Raphael Beer Erkenntniskritische Sozialisationstheorie
Raphael Beer
Erkenntniskritische Sozialisationstheohe Kritik ...
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Raphael Beer Erkenntniskritische Sozialisationstheorie
Raphael Beer
Erkenntniskritische Sozialisationstheohe Kritik der sozialisierten Vernunft
III
VS VERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iJber abrufbar.
1. Auflage Mai 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt / Kathn Schmitt Der VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Sphnger Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlichgeschiJtzt. JedeVerwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiJr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v, Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15399-5
FUR ANJA
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Inhaltsverzeichnis Vorwort
S. 9
1. Einleitung
S. 11
1. Teil: Die sozialisierte Vernunft 2.
Die sozialisierte Yemunft
S. 21
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
S. S. S. S.
22 27 32 37
S. S. S. S. S.
46 51 53 63 70
2.6. 2.7. 2.8. 2.9. 2.10.
3.
Sozialisation als gesellschaftsintegrierende Erziehung: Emile Durkheim Sozialisation als intersubjektiver Prozess: George Herbert Mead Ich-Identitat als gelungene Sozialisation; Jiirgen Habermas Ungleiche Sozialisation: Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung Sozialisation auf mehreren Ebenen: Die sozialokologische Sozialisationsforschung Das Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts': Klaus Hurrelmann Sozialisation als Verlauf: Die Entwicklungsperspektive Instanzen der Sozialisation: Familie, Schule, Peer-Group, Medien Inhalte der Sozialisation: Moral, Politik, Geschlecht Die systemtheoretische Perspektive: Selbstsozialisation und konstruktivistischer Interaktionismus
Kritik der sozialisierten Vernunft
S. 77
S. 87
Fragestellungen des Sozialisationsdiskurses (S. 87) Orientierung am Individuum (S. 91) Theoretisch-methodisches Selbstverstdndnis des Sozialisationsdiskurses (S. 95) Der Zirkel des Intersubjektivismus (S. 99)
II. Teil: Das Subjekt der Erkenntnistheorie 4.
Die klassischen Erkenntnistheorien
S. 105
4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8.
S. S. S. S. S. S. S.
Der Weg iiber die Skepsis: Rene Descartes Der Weg iiber die Sinne: John Locke Die prastabilierte Harmonic der Subjekte: Gottfried Wilhelm Leibniz Das immaterielle Subjekt: George Berkeley Subjekt aus Gewohnheit: David Hume Das begriffslogische ,Ichdenke': Immanuel Kant Das absolute Ich: Johann Gottlieb Fichte Zwischenbetrachtung: Das Subjekt zwischen einem Konstitutions- und einem Vermittlungsproblem
106 112 119 125 130 135 142
S. 150
5. Das intentionale Bewusstsein: Edmund Husserl
S. 159
6. Die erfundene Wirklichkeit: Der Radikale Konstruktivismus
S. 167
III. Teil: Erkenntniskritik und Sozialisation 7.
Erkenntnistheoretische Subjektivitat
S. 177
Konstruktivistisches Subjektverstdndnis und der Zirkel der Selbstkonstitution (S. 177) Konstruktivistisches Subjektverstdndnis und empirische Sozialisationsforschung (S. 183 ) Zusammenfassung (S. 187)
8.
Sondierungen zu einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie
S. 189
8.1. 8.2. 8.3.
Erkenntniskritische Sozialisationstheorie und Gesellschaftstheorie Erkenntniskritische Sozialisationstheorie und Normativitat Das Subjekt der Sozialisation Selbstsozialisation (S. 198) Intersubjektivitdt (S. 201) Multiple Sinnebenen (S. 206) Verlaufsperspektive undsubjektive Autonomic (S. 210) Enkulturation (S. 214) Konsequenzen der erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialisationstheorie Abgrenzungen (S. 217) Positionen (S. 222) Verortung der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie (S. 228)
S. 189 S. 193 S. 198
Schluss: Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie - ein offenes Projekt
S. 231
8.4.
9.
Literaturverzeichnis
S. 2 1 7
S. 235
Vorwort
Die Idee, sich mit dem Thema Sozialisation zu beschaftigen, entspringt unter anderem meiner Auseinandersetzung mit der Milieu- bzw. Klassentheorie Pierre Bourdieus. Auch jenseits der Wissenschaft hat diese die Eigenart, dass aus ihr zutreffende Prognosen iiber das Handeln und Denken alltagsweltHcher Akteure generiert werden konnen: Sie trifft irgendwie zu und produziert genau damit ein Unbehagen. Menschen sollen dem modemen Verstandnis zufolge schlieBlich mehr sein als die Summe ihrer soziookonomischen Dispositionen. Sie sollen in der Lage sein, iiber ihre kulturellen Praktiken selbststandig zu entscheiden. In der Perspektive Bourdieus ist dieses Verstandnis eine Illusion, die die strukturellen Gewaltverhaltnisse verschleiert. Nun sollte die Wissenschaft in der Tat ihre Aufgabe unter anderem darin sehen, uber mogliche Illusionen aufzuklaren und es ist Bourdieu sicherlich zuzustimmen, dass ein Festhalten an dem modemen Verstandnis des Menschen schlichte Ideologic oder Scholastik ware, wiirde es sich eindeutig falsifizieren lassen. So eindeutig gelingt dies Bourdieu allerdings nicht und es kann vermutet werden: Eindeutigkeit ist hier ohnehin nicht zu haben. Dagegen stehen nicht nur philosophische Uberlegungen, die mit ebenfalls ,guten Argumenten' an der Fahigkeit zur Selbstbestimmung des modernen Menschen festhalten. Dagegen steht auch Bourdieu selbst mit einem politischen Engagement, dass damit rechnet, dass die Akteure sich iiber ihre Verhaltnisse erheben konnen, um diese zu verandem. Wenn aber die Akteure in ihren soziookonomischen Dispositionen aufgehen, bleibt unklar, wie dieses ,sich dariiber erheben konnen' moglich ist? Wenn sie mit Hilfe Bourdieus erkannt haben, dass sie durch die sozialen Verhaltnisse determiniert sind, wie sollen sie dann diese Determination iiberwinden? Und vor allem: wozu, mit welchem Ziel? Veranderte gesellschaftliche Strukturen wurden doch dann ihrerseits nur neue Formen der Determination produzieren, von denen keineswegs ausgemacht ist, dass sie ,besser' oder ,wiinschenswerter' sind, wenn das Ziel einer Selbstbestimmung unerreichbar bleibt. Wenn also gesellschaftliche (Klassen-)Verhaltnisse verandert werden sollen, setzt dies meines Erachtens Akteure voraus, die sich tatsachlich von ihren vorgefundenen Verhaltnissen emanzipieren konnen (was immer das dann genau heiBt) und ein sozialwissenschaftlicher Diskurs, der dieser Frage prominent behandelt, ist der Sozialisationsdiskurs. Er stellt die Frage nach einer Personlichkeitsentwicklung, die nicht zwingend in einer Anpassung an gegebene gesellschaftliche Verhaltnisse miinden muss. Er stellt damit auch die Frage, ob iiberhaupt von einer Personlichkeitsentwicklung ausgegangen werden kann, die dazu befahigt, sich politisch, moralisch oder asthetisch iiber die gesellschaftlichen Verhaltnisse zu erheben. Der hier vorgeschlagene Versuch einer Verbindung der Sozialisationstheorie mit der Erkenntnistheorie bejaht diese Frage nicht mit einem eindeutigen Ja. Er kann aber dazu beitragen, diese Frage insofem neu zu stellen, als die Pramissen anders gesetzt werden: In einem logisch nicht hintergehbarem Subjekt. In diesem Sinne schlieBt die vorliegende Arbeit auch an die politische Philosophic der Neuzeit an, die - vor allem in ihrer liberalistischen und sozialistischen Ausrichtung - grundsatzlich mit einem Subjekt gerechnet hat, das
in der Lage ist, selbstbestimmt auf die soziale Wirkiichkeit zuzugreifen und diese gegebenenfalls zu verandern. Der Vorschlag zu einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie ist damit auch ein Vorschlag zur politischen Freiheit bzw. ein Vorschlag, die dazu komplementaren subjektiven Freiheitspotentiale auszuloten und emst zu nehmen. Die vorliegende Arbeit wurde am 01.03.2006 vom Fachbereich Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften der Westfalischen Wilhelms-Universitat als HabiHtationsschrift angenommen. Danken mochte ich vor allem Prof. Dr. Matthias Grundmann, der die Arbeit unter Gewahrung groBtmoglicher Freiheiten und zumeist gegen eigene Uberzeugungen betreut und mich immer wieder an mogliche Gegenpositionen erinnert hat. Fur kritische Kommentare danke ich Uwe H. Bittlingmayer, Johannes Ahrens, Christian Glasmeyer und Oliver Geister. Und schlieBlich danke ich Susanne Zurstegge, die sich die Miihe gemacht hat, die Arbeit auf orthographische Fehler durchzusehen und Frank Engelhardt vom VSVerlag flir das nochmalige Korrekturlesen der Druckvorlage. Alle verbliebenen Fehler einschHeBlich wissenschaftlicher Ungereimtheiten - gehen selbstverstandlich zu Lasten des Autors.
10
„Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber Sprache zu erfinden, miisste er schon Mensch sein." Wilhelm von Humboldt
L Einleitung
In der Soziologie bestand seit ihren Anfangen trotz aller Gegensatze Einigkeit dariiber, dass moderne Gesellschaften mit einer Auflosung traditionaler Bindungen konfrontiert sind. Dies betrifft zum einen die ehemalige Kohasion gesellschafthcher Funktionsbereiche unter dem Zugriff der Religion, die sich in eine funktionale Differenzierung von eigensinnig operierenden Teilsystemen modifiziert hat (Schimank 2000). Dies betrifft aber auch das ftir die Soziologie zentrale Verhaltnis zwischen Individuum und Gesellschaft, das sich im Rahmen der Moderne als Individualisierungsprozess darstellt (Schroer 2001). So merkt etwa bereits Georg Simmel (1900/1989) als einer der Mitbegrtinder der Soziologie an, dass die Individuen durch eine gegeniiber religios-normativen Verpflichtungen autonomisierte Geldwirtschaft zwar einerseits den der Geldwirtschaft verdinglichenden Momenten unterworfen werden, andererseits jedoch durch die Geldwirtschaft gegeniiber konkreten Sozialund Wirtschaftsbeziehungen unabhangiger werden. Fiir Ulrich Beck (1986), der auf einen mehrere hundert Jahre andauernden Individualisierungsprozess zuriickschauen kann, wird das Individuum schlieBlich zunehmend aus einer verbindlichen Zugehorigkeit zu sozialen Gruppen (Familie, Milieu, Schicht) freigesetzt. Damit werden fur den Einzelnen vormals sozial prajudizierte Lebenslaufe kontingent und der planerischen Selbstaktivitat iiberantwortet (Hitzler/Honer 1994). Von Beginn dieser Debatte um den Freisetzungsprozess des Individuums an stellte sich jedoch auch die Frage nach der Moglichkeit einer sich reproduzierenden Gesellschaftsstabilisierung angesichts diversifizierter Individuen, die iiber keine gemeinsamen und damit integrierenden Werte zu verftigen scheinen, die vielmehr in die sich ausschlieBenden Typologisierungen des „Fachmenschen ohne Geisf und des „Genussmenschen ohne Herz" (Weber 1988: 204) auseinander fallen. Die Antworten auf diese Frage markieren eine Scheidelinie der modemen Sozial- und Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der politischen Philosophic im Besonderen. Wahrend die einen Autoren dieses Diskurses die durch die Modemisierung gewonnenen Freiraume des Einzelnen als positiven und sinnvollerweise nicht hintergehbaren Forschritt begriiBen (etwa Rawls 1979; Frank 1986; Sandel 1995), sehen andere Autoren dieses Diskurses in der drohenden Atomisierung der Gesellschaft eine Gefahr ftir das Gemeinwesen und ftir das Individuum, das sich ohne gesellschaftlichen Halt letztlich einer unkontrollierten Trieb- und Bediirfnisdynamik ausgesetzt sieht. Letztere versuchen daher tradierte Formen gesellschafthcher Integration zu rehabilitieren oder neue Formen zu entwickeln (etwa Taylor 1995, 1997; Maclntyre 1997; Honneth 1998; Walzer 1999). 11
Die Sozialisationsforschung, die als Diskurs der Sozialwissenschaften das Verhaltnis von Individuum und Gesellschaft pointiert mitbearbeitet, blieb weder von der gesellschaftlichen Entwicklung, noch von den politisch-philosophischen Auseinandersetzungen um eine Bewertung dieser Entwicklung unbertihrt (Geulen 1999; Veith 2001). So lasst sich in der Geschichte der Sozialisationsforschung eine Tendenz festmachen, die durch eine immer starkere Fokussierung des Sozialisationsprozesses als Individuierung im Gegensatz zur Sozialisierung als Vergesellschaflung gekennzeichnet ist. Spatestens mit dem Aufbegehren der 68er Bewegung und der anschliefienden Liberalisierung von Kultur und Politik beginnt sich die Frage durchzusetzen, wie der Einzelne sich im Verlauf der Sozialisation gerade entgegen gesellschaftlicher Integrationsanforderungen zu einer autonomen Personlichkeit entwickeln kann. Insbesondere Jiirgen Habermas (siehe Kap. 2.3.), als prominenter Vordenker der 68er Bewegung, zentriert seine Uberlegungen zur Sozialisation um den Kontext einer demokratischen Emanzipation, die entscheidend einer Personlichkeitsentwicklung aufsitzt, die den Einzelnen zu einer reflexiven Distanzierung von gesellschaftlichen Rollenanforderungen befahigt. Gebrochen wird auf diese Weise mit einer strukturftanktionalistischen Inanspruchnahme sozialisationstheoretischen Denkens, das Sozialisation als Erftillungsgehilfe ftir die Reproduktion von Gesamtgesellschaften begreift, wie dies noch in dem Ansatz von Emile Durkheim (siehe Kap. 2.1.) dominierend war. Der Einzelne soil nicht zu einer bloB passiven Ubernahme von gesellschaftlich sedimentierten Werten und Normen angeregt werden, sondern seine potentielle Individualitat gerade dadurch ausspielen, dass er eigenstandig und selbstaktiv seine eigene Biographic gestaltet und dies auch dann, wenn die je eigenen Lebensentwtirfe in Opposition zu gesellschaftlichen Denk- und Handlungsmustem geraten. Kurzum: Die Geschichte der Sozialisationsforschung lasst sich lesen als eine Entwicklung, die im Gleichklang mit der Bedeutungssteigerung des politischen Ideals eines emanzipierten Burgers sukzessive das ihr zugrunde liegende Subjektverstandnis von einer passiven Reproduktionsinstanz gesellschaftlich vermittelter Werte zu einer aktiven Selbstleistung von je individuellen Entwicklungsverlaufen transformiert. Der theoretisch-methodische Hintergrund auch ftir die Frage nach den individuellen Entwicklungsverlaufen blieb dabei das von George Herbert Mead (siehe Kap. 2.2.) ausgehende handlungstheoretische bzw. intersubjektivistische Subjektverstandnis. Dies bedeutet auf einer abstrakten Ebene, mit der Einsicht emst zu machen, dass die Entwicklung des Individuums grundsatzlich von Umweltzufuhren abhangig ist. Auf einer konkreteren Ebene wird dieses Dependenzverhaltnis durch die Verortung des Individuums in sozialen Beziehungsgeflechten, das heiBt auf der Ebene intersubjektiven Austausches, begrundet (Geulen/Hurrelmann 1980; Hurrelmann/Ulich 1998). Der Einzelne, so die Hauptthese, defmiert sich aus der Anbindung an soziale Umwelten, die ihrerseits durch verschiedene Ressourcen (Schichten, ...) oder Sinndimensionen (Moral, ...) operationalisiert werden. Aus der Beobachterperspektive kann so untersucht werden, wie sich der Einzelne seine Umwelt, in die der Beobachter ihn hereinstellt, aneignet und wie er sie verarbeitet. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in einer moglichen kritischen Betrachtung gesellschaftlicher Verhaltnisse. Indem das Subjekt in ein Dependenzverhaltnis zu seiner Umwelt gebracht wird, konnen ,fehlgeschlagene' Entwicklungsverlaufe den gesellschaftlichen Umstanden angerechnet werden, die so als verantwortliche GroBe fur die Personlichkeitsentwicklung in den Blick geraten. 12
Die zentrale These der ,Kritik der sozialisierten Vemunft' lautet nun, dass der Ruckgriff auf das Paradigma der Intersubjektivitat zu einem Subjektverstandnis fiihrt bzw. auf einem Subjektverstandnis basiert, das immer schon auf gesellschaftliche Bestimmungsgriinde zurlickweist und damit aber die Bestimmung der subjektiven Eigenaktivitat als Voraussetzung fur die Entwicklung einer autonomen Personlichkeit nicht hinreichend zu leisten vermag. Wenn, so die Frage, der Einzelne grundsatzlich vor dem Horizont seiner sozialen und materiellen Umwelt bestimmt wird, wie ist dann eine hinreichend genaue Bestimmung des subjektiven Eigenanteils am Sozialisationsgeschehen moglich? Wie lasst sich sowohl analytisch als auch empirisch zwischen sozialen Faktoren und subjektiver Selbstbeteiligung differenzieren, wenn handlungs- oder intersubjektivitatstheoretisch die je subjektive und die je soziale Seite immer schon als interdependenter Zirkel ineinander fallen? Soil tatsachlich die subjektive Eigenaktivitat am Sozialisationsprozess fokussiert werden, wird dies durch das methodische Hereinstellen des Subjekts in seinen sozialen Kontext erschwert, weil das Subjekt schon Subjekt sein muss, um eine subjektive Eigenaktivitat generieren zu konnen. Wird das Subjekt, wie im Intersubjektivitatsparadigma, erst durch seine soziale Umwelt zum Subjekt, wiirde die Eigenaktivitat zu einer abgeleiteten GroBe, die damit nicht mehr das ,Eigene' des Subjektiven markiert. Anders formuliert: Das Subjekt muss Subjekt sein, bevor es auf die Prozesse der Sozialisation trifft, um ihm eine Eigenaktivitat zusprechen zu konnen. Entwickelt es diese Aktivitat erst durch ein intersubjektives Austauschverhaltnis, ist diese Aktivitat letztlich eine fremdvermittelte, die nicht auf einen Eigenanteil verweist. Dieser Eigenanteil der Sozialisanden ist dabei, wie geschildert, nicht nur eine GroBe, die sozialisationstheoretisch zunehmend anerkannt wird. Sie kann aus politischen Uberlegungen heraus als eine begriiBenswerte Selbsttatigkeit begriindet werden. Modeme Demokratien, in diesem Punkt ist Jiirgen Habermas sicherlich zuzustimmen, bediirfen schlieBlich couragierter Burger (Citoyen), die sich jenseits sozialkultureller Vorgaben und auf der Grundlage je eigener Lebensentwurfe aktiv in die gesellschaftlichen Diskurse einbringen, um so das demokratische Austauschen von Interessen und Uberzeugungen in Bewegung zu setzen. Nun kann und soil zwar die Abhangigkeit der individuellen Entwicklung von Umweltzufuhren nicht geleugnet werden. Um jedoch identifizieren zu konnen, wie und auf welche Weise das Individuum selbstaktiv an seiner Sozialisation beteiligt ist, bedarf es eines Subjektverstandnisses, das sich jenseits seiner sozialen Einbindung begreifen lasst, so dass die beiden Seiten der Sozialitat und der Subjektivitat (analytisch) getrennt voneinander gedacht werden konnen. Um diese Trennung theoretisch einholen zu konnen, wird hier der Vorschlag gemacht, das Subjektverstandnis aus der philosophischen Erkenntnistheorie abzuleiten. Dieser Diskurs fragt allgemein nach den Bedingungen und Moglichkeiten von Erkenntnissen und muss daher notwendig hinter die Umwelteinbindung des Subjekts zuriickgehen, um die Bezugnahme eines erkennenden Subjekts auf die Umweh uberhaupt erst begriinden zu konnen. Dies nicht deshalb, weil das Erkenntnissubjekt unabhangig von der AuBenweh Erkenntnisse gewinnen kann oder soil, sondem weil die Frage nach den Erkenntnismoglichkeiten eine Frage ist, die zentral auf die subjektiven Voraussetzungen und Prozesse von Erkenntnis gerichtet ist. Zwar geht es in diesem Diskurs um die Erkennbarkeit der AuBenwelt. Zu Erkenntnissen iiber die AuBenwelt soil jedoch das Subjekt gelangen, so dass die Frage geklart werden muss, wie und mit welchen Mitteln das Subjekt auf die Au13
Benwelt zugreifen und dabei die Sicherheit generieren kann, dass die Erkenntnisse uber die AuBenweit mit den Verhaltnissen der Aufienwelt ,ubereinstimmen'. Fur das hier anvisierte Programm einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie macht es dabei keinen Unterschied, ob diese ,Ubereinstimmung' zwischen den Polen des Gedachten und des Wirklichen oder (wie in jungerer Zeit) zwischen den Polen des Gesprochenen und des Wirklichen angesiedelt wird, da es um die Herleitung eines Subjektbegriffes geht, hinter den auch das Gesprochene nur dann gehen kann, wenn das Gesprochene als subjektloser Diskurs konzipiert wird. Das Subjekt der Erkenntnis hat also im erkenntnistheoretischen Diskurs, wie er hier angeeignet werden soil, die Stellung einer Zielfigur, um deren Erkenntnismoglichkeiten sich dieser Diskurs bemiiht und damit die Stellung einer ,conditio sine qua non'. Es bietet sich damit fiir die vorliegenden Zwecke an, das sozialisierte Subjekt als Erkenntnissubjekt zu begreifen, um so das Subjektive aus den Einlagerungen in die soziale und materielle AuBenwelt zu losen. Dadurch kann ein Subjektverstandnis instruiert werden, das logisch vor gesellschaftlichen und damit handlungstheoretischen Beziigen angesiedelt ist und das eine begrifflich-analytische Ausdifferenzierung des subjektiven Eigenanteils aus dem Prozess der Sozialisation erlaubt. In diesem Sinne ist das Projekt einer ,Kritik der sozialisierten Vemunft' mehr als eine nominal-artifizielle Anbindung an die Transzendentalphilosophie Immanuel Kants. Dessen forschungsleitende Frage, wie Erkenntnis moglich ist, und dessen Antwort auf diese Frage mit einem erkenntniskritischen Subjektbegriff, werden auf den Kontext der Sozialisationstheorie angewendet. Die Frage ist dann: Wie gestaltet sich eine Sozialisationstheorie auf der Grundlage eines erkenntniskritischen Subjektbegriffes? Mit diesem Programm bemiiht sich die ,Kritik der sozialisierten Vemunft' die ausdifferenzierten Disziplinen der Philosophic und der Soziologie im AUgemeinen und die Diskurse der Erkenntnistheorie und der Sozialisationstheorie im Besonderen aufeinander zu beziehen. Die hauptsachliche Ausrichtung liegt dabei auf der Seite der Sozialisationstheorie, indem aufgezeigt werden soil, welche Konsequenzen sich fiir das Verstandnis des Sozialisationsprozesses ergeben, wenn die Ergebnisse der Erkenntnistheorie, die gegenliber der Sozialisationstheorie mit einem differenten Subjektbegriff operiert, emst genommen werden. Damit lasst sich zugleich ein zusatzlicher Begriindungsstrang fiir die ,Kritik der sozialisierten Vernunft' formulieren. Wahrend der Verweis auf die zunehmende Beriicksichtigung des Eigenanteils an der Sozialisation eine immanente Problematisierung darstellt, lasst sich aus der Perspektive der Erkenntnistheorie eine externe Herleitung ftir die Aufwertung des Subjektiven gewinnen. So kann aus dem Kontext der philosophischen Erkenntnistheorie heraus die Kritik vorgebracht werden, dass der Sozialisationsdiskurs einer ,Subjektvergessenheit' aufsitzt, die insofern problematisch ist, als im Sozialisationsdiskurs zwar die Personlichkeitsentwicklung beziiglich ihrer sozialen Ein- oder Anbindung untersucht werden soil, es aber letztlich die Subjekte sind, die die Erkenntnishoheit auch iiber soziale Verhaltnisse behalten. Das direkte ,Hereinstellen' des Subjekts in einen sozialen Kontext iibersieht aus der Perspektive der Erkenntnistheorie, dass das Subjekt diesen sozialen Kontext erst als sozialen Kontext erkennen konnen muss, um anschlieCend auf diesen Kontext reagieren zu konnen. Dies bedeutet nicht, dass entsprechende Reaktionsweisen nicht dem sozialen Kontext entnommen werden konnen und miissen. Dies bedeutet aber, die Frage nach der Art und Weise der subjektiven Bezugnahme auf die Sozialitat auf die Frage zu 14
verschieben, welche Erkenntnismoglichkeiten dem Subjekt zur Verfiigung stehen, bzw. welche Erkenntnisvoraussetzungen das Subjekt mitbringt, um auf die soziale Umwelt Bezug nehmen zu konnen. Das Subjektive wird damit zu einer Voraussetzung auch fiir den Sozialisationsprozess und darf, aus Sicht der Erkenntnistheorie, nicht in der Wechselhaftigkeit von Subjekt und Sozialitat gleichsam aufgelost werden. Mit dieser extemen Kritik steht die ,Kritik der sozialisierten Vernunft' auf zwei Saulen, die sich gegenseitig verstarken. Die eine Saule reagiert auf die Tendenz innerhalb der Sozialisationsforschung, den subjektiven Eigenanteil am Sozialisationsprozess starker zu berucksichtigen und verweist zu dem Zweck einer begrifflich-theoretischen Fundierung dieser Tendenz auf die Erkenntnistheorie. Diese Saule nimmt diesen Verweis auf und begrlindet im Umkehrschluss mit einem erkenntnistheoretischen Subjektbegriff die starkere Beriicksichtigung des subjektiven Eigenanteils. Der aus der immanenten Kritik an der Sozialisationstheorie entnommene Verweis auf einen extemen Diskurs kehrt so in die Sozialisationstheorie zuriick. Das mit dieser Zusammenftihrung zweier Diskurse verbundene Erkenntnisinteresse wird grob durch die Fokussierung auf den subjektiven Eigenanteil indiziert. Weitergehender gestaltet sich dieses Erkenntnisinteresse dadurch, dass mit dem Ruckgriff auf die Erkenntnistheorie die subjektiven Voraussetzungen fiir die Sozialisation in den Blick geraten, die im intersubjektivistischen Paradigma unthematisiert bleiben und die sich auf die Beschreibung von Sozialisationsverlaufen unter anderem darin auswirken, dass aus der Perspektive des Subjekts Sozialisationsverlaufe nicht als kumulative Geschichte erzahlt werden, die dann in Form sedimentierter Strukturen je aktuelle Situationsdefmitionen prajudizieren (siehe Kap, 8.3. und Kap. 8.4.). Die Thematisierung subjektiver Voraussetzungen vor dem Hintergrund der Erkenntnistheorie wirkt sich aber auch darin aus, dass die zentrale BezugsgroBe fur die Beschreibung von Sozialisationsverlaufen nicht Handlungen sondern Erkenntnisprozesse sind. Gegenuber dem intersubjektivistischen Paradigma verweisen diese auf einen breiteren Horizont an moglichen Sozialisationsstimuli. Im Intersubjektivismus steht im Vordergrund eine (kommunikative) Handlungspraxis, so dass Sozialisationsprozesse vorrangig durch andere Subjekte angeschoben werden. Mit dem Ruckgriff auf Erkenntnis miissen hingegen auch artifizielle oder natiirliche Gegenstande als mogliche Sozialisationsstimuli beriicksichtigt werden. Und sie miissen nicht nur beriicksichtigt werden, sie siedeln auf der gleichen Ebene wie andere Subjekte, das heiCt, sie haben die gleiche Bedeutung fur individuelle Entwicklungen. Die Frage ist dann, in welche relationalen Zusammenhange und Ordnungsmuster bringen die Subjekte unterschiedliche Erkenntnisinhalte und wie wirken sich diese Zusammenhange und Ordnungsmuster auf die je eigene Genese aus. Kurzum: Der Ruckgriff auf die Erkenntnistheorie hat nicht nur eine rein theoretische Ausrichtung zur Uberwindung theorieimmanenter Probleme. Wird er vollzogen, fuhrt er zu einem modifiziertem Verstandnis und einer modifizierten Beschreibung des Sozialisationsgeschehens. Um nun das Programm der ,Kritik der sozialisierten Vernunft' durchfuhren zu konnen, wird in einem ersten Teil in Form eines groben Uberblicks in die Sozialisationstheorie eingeflihrt werden. Dabei wird es vornehmlich um zwei Problemfelder gehen. Im Sinne der oben angefiihrten starkeren Beriicksichtigung des Eigenanteils an der Sozialisation soil die zunehmende Fokussierung des Individuums in den Blick geraten. Gleichzeitig sollen die theoretisch-methodologischen Grundlagen der Sozialisationsforschung beleuchtet werden, 15
um die als immanent titulierte Kritik an der Sozialisationsforschung durchfiihren zu konnen, das heifit, die Orientierung am Individuum mit den theoretisch-methodologischen Grundlagen zu konfrontieren. Das Ergebnis dieses ersten Teils wird das Aufzeigen eines theoretischen Widerspruchs zwischen diesen beiden Momenten der Sozialisationsforschung sein. In einem zweiten Teil soil, wiederum in einem groben und selektiven Abriss, die Geschichte der Erkenntnistheorie vergegenwartigt werden, wobei zwei entscheidende Denkfiguren im Vordergrund stehen. Zum einen wird im Rahmen der Erkenntniskritik die Stellung des Subjektiven gegeniiber der Umwelt zu diskutieren sein, um zu eruieren, ob sich tatsachlich ein Subjektbegriff fmden lasst, der sich durch eine Erkenntnishoheit iiber die Umwelt charakterisieren lasst. Zum anderen muss geklart werden, wie sich die Erkenntnisorganisation bzw. der Umweltbezug eines solchen Subjektbegriffs unter der Agide eines ,nachmetaphysischen Denkens' (Habermas) konzipieren lasst. Im Zuge dieser Erorterungen wird deutlich zu machen sein, welche Probleme sich bei der Herleitung eines Subjektbegriffs aus der Erkenntnistheorie ergeben und warum gerade der Riickzug des Subjektiven in eine Stellung jenseits der Einbindung in die materielle und soziale AuBenweh sich anbietet, diese Probleme zu umgehen. In einem dritten Teil schlieClich wird es darum gehen, erste Schritte in Richtung einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie anzustoBen. Zunachst werden dazu die Argumente und Theorietraditionen des zweiten Teils zu einem Subjektbegriff zusammengefiihrt werden. Die These dabei wird lauten, dass mit dem konstruktivistischen Paradigma ein Subjektbegriff angefiihrt werden kann, der sich gegeniiber der Umwelt als ,conditio sine qua non' darstellt und der dem Druck des ,nachmetaphysischen Denkens' insofem nachgibt, als mit ihm ein widerspruchsfreier Begriff des Subjektiven generierbar wird. In einem zweiten Schritt muss dann geklart werden, wie sich ein konstruktivistischer Subjektbegriff in einen vornehmlich empirisch ausgerichteten Diskurs einfiigen lasst und welche Konsequenzen sich aus dieser Einfiigung fiir die Theorie der Sozialisation ergeben. An den zentralen Verbindungslinien der Sozialisationstheorie mit der Gesellschaftstheorie und mit normativen Uberlegungen werden diese Konsequenzen zunachst auf einer allgemeinen theoretischen Ebene problematisiert. Im Anschluss daran sollen erste, spekulative Ausblicke auf das Verstandnis des Sozialisationsprozesses unter Zugrundelegung des Erkenntnissubjekts erfolgen. In diesem Zug werden die innerhalb der Sozialisationstheorie entscheidenden Themen der Selbstsozialisation, der Intersubjektivitat und der Verlaufsperspektive thematisiert, um diese Ausblicke zu strukturieren, und um zu iiberpriifen, wie sich diese Themen in die erkenntniskritische Sozialisationstheorie einfiigen. AbschlieBend wird zu klaren sein, welche Konsequenzen aus der erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialisationstheorie folgen, das heiBt wie sich die erkenntniskritische Grundlegung auf das Verstandnis und die Beschreibung von Sozialisationsprozessen auswirkt. Dies wird zum einen durch Abgrenzungen zu existierenden Sozialisationstheorien verdeutlicht werden. Zum anderen sollen eigene Positionen der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie formuliert werden, die sich aus dem Argumentationsgang ableiten lassen und die das weitergehende Erkenntnisinteresse, das mit der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie anvisiert wird, markieren. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist also die Erarbeitung eines theoretischen Modells flir die Sozialisationsforschung, das auf die Beriicksichtigung des subjektiven Eigenanteils am 16
Sozialisationsprozess zugeschnitten ist. Einen sondierenden Status hat die Arbeit insofem, als mit ihr ein Grundstein fur die erkenntniskritische Sozialisationstheorie gelegt werden soil, der die beiden Diskurse der Sozialisations- und der Erkenntnistheorie, die sich bislang gegeneinander indifferent verhalten haben, so zusammengefugt, dass daraus ein Modell fur die Sozialisationsforschung gewonnen werden kann. Die Betonung liegt dabei auf ein Modell. Es wird nicht beabsichtigt, die bisherige Sozialisationstheorie zu suspendieren. Der Zuschnitt auf den subjektiven Eigenanteil am Sozialisationsgeschehen erlaubt spezifische Fragestellungen des Sozialisationsdiskurses zu bearbeiten und neue Fragen zu entwickeln. Er erlaubt aber nicht, alle Fragen dieses Diskurses zu beleuchten, fiir die andere theoretische und methodische Zugange erforderlich sind. Der Zuschnitt auf den subjektiven Eigenanteil am Sozialisationsgeschehen betont die subjektive Seite der Sozialisation und klammert zu diesem Zweck die objektiven (verstanden als: subjektunabhangige) Verhaltnisse aus. Deren Analyse bedarf anderer Zugange, die die erkenntniskritische Sozialisationstheorie erganzen und eben nicht ersetzen konnen soil. Das Ziel der Arbeit ist also zu zeigen, dass Erkenntnis- und Sozialisationstheorie kompatibel gemacht werden konnen, und dass diese Kompatibilitat sich in den Sozialisationsdiskurs einfiigen lasst und dabei einen Beitrag zur sozialisationstheoretischen Fokussierung der je subjektiven Aktivitat zu leisten vermag.
17
I. Teil Die sozialisierte Vernunft
2. Die sozialisierte Vernunft
Der Terminus „sozialisierte Vernunft" ftigt sich nicht umstandslos in den Kontext der Sozialisationstheorie ein. Wenngleich diese zwar stets die Bedingungen und Verlaufe der personlichen Entwicklung auch nach ihrer kognitiven und moralischen Seite thematisiert hat, sperrt sich der vomehmlich philosophisch konnontierte Begriff der Vernunft gegen die Einbeziehung in eine vornehmlich empirisch ausgerichtete Disziplin. Im Gegenzug provoziert ein Begriff, der ideengeschichtlich umstritten und daher nicht eindeutig definiert worden ist, bei empirisch orientierten Forschem aufgrund seiner idealistischen Uberhohung und pradikativen Offenheit ein Unbehagen. Wenn hier dennoch an der Kopulation scheinbar entgegengesetzter Denktraditionen festgehalten werden soil, muss zuvor der Begriff der Vernunft kurz eingegrenzt und sein Bezug zur Sozialisation erlautert werden. Wie schon deutlich wurde, stelh sich die ,Kritik der sozialisierten Vernunft' bewusst in die Tradition der Vemunftkritik Immanuel Kants. Wahrend dieser mit dem Begriff der ,reinen Vernunft' das Erkenntnisvermogen und mit dem Begriff der ,praktischen Vernunft' die Moralbefahigung titulierte, bringt die ,sozialisierte Vernunft' insbesondere den Umstand zur Geltung, dass, entgegen Kants Apriorismus, Vernunft immer eine je individuelle Entwicklung voraussetzt. Diese ist jedoch nicht voraussetzungslos, so dass die kantianische Frage, wie Erkenntnis moglich ist, in die Frage, wie Entwicklung erklarbar ist, transformiert wird. Es geht um eine Vemunftkritik, die eruieren soil, wie sich die Entwicklung der Vernunft bestimmen lasst, wobei der Anschluss an die Transzendentalphilosophie zugleich den theoretischen Rahmen daftir mit der Erkenntnistheorie absteckt. Der Terminus ,sozialisierte Vernunft' ist also ein artifizielles Konstrukt, das die geplante Zusammenftihrung der beiden Diskurse der Sozialisationstheorie und der Erkenntnistheorie anzeigen soil. Wie noch zu zeigen sein wird, reagiert die Verwendung dieses theoretischen Rahmens dabei auf immanente Schwierigkeiten des handlungstheoretischen Sozialisationsverstandnisses. Eine inhaltliche Ausgestaltung des Begriffes der ,sozialisierten Vernunft', das heiBt die Konkretisierung dessen, was mit der Entwicklung der Vernunft gemeint ist, soil im Folgenden durch einen kurzen Abriss der Geschichte der Sozialisationstheorie entwickelt werden. Dabei wird es im Wesentlichen um drei Aspekte gehen: Zum einen sollen spezifische Fragestellungen der Sozialisationsforschung extrahiert werden, die eine genauere, inhaltliche Bestimmung der sozialisierten Vernunft ermoglichen sollen. Zum anderen soil das theoretische Selbstverstandnis der Sozialisationsforschung verdeutlicht und anschliefiend einer Kritik unterzogen werden. SchlieBlich soil die Skizze der Sozialisationstheorie an der ftir die vorliegende Arbeit bedeutsamen Pramisse einer zunehmenden Orientierung am Individuum ausgerichtet sein. Im Sinne dieser Aufgabenstellung wird auf eine Vollstandigkeit der Geschichte der Sozialisationsforschung genauso verzichtet, wie auf den Anspruch einer exegetischen und korrekten Interpretation der angefiihrten Autoren und Diskurse. Diese sollen vielmehr so angeeignet 21
werden, dass ihr Denken und Forschen einen Beitrag fur die anvisierten Aspekte zu leisten vermag. Die nahe gelegte Chronologie wird dabei nur lose eingehalten. Zwar geht es um eine sich historisch entwickelnde Zunahme in Bezug auf die Orientierung am Individuum, diese soil aber zugleich systematisch herausgestellt werden, so dass verschiedene Strange der Sozialisationsforschung und -theorie nicht zwingend in eine chronologische Abfolge gebracht werden mlissen.
