung des Sich-Entlassens in das wohlbestimmte, differenzierte Seiende darzustellen. Dies geschieht bei Derrida unter dem markanten Terminus differance.
2. Derridas Begriff der differance Die Wortneuprägung »differance« weist für Derrida zwei Vorzüge auf: Zum einen macht das lautlose a in differance das Wort ununterscheidbar vom gleichlautenden difference mit der Konsequenz, daß 7
J. Derrida: Randgänge der Philosophie, a. a. 0., bes. S. 51.
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differance nur als difference konstatierbar ist. Zum anderen haben Wortbildungen mit a im Französischen den Vorteil, neutral zu sein, weder das Aktivum noch das Passivum zu bezeichnen. So drückt mouvance (Beweglichkeit) weder einseitig die Tätigkeit des Bewegens noch einseitig das Geschehen des Bewegt-Werdens aus. Und ebenso bedeutet resonance nicht einfach das aktive Widerhallen-Machen (resonner), freilich auch nicht das passive Widerhallen-Lassen. Differance eignet sich daher schon von der sprachlichen Verfassung her zur Explikation der medialen Form. »Was sich differance schreibt, wäre also jene Spielbewegung, welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenz, durch das >produziert<, was nicht einfach Tätigkeit ist. Die differance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht etwa in einer einfachen und an sich unmodifizierten, in-differenten Gegenwart voraus. Die differance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name >Ursprung< nicht mehr ZU.<< 8
Die weder als aktiv noch als passiv zu verstehende mediale Bewegung des Sich-Differenzierens kann gleicherweise als Spatialisierung wie als Temporalisit~rung verstanden werden, als Raum- wie Zeiteröffnung, als Freisetzen räumlicher Intervalle wie auch als Herstellung eines zeitlichen Zwischen zwischen dem aktuellen Jetzt und den vergangenen bzw. bevorstehenden Jetzten einschließlich der Setzung begrifflicher Differenzen. Durch die Freigabe der gesamten möglichen Vernunftstrukturierung in Raum und Zeit wird der ermöglichende Grund selbst für das Vernunftdenken zum Abgrund und Ungrund. Um mit Derrida zu sprechen: Die durch differance charakterisierte Ursprungsdimension geht in der durch difference charakterisierten Sphäre auf und unter. Es ist kein Zufall, daß bei dieser ontologischen Konzeption die Sprachtheorie Saussures 9 Pate gestanden hat, wie überhaupt Saussure für die gesamte Postmoderne eine entscheidende Rolle spielt. Im Unterschied zur klassischen Sprachauffassung, wie sie bei Platon, Aristoteles, Leibniz, in der Port-Royal-Schule u. a. anzutreffen ist und als Repräsentationstheorie auftritt, bei der das Verhältnis »Wort 8 A.a.O., S. 37. ' Vgl. F. de Saussure: Cours de linguistique generale [1917], publie par Ch. Bally et A. Sechehaye avec la collaboration de A. Riedlinger. Edition critique par T. de Mauro, Paris 1973, deutsch: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, übersetzt von H. Lommel, 2. Aufl. Berlin 1967.
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bzw. Zeichen- Sache« als ein Verhältnis zwischen Repräsentant und Repräsentiertern bestimmt wird, dergestalt, daß sich ersteres Glied mimetisch oder aufgrund konventionalistischer Festlegung in einer Eins-zu-eins-Relation auf letzteres bezieht, bestreitet Saussure eine solche Externrelation, da sie von vorausgesetzten wohlunterschiedenen Objekten ausgeht, die bereits in einer vorsprachliehen Form erfaßt sein müßten. Die Worte und Zeichen der Sprache wären dann nur noch Hüllen dieses Vorbewußten und Vorgedachten. Für Saussure ergibt sich daraus die Konsequenz, die Bedeutung der Worte und Zeichen ausschließlich durch ihre Internrelation innerhalb des Sprachsystems festzulegen, indem ein Zeichen auf ein anderes Zeichen verweist und dieses wieder auf ein anderes usw. in einem unendlichen Verweisungsnetz. Das Zeichen ist nicht durch feststehende, identische Merkmale bestimmt, sondern durch die wechselnden Differenzen zu anderen Zeichen, so daß sich die Sprache als ein relatives Differenzsystem darstellt. Hier wird nicht von unveränderlichen Zeichen ausgegangen, die nachträglich in Relation zueinander gesetzt werden, sondern umgekehrt von Differenzen, die die Zeichen ursprünglich bestimmen, freilich damit auch zu relativen herabsetzen. Zur Plausibilisierung läßt sich ein einfaches Modell heranziehen. Man denk~ch einen undifferenzierten Grund, eine Fläche etwa, die man durch Striche zu erfassen sucht. Angesichts der Diskrepanz zwischen Strich und Fläche sind zumindest zwei Striche erforderlich, um durch deren Intervall oder Differenz die Fläche einzugrenzen. Da dies jedoch ohne Erfolg bleibt, werden weitere Striche, kleinere Intervalle bzw. kleinere Differenzen erforderlich und so in infiniturn. Denn jede Eingrenzung eröffnet die Möglichkeit eines noch kleineren Intervalls. Ohne durch Striche je faßbar zu sein, sind die Differenzen der Striche doch das einzige, durch das sich der Grund zeigt. Der Grund gibt sich nur durch ein unendliches Intervallsystern zu erkennen, indem er sich gleichzeitig in und mit jedem Intervall entzieht. Jedes neue Intervall dokumentiert paradoxerweise nur seine Abwesenheit. Überträgt man dieses Modell auf die Sprache, so sind die Striche die Wörter, die sogenannten Signantien, und die Intervalle ihre Differenzen. Die bezeichnete Sache, das Signifikat, geht dann im System der Signantien auf oder, besser, unter, da jedes Signans nur insofern Signans ist, als es in Beziehung auf ein anderes ein solches ist und in einer differentiellen Relation zu ihm steht. So kann Saussure sagen: »Dans la langue il n'y a que des differences sans termes positifs.« (»In Vernunft und das Andere der Vernunft
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der Sprache gibt es nur Unterschiedenheiten ohne positive Einzelglieder.«)10 Derrida geht bei der Auslegung der Differenz noch einen Schritt über Saussure hinaus unter Rekurs auf Husserls Zeittheorie, wie sie sich in der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins expliziert findet. Husserls Theorie ist gekennzeichnet durch eine Kritik an der traditionellen Auffassung von der Präsenz oder Anwesenheit einer Sache im Augenblick und ihrer »unmittelbaren« Erfahrbarkeit, mithin durch eine Kritik an der traditionellen Metaphysik der Anwesenheit, die die gesamte Philosophiegeschichte durchzieht und auch im Kreuzfeuer von Heideggers Attacken stand. Ging die Tradition bezüglich der Zeit von einer Punktualisierung und Momentanisierung aus, einer Zerlegung des kontinuierlichen Zeitflusses in eine Vielzahl unausgedehnter, mathematisch faßbarer Augenblicke, Jetzte, so nimmt Husserl, da sich das Zeitkontinuum nicht mengentheoretisch aus Jetzten zusammensetzt, mehr oder weniger ausgedehnte Präsenzzeiten an, die aus einer Urimpression sowie aus einer Retention und Protention, desgleichen aus einem Schweif von Retentionen der Retentionen und Protentionen der Protentionen bestehen. Für die Urimpressiön innerhalb der Präsenzzeit gilt im Prinzip dasselbe, nämlich daß sie sich nicht auf einen punktuellen Augenblick reduzieren läßt, sondern ihrerseits aus einem Spektrum von Urimpression, Retention und Protention besteht, wenngleich eingeschränkterer Art. Für dessen Urimpression gilt dasselbe und so in infinitum. So wie sich die zeitliche Gegenwart in eine unendlich verschachtelte Konstruktion auflöst und hinter dieser verschwindet, so entschwindet auch die Anwesenheit des Gegenstands, der nie in leibhaftiger Selbstgegenwart, in absoluter Evidenz, gegeben ist. Da Wahrnehmung, selbst die angeblich unmittelbare, augenblicksbezogene, wie alle Bewußtseinsakte intentional strukturiert, mithin objektbezogen ist, kann sie sich auf den gegenwärtigen Gegenstand immer nur nachgewahrend in Form von Retentionen beziehen. Der Quellpunkt der Zeit ebenso wie das Momentanerlebnis sind selbst nicht faßbar. Der Anfang liegt seiner Erfahrbarkeit immer schon voraus. Anders gesagt, das Gegenwärtige ist nie als Gegenwärtiges konstatierbar, sondern immer nur im nachherein. Das Aktuelle ist paradoxerweise nur als Gewesenes bewußt. Die Bewußtseinsintention gelangt nie nur Gänze mit der Intuition zur Deckung. Diese Zeitverschobenheit 10
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A.a.O., S. 166 (deutsch 5.143).
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Der negative Zugang zum Anderen der Vernunft
führt zur These von der Phasenverschobenheit des sich konstituierenden und des erscheinenden Bewußtseinsflusses. Denn die Reihe der Konstitutionsmomente ist nicht und kann nicht identisch sein mit der Konstatierung und reflexiven Erfassung derselben. »Das Konstituierende und das Konstituierte decken sich, und doch können sie sich natürlich nicht in jeder Hinsicht decken. Die Phasen des Bewußtseinsflusses, in denen Phasen desselben Bewußtseinsflusses sich phänomenal konstituieren, können nicht mit diesen konstituierten Phasen identisch sein, und sind es auch nicht. Was im Momentan-Aktuellen des Bewußtseinsflusses zur Erscheinung gebracht wird, das sind in der Reihe der retentionalen Momente desselben vergangene Phasen des Bewußtseinsflusses.« 11
Allerdings taucht hier im Zentrum der Busserlsehen Theorie ein Problem auf, dessen sich Husserl zwar bewußt war und das er in den Beilagen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zu lösen suchte, für das er aber nur den Verlegenheitsbegriff eines »Urbewußtseins«12 des Gegenwärtigen fand. Denn wenn das Aktuelle überhaupt nicht bewußt ist, kann es auch nachträglich nicht retiniert und erinnert werden. Indem Husserl zwischen unmittelbarer innerer Wahrnehmung bzw. Urbewußtsein und nachfolgender Beobachtung und Reflexion unterscheidet, versucht er das hier auftauchende Problem zu beheben, fo'egibt sich allerdings bezüglich des unmittelbaren Ur- oder Selbstbewußtseins in ein neues Dilemma, nämlich entweder die Annahme eines unendlichen Bewußtseinsregresses, mag sich dieser instantan, vorgängig oder nachträglich abspulen, oder die Annahme eines letztlich unbewußten Bewußtseins, -ein Problem, das noch Sartre beschäftigte und ihn zur Unterscheidung eines präreflexiven und reflexiven Bewußtseins zwang. Trotz vordergründiger Husserl-Kritik ist es genau diese Husserlsche Position desAufbrechenseiner Zeitverschiebung, die Derrida mit dem Ausdruck differer wiedergibt. Er definiert denselben als »etwas auf später [ ... ] verschieben, sich von der Zeit und den Kräften bei einer Operation Rechenschaft ab[ ]legen, die Rechnung auf[ ]legen, die ökonomischen Kalkül, Umweg, Aufschub, Verzögerung, Reserve, Repräsentation impliziert« 13 . Um etwas als gegenwärtig bezeichnen zu können, muß es im Horizont von Retentionen und E. Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893-1917), in: Husserliana, Bd. 10, S. 83. 12 A. a. 0., S. 118ff. (Beilage IX). 13 J. Derrida: Randgänge der Philosophie, a. a. 0., S. 33. 11
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Protentionen gesehen werden entweder als das Nicht-mehr einer schon vorübergeeilten, schon vergangenen Gegenwart oder als das Noch-nicht einer erst erwarteten, bevorstehenden. Gegenwärtiges ist nur im Rück- oder Vorgriff, auf jeden Fall im Sinne einer das aktuelle Leben überschreitenden Intention identifizierbar. Ohne die Folie Husserls bliebe die für Derridas differance-Konzeption typische Temporalisation (»Temporisation« 14 ) unverständlich, mit der die Eröffnung der Zeitdimension gemeint ist. Und mit der Temporalisation geht die Raumgebung, das Räumen, einher, das im Sinne Heideggers die Freigabe von Orten (espacement 15 ) ist. Das räumliche wie zeitliche Intervall ist das, was das Anwesende als solches konstituiert; mit ihm geht die Möglichkeit begrifflicher Strukturierung Hand in Hand. In der Kette von Beschreibungsweisen treten noch weitere Termini zur Kennzeichnung dieser konstitutiven Differenz auf, wie »Spur«, »Schrift«, »Reserve« usw. Vor diesem Hintergrund läßt sich verstehen, daß die Postmoderne die dem Denken und der Vernunft zugängliche Realsphäre mit Vorliebe mit dem Bild des Rhizoms belegt. 16 Das Rhizom, das Wurzelgeflecht, ist ein nach allen Richtungen sich ausbreitendes, wildwucherndes Netzwerk, das aufgrund seiner Internrelationen und Vernetzung dem Denken die verschiedensten Wege ermöglicht. An die Stelle des alten, das Denken beherrschenden klassifikatorischen Vernunftmodells und der darauf basierenden binären Logik, die ihren adäquaten Ausdruck im Bild des sich verzweigenden Baumes mit seinen Über- und Unterordnungen, mit seinen klar gegliederten, wohlbestimmten Teilen fand, tritt hier ein alternatives Modell, das sogenannte Rhizom-Denken, das allseitig verzweigt, dezentralisiert, assoziativ ist. Es ist offen für diverse Rationalitätskonzepte und Logiktypen. Die beiden Bilder und Denktypen lassen sich mit verschiedenen Kulturen in Verbindung bringen: »Es ist merkwürdig, wie der Baum die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Abendlandes beherrscht hat, von der Botanik bis zur Biologie und AnatoA. a. 0., S. 33. Vgl. M. Heidegger: Die Kunst und der Raum. L'art et l'espace, St. Gallen 1969, S. 9: >>Räumen ist Freigabe der Orte[ ... ]<< 16 Vgl. das gleichnamige erste Kapitel aus dem Buch von G. Deleuze und F. Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (Titel der Originalausgabe: Mille plateaux, Paris 1980), aus dem Französischen übersetzt von G. Ricke und R. Voullie, hrsg. von G. Rösch, Berlin 1997, S. 11-42.