2. /. Sozialisation als gesellschaftsintegrierende Erziehung: Emile Durkheim Thomas Hobbes steht einerseits ideengeschichtlich am Ausgangspunkt der Aufklarung und damit des modernen Denkens. Seine Riickflihrung der politischen Philosophie auf eine geometrische Methode und sein positivistisches Wissenschaftsverstandnis, dass Philosophie auf die Lehre von den Korpem, „von dessen Erzeugung und Eigenschaften wir Kenntnis haben" (Hobbes 1655/1967: 12), eingrenzt, formulieren den modernen Anspruch auf Exaktheit und Transparenz der Begriffe. Andererseits hat Thomas Hobbes mit seiner Lesart des Naturzustandes jene Krisensituation, aus der die Soziologie entstehen wird, metaphorisch und dramatisch uberspitzt vorweggenommen. Als ein Kind der Religionskriege seiner Zeit beschrieb er den Naturzustand als bellum omnium contra omnes, der durch eine utilitaristische Anthropologic theoretisch fundiert und angereichert wurde (Hobbes 1651/1992). Um dem Zustand standiger Gewaltbedrohung, der eine Akkumulation von individuellen und gesellschaftlichen Reichtum erschweren musste, zu entkommen, griff er auf die Hoffnung in eine praktische Klugheit der Subjekte, die aus Einsicht in den nutzenmaximierenden Vorteil auf ihre natiirlichen Freiheiten verzichten und auf das ordnungspolitische Instrument einer unkontrollierten Staatsraison zuriick. Wenngleich er damit normativ selbst hinter den machtstrategischen Blick eines Machiavelli zuriickfallt, der das republikanische Modell einer entpersonalisierten Herrschaft favorisiert hatte (Machiavelli 1531/1977; Mlinkler 1995), skizziert er doch jenes atomistische Gesellschaftsbild, das durch die revolutionare Uberwindung der kulturellen und politischen Grundlagen des ancien regime und einer zunehmend auf die Marktlogik umgestellten Wirtschaft mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts den krisenhaften Erfahrungshorizont der entstehenden Soziologie markiert. Zugleich wird seine Skepsis gegentiber spekulativen Moralien zur Grundlage fur ein politisches Gesellschaftsverstandnis, das sich mit einer interessegeleiteten Integration kulturell und okonomisch diversifizierter Individuen begniigt (Wimmer 1997). Wenngleich die Soziologie als Reaktion auf eine durch den Zerfall eines gemeinsamen Wertesystems drohende Regression in einen ,Naturzustand' entstand, schloss sie sich diesem geniigsamen Gesellschaftsverstandnis nicht an. Auguste Comte (1844/1994), der die positivistischen Ansatze Thomas Hobbes' aufgenommen und in ein methodisches Programm ubersetzt hat, verband mit seiner „positiven Philosophie" die Hoffnung auf eine neue moralisch-ethische Integration der Gesellschaft. Er begriindete diese zum einen durch die forschungsstrategische Ausrichtung seines Ansatzes auf die Menschheit als Ganze, im Gegensatz zur Orientierung am Individuum, und durch sein theoretisch-systematisches Paradigma, das die fiir die Gesellschaftsintegration entscheidenden Begriffe der Ordnung und des Fortschritts zentrierte. Zum anderen begriindete er die Hoffnung mit dem Hinweis 22
auf die industriegesellschaftlichen Grundlagen seiner Zeit, die eine soziale Integration durch theologische oder metaphysische Systeme nicht mehr angemessen erschienen lieBen. Die Industriegesellschaft bediirfe einer moralischen Idee, die dem rationalen Wissenschafts- und Wirtschaftsverstandnis entspreche, Eine solche Idee wiirde der „Geist des Positivismus" verwirklichen, der durch eindeutige Verifizierbarkeit wissenschaftHcher Forschungsergebnisse rationale Transparenz und damit intersubjektive bzw. gesellschaftliche Ubereinstimmung ermogliche (vgl. auch Neurath 1979). Emile Durkheim nun fiihrt dieses Programm weiter (Konig 1978, 1998: 177ff.). Auch er geht von der Notwendigkeit einer normativen Integration der Gesellschaft aus und auch er bedient sich einer positivistisch-objektivistischen Methode. „Wissenschaft hieB ihm beobachten, vergleichen, klassifizieren; nur was derart verfiihr, beanspruchte er gelten zu lassen." (Adomo 1998a: 246) Entgegen Comte hat er dabei jedoch ein wesentlich umfangreicheres und elaborierteres Oeuvre vorgelegt. Bereits in seiner Dissertationsschrift reflektiert Durkheim (1893/1992) das Bild der modernen, krisenhaften Gesellschaft seiner Zeit und stellt dieses in einen modemisierungstheoretischen Rahmen. Mit seinem thematischen Fokus, der sozialen Arbeitsteilung, zielt er auf die strukturellen Ursachen der zunehmenden Diversifizierung und Atomisierung der Gesellschaft. Zugleich erhartet er die These von der notwendigen normativen Integration der Gesellschaft durch seine Kontrastierung der arbeitsteiligen Modeme mit archaischen Gesellschaftsformen, die durch die Autoritat des Sakralen zusammengehalten wurden. „Da die archaische Gesellschaft Vorbild und Modell einer moralisch integrierten Gemeinschaft ist, bekommt seine [Emile Durkheim, R.B.] Vorstellung von modemer Gesellschaft einen archaischen Grundzug: Auch moderne Gesellschaften miissen moralisch integriert werden und das setzt die Existenz eines gemeinsamen Wertesystems voraus." (Mtiller 1992: 52) Die Skizze des Formwandels gesellschaftlicher Integration wird unter dieser Perspektive zum gesellschaftstheoretischen Hintergrund Emile Durkheims. Die anarchische Form der Solidaritat bezeichnet Durkheim in Anlehnung an die Kohasion der Elemente fester Korper als mechanische Solidaritat oder als Solidaritat aus Ahnlichkeit. Das soziale Leben dieser Gesellschaften wird bestimmt durch religiose und magische Traditionen, die die Form eines Kollektivbewusstseins und damit einen zwingenden Charakter annehmen. Die Arbeitsteilung dagegen inauguriert nicht nur eine Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Effektivitat, sondern auch einen Prozess der Sakularisierung vormals religioser Weltbilder, der auf der Seite des Individuums einen Freiheitsgewinn bedeutet, auf der Seite der Gesellschaft jedoch neue Formen der Solidaritat zur Verfiigung stellen muss. Die organische Solidaritat, die an die Stelle der mechanischen tritt, tragt sowohl den sozialen und kulturellen Differenzen der Individuen Rechnung und schafft zugleich eine soziale Ordnung durch eine objektive funktionale Interdependenz. Es braucht hier nicht zu interessieren, dass Durkheim in seinem spateren Werk dieses Modell der gesellschaftlichen Integration durch ein Pladoyer fiir eine Rehabilitierung der Berufsmoral, die die FlUchtigkeit okonomisch codierter Sozialkontakte uberwinden soil, flankiert (Durkheim 1991). Entscheidend ist, dass Durkheim mit seiner Arbeit uber soziale Arbeitsteilung den Problemhorizont und das gesellschaftstheoretische Verstandnis seiner weiteren wissenschaftlichen Tatigkeit entwirft. Er nimmt die politischen und sozialen Krisen des 19. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt einer soziologischen Forschung, die durch eine Erklarung der Ursa23
chen einen Beitrag zur Uberwindung der Krisen leisten soil. Er flihrt die Ursachen auf strukturelle Veranderungen zuruck, die im Besonderen, aber nicht ausschlieBlich, im Bereich der Okonomie zu suchen sind. So wie zuvor Marx (1844/1990) an der Arbeitsteilung die Entfremdung des Einzelnen von sich selbst und von der Gattung Mensch abgelesen hatte, diagnostiziert auch Durkheim, dass die Arbeitsteilung einen moralischen Nachholbedarf instruiert. Anders als Marx propagiert er jedoch nicht die revolutionare Uberwindung der wirtschaftlichen Verhaltnisse, sondern sucht nach Moglichkeiten an dem Modell einer normativ integrierten Gesellschaft auf der Basis des Status Quo festzuhalten. Dazu greift er auf Formen der Solidaritat zuriick, die durch den objektiven Status eines Kollektivbewusstseins und der Prioritat des Sozialen gegeniiber dem Individuum charakterisiert sind. Dieses Verstandnis einer Gesellschaft, die als objektive und emergente Entitat tiber das Individuum hinausgeht, fmdet sich bei Durkheim dann sowohl in seiner Studie tiber den Selbstmord, in der er diesen, von abweichenden Fallen abgesehen, entweder aus einer Entfremdung zur Gesellschaft (egoistischer und anomischer Selbstmord) oder einer zu starken Dominanz der Gesellschaft (altruistischer Selbstmord) erklart (Durkheim 1897/1997), als auch in seiner Religionssoziologie, die den Ursprung der religiosen Verehrung auf die Allmacht der Gesellschaft gegeniiber dem Einzelnen zuriickftihrt (Durkheim 1912/1998), wieder. Sein Gesellschaftsbegriff ist dabei eng mit seiner Methodik verwoben. Er vergleicht das Verhaltnis von Individuum und Gesellschaft mit dem Verhaltnis von Geist bzw. Bewusstsein und Physis. Er postuliert, dass eine physikalische Reduktion von Bewusstsein dieses nicht erklaren kann, da bei einer Fundierung in reinen Nervenreflexen das Bewusstsein nicht auf Dauer gestellt werden konnte. Ahnlich wie die Psyche uber ihr organisches Substrat hinausgeht, geht nun ftir Durkheim auch die Gesellschaft tiber das Individuum hinaus. Dies bedeutet nicht, dass das Individuum keinen Anteil an der Gesellschaft hatte, oder eine Gesellschaft ohne Individuen denkbar ware. „Zweifellos hat jeder Einzelne an der Erarbeitung des gemeinsamen Ergebnisses teil; doch die privaten Gefuhle werden erst dann zu sozialen, wenn sie sich unter dem Einfluss der besonderen Krafte vereinigen, welche die Assoziation entwickelt; aufgrund dieser Vereinigung und der daraus resultierenden wechselseitigen Veranderung werden sie etwas anderes." (Durkheim 1898/1976: 73) Dies bedeutet jedoch, dass das Individuum als Subjekt oder Person nicht ohne die Gesellschaft denkbar ist. Durkheim wird nicht mude, darauf hinzuweisen, dass der Einzelne erst dann zu einem freien Kulturwesen werden kann, wenn er sich in ein Kollektiv einftigt. Diese objektive und emergente Stellung der Gesellschaft ermoglicht Durkheim seine positivistische Methode. In seinen „Les regies de la methode sociologique" (Durkheim 1895/1991) bemtiht er sich um eine Grundlegung der Soziologie mit naturwissenschaftlichen Mitteln. Zu diesem Zweck ftihrt er den Begriff des „fait social" ein, der den Dingcharakter der Untersuchungsgegenstande der Naturwissenschaften sozialwissenschaftlich iibersetzen konnen soil und der eben durch jenen objektivierten Status der Gesellschaft zur angemessenen und moglichen Methode wird. Er defmiert diesen Begriff als eine festgelegte Art des Handelns, die einen iiberindividuellen und zwanghaften Charakter hat. Inhaltlich bezieht der Begriff sich damit auf positives Recht, Sitten oder informelle Regeln. Diese Anbindung an die empirischen Naturwissenschaften, die Adomo (1998b) spater unter den Verdacht der Affirmation stellen wird, intendiert bei Durkheim eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft. Die Riickfiihrung sozialer Phanomene auf einen 24
Dingcharakter, soil die spekulativen Erklarungen insbesondere der Philosophie iiberwinden und durch einen direkten Zugriff auf die soziale Wirklichkeit substituieren. Entsprechend fordert er, dass im Sinne der Objektivitat der Sozialwissenschaft, diese nicht die Ideen, sondem eben die „fait social" untersuchen und dazu vorwissenschaftliche und ideologische Begriffe ausschalten muss. Die „fait social" sind als statische zu wahlen und eindeutig zu definieren, wobei die Definition nicht als Erklarung, sondem als hypothesengenerierender Ausgangspunkt der Untersuchung gilt. Wie noch zu zeigen sein wird, lassen sich begriindet skeptische Einwande gegen den Versuch einer Objektivierung der Erkenntnisse der Sozialwissenschaften gerade aus der von Durkheim kritisierten spekulativen Philosophie anfuhren. Und auch der deutsche Begriinder der Soziologie, Max Weber (1904/1988), gestand bereits ein, dass eine absolute Objektivitat sozialwissenschaftlicher Forschung nicht umstandslos zu haben ist. Der Starke Objektivismus, der sich bei Durkheim soziologisch in dem Begriff des Kollektivbewusstseins, den er seiner Beschreibung anarchischer Gesellschaften entlehnt, konkretisiert, schlieBt den Umstand eines modemen Individualisierungsprozesses nicht aus. Herman Coenen (1985: 58ff.) hat allerdings darauf hingewiesen, dass Durkheim bei der Bestimmung des Individualismus widerspriichlich verfahrt. Zum einen fuhrt er, etwa in seiner Studie Uber soziale Arbeitsteilung, Individualitat auf eine Auflosung des Kollektivbewusstseins zuriick. Zum anderen erklart er den Individualisierungsprozess aus inhaltlichen Veranderungen des Kollektivbewusstseins selbst, die das Individuum zur ethisch-moralischen Norm werden lassen. Ungeachtet dieser Differenz kann jedoch konstatiert werden, dass Durkheim durchaus den modemen Individualismus reflektiert. Dies zwar nicht als politisches oder moralisches Motiv, sondem als „fait social". Ftir die Erziehungssoziologie Durkheims (1922/1972, 1995) ist dies von entscheidender Bedeutung. Denn: Der Fokus der Gesellschaftsintegration lasst zunachst vermuten, Durkheim begniige sich mit einer Erziehung, die einen klaren Kanon moralischer Werte beinhaltet. Seine Berlicksichtigung der Individualitat und sein Wissen um die Moglichkeit gesellschaftlicher Veranderungen jedoch machte ihn zu einem Verfechter einer formalen Bildung, die sensibel flir differente Wege der Entwicklung und sich verandemde moralische Normen ist. „Wie viele groBe Padagogen verlangt Durkheim das, was man mit einem barbarischen Ausdruck formelle Kultur nennt: den Geist bilden, nicht anfullen." (Fauconnet 1995: 25) Die Erziehungssoziologie ist nun der Teil des durkheimschen Oeuvres, der explizit als Sozialisationstheorie gelesen werden kann. Dabei ist zu beachten, dass Durkheim noch nicht uber einen breiten Begriff der Sozialisation verfiigte, sondern die Entwicklung bzw. Integration des Einzelnen in die Gesellschaft vomehmlich als eine Aufgabe der Erziehung ansah. Zwar spielt die Familie eine gewichtige Rolle bei dieser Aufgabe, den bedeutenderen Beitrag leistet fur Durkheim jedoch die Schule, so dass Sozialisation und (Schul-)Erziehung wesentlich zusammenfallen. Der Schule kommt deshalb eine bedeutende Stellung in der Erziehung zu, weil sie als staatliche Institution direkt die Belange der Gesellschaft vermitteln kann. Durkheim betont ausdriicklich, dass die Erziehung das Ziel habe, den Einzelnen gemafi den Erfordemissen der Gesellschaft zu ,formen'. Dies ist vor allem deswegen die allgemeine Intention der Erziehung, da der Einzelne fur Durkheim, anders als die antike Philosophie angenommen hatte, nicht a priori ein soziales Wesen ist. Dieses wird der Einzelne erst durch eine Erzie25
hung, die ein soziales und moralisches Leben ermoglicht. Dieses Erziehungsideal zu formulieren ist die Aufgabe der Soziologie, die die diesem Ziel inharenten Elemente der Moralitat bestimmt. Das erste Element der Moralitat ist fur Durkheim der ,Geist der Disziplin'. Dieser soil eine pathologische Zugellosigkeit der Neigungen und Leidenschaften begrenzen. Dies allerdings nicht nur im Sinne der Ermoglichung eines gewaltfreien sozialen Lebens, sondem auch als Nutzen fiir den Einzelnen. Wohl nicht zufallig nimmt er die anthropologische Bestimmung des ebenfalls gesellschaftsobjektivistisch argumentierenden Rousseaus auf, nach der gilt: „Der Trieb der bloBen Begierde ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat, ist Freiheit." (Rousseau 1762/1988: 53) Unter dieser Perspektive verliert die Disziplin ihren willkiirlichen Zwangscharakter und avanciert zu einem flir den Einzelnen hilfreichen und notigen Korsett, dass ihn vor sich selber bzw. seinen Leidenschaften und damit vor einer emotionalen Ohnmacht bewahrt und die Moglichkeit eroffnet, eine Personlichkeit auszubilden. Das zweite Element der Moralitat ist der ,Anschluss an die sozialen Gruppen'. Dieses Element weist auf den Umstand hin, dass Moralitat als Referenz nicht das Individuum hat, sondem Kollektive. Diese sind fur Durkheim vor allem die Familie, das Vaterland und die Menschheit als Ganze, wobei diese ihrerseits spezifischen Phasen der individuellen Entwicklung zugeordnet werden konnen. Aus dem Referenzstatus folgt fur Durkheim im Umkehrschluss, dass das Kollektiv bzw. die Gesellschaft sowohl eine moralische Autoritat darstellt als auch die Autorenrolle der Moral ubemimmt. Das dritte und letzte Element der Moralitat ist die ,Autonomic des Willens'. Mit diesem Element verbindet Durkheim nicht, wie die Begriffswahl nahe legt, eine philosophischtranszendentale Bestimmung kognitiver und moralischer Moglichkeiten. Explizit versteht er die Willensautonomie als eine historische und reale Entwicklung, also als „fait social". Entsprechend bezieht sich der Begriff der Autonomic nicht auf eine Unbeschranktheit des Willens, sondern wird bestimmt als Einsicht in die Notwendigkeit. „Wir sind weiter begrenzt, weil wir endliche Wesen sind; in einem Sinne sind wir der Regel gegenuber, die uns befiehlt, noch passiv. Nur wird diese Passivitat zu gleicher Zeit Aktivitat durch den aktiven Anteil, den wir daran haben, dass wir sie freiwillig wollen; und wir wollen sie, weil wir ihren Sinn kennen." (Durkheim 1995: 163) Gesamtgesellschaftlich verortet Durkheim die Fahigkeit zur Einsicht in die Regeln im Wissenschaftssystem, das die Vermittlung des notigen Wissens bereitstellt. Die scheinbare Ambivalenz des ersten Elements der Moralitat mit dem Begriff der Autonomic wird durch ein derartiges Autonomieverstandnis aufgelost. Durkheim schlieBt eine (gemafiigte) Opposition gegen bestehende Moralregeln nicht aus, begriindet diese allerdings nicht normativ mit einem Riickgriff etwa auf natur- oder vernunftrechtliche Annahmen, sondem durch den utilitaristisch anmutenden Verweis auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veranderungen, die durch ein dogmatisches Festhalten an tradierten Normen unmoglich wiirden. Der Schulerziehung kommt nun die Aufgabe zu, diese Elemente bei den Kindem auszubilden und sie so einerseits zu einer Personlichkeit werden zu lassen, andererseits sie auf eine gesellschaftlich notwendige Moral bzw. das Kollektivbewusstsein zu verpflichten. Zwar gibt er Hinweise, wie eine solche Erziehung praktisch umgesetzt werden miisste, liberlasst eine genauere Konkretisierung jedoch der Padagogik und der Psychologic. 26
Mit seinen Arbeiten zur Erziehungssoziologie steht Durkheim nicht nur am Anfang der Soziologie iiberhaupt, sondem kann auch als Ausgangspunkt der Sozialisationstheorie gelesen werden. Im Zusammenspiel seiner Zeitdiagnose, seines Gesellschaftsverstandnisses und seiner Methodik entfaltet er das Paradigma einer strukturfunktionalistischen Sozialisation, die in der besonderen Form einer gesteuerten und zielorientierten Erziehung zu einer Integration der krisenhaften Gesellschaft seiner Zeit beitragen soil. Wenngleich er dabei einen modernen Individualismus nicht vollig ausschliefit, bleibt die Stellung des Individuums gegenuber der Gesellschaft in den Schriften Durkheims der Tendenz nach eine subordinare. Sein eigentlicher Fokus blieb grundsatzlich die Gesellschaft, als eine emergente und subjektunabhangige Struktur, die auf Individuen angewiesen ist, die sich einer kollektiv geteilten Moral anschlieBen. Entsprechend gilt ihm die individuelle Autonomic nicht als normatives Ideal, sondem als eine historische Entwicklung, mit der die Sozialwissenschaften und die Gesellschaft zu rechnen haben und die im Sinne der Gesellschaftsstabilisierung kontrolliert werden muss. Sein Autonomieverstandnis spiegelt die gesellschaftszentrierte Grundhaltung Durkheims theoretisch wider. Eine Autonomiebestimmung, die immer schon auf moralische Notwendigkeiten bezogen wird, fallt hinter eine Autonomiebestimmung, die, wie etwa bei Kant, subjektintem operiert, zuriick und bindet den Einzelnen gleichsam a priori an die auBere Kontrolle durch Strukturen und Normen. Polemisch lieBe sich einwenden: Durkheim ftirchtet das Subjekt als eine standige Quelle der Subversion, die aus real- und stabilitatspolitischen Motiven zum Versiegen gebracht werden muss. Trotz dieser Einwande gilt jedoch: Durkheim legt nicht nur den Grundstein fiir die Sozialisationstheorie, er kennt auch bereits das Individuum, das sich spatestens in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts zunehmend als theoretischer und methodischer Fixpunkt der Sozialisationstheorie etablieren wird.
2.2. Sozialisation als intersubjektiver Prozess: George Herbert Mead George Herbert Mead ist einerseits ein Zeitgenosse von Emile Durkheim. Andererseits trennt nicht nur der geographische Ort ihres Wirkens diese beiden Klassiker der Soziologie. In einem theoretischen Vergleich stellt Meads symbolischer Interaktionismus gegenuber Durkheims Strukturftanktionalismus eine ideengeschichtliche Innovation dar, die insbesondere von der Sozialisationstheorie zu ihrem theoretischen Selbstverstandnis adaptiert wird. Mead setzt nicht nur starke Impulse ftir eine Revision des Verstandnisses eines der Gesellschaft subordinierten Individuums. Er begrlindet eine handlungstheoretische Sicht auf das Individuum, die dieses grundsatzlich in einem Geflecht sozialer Interaktionen zu lokalisieren vermag. Ihm gelingt damit nicht nur, eine altemative Moglichkeit aufzuzeigen, den immanenten Problemen der aufklarerischen Erkenntnistheorie zu entkommen (Beer 2004a; siehe Teil II). Aufgrund seiner pragmatistischen Anbindung und einer Subjekttheorie, die die kantische Differenz von transzendentalem und empirischem Ich weitertreibt, siedelt er das Subjekt auf gleicher Augenhohe mit seiner sozialen Umwelt an, Zwar hatte auch Durkheim nicht ausgeschlossen, dass das Individuum auf seine Umwelt zuriick wirkt. Bei Mead wird dieser doppelte Prozess eines handlungstheoretischen Austausches mit einer gegensei-
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tigen Gestaltungs- und Einflussmoglichkeit zum wissenschaftlichen und politischen Programm. Letzteres verdeutlicht am anschaulichsten den entscheidenden Unterschied zwischen Durkheim und Mead. Wahrend Durkheim vor dem Hintergrund zerrtitteter europaischer Verhaltnisse letztlich auf eine konservativ-ordnungspolitische Losung der sozialen und politischen Krise drangt, arbeitet Mead im Angesicht der amerikanischen Industrialisierung und ihrer sozialen Folgekosten. Entsprechend interessiert er sich nicht so sehr fur das Programm einer Gesellschaftsintegration, sondem fur jene soziale Frage, die mit der Industrialisierung aktuell wird. Mead reagiert darauf mit einem Moralverstandnis, das Moralitat weder als dem Subjekt auBerliche Entitat wie bei Durkheim, noch als voluntaristische Entwicklung aus dem Individuum, sondern als Ergebnis eines reziproken Prozesses zwischen Individuum und Gesellschaft konzipiert, so dass Widerstand gegen segmentierte Moralien nicht nur eine mogliche Option, sondem der Motor von moralischem Fortschritt wird (Mead 1908/1987). Daraus abgeleitet ist seine genuin politische Antwort auf die soziale Frage nicht eine ordnungspolitische, sondem das Modell einer radikalen Demokratie, die in intersubjektiven Kommunikationsprozessen ihre normative und organisatorische Fundierung flndet. Dieses Modell wird dabei in zweifacher Ausrichtung bedeutsam: „Es geht ihm um die Herausbildung jener gesellschaftlichen Bedingungen, in denen erst alien Menschen Identitatsbildung bis zu den hochsten Stufen moralischer Entscheidungsfahigkeit moglich wird und um die standige Veranderung aller Institutionen zur Beseitigung aller Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen." (Joas 1989: 136) Dieses politische Programm ist zum einen ein Schltissel zum Verstandnis des intersubjektivistischen Paradigmas Meads und zum anderen die konsequente Ubertragung dieses Paradigmas auf den Kontext der politischen Philosophic und realer politischer Auseinandersetzungen. Begonnen hatte Mead seine intellektuelle Entwicklung mit einer sozialpsychologischen Interpretation der funktionalen Psychologic (Mead 1903/1987). Er weist einen psychophysischen Parallelismus zuriick und erklart die Psyche als funktional bezogen auf Handlungsund Entscheidungskrisen. Diese Hinwendung zu einer mit dem Handlungsbegriff verwobenen Psychologic bildet die Basis fiir die Intersubjektivitatstheorie, die ab 1909 in einer Aufsatzserie entfaltet werden wird und die unter dem Label „Symbolischer Interaktionismus" in die Ideengeschichte eingegangen ist. Die einzelnen Aufsatze, die zu dem Modell des symbolischen Interaktionismus zusammengezogen werden konnen, stellen dabei keineswegs eine systematische und zielgerichtete Ausarbeitung eines wissenschaftlichen Konzeptes dar. Vielmehr setzt sich Mead vornehmlich mit diversen Themen und zahlreichen Wissenschaftlern auseinander. Entsprechend soil im Folgenden eine nachholende Systematisiemng im Sinne der Aufgabenstellung dieses Teiles die Aufsatze unter dem Aspekt der Handlungs- und Intersubjektivitatstheorie skizzieren. Dazu sollen die Aufsatze erst kurz referiert werden, um anschlicBend eine zusammenflihrende Darstellung geben zu konnen. Der sozialpsychologische Zugriff auf das Individuum, der dieses grundsatzlich aus seiner sozialen Anbindung zu verstehen sucht, wird in seinem Aufsatz „Sozialpsychologie als Gegenstand der physiologischen Psychologic" (Mead 1909/1987) unter anderem aus der Kritik einer rein behavioristischen Nachahmungstheorie hergeleitet. Nachahmung, so Mead, ist nicht zu verstehen durch die Annahme, dass Handlungen eines Individuums ein anderes Individuum derart reizen konnten, diese Handlungen zu imitieren. Dies setze ein 28
bereits konstituiertes soziales Bewusstsein voraus, das der Reizhandlung einen Bedeutungsgehalt zuschreibt, so dass iiberhaupt eine Nachahmung im engeren Sinne stattfinden kann. Bedeutungen allerdings, so die zweite These des Aufsatzes, resultieren ihrerseits ebenfalls erst aus sozialen Interaktionen. Diese und damit den Prozess der Konstitution des sozialen Bewusstseins stellt sich Mead sozialbehavioristisch als eine Wechselseitigkeit von Reizhandlung und Reaktion, die wiederum eine Reizhandlung ist, vor. Reizhandlungen sind fur ihn dabei bereits Gebarden. Die Fahigkeit auf einen solchen sozialen Reiz zu reagieren, also eine soziale Wechselseitig zu erzeugen, wurzelt in sozialen Instinkten, die Mead gleichsam als Ursprung von Sozialitat begreift. Nachahmung und Bedeutungszuschreibungen sitzen somit intersubjektiven Austauschprozessen auf, die zu einer konstituierenden Bedingung werden. Die Fragestellung nach der Konstitution von Bedeutungen fuhrt Mead in seinem Folgeaufsatz „Soziales Bewusstsein und das Bewusstsein von Bedeutungen" (Mead 1910/1987a) fort. Dabei detailliert er den Begriff der Gebarde als ursprungliche Form sozialen Verhaltens, indem er Gebarden die Funktion abspricht, Emotionen auszudriicken und im Gegenzug ihre Funktion aus der reziproken Anpassung von sozialem Reiz und sozialer Reaktion, also der gegenseitigen Anpassung von agierenden Subjekten, erklart. Seine These, dass Bedeutungen genau aus diesem Wechselverhaltnis entstehen, bestatigt er und erweitert sie zusatzlich dadurch, dass er die Entstehung von Bedeutungen an Konfliktsituationen riickbindet (vgl. dazu Schiitz/Luckmann 1994). Er beschrankt die Moglichkeiten der Entwicklung eines Bewusstseins von Bedeutungen durch routinisierte Handlungen und durch individuelle, intrapsychische Konflikte, die allenfalls zu genaueren Bestimmungen eines Reizes fiihren konnen. Dagegen starkt er seine These von der Notwendigkeit sozialer Interaktionen fur die Entwicklung eines Bewusstseins von Bedeutungen, wenn er dieses in intersubjektiven Konfliktsituationen verortet. „In diesen sozialen Situationen treten nicht nur miteinander in Konflikt liegende Handlungen auf, die eine verscharfte Definition der Reizelemente erfordem, sondern auch ein Bewusstsein der eigenen Haltung als einer Interpretation der Bedeutung eines sozialen Reizes." (Ebd.: 219) Mead verweist damit auf den nahe liegenden Umstand, dass Bedeutungen Iiberhaupt erst Sinn im Kontext von Sozialitat machen, diese dann aber im Umkehrschluss als Bedingung ftir die Entstehung von Bedeutungszuschreibungen verantwortlich zu machen ist. Im gleichen Jahr erscheint der Vortrag „Welche Objekte muss die Psychologic voraussetzen?" (Mead 1910/1987b), in dem Mead das gleiche Programm auf das Thema der IchIdentitat anwendet. Er behandelt damit nicht nur eine der zentralen Fragestellungen der Bewusstseinsphilosophie und ruckt die Stellung der Individualitat in das Zentrum sozialwissenschaftlicher Forschung. Mit seiner intersubjektivistischen Reformulierung dieses Themas bietet er eine attraktive Moglichkeit, Ich-Identitat jenseits des von David Hume explizierten Problemhorizontes einer monadischen Erkenntnis- und Subjekttheorie (siehe Kap. 4.5.) zu erklaren. Wiederum setzt Mead mit seiner Gebardentheorie an, nach der reflexives Bewusstsein erst aus der Interpretation der je eigenen Handlungen, verstanden als Reaktion auf alter ego, entsteht. Dieses Bewusstsein von Bedeutungen, so Mead, schlieBt aber das Bewusstsein von der Identitat Anderer ein, so dass deren Identitat der je eigenen Identitat voraus geht. Andersherum formuliert: Ich-Identitat entwickelt sich aus sozialen Interaktionen bzw. aus wechselseitigen und aufeinander bezogenen Handlungen im Rah29
men von Sozialitat. Theorielogisch ergibt sich damit eine Entwicklung von der Intersubjektivitat zu einem Bewusstsein von Bedeutungen, das ein Bewusstsein von der Identitat anderer einschlieBt, und schlieBHch zur Ich-Identitat. Die erkenntnistheoretische Konsequenz dieses Untemehmens ist, dass auch eine reflexive Objekterfahrung von der vorherigen Anerkennung der Identitat von Anderen, das heiBt der Intersubjektivitat, abhangig ist. Bislang verblieb die Darstellung der sozialen Interaktion auf der Ebene einer bloBen Konstatierung der Wechselwirkung von sozialem Reiz und Reaktion. Elaborierter steUt sich die soziale Interaktion in dem Aufsatz „Der Mechanismus des sozialen BewuBtseins" (Mead 1912/1987) dar, in dem Mead diese mit einer Theorie der Selbstaffizierung erganzt. Danach ist die eigene Handlung als Reaktion auf einen sozialen Reiz zugleich auch als Selbstreiz fiir ego zu verstehen. Am Beispiel der Sprache bzw. von Lautgebarden illustriert Mead diesen Gedanken. Das Kind hort sich sprechen und affiziert sich damit selbst. Dies ist jedoch nicht als monadischer und prasozialer Akt zu begreifen. In Meads „Konzeption der Selbstaffektion verbindet sich die Reaktion von alter mit der AuBerung von ego. Die Reihenfolge ist wichtig: Der Selbstaffektion in der AuBerung der Lautgebarde wird durch die Reaktion von alter erst Bedeutung gegeben - und nicht etwa umgekehrt." (Wenzel 1990: 71) Eine Selbstaffizierung bzw. Selbstobjektivierung gelingt erst, wenn das Kind aus seinem Bezug zu Anderen eine Identitat entwickelt hat, auf die die Affizierung wirken kann. Dieser Doppelung von affizierendem und affiziertem Ich liegt die Unterscheidung von ,,1" and „Me" zugrunde, mit der Mead die kantische Differenz von transzendentalem und empirischem Subjekt weiterfuhrt. Aus dem Umstand, das ego sich selbst und Andere reizen und auf diese Reize reagieren kann, resultiert das „Me" als einem sozialen Objekt, auf das als empirisches Ich subjektive Erfahrungen und soziale Erwartungen bezogen werden konnen. Jenseits der Zugriffsmoglichkeit des empirischen Subjekts liegt das ,,1" als Prinzip der Spontaneitat und Kreativitat. Wahrend das „Me" die real wirkende Ich-Identitat bezeichnet, meint das ,,1" die unbewussten und triebhaften Neigungen des Subjektes, die nicht in den Blick eines reflexiven Bewusstseins geraten. Illustrieren lasst sich dies in den Worten der politischen Philosophic. Dann bezeichnet das „Me" die offentliche Rechtsperson, die sich auf das Verhalten Anderer einstelh und auf die das eigene und das Verhalten Anderer bezogen werden kann, und das ,1' das privatbiirgerliche Subjekt, das sich dem kontrollierendem Zugriff der Offentlichkeit (und bei Mead auch dem bewussten Ich selbst) entzieht. Und so wie das privatbiirgerliche Subjekt ohne die offentliche Rechtsperson nicht denkbar ist, ist eine Selbstaffizierung erst moglich, wenn ein „Me" konstituiert ist, das als soziales Objekt affiziert werden kann. Ich-Identitat, so fasst Mead (1912/1987) seine Uberlegungen zusammen, ist dann die Hereinnahme der sozialen Organisation der AuBenwelt. Diesen Gedanken mit einer starkeren Pointierung der Introspektionstheorie und einer Verbindung mit seiner konfliktabhangigen Entwicklungstheorie baut Mead in seinem letzten Aufsatz der flir den symbolischen Interaktionismus entscheidenden Aufsatzreihe „Die soziale Identitat" (Mead 1913/1987) aus. Er verdeutlicht nochmals das Verhaltnis von ,,1" und „Me" als ein Verhaltnis eines Affizierenden zu einem Affizierten und schreibt beiden jene unterschiedlichen Formen von Identitat als triebhafte Neigung und sozialem Objekt zu. Letztere wird zu einer reflexiven Identitat durch den Mechanismus der Introspektion, den Mead als Prozess des Denkens auf der Grundlage intersubjektiv geteilter Symbole als ein intrapsychisches Gesprach (mit anderen) bestimmt. Wenngleich der Begriff der Introspek30
tion als Versuch der empiristischen Philosophie Ich-Identitat zu erklaren, einen monadischen Akt impliziert, wird er also von Mead intersubjektivistisch angeeignet. Damit kann er den Begriff der Rolle einflihren, der darauf hinweist, dass in dem Prozess der Introspektion die verschiedenen Rollen der Mitglieder einer Sozialitat eingenommen werden konnen, um fiir ein intrapsychisches Gesprach hypothetisch Argumente und Handlungen anderer zu simulieren. Weiterentwicklungen einer solchen sozialen Ich-Identitat erfolgen aufgrund teilweiser Desintegration durch soziale Konflikte, die eine neue Identitat, die veranderten sozialen Verhaltnissen angemessen ist, provozieren. Weiterentwicklungen resultieren nach Mead aber auch aus einer Verbreiterung der Rollenperspektive. Die Differenzierung von ,play' und ,game', die dieser These zugrunde liegt, kann als ein genuiner Beitrag Meads zu einer Theorie der Personlichkeitsentwicklung gelesen werden. Im als ,play' bezeichneten einfachen Kinderspiel tibemimmt das Kind die Rollen von Anderen, etwa als Polizist oder Verkauferin. Wenn sich dies anfangs noch als spielerische Symbolisierung von Personen darstellt, gewinnt das Kind zunehmend die Kontrolle iiber diese Personen und gelangt so zu einer kontrollierten Entwicklung der eigenen Personlichkeit. Die monadische Eingeschlossenheit des Kinderspiels wird durch den Mannschaftswettkampf (game) iiberwunden. Hier erweitert sich die Ubemahme von zunachst je einer Rolle auf die Ubemahme der Rolle aller Beteiligten. Der Einzelne muss sich in Bezug zu sowohl seinen Mitspielem als auch zu den Spielern der gegnerischen Mannschaft (generalized other) setzen und seine Aktionen auf deren Verhalten abstimmen, um erfolgreich zu sein. Dieses Hereinholen und Ausrichten an gesellschaftlichen Handlungsbeziigen in den je eigenen Erfahrungsbereich ist fur Mead die Voraussetzung flir eine umfassende Entwicklung der Identitat. „Nur insoweit er die Haltungen der organisierten gesellschaftlichen Gruppe, zu der er gehort, gegeniiber der organisierten, auf Zusammenarbeit beruhenden gesellschaftlichen Tatigkeiten, mit denen sich diese Gruppe befasst, annimmt, kann er eine vollstandige Identitat entwickeln und die, die er entwickelt hat, besitzen." (Mead 1995: 197) Trotz dieses Hinweises auf eine Beschreibung der Personlichkeitsentwicklung durch die Ubemahme immer diversifizierterer Rollen hat Mead keinen eigenstandigen elaborierten Beitrag zu einer genuinen Sozialisations- oder Erziehungstheorie gegeben. Das Konzept des symbolischen Interaktionismus, das nach der Skizze der relevanten Aufsatze nunmehr systematisch in Bezug auf einen Abriss der Geschichte der Sozialisationsforschung umrissen werden kann, ist jedoch als Grundlegung einer intersubjektivistischen Handlungstheorie zugleich auch eine Grundlegung der vomehmlich auf der Handlungstheorie basierenden Sozialisationstheorie. Dabei interessiert nicht so sehr die detaillierte, sozialbehavioristische Ausgestaltung, die Mead der Handlungstheorie gibt. Relevant ist die Uberwindung der theoretischen Orientierung an einem monadischen Subjekt, wie sie vor Mead im Deutschen Idealismus ihren Hohepunkt gefunden hatte. Zwar hatte zuvor Marx eindringlich darauf hingewiesen, dass das Subjekt bzw. das Bewusstsein immer ein gesellschaftlich vermitteltes ist. Er konzentriert sich jedoch tendenziell eher auf die Auseinandersetzung mit der dinghaften Natur als Paradigma der Austauschtheorie (Marx/Engels 1845/1990). Er verfehlt damit die von Mead in den Blick genommene Ebene eines intersubjektiven Austausches und verharrt letztlich in einem monadischen Subjektbegriff. Mead dagegen radikalisiert den Gedanken der gesellschaftlichen Vermitteltheit von Subjektivitat und Ich-Identitat, indem 31
er das Subjekt immer schon in einem sozialen, intersubjektiven Beziehungsverhaltnis erblickt. Der Vorteil dieses Unternehmens liegt darin, berticksichtigen zu konnen, dass ein anderes Subjekt als Referenz flir die eigene Subjektivitat nicht passiv ist, sondem seinerseits aktiv in den Austauschprozess eingreift. Unabgangig davon, dass eine aus diesem Modell abgeleitete Moralphilosophie direkter auf soziale Beziehungsmuster zugeschnitten werden kann (etwa Habermas 1983, 1991), erlaubt diese Beriicksichtung einerseits die Entwicklung des Einzelnen als einen kontingenten und unabgeschlossenen Prozess zu begreifen. Andererseits verdoppelt sich die Perspektive auf den Austausch des Einzelnen mit der Gesellschaft. Gegeniiber der einseitigen Einflussnahme der Gesellschaft auf das Individuum, wie bei Durkheim, konzipiert Mead ein Subjekt, das aufgrund seiner reziproken und interdependenten Stellung im sozialen Beziehungsgeflecht immer auch zuriickwirkt auf die Gestaltung der Gesellschaft, Erving Goffmann (1986; 2000) hat gezeigt, wie diese Relationalitat Aufschluss iiber die Verhaltensmuster und Perspektiven der Subjekte geben kann. Dabei wird sichtbar, dass das Subjekt nicht gegen eine unabhangige und verauBerlichte Gesellschaft agiert, sondem gleichsam inmitten der Gesellschaft, die aufgrund der Hereinnahme der Perspektive Anderer in den eigenen Erfahrungsbereich grundsatzlich im Subjekt in Form von Verhaltensstrategien und Anpassungsleistungen reprasentiert wird. Gesellschaft ist zwar auch eine dem Subjekt gegeniiber unabhangige Entitat, aber zugleich eine dem Subjekt inharente. Gegeniiber Durkheim verliert sie so den Stellenwert eines objektiven Zwangsmechanismus. Mead macht also einen Schritt zu einer starkeren Fokussierung des Individuums, die sich auf seine politische Philosophic auswirkt und auf die diese zuriickstrahlt. Es braucht an dieser Stelle noch nicht zu interessieren, dass sich gerade an Mead die Kritik der sozialisierten Vemunft entziindet. Festzuhalten ist, dass Mead das Paradigma eines handlungstheoretischen Intersubjektivismus begriindet, das sowohl zum theoretischen Fundament der Sozialisationstheorie als auch zum Ausgangspunkt der programmatischen Orientierung am Individuum ftihren wird. Dabei ist selbstverstandlich zu beachten, dass die Orientierung am Individuum nicht allein der Theorie Meads geschuldet ist, sondem wesentlich auch historischen Verandemngen der Gesellschaft. Dies zeigt sich deutlich an Jiirgen Habermas, der sich zwar auf Meads Interaktionismus stiitzt, dessen Orientierung am Individuum aber eher auf seine geistige Herkunft aus der Kritischen Theorie zuriickzufiihren ist.
2.3. Ich-Identitdt als gelungene Sozialisation: Jiirgen Habermas Mit Jiirgen Habermas wird die Orientierung am Individuum zu einem entscheidenden Fokus der Sozialisationstheorie. Dies ist, wie gesagt, keine Selbstverstandlichkeit. Vor ihm bzw. zeitgleich hatte etwa Talcott Parsons die Handlungstheorie auf den Strukturfunktionalismus Durkheims zuriickbezogen und Sozialisation als Prozess der Vergesellschaftung beschrieben. Er verwendet dazu neben einer Handlungstheorie, die im Wesentlichen auf die Austauschprozesse von Individuum und Gesellschaft abzielt (Miinch 1988), die Psychologic Sigmund Freuds (Parsons 1999a). Diese dient ihm dazu, den Prozess der Vergesellschaftung als eine iiber die Objektkathexis angeleitete Introjektion gesellschaftlicher Normen zu plausibilisieren. Sozialisation bezeichnet dann eine sukzessive Rollendifferenzie32
rung von der dyadischen Mutter-Kind-Beziehung iiber die RoUen innerhalb einer Familienstruktur zu den Rollen innerhalb der Gesellschaft. Wahrend das Kind zunachst eine lustvermittelte Beziehung zur Mutter aufbaut, ubemimmt es innerhalb einer Familienstruktur die verschiedenen Rollen des Sohnes, der Tochter, des Bruders, etc. Wesentliche Konstitutionsmerkmale dieser Rollen sind flir Parsons Alter und Geschlecht, die sowohl die Hierarchie innerhalb der Familie begriinden, als auch differenzierte Selbstfindungsprozesse zwischen Jungen und Madchen (Parsons 1999b). SchlieBlich lemen Kinder iiber das Schulsystem, Rollen in einer geographisch und kulturell verfassten Gesellschaft zu tibernehmen, wobei die Schule sowohl die Aufgabe einer leistungscodierten Selektion in Bezug auf spatere Statuszuweisungen als auch die Aufgabe einer Vermittlung gesamtgesellschaftlicher Normen ubemimmt (Parsons 1999c). Flir Parsons, der synonym zu Durkheim die Perspektive des Gesellschaftssystems einnimmt, gih eine Sozialisation nun dann als gelungen, wenn sie den Einzelnen iiber eine seiner Leistung entsprechende Rolle in die stratifizierte und ftmktional differenzierte Gesellschaftsstmktur integriert und ihn befahigt, gesellschaftliche Normen aus Einsicht zu befolgen und zu reproduzieren. Ich-Identitat interessiert ihn dabei nur unter dem formalen Organisationsaspekt der Synthetisiemng von Bedeutungen (Parsons 1980). Sein entscheidender Fokus liegt auf der gesellschaftsstabilisierenden Subordination unter tradierte Normen und kulturelle Muster. Dazu greift er einerseits auf das hobbessche Motiv einer autoritaren Ordnungspolitik zuriick und andererseits leitet er aus diesem Fokus die Notwendigkeit sozialer Schichtung ab, die eine evaluative Strukturierung der Individuen, und damit Ubersichtlichkeit, ermoglichen soil. „Das primare funktionale Bedlirfnis eines sozialen Systems in diesem Kontext ist klar; negativ ausgedriickt liegt es darin, dass die Integration der individuellen Personlichkeit nicht auf breiter Front zu Aktivitaten ftihren sollte, die desintegrierend auf die Stabilitat des sozialen Systems wirken; positiv kann man es so ausdrucken, dass diese Integration teleologische Tendenzen zeigen sollte, die der Fordemng funktional wichtiger Handlungsmuster unmittelbar dienlich sind." (Parsons 1994: 178) Gegenuber der strukturftinktionalistischen Perspektive der Systemintegration postuliert Habermas nun Werte wie Gerechtigkeit oder Herrschaftslosigkeit als zentrale Topoi der Sozialisation. Zum einen reagiert er damit zweifelsohne auf die emanzipatorischen Absichten der Studentenrevolte und zum anderen ftihrt er den Diskurs einer Kritischen Theorie von Marx bis Adorno, flir die diese Werte die normative Grundlegung einer altemativen Gesellschaftsordnung bezeichneten, weiter.' Sein Erkenntnisinteresse gilt vomehmlich der Demokratisierung der Gesellschaft und der Entwicklung von miindigen, autonomen Individuen. Theoriegeschichtlich bezieht er sich explizit auf den Symbolischen Interaktionismus Meads und liest an der Situation kommunikativer Verstandigung die idealisierte Form eines herrschaftsfreien Dialoges ab, um sein Erkenntnisinteresse einzuholen. Seine sozialisationstheoretischen Uberlegungen schlieBt Habermas zunachst an den Rollenbegriff an und stimmt mit Parsons uberein, dass Sozialisation in einem ersten Schritt eine normative Integration in die Gesellschaft darstellt. Entgegen Parsons betont er jedoch. 1 Die Einschatzung, Habermas fiihre die Kritische Theorie we iter, ist selbstverstandlich nicht in einem absoluten Sinne zu verstehen. Axel Honneth (1982) hat darauf hingewiesen, dass es berechtige Griinde fur die Annahme gibt, dass Habermas zwar nicht grundsatzlich andere Fragestellungen verfolgt hat wie Adorno, dennoch entscheidend von diesen abweicht.