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mie, aber auch die Erkenntnistheorie, die Theologie, die Ontologie, die gesamte Philosophie ... der Wurzelgrund, Grund, roots und foundations. Das Abendland hat eine besondere Beziehung zum Wald und zur Rodung[ ... ] Der Orient zeigt ein ganz anderes Muster: eher eine Beziehung zur Steppe und zum Garten [ ... ] Bei uns ist der Baum in die Körper eingepflanzt, und er hat sogar die Geschlechter verhärtet und in Schichten aufgeteilt. Wir haben das Rhizom oder das Gras verloren.« 17 »Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Es ist [... ] ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisierendes Gedächtnis und keinen zentralen Automaten und wird einzig und allein durch eine Zirkulation von Zuständen definiert.« 18 »Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo. Der Baum ist Filiation, aber das Rhizom ist Allianz, einzig und allein Allianz. Der Baum braucht das Verb >sein<, doch das Rhizom findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion mnd ... und ... und<.« 19
Nimmt man das Rhizom-Denken ernst, dänn fordert es die Anpassung der Sprache an die neue Situation. In Anbetracht dessen, daß das Antigrunddenken jede Ursprungsdimension negiert und den Anfang und Grund ganz in die Dimension des Diesseits hineinnimmt, muß auch die Sprache anfang- und endelos sein, ein unendliches Netzwerk und Spiel darstellen, das nicht an den traditionellen Denkformen mit ihkr',Eindeutigkeit und Folgerichtigkeit orientiert ist. Derrida versucht dieser Aufgabe durch eine Darstellungsform gerecht zu werden, die der üblichen diametral entgegengesetzt ist. In seinen späteren Schriften, z. B. La dissemination (1972), Glas (1974), Eperons (1976) und La carte postale (1980) führt er einen Buchtypus ein, der den traditionellen Buchtypus sprengt. Er ist durch das Fehlen eines Anfangs und Endes gekennzeichnet. Weder gibt es einen ersten Satz im traditionellen Sinne, mit dem der Text eröffnet würde, noch einen letzten, abschließenden, mit dem der Text abgerundet würde, sondern nur einen, der immer schon begonnen hat, z. B. »quoi du reste aujourd'hui, pour nous, ici, maintenant, d'un Hegel?« (»Wozu übrigens uns heute, hier und jetzt ein Hegel?«f0 , sowie einen offen bleibenden Satz, da es niemanden gibt, der das letzte Wort hätte, z. B. »Aujourd'hui, ici, maintenant, le debris de« (»Heute, hier und jetzt
17 18 19 20
A.a.O., S. 31f. A. a. 0., S. 36. A. a. 0., S. 41. J. Derrida: Glas, Paris 1974, S. 7.
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die Überreste von«) 21 • Und auch eine lineare Gedankenführung und Gedankenentwicklung wird vermißt, indem in mehreren Spalten verschiedene Texte nebeneinander gestellt werden, die zu vergleichen und miteinander in Verbindung zu bringen die Aufgabe des Lesers oder Hörers ist. Was in der Kinematographie schon längst praktiziert wird, nämlich die Auflösung und Deformation scharf umrissener, eindeutiger Bilder, hält auch in der dekonstruktivistischen Philosophie Einzug, geht es doch auch hier darum, der inhaltlichen und logischen Dekonstruktion entsprechend eine sprachliche Dezentrierung zu erreichen. Das Ideal ist die völlige Gleichschaltung und Vernetzung der Instanzen, die keine Stelle auszeichnet und im Prinzip unendlich viele Rationalitätsentwürfe gestattet.
3. Schwierigkeiten
Das Konzept des Aufgangs und Untergangs der differance in der difference, das sich umgekehrt verhält zu dem des des Auf- und Untergangs des Endlichen im Unendlichen in der unio mystica, stellt uns vor ein Grundproblem. Wenn aufgrund des Zusammenfalls der differance mit der difference Ermöglichungsgrund und Ermöglichtes ununterscheidbar sind, allenfalls auf der Ebene der Differenz abstraktiv auseinandergehalten werden können, wird die Frage unausweichlich, ob der Ermöglichungsgrund das Insgesamt von Strukturen ist, von dem im Spiel der Differenzen und das heißt bei der Realisation von Rationalitätstypen jeweils ein einzelner thematisch wird, oder ob der Ermöglichungsgrund die absolute Indifferenz ist, auf deren Boden Differenzierung überhaupt erst möglich wird? Die Alternative schwankt zwischen einer Überfülle distinkter Strukturen, die sich für das endliche Erkennen als Chaos darstellt, und der (Noch-) Nichtstrukturiertheit, Ununterschiedenheit, reinen Potentialität. Im ersten Fallläge eine totale Überkreuzung aller nur möglichen und erdenkbaren Strukturen vor, eine Überdetermination wie bei der Polysemie, die nach allen möglichen Hinsichten entfaltet werden könnte in einem freilich unabschließbaren Prozeß, also zur Realisierung beliebig vieler Rationalitätstypen führte. Im zweiten Fall wäre eine unhintergehbare Unentschiedenheit und Streuung gegeben, die 21
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A. a. 0., S. 291.
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als solche nicht in Distinktionen auflösbar wäre, obzwar sie den Ermöglichungsgrund für die Distinktionen bildete. Epistemologisch läuft beides auf dasselbe hinaus, da das eine wie das andere begrifflich unfaßbar ist. Einen Ausweg böte nur eine intuitive Erfassung des Anderen der Vernunft, die den Boden für die begriffliche Bestimmung abgäbe. Dies leitet zur Antiposition über, wie sie in Konzepten faßbar ist, die entweder ein sinnliches Vermögen oder Emotionen oder gar die Gesamtleiblichkeit zur Erfassung des Anderen ansetzen.
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3. Kapitel Der positive Zugang zum Anderen der Vernunft: Nietzsches vitalistische Ansicht
1. Kritik am traditionellen dihairetischen Vernunftkonzept
Wenn mit der negativen Methode ein Ansatz begegnete, der das der Vernunft über-, unter- oder gleichgeordnete Andere der Vernunft begrifflich unbestimmt ließ und dieses zur Gänze auf die Rationalitäts- und Differenzstrukturen zurückwarf, die aus ihm freigesetzt wurden, so begegnet in der positiven Methode ein Konzept, das das Andere der Vernunft mittels eines eigenen Vermögens einzuholen sucht. Dieser Fall soll anhand von Nietzsches Theorie des Willens zur Macht durchgespielt werden, die eine naturalistisch-vitalistische Variante dieses Konzepts ist. In der Geschichte der Philosophie gilt Nietzsche als derjenige Philosoph, der erstmals kompromißlos mit der Tradition brach und damit die Moderne einleitete, in deren Nachfolge die Philosophie bis heute steht. Nietzsche selbst versteht sich als Revolutionär: als Antirationalist, Antimoralist, Antichrist, als einer, der die Scheinhaftigkeit und Verlogenheit der klassischen Vernunftphilosophie in epistemologischer, ethischer und ästhetischer Hinsicht decouvriert, dabei aber nicht in reiner Kritik und Negativität verharrt, sondern eine Neuorientierung vornimmt und einen positiven Zugang zum Anderen der Vernunft sucht, wie sich dies bereits im Titel seines fragmentarisch gebliebenen Hauptwerks Der Wille zur Macht ankündigt. Die Philosophie, die Nietzsche kritisch im Visier hat, ist die gesamte abendländische Vernunftphilosophie in ihrer klassischen klassifikatorischen Gestalt. Stellvertretend für sie steht der Platonismus, worunter freilich nicht die authentische Philosophie Platons zu verstehen ist, sondern die hellenistische, christliche Auslegung derselben. Diese unterstellt eine Zwei-Welten-Theorie mit einer übersinnlichen ideellen, durch Sein gekennzeichneten und allein der Vernunft zugänglichen Sphäre und einer sinnlich-materiellen, durch Werden charakterisierten, die sich nur den Sinnen erschließt. Gleich wie der übersinnliche Bereich interpretiert wird, ob wie in der Antike als Ideenreich oder wie im Christentum als göttlicher Bereich oder wie 312
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in der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie als Vernunft, die sich nicht mehr nur als unselbständiges Korrelat auf den Seinsbereich bezieht, sondern als selbständige Instanz mit Implikation der Begriffsstruktur auftritt, charakteristisch für jenen Bereich ist die Vernunfttrias des Wahren, Guten und Schönen: In theoretischer Hinsicht ist er der Bereich des Konstanten, Unveränderlichen, Gesetzmäßigen, in ethischer der des Normativen und in ästhetischer der des paradigmatischen Schönen. Ihm gegenüber kommt der durch Entstehen, Vergehen und Veränderung gekennzeichneten Werdewelt wegen ihrer Instabilität und Variabilität nur Schein, Uneigentlichkeit und Unverbindlichkeit zu. Sofern die Ausrichtung auf die übersinnliche Sphäre die Orientierung an einem einzigen Prinzip ist- an Sein, Ideen, Gott, der Einen Vernunft-, gibt sie einem Vernunftmonismus Raum. Der im Horizont dieses Vernunftmonismus konstituierte übersinnliche Bereich, der einzelne isolierte Entitäten unterstellt, die substanz- oder dingtheoretisch als konstante Substanzen mit Akzidenzien interpretiert und nachträglich in feste, gesetzmäßige Beziehungen zueinander gesetzt werden, und zwar in die eines hierarchischen Systems mit Über- und Unterordnungen, ergibt genau jenen dihairetischen Vernunfttypus, der die abendländische Philosophie seit Platon bis in dieyNeuzeit beherrscht und auf dem die binäre Logik mit den Postulaten der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten basiert und der auch die Grundlage der normalen Satzsyntax und Grammatik mit ihrer Subjekt-Prädikat-Beziehung abgibt. Es ist die von der Klassifikationsund Prädikationsstruktur her verstandene reduktionistische Vernunft, die Nietzsche im Visier hat. Auf sie trifft die Kennzeichnung der eleatischen Starrheit zu, die der im ständigen Fluß befindlichen Werdewelt, die durch das herakliteische nav'ta QEL beschrieben werden kann, opponiert ist. In dem Kapitel »Die >Vernunft< in der Philosophie« in der Götzen-Dämmerung thematisiert und diskreditiert Nietzsche die Rolle und Funktion dieser Vernunft. Sie sei es, die die Wirklichkeit verfälsche, die erst »die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer« 1 hervorbringe. Die Vernunft sei die Ursache für die Verfälschung des sinnlichen Zeugnisses. »Sofern die SinF. Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bden., hrsg. von G. Colli und M. Montinari [abgekürzt: Werke], 2. Auf!. Berlin, New York 1988, Bd. 6, S. 75 (Nr. 2).