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dass der Prozess der Vergesellschaftung immer auch ein Vorgang der Individuierung ist (Habermas 1988). Entsprechend erhalt die Konzeption der Rollenubemahme durch den Einzelnen den normativen Impetus, nicht die Ubereinstimmung von und die intemalisierende Identifikation mit Bedlirfnissen und normativen Mustem zu intendieren, sondem eine Komplementaritat der gegenseitigen Erwartungen innerhalb einer kommunikativ strukturierten Sozialitat, mithin eine kommunikative Handlungsbefahigung (Habermas 1973 a; Joas 1998). In diesem Sinne ist die Rolleniibernahme eine Stufe im Prozess der Sozialisation, die durch eine Identifikation mit Vorbildern erworben wird, um uberhaupt an sozialen Interaktionen teilnehmen zu konnen. Daruber liegt fiir Habermas jedoch die Stufe der Emanzipation von gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen. „Autonomes Rollenspiel setzt beides voraus: die Internalisierung der Rolle ebenso wie eine nachtragliche Distanzierung von ihr." (Habermas 1973b: 127) Damit steht Habermas im Spannungsverhaltnis zwischen der trivialen Einsicht, dass Individualitat nur im Gegensatz zu Anderen und damit uber Sozialitat zu haben ist, und der letztlich politischen Orientierung einer Abwehr patemalistischer Anspriiche seitens dieser Sozialitat. Ich-Identitat wird so zu einer Aufgabe, zwischen einem personlichen und einem sozialen Ich zu balancieren. Wahrend der Ruckzug in ein absolut gesetztes personliches Ich die Beendigung sozialer Interaktion nach sich ziehen wiirde, wtirde das Aufgehen in der sozial zugeschriebenen Rolle eine Identifizierung als (autonomes) Selbst verunmoglichen. Gerade jedoch diese Entwicklung eines autonomen Selbst gilt Habermas als Telos einer gelungenen Sozialisation. Einerseits aktualisiert er damit jenes Bild des miindigen Btirgers der liberalistischen Philosophic. Andererseits gih ihm ein autonomes Selbst nicht allein als Selbstzweck. Es steht in einem engen Verweisungszusammenhang mit dem Begriff des kommunikativen Handelns, das letztlich nur durch autonome Subjekte realisierbar ist, und der auf der anderen Seite die beiden Aspekte der Sozialisation, Vergesellschaftung und Individuierung, widerspiegeh. Grob skizziert, bezeichnet kommunikatives Handeln einen sprachlichen Austausch iiber auBerhalb der Kommunikation liegende Handlungsziele (Habermas 1981, 1984a; Beer 1999). Dabei bemiihen die Interaktionspartner Geltungsanspriiche, die eine Ubereinstimmung aus rationaler Einsicht ermoglichen sollen. Die Geltungsanspriiche beziehen sich auf die Welt objektiver Tatsachen, intersubjektiver Normen und subjektiver Wahrhaftigkeit. Die Interaktionspartner konnen unter mindestens einem dieser Weltbeziige die Absichten von alter zuruckweisen. Sie konnen bestreiten, dass die von alter vorgetragene Handlungsabsicht aufgrund objektiver Weltstrukturen realisierbar ist, sie konnen die normative Richtigkeit der Handlungsabsicht bemangeln und sie konnen die Vermutung auBern, alter verfolge andere (strategische) Ziele, als in seinem Kommunikationsangebot geauBerte. Diese Struktur kommunikativen Handelns begreift Habermas als idealisierende Rekonstruktion sprachlicher Verstandigung, wobei er fur diese Rekonstruktion die Sprachpragmatik von Austin (1994) und Searle (1994) verwendet. Sie benennt den normativen Fixpunkt einer herrschafts- und gewaltfreien Verstandigung, von dem aus autoritare Formen intersubjektiver Interaktion kritisiert werden konnen. Habermas gesteht dabei durchaus ein, dass in realen Gesellschaften kommunikatives Handeln die Ausnahme ist. „Faktisch konnen wir keineswegs immer (oder auch nur oft) jene unwahrscheinlichen pragmatischen Voraussetzungen erfullen, von denen wir in der kommunikativen Alltagspraxis gleichwohl ausgehen - und zwar im Sinne einer transzendentalen Notigung - ausge34
hen miissen. Deshalb stehen soziokulturelle Lebensformen unter strukturellen Beschrankungen einer zugleich dementierten und in Anspruch genommenen kommunikativen Vernunft." (Habermas 1985: 378) Eingebettet in und gegen das standige Dissensrisiko pluralisierter Gesellschaft riickversichert sind die Geltungsansprtiche - und damit das Wissen um die Welt objektiver Tatsachen und normativer Richtigkeiten - durch einen lebensweltlichen Hintergrund, der durch Sozialisation erworbenes Wissen um die objektive und normative Welt und personliche Einstellungen zur Verfiigung stellt und somit eine intersubjektive Situationsdefmition anleiten kann. Dieser lebensweltliche Hintergrund thematisiert den Vergesellschaftungsaspekt von Sozialisation. Der Aspekt der Individuierung im Kontext der Theorie des kommunikativen Handelns bezieht sich auf die Kompetenzen, die die Subjekte mitbringen miissen. Dies sind einerseits solche Kompetenzen, die sich auf das alltagliche Rollenhandeln beziehen. Andererseits sind dies Kompetenzen, die insbesondere auf der Reflexionsebene des kommunikativen Handelns, dem Diskurs, relevant werden. Diskursives Handeln, im Unterschied zu kommunikativem Handeln, wird notwendig, wenn lebensweltliches Hintergrundwissen problematisch wird, das heifit wenn die Beteiligten entweder bislang giihiges Wissen oder bislang giiltige Normen nicht mehr akzeptieren (Habermas 1983, 1991). Im ersten Fall miissen die Akteure in einen theoretischen Diskurs treten, der mit empirischanalytischen Argumenten gefuhrt wird. Im zweiten Fall treten die Akteure in einen praktischen Diskurs, der sich an der Norm, dass alle Betroffenen dem Ergebnis zwanglos zustimmen konnen mussen, orientiert. Er folgt den formalen Prinzipien (Diskursregeln), dass alle sprach- und handlungsfahigen Akteure an einem Diskurs teilnehmen konnen, jeder Teilnehmer jede AuBerung in den Diskurs einfiihren kann und niemand an der Ausiibung dieser Rechte durch auBeren oder inneren Zwang gehindert werden darf. Aus dieser anspruchsvollen Form der Verstandigung leiten sich diskursive Kompetenzen ab, die sich durch den Begriff einer prinzipiengeleiteten Moral charakterisieren lassen. Diesen Begriff entlehnt Habermas der Theorie der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg (Habermas 1976; Kohlberg 1997; siehe auch Kap. 2.9.). Dieser hatte im Anschluss an die genetische Epistemologie Jean Piagets den Versuch untemommen, dessen Entwicklungspsychologie auf den Bereich der Moralentwicklung anzuwenden. Dazu hatte er im Gegensatz zu Piaget und in direkter Anlehnung an die Moralphilosophie Kants ein philosophisch-theoretisch vorkonstruiertes Modell der Moralentwicklung erarbeitet und dieses anschliefiend empirisch iiberpriift, indem er Heranwachsende mit Konfliktgeschichten konfrontierte. Die beriihmteste ist das so genannte Heinz-Dilemma, das danach fragt, ob ein Ehemann (Heinz) in eine Apotheke einbrechen darf, um flir seine todkranke Frau ein Medikament zu stehlen, fur das er keine fmanziellen Mittel aufbringen kann. Je nach dem Niveau der Argumentation, unterteilt Kohlberg die Antworten in drei groBe Stufen, die in sich jeweils durch zwei Unterstufen differenziert werden. Die beiden untersten Moralstufen mit einer heteronomen Moralitat ohne Regelbewusstsein fasst Kohlberg als prakonventionelle Moral zusammen. Die Stufen drei und vier der konventionellen Moral bezeichnen die individuelle Ausrichtung auf die partikulare Gesellschaft und die letzten Stufen der prinzipiengeleiteten Moral meinen die Uberordnung von abstrakten Wertsystemen iiber konkrete Sittlichkeiten. Ontogenetisch lieB sich zeigen, dass die gleichen Probanden in unterschiedlichen Altersstufen jeweils hoheren Niveaus der Moralitat zugeordnet werden konnten. Zehn35
jahrige Kinder antworten etwa mit dem Verweis, von der Polizei erwischt zu werden und lehnen daher einen Einbruch ab. Altere Jugendliche hingegen nehmen das geltende Recht in Anspruch, um einen Einbruch zu verwerfen und mit dem Alter von zwanzig Jahren beginnen die Befragten die Legitimitat des geltenden Rechts mit dem Verweis auf die Grundund Menschenrechte in Frage zu stellen. Wahrend somit das zehnjahrige Kind noch nicht in der Lage ist, gesellschaftliche Regeln zu verstehen, sondem sich an der individuellen Konsequenz von Handlungen orientiert (prakonventionelle Moral), postuliert der Jugendliche die Giiltigkeit gesellschaftlicher Regeln in Form codierten Rechts (konventionelle Moral). Der Erwachsene schlieBlich prtift geltende Regeln im Lichte tibergeordneter Normen, an denen sich Recht messen lassen muss (postkonventionelle Moral). Mit dem Stadium der postkonventionellen Moral wird jene diskursive Kompetenz erworben, die zu einer gleichberechtigten und mtindigen Teilnahme an Diskursen befahigt. Diese machen schlieBlich erst dann Sinn, wenn die Akteure liberhaupt in der Lage sind, tradierte Normen anzuzweifeln, so dass ein Diskurs notwendig wird. Sie machen aber auch erst dann Sinn, wenn die Akteure die anderen Beteiligten als gleichberechtigte Diskurspartner und deren Diskursbeitrage als legitime AuBerung akzeptieren und verstehen, das heiBt, wenn sie ihnen die gleichen (Menschen-)Rechte zuschreiben, die sie flir sich selber in Anspruch nehmen. Akteure mit einer konventionellen Moralitat miissen diesen Anspruch verfehlen, wenn sie sich einzig auf die Legalitat bestehenden Rechts zuriickziehen. Dann namlich konnen sie Diskursangebote als nicht konform mit geltenden Regeln gleichsam a priori als unberechtigten Beitrag zurlickweisen. Eine diskursive Neuverhandlung von strittigen Normen ware verunmoglicht. Wie ersichtlich bezieht der Begriff einer diskursiven Kompetenz bzw. einer postkonventionellen Moral die Vorstellung autonomer Personlichkeiten mit ein. Individuen sollen sich im Optimalfall als couragierte Burger in einen Diskurs einbringen und ihre eigenen Absichten. Motive und Interessen zur Diskussion stellen. Gleichzeitig sollen sie sich dabei innerhalb der intersubjektiv giiltigen Metanormen des Diskurses bewegen, die den Verstandigungsprozess zu einem Prozess der Vergesellschaftung auf der Ebene einer abstrakten Verfahrensgerechtigkeit werden lassen. Dies entspricht der Komplementaritat der Erwartungen im Gegensatz zur Ubereinstimmung von Bediirfnissen. Gesellschaftstheoretisch ist dieses Konzept ausgerichtet auf eine aktive Biirgerschaft, die in Form anarchischer Diskurse lebensweltliche Impulse zu einer kommunikativen Macht verdichtet, mit der die Inhaber politischer und okonomischer Macht rechnen miissen, so dass die strukturellen Imperative der Administration und der kapitalistischen Wirtschaft durch eine Riickbindung an die Offentlichkeit einer demokratischen Kontrolle unterliegen bzw. demokratisiert werden konnen (Habermas 1994; Heming 1997). Habermas detailliert mit diesem Programm den Symbolischen Interaktionismus Meads. Wie diesem geht es Habermas um die Werte von Demokratie und personlicher Autonomic. Mead operiert jedoch mit bereits sozialisierten Individuen, die jene flir einen intersubjektiven Austausch relevanten Kompetenzen immer schon mitbringen. Indem Habermas die dialogische Situation, die Mead in die Sozialwissenschaften als Paradigma eingeflihrt hatte, auf einen rationalen, kommunikativ strukturierten Prozess zuschneidet, geraten die kognitiven und sozialkognitiven Dimensionen des Akteurs in den Blick, der spezifische Kompetenzen in einem Sozialisationsprozess erst erwerben muss, um kommunikativ bzw. diskur36
siv handeln zu konnen. Damit wird die von Mead anvisierte Kommunikation uber Gebarden nicht suspendiert, sondem phylo- und ontogenetisch weitergetrieben. Modeme Gesellschaften kommunizieren nicht ausschlieBlich Uber das Korperverhalten, sondem benutzen aufwendige Sprachcodes, die die Spannung von Konkretem und Abstraktem in die Verstandigung einholen und die von den Akteuren verarbeitet werden konnen muss. Habermas gelingt die Einbeziehung einer expliziten Sozialisations- bzw. Entwicklungsperspektive durch eine Anbindung an die Theorie der Moralentwicklung Lawrence Kohlbergs. Dieser hat nun allerdings darauf hingewiesen, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Mitglieder moderner Gesellschaften eine postkonventionelle Moral erlangen. „Die Mehrzahl der Jugendlichen und Erwachsenen in den meisten Gesellschaften bewegt sich auf dem konventionellen Niveau, Nur eine Minderheit von Erwachsenen erreicht das postkonventionelle Niveau, und dies gewohnlich erst nach einem Alter von zwanzig Jahren." (Kohlberg/Colby 1978: 356) Wenn Habermas somit gegeniiber Mead eine explizite Entwicklungsdimension mitberucksichtigt und diese auf das Telos einer autonomen Personlichkeit oder postkonventionellen Moral verpflichtet, bedeutet dies eo ipso, das die Entwicklung scheitern, also nicht gelingen kann. Dieser Aspekt des Sozialisationsprozesses wird insbesondere durch die schichtenspezifische Sozialisationsforschung thematisiert, die die Frage nach den sozialstrukturellen Umweltbedingungen der Sozialisation stellt.
2.4. Ungleiche Sozialisation: Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung hatte ihren Hohepunkt in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhundert. Nachdem sich in alien westlichen Industrienationen ein formal gleicher Zugang zum politischen System und schlieBlich auch zum Bildungssystem realisiert hatte, nahm das Thema der Chancengleichheit einen bedeutsamen Platz in den offentlichen und wissenschaftlichen Diskursen ein. Denn obwohl die politischen und rechtlichen Barrieren, die einen allgemeinen Zugang zum Bildungssystem verhindert hatten, schrittweise beseitigt wurden, blieben die vormals offiziell Exkludierten weiterhin dem hoheren Bildungssystem fern. Dies driickte sich nicht nur in den Statistiken uber Gymnasiums- und Universitatsbesucher aus. Die Schulleistungen und die Bildung von Kindern depravierter Schichten blieben mehr oder weniger konstant auf einem niedrigen Niveau. Die erhoffte soziale Mobilitat durch Bildung stellte sich nicht ein, so dass fiir die Reproduktion der sozialen Schichtung eine Erklarung unterhalb der Ebene politisch-struktureller Veranderungen gefunden werden musste. Sozialisationstheoretiker suchten die Grunde fiir die Kontinuitat einer ungleichen Verteilung von Bildung, und damit von Berufs- und Lebenschancen, in ungleichen Sozialisationsbedingungen, die bereits vor dem Eintritt in das offizielle, staatliche Bildungssystem zu ungleichen Befahigungen im Umgang mit Bildung im Allgemeinen und der Schule im Besonderen ftihren. Entsprechend argumentierte die schichtenspezifische Sozialisationsforschung mit einem Zirkelmodell: Die durch die berufliche Position des Familienvaters indizierten Sozialisationsbedingungen begtinstigen bzw. erschweren den schulischen Erfolg des Kindes, so dass dieses eine dem Vater ahnliche berufliche Position erreicht und damit ahnliche Sozialisationsbedingungen an die folgende Generation weitergibt. 37
Deutlich herausgearbeitet hat diesen Zusammenhang Hans-G. Rolff (1972), der die gesellschaftliche Funktion und die inhaltliche Ausrichtung der Schule in Verbindung zur schichtenspezifischen Sozialisation durch die Familie setzt. Er konstatiert, dass die durch das staatliche Bildungswesen vergebenen Bildungszertifikate zunehmend liber die zu erreichenden Berufspositionen entscheiden. Damit und mit dem Interesse der Wirtschaft an ausgebildeten (Fach-)Arbeitern treten jedoch gegenuber dem aufklarerischen Anspruch auf Bildung die Qualifikations- und Selektions- bzw. Allokationsfunktionen der Schule in den Vordergrund (vgl. auch Fend 1980; Gronemeyer 1997). Um sich an der Schule, die sich aufgrund dieser Funktionen am Leistungsgedanken orientiert, behaupten zu konnen, bedarf es spezifischer Befahigungen, die, so Rolff, nicht einer hereditaren Begabung entspringen, sondern eben spezifischen Sozialisationsbedingungen, die mit der sozio-okonomischen Position der Familie verwoben sind. Dabei spielt fur Rolff weniger die fmanzielle Situation der Familien eine Rolle, da Kinder aus Familien mit vergleichbarem fmanziellen Hintergrund durchaus unterschiedlich erfolgreich in der Schule abschneiden, als vielmehr Einstellungsmuster, Erwartungen, Zielvorstellungen und Denk- und Verhaltensweisen. Er fasst diese unter dem Begriff des „Sozialcharakters" zusammen, der empirisch nachweisbare regelmaBige Verhaltensweisen und Einstellungsmuster bei bestimmten Gruppen beschreiben soil. Sozialisationstheoretisch konnen diese Sozialcharaktere auf die jeweiligen Erziehungsstile der verschiedenen Schichten zuruckgefiihrt werden (vgl. auch Grundmann/Keller 1999). Die entscheidende These, die Rolff aus diesen Uberlegungen ableitet, soil die Erklarung fiir die unterschiedlichen Schulerfolge liefem: „Die Wertvorstellungen und Verhaltenserwartungen, die die Schule beherrschen, begiinstigen den Sozialcharakter der Schliler aus der Mittelschicht gegenliber dem Sozialcharakter aus der Unterschicht." (Rolff 1972: 115) Dieses Missverhaltnis zwischen sozialisiertem Sozialcharakter der Unterschichtkinder und der Schule bezieht sich sowohl auf die Institution Schule, auf die Lehrer bzw. deren Verhaltensweisen und Erwartungen, als auch auf die Mitschliler aus der Mittelschicht, zu denen Freundschaftsverhaltnisse einen korrigierenden Einfluss haben konnten, die aber aufgrund einer schichtenhomogenen Zusammensetzung der schulischen und auBerschulischen Peer-Groups selten zustande kommen. Das Ergebnis dieser ungllicklichen Konstellation ist jene repetierende Selektion und Allokation der Schule, die zu dem Zirkel von beruflicher Position des Vaters, spezifischen Sozialisationsbedingungen, schulischem Erfolg und dem Erwerb einer dem Vater ahnlichen beruflichen Position fiihrt. Wenngleich Rolff mit diesem Erklarungsansatz die Ebene unterhalb der politischstrukturellen Organisation der Gesellschaft einholt, bleibt unklar, wie sich der Prozess eines sozialisierten Sozialcharakters seinerseits aufklaren lasst. Rolff argumentiert letztlich mit einem objektivierenden Kausalmodell, nachdem spezifische Familienbedingungen zu spezifischen Sozialcharakteren fuhren, ohne diesen Prozess naher erlautem zu konnen. Dies hatte sich Basil Bernstein zur Aufgabe gemacht und sich zu diesem Zweck mit seinem soziolinguistischen Ansatz auf die Sprachmodi der unterschiedlichen Schichten konzentriert. Bernstein ist im vorliegenden Kontext aus diesem Grund nicht nur als Reprasentant der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung von Bedeutung. Denn zum einen geht es auch einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie in ihrer Zielsetzung darum, die Prozesse der Personlichkeitsentwicklung genauer in den Blick zu nehmen. Zum anderen ver38
steht Bernstein Sprache immer auch als Form eines Weltzugriffes, die eine objektivierte Wirklichkeit selektiv wahmehmen und je individuell mit Bedeutung versehen lasst (Bernstein 1958/1980, 1959/1971, 1961/1971). Anders formuliert: Bernstein nimmt die Einsicht subjektiv differierender Wirklichkeiten emst, treibt diese allerdings nicht bis zu einem erkenntniskritischen Subjekt, sondern bleibt auf der Ebene einer sprachlich codierten Wirklichkeit stehen. Dies hat seinen Grund in einem deutlich formulierten Forschungsinteresse: Bernstein interessiert sich fur Sprache nicht so sehr auf der abstrakt-theoretischen Ebene einer symbolischen Konstitution von Wirklichkeit, sondern far den empirischen Zusammenhang von Schicht und Sprachcodes im Kontext von schulischer Leistung. Um diesen Zusammenhang thematisieren zu konnen, differenziert Bernstein bereits in seinen friihen Publikationen zwischen einer ,offentlichen' und einer ,formalen' Sprache. Bekannt geworden ist diese Differenz durch die spatere Bezeichnung ,restringierter vs. elaborierter Code' (Bernstein 1964/1971). Die Bezeichnung ,restringierter Code' bezieht sich dabei auf eine Vorhersagbarkeit der syntaktischen Alternativen aufgrund einer mangelnden Breite der Moglichkeiten, die von einem Sprecher benutzt werden konnen. Diese Probabilitat des sprachlichen Ausdrucks korreliert mit einem geringen Wortschatz, einer Uberproportion nicht-verbaler Kommunikationsmittel (Gesten, Bew^egungen, Lautstarke) innerhalb der Kommunikation und einer generell defizitaren Sprachstruktur in Bezug auf die Verbalisierung von je eigenen Motiven, Absichten und Interessen. „Wenn ein Kind einen restringierten Code lernt, dann es lernt es Sprache in einer besonderen Art und Weise wahrzunehmen. Sprache wird nicht als eine Anzahl theoretischer Moglichkeiten aufgefasst, welche die Mitteilung individuell bedeutsamer Erfahrung erleichtem konnte. Sprache ist in diesem Fall kein Mittel, die Erfahrung der Vereinzelung und der individuellen Besonderheit relativ genau in Worte zu fassen." (Bernstein 1963/1971: 90) Dazu im Gegensatz steht der ,elaborierte Code', der sich durch eine geringe Vorhersagbarkeit der syntaktischen Alternativen, einen groBeren Wortschatz und eine deutliche Dominanz verbaler Kommunikation gegeniiber den nicht-verbalen Formen der AuBerung auszeichnet. Der ,elaborierte Code' ermoglicht dem Sprecher eine (relativ) eindeutige Verbalisierung eigener Wiinsche und damit eine sprachliche Reflexion liber die eigene Identitat. Entsprechend dieser Moglichkeiten des ,elaborierten Codes' ist dessen Sprachfluss kontrollierter und eher durch haufige Pausen und langeres Zogern charakterisiert, wahrend der Sprachfluss des ,restringierten Codes' eher schnell, flieBend und ohne langere Unterbrechungen ist. Intern unterscheidet sich der ,elaborierte Code' in eine Form, die sich auf interpersonale Beziehungen ausrichtet, und eine Form, die auf die Ausarbeitung der Beziehungsstrukturen von Objekten zielt. Beziiglich einer Verortung innerhalb des Wissenschaftssystems residiert die erste Form vornehmlich in den Geistes- und Sozialwissenschaften und die zw^eite Form in den Naturwissenschaften (Bernstein 1965/1980). Die beiden Sprachcodes sind zunachst keiner spezifischen Schicht zuzuordnen. Sie resultieren aus bestimmten, schichtiibergreifenden Sozialbeziehungen. Der ,restringierte Code' wird zum einen in Sozialbeziehungen aktuell, die durch einen hohen Grad an kultureller Homogenitat bestimmt sind. In solchen Beziehungen konnen die Akteure eine gemeinsame Geschichte und einen dadurch sedimentierten Hintergrund von gemeinsamen Uberzeugungen, Absichten und Wissensbestanden in Anspruch nehmen. Eine Verbalisierung von Objektstrukturen oder personlichen Einstellungen ist nicht notig, um die Kommunikation 39
anschlussfahig zu halten. Beispiele fiir solche Sozialbeziehungen sind Peer-Groups oder Partnerschaften. Zum anderen findet dieser Code Verwendung in Sozialbeziehungen, die iiber den Status oder die Rolle der Akteure eindeutig strukturiert sind wie etwa beim Militar. Dagegen stellt sich die Sozialbeziehung, die den ,elaborierten Code' produziert, als eine breite Verfiigungsgewalt iiber die Rollen der Akteure dar. Die Rollen werden nicht durch ein Fundament geteilter Uberzeugungen stabilisiert, sondem miissen von den Akteuren selbst gestaltet werden, wobei sich die Akteure an einer sozialen und psychischen Verschiedenheit orientieren. Mit anderen Worten: Der ,elaborierte Code' folgt aus einer Sozialbeziehung, die wesentlich durch die Differenz der Akteure charakterisiert ist und in der die Akteure sich von der Sozialitat durch Individualitat absetzen. Wahrend der ,restringierte Code' statusbezogen ist, ist der ,elaborierte Code' personenbezogen. Im Kontext der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung bedeutsam ist nun, dass Bernstein durch empirische Uberpriifung heraussteUt, dass der ,restringierte Code' zwar einerseits universell, das heiBt in jeder Schicht in den entsprechenden Typen von Sozialbeziehungen zu fmden ist, die Unterschicht, die sozialstrukturell durch un- oder angelemte Arbeiter indiziert wird, allerdings andererseits auf diesen Code beschrankt bleibt auch dann, wenn es keine signifikanten Unterschiede beziiglich nicht-sprachlicher Intelligenztests gibt (Bernstein 1960/1980, 1962/1980, 1971/1980; Oevermann 1972; Niepold 1974). Dadurch fehlen der Unterschicht nicht nur sprachliche Moglichkeiten einer breiten und zugleich immer auf Hypothesen basierenden Weltkonstitution, sondem eben auch die symbolischen Mittel der Generierung einer verbal bestimmten Ich-Identitat. Diese Mittel stehen im Kontrast dazu der Mittelklasse zur Verfligung, die sowohl zu einem ,restringierten' als auch zu einem ,elaborierten Code' befahigt ist. Entsprechend gestalten sich die Weltbeziige und Sozialisationsbedingungen in den beiden Schichten anders. Da es Bernstein unter anderem darum geht, die Zirkelthese der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung detaillierter zu bestimmen, bringt er seinen soziolinguistischen Ansatz in Form der These der sprachlich vermittelten Weltbeziige als Konstitutionsrahmen verschiedener Sozialisationsbedingungen bzw. der Erziehungsstile zur Anwendung. Er beschreibt die Erziehungsstile der Unter- und Mittelschicht, synonym zu Rolff, als qualitativ differierende in Bezug auf die Entwicklung von Schul- und Leistungskompetenzen (Bernstein 1961/1980, 1972/1980). Begrifflich differenziert werden diese Erziehungsstile durch die Familientypen der ,Personen orientierten Familie' und der ,positionalen Familie'. Erstere stellen den Typus von Familien dar, der in der Mittelschicht dominiert. Er ist inhaltlich ausgerichtet auf eindeutige und verbalisierte Ziele, die sich vomehmlich um den Wert der Individualitat drehen. Entsprechend wird das Kind bereits beziiglich seiner Rechte wahrgenommen, Entwicklungsfortschritte werden durch Aufmerksamkeit und Belohnungen verstarkt und Bestrafungen laufen uber die Schienen des Liebesentzuges und werden iiberdies verbal begrundet und in Beziehung zur Tat gesetzt. Generell erlebt das Kind eine strukturierte Welt, die durch die konsequente Verfolgung elterlicher Ziele erreicht wird. Das durch die zur Verfligung gestellten individuellen Freiraume innerhalb solcher Familien standig prasente Dissensrisiko wird durch eine kommunikative Sozialkontrolle abgefedert und erst wenn die Mittel der Erklarung und Versohnung scheitem, wird auf die Basis der Autoritat umgestellt.
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Dagegen sind die Entwicklungsbedingungen des Kindes aus der Unterschicht weniger formal organisiert, das heifit es fehlt ein geordnetes und strukturierendes Universum. ,Positionale Familien' regeln Dissense eher iiber die Mechanismen der Statuspositionen (z. B. Vaterrolle) und der mit diesen verbundenen Autoritat, wobei diese nicht ihrerseits in ein System fester Regeln oder Werte eingebunden ist. Vielmehr erscheint die Autoritat als willktirliche Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen, die an anderen Tagen durchaus geduldet werden konnen. Die Zukunft wird daher als allgemeine Vorstellung behandelt, die sich mehr durch Zufalle oder spezifische Personen ereignet, als durch den Aufbau einer Kette logischer Beziehungen, die auf ein konkretes Telos ausgerichtet sind. Anders formuliert: Gegenwartige Handlungen genieBen einen groBeren Stellenwert als solche Handlungen, die auf ein spateres Ziel verweisen, und konnen aufgrund ihrer zeitlichen Absolutheit nicht in ein Kontinuum eingeordnet werden. Dies zeigt sich besonders deutlich im Umgang mit formaler Bildung. Diese ist wesentlich auf entfemtere Ziele orientiert, wie etwa das Erreichen bestimmter Berufspositionen, geht aber moglicherweise mit einem temporaren Mangel an okonomischen Ressourcen (Studienzeit) einher. Ein schneller aber unqualifizierter Berufseinstieg verspricht dagegen eine aktuelle Befriedigung okonomischer Interessen, verhindert aber einen langerfristig angelegten beruflichen Aufstieg. Insgesamt verhindem ,positionale Familien' die Entwicklung eines ,elaborierten Codes', der auf die begriffliche und zeitliche Strukturierung von Erfahrungen angewiesen ist, und damit die Herausbildung einer Ich-Identitat. Entgegen Habermas, der schlieBlich die Sprache als Residenz der Entwicklung von Ich-Identitat inthronisiert hatte, zeigt Bernstein damit, dass gerade die Sprache eine solche blockieren kann. Denn Bernstein behauptet einen konstitutiven und reproduzierenden Zusammenhang von Sprachcode und Erziehungsstil. Die Unterschicht pflegt ihren Stil nicht aufgrund hereditarer Momente oder aus bewusster Intention, sondern weil die Formen der Sozialbeziehung in den Unterschichtfamilien zirkular mit dem ,restringierten Code' verwoben sind. Dieser erzeugt einen generellen Weltbezug in dem jene statusorientierten Familienstrukturen als Selbstverstandlichkeit defmiert sind, die wiederum nicht liber ausreichend verbale Mittel der Expression individueller Unterschiede oder formaler Objektstrukturen verfugen, so dass die Familienstrukturen ihrerseits den ,restringierten Code' verstetigen. Kurz: Unterschichtfamilien haben gleichsam die Sozialbeziehungen institutionalisiert, die diesen Code hervorbringen, und dieser Code erlaubt nur solche Weltbeziige, die in Unterschichtfamilien realisiert werden. Damit konkretisiert Bernstein das Zirkelmodell der schichtenspezifischen Sozialisation. Konnte etwa Rolff nur sehr formal einen sozialisierten Sozialcharakter angeben, der mit den Schulanforderungen konfligiert, ist dieses Missverhaltnis bei Bernstein durch unterschiedliche Sprachcodes und sprachlich vermittelte Weltbezuge prajudiziert. Die in der Schule geforderte Kontinuitat des Lemens kommt in der Welt des Kindes aus der Unterschicht nicht vor und es ist nicht befahigt, auf den ,elaborierten Code' der Schule zu reagieren. Damit treffen in dem Interaktionsverhaltnis von Unterschichtkind und Lehrer nicht nur unterschiedliche Wertesysteme aufeinander, sondern bereits unterschiedliche Sprachen, die unterschiedliche Welten konstituieren. Das Kind der Unterschicht, so lieBe sich dramatisch formulieren, befmdet sich in einer fremden Welt, wenn es in der Schule ist. Daraus resultieren dann schlechtere Schulleistungen, die zu einer weniger qualifizierten Berufsposition
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fiihren, die schlieBlich in ahnliche soziale Bedingungen wie in der Herkunftsfamilie mUnden. Eine eher immanente Kritik an der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung bezog sich nun auf deren theoretische und methodische Engftihrung, die das zugrunde liegende Kausalmodell nicht belegen konne, weil als abhangige Variable fiir die Bestimmung der sozialstrukturellen Ungleichheit einzig die Berufsposition des Familienvorstandes in Rechnung gestellt wurde. Entsprechend wurde dafur pladiert, einen breiteren Zugang zu dem Forschungsgebiet zu entwickeln, der mehrere Ebenen und Dimensionen der Ungleichheit und der Umweltbedingungen beriicksichtigt (Abrahams/Sommerkom 1976; Bertram 1981; Steinkamp 1998). Ein moglicher Ansatz, der diese Forderung einlosen kann, ist die Theorie sozialer Ungleichheit Pierre Bourdieus. Dieser steht zwar nicht genuin im Kontext der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung, kann aber aufgrund seiner Forschungsinteressen umstandslos in diesen einbezogen werden und diesen Diskurs weitertreiben (Bauer 2002, 2004). Pierre Bourdieu (zur Ubersicht vgl. Schwingel 1993; Frohlich 1994) bietet nicht nur einen breiteren Zugang zu dem Phanomen sozialer Ungleichheit. Er ist auch deswegen in den Kontext der Sozialisationsforschung einbeziehbar, weil seiner Habitustheorie sozialisatorische Bestimmungen implizit sind. Der Habitus nach Bourdieu meint generalisiert die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster eines Individuums, die in den ersten Jahren erworben werden (Krais 1989; Bourdieu 1993). Sie resultieren aus sedimentierten Erfahrungen, die eine je aktuelle Situationsdefmition anleiten und auf dieser Grundlage die (Handlungs-)Moglichkeiten des Individuums abstecken. Der Begriff des Habitus soil in der Interpretation Bourdieus zweierlei leisten. Zum einen iiberwindet er spontanistische Ideologien, die alles Handeln aus einem voluntaristischen Akt des Subjektes ableiten. Zum anderen wendet sich Bourdieu mit seinem Habitusbegriff gegen einen objektivierenden Strukturalismus, der individuelle Handlungen auf Umweltreize zuriickfiihrt. Der Habitusbegriff Bourdieus nimmt fur sich in Anspruch beide Theorietraditionen zu integrieren, indem Handlungen durch eine geronnene Geschichte und durch einen intentionalen Akt des Subjektes zugleich erklart werden. Praxis ist damit immer eine strukturierte und aber auch eine strukturierende Praxis, da die Handlungen des Subjektes einerseits notwendig eine Auslegung objektiver Regeln voraussetzen (Bouveresse 1993) und diese Handlungen andererseits auf die Strukturen zurtickwirken, indem sie diese reproduzieren oder erweitern. Beziiglich des strukturierenden Moments des Habitus konstatiert Bourdieu, dass der Habitus sich zwar in Anlehnung an die sozio-okonomischen Verhaltnisse generiert, als zweite Natur jedoch so intemalisiert wurde, dass Handlungen oder Situationsdefinitionen als je individuelle Praferenzen erfahren werden. Die jedoch aus der Beobachterperspektive sichtbare Konformitat des Habitus mit der sozio-okonomischen Position ihres Inhabers, garantiert die Reproduktion des Habitus. Die Akteure selektieren Orte oder Ereignisse, die problematische Erfahrungen bereithalten oder aufgrund der eigenen Dispositionen als fremd empfunden werden. Auf diese Weise machen die Akteure die ,Not zu Tugend', wenn sie diese Selektion als voluntaristische Selbstentscheidung verklaren. Gleichzeitig verhindem sie damit die Einsicht in die Strukturzwange der Genese des Habitus und somit die Moglichkeit einer aufklarerischen Absicht, die Bourdieu gerade mit seinem Ansatz, die Illusion von Freiheit zu hinterfragen, verfolgt (Bourdieu 1998a). Sie erreichen damit jedoch die Stabilitat ihrer 42
Habitusstrukturen, die in einem positiven Sinne so zu einer Lebensstilisierung bzw. einem vertrauten Residuum werden konnen (Michailow 1994, 1996). Der Habitusbegriff hat damit zwar insofem sozialisatorische Momente, als er immer auch seine Genese miteinbezieht, jedoch schlieBlich in einen Strukturkonservatismus miindet, der kaum mehr Erschiitterungen und damit durch Sozialisation angeschobene Weiterentwicklungen zulasst (Portele 1985; Miller 1989). Bourdieu argumentiert einzig mit dem Verweis auf die Modifikationen der sozialen Umwelt, die gleichsam zwanghaft zu einer Veranderung habitueller Dispositionen fiihren konnen (Bourdieu 1976). Diese Ausblendung jeglicher Form einer subjektivistischen Entwicklungsperspektive wird akzeptierbar nur dann, wenn Bourdieu wesentlich als empirischer Sozialforscher mit dem Fokus der sozialen Ungleichheit gelesen wird, der letztlich an dem Zirkel- und Kausalmodell der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung interessiert ist, das heifit, wenn sein Habitusbegriff in Korrelation zu seiner Klassentheorie gesetzt wird und nicht als starke anthropologische Pramisse flir sich genommen wird. Dann namlich zeigt sich, dass Bourdieu tatsachlich einen fruchtbaren Beitrag zur Erklarung der Kontinuitat sozialer Benachteiligungen auf der Basis eines breiteren Zuganges zu den Dimensionen von Ungleichheit zu leisten vermag. Die Klassentheorie Bourdieus setzt den Geschmack zum wesentlichen Indikator, uber den ungleichheitsrelevante Differenzen vermittelt und reproduziert werden (Bourdieu 1994; Eder 1989). Dadurch siedelt seine Klassentheorie sich jenseits einer rein okonomistischen Definition von Klassenlagen an und holt die Ebene der Kultur als entscheidende Arena der Klassenauseinandersetzungen und als Forum der expressiven Darstellung der unterschiedlichen Verteilung okonomischer Ressourcen ein. Trotz dieser kultursoziologischen Ausrichtung seiner Klassentheorie operiert Bourdieu dabei durchaus im Rahmen einer soziookonomischen Klasseneinteilung, die sich zunachst an der Vertikalisierung der Klassen im Sinne Marx' orientiert (Bourdieu 1995). Anders als Marx interessiert er sich dann allerdings nicht so sehr flir den Produktionsmittelbesitz, sondern flir das Volumen des Gesamtkapitals einer Person. Dieses setzt sich entsprechend seinem kultursoziologisch erweitertem Ansatz aus okonomischem, kulturellem und sozialem Kapital zusammen (Bourdieu 1997). Wahrend das okonomische Kapital den quantifizierbaren Besitz finanzieller Ressourcen bezeichnet, bezieht sich das kulturelle Kapital auf Bildungsabschllisse (institutionalisiertes Kulturkapital), den Besitz kultureller Gegenstande, die umstandslos in okonomisches Kapital transformiert werden konnen (objektiviertes Kulturkapital) und auf den habituellen Umgang mit Kulturgegenstanden (inkorporiertes Kulturkapital). Der Unterschied zwischen den letzten beiden Formen des Kulturkapitals kann als Unterschied zwischen Haben und Sein umschrieben werden. SchlieBlich wird durch das soziale Kapital die Verfligungsgewalt liber profitable soziale Beziehungen angezeigt. Gut marxistisch ist flir Bourdieu das okonomische Kapital die wesentliche Ressource in kapitalistischen Gesellschaften, da ihr Besitz in den meisten Fallen liber die Aneignungsmoglichkeiten der anderen Kapitalsorten entscheidet. Dennoch erlangt insbesondere das Kulturkapital eine besondere Stellung bei der Bestimmung moderner Klassengesellschaflen. Diese differenzieren sich nach Bourdieu nicht nur auf einer vertikalen Achse aus, sondern innerhalb der Mittel- und Oberklasse auch horizontal, wobei die organische Zusammensetzung des Kapitalbesitzes berlicksichtigt wird. Mittel- und Oberklasse werden von Bourdieu in sich unterteilt durch den chiastischen 43
Unterschied von hohem Besitz an kulturellem Kapital und niedrigem Besitz an okonomischem Kapital und andersherum. Beispiele flir die erste Form der Kapitalzusammensetzung sind bei Bourdieu etwa Lehrer in der Mittelschicht oder Ktinstler und Akademiker in der Oberschicht. Beispiele flir die zweite Form sind kleine Handwerker in der Mittelschicht und Industrielle in der Oberschicht. Auf einer dritten Achse, die den sozialen Raum dreidimensional werden lasst, markiert Bourdieu die soziale Laufbahn eines Akteurs. Damit gelingt ihm nicht nur die Uberwindung eines statischen Blicks auf moderne Klassenverhaltnisse, sondern auch die realistische Einschatzung, dass Akteure, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ahnlichen sozialen Positionen lokalisiert sind, keineswegs liber gleiche Einstellungsmuster verfugen mtissen. Aufoder Absteiger richten sich in Durchgangspositionen genauso so wenig ein, wie Bewohner einer Wohnung, die wissen, dass sie nur fur kurze Zeit dort ein Zuhause fmden. In Bezug auf die Thesen der schichtenspezifischen Sozialisationstheorie ist nun die von Bourdieu (1994) behauptete Homologie von sozialer Position und Habitus jener Akteure, von denen erwartet werden kann, dass sie dauerhaft in einer sozialen Position verbleiben, von Bedeutung. Die Habitus bilden sich, wie geschildert, vor dem Hintergrund sozialer Positionen aus. Dabei werden diese Positionen nicht nur durch die Kapitalressourcen bestimmt, sondern auch durch die Relation zu anderen sozialen Positionen^ Diese Relation bzw. die Form der Klassenauseinandersetzungen in modernen Gesellschaften denkt sich Bourdieu als kulturellen Kampf um aufstiegsbegiinstigende oder die eigene Position stilisierende Lebensstile. Entsprechend wandeln sich kulturelle Muster, die zu einem gegebenen Zeitpunkt mit einer sozialen Position korrelieren. „Zu jedem Zeitpunkt jeder Gesellschaft hat man es also mit einem Ensemble von sozialen Positionen zu tun, das iiber eine Relation, eine Homologie, mit einem selber wieder relationalen Ensemble von Tatigkeiten (Golf oder Klavierspielen) oder Giitem (Zweitwohnsitz oder Werk eines beruhmten Malers) verbunden ist." (Bourdieu 1998b: 17) Problematisch an dieser relationalen Klassenauseinandersetzung ist, dass die unteren Klassen wenig Ressourcen in das Spiel um Aufstiegsmoglichkeiten oder um die kulturelle Defmitionsmacht, also die Entscheidung welche Ressourcen gewinnversprechend sind, einbringen konnen. Sie sind in einem klassischen Sinne exkludiert, reproduzieren diese Stellung jedoch zu einem Teil selbst, wenn sie sich die Aneignung bestimmter Guter selbst verwehren. Umgangssprachlich driickt sich dies in einem ,Das ist nichts fur uns' aus. Wie Untersuchungen im Anschluss an Bourdieu zeigen konnten, meiden Unterschichtsangehorige bewusst Orte, die Schamgefuhle aufgrund kultureller Fremdheit erzeugen konnten (Neckel 1991). Sie weisen Formen altemativer Lebensstile, die kulturelles Kapital voraussetzen, aber auch vermehren konnten, zuriick (Bittlingmayer 2000) und entwickeln, wie Bernstein bereits vermutet hatte, eigene Formen der sprachlichen Sozialisation (Cicourel 1993) und der Geschlechterkonstitution (Steinriicke 1996), Dramatisch wird diese Selbstexklusion in Bezug auf Schulbildung, also jener Ressource, die in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung einen besonderen Stellenwert erlangte. Wie ebenfalls in empirischen Untersuchungen gezeigt werden konnte, verfugen Unterschichtsangehorige nicht nur iiber ein geringeres (kulturelles) Startkapital, das durch FordermaBnahmen ausge2 Zum relationalen Paradigma in der Milieu- und sozialen Ungleichheitsforschung vgl. auch Vester et al. 2001.