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ne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht [ ... ]« 2 Der Grund für die Verstellung und Verfälschung bestehe darin, daß die Kategorien der Substanz, der Dinglichkeit, der Beständigkeit, der Dauer, der Gleichheit der Wirklichkeit und ihrem Fließen widerstreiten. Sie haben lediglich einen strategisch-instrumentellen Charakter, indem sie intellektuelle Operationsmittel zum Zwecke der Beherrschung und Bewältigung der Wirklichkeit sind. >»Sein<, >Substanz< und >Unbedingtes<, >Gleichheit<, >Ding<-: das Denken erfand sich zuerst und zu ältest diese Schemata, welche thatsächlich der Welt des Werdens am gründlichsten widersprachen, aber ihr von vornherein, bei der Stumpfheit und Einerleiheit des anfänglichen, noch unterthierischen Bewußtseins, zu entsprechen schienen: jede >Erfahrung< erschien sie immer von Neuern und sie ganz allein zu unterstreichen.«'
Nietzsches Kritik hat zwei Stoßrichtungen: Zum einen wendet sie sich gegen die Einseitigkeit der klassischen Vernunftphilosophie mit ihrer Verteilung der genannten Kategorien von Einheit, Identität, Substanz und Konstanz auf die Seite der übersinnlichen Welt und der Opposita, der Vielheit, Differenz und Relationalität, auf die Seite der sinnlichen Welt, womit die Verbannung allen Lebens, aller Veränderung und· Aktivität aus dem Vernunftbereich einhergeht. Die Konsequenz ist die Erstarrung desselben. Zum anderen ist mit der Vernunftkritik gleichsam als Kehrseite eine Aufwertung der fluktuierenden Werdewelt verbunden sowie die Zuordnung eines eigenen Vermögens, sei es der Sinnlichkeit, sei es der Leiblichkeit, zu dieser. Mit der Entmachtung der Vernunftautorität geht die Rehabilitierung der Sinne einher, was eine Umkehrung des traditionellen Verhältnisses von Vernunft und Sinnlichkeit bedeutet: Die traditionell wahre, durch Vernunft interpretierte Welt wird zur scheinbaren, verlogenen, die traditionell scheinbare, durch Sinnlichkeit erfaßte zur wirklichen und einzig wahren.
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A.a.O. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Bd. 11, S. 613 (Nr. 38 [14]).
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2. Der Wille zur Macht
Die Dimension, die das Andere der Vernunft ausmacht und traditionell durch Werden und Leben gekennzeichnet ist, erhält bei Nietzsche charakteristischerweise die Bezeichnung »Wille zur Macht«. Mit diesem Terminus knüpft Nietzsche an einen von Schopenhauer entwickelten Gedankengang an. Bekanntlich stellt Schopenhauer sein Hauptwerk unter den Titel Die Welt als Wille und Vorstellung. Der Wille wird hier biologistisch gedeutet als Wille zum Leben, zum Dasein und der dem Theoriebereich zugehörigen Vorstellung vorangestellt, was sich bereits sprachlich in der Formel ausdrückt. Der Wille bildet die Voraussetzung, auf deren Basis die Vorstellung erst möglich wird. Es ist diese naturalistisch-vitalistische Interpretation, die Nietzsche mit Schopenhauer teilt und die er durch eine machttheoretische Ausdeutung noch zu überbieten sucht. Zwar ist die Kombination von Vorstellung und Wille keineswegs neu, sondern findet sich bereits in der idealistischen Philosophie, in den Entwürfen von Kant nicht weniger als in denen von Fichte, SeheHing und Hege!. Aber sie wird dort gänzlich anders verwendet, geradez/u-ijll entgegengesetzten Sinn. Die Vernunft zerlegt sich dort in einen theoretischen und in einen praktischen Teil, von denen der erste in Vorstellung (Intellektualität, Wissen), der zweite in Wille besteht. Die Zusammengehörigkeit beider, sei es im Sinne einer Einheit mit interner Dualität oder einer Interdependenz oder einer einseitigen Fundierung des einen im anderen, setzt eine Strukturisomorphie voraus, die sich nur bei einer intellektualistischen Interpretation des Willens erklären läßt. Der vernunftgeleitete Wille verlangt eine Vorstellung, und zwar die eines Ganzen, welche Anfangs- und Endpunkt eines methodischen Weges sowie das Dazwisehenliegende umfaßt und deren Realisation er ist. Der vernünftige Wille basiert somit auf einem von der Vernunft erstellten Plan, der den Gesamtzusammenhang begreift und regelt. Verkörpert der Plan die kontemplative Seite, so der Wille die aktive. Am deutlichsten kommt dies in der intellektualistischen Ethik Platons zum Ausdruck, derzufolge bereits die Einsicht in das Gute, die immer auch Einsicht in den Gesamtzusammenhang ist, dessen Verwirklichung nach sich zieht, wobei allerdings die Eigendynamik der Triebsphäre verkannt wird, stehen doch Neigungen, Wünsche und Begierden nicht selten der Realisation des für richtig Erkannten im Wege. Hierauf weist Vernunft und das Andere der Vernunft
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bereits das Bibelwort Matthäus 26, 41: »Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.« 4 Schopenhauer und, ihm folgend, Nietzsche setzen sich von der Tradition dadurch ab, daß sie Vorstellung und Wille auf verschiedene Bereiche verteilen: Vorstellung auf den Vernunftbereich, Wille auf den Bereich des Anderen der Vernunft. Mit der Ablösung des Willens von der Vernunftsphäre erfolgt auch die Elimination des holistischen, teleologischen Aspekts, der den intelligiblen Willen auszeichnet. Der Wille wird zum unendlichen, unaufhörlichen Streben, zum Trieb, zum rein aus sich selbst lebenden Aktionsprinzip. Auch wenn Nietzsche den Trieb nur als Spielart des Willens zur Macht betrachtet und auf diesen reduziert 5, erübrigt sich damit keineswegs dessen triebpsychologische Ausdeutung. Obwohl in der Formel vom Willen zur Macht zwei Glieder genannt werden, die in einem äußerlichen Verhältnis zueinander zu stehen scheinen, einerseits der Wille, der stets etwas will und erstrebt, andererseits die Zielvorgabe, die in der Machterlangung besteht, erweist sich bei genauerem Hinsehen die Macht nicht als ein externes, sondern als ein internes Moment des Willens: Der Wille ist konstitutiv Machtwille (Machtwollen): Er ist, was er will, und er will nichts anderes, als was er ist. Der Wille ist ein in sich machtvolles Prinzip, das ganz aus sich selbst heraus lebt und wirkt. Damit hängt auch zusammen, daß der Wille zur Macht nicht durch Defizienz gekennzeichnet ist wie etwa die Sehnsucht, für die Unerfülltheit symptomatisch ist, vielmehr lebt er aus der Fülle heraus. Die Formel vom Willen zur Macht in ihrem spezifischen Sinn taucht bei Nietzsche erstmals im Zarathustra auf: »Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den 1Nillen, Herr zu sein.« 6
Vorzüglich Lebendiges ist durch den Willen zur Macht charakterisiert, der seinerseits unter dem »Gesichtspunkt von Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf complexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens« 7 definiert wird. Vgl. auch Markus 14, 38. Vgl. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Bd. 11, S. 661 (Der Wille zur Macht. Pläne. Dispositionen. Entwürfe, Nr. 8). 6 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: Werke, Bd. 4, S. 147 f. 7 F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: Werke; Bd. 13, S. 36 (Der Wille zur Macht, Nr. 715.)
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Erhaltung und Steigerung sind Grundzüge des Lebens. Lebendiges strebt danach, nicht nur seinen Lebensraum und seine Lebensbedingungen zu erhalten, sondern diese auch ständig zu erweitern und zu steigern. Festhalten des Gegebenen und Erreichten bildet die Voraussetzung für Expansion, nicht das Ziel. Denn schon die Beschränkung und das Zufriedengeben mit dem Erreichten zeugt von Lebensschwäche und Niedergang. Der Wille zur Macht ist daher konstitutionell auf ein Mehr gerichtet. »Wollen überhaupt [ist] soviel [... J wie Stärker-werden-wollen, wachsen wollen, und dazu auch die Mittel wollen.«8 Diese Gerichtetheit des Machtwillens auf immer mehr und immer Neues unterscheidet Nietzsches Konzeption von der herkömmlichen des Werdens, die durch das gleichförmige Auf und Ab von Entstehen und Vergehen charakterisiert ist und in der Formel von der Wiederkehr des Gleichen ihren Niederschlag findet. Während Nietzsches Konzeption Intentionalität und Evolution innewohnt, ist diese Beschreibung der traditionellen Ontologie, Kosmologie und Biologie mit ihrer zyklischen Wiederkehr weitgehend fremd. Der Wille zur Macht ist allerdings nicht nur ein Grundzug des Lebendigen, Organischen, sondern auch ein Grundzug des Anorganischen, ja des g~ljilten Seienden überhaupt. Auch im rein materiellen Bereich ist der Wille zur Macht anzutreffen. Mag die Übertragung einer primär anthropologisch konzipierten Willenskonzeption auf die anorganische Sphäre auf den ersten Blick auch überraschen, so läßt sie sich anhand einer dynamischen Materiekonzeption, wie sie seit der Antike neben der atomistischen besteht und sich in Leibniz' vis- Theorie nicht weniger als in Kants, Schellings und Hegels Kräftetheorie der Materie findet, plausibilisieren. Ihren Ursprung hat sie an einer Stelle des Platonischen Timaios 9, an der das Andere der Vernunft als kräfte-erfüllter Raum beschrieben wird, dessen Kräfte von sich aus nach Gestaltung und Formung streben. Auch das im selben Kontext gebrauchte Bild des Schütte!- und Rüttelmaßes soll dies zum Ausdruck bringen. Der ausgebaute Dynamismus eines Kant oder SeheHing nimmt im Unterschied zum Atomismus eine Materiekonstruktion aus re' A. a. 0., S. 44 (Der Wille zur Macht, Nr. 675). Vgl. auch S. 261: »Das Stärker-werdenwollen von jedem Kraftcentrum aus [ist] die einzige Realität[ ... ],- nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignung, Herr-werden-, Mehr-werden-, Stärker-werden-wollen.<< ' Platon: Timaios 52 a ff. Vernunft und das Andere der Vernunft
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pulsiven und attraktiven Kräften an, von denen sich die ersteren im Raum ins Unendliche auszudehnen trachten, während die letzteren dieser Ausbreitung durch Kontraktion entgegenwirken. Das Produkt beider ist der geformte, gestaltete, von anderen sich absetzende Gegenstand. In dieser Konstellation ist die Repulsionskraft mit dem Machtwillen zu vergleichen. Damit auch in Nietzsches Konzeption der Machtwille sich nicht im Unendlichen verliert, bedarf es einer Gegeninstanz. Es fällt auf, daß Nietzsche nicht nur von dem Willen zur Macht im Singular spricht oder, unter Weglassung des bestimmten Artikels, von »Wille zur Macht«, sondern auch im Plural von den Willen zur Macht. 10 Die Pluralisierung erklärt sich daraus, daß Machtstreben und Machterlangung angewiesen sind auf etwas, dessen sie sich bemächtigen und das sie beherrschen können. Macht und Unterdrückung sind korrelativ. Der Wille, Macht auszuüben, setzt einen anderen, antagonistischen Willen zur Macht voraus, mit dem er kämpft und um die Vorherrschaft ringt, den er überwältigt, sich unterordnet, in eine bestimmte Richtung zwingt, um eventuell bei veränderter Situation von ihm überwältigt und gezwungen zu werden. Der Wille zur Macht zerfällt genau genommen in eine Pluralität von Machtwillen, die sich in einem ständigen Wechselspiel von Macht und Gegenmacht befinden und auf diese Weise Macht- und Herrschaftsgefüge konstituieren. 11 Das Ganze stellt ein labiles, ständig sich modifizierendes, variierendes, neu formierendes und wieder zerfallendes Gebilde von Machtwillen dar, ein dynamisches Verhältnis einer dynamischen Pluralität von Machtwillen unterschiedlicher Intention und Intensität. Obgleich der ursprünglich anthropologisch konzipierte Wille zur Macht nicht nur für Lebendiges, sondern auch für Nichtlebendiges gilt, bleibt die anthropologische Reminiszenz so stark, daß Nietzsche an einigen Stellen des Nachlasses erwägt, den anorganischen Bereich mit einer ursprünglichen Einheit von Fühlen, Vorstellung und Denken auszustatten. 12 Den anorganischen Kräften wird sogar eine schärfere Wahrnehmung konzediert als den organischen, da ihre Vgl. hierzu W. Müller-Lauter: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: J. Sa,laquarda (Hrsg.): Nietzsche, Darmstadt 1980, S. 234-287, bes. S. 246f., 249 ff. 11 Vgl. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Bd. 12, S. 104 (Der Wille zur Macht, Nr. 561), vgl. auch Bd. 13, S. 36f. 12 Vgl. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: Wer/ce, Bd. 10, S. 404f.
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Entgegensetzung zu den Gegenkräften eine schärfere Abhebung mit sich bringt, als sie durch die Interaktion der organischen Lebewesen mit der Außenwelt je zustande gebracht werden könnte. Abhebung, Abgrenzung, Bestimmtheit aber sichern die Schärfe der Wahrnehmung. Diese Ausführungen zeigen, daß der Wille zur Macht kein blinder ist, vielmehr ausgestattet mit epistemischen und praktischen Fähigkeiten.
3. Schwierigkeiten Nietzsches Theorie führt in nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Ein eigenwilliger Zug derselben besteht in der Verbindung mit der Theorie der Werte. Der in einem Herrschaftsgefüge dominierende Machtwille legt mit seiner Vormacht auch die maßgebliche Werteordnung fest: Er schafft Werte, er setzt Recht, er bestimmt die Wertehierarchie. Diese Ausrichtung ist nicht nur ethisch zu verstehen, sondern auch epistemologisch: Sie besteht gleichermaßen in der Fixierung einer moralischen Werteordnung wie in der erkenntnistheoretischen Weltdeutung. »Der Wille zur Macht interpretirt«, das besagt, »er grenzt ab, besti~t Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsenwollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt.« 13 Angesichts der unabänderlichen Veränderung der Machtkonstellationen und mit ihnen der Werteordnungen und Weltauslegungen sind wir einem totalen Relativismus konfrontiert, in dem jetzt diese Perspektive, dann jene vorherrscht je nach der Übermacht des betreffenden Willens, was Nietzsche zu der These veranlaßt: »Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.« 14 An einer Stelle heißt es: »Daß der Werth der Welt in unserer Interpretation liegt (-daß vielleicht irgendwo noch andere Interpretationen möglich sind als bloß menschliche-) daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, das heißt im Willen zur Macht, zum Wachsthum der Macht erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwin13 F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Bd. 12, S. 139 f. (Der Wille zur Macht, Nr. 643). 14 A.a.O., S. 315 (Der Wille zur Macht, Nr. 481).
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dung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven aufthut und an neue Horizonte glauben heißt -dies geht durch meine Schriften.« 15
Hier drängt sich die Frage nach dem Status von Nietzsches Theorie des Perspektivismus auf. Stellt sie nicht selbst eine bestimmte zufällige Perspektive dar, die von einer anderen verdrängt und negiert werden könnte, also eine Perspektive unter anderen? Auf der anderen Seite erhebt sie als Totalitätsaussage von der Art eines durchgängigen Perspektivismus und Relativismus einen Absolutheitsanspruch, der sie dem Vorwurf aussetzt, ein letzter, unausrottbarer Rest eines metaphysischen Dogmatismus zu sein. 16 Nietzsches Theorie führt in ein Dilemma: Einerseits ist von der Akzeptanz einer grundsätzlichen Perspektivität auszugehen, die die Relativität der Weltdeutungen einschließt und selbst solche Deutungen zuläßt, die diese Relativität und Perspektivität in Abrede stellen, also absolutistisch argumentieren. So gesehen ist die menschliche Perspektivität selbst eine Fiktion; sie schließt ihre eigene Konstruktivität ein. AndererseitS verlangt der insbesondere am Lebendigen objektiv zu beobachtende Wille zur Macht für seine eigene Existenz und Ausübung einen anderen Willen zur Macht bzw. viele solcher und, da diese identisch sind mit moralischen Werten und intellektuellen Weltauslegungen, eine Pluralität von Perspektiven. Die Existenzgewißheit des einen Machtwillens erlaubt den Schluß auf die Existenz der anderen in Form eines Existenzbeweises. Die sich hier auftuende Paradoxie von Fiktion und Existenzgewißheit ist die zwingende Konsequenz einer Selbstthematisierung des Willens zur Macht, der in epistemologischer Hinsicht immer auch Weltauslegung ist. Die Reflexion auf diese Weltinterpretation, die Ausdeutung der Ausdeutung, führt vor die Doppelung von Konstruktion und Sein. Das »Paradoxe« hieran ist, daß sich die Paradoxie im Rahmen des Anderen der Vernunft abspielt, einem Bereich, der als solcher frei von Begriffsstrukturen und damit auch von begrifflichen Paradoxien sein sollte. Dies zwingt zu einer grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses zwischen dem Anderen der Vernunft und der begrifflich artikulierten Sprachvernunft bei Nietzsche. A. a. 0., S. 114 (Der Wille zur Macht, Nr. 616). Vgl. K. Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 2. Aufl. Berlin 1947, S. 309f., vgl. S. 330.
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Mit der Zurückweisung der traditionellen Vernunftkonstellation entfällt auch deren trennscharfe Begrifflichkeit von Einheit und Vielheit, Identität und Differenz, Substanz und Akzidens usw. Das Andere der Vernunft ist durch keines dieser begrifflichen Gegensatzglieder mehr faßbar. Die Sprache täuscht, wenn man sie beim Wort nimmt. Die fraglichen Machtgebilde sind nicht Eins, sondern bedeuten allenfalls Eins 17, d. h. sie sind nicht an sich im ontologischen Sinne Einheiten, sondern lediglich in der begrifflich-sprachlichen Fassung als solche fixiert. Sprache hat hier eine feststellende Funktion und damit zugleich einen verleugnenden Charakter. Entsprechendes gilt auch für die die Machtgebilde konstituierenden Einzelwillen. Nicht anders verhält es sich bei der Verwendung der Begriffe »Substanz- Akzidens«. Könnte der Gebrauch sowohl des Singulars wie des Plurals bezüglich des Machtwillens die Meinung nahelegen, als handle es sich bei ihm um eine Grundkraft, eine substantielle, allem zugrundeliegende, alles beherrschende Kraft nach Art eines u:n:oxeLfA.EVOV, von der die vielen Willen akzidentelle Manifestationen seien, so zeigt das genauere Durchdenken dieser Konstruktion, daß ein sich in den vielen Willen auslegender und sich selbst übermächtigender Wille sich selbst aufhöbe und ad absurdum führte. Die begriffstheoretik~ Fassung ließe das Projekt kollabieren. Aber nicht nur die Substanzauffassung des Willens zur Macht ist zu verabschieden, sondern auch die rein akzidentelle Auffassung eines substanzund prinziplosen Ineinandergreifens der vielen Willen. Letztlich ist jede begriffliche Strukturierung aus der Dimension des Anderen der Vernunft zu verbannen. Nimmt man die herakliteisch-nietzschesche These vom ständigen Fluß der Dinge, eventuell in evolutionärer Form, ernst, so läßt sich dieselbe nur ausweisen durch den Lebensvollzug selbst. Dieser Sachverhalt kann auch so ausgedrückt werden, daß Leben nur im Leben und durch das Leben vergewisserbar, nicht aber verstehbar ist. Der Wille zur Macht kann nur vollzogen, nicht intellektuell ausgedeutet werden. Seine Unbegreifbarkeit wurzelt in seiner Begriffslosigkeit. Da die durch das Strömen charakterisierte Sphäre die Antiposition zur Vernunft und zu deren Logizität und Sprachverfassung darstellt, ist sie von dort aus nicht einholbar. Sie weist einen Zugang
Vgl. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: Wer/ce, Bd. 12, S. 104 (Der Wille zur Macht, Nr. 561).
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zu sich sogar so sehr zurück, daß die Vernunft bezüglich ihrer in einen Agnostizismus mündet. Soll diese formlos-unformulierbare Wirklichkeit, dieses Gewühl von Machtwillen, dennoch erfaßt werden, so kann dies nur durch den Ansatz eines anderen Vermögens, als es die diskursive Vernunft ist, geschehen. Dieses sieht Nietzsche in der Intuition 18 , die dem diskursiven Denken in Form der klassifikatorischen Begrifflichkeit und der darauf basierenden Sprachgrammatik entgegengesetzt ist. In Anbetracht der Tatsache, daß Begriffe im wörtlichen Sinne Festsetzungen, Feststellungen des Wirklichkeitsflusses sind, Abstraktions- und Identifikationsmittel mit objektivierender, substantivierender Funktion, sind sie zur Beherrschung und Berechnung der Wirklichkeit unumgehbar. Sie dienen nicht der eigentlichen Erkenntnis des Flusses, sondern seiner Bewältigung. 19 Sie sind Schemata, die unserem praktischen Bedürfnis nach Handhabung der Wirklichkeit entsprechen; sie sind aber keine OffenbarungsmitteL Der Geschehnischarakter der Wirklichkeit geht in ihrer Fixierung gerade verloren. Weder sind Begriffe für Nietzsche wie nach der romantischen Konzeption mit einer magischen Kraft versehen, noch bilden sie wie nach Heideggers Auffassung »das Haus des Seins«. Für Nietzsche handelt es sich um bloße Zeichen mit rein semantischer Funktion, die der Wirklichkeit als solcher fremd sind. Da das Klassifikationssystem aus fixen Begriffen und gesetzmäßigen Beziehungen der Wirklichkeit nachträglich oktroyiert ist, vermag es diese nicht adäquat wiederzugeben. Für die Beziehung »Sprache- Wirklichkeit«, »Vernunft- Anderes der Vernunft« hat dies zur Konsequenz, daß Vernunft und Sprache an ihre eigenen Bedingungen und Formen gebunden bleiben und diese nicht transzendieren können. Weder die Thematisierung dieses Zustands, die von einem externen Standpunkt aus geschehen müßte und über die Befangenheit hinausführen sollte, vermag wegen der Unentrinnbarkeit der Selbstreferenz der traditionellen Logik und Grammatik zu entkommen, noch vermag die Thematisierung Vgl. F. Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Werke, Bd. 1, S. 823, Nr. 5. Dort spricht Nietzsche von der »höchste[n] Kraft der intuitiven Vorstellung<<, die der formalen Logik als einer anderen >> Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird«, konfrontiert ist. 19 Vgl. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, in: Werke, Bd. 11, S. 164: >>Der ganze Erkentniß-Apparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat - nicht auf Erkenntniß gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge.<< 18
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der Dimension des Anderen mit anderen Mitteln als denen des begrifflich identifizierenden Denkens und Sprechens zu geschehen. Da Vernunft und Sprache das Schema, mit dem sie operieren, nicht abwerfen können, dokumentieren sie fortwährend ihr Scheitern gegenüber dem Wirklichkeitsgrund. Aufgrund der Unentrinnbarkeit und Befangenheit im traditionellen, kollektiv ausgebildeten Verstandesdenken und -sprechen und aufgrundihres prinzipiellen Kollabierens an der intendierten Dimension des Anderen der Vernunft sieht sich Nietzsche immer mehr in die tragische Situation gedrängt, zwar an der traditionellen wissenschaftlich-dihairetischen Logik und Sprache festhalten zu müssen, um sich überhaupt verständlich machen zu können, gleichzeitig aber ständig ihrer konventionellen Auffassung Zuwiderlaufendes aussagen zu müssen. 20 Das Denken und Sprechen nimmt damit die Form einer Selbstparodie und -ironie an, wie sie sich in Nietzsches Aphoristik niederschlägt. Ein anderer Ausweg als dieser Selbstkollaps wäre die metaphorische Beschreibung des Anderen der Vernunft mittels der poetischen Sprache.