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glichen werden konnte, sondem mussen uberdies Ressentiments ihres sozialen Umfeldes gegenuber (formaler) Bildung abwehren, wenn sie sich diese aneignen mochten. Die Folge ist, dass die Akteure entweder auf Bildung verzichten oder dass sie sich von ihrem Freundskreis entfremden, ohne unmittelbar ein neues soziales Beziehungsnetz weben zu konnen(Rohleder 1997). Bourdieu bietet somit die Moglichkeit, die zentrale These der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung auf eine breitere Basis zu stellen. Die soziale Position und damit spezifische Einstellungsmuster und Sozialisationsbedingungen werden sowohl durch okonomische, als auch durch kulturelle und soziale Ressourcen indiziert und dariiber hinaus in Relation zu anderen sozialen Positionen, mithin der Gesamtgesellschaft, gestellt. Das Zirkelmodell der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung wird also nicht nur erklart iiber die Berufsposition des Vaters und daraus abgeleiteter Sozialcharaktere, sondem im Kontext von gesellschaftlichen Verteilungskampfen mehrstrahlig lokalisiert. Das schlechte Abschneiden von Kindem aus unteren Schichten im Bildungssystem kann von Bourdieu dann, zusatzlich zu einem kulturellen oder sprachlichen Missverhaltnis zwischen Schiller und Schule, auf eine Selbstexklusion zuriickgefuhrt werden, die vomehmlich aus den Kampfen der einzelnen Klassen urn eine Definitionshoheit liber die je eigenen Lebensstile, die ihrerseits Vertrautheit und Sicherheit garantieren konnen, resultiert. Anders formuliert: Nicht nur das Schulsystem operiert mit objektiven Selektionsmechanismen, sondem die Schtiler und Schulerinnen der unteren Schichten ziehen sich im gesamtgesellschaftlichen Klassenkampf, flir den sie mit wenig Ressourcen ausgeriistet sind, hinter die kulturelle Demarkationslinie ihres Milieus zuruck und erzeugen und reproduzieren so ihrerseits das Missverhaltnis von Schule und Schtiler. Wahrend die von Bertram und Steinkamp vorgetragene Kritik eher immanent vorging, lasst sich die schichtenspezifische Sozialisationsforschung auch von auBen kritisieren. Besonders an Bourdieu entziindete sich der Streit um eine mogliche deterministische Lesart seiner Theorie sozialer Ungleichheit (Pfeffer 1985; Honneth 1990; Miiller 1997). Zwar wird Bourdieu in seinem Gesamtwerk nicht miide zu betonen, dass er durchaus mit einem autonomen Subjekt rechne, dieses aber eben gemafi seines strukturalistischen Ansatzes durch soziale Determinismen gerahmt sieht. Es braucht an dieser Stelle der Streit um das Werk Bourdieus nicht weiter zu interessieren. Dennoch gilt: Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung hat mit ihrem Kausalmodell eine deterministische Interpretation mindestens nahe gelegt. Sie verweist zwar iiberzeugend auf den evidenten Umstand, dass in modernen Gesellschaften, die sich durch eine ungleiche Verteilung von Ressourcen auszeichnen, Kinder aus depravierten Verhaltnissen auf Sozialisationsbedingungen treffen konnen, die ihnen eine optimale Bildung ihrer subjektiven Ressourcen und damit eine gleichberechtigte Partizipation an gesellschaftlichen Feldem verhindem konnen. Ein schlichtes ,Sich-Fiigen' in die Sozialisationsbedingungen, das mit dem Kausal- und Zirkelmodell unterstellt wird, widerspricht jedoch seinerseits den Evidenzen. Matthias Grundmann (1994) ist daher zuzustimmen, wenn er aus einer sozialkonstmktivistischen Perspektive eine Abgleichung sozialstruktureller Umstande mit subjektiven Konstmktionen einklagt.
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2.5. Sozialisation aufmehreren Ehenen: Die sozialokologlsche Sozialisationsforschung Ein anderes Modell, das ahnlich wie Bourdieu einen Mehrebenenansatz verfolgt, das allerdings genuin zur Sozialisationsforschung zahlt, ist die sozialokologische Sozialisationsforschung. Deren prominentester Vertreter ist Urie Bronfenbrenner. Dieser hatte aus der Kritik der psychologischen Laborforschung die Notwendigkeit der Beriicksichtigung der sozialen Lebenswelt als entscheidendes Moment der individuellen Entwicklung eingeklagt. Dabei ging es Bronfenbrenner nicht nur um die wissenschaftliche Erfassung der Entwicklungsbedingungen. Ahnlich wie Mead, Habermas oder die schichtenspezifische Sozialisationsforschung stellte er sein Konzept einer sozialokologischen Sozialisationsforschung in den Kontext einer politischen Aufklarung, aus der konkrete Programme fiir die Gestaltung und Verbesserung der Lebenswelten abgeleitet werden soUten, die ihrerseits den Forschungsprozess anregen (vgl. Bronfenbrenner 1973/1976; Luscher 1976). Neben dem Pladoyer fiir eine angemessene Bezugnahme auf die sozialen Kontexte der Entwicklung, treibt Bronfenbrenner auch die sukzessive Zunahme einer Orientierung am Individuum weiter. Er fordert ein, die Wahmehmungsleistungen der Sozialisanden emst zu nehmen, so dass „die Umwelt fiir Verhalten und Entwicklung bedeutsam ist, wie sie wahrgenommen wird, und nicht, wie sie in der ,objektiven' Realitat sein konnte." (Bronfenbrenner 1993: 20) Dies bedeutet freilich nicht, dass Bronfenbrenner sich, wie in der vorliegenden Arbeit beabsichtigt, um die detaillierte Ausarbeitung eines Erkenntnissubjektes bemiihen wtirde. SchlieBlich ist es auch fur Bronfenbrenner eine theoretische Selbstverstandlichkeit, Entwicklung als einen interaktiven bzw. intersubjektiven Prozess mit der Umwelt zu begreifen. Im Rahmen der Sozialisationstheone steht er, neben der Ausdifferenzierung der sozialen Umwelt auf mehrere Ebenen, dennoch fiir die Weiterfiihrung eines sozialisatorischen Subjektverstandnisses, das nicht nur passiv auf Umweltreize reagiert, sondem diese im Gegenzug auch gestaltet. Im Gegensatz zu Mead oder Habermas konkretisiert er dieses dynamische Prozessmodell durch eine Verzeitlichung der Forschungsperspektive, wenn er in Rechnung steOt, dass Umwehen im Laufe der Entwicklung eine andere Bedeutung flir das Subjekt haben konnen. So rangiert beispielsweise in den mitteleuropaischen Landem die Herkunftsfamilie typischerweise auf einem niedrigeren Platz in der Bedeutungshierarchie, sobald das Individuum eine eigene Familie grundet. Die aus Schulfreunden zusammengesetzte Peer-Group verliert moglicherweise ihre Bedeutung bei dem Eintritt in das Berufsleben. Auf der anderen Seite beeinflusst der soziale Wandel die Personlichkeitsentwicklung dadurch, dass soziale Umwelten etwa in Krisensituationen (wirtschaftliche Rezession, Krieg, ...) eine veranderte Gestalt annehmen, auf die das Subjekt reagieren muss (vgl. Elder 2000). Insgesamt also flihrt Bronfenbrenner jene Denktradition weiter, die das Subjekt nicht als subordinierte Instanz gegeniiber dem gesellschaftlichen System sieht, sondem als agierende GroBe, so dass der Sozialisationsprozess als dynamisches Interaktionsmodell konzipiert werden muss. Der hier vornehmlich anzueignende Beitrag Bronfenbrenners ist jedoch die Ausdifferenzierung der sozialen Umwelt (Bronfenbrenner 1976, 1993). Bronfenbrenner hatte ein Mehrebenenmodell eingefiihrt, das die Einbettung des Individuums in immer groBere Sozialzusammenhange beleuchten konnen sollte. Dadurch kann dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Individuum sich sozialen Umwelten gegeniiber sieht, auf die es in 46
unterschiedlichem MaBe Einfluss nehmen kann und die ihrerseits auf unterschiedliche Weise den Sozialisationsprozess anleiten. Untereinander stehen die einzelnen Systemebenen der sozialen Umwelt in einem interdependentem Verhaltnis, so dass sich nicht nur ein dynamisches Interaktionsmodell zwischen dem Individuum und seiner Umwelt ergibt, sondern auch zwischen den Umweltebenen, wobei diese Wechselseitigkeit zu einer veranderten Umwelt fur den Sozialisanden im Ganzen fxihren kann, Auf der untersten Ebene beschreibt Bronfenbrenner mit dem Mikrosystem die Lebensbereiche, die dem Individuum am unmittelbarsten sind. Es wird konstituiert durch Aktivitaten des Sozialisanden, Rollenstrukturen und intersubjektive Beziehungsmuster. Grundlegend flir die individuelle Entwicklung sind damit fur Bronfenbrenner Handlungen des Kindes, mit denen dieses seine Umwelt zu verarbeiten lernt. Mit dieser Annahme kann er sich auf die Entwicklungspsychologie Piagets stiitzen, die bereits darauf hingewiesen hat, „ein Objekt zu erkennen [bedeutet, R. B.] nicht, es abzubilden, sondem auf es einzuwirken. Es bedeutet Transformationssysteme zu konstruieren, die sich an oder mit diesem Objekt ausfiihren lassen." (Piaget 1996: 23; siehe auch Kap. 2.7.) Auf der anderen Seite werden Tatigkeitsmuster des Kindes so zu einem Gradmesser flir dessen Fahigkeit, aktiv auf immer komplexere Umwelten zu reagieren. Bronfenbrenner steht also im Gegensatz zur Theorietradition des Rationalismus, der, wie am eindringlichsten bei Hegel, vomehmlich im Intellekt die Entwicklung des Kindes erblickt hatte, und bringt diese Frontstellung mit dem Begriff der molaren Tatigkeiten auf den Punkt. Diese bezeichnen solche Tatigkeiten, die durch eine zeitliche Kontinuitat charakterisiert sind, also mit einer gewissen RegelmaBigkeit ausgefiihrt werden. Erst wenn diese Bedingung erfullt ist, konnen Tatigkeiten einen bedeutsamen Einfluss auf die Personlichkeitsentwicklung gewinnen, da zufallig ausgefiihrte Handlungen oder Tatigkeiten, die sich nicht zu einem Verhaltensmuster verstetigen, evidenterweise nicht zu einer sozialisationsrelevanten GroBe avancieren konnen. Entsprechend ist flir den Bereich intersubjektiver Beziehungen die Ubemahme konstanter Rollen eine entscheidende Bedingung flir die Entwicklung. Wie bereits bei Mead gesehen, haben diese die Funktion eine Perspektiviibemahme zu ermoglichen und so Beziehungsstrukturen zu entwickeln, die durch ein Verstandnis des Anderen, das heiBt durch eine relativ konstante Fremdzuschreibung, auf Dauer gestellt werden konnen. In der Perspektive Bronfenbrenners bekommen sie zusatzlich die Aufgabe, iiberhaupt fortgesetzte und verlassliche Sozialbeziehungen aufzubauen, die, wie etwa das Mutter-Kind-Verhaltnis, flir den Sozialisanden mit einem zeitlich entgrenzten Bedeutungsgehalt versehen werden konnen. Dann namlich konnen sie zur Generierung von Handlungsstrukturen und Wertiiberzeugungen beitragen. Wie geschildert sind solche Sozialbeziehungen flir Bronfenbrenner immer durch eine Transaktionalitat gekennzeichnet, so dass nicht nur das Verhalten der Sozialisationsagenturen (Eltem, Lehrer, ...) auf den Sozialisanden wirkt, sondem dessen Verhalten im Gegenzug die Handlungsmuster der Beziehungspartner verandert. Flir die Entwicklung des Kindes ist das Mirkosystem von entscheidendem Einfluss. Institutionell umfasst es neben der Familie insbesondere die Schule, den Freundeskreis und Freizeitaktivitaten z. B. in Form einer Vereinszugehorigkeit und damit eben jene Lebensbereiche, die dem Individuum insofem unmittelbar sind, als ein direkter Bezug zu den Interaktionspartnern hergestellt werden kann, verlassliche Rollenstrukturen und konstante Sozialbeziehung nahe gelegt und dem Individuum weitest gehende Moglichkeiten der Gestal47
tung seiner Umwelt zur Verfiigung gestellt werden. Dariiber hinaus vermittelt der direkte und regelmafiige Kontakt mit den Beziehungspartnem die Notwendigkeit, Sozialbeziehungen auf das Fundament einer diskursiven, demokratischen Ubereinkunft zu stellen (vgl. Youniss 1994a). Freilich ware die ausschlieBliche Partizipation an dem Mikrosystem kaum in der Lage, dem Sozialisanden komplexe gesellschaftliche Strukturmuster zu vermitteln. Innerhalb des Mikrosystems lebt das Individuum gleichsam in einer Welt mit engen Grenzen, die nicht dazu anregen, immer komplexere Umwelten zu verarbeiten. Erst die Verbindung und Grenziiberschreitung von Mikrosystemen erlaubt dem Sozialisanden diverse Tatigkeiten und Rollen aufeinander zu beziehen und so eine einheitliche und zugleich komplexe Lebenswelt zu konstituieren. Diese Systemebene der Wechselbeziehung zwischen den Mikrosystemen bezeichnet Bronfenbrenner als Mesosystem. Wenngleich dieses aus den gleichen Elementen wie das Mikrosystem aufgebaut ist, steht nicht mehr ein einzelner Lebensbereich im Blickpunkt des Interesses, sondem die Verbindung dieser Bereiche. Beispielhaft illustrieren lasst sich dies an dem Umstand, dass oftmals die selben Personen an dem Mikrosystem Schule und an dem Mikrosystem Freundeskreis teilhaben. Dies kann dazu flihren, dass etwa der Freundeskreis eine untersttitzende Funktion bei der Anfertigung von Hausaufgaben bekommen kann. Ein anders Beispiel, das potentiell zu Konflikten flihren kann, ist die Differenz zwischen dem Mikrosystem Familie und dem Mikrosystem Freundeskreis. Aus beiden konnen sich unterschiedliche Werthaltungen speisen, die unter Umstanden zu den beruhmten Generationenkonflikten fuhren konnen. „Fasst man die Beftinde zusammen, dann kann man das Mesosystem als einen allgemeinen Onentierungsrahmen fiir das Individuum definieren, durch den die unterschiedlichen Handlungsanforderungen der Umwelt aufeinander bezogen und gegeneinander abgewogen werden, sich soziale Beziehungen verfestigen und Handlungskompetenzen erworben werden, die die Ubernahme von Rollen und die Gestaltung von Beziehungsstrukturen ermoglichen." (Grundmann/Fuss/Suckow 2000: 35) Dem Bereich unmittelbarer Zugriffchancen entzogen ist das Exosystem. Dieses ist dem Sozialisanden nicht durch direkte Interaktionen zuganglich, ubt aber dennoch einen mittelbaren Einfluss auf den Sozialisationsprozess aus. Am deutlichsten demonstrieren lasst sich das Exosystem an der Berufsposition der Eltem. Wie gezeigt werden konnte, spielen die Arbeitsbedingungen von Erwerbstatigen eine gewichtige Rolle in Bezug auf deren Erziehungsverhalten und deren Erziehungsziele. Eltern, deren Arbeitsbedingungen eher selbstbestimmt sind, neigen dazu, die Selbststandigkeit des Kindes zu fordem, wahrend bei Eltern mit einer eher fremdbestimmten Tatigkeit autoritare Erziehungsstile dominieren (Kohn 1963). Wie leicht nachvollziehbar, hat das Kind keinen Einfluss auf die Tatigkeitsstrukturen seiner Eltem, diese sind ihm moglicherweise nicht einmal vertraut, dennoch sind sie in der Lage, den Sozialisationsprozess inhaltlich auszurichten. Hinzu kommt, dass die mit unterschiedlichen Berufspositionen verbundenen Einkommensklassen die materielle Ausstattung der Herkunftsfamilie bestimmen und diese ihrerseits die Handlungsmoglichkeiten und Entwicklungschancen z. B. innerhalb des Mikrosystems Freundeskreis begrenzen konnen (Krappmann 1999). Wenngleich dem direkten Zugriff des Sozialisanden entzogen, bleibt auch im Fall des Exosystems die Interdependenz zwischen Individuum und Umwelt erhalten. Das Kind kann 48
beispielsweise, freilich unintendiert, auf die berufliche Position eines Eltemteiles verandernd wirken, wenn etwa, wie in klassischen Familien ublich, die Mutter ihre Berufstatigkeit aufgibt und sich allein der Erziehung widmet. Letztlich sind die bisherigen Systemebenen eingebunden in das Makrosystem. Dieses bezieht sich auf regionale oder gesamtgesellschaftliche Wertvorstellungen, Normen, Traditionen und institutionelle Einrichtungen. Wie in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung oder der Milieuforschung gesehen, konnen dies subkulturelle Muster innerhalb bestimmter Schichten sein, die typische Verhaltensweisen nahe legen. Dies sind aber auch gesamtgesellschaftliche Normen, wie etwa politische Verfassungen oder auch Internationale Reglements wie das Volkerrecht, das eine friedensorientierte AuBenpolitik und damit entsprechende Uberzeugungen der Individuen verbindlich machen soil. Solche Wertvorstellungen oder gesellschaftliche Institutionen wirken auf die Ausformung sowohl des Exo- als auch der Mikrosysteme ein. Sie sind bis zu einem gewissen Grad mitbestimmend bei der Strukturierung von Berufspositionen und Tatigkeitsmustem, aber auch, wie im Falle der Schule, fur die institutionelle Organisation von unmittelbaren Lebensbereichen. Gerade auch hier gilt jedoch: Dem Individuum ist das Makrosystem zwar das entfernteste, dennoch hat es, wie etwa die politische Philosophic sowohl des Liberalismus als auch des Republikanismus behauptet, Einflussmoglichkeiten auf dessen Gestalt. Diese werden zumeist in Begriffen des burgerschaftlichen Engagements oder der politischen Partizipation umschrieben (Krettenauer 1998; Beer 2002a). Neben der raumlichen Strukturierung des sozialen Raumes berucksichtigt die sozialokologische Sozialisationsforschung auch die Dimension der Zeit. Dies bezieht sich zunachst auf den evidenten Umstand, dass Individuen im Laufe ihrer Entwicklung in spezifische Mikrosysteme eintreten, um diese nach einer bestimmten Zeit wieder zu verlassen, wie etwa im Fall des Mikrosystems der Schule oder der Herkunftsfamilie. Mit der Dimension Zeit konnen aber auch soziale Veranderungen thematisiert werden, die auf die inhaltliche und formale Strukturiertheit der verschiedenen Raumebenen einwirken, Beispiele hierftir sind etwa der Wechsel von politischen Regierungen oder Systemen, die zu anderen Wertvorstellungen im Makrosystem oder zu einer veranderten Berufsstruktur fuhren konnen. Ftir die Individualgenese bedeutet die Beriicksichtigung der Zeit insbesondere den Blick dafiir zu scharfen, dass das Individuum im Laufe seiner Entwicklung an immer mehr Mikrosystemen partizipiert und daher ,gen6tigt' ist, immer komplexere Umwelten zu verarbeiten und aufeinander zu beziehen. Bronfenbrenner wertet diesen Umstand als eine entscheidende Ressource ftir eine optimale Entwicklung, die er in der Hypothese zusammenfasst: „In welchem AusmaB die Entwicklung gefordert wird, hangt direkt von der Anzahl strukturell verschiedener Lebensbereiche ab, an denen die sich entwickelnde Person in vielfaltigen Dyaden gemeinsamer Tatigkeit und in Primardyaden beteiligt ist, insbesondere, wenn ihre Dyadenpartner reifer oder erfahrener sind als sie selbst." (Bronfenbrenner 1993: 202) Mit dem Fokus der Zeit gilt diese Komplexitat der Systempartizipation nicht nur als gleichzeitige Partizipation, sondem auch als sukzessive Akkumulation verschiedener Rollen, Tatigkeitsbeztige etc. Bronfenbrenner bezeichnet diese Akkumulation als okologische Ubergange, die etwa im Fall des Berufseintrittes neue Rollenanforderungen mit sich bringen. Dem Individuum wird dann abverlangt, sich neuen Umweltbedingungen anzupassen und multiplen Rollenanforderungen zu genligen. Insbesondere das Makrosystem setzt dabei einen 49
entscheidenden Rahmen, wenn es typische Altersklassen fiir okologische Ubergange formuliert. So gibt es sowohl formelle als auch informelle Regelungen, die den Eintritt in die Schullaufbahn, die Aufnahme des Berufslebens, die Dauer eines Studiums etc. prajudizieren. An diesen Beispielen wird deutlich, dass ein okologischer Ubergang nicht eo ipso mit Entwicklung gleichzusetzen ist. Der Eintritt in die Schule etwa muss nicht zwangslaufig schon einen Entwicklungsschritt des Kindes bedeuten. Dies hangt sicherlich von der Herkunftsfamilie und deren Vorbereitung auf die Einschulung ab, wie die schichtenspezifische Sozialisationsforschung gezeigt hat. Bronfenbrenners Beitrag fiir die Sozialisationsforschung, so lasst sich zusammenfassen, liegt darin, die soziale Umwelt angemessen beachtet zu haben, indem er diese durch ein raumliches und zeitliches Mehrebenenmodell beschreibt. Er kann damit die Sensibilitat fiir sozialstrukturelle Sozialisationsagenturen, die von der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung eingefordert, aber nicht hinreichend spezifiziert wurde, scharfen und zweierlei deutlich machen. Erstens konkretisiert Bronfenbrenner das mogliche Scheitem der Individualgenese, gemessen an kognitiven und moralischen Fortschritten, durch den Hinweis darauf, dass auf der Zeitachse in modemen Gesellschaften spezifische Perioden liegen, die dem Sozialisanden mit immer neuen und komplexen Rollen- und Tatigkeitsanforderungen begegnen und auf die der Sozialisand reagieren konnen muss. In der Perspektive Bronfenbrenners darf dies allerdings nicht als objektiver Zwangszusammenhang missverstanden werden. Die sukzessive Erweiterung der unmittelbaren und mittelbaren Lebensbeztige eines Individuums ermoglicht diesem eine Vielzahl an Handlungsoptionen zu generieren, die zweifelsohne die Freiraume des Individuums erweitem. Positiv formuliert bedeutet die Lebensbereichserweiterung eine Entwicklungschance. Individuen, denen es nicht gelingt, zunehmend komplexe Strukturen zu verarbeiten, diirften demgegentiber hochstwahrscheinlich nur iiber eine enge Lebenswelt und damit uber geringe Partizipationschancen an modernen Gesellschaften verfligen. Die Folge davon kann eine Exklusion aus verschiedenen gesellschaftlichen Feldern bedeuten, wie dies schlieBlich durch die schichtenspezifische Sozialisationsforschung vomehmlich am Beispiel der Bildung demonstriert wurde. Zweitens gelingt es Bronfenbrenner einen gewichtigen Aspekt der Individualgenese innerhalb sozialer Umwelten genauer zu problematisieren: Soziale Umwelten sind keineswegs statische Gebilde, die als feste ReizgroBe von den Individuen im Laufe ihrer Entwicklung bloB angeeignet werden mtissen, wie dies der Strukturfunktionalismus vermutet hatte. Sie verandern sich durch vielfaltige und kontingente Mechanismen. Sowohl das Zusammenspiel verschiedener Umweltebenen, als auch die dynamische Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, flihren immer wieder zu veranderten Bedingungen, die im extremen Fall (Krieg, Naturkatastrophen, ...) vollig veranderte Ausgangspositionen fiir die weitere Entwicklung mit sich bringen. Daraus folgt, dass dem Individuum weit mehr Flexibilitat und Kreativitat abverlangt wird, als das bloBe Nachvollziehen eines gegebenen gesellschaftlichen Status Quo. Das bloB passive Reagieren auf vorgefundene Umweltbedingungen wird aus diesem Blickwinkel gar zu einem riskanten Untemehmen, das erhebliche Entwicklungsnachteile nach sich ziehen kann. Trotz dieser spezifizierenden Elaboration der sozialen Umwelt und der starken Orientierung am Individuum als eine GroBe, die den Sozialisationsprozess grundsatzlich mitgestaltet, fehlt aber auch Bronfenbrenner eine Perspektive auf das Subjekt, wie sie mit der ,Kritik 50
der sozialisierten Vemunft' angestrebt wird. Er stellt zwar insofem einen weiteren Schritt auf das Subjekt dar, als er zumindest postuliert, dessen Wahmehmungen emst zu nehmen. Genau dies kollidiert jedoch eigenttimlich mit seinem Vorgehen, dieses in eine Umwelt zu setzen, die mit objektiven Begriffen beschrieben wird. Es muss dann unklar bleiben, welchen Status das Subjekt gegeniiber einem solchen Umweltmodell haben kann. Eine nachholende theoretisch-begriffliche Konzeptionalisierung des Subjekts, die das dynamische Individuum-Umwelt-Modell Bronfenbrenners aufnimmt, leistet die von Hurrelmann vorgeschlagene Formel des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts'.
2.6. Das Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts': Klaus Hurrelmann Wie gesehen, nimmt das Bild des Subjekts innerhalb der sozialwissenschaftlichen Erorterung spatestens mit Mead jene Stellung ein, die ihm von der politischen Philosophie der Aufklarung bereits zugedacht worden war, Es lost sich aus der noch von Durkheim favorisierten Subordination unter gesamtgesellschaftliche Anforderungen und wird zu einem gleichberechtigten Austauschpartner mit der sozialen Wirklichkeit. Wird von der strukturfunktionalistischen Reanimierung des normativen Modells von Emile Durkheim durch Parsons abgesehen, schreibt Habermas das Bild Meads nicht nur fort, sondem bringt das Subjekt explizit mit dem Anspruch auf eine starke Ich-Identitat in Verbindung, die das hypertrophe Wachstum der medial vermittelten Funktionssysteme moderner Gesellschaften steuern konnen soil. Er verpflichtet das Subjekt auf das sozialistische und/oder sozialdemokratische Ideal einer gesellschaftlichen Dominanz gegeniiber der durch die Anarchic des Marktes unkontrollierten Wirtschaft. Selbst in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung durfte wohl, trotz der strukturalistischen und objektivistischen Anlage der Untersuchung, das emanzipierte Subjekt gemeint gewesen sein, das durch Bildung eben jenen Status eines aufgeklarten Burgers und damit gleichberechtigte Partizipationschancen erreicht. Bronfenbrenner schlieBlich weist darauf hin, dass das bloBe Repetieren sedimentierter Kulturmuster zu Entwicklungsdefiziten flihren kann, die letztlich auch fiir den Strukturfiinktionalismus nicht akzeptabel sein konnen, da Entwicklungsdefizite potentiell delinquentes Verhalten nach sich ziehen konnen, die dann eine storungsfreie Reproduktion der Gesellschaft blockieren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erfahrt das Subjekt also eine sowohl politische und damit verbunden auch sozialwissenschaftliche Aufwertung, die zum einen seine Stellung gegeniiber der Sozialitat beruhrt: Der aus der Perspektive der Gesellschaft thematisierte Aspekt der Integration wird aufgeweicht. Zum anderen jedoch werden vom Subjekt selbst Kompetenzen (Ich-Identitat, Personlichkeitsentwicklung, Miindigkeit, ...) abverlangt, die durch den Sozialisationsprozess erworben werden miissen, und damit kontingent sind: Sozialisationsprozesse konnen aus dieser normativen Perspektive scheitem, und die Aufwertung der Rolle des Subjekts macht deutlich, dass dies nur zu einem Teil objektiven, gesellschaftlichen Strukturen angelastet werden kann. Das Subjekt ist nicht nur Opfer, sondem immer auch Tater seiner Sozialisation. Dieses Subjektverstandnis auf eine heuristische Formel gebracht zu haben ist der Verdienst von Klaus Hurrelmann, der dieses Verstandnis mit dem Ausdruck des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' zusammenzieht. Was damit 51
veranschaulicht wird, ist „ein Modell der dialektischen Beziehungen zwischen Subjekt und gesellschaftlich vermittelter Realitat, eines interdependenten Zusammenhangs von individueller und gesellschaftlicher Veranderung und Entwicklung. Dieses Modell stellt das menschliche Subjekt in einen sozialen und okologischen Kontext, der subjektiv aufgenommen und verarbeitet wird, der in diesem Sinne also auf das Subjekt einwirkt, aber zugleich immer auch durch das Individuum beeinflusst, verandert und gestaltet wird." (Hurrelmann 1983:93) Das von Hurrelmann vorgeschlagene Modell nimmt also die ideengeschichtliche Veranderung des Subjektverstandnisses auf und macht durch den Begriff der ,Realitatsverarbeitung' deutlich, dass das Subjekt beziiglich seiner Eigenleistung und seines Eigenanteils am Sozialisationsprozess ernst genommen werden muss. Zugleich halt Hurrelmann an der Vorstellung fest, nach der sich das Subjekt grundsatzlich gesellschaftlichen Strukturen ausgesetzt sieht, die hinter seinem Riicken Handlungsraume offnen oder schlieBen konnen. Damit fordert das Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' nicht nur eine Verzahnung von Sozialisations- und Gesellschaftstheorie (vgl. auch Hurrelmann 1976; Ottomeyer 1998), sondem behalt auch eine kritische Sicht auf den Sozialisationsprozess. Strukturen, die nicht durch einen intersubjektiven Diskurs legitimiert sind und dem Subjekt Restriktionen auferlegen, die die Moglichkeiten auf eine freie Entfaltung behindem, konnen mit diesem Modell kritisiert werden. Hurrelmann bietet einen begrifflichen Schltissel fur eine solche Kritik, wenn er zwischen die Analyseeinheiten der Gesellschaft und des menschlichen Organismus die Personlichkeit setzt. Dieser politisch gefarbte Begriff impliziert schlieBlich jene von Habermas so eindringlich problematisierten Werte wie Mlindigkeit oder Ich-Identitat. Entwicklungstheoretisch generiert sich die Personlichkeit, wie bereits bei Bronfenbrenner, aus dem interdependentem und kontigentem Zusammenspiel von Strukturen und subjektiver Eigenaktivitat. Erganzt wird dieser begriffliche Schltissel durch die Einbeziehung kompetenztheoretischer Uberlegungen (Hurrelmann 1998: 75ff.). Die aktive Verarbeitung der Umwelt setzt auf der Seite des Subjekts die Entwicklung spezifischer kognitiver, sprachlicher und moralischer Fahigkeiten voraus, deren Erwerb keinesfalls a priori gesichert ware. Mit dem Kompetenzbegriff kann Hurrelmann daher an die schichtenspezifische Sozialisationsforschung anschliefien, ohne freilich deren deterministische Konnotationen zu iibernehmen. Misslingt der Erwerb dieser Kompetenzen, liegt dies nicht nur an restriktiven Strukturen, seien sie nun gesamtgesellschaftlicher oder familiarer Art, sondern auch an dem Subjekt, das als ,realitatsverarbeitend' zu einem gewissen Teil selbstverantwortlich wird. Der Kompetenzerwerb wird daher selbstverstandlich nicht auf die Verarbeitung der sozialen und materiellen Umwelt beschrankt. Er bezeichnet auch die Entwicklung eines stabilen Selbstbildes, von dem aus in intersubjektiven Zusammenhangen eigene Motive und Interessen geltend gemacht werden konnen. Storungen der Entwicklung von Handlungskompetenzen und Selbstreflexivitat gelten Hurrelmann als nicht gelungene Ubereinstimmung von objektiven Umweltanforderungen und subjektiven Fahigkeiten. Um dies zu verdeutlichen, sei vorwegnehmend an die Entwicklungspsychologie Piagets erinnert, die diesen Gedanken ausflihrlich thematisiert hatte. Die begriffliche Konzeptualisierung der Personlichkeitsentwicklung durch die Dialektik von Assimilation und Akkommodation (vgl. Piaget 1991; Kapitel 2.7.) eroffnet mehrere 52
Ergebnismoglichkeiten dieser Entwicklung. Uberwiegen die Modi der Assimilation dtirfte das Subjekt zu eigenwilligen und egozentrischen Handlungsdispositionen neigen, die eine Ubereinkunft mit alter ego und damit das Herstellen intersubjektiver Handlungsplanungen und -ziele erschweren. Uberwiegen die Modi der Akkommodation dtirfte das Subjekt eine subordinare Stellung einnehmen, die eine gelungene Selbstreflexivitat verhindert. Erst die Ausbalancierung bzw. die Aquilibrierung beider Modi erlaubt dem Subjekt eine tendenzielle Ubereinstimmung von Begriff und Gegenstand und damit eine erfolgsichernde Verarbeitung der Umwelt. Sowohl bei Piaget (vgl. Seiler 1994) als auch bei Hurrelmann stellen die Umweltanforderungen eine feste (wenngleich historisch wandelbare) GroBe dar. Entscheidend in Bezug auf Storungen bei der Entwicklung von Handlungskompetenzen sind daher die subjektiven Fahigkeiten, die dariiber entscheiden, ob das Subjekt zu einer Ubereinstimmung von Begriff und Gegenstand gelangt und daher in der Lage ist, stabile Handlungsoptionen zu generieren, die einen storungsfreien Ablauf der Entwicklung aber auch der alltaglichen Lebensftihrung gestatten. Die Kritik gesellschaftlicher Verhaltnisse speist sich damit durch die Differenz zwischen einem normativ gesetzten Kompetenzbegriff und dem tatsachlichen Entwicklungsstand eines Subjekts und dem Versuch die gesellschaftlichen Verhaltnisse als widerstandlich gegeniiber einer gelungenen Ontogenese zu diagnostizieren. Klaus Hurrelmann hat also mit seiner Formel des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' die bisher verhandelten theoretischen Konzeptionen zusammengefasst. Dies sowohl beztiglich der Subjektvorstellung als auch beziiglich der kritischen Potentiale, die die Sozialisationsforschung durch Habermas, die schichtenspezifische Sozialisationsforschung und Bronfenbrenner erhalten hatte. Wenn aber dieses kritische Potential zu einem wesentlichen Anteil der Seite des subjektiven Entwicklungsverlaufes geschuldet ist, liegt es nahe, die Sozialisationsforschung starker auf diese zu konzentrieren.