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Vgl. H. Krüger: Studien über den Aphorismus als philosophische Form, Frankfurt a. Main 1956, S. 85.
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4. Kapitel Der metaphorische Zugang zum Anderen der Vernunft
Neben den beiden Alternativen zur Erschließung des Anderen der Vernunft, der via negationis, dem Absprechen aller rationalen Prädikate mit der Zurücklassung einer Leerstelle, welche auf die Totalität der Vernunftstrukturen zurückverweist, sowie der positiven Erschließung durch ein eigenes, der Vernunft opponiertes Erkenntnisvermogen, sei es Sinnlichkeit, Leiblichkeit oder Leben, ist stets noch ein dritter Weg beschritten worden, der in der Beschreibung des Anderen mittels Metaphern, Bildern, Gleichnissen, Parabeln und Mythen besteht. Das Vorbild hat auch hier Platon abgegeben, indem er das Andere der Vernunft, sofern es übergeordneter, transzendenter Ermöglichungsgrund des Vernunftsystems (der Ideen und Ideenerkenntnis) ist, durch das Sonnengleichnis beschreibt, und sofern es untergeordnetes, zugrundeliegendes Substrat der Ideenbestimmung ist, als XWQa ansetzt, d. h. als materie-erfüllten Raum, der später 'ÜA,rJ, materia prima, dynamis oder reine Potentialität genannt wird. Zu dessen näherer Beschreibung zieht er Bilder heran wie »Amme des Werdens«\ »Mutter und Aufnehmerin alles gewordenen Sichtbaren und durchaus sinnlich Wahrnehmbaren« 2 , »Ausprägungsstoff« 3 , »Werkzeug zum Erschüttern« 4 oder vergleicht ihn mit dem »Worin« 5 (=Gefäß, das alle Körper aufnimmt) u. ä. Die metaphorische Beschreibung geht wie selbstverständlich von der Existenz des Anderen der Vernunft aus, indem sie darauf Bilder und Gleichnisse aus dem uns bekannten Vernunftbereich anwendet; sie unterstellt damit ein Verhältnis des Anderen der Ver-
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Platon: Timaios 52 d, vgl. 49 a. A.a.O., 51 a. A. a. 0., 50 c. A.a.O., 53 a. A. a. 0., 49 e, 50 d.
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Der metaphorische Zugang zum Anderen der Vernunft
nunft zur Vernunft, obwohl sie im selben Atemzug die Unzugänglichkeit dieses Anderen für das gewöhnliche rationale, sprich: klassifikatorische Denken konzediert und so das Verhältnis suspekt werden läßt. Sie ist damit zwischen der reinen via negativa, die jegliche Existenzaufgrund der Unbegreiflichkeit bestreitet, und der zwar positiven, aber irrationalen Erfassung des Anderen durch die Sinnlichkeit angesiedelt. Soll diese Lücke ausgefüllt werden, dann müssen Begriffe und Vorstellungen aus dem uns zugänglichen Erkenntnisbereich auf den uns rational unzugänglichen übertragen werden. Der Legitimationsgrund für die Übertragung kann nur der Vergleich und die von ihm ausgemachte Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den Vergleichsgliedern sein. Da die Vergleichsglieder jedes Vergleichs- nicht nur des jetzigen - Gemeinsamkeiten wie Unterschiede aufweisen müssen und dies nur möglich ist, wenn sie selbst Verhältnisse sindEigenschaftsbeziehungen oder Relationen zwischen Grund und Folge u. ä. -, entpuppt sich der Vergleich als ein Verhältnis zwischen Verhältnissen. Um zu funktionieren, müssen im Vergleich zumindest drei Glieder des Verhältnisses bekannt sein. Nicht zufällig hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft 6 die Analogie, welche nichts anderes als ein solches Verhältnis von Verhältnissen ist, als eine Proportion bestimmt, ~)e1 bei Kenntnis dreierGliederwie im Falle der mathematischen Analogie die exakte Berechnung des vierten erlaubt und wie im Falle der philosophischen Analogie zumindest die Bezeichnung der Stelle, wenngleich der Kandidat dieser Stelle erst gesucht werden muß und möglicherweise immer unbekannt bleibt. Angewandt auf das Sonnengleichnis bedeutet dies: Wie im sinnlichen, uns zugänglichen Bereich der Sehvorgang zwischen Auge und Gegenstand durch das Licht als Ursache und Grund ermöglicht wird, so muß im übersinnlichen Bereich der Erkenntnisvorgang zwischen Vernunft und Ideen durch eine entsprechende Instanz ermöglicht werden, für die metaphorisch die l.ö€a 'tO'Ü ayatto'Ü eintritt. Da das Produkt als Zusammenwirkung der beiden Glieder »Vernunft« und »Ideen« bekannt ist, ebenso der formale Bezug auf eine Ursache, muß sich auch die Ursache selbst, zumindest deren Stelle wie hier, erschließen lassen. Oder am Beispiel der Materie erläutert: Wie der uns bekannte Befruchtungsvorgang einerseits die männlichen Spermien, andererseits die weibliche Matrix voraussetzt, um daraus das Dritte, das Kind, hervorgehen zu lassen, so verlangt der Individua6
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 179 f. B 222 f.
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tionsprozeß einerseits die bestimmenden Ideen, andererseits die bestimmbare Materie, um daraus als Drittes den geformten Gegenstand zu erzeugen. Da das Produkt wie auch eines der Produktionsmittel bekannt sind, wird das fehlende Relat nach der Analogie des bekannten Verhältnisses beschrieben. Xd:JQa ist bei Platon Metapher für das unbestimmte, aber bestimmbare, das gestaltlose, aber das für jede Gestalt empfängliche Wesen, vergleichbar der Matrix. Mit seiner Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Mythos, von rationaler Erkenntnis im Sinne des klassifikatorischen Rationalitätstypus und Metaphorik, die dem Typus analogisch-mythischen Denkens angehört (von Platon allerdings nicht als eigener Rationalitätstypus verstanden wurde) und dort einsetzt, wo jene andere Ratio ihre Grenze beweist, hat Platon schulbildend gewirkt und die gesamte nachfolgende Tradition maßgeblich beeinflußt, nicht nur Anhänger, sondern auch Kritiker. Noch ein so entschiedener PlatonKritiker wie Nietzsche setzt in seiner Sprachtheorie dessen Auffassung fort. Denn soll das durch die Sinnlichkeit oder den Lebensvollzug erfaßte Andere der Vernunft artikuliert werden, so versagt die normale Verstandessprache, welche die Sprache des klassifikatorischen Denkens-ist. Vielmehr bedarf es hier der poetischen Sprache mit ihrer Metaphorik, um durch deren schöpferische Kraft der intendierten Sphäre Ausdruck zu verleihen. Die poetische Sprache ist die des Individuums, nicht die des Kollektivs. Die als kollektives Verständigungsmittel ausgebildete normale Sprache mit ihrer exakten, scharfen Begrifflichkeit ist nur das »Residuum einer Metapher« 7 • Poesie, Kunst, Ästhetik erhalten bei Nietzsche die Bedeutung einer zwar im traditionellen Sinne begrifflosen, aber produktiven energetischen Wirklichkeitserfahrung. Das Postulat, Philosophie in Kunst und Mythos zu transformieren und in ihnen endigen zu lassen, ist seit dem sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus 8, das SeheHing F. Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bden., hrsg. von G. Colli und M. Montinari, 2. Auf!. Berlin, New York 1988, Bd. 1, S. 882. • F. Rosenzweig (Hrsg.): Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1917, 5. Abhandlung, Heidelberg 1917, S. 3-50; neuere Ausgabe: Ch. Jamme und H. Schneider (Hrsg.): Mythologie der Vernunft. Hegels »ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus«, Frankfurt a. M. 1984.
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(neuerdings auch Hegel) zugeschrieben wird, eine weitverbreitete These, die sich nicht nur bei Schelling, sondern auch bei Hölderlin und Heidegger findet. Das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus fordert eine »Mythologie der Vernunft« 9 , derart, daß die Philosophie mythologisch, sprich: sinnlich-bildhaft werden müsse und die Mythologie vernünftig, damit die Philosophie sich ihrer nicht zu schämen brauche. Da der Rationalität - wohlgemerkt der klassifikatorisch verstandenen -nicht mehr alles zugetraut wird und schon gar nicht Entscheidendes bei der Erfassung des letzten Grundes, muß sie in Kunst übergehen. Die Aufhebung der rationalen Philosophie in Kunst, die »Üffenbarungsphilosophie« anstelle der »Reflexionsphilosophie«, stellt seitdem das Alternativprogramm zur klassischen Verstandesphilosophie dar. Sieht man genau hin, so geht es hier nicht bloß um ein Verhältnis zwischen Rationalität und Irrationalität bzw. zwischen Verstand und Sinnlichkeit, sondern auch um ein Verhältnis zwischen einem reduktionistischen Rationalitätsbegriff und einem nicht reduktionistischen, dessen ersterer dem klassifikatorischen Denken angehört und dessen letzterer aufgrund des Gebrauchs von Metaphern dem Analogiedenken zuzurechnen ist. Mythologie, Poesie, Kunst, die sich neben einer Vie~hl von Redefiguren auch der Metaphorik bedienen, sind genauso rational wie das Klassifikationsdenken, nur von einer anderen Art Rationalität. Verdichtungen und Verkehrungen, Verschiebungen wie vom Teil auf das Ganze, von der Art auf die Gattung, vom Grund auf die Folge und umgekehrt sind nicht weniger allgemeinverständlich und nachvollziehbar wie die Spezifikationsund Klassifikationsgesetze im dihairetischen Rationalitätstypus oder die Antithetik im dialektischen. Der Bereich des Anderen der Vernunft, den die Metaphorik im Analogiedenken abdeckt, stellt nur für bestimmte Vernunfttypen wie den dihairetischen und den dialektischen das gänzlich Andere dar, während das Analogiedenken als zur Rationalität gehörig und in deren Strukturen eingebunden denselben in seinem Verhältnis zur dihairetischen oder dialektischen Vernunft so deutet wie das Welle-Teilchen-Modell der Quantentheorie die unreduzierte Welle im Verhältnis zum reduzierten Teilchen. Da im Analogiedenken als Komplementaritätsstruktur gilt, was für die anderen Rationalitätstypen als Verhältnis von Vernunft und Anderem der Vernunft auftritt, bietet sich das Analogiedenken als eine Ver9
A. a. 0., S. 7; a. a. 0., S. 13.
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mittlungsposition von Rationalität und Irrationalität an. Ob das Andere der Vernunft de facto irrational oder rational ist, eine AntiStruktur (Anschauung, Indifferenz, Chaos) oder eine potentielle Strukturtotalität ist, bleibt offen. Die vorliegenden Untersuchungen haben gezeigt, wie problematisch sich das Verhältnis »Vernunft -Anderes der Vernunft« darstellt und wie sehr dessen Interpretation von der Auslegung der Vernunftstruktur selbst dependiert. Sich dies bewußt zu machen und bewußt zu halten, kann dazu dienen, andere Kulturen und deren Weltauslegungen, die nicht weniger rational zu sein brauchen als die unsrige, besser zu verstehen. Zudem können Überlegungen dieser Art angesichts der Krise unseres westlichen Rationalitätstypus Wege zu anderen Denkformen weisen, die wie der analogische umfassender und holistischer sind und die Zersplitterungen unseres Weltverständnisses zu beheben versprechen.