2.7. Sozialisation und Verlauf: Die Entwicklungsperspektive Innerhalb der neueren Soziologie sind es vornehmlich zwei Diskurse, die sich um die Perspektive des Verlaufes bemlihen: Die Biographieforschung einerseits und die Lebensverlaufsforschung andererseits. Letzterer geht es grob skizziert darum, die individuellen Lebenslaufe vor dem Hintergrund sozialer und politischer Veranderungen erklarbar zu machen (Mayer 1987; Elder/Caspi 1990). Dabei werden insbesondere zwei Aspekte von individuellen Entwicklungsverlaufen sichtbar. Zum einen kann gezeigt werden, dass Lebenslaufe von Individuen in modemen Gesellschaften durch staatlich, sozial und biologisch gesetzte Umstande institutionalisiert werden konnen (Kohli 1985, 1998; Voges 1987). Dies bezieht sich etwa auf die Schule als staatlich institutionalisierter Vorgabe, die einen spezifischen Zeitabschnitt der Individualentwicklung koordiniert, auf sozial anerkannte Lebensverlaufmuster, die z. B. typische Altersangaben ftir die Berufsaufnahme oder die Griindung einer eigenen Familie beinhalten, und selbstverstandlich auf die biologische Reifung und Lebenszeit, die spezifische Handlungsoptionen und -erwartungen ermoglichen oder verhindern kann. Damit kann zum anderen auf den normativen bzw. normierenden Aspekt von Lebenslaufen aufmerksam gemacht werden. Individuen richten sich in ihrer Lebensplanung 53
immer auch an sozial vorgegebene Altersstufen, auf denen bestimmte Ereignisse erwartet Oder bestimmte Ziele erreicht werden sollen (Heckhausen 1990). Dies konnen Erwartungen sein, die die Griindung einer Familie innerhalb eines Altersabschnittes terminieren. Dies konnen aber auch gesellschaftlich umkampfte Altersvorgaben flir den Renteneintritt sein. Normierende Alterstypisierungen, so ein Ergebnis der Lebenslaufforschung, konnen Lebensverlaufe so prajudizieren, dass sie bei einem Scheitem des Individuums in Bezug auf das Erreichen bestimmter Ziele zu einem gegebenen Alter moglicherweise personliche Konsequenzen nach sich ziehen. Dies wird unter anderem dann deutlich, wenn ein sozial anerkannter Lebenslauf flir bestimmte Berufspositionen zur Voraussetzung wird (Kohli 1985). Eine der detailliertesten durchgefiihrten Untersuchungen zu diesem Zusammenhang von Sozial- und Psychogenese ist nach wie vor die Studie von Norbert Elias (1994) zum Prozess der Zivilisation. Diese stand zwar noch nicht explizit unter dem Label ,Lebenslaufforschung', sie zeichnet jedoch individuelle Verhaltensveranderungen im Kontext sich verandernder sozialer und politischer Verhaltnisse minutios nach. Indem sie anhand historischer Quellen die Modifikation alltaglicher Handlungsmuster im ausgehenden Mittelalter und der friihen Neuzeit, indiziert iiber das Verhalten bei Tisch, den Umgang mit Sexualitat etc., demonstriert und diese auf sozialstrukturelle Verschiebungen innerhalb der Herrschaftsstruktur zurlickfuhrt, thematisiert sie exakt den Zusammenhang von individuellen Lebensentwiirfen und Einstellungsmustern auf der einen Seite und soziohistorischen Prozessen auf der anderen Seite. Mit dieser Perspektive dekodiert Elias den Zivilisationsprozess als sukzessive Umwandlung vormaliger Fremd- in Selbstzwange (Genese individueller Verhaltensweisen und Einstellungsmuster) und als einen kontingenten Prozess, der keinem planerischen Handeln folgt, sondem im Sinne Hegels ,List der Vemunft' dem Zusammentreffen je individueller Interessen (Genese der sozialen und politischen Strukturen). Eine mogliche Kritik an der Lebensverlaufsforschung ist der Hinweis darauf, dass individuelle Lebensverlaufe nicht umstandslos generalisiert werden konnen (Clausen 1976; Brandtstadter 1990). Dieses Bild eines generalisierten Lebenslaufes suggeriert zu haben, dlirfte der tendenziellen Ausrichtung der Lebensverlaufsforschung auf den Fokus des Zusammenspiels struktureller und individueller Entwicklungen geschuldet sein. Eine starkere Perspektive auf das Subjekt bietet dagegen die Biographieforschung (Fuchs-Heinritz 1990; Juttemann/Thomae 1999), die allerdings ihrerseits nicht immer trennscharf von der Lebensverlaufsforschung zu differenzieren ist. SchlieBlich versteht sich auch die Biographieforschung - synonym zur Lebensverlaufsforschung - als Mittlerin zwischen sozialer Struktur und Individuum (Fischer/Kohli 1987; Bahrdt 1987). Durch das Verstandnis der Wirklichkeit als narrativ konstituierter Biographic (Straub 2000) gelingt es der Biographieforschung jedoch die Tendenz auf die Strukturalisierung von Lebensverlaufen in der Lebensverlaufforschung zugunsten des Individuums umzudrehen. Dieses erzeugt durch die biographische Narration eine Identitat iiber die Zeit, die sich wesentlich den kumulativen Effekten eigenen Handelns bzw. der Strukturalisierungsleistung des Subjektes verdankt (kritisch dazu Bourdieu 2000). Den kumulativen Effekt der Biographic betonen insbesondere solche Ansatze der Biographieforschung, die an die Lebensweltphanomenologie von Alfred Schiitz ankniipfen (Hoerning 1987; Grundmann 2000). Diese hat die Individualgenese verstanden als sukzes54
siven Aufbau eines Erfahrungswissens, das fiir den Erwerb je neuen Wissens konstitutiv wird. Wissen, so die These, wird immer im Kontext bereits erworbenen Wissens weiterentwickelt, wobei insbesondere problematische Situationen zur Erweiterung des sedimentierten Wissensvorrates anregen. Das Subjekt dieser Wissensakkumulation ist dabei in der Form aktiv gedacht, als der Wissenserwerb grundsatzlich vor dem Hintergrund subjektiver Sinnsetzungen und Relevanzen ablauft. Ob daher eine neue Situation, die mit den sedimentierten Typisierungen, die im Laufe der Biographie erworben wurden, nicht hinreichend erfasst werden kann, zur Entwicklung neuer Wissenstypen beitragt, oder ob die Situation als fraglos gegeben akzeptiert wird, ist eine Frage nach den subjektiven Motiven. Anders formuliert: „0b eine Erfahrung fraglos ablauft oder ob eine Auslegung notwendig wird, geht auf die jeweilige situationsbezogene Konkretisierung des pragmatischen Motivs, der biographisch gepragten Interessenshierarchie zuriick." (Schtitz/Luckmann 1994: 160) Eine derart an Schiitz orientierte Biographieforschung interessiert sich also vomehmlich ftir den intrasubjektiven Prozess einer zunehmenden Verarbeitungskompetenz von Erfahrungen und fur den Aufbau einer stabilen Ich-Identitat auf dem Fundament einer narrativ erzeugten je eigenen Wirklichkeitsbiographie. Wie bereits bei den referierten Sozialisationsansatzen gesehen, wird dabei auch in der Biographieforschung das Subjekt zwar einerseits aktiv gedacht, andererseits aber in soziale und strukturelle Kontexte gestellt. Eine Ausnahme machen etwa Walter R. Heinz (2000) und Gerhard Jost (2003), die die Biographisierung der eigenen Identitat iiber das Konzept einer Selbstsozialisation (siehe dazu Kapitel 2.10.) oder Selbstorganisation explizit auf die subjektive Autonomic verpflichten und Peter Allheit und Bettina Dausien (2000), die aus konstruktivistischer Sicht einfordem, „Sozialitat konsequent aus der biographischen Perspektive wahrzunehmen - nicht um den objektiven Charakter struktureller AuBeneinflusse zu dementieren, sondem um die Semantik zu verstehen, mit der psychische Systeme Soziales zu codieren pflegen." (Ebd.: 274) Ein Paradigma, das die grundsatzliche Ausrichtung der Biographie- und Lebensverlaufforschung in einem gewissen Sinne zu integrieren vermag, und das diesen Diskursen chronologisch und thematisch voraus ging, ist die genetische Epistemologie Jean Piagets. Diese bietet nicht nur Uberschneidungen zur Lebensweltphanomenologie (Grundmann 1997), sondern stellt tiberdies die Individualgenese in den Mittelpunkt ihrer Uberlegungen und gih daher zugleich als Vorlaufer konstruktivistischer Ansatze (Rusch/Schmidt 1994). Jean Piaget hat seine intellektuelle Laufbahn zunachst als Biologe begonnen und war schlieBlich durch seinen Onkel angeregt worden, Interesse fiir die Philosophic zu entwickeln. Seine zentrale Fragestellung ruhrt aus diesem Zusammentreffen. Zeit seines Lebens laborierte er an einer Erkenntnistheorie, die mit Hilfe der Naturwissenschaften den spekulativen Charakter genuin philosophischer Erkenntnistheorien iiberwinden sollte (Fetz 1988; Piaget 1992). Diese Anbindung an die biologischen Wissenschaften fiihrte zu einem Vernunftbegriff, der sich strukturgenetisch an die Reproduktionsprozesse biologischer Organismen anlehnt. Grundsatzlich bedeutet dies auch fiir den Vemunftbegriff Piagets, die Vemunftgenese auf die Schienen eines interaktiven Austausches mit der Umwelt zu setzen (Piaget 1981). Der von Piaget anvisierte interaktive Austausch darf dabei allerdings nicht mit dem symbolischen Interaktionismus gleichgesetzt werden. Er impliziert nicht eine dialogische Situation sprachlich und kulturell harmonisierender Subjekte, sondem ist eher an die Vorstellung 55
einer monologischen Austauschsituation im Sinne von Marx zuriick zu binden. Die Individualgenese ist zwar abhangig von Umweltzufuhren, die Verarbeitung dieser Ressourcen ist jedoch eindeutig ein intrapsychischer Prozess, der nicht intersubjektiv oder sozial entschllisselt werden kann (Seiler 1998). Deutlich wird dieses Modell an der von Piaget gefiihrten Kritik am Behaviorismus. Dieser legt ein Stimulus-Response-Modell vor, nach dem das Subjekt sich passiv den Umweltvorgaben anpasst. Dem halt Piaget entgegen, dass so einerseits individuelle Lemprozesse unverstandlich wiirden und andererseits das Subjekt eben aufgrund intrapsychischer Prozesse aktiv auf Umweltzufuhren reagiert. „Damit der Stimulus eine Reaktion auslost, muss das Subjekt bzw. der Organismus uberhaupt dazu fahig sein. [...] Der Ausgangspunkt ist somit nicht der Reiz, sondern die Sensibilitat einem Reiz gegeniiber und diese ist die Fahigkeit zur Antwort! Das Schema muss somit nicht S>R geschrieben werden, sondern als S>
gen auf die menschliche Vemunft prononciert der Assimilationsprozess den Umstand einer aktiven Entwicklungsgestaltung durch das Subjekt, indem er darauf hinweist, dass, wie auch Schiitz angenommen hatte, je neue Erfahrungen grundsatzlich durch bereits erworbene kognitive Schemata defmiert, das heifit durch bereits erworbene kognitive Schemata assimiliert werden. So kann etwa eine aus der objektivistischen Beobachterperspektive als Katze definierte Wahmehmung durch einen Akteur, der iiber das kognitive Schema ,Katze' nicht verfiigt, sehr wohl aber liber das Schema ,Hund', als Hund begriffen oder eben assimiliert werden. Problematisch wird diese Wahmehmungsauslegung, und auch dies hatte Schiitz postuliert, wenn die Katze Eigenschaften zeigt, die eine Assimilation unter das kognitive Schema ,Hund' ausschlieBen. Die dann notwendige Erweiterung der kognitiven Schemata unter dem Anpassungsdruck der auBeren Objekte kennzeichnet den Prozess der Akkommodation. Der Akteur aus dem Beispiel konnte die Erfahrung machen, dass die von ihm als Hund definierte Katze ihn anspringt und mit ihren Krallen kratzt. Eine Eigenschaft, die Hunde typischerweise nicht zeigen, und die den Akteur fiir eine adaquate Situationsdefinition notigen, entweder sein kognitives Schema ,Hund' zu erweitern um die Eigenschaft ,Es gibt Hunde, die mit ihren Krallen kratzen', oder das Oberschema ,Tier' auszudifferenzieren um ein Schema ,Es gibt Tiere, deren sichtbarer Korperbau denen eines Hundes ahnelt, die aber keine Hunde sind, weil sie mit ihren Krallen kratzen'. Auf diese Weise konnte der Akteur zu dem kognitiven Schema ,Katze' gelangen. Die Akkommodation stellt also als Gegensatz zur intrapsychischen Assimilation die Anpassungs- und Orientierungsleistung des Subjektes an eine auBere Umwelt dar. Zusammen konkretisieren sie das von Mead liber Habermas bis Hurrelmann angelegte Subjektverstandnis eines Akteurs, der sich sowohl strukturellen Gegebenheiten gegenliber sieht, diese aber aktiv und nach eigenen Kriterien verarbeitet. Der Adaptionsprozess der Vernunft insgesamt tendiert nun, gemaB biologischen Prozessen, zu einem Gleichgewicht zwischen seinen assimilativen und akkommodativen Elementen. Eine vollstandige und optimale Austauschbeziehung mit der Umwelt ware also dann erreicht, wenn es keine Erfahrungen mehr gibt, die einen Akteur zu einer Weiterentwicklung seiner kognitiven Schemata anregen konnen. Wie bereits geschildert (Kap 2.6.), kann die Dominanz einer der beiden Teilprozesse bedeuten, dass das Subjekt sich in willklirliche, egozentrische Positionen zurlickzieht oder das Erreichen einer stabilen Identitat aufgrund einer stark ausgepragten Subordination scheitert. Erkenntnistheoretisch bedeutet diese Annahme eines optimalen Zusammenspiels von Assimilation und Akkommodation, dass jeder Erkenntnisakt sowohl logische Implikationen als auch empirische Explikationen umfassen konnen muss. Nach Piaget ftihrt weder die rationalistische Strategic der logischen Deduktion, noch die empiristische Strategic der Ableitung aus konkreten Erfahrungsinhalten zu einer Ubereinstimmung von Begriff und Gegenstand und damit zu dem, was traditionellerweise mit dem Begriff Wahrheit umschrieben wurde. Der Prozess der Aquilibration ist uber drei verschiedene Formen vermittelt (Piaget 1976). Die erste Form ist die genannte Ubereinstimmung von Assimilation und Akkommodation, also die Induktion der intellektuellen Tatigkeit durch die konkrete Objektwelt bei gleichzeitiger abstrakter Bedeutungs- und Permanenzzuschreibung. Die zweite Form bezieht sich auf die Integration vorhandener kognitiver Schema, wie z. B. beim Greifakt, bei dem die Schema ,Greifen' und ,Sehen' reziprok aufeinander bezogen werden mlissen. Diese Form 57
der Aquilibration, wie auch die dritte, die die kognitiven Schema zu einer hierarchischen Ganzheit koordiniert, sind wesentlich intrapsychische Prozesse, die sich genuin auf die subjektive Tatigkeit der Verarbeitung von Umweltinformationen beziehen. Es braucht hier nicht detailliert zu interessieren, wie Piaget den Prozess der Aquilibration genauer ausflihrt. Entscheidend ist, dass fiir Piaget die Ontogenese durch Storungen des intellektuellen Gleichgewichts angeschoben wird. Die Entwicklung der kognitiven Schemata ist daher eine krisenhafte Entwicklung, die standig der Anregung durch neue, nicht assimilierbare Erfahrungsinhalte bedarf. „Fortschritte in der Aquilibration ergeben sich aus neuen Regulationen, die auf der Basis einer komplexeren Menge von Assimilationen und Akkommodationen eintreten. Die neuen Formen sind reichhaltiger, da sie eine groBere Menge von Kompositionen enthalten. Die Entwicklung ermoglicht eine verstarkte Kontrolle, da eine Hierarchic von Regulationen aufgebaut wird, die zur Selbstregulation und Selbstorganisation fiihrt." (Beilin 1993: 57) Der Begriff des Fortschritts darf nun weder teleologisch noch als abgeschlossener Prozess missverstanden werden. Die Erfahrungsinhalte, die zu Storungen und entsprechenden Regulierungen fuhren, unterscheiden sich, wie Schutz angemerkt hatte, nach je individuellen Relevanzen und Motiven. Die als ,Hund' definierte Katze kann solange fiir den Akteur unproblematisch sein, wie dieser kein Interesse hat, sich naher mit dem Tier zu beschaftigen. Ein Telos der Entwicklung bestimmter kognitiver Schemata gibt es damit nicht (Schmidt 1998). Der Prozess ist unabgeschlossen, da jedes Aquilibrium als moglicher Ausgangspunkt fur weitere Disaquilibrationen gelten kann, die ihrerseits wieder zu neuen Regulierungen fuhren konnen. Eine normative Lesart erhalt der Fortschrittsbegriff einzig dadurch, dass die Gleichgewichte auf immer hoherem Niveau reaquilibriert werden, so dass es zu einer jeweils hoheren Form der Adaptation und damit zu einem autonomeren Umgang mit der Wirklichkeit und der Kompetenz, immer abstraktere und komplexere Umwelten verarbeiten zu konnen, kommt. Nun kann nicht ubersehen werden, dass Piaget seine Vemunfttheorie aus dem Geist des Rationalismus entwickelt. Individuelle Relevanzen oder Motive bilden sich aber nicht allein vor dem Hintergrund rationaler Uberlegungen, sondem sind immer auch affektiv und emotional zuriickgebunden. Piaget legt den Primat der Vemunftentwicklung auf Krisen der Erkenntnisfahigkeit und vernachlassigt die Einbettung in pragmatisch-soziale Kontexte, die einen entscheidenden Anteil an der Selektion von Umwelterfahrungen in problematische und unproblematische haben (Ros 1994). Er hat allerdings auf den bereits an ihn herangetragenen Vorwurf, letztlich eine einseitige Vorstellung des Subjekts als ,animal rationale' suggeriert zu haben, reagiert, indem er in einer veroffentlichten Vorlesung darauf hinweist, dass es auch fiir ihn selbstverstandlich sei, dass affektive und kognitive Aspekte stets zusammen den Intelligenzakt bestimmen. Fur die Intelligenzentwicklung ist die Affektivitat nach Piaget jedoch nur von sekundarer Bedeutung. Diese beeinflusst zwar die intellektuelle Tatigkeit, sie generiert allerdings ihrerseits keine neuen kognitiven Strukturen bzw. Schemata. „Somit konnte man sagen, dass die Energetik des Verhaltens der Affektivitat entspringt, wahrend die Strukturen aus kognitiven Funktionen hervorgehen." (Piaget 1995: 19) Mit dieser Bestimmung des Verhaitnisses von Kognition und Affektivitat verharrt Piaget letztlich im Rationalismus, zumal wenn er behauptet, die Intelligenz sei im Zuge ihrer Entwicklung zunehmend befahigt, einen kontrollierenden bzw. regulierenden Einfluss auf die Bildung von Affekten zu gewinnen und fiir die Entwicklung insgesamt unterstellt, die af58
fektive Entwicklung sei abhangig von der kognitiven. So ist etwa die affektive und emotionale Bindung an abstrakte Ideen, wie z. B. den Menschenrechten, erst moglich, wenn ein kognitives Verstandnis dieser Ideen erreicht worden ist. Im Gegensatz zu Piaget hatte etwa Erik Erikson (1970), der sich die allgemeine Entwicklungstheorie Piagets zu Eigen gemacht hatte, die Individualgenese als einen Stufenprozess genuin affektiver und triebdynamischer Krisen konzipiert. Beide Ansatze brauchen an dieser Stelle nicht genauer kontrastiert werden. Wichtig ist, dass Piaget, und dies macht der Hinweis auf Erikson deutlich, hauptsachlich die kognitive Entwicklung des Subjekts thematisiert hatte, sein Ansatz sich aber gegen eine Beriicksichtigung affektueller Verhaltensstrukturierungen nicht verschlieBt. Zweifelsfrei entscheiden Erkenntniskrisen nicht selbstreferentiell uber die Erweiterung oder Ausdifferenzierung kognitiver Schemata, sondem in Abhangigkeit von emotionalen und pragmatischen Ressourcen. Fur die Vermittlung Piagets in den Kontext der Sozialisationstheorie von maBgeblicher Bedeutung ist dagegen der Stellenwert der intersubjektiven Anbindung der Ontogenese, die in der Sozialisationstheorie seit Mead eine zentrale Rolle spielt. Wie angedeutet, hatte Piaget, insbesondere in seinem Spatwerk, die intellektuelle Entwicklung tendenziell als intrapsychischen Prozess der Selbstregulierung von Erkenntniskrisen beschrieben. Autoren wie James Youniss sehen darin eine grobe Vemachlassigung der sozialen, intersubjektiven Fundierung der Ontogenese. Er fiihrt dagegen an, dass „ungefahr ab dem neunten Lebensjahr [...] die Beziehungen unter Gleichaltrigen eine Wende [erfahren, R. B.]. Symmetrische Reziprozitat wird in ein Prinzip der Kooperation umgewandelt, das nur unter Freunden gilt und auf das sie sich gegenseitig einigen. Die Aufgabe, die dann vor den Freunden liegt, ist sehr schwierig. Sie besteht darin, interaktive Vorgehensweisen zu ersinnen, mit deren Hilfe das Prinzip verwirklicht werden kann." (Youniss 1994b: 161) Wie leicht ersichtlich, lehnt sich Youniss flir sein Postulat der Bezugnahme auf die Intersubjektivitat als Motor der Entwicklung an den symbolischen Interaktionismus an. Die individuelle Entwicklung sitzt demnach der Einbindung des Einzelnen in soziale Netzwerke auf, die mit einem sanften Druck zu einer Perspektiviibemahme bezuglich kollektiver Normen und Wissensbestande fuhren. Ftir die krisenhafte Entwicklung folgt daraus, dass nicht nur Situationsdefinitionen oder affektuelle Ungleichgewichte den Problemkreis abstecken, der zur Differenzierung kognitiver Schemata anregt, sondem auch soziale Kontakte, die einerseits die Aufgabe der Wissensvermittlung iibemehmen konnen und andererseits verantwortlich sind fur die Entfaltung einer normativen, moralischen Perspektive oder genauer: der Befahigung zur Perspektiviibemahme. Dies widerspricht logisch nicht der Krisentheorie. Auch soziale Kontakte konnen problematisch werden, wenn etwa der Akteur neue Moralinhalte verarbeiten muss, die mit den entwickelten Moraluberzeugungen kollidieren, das heifit, auch soziale Kontakte konnen Krisen evozieren, die aquilibriert werden mtissen. Die Entwicklung des Kindes, so die Forderung an Piaget, kann und muss daher die Orientierung an anderen Subjekten emst nehmen (Krappmann 2000). Dennoch bleibt die Frage nach der intersubjektiven Ausrichtung der Ontogenese innerhalb der genetischen Epistemologie umstritten. So merken Thomas Seiler und Anette Claar an: „Die Strukturen des Subjekts sind der MaBstab der Entwicklung." (Seiler/Claar 1993: 118) Da es an dieser Stelle nicht darum geht, die genetische Epistemologie zu diskutieren, sondem als Ansatz flir eine genuine Verlaufsper-
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spektive der Sozialisation vorzustellen, braucht diese Frage hier allerdings nicht aufgelost zu werden. Piaget hat die Individualgenese nicht nur nach ihrer theoretischen, sondern auch nach ihrer empirischen Seite beleuchtet (Piaget 1972a, 1972b, 1975, 1983, 1997; Piaget/Inhelder 1980; Buggle 1997; Ginsburg/Opper 1998). Unterteilt hatte er diese gemaB seiner Stufentheorie in vier Perioden, die jeweils spezifische kognitive und moralische Erwerbungen beinhalten. In der ersten Periode, der senso-motorischen, ist die Ausbildung einer praktischen Intelligenz als Ziel gesetzt. Das Kind erlemt hier als wesentliches Element flir den weiteren Verlauf sowohl die Beherrschung des eigenen Korpers als auch die Permanenz von Objekten. In der zweiten Periode steht der Spracherwerb im Mittelpunkt der Entwicklung. Das Kind erlangt dariiber die Fahigkeit, Symbole flir eine Bedeutungszuschreibung uber die unmittelbare Erfahrung hinaus zu gebrauchen. Die dritte und vierte Periode erreichen schlieBlich das operational Denken, das Piaget als Inbegriff der Intelligenz gilt. Mit dem Begriff der Operationalitat wird die Systematisierungsleistung des Denkens charakterisiert. Einzelne Handlungen oder Erfahrungen werden in den operationalen Perioden in ein Gesamtssystem von Operationen gebracht und dadurch in einen zeit- und raumunabhangigen Bedeutungszusammenhang, der zum einem wesentlich dem Subjekt entspringt und der sich andererseits iiber den Gegenstand erhebt. Inhaltlich fasst Piaget diese Entwicklung des Denkens in Anlehnung an das mathematische Modell der Gruppe mit den Eigenschaften der Komposition, der Assoziativitat, der Identitat, der Reversibilitat und der Tautologie. Empirisch operationalisiert wird diese Entwicklung insbesondere durch die Konzepte der Klasseninklusion und der Mengenerhaltung. Entwicklungslogisch ausdifferenziert werden die Perioden der Operationalitat in die der konkreten und die der formalen Operationalitat. Konkrete Operationalitat bezeichnet ein Denken, das an konkrete Erfahrungen gebunden bleibt. „Dem praoperationalen wie dem konkret-operationalen Kind dient die Empiric als Priifstein fur die Notwendigkeit der Schlussfolgerung (empirische Notwendigkeit wird zu logischer Notwendigkeit), jedoch mit dem Unterschied, dass das konkret-operationale Kind komplexere und multiple Beziehungen zwischen den Merkmalen der physikalischen Welt konstruiert. Diese Beziehungen miissen aber auch gleichsam empirisch verifizierbar sein." (Schroder 1989: 30) Die Periode der formalen Operationalitat schlieBt als postulierte Endstufe die Ontogenese ab. Das formal-operationale Denken uberwindet die Anbindung an das Konkret-Wirkliche und entwickelt sich zu einem hypothetischen Moglichkeitsdenken. Die je aktuelle Erfahrung wird zu einem Sonderfall des Moglichen und die kognitiven Schemata werden immer allgemeiner, inhaltsleerer und abstrakter. Synonym zu dieser kognitiven Entwicklung verlauft die Entwicklung der Moralitat. Sie setzt mit einem heteronomen Moralverstandnis an, um schlieBlich in einen autonomen Umgang mit Moralinhalten zu miinden. Anfanglich sakralisieren Kinder tradierte und zumeist von den elterlichen Bezugspersonen ubemommene Normen, entwickeln jedoch im optimalen Fall eine autonome und diskursive Distanz zu diesen und dann auch gesellschaf^lichen Moralvorstellungen. Sie konnen dann hypothetisch Falle antizipieren, die einen Regelbedarf haben und sind im Sinne einer Perspektivverschrankung befahigt, die Interessen eines alter ego bei der Findung von Normen zu berlicksichtigen. Der Fixpunkt der moralischen Entwicklung ist somit, dass der Einzelne nur solchen Regeln folgt, denen er in einem 60
herrschaftsfreien Diskurs aus Einsicht folgen kann. Dabei gelten alle Meinungen als legitim und einzig Ubertretungen gegen die Gleichberechtigung aller Beteiligten werden sanktioniert. Diese hier nur sehr skizzenhaft wiedergegebene Stufenentwicklung kann freilich in dieser Form weder theoretisch noch empirisch plausibilisiert werden. Der Versuch, die Ontogenese unter einen generalisierten Begriff zu bringen, steht unter dem Verdacht, individuelle Variabilitaten mit einer Entwicklungslogik zu kolonialisieren, die zudem empirisch nicht hinreichend nachweisbar ist (Schofthaler/Goldschmidt 1984; Edelstein 1993). Diverse Autoren haben daher den Versuch unternommen, diese Schieflage der genetischen Epistemologie zu kompensieren, ohne dabei deren generelle Annahme einer Entwicklung der Vernunft aufzugeben. Zu diesem Zweck haben sie zwischen einer (universellen) Entwicklungslogik und einer (individuellen) Entwicklungsdynamik unterschieden. So hatte etwa Eberhard Schroder eine empirische Untersuchung zu dem Problemkontext der Klasseninklusion unternommen. Er hatte Kindern Fragen gestellt, die sich in experimentelle und rein verbale Aufgaben zur Bestimmung von Klasseninklusionen unterteilten. Die Kinder sollten sowohl anhand beobachtbarer Mengen (verschieden farbige Scheiben und Quadrate) Oberund Unterklassen bestimmen, als auch Klassifikationen mental reprasentieren und logisch notwendige Beziehungen zwischen angegebenen Begriffen (z. B. Katzen/Tiere) konstruieren. Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigte, dass Kinder zwischen sieben und neun Jahren in einem Verhaltnis von 30 zu 70 % die Aufgaben zur experimentellen Klasseninklusion richtig losten. Die festgestellten Unterschiede zwischen Urteil und Begrlindung waren gering und nahmen mit zunehmendem Alter ab. Bei der Untersuchung zur verbalen Klasseninklusion stellten sich die Ergebnisse anders dar. Zwar losten im Alter von sieben Jahren, als auch im Alter von neun Jahren 90 % der Kinder die gestellten Aufgaben, nur etwa 30 % gaben jedoch auch adaquate Begriindungen fiir ihre Urteile. Diese konsolidierten sich jedoch mit zunehmendem Alter. Ab dem zwolften Lebensjahr stieg schliefilich auch die Quote der Kinder, die ihr Urteil richtig begriindeten auf 60 % an, so dass die individuellen Unterschiede der Erfahrung und des Urteils ab diesem Alter geringer wurden. „Fasst man die Ergebnisse der vergleichenden Analysen zu den Entwicklungsverlaufen der beiden Formen von Klasseninklusionsaufgaben zusammen, so liegt der Schluss nahe, dass sich die Entwicklungsverlaufe der beiden Aufgabenformen zwar im Hinblick auf den Veranderungs- und Formationsprozess (das heiBt den Prozess der Generalisierung und Konsolidierung) ahneln, sich jedoch im Hinblick auf das AusmaB der individuellen Unterschiede (intraindividuelle Variabilitat) zwischen den Performanztypen (Urteil und Begrlindung) und zwischen den Inhalten der Klasseninklusionsaufgaben sowie in Hinblick auf den Beginn und das Ausmafi der Entwicklungsveranderungen unterscheiden. [...] Unterschiedliche Kontextsysteme stellen demzufolge auch unterschiedliche intrinsische Bedingungen der Entwicklung dar. Die Strukturgenese des Konzepts der Klasseninklusion bleibt indessen unberiihrt von diesen kontextuellen Unterschieden." (Schroder 1993: 153) Die generelle Entwicklungstheorie Piagets wird durch diese Befunde nicht beruhrt. Denn, wie Eberhard Schroder anmerkt, gleichen sich tatsachlich mit zunehmendem Alter die formalen Strukturkriterien der kognitiven Schemata zunehmend an. Unterschiedliche Erfahrungswelten evozieren daher zwar unterschiedliche Entv/icklungsverldufe, nicht jedoch eine 61
grundsatziich andere Entwicklungs/og//:, die eine sukzessive Dezentrierung der kognitiven Schemata und eine sukzessiv zunehmende Abstrahierungsfahigkeit der Individuen postuliert. Sie selbst kann jedoch nur als abstrakte GroBe formuliert werden: Das Individuum lernt im Laufe seiner Entwicklung, zunehmend komplexere Umwelten zu verarbeiten. Die beiden eher soziologischen Verlaufskonzepte, die Lebensverlauf- und Biographieforschung, werden durch die Entwicklungspsychologie Piagets nun in der Weise integriert, als diese zum einen deutlich macht, dass das Individuum sich im Zusammenspiel mit sozialen Umwelten entwickelt, wenngleich dabei unklar bleiben muss, welchen Stellenwert die soziale Umwelt in der Individualgenese einnimmt, und zum anderen zeigt, dass das Individuum einer kumulativen Entwicklung aufsitzt, das heiBt neue Erfahrungen stets durch bereits sedimentierte kognitive Schemata defmiert. Die Entwicklungspsychologie weitet allerdings insbesondere gegenliber der Biographieforschung und in anderer, weil subjektzentrierter, Weise als die Lebensverlaufforschung den Gedanken aus, dass Individuen bestimmte Ziele erst ab einem bestimmten Alter erreichen konnen, wobei es selbstverstandlich eine empirische Frage ist, dies genauer zu fassen. Genuin sozialisationstheoretisch iibersetzt folgt daraus, dass die Personlichkeitsentwicklung aus subjektintemen Strukturdynamiken resuhiert, die eine schrittweise Entfaltung kognitiver und moralischer Dispositionen evoziert und Subjekte spezifische Errungenschaften, wie etwa eine starke Ich-Identitat (Habermas), erst erreichen konnen, wenn bereits Strukturen elaboriert wurden, die dafur die Voraussetzung schaffen. Habermas, der sich die genetische Epistemologie angeeignet hatte, hatte dies in Form des Erwerbs der Rollenkompetenz als Bedingung fiir eine nachfolgende Emanzipation beschrieben. Die entwicklungspsychologische Verlaufsperspektive weist also, und dies markiert zugleich ihr Subjektverstandnis, darauf hin, dass Subjekte innerhalb ihrer Genese in unterschiedlichen Altersstufen gemaB dem Stand ihrer Kompetenzentwicklung unterschiedlich auf soziale und nattirliche Umwelten zugreifen. Dies bezieht sich sowohl auf das Verstandnis von Umwelterfahrungen, als auch auf Motive und Relevanzen, die nicht unabhangig vom kognitiven Entwicklungsstand gedacht werden. Subjekte, und darin unterscheiden sich die genetische Epistemologie wie auch teilweise die Biographieforschung von intersubjektivistischen Sozialisationstheorien, haben mit dieser Konzeptionalisierung von Entwicklung einen bedeutsamen Status bezuglich ihrer Genese. Sie gelten nicht nur als produktive Verarbeiter ihrer Umwelt oder sind in ein soziales Beziehungsgeflecht verwoben, von dem sie mehr oder weniger Impulse erhalten, sondem gestalten den Frozess ihrer Genese zu einem wesentlichen Teil aus inneren Bedingungen, die allerdings nicht genetisch-hereditar festgelegt sind, sondem sich durch die Interdependenz und Ausdifferenzierung kognitiver Strukturen gestalten. Dies schlieBt eine interaktionistische Ausrichtung der genetischen Epistemologie insofem nicht aus, als Strukturbildungsprozesse gleichsam materieller Nahrung bediirfen, und somit auf Inputs aus der Umwelt angewiesen sind. Nicht jedoch, und dies kann nicht deutlich genug betont werden, die Reziprozitat sprachlich und kulturell angeglichener Subjekte treibt aus der Perspektive der genetischen Epistemologie die Entwicklung an. Subjekte miissen vielmehr diversifiziert bzw. differenztheoretisch vorgestellt werden, so dass die Verarbeitung intersubjektiver Austauschprozesse nicht als soziale Identifikation, sondem als subjektinternes Prozessieren von Sozialitat und damit als offener Prozess, der in einem hohen MaB mit Varianzen rechnen muss, entworfen wird. 62
Das kritische Potential der Sozialisationstheorie, das nicht zuletzt durch das Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' als Diskrepanz zwischen einem normativen Entwicklungsziel (kognitive und moralische Kompetenzen, Ich-Identitat, ...) und dem tatsachlichen Entwicklungsstand eines Individuums konzeptionalisiert werden kann, wird durch die Entwicklungspsychologie deutlicher beschreibbar. Diese stellt eine Entwicklungslogik zur Verfligung, die einen kritischen MaBstab darstellt, an dem sich Entwicklungsdynamiken messen lassen konnen (etwa Freitag 1983). Selbstverstandlich kann dieser MaBstab dabei allenfalls ein umstellender Begriff sein, der durch den Forscher inhaltlich operationalisiert werden muss, da die Entwicklungslogik weder als in einem starken Sinne teleologischer noch als abgeschlossener und damit ergebnisorientierter Prozess gilt. Die Generierung eines normativen Begriffes vor dem Hintergrund der Entwicklungspsychologie, der eine gelungene Ontogenese beschreiben soil, obliegt somit der Verwendung weiterer, genuin normativer Diskurse, wie etwa der Moralphilosophie oder der politischen Philosophic (Beer 2002a). Zusammenfassend lasst sich festhalten, dass die Verlaufsperspektive je nach Gewichtung des subjektiven Anteils am Sozialisationsprozess entweder eine Verflechtung der Individualgenese mit sozio-politischen Umweltverhaltnissen oder den sukzessiven Aufbau subjektintemer Ressourcen (Wissensvorrat, Kompetenzen, ...) als je aktuellen Ausgangspunkt flir neue Erfahrungen und Ressourcenerweiterungen thematisiert. Selbstverstandlich kannten auch die bisher erorterten Sozialisationstheorien diese Perspektive, meint Sozialisation doch schlieBlich immer einen Prozess der Personlichkeitswerdung. Insbesondere die Entwicklungspsychologie Piagets legt jedoch einen besonders starken Fokus auf die Prozesshaftigkeit der Sozialisation. Mit Hilfe einer Stufentheorie der Entwicklung gelingt es ihr so, empirisch iiberprufbare Zwischenziele des Sozialisationsprozesses anzugeben und so den Sozialisationsprozess intern auszudifferenzieren und zu konkretisieren. Nicht mehr das Gesamte der Sozialisation und ihr mogliches Ergebnis stehen damit im Mittelpunkt des Interesses, sondern Fragen nach dem Aufbau von Sozialisationsschritten und deren inneren und auBeren Bedingungen, wenngleich letztere die genetische Epistemologie eigentumlich ausgeklammert hatte, obwohl sie allgemein Umweltzuflihren durchaus als notwendig fur die Genese erachtete. Im Folgenden soil dies nicht kompensatorisch nachgeholt werden. Dennoch soil mit der Thematisierung verschiedener Sozialisationsagenturen demonstriert werden, auf welche Weise innerhalb der Sozialisationstheorie Umweltbedingungen verstanden und konzeptionalisiert werden.
2.8. Instanzen der Sozialisation: Familie, Schule, Peer-Group, Medien Die nachsten beiden Kapitel weichen von dem bisherigen Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Sozialisationstheorie von zwei der angegebenen Aspekte, die die Aufarbeitung leiten sollten, ab. Bislang wurden vomehmlich theoretisch-methodologische Konzeptionalisierungen des Sozialisationsprozesses thematisiert, die zugleich einen Aussagewert bezUglich einer zunehmenden Orientierung am Individuum haben. Die nachsten beiden Kapitel hingegen versuchen einzig, einen kurzen Uberblick iiber konkrete Sozialisationsbedingungen und -inhalte zu geben. Angesichts der breiten Literatur zu diesen Themen kann dies nur 63
eine sehr vereinfachende Skizze sein, deren Ziel es ist, die generelle Absicht des ersten Teiles zu komplementieren. Die Familie, die Schule, die Peer-Groups, die Medien und schliefilich die politische, moralische und geschlechtliche Ausrichtung der Sozialisation im nachsten Kapitel sollen Indizien fur die Inhalte der sozialisierten Vemunft, wie sie in der Sozialisationstheorie verhandelt werden, beleuchten. Sie beanspruchen nicht, eine vollstandige Aufzahlung der Sozialisationsinstanzen und -inhalte zu sein (vgl. fur eine detailliertere Ubersicht Tillmann 2000; Zimmermann 2000). Wenn Neugeborene der Spezies Homo Sapiens auf die Welt kommen, sind sie, im Gegensatz zu vielen anderen Lebewesen, auf ein hohes Ma6 an Fiirsorge und Versorgung durch Bezugspersonen angewiesen. In den meisten modemen europaischen Gesellschaften hat sich ftir die Befriedung kleinkindlicher Bedurfnisse die Kleinfamilie als typische Institution entwickelt (v. Trotha 1999). Wie in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung gesehen, ist dieser Umstand keineswegs ausschlieBlich ein quasi biologisch inspiriertes Dienstleistungsverhaltnis, sondem kann soziale Folgewirkungen implizieren, die sich etwa in dem erreichten Berufsstatus auswirken. Wie aber bei der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung auch gesehen, ist es ein verkiirztes Bild, die Familie als statische Einrichtung zu sehen, in der bestenfalls das sich entwickelnde Kind als Varianz konzipiert wird. Das Verstandnis der Familie, als eine zentrale Sozialisationsagentur, hat daher zu Recht eine Veranderung erfahren, die die Familie als ein dynamisches Beziehungsgeflecht erscheinen lasst (Kreppner 1998). Dies bedeutet vor allem, dass die Eltern als eine eigenstandige und sich ebenfalls entwickelnde Variable emst genommen werden, so dass eine alleinige Beriicksichtigung des Berufsstatus der Eltern oder der Ressourcenausstattung des elterlichen Haushalts an sich keine aussagekraftige Sozialisationsbedingung darstellt, wenngleich nicht geleugnet werden kann, dass diese GroBen einen relevanten Einfluss auf die Familienbeziehungen und damit die Individualgenese ausuben konnen (Nietfeld/Becker 1999; Grundmann 2001). Die Familie als ein dynamisches Beziehungsgeflecht zu konzeptionalisieren bedeutet, die Familie als einen Raum zu begreifen, der aufgrund seiner inneren Kommunikationskultuf* spezifische Eigencharakteristika entwickelt, die von dem Sozialisanden auf weitere, nichtfamiliare Beziehungen iibertragen werden konnen. Konstitutiv flir die Entwicklung dieser Charakteristika sind daher neben dem Alter der Eltern (Walter et al. 1998), vor allem auch die GroBe der Familie (Anzahl Geschwister) und die Beziehungsstrukturen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Im Sinne der sozialokologischen Sozialisationsforschung gilt schlieBlich, dass die dyadische Beziehung des Kindes zu seinen Elternteilen oder Geschwistem eingebettet ist in die Familie als einem Exosystem, das heiBt dem unmittelbaren Zugriff des Kindes entzogenen Beziehungsmustem zwischen den Eltern und zwischen den Eltern und den Geschwistem. Sozialisationstheoretisch relevant an dem dynamischen Familienverstandnis ist nun, dass der Sozialisand im Laufe seiner Entwicklung komplexere Kompetenzen (Fiaget) erwirbt und sich beziiglich seiner Einstellungsmuster verandert. Davon betroffen ist nicht nur ein allgemeiner Umgang mit der Welt, sondem eben auch ein verandertes Beziehungsverhalten des Sozialisanden zu seinen Eltern. Wie Kreppner (1999) nachzeichnet, fuhrt dies zu Dis3 Kultur wird hier als neutraler Begriff verwendet.