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ALBER PHILOSOPHIE
Karen Gloy
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Vernunft und das Andere der Vernunft
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ALBER PHILOSOPHIE
Karen Gloy
Personenverzeichnis
Achill 128, 174, 244 Adanson, Michel 98-100 Adler, Alfred 18 Adorno, Theodor W. 13, 172 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 220,221,235 Anaxagoras 22, 214, Anaximenes 120, 124 Anselm von Canterbury 102 Apel, Karl-Otto 26, 67 Arcimboldo, Giuseppe 208, 211, 236, 239,241 Ares 217 Aristoteles 14, 35, 55, 81, 241 Athene 115 Atropos 215 Bacon, Francis 45, 6Qr64, 64-66, 294 Barthes, Roland 236 Bataille, Georges 10 Bateson, Gregory 176 Baumgarten, Alexander Gottlieb 295 Belon, Pierre 227 Besicovitch, A. S. 268 Blau, Ulrich 233 Böhme, Gernot 16, 18, 95, 286, 287 Böhme, Hartmut 16 Böhme, Jakob 121, 287 Bohm, David 273 Brandom, Robert 233, 234 Brecht, Bert 26 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan 112 Buffon, Georges Louis, Le Clerc de 98, 99 Burali-Forti, Cesare 178 Candolle, Augustirr Pyrame de 100 Cantor, Georg 178 Cardanus (Cardano), Hieronymus 225 Cassirer, Ernst 32, 278, 281, 283 Castor 217
Vernunft und das Andere der Vernunft
Charmides 126, 178 Chiron 245 Cicero, Marcus Tullius 241 Circe 13 Cohen, P. S. 27 Comanini, Gregorio 238-240 Cusanus (Kues), Nicolaus 175, 214 Dali, Salvador 211 Daubenton, L. J. 99 Derrida, Jacques 294, 299, 300, 302-304, 309 Descartes, Rene 21, 89, 100 Dilthey, Wilhelm 15, 279 Dionysios Areopagita 301, 302 Duchesne, Joseph 218 Dürer, Albrecht 95 Duhem, Pierre 89, 92 Ehrenfels, Christian von 97 Elster, Jon 29 Epikrates 69 Erebos 59, 215 Ernst, Max 211 Eros 59, 215 Escher, Maurits Cornelis 229 Euathlos 178, 183 Euklid 113, 269 Euler, Leonhard 41 Everett, Hugh 234 Faust 216, 273 Ferdinand I. 211 Feyerabend, Paul 11, 12, 55, 91 Fichte, Johann Gottlieb 14, 40, 143, 154, 158-163,200-206,315 Flood 177 Flora 238 Fonteo, Giovanni Baptista. 211 Foucault, Michel 20, 98 Frege, Gottlob 178
A- 341
Personenverzeichnis Freud, Sigmund 18, 248-252, 254, 255, 257, 258, 261, 273 Gaia 59,215 Galilei, Galileo 66 Geyer, Paul 170 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 53-55, 216, 272, 273 Gorgias 174 Grelling, Kurt 175 Habermas, Jürgen 12, 261 Hagenbüchle, Roland 170 Harnmurabi 47 Hartkopf, Werner 159 Hausdorff, Felix 268 Hege!, Georg Wilhelm Friedrich 11, 19, 23, 25, 39, 104, 123, 125, 126, 137, 138, 143-146,148-150,152-163,181,184186, 188, 194, 195, 202, 205, 214, 278, 281-284,290315,310327 Heidegger, Martin 10, 15, 19, 38, 199, 286,294,30~302,303,306,308,327
Heine, Heinrich 256 Heisenberg, Werner 234 Heiß, Robert 184, 189 Helios 33 Henrich, Dieter 181, 182, 189 Hera 217 Heraklit 120, 121, 124-126, 172,313 Hesiod 59, 215 Hesperiden 59, 215 Hilbert, David 111, 289 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 19, 327 Hohenheim, Theophrastus Bombastus von (genannt Paracelsus) 226, 240 Hokusai, Katsushika 270 Homer 13, 216 Horaz (Quintus Horatius), Flaccus 245 Horkheimer, Max 13, 23, 24 Hübner, Kurt 33, 208 Husserl, Edmund 306-308
Kant, Immanuel 13, 14, 23, 25, 52, 53, 75, 79, 85, 89, 103, 112, 143, 151, 169, 182,280,281,283,295,315,310325 Klages, Ludwig 287 Klotho 215 Koch, Helge von 271, 275 Kretschmer, Ernst 287 Kroner, Richard 159 Kubczak, Hartmut 244 Kuhn, Thomas Samuel 12 Lacan, Jacques 18, 248 Laches 58 Lachesis 215 Lakatos, Imre 91 Laktanz (Lactantius) Lamarck, Jean Baptiste Pierre Antoine de Monetde 100,102 Leibniz, Gottfried Wilhelm 113, 294, 295,317 Leisegang, Hans 30, 94, 277, 278, 281 Lenk, Hans 28 Leonardo da Vinci 270 Levi-Strauss, Claude 18, 281 Levy-Bruhl, Lucien 279, 281, 283 Linne, Carl von 98, 99 Livius, Titus 211 Lorenz, Edward N. 270 Lorenz, Konrad 281, 283 Lorenzen, Paul 112 Luhmann, Niklas 180 tukasiewicz, Jan 233
Jacobi 19 Jaspers, Karl 15, 278
Mandelbrot, Benalt B. 264, 270, 272, 274 Margritte, Ren. 211 Maria 211 Mars 211 Matthäus 316 Maximilian II. 211, 212 Meier, Georg Friedrich 295 Menon 57 Merkur 211 Mittelstraß, Jürgen 40 Mozart, Wolfgang Amadeus 12
ALBER PHILOSOPHIE
Karen Gloy
Irma 258
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Jung, Carl Gustav 18 Jupiter 211 Jussieu, Antoine Laurent de 100
Personenverzeichnis
Nestle, Walter 31 Nietzsche, Friedrich 10, 15, 295, 296, 312-323,326 Odysseus 13 Opitz, Manin 247,248 Paracelsus (s. Hohenheim, Theophrastus Bombastus von) Parmerndes 11, 59, 128, 132, 133, 135-139, 141,142,144,171,178,194,213,301 Paulus 121, 175 Persephone 33 Petrus Hispanus 109 Phädros 126 Phaethon 33 Phaidon 31, 32, 34, 35, 78, 87, 126 Philebos 86 Phiion 125 Phokion 253 Piano, Giuseppe 264 Picasso, Pablo 211 Platon 14, 19, 25, 31, 33-35, 37-39, 44, 54,57-59,67-69,75,7~80,82,83,
86-89,94, 102,104,~1,115,119, 122, 123,126, 128-130}132-139, 142-145, 158,171,178,184,185,213-216,295, 29~300,312,313,315,324,326
Pollux 217 Popper; Kar! 90, 91 Porta, Giambattista della 216 Quine, Willard Van Orman 89, 92 Quintilian(us), Marcus Fabius 241-243, 246,248 Rescher, Nicholas 233, 234 Reymond, Debois 264 Richardson, Lewis F. 270 Riemann, Bernhard 92, 93 Rubin, Edgar 229 Rudolf II. 211 Russell, Bertrand 178, 179, 195, 196 Sarastro 12 Sartre, Jean-Paul 15 Saturn 211 Saussure, Ferdinand de 304-306
Vernunft und das Andere der Vernunft
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 14, 19,125, 158,231,315,31~326,327 Schiller; Friedrich 53, 54, 180, 248 Schmitt, Carl 26 Schmitz, Hermann 81, 86, 286 Schnädelbach, Herbert 13, 15, 25, 27, 67 Schopenhauer, Arthur 15, 315, 316 Schulz, Walter 161 Scipio, Publius Cornelius 245 Seuse, Heinrich 121, 127, 131 Sirenen 13 Sluckij, Jewgeni Jewgenjewitsch 233 Sokrates 35, 58, 78, 108-110, 133, 174 Spinner; Helmut F. 26, 29 Strawson, Peter F. 286 Strub, Christian 233, 244 Tarski, Alfred 176, 195, 196 Tartaros 59, 215 Tauler; Johannes 121 Thales 120, 124 Timaios 33, 37, 38, 122, 135, 141, 144, 213, 240, 290 Titus 175 Tournefort, Joseph Pitton de 98 Tucker, Albert William 177 Ullman, Montague 273 Venn, John 41 Venus 211,243,250,256 Vergil (Publius Vergilius ), Maro 243 Vicq d'Azyr, Felix 100 Vitruv(ius) Pollio, Marcus 290, 291 Vollmer, Gerhard 189, 281, 283 Vulcanus 243 Wajsberg, Mordechaj 233 Weber; Max 25, 26, 28 Wittgenstein, Ludwig 36, 260 Wolff, Christian 295 Wuorinen, Charles 272 Zabarella, Giacomo 66 Zadeh, L. A. 233 Zarathustra 316 Zenon von Elea 171, 173 Zeus 217
Pr 343
Sachverzeichnis
Abbild 60, 67, 215, 217, 260, 261 aemulatio 227, 269 Ähnlichkeit 56, 99, 133, 134, 136, 139, 216, 217, 225, 227, 228, 236-238, 240, 244, 246, 252, 255, 260, 263, 272, 274, 301 Affektion 168 Affektivität 15 Alchemie 283 All 128-130, 140, 191, 216, 297 All-Eines 128-130,213 Allegorie 211, 245 Allgemeinbegriff 41, 50, 52, 53, 59, Allgemeinheit 58, 282 Allmenge 187, 189, 190 Analogie 128, 146, 212, 224, 227, 236238,240,241,248,269,284,325,326 Analogiedenken 207, 213, 223, 224, 229231,236,241,249,251,252,260,264, 266,269,273-275,283,284,298,327 Analogieform 224, 227, 264, 276 Anapher 248 Anarchie 11, 232 Anderes der Vernunft 10, 11, 15, 16, 20,
Attraktion 218 Attraktor 270, 271 Autologie 193 Autologisches 176, 189, 193 Befindlichkeit 16, 222, 235, 288, 298 Begriff 34, 36, 41, 51, 52, 59, 61, 68, 7478,80,85,87,96,102-108,110-114, 116, 117, 133, 143, 151, 153, 156, 171, 179, 183-186,220, 260, 265, 268, 282, 285,289,295,299,302,304,322 Begriffspyramide 75-77, 80, 105-109, 151, 278, 279 Begriffssystem 105, 109, 113 Bewegung 64,65,81,100,104,130,132136,138,140,141,143,144,148,151, 153,161,173,174,185,200,219,303, 304 Bewegung (Orts-) s. Ortsbewegung Bewußtsein 18, 21, 38, 143, 159-161, 180,183,190, 192,249,272,28~300, 307,314 Bewußtseinsdialektik 160 Bewußtseinstheorie 180, 192
37,41,42,181,292,293,295-29~299,
303,312,315,31~320-324,326-328
Angelfischer 69, 70, 74, 80, 83, 84, 86, 105-107, 109, 117 animal rationale 10, 27 Anomalie 280 Antipathie 218 Antithese 116, 117, 137, 146-148, 163, 166,169,201,202,217,240,247 Art 50, 6~, 75, 76, 79, 82-84, 88, 94, 97, 115,235,269,291,327 Artbegriff 50, 82, 105, 106, 115, 118 Assoziation 22, 23, 186, 239, 251, 257, 275 Astrologie 207, 228, 229, 283 Astronomie 47, 265, 283 (n;OflOV döo~ 80
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ALBER PHILOSOPHIE
causa efficiens 35 causa finalis 35 causa formalis 35 causa materialis 35 causa-sui-Beziehung 219 Chaos 20, 59, 215, 266, 268, 270, 274, 294,295,311,328 Chaostheorie 266, 268 Chiasmus 248 Chiromantie 207, 228, 283 Darstellungsrationalität 27 definiens 35, 75 Dezentrierung 12,15,310 Dialektik 41, 119, 120, 128, 133, 140143, 150-152, 154, 158-164, 170-172, Karen Gloy