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kontinuitaten in der Eltem-Kind-Beziehung, die einerseits die Eltern herausfordem auf die jeweils neuen Bedingungen zu reagieren und die andererseits auf eine intakte Kommunikationskultur angewiesen sind, um die Diskontinuitaten nicht zu Briichen anwachsen zu lassen. Damit ist zugleich eine wesentliche Konstituente der Familie als Sozialisationsagentur bezeichnet. Die in Familien tiblicherweise verwendeten Froblemlosungsstrategien konnen beziiglich ihrer ftSrdernden oder hemmenden Wirkung auf die Individualgenese differenziert werden. Es wird angenommen, dass sich ein auf Reziprozitat und Dialog griindendes Beziehungsverhalten innerhalb der Familie positiv auf die Kompetenzentwicklung im Allgemeinen und auf die Beziehungsfahigkeiten des Sozialisanden im Besonderen auswirken. „Eltern, die fahig und bereit sind, die Perspektive des Kindes in ihr Erziehungsverhalten einflieBen zu lassen, ermoglichen Heranwachsenden eher, eigene Bediirfnisse und Interessen zu artikulieren, Meinungen und Einsichten mit den Eltern auszutauschen und so die eigene Personlichkeits- und Identitatsentwicklung voranzutreiben bzw. selbst mitzugestalten." (Grundmann/Gerris 2002: 15) Der sozialisatorische Beitrag der Familie wird mit dieser kompetenzstimulierenden Erwartung wesentlich auf die Kommunikationsmodi verwiesen, die nicht nur das Familienklima nach innen harmonisieren konnen, sondem Konfliktlosungs- und generelle Umweltverarbeitungsmuster generieren, mit denen die Sozialisanden auBerhalb der Familie agieren konnen. Die sozialisatorische Eigenheit der Familie griindet somit neben dem Umstand, dass sie insbesondere in den ersten Lebensjahren die unmittelbarste und wichtigste soziale BezugsgroBe fiir die Heranwachsenden darstellt, innerhalb derer sie die meiste Zeit verbringen, vor allem darin, dass Kinder bereits ab ihrer Geburt veranlasst sind, nachzuvollziehen, welche Bedeutung und Konsequenzen es hat, in einem sozialen Beziehungsgeflecht zu handeln, auf dass sie nicht grundsatzlich einen direkten Einfluss haben und das sich zudem im Laufe der Ontogenese ebenfalls verandert und dem Sozialisanden Anpassungsstrategien abverlangt, Paraphrasiert lieBe sich formulieren: Die Familie fungiert innerhalb der Sozialisation als eine geschutzte Spielwiese, auf der Kinder generelle soziale Spielregeln lemen konnen, wobei die Art der kommunikativen Familienstruktur unterschiedliche Formen dieser Regeln prajudizieren kann. Fiir die meisten Kinder in den europaischen Gesellschaften steUt die Schule, abgesehen von Kindergarten, in ihrem Lebenslauf eine der ersten sozialen Raume dar, in dem die familiar erlernten Verhaltensmuster erprobt und weiterentwickelt werden konnen. Sie treten innerhalb der Schule in ein komplexeres Beziehungsgeflecht ein, das zudem den Kindern eine soziale Dezentrierung iiber die Familienrollen hinaus abverlangt. Zum einen entwickeln sich im Rahmen der Schule Schuler-Schuler-Beziehungen und zum anderen SchiilerLehrer-Beziehungen, die untereinander zu kollidierenden Verhaltensstrategien flihren konnen, wenn etwa Schiilergemeinschaften die Leistungen und Noten besonders guter Schiiler mit dem Verweis auf ,Strebertum' nicht goutieren wollen und auf diese Weise das Lehrerverhalten (Notengebung) anzweifeln. Allgemein treffen die Sozialisanden mit der Schule auf einen sozialen Raum, der sowohl eine strukturelle als auch eine prozesshafte Dimension hat (Ulich 1998). Strukturell kann die Schule qualifiziert werden als eine Institution, deren zentrale Aufgabe in der Organisation von Lemprozessen zu finden ist, und die durch die Schulklasse als Grundeinheit und BezugsgroBe und die asymmetrische Lehrer-Schiiler-Kommunikation spezifiziert wird. Die 65
Prozessdimension der Schule bezieht sich auf die, von Durkheim besonders betonte, normierende Integrationsaufgabe der Schule, die in modemen Demokratien als Erlemen moralischer Tugenden und miindiger Selbstbehauptung verstanden wird, die selektierende Leistungsalimentierung und auf eine Wissensvermittlung, die von der Lebenswelt der Kinder abstrahiert. Mit diesen beiden Dimensionen kann die Schule als Sozialisationsinstanz problematisiert werden. Zum einen treffen Schiiler auf eine strukturierte und strukturierende Institution, die durch die allgemeine Schulpflicht als eine ,zwingende' Anstalt empfunden werden kann, die aber zugleich die Moglichkeit eroffnet, iiber den Wissenstransfer einen Zugang zur Welt der Erwachsenen zu finden. Zum anderen treffen die Schiiler auf eine Institution, die einen erheblichen Einfluss auf die Personlichkeitsentwicklung nehmen kann. Durch die unterschiedliche Bewertung und die Selektion iiber Leistung mussen die Sozialisanden lernen, eigene Affekte und Triebe zu regulieren, um einen Schulerfolg zu erreichen, das heiBt sie miissen interne Verhaltenskontrollen entwickeln, um auf die institutionellen Vorgaben, wie etwa anhaltende Konzentration oder Piinktiichkeit, reagieren zu konnen. Mit der unterschiedlichen Bewertung dringen die Sozialisanden zudem in eine Welt vor, die nicht mehr nur durch eine biologische instruierte Hierarchic zu den Eltern bestimmt wird, sondem durch Leitungsunterschiede zwischen Gleichaltrigen, die sich iiber Schulnoten gegenseitig messen lassen. Dies ist fiir den weiteren Lebensverlauf insofern von Bedeutung, als die daraus resultierenden Zuweisungen auf spezifische Rollen (Erfolgreicher Schiiler, Versager, ...) den Weg durch die Bildungsinstitutionen erleichtem oder erschweren konnen. Schiiler, die aufgrund schlechter Noten, sich die Fahigkeit zu einem hohen Bildungsabschluss nicht zutrauen und die die Fremdzuschreibung des Versagens verarbeiten mussen, zeichnen sich in der Regel durch ein niedriges MaB an Selbstwertgeflihl aus, leiden unter Leistungsangsten und entwickeln eine allgemeine Ablehnung gegen schulische Institutionen bzw. das Lernen generell. Es steht daher zu erwarten, dass diese Schuler keine hoheren Bildungsabschliisse und die damit verbundenen Berufsaussichten erreichen (FaulstichWieland 2002). Das Mehrebenenmodell der sozialokologischen Sozialisationsforschung legt nahe, dass der Prozess der schulischen Sozialisation generell im Zusammenhang mit der familiaren Sozialisation gesehen werden sollte. Dies betrifft sowohl familiar erworbene Bildungsstrategien als auch allgemeine Verhaltenskompetenzen und die Unterstiitzung der Sozialisanden im Bildungsprozess. Nicht zuletzt dieser Zusammenhang hat jedoch diverse Autoren vermuten lassen, dass familiar erworbene Zugange zur Bildung, die milieuspezifisch differieren, durch die selektierende Institution Schule reproduziert werden. „Das Bildungssystem verfahrt wie Maxwells Damon: Um den Preis der Energie, die auf den Auslesevorgang verausgabt werden muss, erhalt es die bestehende Ordnung aufrecht, das heiBt den Abstand zwischen den mit ungleichen Quantitaten von kulturellen Kapital versehenden Schiilem. Es trennt, genauer gesagt, mit Hilfe einer ganzen Reihe von Auslesevorgangen die Besitzer von ererbtem kulturellen Kapital von den Nichtbesitzem." (Bourdieu 1998c: 36; vgl. auch Grundmann et al. 2004) Die Schule steHt also innerhalb des Sozialisationsprozesses eine ambivalente Instanz dar. Zum einen regelt es den Wissenstransfer und ermoglicht den Sozialisanden, sich Bildungsinhalte anzueignen, die fiir die eigene Lebensgestaltung fruchtbar gemacht werden konnen. 66
Zum anderen regelt es iiber Leistungsbewertungen den Prozess der Personlichkeitsentwicklung, der je nach Schulerfolg zu einem positiven oder negativen Selbstbild fiihren kann, das wiederum flir die Wahl weiterer Bildungsoptionen relevant wird. Neben diesen Charakteristika der Schule als Sozialisationsinstanz kommt der Schule noch eine weitere Rolle zu. Typischerweise rekrutieren Sozialisanden zumindest einen Teil ihres Freundes- und Bekanntenkreises aus ihren Mitschtilem. Die Schule ubemimmt damit eine vermittelnde Position fur die Bildung von Peer-Groups. Der Begriff Peer, der nicht umstandslos tibersetzt werden kann, bezeichnet Gleichaltrige, denen zugleich das Attribut der Gleichheit zukommt (Naudascher 2003). In die Sozialwelt der Heranwachsenden treten mit den Peers somit Personen, die nicht, wie in der Familie die Eltern oder in der Schule der Lehrer, iiber eine hierarchische Position verfiigen, wieweit auch immer diese durch das Verhalten der Eltern oder Lehrer relativiert wird. Die Heranwachsenden sind daher genotigt auf der Basis von egalitarer Reziprozitat sowohl Konflikte zu losen als auch dauerhafle Beziehungen zu etablieren und zu stabilisieren. „Diese Sozialwelt der Kinder bringt ein neues Moment in den Aufbau einer autonomen, sozial handlungsfahigen Personlichkeitsstruktur, denn der sozialisatorische Beitrag der Kinderinteraktion kann sich nicht auf Erfahrung, Vorbild und Belehrung sttitzen, sondern in der Kinderwelt konfrontieren sich relativ Gleiche mit ihren Erwartungen und Absichten und stehen vor der Aufgabe, ihre Sichtweisen und Vorhaben wechselseitig zu koordinieren." (Krappmann 1998: 356) Die PeerGroups als Sozialisationsinstanz konnen aufgrund dieser Uberlegungen als entscheidende Instanz flir die Entwicklung des Sozialverhaltens angesehen werden. Die Sozialisanden konnen flir das Aushandeln ihrer Beziehungen nicht auf die ,autoritare' Setzung von Normen durch familiare oder schulische Bezugspersonen zuriickgreifen, sondern miissen die Perspektive von alter ego so beriicksichtigen, dass dieser zwanglos in eine Beziehung eintreten oder eine Konfliktlosung akzeptieren kann. Jedoch nicht nur als Ubungsfeld flir eine soziale Orientierung innerhalb groBerer Gemeinschaften erhalt die Peer-Group ihre Bedeutung. Sie ermoglicht den Sozialisanden die Abkopplung von ihrem Elternhaus und eine ,eigene' Identitatsfmdung durch einen neuen Bezugsrahmen (Ausubel 2003). Insbesondere dadurch, dass vor allem jugendliche PeerGroups einen emotional en Halt jenseits des Eltemhauses bieten, libemehmen sie auch die Rolle einer kulturellen Vergemeinschaftung, die sich durch Abgrenzung nach auBen und die Herstellung eines Wir-Geflihls nach innen konstituiert (Schroder 2003). Eine gleichsam materielle Grundlage flir solche Vergemeinschaftungsprozesse bieten oftmals bestimmte Musikstile, jugendliche Subkulturen, gemeinsame Interessen etc. Unter diesem Blickwinkel auf Peer-Groups avancieren diese sogar zu einer bedeutungsvolleren Sozialisationsinstanz als die Familie. Hubert Wifikirchen (2002) spricht daher in Bezug auf Gleichaltrige von den ,heimlichen Erziehem', deren Einfluss die Ontogenese weitaus mehr pragt, als der Einfluss der Eltern. Stabilisieren lasst sich diese Annahme durch die entwicklungspsychologische Verlaufsperspektive, die auf eine progressive Sozialisationsbedeutung bereits aufmerksam gemacht hatte, „so dass allem Anschein zum Trotz, die Individualitat, die beim Kind von 7 und mehr Jahren zur Autonomie tendiert, sozialisierter ist als das Ich in der Interdependenz derfriihenKindheit und, ebenfalls allem Schein zum Trotz, diese sozialen Interdependenzen der Friihzeit zwischen 2 und 7 Jahren in Wirklichkeit ein Minimum von Sozialisierung aufweisen, weil sie ungeniigend strukturiert sind." (Piaget/Inhelder 67
1996: 117) Mit anderen Worten: Jugendliche verfugen bereits iiber entwickeltere kognitive Strukturen, die eine Verarbeitung komplexerer Umwelten ermoglichen, so dass Jugendliche sich innerhalb einer komplexeren Lebenswelt, das heifit breiteren sozialisierenden Einflussen, bewegen konnen. Da in dieser Altersperiode die Beziehungen zu Gleichaltrigen sowohl quantitativ als auch qualitativ zunehmen, wahrend dazu antiproportional die Beziehung zu den Eltem abnimmt, kommt den Peer-Groups eine entscheidende Rolle in der Personlichkeitsentwicklung zu, da sie aufgrund ihrer egalitaren Struktur die Selbststandigkeit des Sozialisanden herausfordem und dieser in Form einer intemen Kulturidentitat zugleich einen Orientierungsrahmen zur Verfugung stellen, der gerade aufgrund seiner nicht seltenen Ambivalenz zu den Normen des Eltemhauses von den Sozialisanden benutzt werden kann, um eine eigene, nachhaltige Identitat jenseits der Familie zu entwickeln. Flir eine solche Vergemeinschaftung von Peer-Groups bieten oftmals Medien eine auBere Stimulans, um die herum sich Jugendkulturen und Jugendszenen orientieren konnen. Auf diesem Wege kommt den Medien ein sozialisatorische Bedeutung zu, da sie sowohl fiir den Aufbau einer je eigenen Identitat (kulturelle) Ressourcen und Sinnmuster bereitstellen (Schaffer 1999; Mikos 2004), als eben auch flir die Integration von Jugendgruppen. Letzteres bezieht sich sowohl auf bestimmte Musik- und Modestile, die symbolisch ein WirGefuhl erzeugen konnen, als auch auf die gemeinsame Nutzung und Aneignung medialer Angebote insgesamt (Schorb/Mohn/Theunert 1998). Anders als die bisher dargestellten Sozialisationsinstanzen kommt den (Massen-)Medien jedoch eine ambivalentere Rolle zu. Seit ihrer Ausbreitung insbesondere in Form von Horfunk und Fernsehen, sind sie immer wieder in das Zentrum einer kultur- und medienkritischen Betrachtung geraten. Am extremsten hatte die fruhe Kritische Theorie die Einfiihrung massenmedialer Kommunikationsformen als kulturelle Fortsetzung einer durch die Arbeitswelt instruierten Entfremdung begriffen. Flir Horkheimer und Adomo (1944/1987), die die Massenmedien mit dem Begriff der ,Kulturindustrie' als Produzent von geringwertiger Massenware degradierten, ubemahmen die neuen Medien die Aufgabe, einer normierenden Integration durch die Manipulation des Bewusstseins. Grob zusammengefasst erblickten sie in den Medien die Unterdriickung jeglichen kritischen Gedankens und damit die Ausbildung eines mundigen BUrgers. Angesichts der Allgegenwartigkeit der Massenmedien war somit die ontogenetische Hoffnung auf die Entwicklung stabiler und bewusst urteilender Individuen als Illusion entlarvt. Adomo selbst ging sogar soweit auszurufen: „Der Kunde ist nicht wie die Kulturindustrie glauben machen mochte, Konig, nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt." (Adomo 1998c: 337) Subjektivitat und individuelle Personlichkeit, so Adomo, sei in der liberalistischen Phase der 20er Jahre durch den Konflikt mit dem Vater, verstanden als untemehmerisches Marktmitglied, moglich gewesen. Die administrative Epoche habe den Heranwachsenden direkt der Kontrolle der Burokratie, der Kulturindustrie, unterworfen und sie so zu willigen Konsumenten der konformitatserzeugenden Produkte gemacht (vgl. Adomo 1998d: 16ff; Honneth 1994: 93 ff). Ein derart rigider Ansatz ist selbstverstandlich nicht kritiklos geblieben. Die Vorstellung einer eindimensionalen Linearitat zwischen Massenmedien und Konsumenten ist schlieBlich weder empirisch noch theoretisch plausibilisierbar. Dennoch blieben die Medien in abgeschwachter Form ein Dauerthema der offentlichen und wissenschaftlichen Kritik. Eine fur die Sozialisationstheorie gewichtige Fragestellung gait dabei der Kompetenzentwick68
lung im Verhaltnis zum Medienkonsum. Dies gilt etwa flir die Sprachentwicklung (Neumann/Char Iton 1990) Oder fiir die Lesekompetenz (Spinner 1995; Groeben 1999), wobei die Lesekompetenz kognitive, emotionale und soziale Entwicklungen des Sozialisanden indiziert (Rosebrock 1995) und nicht zuletzt flir eine Medienkompetenz, die unter anderem im Kontext der sozialokologischen Sozialisationsforschung problematisiert wird (Lange 2000). Dies gilt aber vor allem fiir das problematische Verhaltnis von filmischer Gewaltdarstellung und dessen Einfluss auf real praktizierte Gewalt (Hopf 2001). In den meisten Fallen konnten allerdings keine eindeutigen Zusammenhange mit dem Medienkonsum festgestellt werden, so dass die sozialisatorische Gesamtbewertung von Medien letztlich uneindeutig bleibt, zumal eine solche Bewertung nicht unabhangig von generellen medientheoretischen und -kritischen Uberlegungen vollzogen werden kann. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Familie, der Schule und den PeerGroups eine spezifische Sozialisationsbedeutung zugeschrieben wird, die je nach Ausgestaltung einen positiven oder negativen Einfluss auf die Individualgenese haben kann. Allen drei Sozialisationsinstanzen gemeinsam ist, den Erwerb sozialer Kompetenzen zu regeln, so dass die Sozialisanden befahigt werden, eigene Interessen begriindet zu formulieren und diese an den Interessen anderer auszurichten. Die Schule verknupft dies mit dem Transfer von Wissen und Bildung und die Peer-Groups bieten iiberdies eine Vergemeinschaftung jenseits des Eltemhauses, die eine je eigene Identitatsfindung moglich macht. Die Medien nehmen in Bezug auf diese Sozialisationsinstanzen insofern eine gesonderte Rolle ein, als sie die Effekte der anderen Sozialisationsinstanzen verstarken oder hemmen konnen. Sie bieten symbolische Muster flir eine Peer-Group-Integration, sie konnen den Wissenstransfer der Schule durch Informationssendungen optimieren, sie konnen aber ebenso zur Vereinzelung beitragen oder durch eine „bewusstseinsmanipulierende" Aufarbeitung und Darstellung der Realitat die Entwicklung eines mlindigen Individuums verhindem. Selbstverstandlich wirken in den meisten Sozialisationsprozessen diese Sozialisationsinstanzen in der Regel nicht unabhangig voneinander auf die Ontogenese ein, sondem stehen in wechselseitigen Beziehungen. So kann etwa der Bildungshintergrund der Familie den Schulerfolg prajudizieren, der wiederum eine Peer-Group-Vergemeinschaftung mit entsprechenden gleich erfolgreichen Schiilem instruiert, und die Peer-Groups konnen als emotionale Stutze flir die Jugendlichen einen Anreiz flir die Emanzipation von der Familie darstellen. Gerade diese Wechselbeziehung notigt jedoch den Sozialisanden die diversen Lebenswelten als eine komplexe Umwelt zu begreifen, die verschiedene Rollen und Kompetenzen erfordert, die zudem aufeinander bezogen werden miissen. Wie Georg Simmel (1908/1992) bereits in den Griinderjahren der Sozialwissenschaften darauf hingewiesen hatte, kann dieser Umstand pluraler Zugehorigkeiten als Voraussetzung flir die Entwicklung von Individualitat angesehen werden. Die Frage nach der Entwicklung von Identitat ist indessen eine Frage, die auf zentrale Inhalte des Sozialisationsprozesses verweist.
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2.9. Inhalte der Sozialisation: Politik, Moral, Geschlecht Wahrend mit den skizzierten Instanzen aus der Beobachterperspektive rekonstruierbare Strukturen angegeben werden, stellen sich die Inhalte der Sozialisation weitaus komplizierter dar. Sozialisationsinstanzen konnen aus typischen Lebenslaufen extrahiert werden, Sozialisationsinhalte sind tendenziell abhangig von den Interessen und Einstellungen des Sozialisationsforschers. Am Beispiel der im Folgenden kurz vergegenwartigten Inhalte wird deutlich, dass ein neutraler Beobachterstandpunkt, anders als bei der Problematisierung der Instanzen, nur schwer zu gewinnen ist, und dass ihre Operationalisierung wesentlich von gesellschaftlichen Bedingungen motiviert wird. So durfte eine autokratische Gesellschaft die politische Sozialisation flir den Zweck einer Ein- und Unterordnung der Sozialisanden instrumentalisieren, ihre moralische Ausrichtung auf Werte wie Tapferkeit oder Uberlegenheit konzentrieren und auf einer strikten Trennung der Geschlechterrollen beharren. Demokratische Gesellschaften evozieren dagegen eine politische, moralische und geschlechtsspezifische Sozialisation, die durch einen moglichst groBen Freiheitsspielraum und eine relative Ergebnisoffenheit gekennzeichnet sind. Da die „Kritik der sozialisierten Vernunft" ihre Betonung der individuellen Eigenaktivitat auch aus der demokratischen Notwendigkeit einer aktiven Beteiligung der Individuen am demokratischen Prozedere ableitet, soil hier jedoch auf den (theoretisch-analytisch notwendigen) Verweis auf autokratische Systeme verzichtet und die Demokratie als Hintergrund fur die Inhalte der Sozialisation gesetzt werden. Wenngleich damit ein politisch-moralischer Rahmen gewonnen ist, ist die Thematisierung politischer oder moralischer Entwicklungsverlaufe zudem bedingt durch das gesellschaftstheoretische Verstandnis des Beobachters. Individualisierungstheoretiker etwa, die eine Auflosung von Klassen und Milieus annehmen, problematisieren die politische Sozialisation vor dem Hintergrund der Abnahme prastabililisierter kollektiver Einstellungsmuster und damit der Abnahme kollektiver Interessenbiindelung (Heitmeyer/Jacobi 1991). Demgegentiber stehen milieutheoretische Ansatze, die (im Gefolge der schichtenspezifischen Sozialisation) eine Reproduktion politischer und moralischer Einstellungen innerhalb sozialer GroBgruppen vermuten (Vester et al. 2001). Dies bedeutet, dass selbst dann, wenn eine Einigung auf bestimmte politische und moralische Werte gefunden ist, die Untersuchung der Entwicklung von Sozialisationsinhalten weiter unter dem pluralen Zugriff verschiedener Gesellschaftskonzeptionen steht, die ihrerseits nicht immer eindeutig zugunsten einer Gesellschaftskonzeption entschieden werden konnen. Ungeachtet dieser Problemlagen konnen fiir die ausgewahlten Inhalte der Sozialisation spezifische Zielsetzungen und Entwicklungsbedingungen formuliert werden. Im Fall der politischen Sozialisation ist das Ziel die Vorbereitung des Sozialisanden auf seine zukiinftige Rolle als miindiger Burger bzw. mtindige Burgerin. Bezogen auf eine demokratische Gesellschaft konkretisiert sich dieses Ziel in das Verstandnis demokratischer Grundsatze, individueller Kritikfahigkeit und der Bereitschaft, sich flir eigene und/oder kollektive Interessen zu engagieren. Sozialisationstheoretisch hatte, wie gesehen, insbesondere Jiirgen Habermas dieses Ziel als gelungene Sozialisation tituliert. Fiir das Erreichen einer politischen Miindigkeit sind im Sozialisationsdiskurs verschiedene Entwicklungsbedingungen untersucht worden. So gilt allgemein, dass der elterliche 70
Erziehungsstil einen bedeutsamen Einfluss auf die Entwicklung einer demokratischen Gesinnung und einer miindigen Partizipation hat. Unter Verwendung des Autoritarismuskonzepts von Adorno hatte Christel Hopf et al (1995, 1997) junge Manner nach ihrer politischen Einstellung und ihrer familiaren Sozialisation befragt. Das Ergebnis zeigte, dass ein Erziehungsstil, der die Heranwachsenden in ihrer Personlichkeit nicht emst nimmt und den Heranwachsenden keine oder geringe Entfaltungsmoglichkeiten fxir die eigene Personlichkeit zur Verfiigung stellt, dazu tendiert die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Selbstliberzeugung zu blockieren. Solche Jugendliche neigen dann zu antidemokratischen Einstellungen. Im Rahmen einer ahnlich angelegten Studie kommen Hefler et al. (1999: 84) zu dem Schluss: „Uber alle Modelle hinweg zeigen die Ergebnisse, dass ein von viel Strafe und wenig Unterstiitzung gepragtes Familienklima bei Jugendlichen zu Versagensangsten und somit zu individuellen Verunsicherungen flihrt. AnschlieBend an eine DesintegrationsVerunsicherungs-Konzeption konnen wir zeigen, dass individuelle Verunsicherungen dann zum Bindeglied zwischen negativen familiaren Bedingungen und problematischen Einstellungen mit gesellschaftlicher Relevanz werden [...].'' Aus dieser Perspektive kommt also der Familie nicht nur eine zentrale Rolle flir die Entwicklung allgemeiner Kompetenzen zu, sondem auch eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung einer demokratischen Gesinnung und damit flir die Stabilitat der Demokratie. Wie jedoch schon deutlich wurde, muss die Familie dabei im Zusammenspiel mit anderen Sozialisationsinstanzen gesehen werden. Gleichsam offiziell verantwortlich fur die politische Identitatsfmdung ist die Schule, die einen entsprechenden Erziehungsauftrag hat. So heifit es beispielsweise in der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalens: „Die Jugend soil erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Uberzeugung des Anderen, zur Verantwortung flir die Erhaltung der natiirlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Volkergemeinschaft und Friedensgesinnung." (Verfassung flir das Land Nordrhein-Westfalen, Artikel 7, Abs. 2) Weniger direkt, daflir umso umstrittener ist der Einfluss der Medien auf die politische Sozialisation. Wie bereits geschildert, standen die Medien seit dem zweiten Weltkrieg immer wieder unter dem Verdacht, negative Auswirkungen auf die Entwicklung eines kritischen, miindigen Bewusstseins zu haben. Neuere Untersuchungen hingegen kommen diesbeziiglich zu einer differenzierteren Sicht auf die Medien. So konnte zwar gezeigt werden, dass reine Unterhaltungsmedien (Femsehen, Biicher) zu einem Eskapismus fiihren konnen, der mit einer unpolitischen Haltung einhergeht. Individuen, die die Medien vomehmlich fur die Zwecke der Entspannung und Zerstreuung verwenden, zeichnen sich durch eine defatistische Sicht auf ihre Gestaltungs- und Einflussmoglichkeiten aus. Auf der anderen Seite fbrdem anspruchsvolle Medien (Klassische Literatur, ...) und Informationsbeitrage (Nachrichten, Dokumentationen, ...) sowohl eine hohe Einschatzung der eignen Einflussmoglichkeiten, als auch ein politisches Interesse insgesamt. Letzteres bezieht sich sowohl auf das Haben einer politischen Meinung, als auch auf die Bereitschaft sich an konventionellen (Wahlen, Parteimitgliedschafl, ...) und unkonventionellen (Unterschriftensammlung, Demonstration, ...) politischen Aktionen zu beteiligen (Kuhn 2000). Somit kann den Medien
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ein ambivalenter Beitrag flir die politische Sozialisation zugeschrieben werden/ Sie konnen sowohl zu dem positiven Ergebnis der Genese einer mundigen Identitat beitragen, als auch zu dem negativen Ergebnis einer politischen Entfremdung, die die Gefahr nach sich zieht, dass offentliche Diskurse durch eine geringe Partizipation austrocknen. Heinz Reinders (2001) hat darauf aufmerksam gemacht, dass neben diesen objektiven Einflussen auf die politische Sozialisation auch die biographische Orientierung der Jugendlichen beriicksichtigt werden muss. SchlieBlich meint politische Sozialisation immer die Vorbereitung auf eine zukiinftige Rolle, das heiBt auf eine Rolle als Erwachsener. Damit Jugendliche eine politische Orientierung ausbilden, miissen sie daher in ihrem biographischen Selbstverstandnis ihre Rolle als kiinftige Erwachsene antizipieren. Richten sie sich jedoch in ihrer Jugend ein bzw. verstehen sie die Jugend nicht als Durchgangsstadium sondern als Moratorium, fehlt entsprechend der subjektive Anreiz, sich mit politischen Fragen zu beschaftigen. Mit diesem Hinweis werden also neben den objektiven Anreizen fur die Genese einer politischen Identitat auch subjektive Einstellungsmodi zu einer relevanten GroBe erklart. Im Fall der politischen Sozialisation ist dies insofem von Bedeutung, als der Zugriff auf politisierende und wissensvermittelnde Medienangebote immer auch durch ein bereits entwickeltes politisches Interesse der Medienrezipienten mitbestimmt sein dtirfte. Insgesamt also geht es bei der Frage nach den politischen Inhalten der Sozialisation unter demokratischen Bedingungen um den Rollenerwerb eines mundigen Mitglieds der politischen Gemeinschaft. Zentral dabei sind zum einen der direkte Wissenstransfer uber das politische System, der vomehmlich durch die Schule geleistet werden soil und zum anderen die Entfaltung einer politischen Identitat, die auf einer intemen Kontrolliiberzeugung aufbaut. SchlieBlich ist ein politisches Engagement nur von solchen Akteuren zu erwarten, die davon ausgehen, dass sie einen Einfluss auf das politische System haben. Die so intendierte Ubernahme demokratischer Grundeinstellungen durch den Sozialisanden geht allerdings uber den Bereich der politischen Sozialisation, die vomehmlich die Staatsburgerrolle aus der Systemperspektive betrachtet, hinaus. Sie verweist auf eine moralische Entwicklung, deren inhaltliches Ziel im Rahmen einer demokratischen Gesellschaft durch Werte wie Toleranz oder Gerechtigkeit benannt werden kann und deren vornehmlicher Fokus auf subjektive Wertorientierungen ausgerichtet ist. Flir eine beispielhafte Illustration der moralischen Entwicklung ist es sinnvoll, nochmals auf die Arbeiten Lawrence Kohlbergs zu verweisen, die bereits bei der Besprechung von Jurgen Habermas angedeutet wurden. Dies bietet sich aus zwei Grunden an. Erstens steht auch Kohlberg - wie die ,Kritik der sozialisierten Vemunft' - auf dem Boden der kantischen Philosophic, wenngleich er in erster Linie die praktische Philosophic rezipiert. Zweitens kann auch sein Gesamtwerk als Beitrag zur Setzung der Demokratie als maBgeblichem Orientierungsrahmen flir die individuelle Entwicklung gelesen werden. Neben der Anbindung an die Philosophic Kants gih Kohlberg hauptsachlich als Vertreter einer Entwicklungspsychologie im Gefolge Jean Piagets, das heiBt er geht nicht wie Kant von einem Apriorismus des moralischen Urteils aus, sondem von einer Stufenentwicklung, deren oberste Stufe dann allerdings mit der kantischen Moral zusammenfallt. Die einzelnen 4 Wobei gilt, dass diese Ambivalenz nicht nur in Bezug auf unterschiedliche Medien gilt, sondern zugleich durch eine Geschlechterdifferenz gekennzeichnet ist, nach der etwa Jungen mehr politische Informationen aus den Medien beziehen als Madchen (Kuhn/Schmid 2004).
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Stufen sind im Laufe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sowohl von Kohlberg selbst immer wieder modifiziert, als auch aus theoretischer (etwa Habermas 1976) und empirischer (etwa Krettenauer 1999) Perspektive kritisiert worden. Otfried Hoffe (1986) hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass die von Kohlberg angegebene 6. Stufe unter moralphilosophischen Aspekten tatsachlich als begrtindetes Ziel der moralischen Entwicklung gelten kann. Sie umfasst die wesentlichen Bedingungen, die moralische Gebote erfullen konnen miissen, um als moralische Gebote gelten zu konnen: die individuelle Zurechenbarkeit, die imperative Sollgeltung und einen kategorischen Charakter, also die Bedingungslosigkeit der Geltung moralischer Prinzipien. Diese Argumentation ist insofem nicht kontrar zu Kohlberg, als dieser selbst die Moral entwicklung nicht der empirischen Analyse entnommen hatte, sondem moralphilosophischen Uberlegungen. Und auch Kohlberg hatte den Schluss von einem psychologisch-kognitiven Entwicklungsniveau des moralischen Urteils auf dessen universalisierbare Geltung zurlickgewiesen. „Man kann eine rationale Rekonstruktion des moralischen Urteilens durch Stufen, die sich immer mehr einer rationalen Gerechtigkeitsauffassung annahem, als nicht zutreffend ablehnen, wenn sich die Stufensequenz als empirisch nicht wahr erweist. Die empirische Geltung der ontologischen Sequenz garantiert andererseits aber nicht die Geltung der normativen Gerechtigkeitsauffassungen, die in der rationalen Rekonstruktion verwendet wurden." (Kohlberg/Levine/Hewer 1984/1997: 237) Kohlberg bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen normativer Theorie und entwicklungspsychologischer Empiric, ohne dass eine auf das Andere zurtickzufuhren. Vielmehr geht er davon aus, dass eine normative Theorie die Empiric anleitet und diese auf die Theorie zurlickwirkt, allerdings ohne dabei eine verifizierende Wirkung zu entfalten. Die Anbindung an die genetische Epistemologie Jean Piagets geht uber die bloBe Verwendung einer Stufentheorie hinaus. Kohlberg ubemimmt von Piaget auch dessen theoretische und empirische Zentralisierung der Verstandestatigkeit. Wenngleich er die intellektuelle Entwicklung nicht mit der moralischen Entwicklung gleichsetzt, ist erstere auch fiir Kohlberg die Bedingung fur das Erreichen hoherer Moralstufen, ohne dass diese automatisch mit der intellektuellen Entwicklung verwirklicht wtirden (vgl. dazu Hoff 1999). Forschungspragmatisch leitet sich daraus ab, nicht konkretes Handeln bezuglich der moralischen Implikationen zum Untersuchungsgegenstand zu machen, sondem moralische Urteile. Wie schon darauf hingewiesen, hatte Kohlberg diese mit seinen Dilemmata-Gcschichtcn operationalisiert und anschlicBend die Begriindungen fiir die jeweilige Entscheidung als maBgeblich fur das Entwicklungsniveau interpretiert. Er orientierte sich somit an der formalistischen Gesinnungsethik Immanuel Kants, die Moralitat als reinen Willensakt unabhangig von pragmatischen oder sozialen Absichten und Umstanden bestimmt hatte. Inhaltlich hatte Kohlberg (1976/1997), wie gesehen, drei groBe Entwicklungsniveaus unterschieden, die er als prakonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Moral bezeichnete und die jeweils durch zwei Unterstufen konkretisiert werden. Auf der ersten Stufe, der heteronomen Moral, befolgen die Akteure eine Regel aufgrund der Strafandrohung. Die Begrtindung fiir eine Regelbefolgung orientiert sich daher an der Strafv^ermeidung, die soziale Perspektive ist insofern egozentrisch, als die Interessen und Absichten Anderer nicht berucksichtigt werden. Auf der zweiten Stufe, die Kohlberg mit Individualismus, Zielbewusstsein und Austausch umschreibt, haben Regeln dann eine verbindliche 73
Wirkung, wenn durch ihre Befolgung die eigenen oder andere Interessen befriedigt werden. Es gilt bereits das Prinzip der Fairness, das einen gleichwertigen Austausch oder ein Ubereinkommen nahe legt. Das Begriindungsniveau und die soziale Perspektive dieser Stufe gehen daher iiber die egozentrische Perspektive der ersten Stufe hinaus und ziehen die Interessen Anderer mit ein. Mit der dritten Stufe, die den Ubergang zur konventionellen Moral beinhaltet und die dem Modus der wechselseitigen Erwartung folgt, werden Regeln aufgrund ihrer sozialen Geltung anerkannt. Entsprechend werden Normen begriindet durch das Ziel, vor anderen als ,guter Mensch' zu erscheinen. Die soziale Perspektive richtet sich auf die eigene Individualitat, die in einem sozialen Beziehungsgeflecht verortet wird. Diese moralische Attitude wird auf der vierten Stufe so weiterentwickelt, dass die soziale Perspektive sich iiber interpersonale Ubereinkiinfte auf die Gesellschaft als System ausrichtet. Normative Regeln legitimieren sich in Bezug auf die Stabilitat der gesellschaftlichen Ordnung (Institutionen, ...) und werden mit dem Duktus der Pflichterfiillung versehen. Mit der fiinften Stufe setzt das Entwicklungsniveau der Postkonventionalitat ein. Regeln werden in ihrer Relativitat und als gerechtigkeitstiftendes Moment im sozialen Kontrakt wahrgenommen. Die soziale Perspektive verschiebt sich damit vor oder besser uber die Gesellschaft, und das Begriindungsniveau formuliert Werte wie Individualismus und allgemeine Rechte zum Schutz der Menschen. Dieses Entwicklungsniveau radikalisiert sich schlieBlich in der sechsten Stufe, die die Moralentwicklung abschlieBt. Sowohl die soziale Perspektive als auch das Begriindungsniveau gleichen sich der kantischen Moralphilosophie in der Art an, dass Regeln sich an universalisierbaren Prinzipien orientieren, wie sie etwa in den Menschenrechten kodifiziert sind. Nicht mehr der Gehorsam gegeniiber einer konkreten Sittlichkeit wie in der konventionellen Moral dominiert die moralische Einstellung, sondern die Distanz gegeniiber partikularen Normen, die vor dem Hintergrund bedingungsloser Prinzipien legitimierbar sein miissen. Mit der sechsten Stufe wird also eine autonome und prinzipienorientierte Moral erreicht, die als Pendant zur politischen Vergesellschaftung in Form der liberalen Demokratie gelten kann.^ Und dies nicht nur in dem theoretischen Sinn, dass die liberale Demokratie wie die postkonventionelle Moral jenseits konkreter Sittlichkeiten und auf der Grundlage einer prinzipienorientierten Verfahrensgerechtigkeit operiert, sondern auch in Bezug auf den in der politischen Sozialisation bedeutsam erachteten Zusammenhang von Urteil und Handlung. Entwicklungstheoretisch bringt Kohlberg moralische Urteile und moralische Handlungen in einen interdependenten Zirkel, nach dem moralische Urteile bestimmte Handlungen nahe legen und moralische Handlungen ihrerseits zu neuen moralischen Einsichten fiihren konnen. Dennoch beriicksichtigt Kohlberg bei moralischen Handlungen, dass diese neben dem kognitiven Aspekt des Urteilens weitere Beziige integrieren. „Moralisches Handeln wird nicht nur durch deontische Gerechtigkeitsurteile (z. B. mit Bezug auf Rechte und Vertrage) bestimmt, sondern auch durch Verantwortlichkeitsurteile, die sich auf die Ausfiihrung der Handlung in einer konkreten Situation beziehen." (Kohlberg/Candee 1984/1997: 456) Entscheidend flir den vorliegenden Kontext ist der von Kohlberg behauptete Zusammenhang zwischen der Moralentwicklung und der Ubereinstimmung von Urteil und Handeln. Nach 5 Dies gilt selbstverstandlich nicht im gleichen MaB fiir eine kommunitaristische Variante der Demokratie (Honneth 1995), die aus der Sicht der Moralpsychologie Kohlbergs eher eine konventionelle Moral, also die Orientierung an einer konkreten Sittlichkeit, postuliert.
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Kohlberg steigt mit dem Urteilsniveau das moralische Engagement auch dann, wenn es in Konflikt mit den Uberzeugungen Anderer gerat. Anders formuliert, fuhrt eine autonome Moral tendenziell dazu, fur die eigenen Uberzeugungen einzutreten bzw. sich im konkreten Handeln an diesen zu orientieren, das heiBt, diese als Mafistab fiir das eigene Handeln zu begreifen. Empirisch jedoch konnte dieser Zusammenhang nicht bestatigt werden (Garz 1999). Theoretisch hingegen lieBe sich dieser moglicherweise dadurch plausibilisieren, dass eine postkonventionelle Moral aufgrund ihrer Prinzipienorientierung eine starkere intrinsische Motivation entfaltet als eine konventionelle Moral, die ihre Impulse wesentlich durch die Gemeinschaft bezieht. Akteure mit einer postkonventionellen Moral, die aus einer universellen Perspektive urteilen, geraten zudem eher in Konflikt mit der Gemeinschaft und konnten sich daher genotigt fiihlen, diese Oppositionsstellung in ein kritisches Engagement gegen partikulare Normen zu transformieren. Dies entsprache dann dem couragierten Mitglied der Demokratie, das an offentlichen Diskursen partizipiert. Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung stellt also einen Beitrag dar, der funktional auf die Demokratie als Vergesellschaftungsform bezogen werden kann. Sie formuliert ein Ziel der moralischen Sozialisation, wobei auch in diesem Fall familiare (Nunner-Winkler 1999) oder schulische (Edelstein 1986) Sozialisationsbedingungen analysiert werden konnen, die einer moralischen Entwicklung forderlich oder hinderlich sind. Es muss allerdings bei der moralischen Sozialisation bewusst bleiben, dass die Formulierung eines moralischen (oder auch politischen) Entwicklungszieles nicht umstandslos aus empirischen Sozialisationsverlaufen extrahiert werden kann. Es bleibt eine Aufgabe moralphilosophischer Uberlegungen, ob ein Sollen aus dem Sein gewonnen werden kann und welche Bestimmungsmoglichkeiten eines Sollens sinnvoll sind, wenn dies verneint wird. Mit Kohlberg wurde hier ein Ansatz vorgestellt, der Moralitat als unabhangig von ihren konkreten Erscheinungen und mit einem starken Anspruch auf Normativitat versehen begreifl und der daher nur als ein Beispiel fur eine moralische Sozialisation gelten kann. Kurz: Die Konzeption des ,Richtigen' ist keineswegs ein Unternehmen, das endgiiltig gelost werden konnte. Es bleibt verstrickt in historische und ideengeschichtliche Situationen und Epochen. Gleichsam quer zu der politischen und moralischen Sozialisation liegt die Frage nach der geschlechtsspezifischen Sozialisation. So lasst sich zwar eine politische und moralische Entwicklung mit dem Ziel einer politischen Identitat und einer moralischen Urteilsfahigkeit fur beide Geschlechter gleichermafien postulieren. Dennoch stellen sich die Entwicklungsverlaufe und auch die Entwicklungsergebnisse gerade auch in Bezug auf Politik und Moral zwischen den Geschlechtem unterschiedlich dar (etwa Kulke 1998; Kuhn 2000). Zumeist sind daflir gesellschaftliche Strukturen als verantwortliche identifizierbar, die gegeniiber Frauen restriktive Bedingungen entfalten, wie etwa der Zugang zum Arbeitsmarkt, eine allgemeine kulturelle Diskriminierung oder symbolische Gewaltverhaltnisse (Krais 1993). Diese Einsicht in die strukturelle Benachteiligung von Frauen allerdings riickt die Frage nach der geschlechtsspezifischen Sozialisation in den Kreis einer normativen Fragestellung. Ahnlich wie im Fall der Politik und der Moral spielen auch hier Bewertungsmuster eine maBgebliche Rolle. Dabei kann selbstverstandlich die normative Zielsetzung einer Gleichberechtigung der Geschlechter als gebotenes Ziel angesehen werden. An der Frage nach den Verwirklichungsbedingungen und konkret diagnostizierbaren Ungleichverhaltnissen zwischen den Geschlechtem bzw. den konkreten Reproduktionsmechanismen der ge75
schlechtlichen Ungleichheit scheiden sich indessen die Geister. Im Fall der geschlechtspezifischen Sozialisationsforschung, die stets das politische Anliegen der Gleichberechtigung mitberiicksichtigt hat, wird unter anderem ein Disput ausgetragen, der zwei entgegengesetzte Axiome aufeinander treffen lasst und unter dem Label sex vs. gender zusammengefasst wird. Wahrend der eine Standpunkt an der biologischen Konstitution von Geschlecht festhalt, behauptet die Gegenposition die soziale Konstruktion von Geschlecht. Der Fokus der Betrachtung verschiebt sich dadurch von der Ableitung spezifischer Einstellungen etc. aus der Geschlechtlichkeit zu der Frage nach dem Wie der (sozialen, interaktiven) Konstitution von Geschlechtlichkeit und damit von dem Blick auf Geschlecht zu dem Blick auf Geschlechterverhaltnisse (Engler 1997; Hoffmann 1997; Maihofer 2002; Popp 2004). Unabhangig von diesem Konflikt ist die gemeinsame Fragestellung der geschlechtsspezifischen Sozialisation die nach den unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen der Geschlechter bzw. nach dem Erwerb ,geschlechtstypischer Normen'.^' So werden geschlechtertypische Impulse der verschiedenen Sozialisationsinstanzen diagnostiziert, die dazu fiihren, dass Jungen Jungen und Madchen Madchen werden, beide Geschlechter also typische Verhaltensmuster zeigen, die im kulturellen Wissensvorrat einer Gesellschaft sedimentiert sind. Fur Madchen gilt dabei unter anderem eine erhohte Hilfsbereitschaft, eine kommunikative Orientierung, die Problematisierung von Emotionen und die Bereitschaft, sich dem mannlichen Geschlecht in Bezug auf die Verteilung von Berufschancen unterzuordnen, als wunschenswertes Ziel. Ftir Jungen gelten hingegen die Kontrolle ihrer Emotionalitat, das Interesse an Wissensvermehrung, Durchsetzungsfahigkeit gegeniiber potentiellen Konkurrenten und der ritualisierte Wettbewerb, etwa in Form von Sport, als Inhalte typisch mannlichen Verhaltens (Faulstich-Wieland 1999). Freilich geraten diese Zuschreibungen durch die kulturellen Veranderungen, die unter anderem von der Frauenbewegung angestoBen wurden, in einen Erosionsprozess, in dem Frauen sich mit der geschlechterstereotypen Verteilung von Rollen und Zustandigkeiten nicht langer abfmden wollen und der von Mannern bzw. mannlichen Jugendlichen die Einstellung auf die neue Situation einfordert (Kersten 1999). Entscheidend flir die Ubemahme einer Geschlechtemorm sind alle oben erwahnten Instanzen. Im Fall der Familie kann zwar der Versuch einer Erziehung jenseits von Geschlecht unternommen werden. Wie in empirischen Studien gezeigt werden konnte, verbleiben dennoch unbewusste Strategien im Umgang mit Madchen oder Jungen. „Mutter und Vater haben schon vor der Geburt Fantasien und Bilder, die mit dem Geschlecht des Kindes verbunden sind. Solche - oft unbewussten - Wlinsche, Angste, Hoffnungen, Vorstellungen pragen von Anbeginn an das Verhaltnis zur kleinen Tochter oder zum kleinen Sohn und lassen es oft anders werden, als es den bewussten Intentionen entspricht." (Flaake 2002: 41) Entsprechend treffen die Sozialisanden dann auch in der Schule, den Peer-Groups oder den Medien auf geschlechtstypische Symbolisierungen, die eindeutige geschlechtliche Verhaltensweisen nahe legen und pramieren. Inhaltlich bezieht sich dies unter anderem auf eine geschlechtsspezifische Arbeits- und Rollenverteilung, die je eigene Korperlichkeit und die Emotionalitat, die je nach Geschlecht unterschiedlich sozialisiert werden (Bilden 1998). 6 Wobei gerade durch konstruktivistische Ansatze die Typologisiemng geschlechtsspezifischer Normen iiberwunden werden soil, um so das politische Ziel der Gleichberechtigung durch die Dementierung einer biologisch bedingten Geschlechtlichkeit und einer daraus resultierenden Normzuschreibung zu erreichen.
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Dariiber hinaus gilt selbstverstandlich, dass Frauen keineswegs eine homogene Masse darstellen, sondem sich im Sinne der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung ebenfalls im Hinblick auf unterschiedliche Milieus differenzieren, wobei unterschiedliche Milieus andere Formen der Konstruktion von Geschlecht und anderen Verhaltensmuster zwischen den Geschlechtem evozieren konnen (Bourdieu 1994; Steinriicke 1996). Insgesamt problematisiert die geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung also die Reproduktion geschlechtstypischer Verhaltensmuster, wobei im Hintergrund immer auch die politische Forderung nach einer Offnung der rigiden Zuschreibung von bestimmten Verhaltensmustern zu je einem der Geschlechter steht. Damit differenziert die geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung den Blick auf die Sozialisationsinstanzen und -inhalte, indem sie diese jeweils intern trennt bezuglich ihrer geschlechtlichen Wirkungen und Zielsetzungen. Wie gesagt, die Inhalte der Sozialisation, und dies trifft bis zu einem gewissen Grad auch auf die geschlechtsspezifische Sozialisation zu, formulieren normative Zielsetzungen, die nicht eindeutig als ,richtiges' Ziel definiert werden konnen. Sie sind abhangig von konkreten historischen Situationen, dem Interesse und den Einstellungen des Forschers bzw. der Forscherin und stehen grundsatzhch unter dem Vorbehalt eines moralphilosophischen oder politisch-philosophischen Diskurses, der allgemein anerkannte Inhalte des Folitischen oder Moralischen (wobei darunter auch der Umgang mit und zwischen den Geschlechtem fallt) in den Sog der Auseinandersetzung zieht und dessen Ergebnisse zu einer Revision tradierter Normen fuhren konnen.
2.10. Die systemtheoretische Perspektive: Selbstsozialisation imd konstruktivistischer Interaktionismus Mit der Systemtheorie wird der Faden einer theoriegeschichtlichen Skizze der Sozialisationstheorie auf eine eigensinnige Weise wieder aufgenommen. Niklas Luhmann, dessen systemtheoretischer Ansatz hier vorgestellt werden soil, ist im eigentlichen Sinne kein Sozialisationstheoretiker. Sein Oeuvre zentriert vomehmlich Fragen der Gesellschaftstheorie und steht spatestens seit der autopoietischen Wende immer wieder unter dem Verdacht nicht empiriezuganglich zu sein, so dass die Systemtheorie kaum Eingang gefunden hat in empirisch ausgerichtete Forschungsdisziplinen wie etwa die Sozialisationsforschung. Wenngleich die Systemtheorie Luhmanns sich als Theorie der modemen Gesellschaft innerhalb der Soziologie etabliert hat, sieht sie sich jedoch auch innerhalb der soziologischen Theoriebildung immer wieder der Kritik ausgesetzt. Ihr wird vorgeworfen eine affirmative Beschreibung der Gesellschaft vorzuschlagen, die die eigentiimlichen ,Pathologien der Modeme' (Kneer) bzw. den normativen Gehalt der Moderne nicht in den Blick bekommt (Habermas 1985: 426ff; Sigrist 1989; Demirovic 2001). Diese Kritik zielt wesentlich auf die von Luhmann konzipierte These einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft in diverse Funktionssysteme, die sich jedoch, und dies resultiert aus seiner Ubertragung des biologischen Autopoiesisbegriffes auf die Soziologie, gegenseitig allenfalls beobachten oder irritieren, nicht jedoch beeinflussen oder gar steuem konnen. Insbesondere jene Theorietradition, die im Gefolge des historischen Materialismus eine Dominanz der Wirtschaft gegenuber anderen Gesellschaftsbereichen behauptet und politisch die Steuerung der Gesellschaft durch Politik ein77
fordert, beklagt die mit dieser Strategie verbundene Verkennung jenes Primats der (kapitalistischen) Wirtschaft, der soziale und kulturelle Folgekosten produziert, die unter den Bedingungen der funktional ausdifferenzierten Modeme nicht mehr durch eine politische Steuerung der Gesamtgesellschafit abgefedert werden konnen.' „Hier verdummt das systemtheoretische Ausdifferenzierungsgerede, statt differenziert Zusammenhange, Abhangigkeiten und Dynamiken erkennen zu lassen." (Narr 2001: 69) Es braucht an dieser Stelle keine detaillierte Auseinandersetzung mit der Gesellschaftstheorie Luhmanns stattzufmden (vgl. dazu nach wie vor instruktiv Kneer/Nassehi 1993). Von Bedeutung fiir die nachfolgende Rezeption ist allerdings die von Luhmann behauptete Orientierung an Differenzen im Gegensatz zur Orientierung an Identitaten (Clam 2002). Er treibt mit seiner (nicht auch zuletzt politisch relevanten) Forderung, in Differenzen zu denken, das Projekt der Desubstanzialisierung weiter, das in der Philosophie der Aufklarung, vornehmlich wohl durch David Hume und Immanuel Kant, bereits angelegt war. Luhmann pointiert dieses Projekt, und gibt ihm eine neue Wendung wenn er die Philosophie der Aufklarung bzw. deren Leitunterscheidung von Subjekt und Objekt, als alteuropaisches Denken zu iiberwinden vorgibt und auf die Unterscheidung von System und Umwelt umstellt. Ausgangspunkt seiner Uberlegungen ist somit grundsatzlich eine Differenz (eben zwischen System und Umwelt), die als konstitutiv flir die Selbstidentifikation und Reproduktion von Systemen gesetzt wird. Wie leicht ersichtlich kntipft Luhmann mit dieser Theorieentscheidung an die Philosophie Hegels (1807/1996) an, der bereits das Modell einer Erkenntnis Ober Anderes (also Differenz) postuliert hatte. Anders jedoch als Hegel geht es Luhmann nicht um eine Dialektik, die liber ihre verschlungenen Pfade schlieBlich eine integrierende Identitat zu garantieren vermag. Vielmehr betont Luhmann die grundsatzliche Fallibilitat und Unbestimmtheit jeglicher Erkenntnis, die von der Autopoiesis des prozessierenden Systems abhangen. Verdichtet wird diese Annahme durch den fur die Systemtheorie entscheidenden Begriff des Sinns, der sowohl soziale als auch psychische Systeme konstituiert. Mit dem Begriff Sinn wird einerseits die Beliebigkeit der Systemprozesse durchbrochen. Er bezeichnet die je aktuelle Selektion von Moglichkeiten aus einem komplexen Uberschuss von Sinnzusammenhangen, um so Unbestimmtes in Bestimmtes zu iiberfiihren und Anschlussoperationen zu arrangieren. Die jeweils nicht-aktualisierten Sinnbezuge gelten dabei andererseits nicht als eliminiert (bzw. im hegelschen Sinne als aufgehoben), sondern als potentiell zur Verfugung stehende Alternative, die reaktualisiert werden kann und dann ihrerseits spezifische Anschlussoperationen nahe legt. Sinnhaftes Prozessieren ist also weder ein teleologisches, noch ein auf Identitat zielendes Prozessieren, sondern „ein Prozessieren nach MaBgabe von Differenzen." (Luhmann 1984: 101) Zurlickgefuhrt wird das Differenzdenken auf den Begriff der Autopoiesis. Dieser Begriff, der urspriinglich aus der Biologic stammt, wird von Luhmann unter der generellen Perspektive einer konstruktivistischen Theoriebildung in die Sozialwissenschaften eingeflihrt, um ein neues systemtheoretisches Paradigma zu begriinden. Allgemein meint der Begriff der Autopoiesis, dass die Systeme ihre Elemente und ihre elementaren Operationen durch Bezaig auf sich selber, also durch Selbstreferenz, reproduzieren. Diese Annahme
7 Zu Luhmanns Verstandnis des hier problematisierten Verhaltnisses von Politik und Wirtschaft vgl. Luhmann (1994: 324 ff).
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fiihrt einerseits zu dem Denken in Differenzen, da autopoietische Systeme Fremdreferenz zwar operieren konnen und auf diese angewiesen sind, grundsatzlich jedoch durch Selbstreferenz, und dies meint: durch operative Geschlossenheit, charakterisiert sind. Systeme sind, anders formuliert, immer schon als voneinander differenziert zu denken. Zugleich wird durch diesen Begriff ein Zugang zur Soziologie markiert, der erkenntnistheoretisch zurlickgekoppelt ist (vgl. dazu Gripp-Hagelstange 1997; Luhmann 2005). Damit riickt, wie noch deutlich werden wird, die Systemtheorie in die Nahe der ,Kritik der sozialisierten Vernunft'. Erkenntnistheoretisch schlieBt Luhmann an den Konstruktivismus an. Die Systeme erkennen letztlich immer nur ihre eigene Realitat oder anders formuHert: Erkenntnis ist in der selbstreferentiellen Operation des Systems fundiert. Dabei wird innerhalb der Luhmannschen Theorie nicht immer deutlich, wie weit bzw. radikal er den Konstruktivismus verstanden haben mochte. Er oszilliert zwischen der (ontologischen) These, es gibt Systeme und der (nicht hintergehbaren) Konstruktionsleistung des erkennenden (besser: beobachtenden) Systems (Nassehi 1992, Luhmann 2001). Ungeachtet dieser Ungenauigkeit, aber diese aufnehmend, gilt, dass seine Beobachtungstheorie auf der Annahme beruht, Beobachten ist eine Operation, die mit empirischen (sic!) Mitteln beobachtet werden kann. Bei der Beschreibung der Beobachtung als systemische Operation halt Luhmann selbstverstandlich an seinem Grundgedanken der Differenz fest. Beobachten ist eine Operation der Unterscheidung von Unterscheiden und Bezeichnen (Luhmann 1987a: 68ff.; vgl. auch Bateson 1987; Fuchs 2004). Das Beobachtete wird durch die Differenz zu etwas anderem unterschieden und dadurch bezeichnet. In den Beobachtungsprozess ist damit die Paradoxic eingebaut, dass eine Zweiheit (erst unterscheiden, dann bezeichnen) als Einheit verwendet wird. Zudem kann das beobachtende System die eigene Unterscheidung wahrend des Beobachtens nicht sehen. Diese ist ihr blinder Fleck und kann erst durch eine Beobachtung zweiter Ordnung (Fremd- oder Selbstbeobachtung) aufgeklart werden, wobei die Beobachtung zweiter Ordnung ihrerseits unter der Pramisse operiert, die eigene Unterscheidung nicht sehen zu konnen. Fiir den Faden einer theoretisch-methodischen Skizze der Sozialisationsforschung sind diese Uberlegungen Luhmanns insofem von Bedeutung, als sie gegenuber den bisherigen Zugriffen auf das Sozialisationsgeschehen durch das Konzept der Intersubjektivitat eine deutlich radikalere Position einnehmen, die, wiirde Luhmann nicht auf die System-Umwelt Differenz umgestellt haben, wohl als radikale Subjekttheorie verstanden werden konnte. Entsprechend kritisiert Luhmann an diversen Stellen das Intersubjektivitatstheorem, insbesondere habermasscher Provenienz, und wirft diesem vor, konsensuelle Integration zu sehen, wo allenfalls autopoietische Kommunikation (und damit operieren nach MaBgabe von Differenzen) stattgefunden hat (Luhmann 1995a, Schmid 2000). Dies bedeutet in der Konsequenz allerdings nicht, die Reproduktion der Systeme iiber eine alleinige Selbstreferenz laufen zu lassen. Luhmann verweist darauf, dass reine Selbstreferenz zur Tautologie reduziert wiirde und damit Entwicklung nicht erklart werden konnte. Systeme sind fiir ihre Reproduktion auf Fremdreferenz angewiesen, die Luhmann iiber Begriffe wie strukturelle Kopplung, Irritation und Interpenetration in sein Theoriegebaude einbaut. Der Begriff der strukturellen Kopplung, wie eben iiberhaupt das Insistieren auf Fremdreferenz, steht dabei zunachst in einem Widerspruch zum Begriff der Autopoiesis. 79
Luhmann wird jedoch nicht miide zu betonen, dass er sich Systeme zwar als operativ geschlossen, aber gleichzeitig uber Strukturen ,geoffnet' denkt, strukturelle Kopplungen also eine Art kausaler Verkniipfung darstellen. Daraus folgt freilich nicht, dass Kausaliibertragungen stattfinden, oder die Umwelt uber strukturelle Kopplungen direkt zum Erhalt des Systems beitragt. „Das heiBt auch, dass diese Begrifflichkeit nicht vorsieht, man konne sagen, etwas sei mehr oder weniger autonom, mehr oder weniger autopoietisch. Strukturelle Kopplung kann alle moglichen Formen annehmen, solange sie mit der Autopoiesis des Systems kompatibel ist. Der Akzent liegt auf Kompatibilitat." (Luhmann 2002a: 120) Strukturelle Kopplungen greifen nicht in die autopoietische Reproduktion ein, sondern beziehen sich einzig auf Strukturen oder Organisationen (Lieckweg 2001), die gleichsam als ein Ereignis in mehreren Systemen prozessiert werden. Als Beispiel mag die Verfassung als strukturelle Kopplung zwischen Recht und Politik dienen. Das Funktionssystem Recht erhalt iiber die Verfassung die Moglichkeit, politische Entscheidungen als Recht zu registrieren, und das Funktionssystem Politik die Moglichkeit, Recht als Mittel der Politikumsetzung zu verwenden, Beide Systeme durchbrechen so die Tautologie der Selbstreferenz durch Referenz auf die Umwelt, ohne dabei ihre jeweilige Leitunterscheidung, ihren Code und ihre Programme auf die autopoietischen Operationen des jeweils anderen Systems umzustellen (Luhmann 1990, 1995b: 440ff.). Auf eine gewisse Weise entscharft wird das eigensinnige Konzept einer operativen Geschlossenheit bei gleichzeitiger struktureller Kopplung durch den Begriff der Irritation. Er macht deutlich, dass die Umweltkontakte des Systems einzig in einer Storung der autopoietischen Reproduktion bestehen, die notwendig wird, um die Selbstreferenz des Systems zu liberwinden und so eine akkumulierende Entwicklung zu garantieren. Die Selbstreferenz wird dabei in der Form erhalten, als Irritationen einen systemintemen Zustand darstellen, der keine Quelle in der Umwelt hat. Wenn also beispielsweise jemand aggressiv auf einen Kommunikationspartner reagiert, liegt die Quelle ftir die Irritation, die eine solche Reaktion (bzw. Anschlussoperation) provoziert, in dem psychischen System, das aggressiv reagiert, selbst. Verstandlich wird dieses Modell, wenn darauf verwiesen wird, dass tatsachlich unterschiedliche Akteure unterschiedlich auf ein und dasselbe Kommunikationsangebot reagieren konnen, die Art der Reaktion also durch das psychische System gesteuert wird, nicht aber durch die in dem Kommunikationsangebot enthaltenen Semantiken. Gleichfalls ist die Art der Reaktion auf der anderen Seite nicht unabhangig von der Semantik. Dass es iiberhaupt zu einer Reaktion kommt, die in der Selbstreferenz moglicherweise gar nicht angelegt war, ist nicht unabhangig von der Irritation durch ein Umweltereignis. Der Begriff der Irritation bringt also das komplizierte Verhaltnis von Selbst- und Fremdreferenz auf den Punkt und bemuht sich dabei, Anschluss an die konstruktivistische Ausrichtung der Systemtheorie zu halten. Mit dem Begriff der Interpenetration wird schlieBlich ein System-Umwelt-Verhaltnis in die Theorie eingefuhrt, das die gegenseitige Bereitstellung von Eigenkomplexitat ftir ein anderes System markiert. „Von Penetration wollen wir sprechen, wenn ein System die eigene Komplexitat (und damit: Unbestimmtheit, Kontingenz und Selektionszwang) zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfugung stellt. In genau diesem Sinne setzten soziale Systeme >Leben< voraus. Interpenetration liegt entsprechend dann vor, wenn dieser Sachverhalt wechselseitig gegeben ist, wenn also beide Systeme sich wechselseitig dadurch 80
ermoglichen, dass sie in das jeweils andere ihre vorkonstituierte Eigenkomplexitat einbringen." (Luhmann 1984: 290) Interpenetration avanciert damit in den Rang eines konstitutiven System-Umwelt-Verhaltnisses fur die Genese von Systemen uberhaupt, wenngleich auch hier zu beachten bleibt, dass Interpenetration nicht so in die selbstreferentiellen Operationen des je anderen Systems eingreift, dass es zu einer Fremdstrukturierung kommt. Fiir das in der Sozialisationstheorie relevante Verhaltnis von Subjekt und Sozialitat bedeutet dies, dass Subjekte (physische Systeme oder Bewusstseinssysteme) gleichsam ,interaktiv' von einer Bezugnahme auf Sozialitat (soziale Systeme) abhangen. Die strukturelle Kopplung zwischen psychischem und sozialem System leistet dabei die Sprache (Luhmann 1995c; vgl. auch Schmidt 1994). Luhmann widerspricht damit nicht dem generellen Sozialisationsverstandnis wie es auf der Linie von Mead Uber Habermas bis Hurrelmann konzipiert wird. Der gravierende Unterschied (der ganz im Sinne Luhmanns einen Unterschied macht) liegt in dem Zugang zur Sozialwissenschaft, und damit zur Sozialisation, uber den Leitgedanken der Differenz. Psychische Systeme operieren uber Bewusstsein, soziale Systeme iiber Kommunikation; eine Uberschneidung beider ist fiir Luhmann nicht moglich. Daraus folgt jene prominent gewordene These, dass die Kommunikation kommuniziert, nicht irgendwelche Subjekte. Luhmann begreift Kommunikation als eine emergente Realitat, die durch eine Synthese der Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen zustande kommt (vgl. Hohm 2000: 6Iff.). Information macht dabei den semantischen Gehah aus, die Mitteilung bezieht sich auf die Grlinde der Kommunikation und Verstehen kann als Anschlussoperation interpretiert werden. Alle drei Komponenten implizieren insofern den Status einer Selektion, als grundsatzlich eine andere Information und ein anderer Grund batten gewahlt werden konnen und Verstehen immer Nicht-Verstehen einbeziehen muss. Kommt nun eine Kommunikation zustande, fiihrt sie zu einer Ausdifferenzierung eines sozialen Systems, fur das die physischen Systeme die Umwelt darstellen. Gerichtet ist dieses Kommunikationsverstandnis, wie leicht zu ersehen, gegen die Vorstellung einer Ubertragung von einem Sender auf einen Empfanger. Dies, so Luhmann, wurde die Kommunikation mit einer zu hohen Komplexitat ausstatten, wenn tatsachlich alles Gedachte in das Gesprochene projiziert wiirde und ungekehrt. Um die Umweltkomplexitat reduzieren zu konnen, operieren daher sowohl die psychischen Systeme als auch die sozialen Systeme in sich geschlossen. „Was immer die Beteiligten in ihrem je eigenen selbstreferentiellgeschlossenen Bewusstsein davon halten mogen: das Kommunikationssystem erarbeitet sich ein eigenes Verstehen oder Missverstehen und schafft zu diesem Zwecke Prozesse der Selbstbeobachtung und der Selbstkontrolle." (Luhmann 1995d: 116) Beispiele fur eine solche Selbstkontrolle sind etwa Nachfragen, wie das Gesagte gemeint war, oder die Aufklarung von Missverstandnissen. Die bisherige Darstellung Luhmanns unter der hier interessierenden Perspektive zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Luhmann sich zwar einerseits einer konstruktivistischen Epistemologie verpflichtet, dabei aber die generelle Perspektive einer ,interaktiven' Gegenseitigkeit der Systeme keineswegs in toto verwirft. So ist es wohl kaum dem Zufall verschuldet, wenn seine Ausflihrungen zum Fremdverstehen sich lesen wie die systemtheoretische Aneignung eines intersubjektiv verstandenen Alfred Schiitz. Psychische Systeme, so Luhmann, begegnen sich zunachst als ,black boxes', das heifit in der Situation einer doppelten Kontingenz, und bilden fiireinander Umwelten in die nicht eingegriffen 81
werden kann. Auf den Begriff gebracht wird damit die alltagliche Erfahrung, dass die Gedankenwelt eines alter ego unzuganglich bleibt. Die Berechnung des Kommunikationspartners wird so zwangslaufig durch gegenseitige Freiheitskonzessionen ersetzt, und die Ausdifferenzierung eines sozialen Systems hangt von der Annahme eines Kommunikationsangebotes ab. Dabei operieren die psychischen Systeme mit Zuschreibungen, die in den Formen ,Person' und ,Handlung' Kommunikation adressieren und damit erwartbar machen konnen. Ahnlich hatte Schutz die Interaktion beschrieben und dabei den Begriff der Typologisierung bemliht, der ebenfalls Erwartungen selektiert und damit Anschlussoperationen ermoglicht. Die damit behauptete implizite Anbindung Luhmanns an intersubjektivistische Theorien ist selbstverstandlich nicht in dem Sinne zu verstehen, Luhmann flihre ein Paradigma nur unter anderem Vorzeichen weiter. Die Unterschiede zu klassischen Intersubjektivitatstheorien, wie sie sich in der Soziaiisationsforschung durchgesetzt haben, liegen in der Orientierung an Differenzen im Gegensatz zu Identitaten. Nicht das, wie von Hurrelmann konzipierte, Hereinstellen eines Subjektes in eine soziale und kulturelle Umwelt wird damit zum Ausgangspunkt gesetzt, sondern die Differenz unterschiedlicher Operationsweisen. Bewusstsein und Kommunikation stellen fiireinander Umwelten dar, die sich gegenseitig beobachten konnen: mehr nicht! Das Subjekt ist nicht als Teil der Gesellschaft gedacht. Diese verliert ohnehin durch die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme jeglichen Ort, an dem sie als Ganze reprasentiert wird. Die (wissenschaftliche) Beschreibung von (psychischen und sozialen) Systemen muss einer Forderung Luhmanns zufolge immer die Systemreferenz angeben, von der aus beschrieben wird. Dies bedeutet, wird ein psychisches System beobachtet, hangt die Beobachtung davon ab, welches System mit welchen systemintemen Unterscheidungen beobachtet. So werden Subjekte durch das Rechtssystems anders beobachtet als durch das Wirtschaftssystem oder andere psychische Systeme und das heifit, es erfolgen andere Zuschreibungen. In keinem der Falle hingegen wird das zu beobachtende System in Form einer Abbildung beobachtet, wie es der klassische Empirismus behauptet hatte (vgl. Teil II). Beobachtungen und Zuschreibungen sind jeweils systeminteme Operationen, die nach der MaBgabe von Selbstreferenz arbeiten. Auf diese Weise radikalisiert Luhmann (1993) die Fokussierung auf das Individuum gegeniiber den bisher vorgestellten Ansatzen. Individualitat ergibt sich namlich aus systemtheoretischer Perspektive bereits durch die Geschlossenheit der autopoietischen Reproduktion des Systems. Mit anderen Worten: Sie ist ein zunachst basaler Tatbestand, der ohnehin in die Operationsweise von psychischen Systemen eingelagert ist. Diese epistemologische Ebene der Beschreibung von Individualitat macht allerdings keine Aussagen iiber die soziologische Beschreibung von Individualitatssemantiken. Denn aus der autopoietischen Reproduktion folgt nicht notwendigerweise, dass das psychische System sich als individualisiert begreift, das heiBt sich Individualitat als Seinsform zuschreibt. Fiir ein singulares System ware dies mit hoher Probabilitat sinnlos. Die Semantik ,Individualitat' wird erst in der Differenz zu Anderem (Gesellschaft, ...) zu einer sinnvollen Zuschreibung, die dann, weil sie unterscheidet, etwas bezeichnet. „Der bloBe Appell Individuum zu sein und dementsprechend eigene Identitat zu behaupten, stoBt dagegen ins Leere, weil die Person Differenz braucht, um zu wissen, welche Information sie mit Hilfe ihrer Identitat gewinnen kann. Sie kann nicht Identitat sein, bevor sie Differenz ist." (Ebd.: 242) Kurz: Ahnlich wie Habermas 82
verwendet Luhmann den Begriff Individualitat im eigentlichen Sinne erst in Bezug auf Sozialitat und das meint: als (soziale) Zuschreibung von Einstellungs- und Verhaltensmustem, die erst innerhalb der Sozialitat wirksam werden, weil sie nur dort einen Unterschied machen, das heiCt eine Differenz bezeichnen. In diesem Sinne kann Luhmann auf die soziologische These rekurrieren, dass in der Modeme Individualitat nicht mehr tiber die Inklusion in ein spezifisches Teilsystem defmiert wird, sondem durch Exklusion.** Der Einzelne gilt nicht als Teil, sondern als Umwelt der Gesellschaft und ist grundsatzlich an mehreren Funktionssystemen beteiligt. Die Rollentheorie hatte dies als Ausdifferenzierung verschiedener Rollen (Familienmitglied, Arbeitnehmer, Vereinsangehoriger, ...) beschrieben. Luhmann konstatiert also als Sozialwissenschaftler einen Wandel in der Semantik bzw. dem gesellschaftlichen Verstandnis von Individualitat. Sein Verstandnis von Individualitat ist damit ein Zweifaches. Er beobachtet einerseits soziologisch einen historischen Wandel in der Individualitatssemantik. Aus seiner epistemologischen Perspektive siedelt er andererseits das Subjekt auBerhalb der Gesellschaft an und begreift Individualitat auf dieser Ebene als gleichsam leeres Konzept, das in der Unhintergehbarkeit der autopoietischen Operationen des Systems begrundet ist. Die in der reinen Selbstreferenz liegende Tautologie wird dabei auch in diesem Fall durch Fremdreferenz durchbrochen, so dass Individualitat aus der Unbestimmtheit der Autopoiesis in die Bestimmtheit einer soziologischen Semantik iiberftihrt werden kann. Luhmann verwendet den Begriff der Karriere, der die Durchbrechung der Selbstreferenz in und durch die Zeit anzeigen soil. Fur sein Verstandnis von Sozialisation ist diese konsequente Ubernahme des Autopoiesiskonzeptes folgenreich. Wie gesagt, Luhmann ist kein genuiner Sozialisationstheoretiker, er behandelt diesen Diskurs nur am Rande. Dennoch steht er diametral zu den bisherigen Konzepten, wenn er behauptet, Sozialisation sei als Selbstsozialisation zu konzipieren (Luhmann 1987b, 1995f; Zinnecker 2000; Scherr 2004). Er positioniert sich damit gegen das Verstandnis von Fremdsozialisation, verstanden als (mehr oder weniger) passive Ubernahme von Sozialisationsinhalten durch die Sozialisanden und hat damit (posthum) eine Debatte ausgelost, die beklagt, dass durch ein solches Sozialisationsverstandnis die Wirkmachtigkeit gesellschaftlicher Strukturen, etwa in Form materieller und symbolischer Ressourcen, kategorisch aus dem Analyserahmen ausgeblendet (Bauer 2002) oder das grundlegende Programm einer Interdependenz von Subjekt und Sozialitat aufgegeben wird (Krappmann 2002). Klaus Hurrelmann spricht daher in Bezug auf die Eigenaktivitat des Sozialisanden von Selbstorganisation, siedelt diesen Begriff allerdings auf der Ebene eines gesellschaftstheoretisch diagnostizierten historischen Wandels an, der den Individuen ein hoheres MaB an Flexibilitat und eigener Gestaltung der Lebensfiihrung abverlangt und behalt so den Kontakt zur Interdependenz zwischen Subjekt und Sozialitat (Hurrelmann 2002; vgl. auch Junge 2004). Der von Luhmann vorgeschlagene Begriff der Selbstsozialisation liegt freilich tiefer. Er bezeichnet die Trennung von psychischem und sozialem System und die Selbstreferenz, die beiden Systemen eigen ist. Er ist an die Epistemologie Luhmanns zuriick geschlossen und 8 Zu dem Begriffspaar Inklusion/Exklusion vgl. Luhmann (1995e) und Gobel/Schmidt (1998).
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ruckt so in die Nahe einer anthropologischen (Wesens-)Bestimmung, die unabhangig von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu berucksichtigen ist. Sartre paraphrasierend liefie sich sagen: Psychische Systeme sind aufgrund ihrer operativen Geschlossenheit zu einer Selbstsozialisation verdammt. Dies schlieBt in der Perspektive Luhmanns eine Bezugnahme auf die Gesellschaft nicht aus. „Fur die Klarung des Begriffes der Sozialisation geniigen aber die bereits eingefiihrten Begriffe der operativen SchlieBung und der strukturellen Kopplung. Damit verschiebt sich auch das Bezugsproblem der SoziaHsationstheorie. Es geht nicht mehr um die Frage, wie Gesellschaft trotz eines standigen Austausches ihres Personals kontinuieren kann. Das Problem ist vielmehr, wie operativ geschlossene psychische Systeme auf die strukturelle Kopplung mit dem Gesellschaftssystem reagieren." (Luhmann 2002b: 52) Dieser systemtheoretische Zugang zur Sozialisation erinnert unabhangig von den gewahlten Termini an das ,Modell des produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts'. Es radikalisiert zwar gegentiber Hurrelmann die Orientierung am Individuum (bzw. am Subjekt oder psychischen System), integriert aber dennoch jene Beobachterebene, die von einem Austauschverhaltnis mit der Umwelt ausgeht. Dieses kann institutionalisiert sein, wie im Fall des Erziehungssystems, dessen Kommunikation durch die Absicht markiert ist, zu erziehen (Ebd.), oder durch vielfahige Kontakte mit anderen psychischen und sozialen Systemen. In keinem Fall jedoch, kommt es zu einer direkten Ubemahme von kommunizierten Semantiken in die autopoietischen Operationen des psychischen Systems. Dieses selektiert Anschlussoperationen auf der Grundlage seiner Selbstreferenz und gestaltet so eine eigene Sozialisationskarriere. Sozialisation ist somit kein intendierter Prozess des psychischen Systems, sondern resultiert (zwangslaufig) aus den Umweltkontakten, die das System sich selbst ermoglicht. Sozialisation ist, mit anderen Worten, ein Prozess der naturwiichsig in die Umweltkontakte implementiert ist und nicht verhindert werden kann. Diese Offenheit des Sozialisationsverstandnisses korreliert mit der Rlickbindung von Sozialisation an das sozialisierte System, also mit der Prajudikation von Sozialisation durch das jeweilige psychische (oder in einem modifiziertem Sinn auch soziale (Wilke 1998)) System. Wahrend Luhmann also nur ein sehr allgemeines Sozialisationskonzept offeriert, letztlich sich selbst darauf beschrankt, den Begriff der Autopoiesis in den Diskurs um Sozialisation zu transferieren, hat Tilmann Sutter (1999a) unter Verwendung der genetischen Epistemologie eine systemtheoretische SoziaHsationstheorie unter dem Label ,interaktionistischer Konstruktivismus' entwickelt. Wie die Titulierung bereits anzeigt, stiitzt er sich wesentlich auf die Umweltkontakte, die jedes System sich ermoglicht. Dennoch setzt er - gut konstruktivistisch - mit Piaget bei einem Subjekt an, das zunachst nicht von einer objekthaften AuBenwelt getrennt ist, sondern erst im Laufe der Ontogenese dazu kommt, sich als ein von dieser differentes Subjekt zu erleben. Dabei gilt jedoch: „Piagets Erklarungen dieser Entwicklung bewegen sich konsequent im Rahmen der These, dass die Genese der Subjektstrukturen durch die ftanktionelle Kontinuitat der Aquilibration von Assimilation und Akkommodation vorangetrieben und organisiert wird. Dabei fmdet sich immer wieder an entscheidenden Stellen der Hinweis auf den Zwang, den die gegenstandliche Welt auf den Erkenntnisprozess austibt, aber dieser Zwang muss sich nach Lage der Dinge erst Schritt fur Schritt gegen die Dominanz intern regulierter Assimilationen ausbilden." (Sutter 1999b: 59) 84
Sutter macht sich eine Lesart Piagets zu Eigen, die sowohl einen subjektintemen Verlauf der Entwicklung als auch eine Anbindung an diverse Formen von Fremdreferenz integriert. Entsprechend dem Ersteren kann er auf die systemtheoretische Annahme einer iiberschneidungsfreien Operation unterschiedlicher Systeme verweisen, die einzig uber den Modus eines der Kommunikation inharenten Verstehens eine intersubjektive Situation erzeugen kann. Intersubjektivitat ist auch hier nicht im Sinne Meads oder Habermas als kommunikativ erzielte Ubereinstimmung der Perspektiven zu verstehen, sondem als Strukturbildung im Prozess der Beobachtung. Dies bedeutet: Verstehen uberwindet nicht die Situation der doppelten Kontingenz, sondem bezieht sich ausschlieBlich auf einen storungsfreien Ablauf der Kommunikation. Die sozialwissenschaftlich relevanten Anschlussfragen sind daher nicht, wie Perspektivverschrankungen moglich sind (das sind sie in keinem Fall), sondem wie die Kommunikation trotz ihrer Differenz zu den beteiligten, selbstreferentiellen Subjekten moglich ist, wie also die Kommunikation kontinuieren kann, obwohl sie mit Subjekten rechnen muss, die eigene, von der Kommunikation unabhangige Bedeutungszuschreibungen vomehmen, die Kommunikation sich also nicht auf die Identitat der Beteiligten verlassen kann, sondem von deren Differenz ausgehen muss. Ftir Sutter stellt sich der Sozialisationsprozess somit dar als ein Prozess, der grundsatzlich iiber die Schienen der Selbstreferentialitat der psychischen und sozialen Systeme lauft, nicht jedoch in die Begrifflichkeit der Selbstsozialisation einmiindet. Er betont vielmehr den interaktionistischen Aspekt von Sozialisation, der freilich immer vor dem Hintergrund der Systemdifferenzen gedacht wird. In diesem Sinne siedelt er naher an den bisher vorgestellten Konzepten von Sozialisation. In dem Sinne einer uberschneidungsfreien Operation der Systeme bricht er allerdings mit der Tradition eines intersubjektivistischen Verstandnisses. Ahnlich wie Luhmann oszilliert er damit zwischen einem epistemologischen Konstruktivismus und einer interaktionistischen Ausrichtung der Theoriearchitektur, misst dabei aber Letzterem, vermutlich aufgrund der Orientiemng an der Sozialisationstheorie, eine groBere Bedeutung zu. Insgesamt also positioniert sich die Systemtheorie mit ihrer Terminologie von System und Umwelt jenseits der europaischen Geistestradition, die groBtenteils von der Leitdifferenz Subjekt-Objekt ausging. Es braucht hier nicht diskutiert zu werden, ob Luhmann damit tatsachlich jene Tradition hinter sich lasst oder diese nur in einem neuen Gewand aktualisiert. Die epistemologischen Probleme jedenfalls, die die klassische Subjekt-ObjektDichotomie hinterlassen hatte, und auch die diversen Problemlosungen finden sich in der Systemtheorie durchaus wieder, wenn sie aus einer hinreichenden Distanz beobachtet wird. So gelingt Luhmann zwar eine verstarkte Orientierung an dem Individuum und er verlangert so die bislang verfolgte Linie einer sukzessiven Orientierung am Individuum bis zu dem Begriff der Selbstreferenz. Auf der anderen Seite bindet er das Individuum (bzw. das psychische System), ahnlich den interaktionistischen Theorien, gleichurspriinglich in die Gesellschaft ein, um dessen Konstitution als Durchbrechung der Tautologie von Selbstreferenz plausibel zu machen (siehe dazu Kap. 8.3.). Bei diesen theoriestrategischen Entscheidungen wird indessen nicht immer deutlich, wie Luhmann sich eine Vermittlung dieser beiden Annahmen denkt. Auf eigentiimliche Weise behandelt er in seinen Publikationen zumeist die Autopoiesis der Systeme oder die strukturellen Kopplungen und gegenseitigen Beobachtungen. Er betont dabei zwar immer wieder, 85
dass letztere mit der Autopoiesis kompatibel sein mussen, verzichtet aber darauf, das Verhaltnis zwischen struktureller Kopplung und Autopoiesis genauer zu erklaren. Wird Luhmann in den Kontext der Sozialisationstheorie gesetzt, konnte er (gegen seine erklarte Selbstbeobachtung) daher durchaus als Equivalent mit Autoren wie Piaget, Bronfenbrenner oder Hurrelmann angeeignet werden. Allen diesen Autoren gemeinsam war bereits, dass sie eine Eigenaktivitat des Subjektes bei gleichzeitiger Gesellschaftsbezogenheit proklamieren. Luhmann intensiviert dann nur die Beschreibung dieser Eigenaktivitat durch Begriffe wie Autopoiesis und Selbstreferenz. Seine Dementierung des klassischen Subjektes der Bewusstseinsphilosophie und dessen Reformulierung als psychisches System, die die genannten Autoren nicht vollzogen haben, vermag iiber diese Aquivalenz nicht hinweg zu tauschen. Diese Einordnung der Systemtheorie Luhmannscher Provenienz wird selbstredend nur plausibel vor dem Hintergrund der Konfrontation mit der Sozialisationstheorie, wie sie hier aufgearbeitet worden ist, und verkennt nicht die Differenzen zu dieser, wenn die Beobachtungsentfemung verkiirzt wird. So ist die von Luhmann konzipierte Begrifflichkeit der Selbstsozialisation sicherlich eine innovative Fassung des Sozialisationsgeschehens (wie auch seine systemtheoretisch inspirierte Gesellschaftstheorie sich deutlich von konkurrierenden Ansatzen abhebt). Aufgrund des nicht geklarten Verhaltnisses von Selbst- und Fremdreferenz ist diese Begrifflichkeit jedoch keine notwendige Ableitung aus der Systemtheorie. Dies nolens volens gezeigt zu haben, ist der Verdienst von Tilmann Sutter, der gegeniiber Luhmann eher die Seite der Fremdreferenz stark macht und so keineswegs zu dem Terminus Selbstsozialisation gelangt. In jedem Fall bleibt Sozialisation aber genau das, was Hurrelmann etc. bereits vermutet batten: Ein Prozess, der nicht in einer Ubertragung von Werten und Wissen miindet, sondem der Selektionsleistung eines eigensinnig operierenden Subjektes aufsitzt.