Sachverzeichnis 182,184,188,193,194, 19~200,203, 205,302 ÖLUAEKtLK~ TEJ(.V'I'] 115, 171 Dialektikkonzept 132, 150 Dialektikkonzeption 143, 205 Dialektikstruktur 146, 160, 170 Dialektiktypen: Fichtescher 158-162, 164, 165, 206 Regelscher 137, 143, 144, 146, 150, 152, 154, 158-160, 163, 164, 185, 194, 206,278,281,284,285,291 Platonischer 132, 133, 137, 139, 142144, 158-160, 185, 194 Dialog 44, 87, 132, 133, 141, 171 Diaphanität 230 differance 299, 300, 303, 304, 308, 310 Differenz 89, 104, 118, 133-136, 138, 139,143,147,155,158,161,173,174, 180, 189, 191, 194, 199, 214, 249, 261, 299,300,302-306,308,310,314,321 Dihairesis 76, 105, 113, 141 Diskrepanz 83, 119, 155,231,305 Diskurs 31-33,39,68, 117, 119,120,152 Diversität 213, 236, 269 Doppelvernunft 27 Dualismus 52 \/ _) Eines 78, 86, 104, 116, 125, 129, 130, 132-140,171,190,191,194,229 Einheit 32, 58, 104, 112, 114, 119, 123, 125,127-130,134,135,146,148,154, 158, 161, 162, 16~ 173, 174, 179, 180, 184,190,202,203,225,227,229,235, 252,282,291,299-301,314,321 Eins 111,129,132,216,305,321 Ekstase 18, 20, 95, 228 Entgegensetzung 147, 163-165, 169,318 Entsprechung 41, 62, 252, 255, 260, 261 Entweder-oder 78, 107, 171, 186, 195, 231 Epistemologie 67, 134, 215 Erfahrung 53, 90, 95, 111, 314 Erfahrungswirklichkeit 90 Erkenntnis 38, 88, 100, 139, 142, 265, 267,281,296,301,326 dianoetische 24, 40, 67 ideelle 300 mathematische 51
Vernunft und das Andere der Vernunft
noetische 24, 40, 67 rationale 326 Erlebnis (Aha-E.) 251 Erotik 19 esal<J>v'll~ 140 Euphemismus 246 Feminismus 17 Figur 52, 67, 99, 100, 221, 229, 259, 269, 272,295 Figur-Grund-Schema 290 Figur-Grund-Verhältnis 290 Fiktion 320 Form 38, 52, 64, 91, 99, 100, 119, 120, 158,198,221,222,226,255,272,273, 295 Forschungsrationalität 27 Fragment 69, 124, 269, 272, 273 Fraktal 266-269 fraktale Geometrie 264-267, 269, 272, 274, 275, 281, 284 Funktion 15, 21, 101, 112, 135, 147, 161, 197,198,219,296,303,321,322 Ganzes 32, 33, 40, 41, 51, 59, 80, 99, 100, 102, 103, 107, 115-119, 125, 129, 130, 133-137, 139-141, 144, 145, 147, 148, 151, 152, 157-159, 163, 171, 173, 174, 183, 184, 186, 187, 196, 198, 201, 213, 214,216,224,226,236,243,252,253, 273, 275, 278, 279, 282, 284, 291, 292, 297,302,315,327 Ganzheit 32, 33, 40, 53, 79, 97, 123, 127, 128,133,139,173,205,275,282 Gattung 50, 64, 76, 77, 79, 82, 87, 88, 94, 97, 108, 110, 115, 221, 231, 235, 243, 244,256,269,327 Gattungsbegriff 82, 87, 105-108, 115, 116, 118 Gedanke 47,53, 114,121,126,130,213, 219,263,284,288 Gedankenfigur 117, 121, 146, 154, 174, 180,214,242,252,299 Gefühl 16-18, 64, 250, 287, 298 Gegensatz 56, 78, 85, 117, 134, 143, 150, 186,202,219,252,255,262,289 Gegensatzdialektik 164, 201 Gegenstand 45, 46, 56, 57, 64, 67, 80, 81,
Ir 345
Sachverzeichnis 88, 94, 103, 110, 112, 135, 221, 226, 230-232,235,240,267-269,273,286, 288,301,306,318 Geist 37, 127, 141, 143, 144,301, 316 Geistdialektik 158, 160 Genesis 55, 119, 201 genitivus obiectivus 14 genitivus subiectivus 14 genus proximum per differentiam specificam 74, 76, 235 Geometrie 93, 100, 111, 112, 264-266, 269,270 euklidische 264, 267, 269, 289 fraktale s. fraktale Geometrie Riemannsche Kugel-G. 92f. Gestik 95, 287 Göttliches 15, 217, 226 Gott 10, 19, 55, 102, 127, 128, 144, 152, 153,217,226,233,298,301,303,313 Grenze 15, 85, 98, 179, 181, 198, 270, 302,326 Grund 35, 68, 88, 89, 126, 148, 181, 200, 202,204,205,243,250,295,298,300, 302,305,309,325,327 Grundsynthese 159, 162, 163, 166, 167, 169 Handeln 16, 26, 37, 39, 294 Hermetik 141, 207 Herrschaft 24, 80, 212, 295 Heterologisches 175, 176, 183-185, 187, 189, 193 Höhlengleichnis 300 Holismus 89, 92, 93 Hyperbaton 246 Hyperbel 246 Hyperrationales 294, 296, 298 Hypothese 65, 87, 89, 90, 92, 93, 111, 137-139, 288 Ich 161, 163-168, 192, 258 Ich-Dialektik 160, 161 Idealismus 158, 160, 202-204, 327 Idealität 135 Idee 37, 52, 67, 68, 88, 133-137, 140, 143, 156, 158, 162, 171, 205, 215, 230, 273,291,296,313,324,325 Ideengeflecht 133, 135, 136, 144, 145
346
ALBER PHILOSOPHIE
Imagination 18, 40 Indifferenz 172, 198, 310, 328 Individuum 50, 65, 75, 101, 106, 119, 196, 235, 269, 326 Inklusion 108, 118, 124, 127 Integration 89, 145, 151, 284 Ironie 170, 171, 241, 245, 246, 256 Irrationalismus 12 Irrationalität 264, 327, 328 Katachrese 244 Kippfigur 181, 229 Klasse 50, 74, 84, 87, 90, 94, 182, 183, 195,196,232,252,253 Klassifikation 22, 29, 30, 41, 54, 58, 59; 79, 207, 208, 282 Klassifikationsdenken 207, 221, 223, 327 Klassifikationsmethode 41, 44 Klassifikationsschema 74, 221, 292 Klassifikationssystem 61, 80, 94, 98, 100, 113,280,322 Klassifikationsversuch 25 Klassik 290 Komplexität 56, 120, 267, 274 Konstruktion 51, 66, 67, 97, 105, 107, 110, 112, 114, 115, 141, 152, 180, 185, 188,190-192,194,201,203,204,273, 279,306,321 Konstruktivismus 112 Kontingenz 280 Koordination 80, 113, 151, 212 Kosmogramm 223, 274, 276, 284, 297 Kosmos 128, 213 Kreis 52, 90, 91, 99, 108, 116, 117, 121124, 127, 131, 145, 146, 154-156, 188, 215,219,221,224,229,23~264,289
Kreis von Kreisen 146, 155, 278, 284 Kreisfläche 217 Kreislauf 120-127,131, 154, 157,219 Kreismodell 113, 117, 221, 222 Kunst 14, 18, 19, 30, 36, 42, 56, 70-74, 76, 83, 86, 87, 211, 217, 230, 236, 259, 26~265,277,284,326,327
Iapsus linguae 253 Leben 22, 120, 125, 126, 128, 131, 133, 217, 219, 221, 228, 229, 233, 241, 249, 255,301,308,314-316,319,321,324
Karen Gloy
Sachverzeichnis
Lebensprinzip 21, 22 Leib 17, 72, 84, 126 Leiblichkeit 10, 13, 16, 296, 314, 324 Liste 46, 48, 49, 54, 57, 62-64, 134 Listenmethode 41, 44, 48, 55-57, 60-62, 65,207,292 Listenwissenschaft 45, 48, 49, 56 Litotes 241, 247 Logik 34, 56, 110, 113, 141, 144, 155, 179, 181,186,205,208,232,236,26~ 262-264,278-280,283,284 analogische 284 axiomatische 44, 118, 152, 164, 195 binäre 85, 232, 308 des Witzes 263 dialektische 118, 152, 164, 166, 197, 282,284 dialektisch-spekulative 152 dihairetische 118, 166, 186, 197, 284, 323 dreiwertige 186, 233 epistemische 232 formale 44, 67, 79, 118, 153, 164, 166, 197,282 klassifikatorische 282, 283 klassisch-dihairet~~ 284 klassische 78, 178, 186, 195, 197, 230233,235,280,283,284,299 mehrwertige 230,233,281 metaparadoxale 284 paradoxale 186, 198, 199 spekulative 152 traditionelle 230, 232, 233, 279, 282, 283,322,323 zweiwertige 78, 81, 94, 118, 178, 186, 230, 232, 235 Logos 10,14,23,31-33,68,82, 127,143, 144,149,303 Logozentrismus 294 Lüge 175, 183, 184, 186-188, 190
Metalepsis 245 Metapher 20, 105, 241-243, 298, 324, 326,327 Metaphysik 16, 23, 282, 297, 302, 306 Methode 41,44,56,57,61,66,69,80,90, 91, 99, 100, 103, 110, 113, 114, 120, 132,143,146,148,166,170,198,201, 202,281,291,292,294,295,312 Metonymie 239, 241, 243 Mikrokosmos-Makrokosmos 212, 213, 217,256,273 Modell 52, 113, 117, 119, 120, 123, 124,
Macht 24, 80, 188, 212, 227, 316, 318, 319 Magie 47, 207, 283 Mathematik 34, 44, 52, 67, 68, 110-113, 178,179,181,264,272,280,289 mathesis universalis 100, 113 Mechanismus 181, 189
Objekt 38, 70, 71, 88, 111, 139, 141, 154, 161,164,180,190,192,196-198,230, 253,267-270,274,286,305 Omentafel 47 Ontodialektik 158, 160 Ontologie 67, 188, 215, 230, 309 Ontotheologie 23
Vernunft und das Andere der Vernunft
130,20~237,285,288,290,291,295,
299,305,308 modello 291 Moderne 13, 19,121, 12~295,312 Moment 19,115,123, 144-146, 148, 149, 151, 156, 159, 169, 184, 187, 189, 191, 198,203,224,238-240,26~266, 269, 285, 307, 316 Mystik 18, 121 Mythos 30-34,36,42,115,121,208, 211, 278, 324, 326 Natur 10, 16, 24, 30, 39, 57, 61, 65, 69, 100,120,121,126,138,144,165,205, 210-212,234,240,246,270,271,286288,294 Negation 77-79, 106, 116, 134, 137-139, 149, 150, 157, 164, 165, 168, 169, 181, 182, 184, 185, 188, 189, 192-194, 199, 201,202,204,22~233,241,246,252-
254 Negationsbegriff 190 Negativ-Vernünftiges 151 Negatives 149, 151, 188, 246 NewAge 12 Nicht-Ich 163-165, 167, 168 Nichts 138, 140, 141, 156, 157, 194, 195, 199,20~205,300,302
~
347
Sachverzeichnis Ordnung 56, 68, 80, 98, 103, 120, 195, 217, 259, 266, 301 Ordnungsprinzip 50, 240 Ortsbewegung 81 Oxymoron 180, 239, 247 Parabel 298, 324 Paradigma 37, 39, 52, 67, 68, 86, 107, 111,121,132,143,161,182,190,216, 277,284,288,291,295 Paradigmensubstitution 12 Paradox 170, 177, 180, 182, 184, 197200,205,206 Paradoxie 170-172, 180-186, 189, 190, 193-197,199,200,213,253,300,320 bewußtseinstheoretische 183 epistemologische 174, 175, 183 Grellingsche 183 logisch-mathematische 181 mengentheoretische 178, 181, 182, 185, 187, 195, 198 qualitative 183 quantitative 182 Russellsche 179 semantische 175, 177, 181 Zenonische 128, 130, 171, 174 zirkuläre 41 Parallelismus 248 Paronomasie 247 Paronymie 239 parspro toto 33, 115, 117-119, 224, 235 Periphrase 246 Perspektive 79, 87, 94, 145, 195, 217, 264,291,319,320 Pflanze 94,95,9099-101,125,126, 208-210,212,221,222,225-228,235, 241 Phantasie 10, 17, 18, 210, 298 Philosophie 11, 14, 15, 19, 124, 126, 155, 295,299,300,302,309,310,312,313, 326,327 chinesische 289 des Geistes 156, 299, 312 griechische 31, 50, 120 idealistische 315 östliche 156, 194, 195 Physik 130, 230, 265, 281 Platonismus 312
348
ALBER PHILOSOPHIE
Polymorphie 224 Polysemie 224, 311 Position 77, 103, 116, 137-140, 149, 150, 157,165,169,188,189,194,202,205, 227, 246, 253 Prädikation 78, 106, 139, 165, 176 Präsenz 306 Praxis 177, 228 Prinzip 37, 42, 58, 61, 66, 77-79, 85, 88, 94, 97, 102, 106, 108, 111, 112, 117, 118, 120, 123, 126, 137, 153, 166, 178, 197,201,202,204,266,271,274,283, 292,296,298,303,310,313,316 Prinzipiiertes 298 Projekt 321 Projektion 258 Quantenmechanik 267 Quantentheorie 234, 235, 275, 327 Rationalismus 20, 90, 264 Rationalität 11, 19, 21, 22, 24-27, 30, 32, 36,57, 120,199,207,264,273,285, 327,328 abstrakt-formale 28 anti-traditionalistische 27 dialektische 79 dialogische 28 dihairetische 76 epistemische 28 formale 26, 28 formal-logische 26, 67 hierarchisch-architektonische 28 instrumentalistische 28 kognitivistische 28 logisch -dihairetische 114 materiale 28 mathematische 26, 67, 112, 114 moralische 28 philosophisch -mathematische 67 pragmatische 29 praktisch-kommunikative 28 reflexive 29 traditonalistische 27 transzendental-philosophische 26 wissenschaftliche 96 Rationalitätskonzept 14, 25, 29, 105, 309 Rationalitätssystem 286
Karen Gloy
Sachverzeichnis
Rationalitätstypus 26, 45, 57, 68, 231, 277,279,281,283-285,288,291,292, 310,311,328 analogischer 181, 207, 208, 242, 251, 283,285,290 analogisch-mythischer 283 dialektischer 115, 327 dialektisch-strategischer 26 dichotomisch-dihairetischer 81 dihairetischer 57, 60, 67-69, 74, 105, 107,110,115,282,290,312,327 ethischer 26 europäischer 21, 30 hermeneutischer 26 linearer 60 logisch-dihairetischer 110 mathematischer 110 mathematisch-naturwissenschaftlicher 280, 283 metaparadoxaler 170 mythischer 278 philosophischer 26 prälogischer 278 präwissenschaftlicher 278 transzendental-p!agmatischer 26 wissenschaftlichelf 2ls wissenschaftlich-technologischer 26 Realismus 202-204 Realität 34, 78, 86, 89, 111, 112, 118, 125, 167-169,255 Rede 69,77,115,131,226,242,246,250, 251,253 Redefigur 242, 247, 327 Redekunst 244 Redewendung 219 Reflexion-in-anderes 145, 157 Reflexion-in-sich 145, 157, 194 Regel 12, 52, 188, 247 Regellosigkeit 11, 12 Relation 38, 76, 79, 98, 110, 113, 118, 139,145,147,156,179,185,189,199, 305, 306, 325 Relativismus 25, 288, 319 Religion 14, 18, 19, 36, 121, 126, 278 Renaissance 20, 207, 208, 211-217, 236, 230264,266,274,283,284,289 Repulsion 218 res cogitans 21, 100
Vernunft und das Andere der Vernunft
res extensa 22, 100 Rhizom 308, 309 Romantik 290 Ruhe 104, 132-136, 138, 140, 173, 174, 184,224 Schaukeldialektik 158 Schaukelsystem 137, 145, 162 Schluß 60, 62, 105, 107-110, 152, 153, 283 Schwebe 162 Seele 21, 22, 32, 84, 120, 124, 126, 127, 131,133,135,217,219,226,301 Sein 81, 102-104, 119, 132-134, 136, 139, 142, 145, 156, 157, 162, 173, 194, 195,202,203,213,215,233,296,298, 300-303,312, 314 Selbst 13, 202 Selbstähnlichkeit 266, 269, 271-275 Selbstbeziehung 124, 126, 137, 138, 145, 146,148,154,157,180,291 Selbstbezug 128, 139, 140, 143, 149, 171, 180, 183, 184, 189 Selbstreflexion 145 Selbstwiderspruch 117, 139, 150, 186 Sensibilität 270 Singularismus 52 Sinn 21,61,245,250,303,312-314 Sinnlichkeit 10, 13, 16, 61, 66, 135, 138, 141, 143,151,295,296,29~314,324326 Sonnengleichnis 88, 300, 301, 324, 325 Sophist 69-73, 83-86, 106 Sowohl-als-auch 88, 107, 186, 195, 198, 199, 205, 231 Spekulation 151, 205, 207 Spezies 243, 244 Spezifikation 58, 65, 66, 75, 76, 88, 115, 159,163,166,169,170,200,208,235, 243,244 Spezifikationsprozeß 75, 79, 80 Spezifikationssystem 271, 275, 280 Sprache 36, 55, 81, 82, 125, 175, 176, 188, 196, 197, 217, 230, 278, 305, 306, 309,321-323,326 Stimmung 16, 287, 288, 298 Struktur 30, 37, 41, 74, 98, 101, 102, 111, 117, 126, 145, 146, 155, 160, 161, 163,
~
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Sachverzeichnis 164, 166, 170, 179, 181, 183, 190, 198, 200-204,223,249,255,265,266,271, 285,290,295,296,327 Strukturierung 223, 232, 321 Strukturierungsprinzip 49 Subjekt 38, 77, 78, 85, 88, 97, 139-141, 149, 152-154, 160, 161, 169, 183, 184, 187,190,192,197,198,233,253,267, 282 Subrationales 15, 16, 294, 296, 298 Substanz 33, 123, 124, 168, 171, 221, 224-226, 314, 321 Sumerer 44, 48, 49 Syllogismus 107, 109, 283 Symmetrie 217, 229, 239, 255, 275 Sympathie 218 <JUj.t:rtAOK'l'] 'tÜJV YEVÜJV 89, 116, 133, 144, 184, 194, 301 <JUj.t:TtAO'K~ 'tÜJV etÖÜJV 105 Synekdoche 239,241,243 Syntax 149, 233 Synthese 68, 117, 138, 147, 148, 155, 162,163,166,160169,201,202 System 15, 39, 53, 77-82, 84, 88, 89, 91, 94, 97, 100, 103-106, 111, 133, 134, 137, 141, 142, 145, 146, 150, 155-157, 162, 163, 165, 170, 179, 180, 196, 205, 223, 230, 231, 234-236, 269, 271, 280, 284, 289, 291, 292, 300, 306, 309, 313 Tautologie 106, 117 Technik 11,39,278,279 Teil 22, 23, 33, 40, 45, 54, 59, 65, 82, 83, 97-101, 115, 116, 119, 129, 130, 133-136, 139, 141, 158, 166-169, 171, 173, 174, 183, 191, 213, 224, 235, 236, 243, 261, 272, 273, 275, 276, 279, 308 Teilchen 230, 234-236 tertium comparationis 60 Theorie 65, 66, 89-94, 121, 125, 135, 152,193,214,230,251,270,282,288, 289,306,307,310319,320 These 11, 89, 92,116,117, 146-149, 158, 163, 169, 201, 202, 213, 214, 229, 278, 303, 307, 319 Tier 46, 48-51, 54, 64, 69, 95-97, 99,
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ALBER PHILOSOPHIE
100, 117, 126, 210, 212, 220-222, 225, 226, 228, 235 Totalität 80,102, 115, 135,142,145-147, 153-155, 182-184, 187, 191, 196, 199, 214,273,283,291,324 Totalitätssystem 119, 136 Transzendenz 104,200,235 Transzendenzgedanke 300,301 Traum 10, 18, 47, 59, 184, 211, 215, 226, 249-251, 254, 255, 257-263, 272, 273 Traumanalyse 250, 255 Traumarbeit 251, 262 Traumdeutung 249,259,261,262 Traumelement 251 Traumgedanke 250,251,261-263 Traumgeschehen 250 Trauminhalt 250, 261, 263 Traumlogik 262 Travestie 256 Triade 146, 147, 159, 162, 184 Trieb 10, 316 Tropen 238,241,242,245,246,248 Tropenlehre 241, 242 Übergang 60, 131, 136, 137, 140, 144, 145,157,162,169,185,194,202,204, 205,212,251,255,268,285,289 Unendliches 80, 126, 268, 272, 275, 284, 310,318 Unendlichkeit 78, 104, 114, 173, 174 Unifizierungswitz 252 Universalität 232 Gleichuniversalität 133 Urbild-Abbild-Schema 60 Urbild-Abbildverhältnis 60, 214, 215, 217,260 Urteil 35, 89, 105-108, 110,153, 160, 169,182,282,283 Vergleich 53, 64, 75, 94, 113, 268, 269, 277 Vermittlung 53, 81, 138, 145, 157, 164, 166,189,202,273,281,283 Vermittlungsbegriff 157 Vernünftigkeit 24,39 Vernunft 10, 11, 13, 14, 16, 20-22, 24, 26, 29, 30, 35-37, 39-42, 67, 133, 144,
Karen Gloy
Sachverzeichnis 149,154,181,199,207,295,296,299, 301,313,321-325,328 absolute 297 dialektische 327 dihairetische 294, 327 instrumentelle 23 intuitive 51 klassifikatorische 299, 300 kritische 262 reduktionistische 313 regulative 295 selbstreferentielle 144 Vernunftbegriff 21, 23, 31, 53, 103, 207 Vernunftform 27 Vernunftkonzept 26 Vernunftphilosophie 312, 314 Vernunftstruktur 30, 37, 285, 324, 328 Vernunfttypus 35, 36, 41, 170 additiver 41 analogischer 41, 297 dialektischer 296, 297, 327 dihairetischer 41, 296, 313, 327 europäischer 21 hierarchischer 41 linearer 41 _ \..C \ metaparadoxaler 41 · Verstand 24, 40, 51, 67, 95, 181, 207, 295 Verstandesbegriff 53 via negationis 324 via negativa 41, 90, 300, 325 visio beatifica 114 Vorstellung 53, 55, 68, 80, 113, 121, 134, 156,173,315,316 Wahrheit 14, 88, 90, 91, 111, 126, 133, 142, 175, 180, 185, 187, 188, 237, 246, 256,282,288,301,303 Weder-noch 88, 198, 199, 205 Weisheit 301 Wenn-dann 98, 110, 111 Wertrationalität 25, 26, 28, 40
Vernunft und das Andere der Vernunft
Widersinnwitz 253 Widerspruch 76-78, 81, 84, 108, 111, 11~ 118, 140-143, 150, 151, 153, 164, 165, 173, 176, 179, 180, 186, 191, 193, 195, 197, 198, 201, 202, 205, 231, 232, 234,236,260,262,282,283,291 Widerspruchsdialektik 163-165, 201 Wille 298,315,316,321 Wille zur Macht 298, 312, 315-321 Wirklichkeit 32, 33, 48, 66, 80, 81, 92, 94, 142,246,259,260,262,286,288,314, 322 Wirklichkeitserfahrung 326 Wissen 120, 134, 175, 183, 203, 277, 279, 294,315 absolutes 202 apodiktisches 90 apriorisches 89 empirisches 90 explizierendes 144 Wissenschaft 11, 27, 30, 39, 57, 61, 80, 90, 91, 97, 100, 115, 120, 121, 141, 142, 157,207,222,236,264,265,281 Wissenschaftsparadigma 97 Witz 248-253, 256, 257, 260, 262, 263 Witzlogik 263 Wort 44, 55, 250, 257, 263, 305 Wortfigur 242, 246 Wurzelgeflecht 209, 308 J(.WQU 135, 136, 326 Zeichen 50,55,221,242,251,305,322 Zukunft 12, 128 Zweck 26, 36, 39, 101, 142, 228, 268, 314 Zweckrationalität 25, 26 Zyklik 130,212,219 Zyklus 33, 120, 122, 208, 211, 219, 222, 236, 237, 241 Zynismus 256
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