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3. Kritik der sozialisierten Vernunft
Die Vergegenwartigung einschlagiger Sozialisationskonzepte sollte den Terminus der „sozialisierten Vernunft" inhaltlich spezifizieren. Wenngleich keine VoUstandigkeit erreicht wurde, konnen nunmehr die drei Eingangs erwahnten Aspekte, die die Spezifizierung anleiten sollten, zusammenfassend beantwortet werden. Zum einen sollte eruiert werden, welche Fragestellungen der Sozialisationsdiskurs verfolgt. Diese sollten zum anderen anhand einer zunehmenden Orientierung am Individuum aufgearbeitet werden. SchlieBlich sollte das theoretisch-methodische Selbstverstandnis des Sozialisationsdiskurses thematisiert werden. An diesem letzten Punkt wird sich die ,Kritik der sozialisierten Vemunft' und damit der weitere Argumentationsgang entziinden. Fragestellungen des Sozialisationsdiskurses Der Sozialisationsdiskurs thematisiert, generalisiert ausgedriickt, die Personlichkeitsentwicklung von Individuen innerhalb solcher Gesellschaften, die die Moglichkeit fiir diversifizierte Lebensplanungen bereitstellen. Dies wird bereits bei Durkheim in einer politischen Art und Weise besonders deutlich. Seine Beschaftigung mit der Erziehungssoziologie (gelesen als rudimentare Sozialisationstheorie) versucht Antworten zu fmden auf den gesamtgesellschaftlichen Zustand einer durch Arbeitsteilung pluralisierten Gesellschaft, die nicht langer durch eine kulturelle Homogenitat integriert wird. Mit der Modeme, so der Gesellschaftstheoretiker Durkheim, brechen die ordnungsstiftenden Weltbilder traditioneller Gesellschaften als Bezugsrahmen fur eine normative Stabilitat der Gesellschaft weg und verfluchtigen sich in diverse Ethiken und Moralien, die nicht langer in der Form kompatibel sind, dass der Einzelne bereit ist, sich sedimentierten Strukturen einzuordnen. Die politische Philosophic seit Locke hatte dies positiv in der Form einer unkontrollierten Offentlichkeit und der Metapher des couragierten Biirgertums begruBt. Hegel hatte darauf mit der Vision eines Weltgeistes geantwortet, der in Form einer durch den (preufiischen) Staat begriindeten konkreten Sittlichkeit eine neue Ordnung verburgen sollte, die den durch die Ausdifferenzierung eines autarken Marktes veranderten Umstanden angemessenen war. Die beginnende Soziologie reagiert auf die Freisetzung gesellschaftlicher Strukturen, indem sie fragt, wie eine Entwicklung des Einzelnen jenseits prajudizierter Lebensentwiirfe dennoch so verstanden werden kann, dass die Ergebnisse der jeweiligen Entwicklungsverlaufe nicht in einem chaotischen Durcheinander separierter Gesellschaftsvorstellungen und Selbstverstandnisse miinden. Der Sozialisationsdiskurs erhalt so die Aufgabe, jene Integrationsliicke zu fiillen, die der modemisierungstheoretische Diskurs diagnostiziert hatte. Fiir Durkheim (und spater auch fur Parsons) ist es dabei eine ausgemachte Sache, dass der Prozess der Individualgenese mit Hinblick auf die Belange der Gesellschaft kontrolliert und gesteuert werden muss. Das Ergebnis der Individualgenese sollte trotz der konstatierten Individuali-
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sierung in einer Subordination des Einzelnen und einer Intemalisierung des gesellschaftlich Notwendigen bestehen bleiben. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschieben sich dann freilich die gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Koordinaten. Nicht nur blieb eine vollige Zerrlittung gesellschaftlicher Strukturen aus. Die Gesellschaften reorganisierten diese vor dem Hintergrund der neu entstandenen okonomischen und sozialen Verhaltnisse und begannen, sich mit dem in den Kommunikationsprozessen eingelagertem Dissensrisiko abzufinden. Sie reagierten darauf mit der Einrichtung einer liberal-demokratischen Verfahrensgerechtigkeit, die als formale Struktur einen neuen Ordnungsrahmen ermoglichte. Im Diskurs der SoziaHsationstheorie wandelten entsprechend die zentralen Fragestellungen, die nunmehr auf die Durchsetzung demokratischer Verhaltnisse abzielten: Wie miissen Soziahsationsprozesse gestaltet sein, damit die Metapher des aufrechten Burgers in die Realitat ubersetzt werden kann? Welche Bedingungen mussen erfullt sein, um das Postulat einer starken Ich-Identitat einholen zu konnen? Kurz: Wie mussen Soziahsationsprozesse konstituiert sein, damit jene (politischen) Personlichkeiten rekrutiert werden konnen, denen unter liberal-demokratischen Bedingungen die Last der offentlichen Auseinandersetzung und damit der Gewahrleistung einer friedlichen Ordnung unter pluralisierten Voraussetzungen zugefallen war. Es war insbesondere Jurgen Habermas, der diese Fragestellungen unter der Pramisse einer kritischen Gesellschaftstheorie auf die Agenda des Sozialisationsdiskurses setzte. Auch er halt an der Verstrickung sozialisationstheoretischer mit gesellschaftstheoretischen und politisch-philosophischen tJberlegungen fest. Gegentiber Durkheim dreht er aber die Ausrichtung der Sozialisationstheorie um. Nicht mehr die Integrationsproblematik moderner Gesellschaften interessiert ihn, sondem im Gegenteil die Frage, wie sich die Individuen von einem zuviel an gesellschaftlicher Dominanz und Heteronomie reflexiv emanzipieren konnen, um tatsachlich als couragierte Personlichkeiten einerseits innerhalb einer kritischen Offentlichkeit zu agieren, und andererseits dabei den Ordnungsrahmen einer liberalen Verfahrensgerechtigkeit nicht preiszugeben. In den Vordergrund des Sozialisationsdiskurses tritt damit die Personlichkeitsentwicklung als Kompetenzentwicklung. Wenngleich diese bei Habermas expressis verbis auf eine kommunikative Kompetenz ausgerichtet ist, kann dies umstandslos als Entwicklung jener Kompetenzen gelesen werden, die fur eine demokratische Praxis notwendig (nicht aber hinreichend) sind (Beer 2002a). Mit der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung gerat die Dimension sozialer und kultureller Ungleichheiten in den Blick, die trotz der juristischen Gleichstellungsbemuhungen als entscheidende GroBe fur unterschiedliche Kompetenzentwicklungen verantwortlich gemacht werden. Die Thematisierung der Sozialisation erhalt dadurch keinen generellen Perspektivenwandel, bleibt allerdings explizit auf politische und soziale Themen eingesteUt. Der Sozialisationsforschung wird die Aufgabe zugeschrieben, eine spezifische gesellschaftstheoretische Lucke zu ftillen: Die iterative Reproduktion sozialer Benachteiligung, die aus gesellschaftstheoretischer Sicht eigentlich nicht langer hatte vorkommen dlirfen. Zweifelsfrei erreicht die schichtenspezifische Sozialisationsforschung dabei in einem gewissen Sinne eine Tiefenfundierung des Sozialisationsdiskurses. Sie macht auf die Wirksamkeit sozialer Verhaltnisse jenseits staatlicher Institutionen aufmerksam, indem sie zu zeigen versucht, dass bereits in den ersten Lebensjahren, also innerhalb der Herkunftsfamilie, bedeutsame Weichen gestellt werden, die iiber die weitere (Berufs-)Karriere des Sozia-
lisanden mitentscheiden konnen. Indem sie diesen Zusammenhang in die begriffliche Form eines Sozialcharakters bringt, entdeckt sie, dass eine alleinige Betrachtung von Kompetenzen oder Einstellungsmustem keineswegs hinreicht, um die komplexen Verhaltnisse zwischen Sozialisationsagenturen und Sozialisanden aufzuklaren. Vielmehr, so die schichtenspezifische Sozialisationsforschung, mussen solche Verhaltensstrukturen berucksichtigt werden, die als Motivation, (interne vs. externe) Kontrolliiberzeugung, Ich-Gefiihl etc. Einfluss nehmen auf die fiir die Kompetenzentwicklung relevante Lembereitschaft. Kurz: Nicht das alleinige Vermitteln von Lerninhalten ist aussagekraftig in Bezug auf die Genese auch jener von der Demokratie abverlangten Kompetenzen. Dieses ist eingebettet in ein und abhangig von einem Sammelsurium von psychischen Dispositionen, deren Genese wiederum in Korrelation zu den sozio-okonomischen Variabeln der Herkunftsfamilie steht. (Bildungs-)Politisch bedeutet dies, dass eine Verbesserung der Bildungschancen durch das Nachrtisten der Institutionen nicht problemlos zu haben ist. Die Verhaltnisse um die Institutionen herum bediirfen einer Veranderung, so dass die (strukturellen) Missverhaltnisse zwischen (depravierten) Schiilem und der Schule aufgehoben werden konnen. Dieses Erreichen einer Tiefenfundierung des Sozialisationsdiskurses bezahlt die schichtenspezifische Sozialisationsforschung allerdings mit dem Preis einer gleichzeitigen Engfiihrung des Sozialisationsverstandnisses. Sie reduziert den Prozess der Individualgenese in objektivistischer Manier auf einen Kausalzusammenhang, der weder theoretisch noch empirisch plausibilisierbar gemacht werden kann. Was als Hinweis der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung allenfalls Bestand haben kann, ist das Insistieren auf die Berticksichtigung sozialer Verhaltnisse einerseits und die Bezugnahme auf psychologisch tiefer liegende Dispositionen andererseits, wenngleich die schichtenspezifische Sozialisationsforschung Letzteres nicht in iiberzeugender Weise geleistet hatte. Zeitgleich mit der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung tritt in den meisten europaischen Landem die Frauenbewegung auf, und sie fordert ein Nachholen der Gleichberechtigung auch beziiglich der Geschlechter. Sozialisationstheoretisch begleitet wird dieses Entstehen einer neuen sozialen Bewegung durch das Aufkommen von Fragestellungen, die zum einen deskriptiv die unterschiedlichen Sozialisationsverlaufe von Jungen und Madchen festhalten und zum anderen diese Deskription unter die normative Perspektive einer strukturellen und informellen Benachteiligung von Frauen in diversen gesellschaftlichen Feldem bringen. Interessant wird dabei der Nachweis, dass, ahnlich wie die sozialen Schichten, auch den Geschlechtern nicht erst in den sichtbaren gesellschaftlichen Strukturen spezifische Rollen und Chancen zugeschrieben werden. Auch eine geschlechtsspezifische Sozialisation setzt bereits in den ersten Lebensjahren an, und dies selbst dann, wenn die Erziehungsberechtigten eine geschlechtsneutrale Erziehung intendieren. Freilich steuem sowohl gesellschaftliche Institutionen wie die Schule oder die Medien ihren Teil zur Sedimentierung geschlechtsspezifischer Rollen bei. Dennoch gilt: Auch die geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung macht darauf aufmerksam, dass Sozialisation mehr ist, als das bloBe Vermitteln und Ubernehmen von Kulturgiitern. Und es gilt auch: Die geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung ist wie die Sozialisationstheorien eines Durkheim oder Habermas eine Antwort auf gesellschaftstheoretische und gesellschaftspolitische Problemlagen. Innerhalb liberal-demokratischer Gesellschaft ist eine Ungleichbehandlung der Geschlechter ein nicht zu akzeptierendes Faktum (Rossler 2001), so dass die Frage beantwor89
tet werden muss, wieso trotz gesetzlicher Versuche, die strukturelle Ungleichbehandlung zu uberwinden, dennoch die informellen Rollenzuschreibungen derart perseverieren. Es zeigt sich somit, dass der Sozialisationsdiskurs nicht unabhangig von normativen und gesellschaftstheoretischen Fragestellungen operiert. Dies bedeutet im Unkehrschluss freilich nicht, dass der Sozialisationsdiskurs als funktionales Aquivalent zu betrachten ware. Er hat genuin eigene Problemstellungen und cine eigene Ideengeschichte, Dennoch siedeln zentrale Aspekte des Soziahsationsdiskurses im Umfeld von Uberlegungen, die aus der Gesellschaftstheorie und der praktischen Philosophic resultieren. So diirfte der Fokus auf die wichtigsten Sozialisationsagenturen (Familie, Schule, Peer-Group und Medien) dem Umstand geschuldet sein, dass in modernen (europaischen) Landem, diese Instanzen tatsachlich die Individualgenese in Form von Kommunikationsangeboten flankieren. So diirfte die Ausrichtung auf wichtige Sozialisationsinhalte (Moral, Politik, Geschlecht) dem Umstand geschuldet sein, dass in modernen (europaischen) Landem diese zu den zentralen Kulturformen, die zudem nicht langer durch tradierte Inhalte vorstrukturiert sind, avancierten. Sie werden zu einem Thema ftir die Sozialisationsforschung gerade deswegen, weil sich zum einen politische Bewegungen um diese Kulturguter bemiihen und dabei politische Veranderungen anstoBen und zum anderen, weil die Ergebnisse der Moralentwicklung und der politischen und geschlechtlichen Sozialisation sich nicht mehr prajudizieren lassen. Wird der Sozialisationsdiskurs ordnungspolitisch gelesen, leistet er einen Beitrag dazu, Bedingungen zu formulieren, diesen Umstand nicht in einer derartigen Pluralisierung enden zu lassen, dass eine Gesellschaftsintegration nicht mehr moglich scheint. Wird der Sozialisationsdiskurs aus der Perspektive einer kritischen Gesellschaftstheorie gelesen, leistet er einen Beitrag dazu, die konstitutiven Bedingungen gerade fur pluralisierte Lebensverlaufe und -entwiirfe zu sichem. Fiir den Terminus einer „sozialisierten Vernunft" folgt daraus, dass dieser zunachst notwendig leer bleiben muss. Er bezeichnet einzig die Tautologie, dass Individuen sich im Laufe ihrer Entwicklung entwickeln. Inhaltlich geftillt wird dieser Terminus erst durch spezifische Forschungsinteressen, die dann etwa die moralische Entwicklung problematisieren, die Individualgenese in den Kontext sozialer, geschlechtlicher oder auch ethnischer Benachteiligung stellen oder die Entwicklung von Kompetenzen (jeglicher Art) untersuchen. Jedoch nicht nur die Forscherinteressen spielen bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Terminus der „sozialisierten Vernunft" eine Rolle, sondem auch die Werthaltungen des Forschers, die sich etwa in der demokratischen Personlichkeit als Sozialisationstelos (Habermas) sedimentieren, so dass der Sozialisationstheorie und -forschung eine normative Ausrichtung inharent ist (vgl. dazu Beer 2004c). Wie im dritten Teil noch ausfiihrlicher und theoretisch begriindet auszuftihren sein wird, spent sich die erkenntniskritische Sozialisationstheorie keineswegs gegen eine solche normative Ausrichtung. Sie ist allerdings selbst nicht in einem starken Sinne normativ ausgerichtet, sondern konstatiert aus theoretischen Griinden eine (notwendige) Verkniipfung mit normativen Fragestellungen und verweist die Sozialisationstheorie daher darauf, diese auszuweisen und das heiBt, die Sozialisationstheorie explizit auf normative Diskurse zu beziehen - vor allem dann, wenn normative Fragestellungen verfolgt werden. Eine Fronstellung nimmt der Terminus der „sozialisierten Vernunft" gegen einen kantianischen Apriorismus ein, indem er die generelle These der Sozialisationstheorie, dass Ver90
nunftinhalte sich erst entwickeln miissen, in Stellung bringt. Als a priori gilt bestenfalls, dass uberhaupt eine Entwicklung stattfindet, wobei diese zu einem zu erklarenden Moment wird. Der Sozialisationsdiskurs hat dafiir spezifische theoretisch-methodische Zugange entwickelt, die weiter unten zusammengefasst und kritisiert werden. Zunachst jedoch muss nicht zuletzt zur Vorbereitung dieser Kritik die Geschichte des Sozialisationsdiskurses unter dem Blickwinkel einer zunehmenden Orientierung am Individuum nochmals kurz gestreift werden. Orientierung am Individuum Auch eine Rekonstruktion der Geschichte des Sozialisationsdiskurses unter der Perspektive einer zunehmenden Orientierung am Individuum kommt um eine Verzahnung mit gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Uberlegungen nicht herum und auch sie beginnt notwendig mit Emile Durkheim, der zweifelsfrei eine Antipode zum modernen Individualismus darstellt. Zwar weiB der aufgeklarte Gesellschaftstheoretiker Durkheim um die steigende Bedeutung des Individuums in modernen Gesellschaften. Er weiB, dass unter den Bedingungen einer marktformigen Organisation der Gesellschaft der Prozess der Individualisierung notwendig in Kauf genommen werden muss. Als Mitbegriinder des Positivismus wertet er diesen Prozess jedoch nicht als Fortschritt der Vemunft oder als sukzessive Emanzipation, sondern als eine soziale Tatsache, die empirisch konstatiert werden muss, ohne damit normative Spekulationen zu verbinden. Als Erziehungssoziologe begegnet er dieser sozialen Tatsache entsprechend mit einer politischen Skepsis, die vor dem Hintergrund der Integrationsformen traditioneller Gesellschaften als Quelle fur ein standiges Irritieren gesellschaftlicher Integration gesehen wird. Das ungeziigelte Individuum, so ein zugespitzt gelesener Durkheim, tragt in sich den Keim einer Auflosung gemeinschaftlicher Beziige und droht so den moralischen und ethischen Kredit, den die traditionellen Gesellschaften hinterlassen hatten, aufzuzehren. Der Prozess der Personlichkeitsentwicklung fallt daher wohl nicht zufallig ftir Durkheim mit der Schulerziehung zusammen. Ein umfassender Sozialisationsbegriff, der die Einfliisse unkontrollierter Institutionen wie der Familie oder den Peer-Groups angemessen berucksichtigt, hatte die Individualgenese unter die Obhut genau jener pluralisierten Krafte gestellt, die der Gesellschaftstheoretiker Durkheim so argwohnisch betrachtet hatte. Sein normatives Telos, an die Formen traditioneller Integrationsformen unter veranderten Bedingungen anzukniipfen, schien ihm nur realisierbar, wenn die Entwicklung des Individuums so gesteuert wird, dass das Ergebnis zwar einerseits jene Personlichkeiten hervorbringt, die die notwendigen Weiterentwicklungen der Gesellschaft anschieben konnen, andererseits aber der Einzelne die geltenden (informellen und formellen) Regeln intemalisiert und auf rebellische Dispositionen aus freier Einsicht verzichtet. Demokratietheoretisch ist dies die Position, die zwar freie Wahlen und MeinungsauBerung zulasst, Abweichungen von einem vorgegebenen Rahmen jedoch sanktioniert. Korreliert wird diese subalteme Stellung des Individuums bei Durkheim mit dem wiederholten theoretischen Hinweis darauf, dass der Einzelne ein Mensch oder Kulturwesen erst innerhalb sozialer Gruppen wird. Nun kann unschwer geleugnet werden, dass Individualitat ein Begriff ist, der, wie Luhmann richtig anmerkt, tatsachlich erst auf der Ebene des 91
Sozialen Bedeutung gewinnen kann. Er bezeichnet die Andersartigkeit je subjektiver Lebensstile und -entwiirfe und resultiert aus der relationalen Differenz zu Anderen. Kurz: Individualitat ist ein sozialer, mithin politischer Begriff. Dennoch suggeriert Durkheim mehr, als den bloBen Verweis auf diesen basalen Umstand. Sein vehementes Argumentieren gegen die Tradition der Vemunftphilosophie legt es nahe, in seiner anthropologischen Grundlegung eine Logik zu entdecken, jegliche Form menschlichen Lebens jenseits sozialer Verhaltnisse unter den Verdacht eines bewusstlosen Seins zu stellen.^ Dies bedeutet politisch nicht, dass Durkheim den Wert des Privaten nicht anerkannt hatte. Dies bedeutet jedoch theoriestrategisch, das Subjekt a priori auf die sozialen Verhaltnisse zu verpflichten, um ihm tiberhaupt den Begriff des Subjektiven zuschreiben zu konnen. Wie sich bei der Besprechung des theoretisch-methodischen Selbstverstandnisses des Sozialisationsdiskurses noch zeigen wird, ist es dann vor allem George Herbert Mead, der diese Theoriestrategie auch methodisch umsetzen wird. Durkheim selbst argumentierte noch aus der Position der Bewusstseinsphilosophie heraus, legte diese aber bereits so aus, dass sie fiir die beginnende iSoz/a/wissenschaft fruchtbar gemacht werden konnte und das hieB, dem Sozialen eine bedeutende Stellung einzuraumen. Insofern ist seine subjekttheoretische Akzentsetzung auch aus der wissenschaftspolitischen Attitude abzuleiten, eine eigenstandige Wissenschaft des Sozialen anzustreben und sich dabei von der dominierenden Psychologic, als Vertreterin einer Wissenschaft gerade des Individuellen bzw. Subjektiven, abzusetzen. Trotz dieser erklarenden Relativierung der Position Durkheims reiht er sich ideengeschichtlich in die Denkfigur einer eher anti-individualistischen Haltung ein. So wie jedoch sein generelles erziehungssoziologisches Programm durch die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Veranderungen aufgeweicht worden war, blieb auch seine Position zum Individuum keineswegs unberiihrt. Bereits George Herbert Mead, der das grundsatzliche Verstandnis eines Individuums als sozial vermitteltes teilt, denkt unter der politischen Hinwendung zu dem Konzept einer radialen Demokratie und stellt das Individuum auf die gleiche Augenhohe mit der Gesellschaft. Sein methodisches Vorgehen, die Handlungsebene als Prozess einer reziproken Verstandigung zu begreifen, stellt von vornherein die Weichen gegen eine Subordinationsstrategie. Indem Mead Verstandigungsprozesse zum zentralen Moment seines symbolischen Interaktionismus wahlt, rechnet er mit potentiell gleichen Handlungspartnern, deren Hierarchisierung allenfalls das Ergebnis von (gewaltsamen) Verhandlungen sein kann. Er bringt so ein Verstandnis des Individuellen ins Rollen, das flir die Demokratien der Nachkriegszeit zum konstitutiven Merkmal wird. Genau dies erkannt hatte Jiirgen Habermas, der die Demokratie als eine kommunikative Praxis liest und aus dieser die Notwendigkeit einer starken Ich-Identitat ableitet. Bei Habermas wird Sozialisation in einem starken normativen Sinne zur PersonlichkeitSQntwicklung. Das Ich des Politischen gilt ihm als hervorstechendes Merkmal einer Gesellschaft, die unkontrollierte Diskussionsprozesse nicht nur formal zulasst, sondem dieser bedarf, um ein hypertrophes Wachstum der Funktionssysteme zu verhindem. Eine gelungene Sozialisation in Form einer Ich-Identitat ist ihm damit zwar mehr als nur die Erflillung des Postulats auf individuelle Freiheiten. Es ist ein gesellschaftspolitisches Aquivalent flir die kritische Intention einer Steuerung der Gesellschaft durch die Gesellschaft, und eben nicht durch unge9 Menschliches Leben jenseits sozialer Verhaltnisse ist hierbei selbstverstandlich nur ein Gedankenexperiment.
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hinderte Marktmechanismen. Dennoch gilt: Habermas, und dies mag auch seiner Rolle als politischer Intellektueller verschuldet sein, schreibt den modemen Gesellschaften und der Sozialisationstheorie einen Individuumsbegriff ins Stammbuch, wie er durch Autoren wie Mill (1859/1987) philosophisch bereits ausgearbeitet worden war. Demokratietheoretisch bezieht er damit die Position, die grundsatzlich eine Ergebnisoffenheit der politischen Meinungs- und Willensbildung einklagt. Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung nimmt demgegeniiber eine ambivalente Rolle ein. Sie macht es sich zur Aufgabe, die philosophischen Konnotationen des Individuumsbegriffes sozialwissenschaftlich zu desillusionieren. Indem etwa Bernstein nachzeichnet, dass in depravierten Schichten eine Sprache gesprochen wird, die die Problematisierung des je Individuellen gar nicht zulasst, entlarvt er das normative Konzept der Individualisierung als ein auf spezifische soziale Schichten beschranktes. Damit kann die schichtenspezifische Sozialisationsforschung zwar eine politische Nachholarbeit einklagen, so dass Individualisierung alien Schichten moglich wird. Indem sie allerdings ihre Forschungsdesigns so anlegt, dass das Individuum als passiver Rezipient gesellschaftlicher Strukturen erscheint, bleibt unklar, in welcher Form sie sich Individualitat denken mochte. Die von Habermas antizipierte Reflexivitat auch auf die eigene Biographic oder sogar das philosophische Ideal des Individualismus scheint ihr durch ihren objektivistischen und deterministischen Zugriff als Bestimmungsmoglichkeit versperrt. Dieses Bild korrigiert hat Klaus Hurrelmann mit seiner Formel des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts'. Er fundiert damit nicht nur die Sozialisationstheorie, er gibt ihr eine starke Wendung, wenn er mit seiner Formel einfordert, individuelle Formen der Aneignung von gesellschaftlichen Strukturen in Rechnung zu stellen. Es formuliert auf diese Weise zwar kein politisches Konzept von Individualitat, wie dies Habermas gemacht hatte. Er formuliert jedoch auf einer theoretischen Ebene ein Subjektverstandnis, dass sich diametral zu dem Subjektverstandnis Durkheims positioniert. Wenn aber bereits auf der theoretischen Ebene ein Subjektbegriff platziert wird, der nicht durch die Subordination unter die Gemeinschaft gekennzeichnet ist, sondem durch eine eigenstandige Selbstorganisation, liegt es nahe, die politische Strategic einer Ziigelung individueller MeinungsauBerungen zugunsten eines demokratischen Individualismus zu iiberwinden. In diesem Sinne reiht sich Hurrelmann ein in die Reihe von Sozialisationstheoretikem, die sich zunehmend am Individuum orientieren. Ahnliches gilt fiir Piaget, dessen Subjektverstandnis dem Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' entspricht und der seinerseits damit vomehmlich die Ebene des Theoretischen trifft, die im Anschluss daran jedoch in einen politischen Individualismus transkribiert werden kann. Radikalisiert wird die Orientierung am Individuum schlieBlich in der Systemtheorie. Diese ubersteigert das Modell der Real itats verarbeitung, indem sie nicht langer von einer stabilen AuBenwelt, die verarbeitet werden konnte, ausgeht, diese vielmehr in den systeminternen Operationen als Konstrukt lokalisiert. Indem Luhmann die konstruktivistischen Impulse der Neurowissenschaften aufnimmt, formuliert auch er auf einer zunachst rein theoretischen Ebene einen Individualismusbegriff, der sich bereits durch den Umstand je individueller Weltkonstruktionen auszeichnet. Gegeniiber Hurrelmann legt er seinen Individualismusbegriff eine Stufe tiefer an, wenn nicht mehr die Subjekt-Objekt- (bei Hurrelmann: Subjekt-Sozialitat-) Dichotomic als Ausgangspunkt operationalisiert wird, sondern letztlich 93
die Selbstreferenz bzw. Autopoiesis der Systeme, Allerdings sagt diese Theorieentscheidung auch bei Luhmann zunachst nichts uber die Ebene des Politischen oder Sozialen aus. Auch Luhmann weiB selbstverstandlich, dass Individualitat im engeren Sinne sich erst durch die Differenz zu einem Anderen entfalten kann. Da Luhmann aber den Differenzgedanken zentral in seine Systemtheorie einbaut, legt auch er ein Modell nahe, das sich gegen ein politisch verstandenes Individualismuskonzept nicht nur nicht spent, sondem ein solches notwendig nach sich zieht. Es zeigt sich, dass innerhalb des Sozialisationsdiskurses die Orientierung am Individuum sukzessive zunimmt (vgl. dazu Veith 2001, 2004). Sie lost sich aus der positivistischen Umklammerung bei Durkheim und miindet in einem Individualitatskonzept, das sich wesentlich iiber die Demokratie speist, Theoretisch begleitet wird diese politische Orientierung durch eine Veranderung der Subjekttheorie von einem subaltemen Individuum, das erst durch eine soziale Anbindung zu einem solchen wird, bis zu einem selbstreferentiellen Individuum, das immer schon Individuum ist, weil sein Zugriff auf die Welt von vomherein gegeniiber anderen differiert. Werden Durkheim und Luhmann in dieser Weise gegeneinander gesteUt, so unterscheiden sie sich zwar nicht durch die Einsicht, dass Individualitat erst innerhalb des Sozialen etwas Unterscheidbares bezeichnet. Wahrend Durkheim daraus eine starke Subjekttheorie ableitet, konstatiert Luhmann diesen Umstand, orientiert sich dann allerdings an den (nicht hintergehbaren) autopoietischen Operationen des Individuums als Referenz flir die Theoriebildung. Um im Weiteren Missverstandnisse zu vermeiden, muss eine begriffliche Klarung vorgenommen werden. Bisher wurden die Begriffe Subjekt und Individuum nebeneinander benutzt. Im Folgenden soil mit dem Begriff Individuum in Ubereinstimmung mit Autoren wie Habermas oder Luhmann einzig der politische Ausdruck eines Subjekts gemeint sein. Er bezieht sich auf die Ebene der Sozialitat und beschreibt spezifische Einstellungsmuster, die um die Tradition des aus der praktischen Philosophic entnommen Individualismus kreisen. Der Begriff Individuum soil als eine sozialwissenschaftlich beobachtbare Form der Lebensund Gemeinschaftsgestaltung verstanden werden und ist daher notwendig auf intersubjektive bzw. soziale Beziige angewiesen. In den Worten von Norbert Elias (1991: 246): „Man konnte sich nicht als Individuum von anderen Menschen unterscheiden, wenn es keine anderen Menschen gabe." Der Begriff Subjekt nimmt demgegentiber die Stellung eines Begriffes der theoretischen Philosophic ein (vgl. dazu Schnadelbach 2004). Er problematisiert die erkenntnistheoretischen und nicht-hintergehbaren Voraussetzungen fur die Konstitution eines Individuums und liegt damit logisch vor diesem. Das Subjekt ist damit entgegen dem Individuum als Begriff nicht auf soziale Beziige angewiesen. Wie dieser Begriff genauer bestimmt werden kann, wird die Aufgabe des 2. Teils sein. In Bezug auf die aufgearbeitete zunehmende Orientierung am Individuum bedeutet diese Begriffsdifferenzierung, dass die politisch motivierte Orientierung am Individuum zunimmt und sich diese vor allem darin auBert, dass auf eine Subordination des Individuums unter gesellschaftliche Normen verzichtet wird. Es nimmt aber auch die Orientierung am Subjekt zu, die durch Begriffe wie Selbstorganisation, Eigenaktivitat, produktive Realitatsverarbeitung und schlieBlich Autopoiesis bzw. Selbstsozialisation markiert wird.
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Theoretisch-methodisches Selbstverstandnis des Sozialisationsdiskurses Emile Durkheim arbeitete zu einer Zeit, in der die Soziologie als eigenstandige Wissenschaft erst etabliert werden musste. Er griff daher wiederholt die innerhalb der Geisteswissenschaften dominierende Psychologie frontal an und diskreditierte deren methodologische Ausrichtung auf das Individuum. Uber sein gesamtes Werk verstreut finden sich Versuche, zu demonstrieren, dass dem Sozialen eine Vorrangstellung einzuraumen sei und auch die Phanomene des Individuellen durch diese zu erklaren sind. Er lehnt sich dabei an die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften an und entwickelt ein objektivistisches Programm, das im Begriff des „fait social" seinen Niederschlag fmdet. Soziale Phanomene konnten so als Forschungsgegenstande einer empirischen Forschung etabliert werden. Die Objektivitat sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, die Max Weber auf verschlungenen Pfaden zu begriinden sich angestrengt hatte, war bei Durkheim damit a priori ausgewiesen. Wenn soziale Phanomene einen objektiven Status haben, reproduziert ihre wissenschaftliche Beobachtung notwendig auch deren objektiven Gehalt; sie ist objektive Beobachtung objektiver Sachverhalte. Wie gesehen folgen aus dieser Herleitung wissenschaftlicher Objektivitat spezifische Konsequenzen. Durkheim muss die Gesellschaft als eine eigenstandige und objektive Emergenz begreifen und kann dem Individuum dann nur noch eine subalteme Rolle zuschreiben, die zudem ihre Existenz der Gesellschaft uberhaupt erst verdankt. Er kann dann den Sozialisationsprozess entsprechend nur noch als erzieherische Form der Vermittlung gesellschaftlichen Wissens und gesellschaftlicher Werte konzipieren. Kurz: Durkheim denkt in einem radikalen Sinne aus der Perspektive einer objektiven Beobachterposition, wobei diese Perspektive sowohl methodologisches als auch gesellschaftstheoretisches Programm ist. Nun mag Durkheim zugute gehalten werden, dass die Etablierung einer neuen Wissenschaft des Sozialen derart radikal verfahren musste, um Gehor und Anerkennung zu finden. Von dieser Warte aus betrachtet, leistet Durkheim sicherlich einen entscheidenden Beitrag, das Soziale uberhaupt als Forschungsgegenstand einzufuhren. Dennoch zeigt sich bereits mit George Herbert Mead, dass eine Thematisierung des Sozialen keineswegs mit einem einseitigen Objektivismus erkauft werden muss. Mead macht es sich zwar nicht zur Aufgabe, eine neue Wissenschaft durchzusetzen - er verbleibt innerhalb der (Sozial-)Psychologie. Dennoch gelingt es ihm, eine Perspektive auf das Soziale zu entwickeln, die um einen starken Objektivismus herum kommt. Von der Psychologie und deren Zentrierung des Individuums grenzt er sich dabei insofem nicht ab, als er dieses nicht als Residualkategorie begreift, sondem als mitverantwortlich fur die Ausdifferenzierung des Sozialen. Freilich ist Habermas (1981) zuzustimmen, dass Mead uber diesen Weg zu einer eigentlichen Bestimmung des Sozialen als komplexe Struktur nicht gelangt. Mead bleibt bei einem Begriff des Sozialen stehen, der in der Reziprozitat sozialer Akteure aufgeht. Diese affizieren sich wechselseitig und differenzieren so uber die (Sprach-)Handlung ein Medium aus, das auf die Konstitution des Einzelnen zuriickwirkt. Auf diese Weise behauptet auch Mead eine Vorrangposition des Sozialen, wenn er die Genese eines individuellen Bewusstseins auf diese gegenseitige Affizierung verpflichtet. Indem er jedoch das Ich doppelt und uber das „I" eine Instanz einholt, die als 95
vorsoziale Quelle je individueller Kreativitat und Differenz (zu Anderen) gedacht wird, behalt er einen methodologischen Subjektivismus bei, der ihn vor einer objektivistischen Uberhohung, wie Durkheim sie vorgenommen hatte, bewahrt. Dieser Subjektivismus darf allerdings nicht in einem starken (kantianischen) Sinne missverstanden werden. Denn: Das ,,1" nimmt als transzendentales Ich bei Mead zwar die Stellung ein, die Aktionen des Subjekts anzuregen und zu rahmen, es erhalt jedoch nicht den starken Status, den es bei Kant eingenommen hatte. Dieser hatte alle Wirklichkeit durch und iiber das Subjekt erfasst (siehe Kap. 4,6.). Mead hingegen orientiert sich mehr am empirischen Ich, dem „Me", und stellt dieses in einen sozialen Kontext, mit dem es gleichursprlinglich verwoben ist. Er treibt die Austauschtheorie eines Marx, der die uber Arbeit vermittelte Gegenstandserfahrung zwar als Pragung des Bewusstseins begreift, die Ebene des Sozialen aber (aus der Perspektive Meads) vemachlassigt, bis zu einem Intersubjektivismus weiter, der das „Zwischen" der Akteure zur entscheidenden Instanz fur die Konstituierung der Akteure macht. Die Theorie des Subjektiven wird zur Handlungstheorie. Es ist diese handlungstheoretische Fundierung, die von den Sozialwissenschaften zunehmend adaptiert und ausgebaut wird. So leitet etwa Parsons aus dem Handlungsbegriff eine komplexe Gesellschaftstheorie ab, die in der Lage ist, die ausdifferenzierten Dimensionen der Okonomie oder Politik zu beriicksichtigen. Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, dass Mead seinen „symbolischen Interaktionismus" auf der Ebene des interindividuellen Kontaktes beruhen lasst. Er hat damit eine Methodologie geschaffen, die sich absetzt von der bewusstseinsphilosophischen Denkfigur der Monade. Das Soziale, oder eben Intersubjektive, wird auf einen eigenstandigen Begriff gebracht, der zwischen einem sozialwissenschaftlichen Objektivismus und einem eigenstandigen Individuellen („!") angesiedelt wird. Mead verdeutlicht auf diese Weise, dass das Soziale keineswegs eine schwerbewegliche Entitat ist, wie dies Durkheim suggeriert hatte, sondem dass das Soziale sich in einer Handlungsdynamik manifestiert, so dass die Akteure grundsatzlich in einem Kontingenzraum agieren. Anders als eine monolithisch gedachte Gesellschaft reagieren Handlungspartner in aktiver Weise und das heiBt, weder ihre Reaktionen sind flir die eigenen Absichten umstandslos einkalkulierbar noch ist der Handlungsverlauf durch einen der Handlungspartner steuerbar. Der Sozialisationsprozess wird so zu einem ergebnisoffenen und unabgeschlossenen Projekt, das nicht in der Intemalisierung gesellschaftlicher Werte seinen Abschluss fmdet. Dies nicht zuletzt deswegen, weil diese Werte in den Sog einer standigen Aushandlung geraten und sich so nicht, wie Durkheim vermutet hatte, durch eine Beharrlichkeit gegeniiber Veranderungen auszeichnen. Eine Methodologie aber, die den gesellschaftlichen Wertewandel in ihre Architektur implementiert, muss den Prozess der Personlichkeitsentwicklung als ein permanentes Irritieren bereits sedimentierter Werte begreifen und kann auf diese Weise nicht langer die Subordination unter die Gesellschaft als Zielfigur der Sozialisation begreifen. Im weiteren Verlauf der Geschichte des Sozialisationsdiskurses kntipft Habermas an dieses theoretisch-methodologische Paradigma an und erweitert es um die Einbeziehung gesamtgesellschaftlicher Strukturen. Er ftihrt die Konstitution der Sozialitat aus den (Sprach-) Handlungen der Akteure bis zur Bildung ausdifferenzierter Funktionssysteme weiter und kann so den Sozialisationsprozess in das Gesamte seiner sozialen Umwelt stellen. Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung dreht demgegeniiber das Rad der Sozialisati96
onsgeschichte wieder zuriick, wenn sie aus einer objektivistischen Methodologie heraus versucht, die kausale Linearitat eines schichtencodierten Sozialisationsverlaufes abzuleiten. Sie bringt ahnlich wie Durkheim die soziale Umwelt in Form der Familie auf den Begriff des „fait social" und verliert so den Blick fiir die Komplexitat eines dynamischen Entwicklungsprozesses. Dies korrigiert die sozialokologische Sozialisationsforschung von Bronfenbrenner. Sie differenziert theoretisch-methodologisch zwischen verschiedenen Gesellschaftsebenen, die auf unterschiedliche Weise den Sozialisationsprozess beeinflussen. Veranschaulicht werden kann so, dass sich soziale Umwelt durch ein komplexes Ineinander von direkten Face-ToFace Interaktionen und gesellschaftlichen Strukturen auszeichnet. Damit entwickelt Bronfenbrenner nicht nur wie Habermas den „symbolischen Interaktionismus" um die Dimension des Gesellschaftlichen weiter. Er richtet seine Methodologie darauf hin aus, dass sichtbar wird, dass Interaktionen, die jenseits der Sozialisanden stattfinden, einen indirekten aber bedeutenden Einfluss haben konnen. So entfaltet sich ein Bild des Sozialisationsprozesses, das eine angemessene Beriicksichtigung der sozialen Kontexte zum Impetus des methodischen Vorgehens macht, ohne dabei den Blick flir die Eigenstandigkeit des Subjekts zu verlieren. SchlieBlich geht auch Bronfenbrenner davon aus, dass die Sozialisanden aktiv in die sozialisatorisch relevanten Beziehungen eingreifen und diese so ihrerseits mitgestalten. Zum methodologischen Programm erhoben wird dieser Umstand durch die Formel des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts'. Dieses setzt theoretisch bei einem Subjekt an und postuliert dessen Eigenstandigkeit und Aktivitat im Sozialisationsprozess. Dabei wird in der Lesart von Hurrelmann dieses Subjekt nicht als vorsoziales gedacht, sondern als eingebettet in eine soziale Umwelt, auf die das Subjekt reagiert und die durch diese Reaktion verandert wird. Es ist dies also ein Modell, das die Subjekt-Objekt-Dichotomie in einer Subjekt-Sozialitat-Dichotomie weiterfuhrt und dabei an die Tradition des Rationalismus Oder Idealismus anknlipft, wenn das Subjekt aktivisch gesetzt wird. Bereits vor Hurrelmann hatte dies Piaget geleistet, der sich allerdings noch an der Subjekt-Objekt-Dichotomie abgearbeitet hatte, war sein Ziel doch schlieBlich die Entwicklung einer Erkenntnistheorie. Wie schon erwahnt, wird Piaget diesbeziiglich sowohl als ein intersubjektivistischer bzw. austauschtheoretischer Denker interpretiert, als auch als ein Verfechter der Position einer vornehmlich intrapsychisch verlaufenden Ontogenese. Unabhangig von dieser Kontroverse bleibt unumstritten, dass Piaget mit einem Subjekt rechnet, das keineswegs durch Umweltkonditionierungen gepragt wird oder gepragt werden konnte. Unabhangig von dieser Kontroverse bleibt auch, dass er die Personlichkeitsentwicklung als einen Stufenprozess verstanden hat, so dass die Zeit als relevante GroBe in die Methodologie der Sozialisation integriert werden muss. Piaget weist darauf hin, dass Sozialisationsumwelten im Laufe der Sozialisation eine veranderte Bedeutung erhalten konnen, weil die Sozialisanden ihnen aufgrund einer entwickelteren Verarbeitungsfahigkeit eine andere Bedeutung zuschreiben. Dartiber hinaus flihrt die Entwicklung der subjektiven Verarbeitungsfahigkeit ihrer Umwelt dazu, dass neue Umwelten erschlossen werden konnen, weil sie in die (entwickelten) kognitiven Schemata assimilierbar werden und andere Umwelten ihre Stellung als Sozialisationsinstanz verlieren, weil ihre Verarbeitung routinisiert wurde, sie also eine Weiterentwicklung nicht langer anregen. 97
Dieses Programm in seiner subjektivistischen Ausrichtung ubemimmt Niklas Luhmann, der den Sozialisationsdiskurs nur gestreift hatte. Mit seiner Umstellung auf das SystemUmwelt-Paradigma und der Einbeziehung konstruktivistischer Erkenntnismodelle aus der Biologie produziert er eine methodologische Grundlegung der Sozialisationstheorie, die im Konzept der Selbstsozialisation mtindet. Er behauptet eine grundsatzliche Eigenaktivitat des ,Subjektiven' (bei Luhmann: des psychischen Systems), die durch Begriffe wie Autopoiesis und Selbstreferenz umschrieben und radikalisiert wird. Nicht mehr die produktive Realitatsverarbeitung einer der Beobachterposition objektiv zuganglichen Wirklichkeit regt den Sozialisationsprozess an, sondern die Konstruktion der Wirklichkeit durch die autopoietische Operationsweise der Systeme. Aussagen uber die Sozialisationsverlaufe sind daher immer Aussagen des beobachtenden Systems, und diese Referenzangabe konstituiert iiberhaupt erst einen beobachtbaren Sozialisationsprozess, dessen Beschreibung mit einem Wechsel der Systemreferenz ebenfalls variiert. Dies zumindest ist die erkenntniskritische Lesart der Systemtheorie. Wird sie aus einer hinreichenden Distanz betrachtet, zeigt sich, dass ihre generellen Termini so weit von einer handlungstheoretischen Fundierung nicht entfernt sind. Luhmann - und in diesen Punkt ist ihm sicherlich zuzustimmen - weicht sein Selbstreferenzkonzept mit dem Hinweis auf, dieses ende in einer Tautologie, die Entwicklung nicht erklarbar machen kann. Die Sozialisanden waren dann Sozialisanden waren Sozialisanden etc., ohne dass es zu einer inhaltlichen Ausgestaltung kommen wurde. Um diese Aufweichung theoretisch zu konzeptionalisieren fuhrt er Begriffe wie strukturelle Kopplung oder Interpenetration ein, die deutlich machen sollen, dass die Systeme von Zufuhren aus der Systemumwelt abhangen. Dass diese dann systemintern verarbeitet werden, systemintem uberhaupt erst Relevanz gewinnen, ist ein Umstand, den bereits Hurrelmann oder Piaget auf den Punkt gebracht haben. Die methodologische Differenz zu deren Sozialisationskonzepten liegt dann vor allem in der Abhangigkeit der Beobachtung durch das beobachtende System, das heiBt in dem radikalen Zuriickweisen jeglichen Objektivismus. Das Erziehungssystem beobachtet Sozialisationsprozesse anders, als das Wissenschaftssystem und dieses wieder anders als das Rechtssystem. Ein Sozialisationsprozess ,an sich' kann daher nicht beobachtet werden. Die methodologische Differenz liegt aber auch in dem grundsatzlichen Differenzdenken. Nicht das Hereinstellen in eine soziale Umwelt, wie dies Hurrelmann ausdriicklich fordert, schiebt die Beobachtung von Sozialisationsverlaufen an, sondern gerade die Differentialitat der Systeme zu ihrer Umwelt, also letztlich die Singularitat der Systemoperationen. Dies ist insofem eine Abweichung von gangigen Sozialisationskonzepten, als durch sie eine starke Perspektive auf das Subjekt und eben subjektive Sozialisationsverlaufe (Selbstsozialisation) nahe gelegt wird. Die Radikalisierung des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' liegt insbesondere in dieser theoriearchitektonischen Weichenstellung. Insgesamt zeichnet sich das theoretisch-methodologische Vorgehen der Sozialisationsforschung durch eine handlungstheoretische, intersubjektive Grundlegung aus (vgl. dazu Grundmann 2004), Das Subjekt wird immer schon als in einem sozialen Kontext verwurzelt gesehen, unabhangig davon, welche weiteren Implikationen (Objektivismus, produktive Realitatsverarbeitung, ...) daraus abgeleitet werden. Die Sozialisationstheorie macht sich den Gedanken zu Eigen, eine Ausdifferenzierung der Sozialwissenschaft iiber die Schienen einer eigenstandigen und gegeniiber dem Subjekt eine Vorrangstellung einnehmenden So98
zialitat laufen zu lassen. Der Einzelne erreicht daher den Status des Individuellen erst innerhalb und durch eine soziale Wirklichkeit, die die zu verarbeitenden Wissensbestande und Wertvorstellungen zur Verfligung stellt. Es ist dies der hegelsche Gedanke einer Findung des Selbst im Anderen, die dann von Mead in einen Intersubjektivismus umgedeutet wird, so dass der Andere nicht als passives Objekt der Erkenntnis fungiert, sondem als aktiver Handlungspartner, der durch die Aktionen von Ego zur Weiterentwicklung angetrieben wird, so wie dessen Aktionen die Entwicklung von Ego antreiben. Der Zirkel des Intersubjektivismus Die Kritik der sozialisierten Vernunft nun griindet in dem Zusammenspiel der Orientierung am Individuum und dem theoretisch-methodischen Selbstverstandnis des Sozialisationsdiskurses. Als Frage liefie sie sich so formulieren: Kann die zunehmende Orientierung am Subjektiven iiberhaupt mit einer handlungstheoretischen bzw. intersubjektiven Methodologie umgesetzt werden? SchlieBlich stellt diese Methodologie das Subjekt immer schon in einen gesellschaftlichen Kontext, dem ein pragender und konstituierender Einfluss zugeschrieben wird. Fur eine Bestimmung des Individuellen mag dies kein Problem sein, wenn der Begriff des Individuums so gefasst wird, wie oben angegeben: Als Beschreibung spezifischer Einstellungsmuster, die erst innerhalb der Gesellschaft relevant werden. Fur eine Thematisierung der je subjektiven Anteile am Sozialisationsprozess, so die Kritik der sozialisierten Vernunft, lasst sich dies nicht in der gleichen Weise gestalten. Wird namlich das Subjektive erst innerhalb der intersubjektiven, gesellschaftlichen Kontextualisierung erblickt, bleibt unklar, was dieses Subjekt eigentlich sein soil. Es zerfasert sich dann in einen Zirkel: Das Subjektive konstituiert sich erst vor einem sozialen Hintergrund, muss aber eigentlich schon Subjekt sein, um an diesem sozialen Hintergrund partizipieren zu konnen. Sowohl das Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' als auch die sozialokologische Sozialisationsforschung als auch die Entwicklungspsychologie in ihrer intersubjektivistischen Lesart operieren aber gerade mit einem Subjektverstandnis, dass mit einer Eigenstandigkeit rechnet, die vor dem Eintritt in intersubjektive Zusammenhange bereits wirksam sein muss. Wiirde sie sich erst im Rahmen sozialer Zusammenhange entwickeln, ware sie keine subjektive Eigenstandigkeit, sondem als Ergebnis sozialisatorischer Einfliisse das Produkt einer vorrangig gedachten sozialen Umwelt, also die sozialisatorische IJbernahme von Verarbeitungsmustern. Der Stellenwert der subjektiven Eigenstandigkeit entsprache dann nicht mehr jener Konzeption, die eine Variabilitat subjektiver Entwicklungsverlaufe aufgrund einer unhintergehbaren Subjektivitat postuliert. Die Einftihrung einer Eigenstandigkeit oder Selbstorganisation des Subjekts erhalt ihre Sinnhaftigkeit erst, wenn dem Subjekt vor seiner Einbettung in soziale Kontexte diese Eigenstandigkeit oder Selbstorganisation bereits zugestanden wird. Verdeutlichen und dramatisieren lasst sich dieses Argument an der sozialisationstheoretischen Fokussierung der Kompetenzentwicklung. Die Subjekte, so die generelle Idee, entwickeln im Verlauf ihrer Ontogenese spezifische Kompetenzen. Sie entwickeln darunter auch jene Kompetenzen, die ftir eine Teilnahme an intersubjektiven Verhandlungsprozessen notwendige Voraussetzung sind. Nun mag dies ftir den Spracherwerb, der komplexere Modi intersubjektiver Verstandigung ermoglicht, unmittelbar einsichtig sein. Die notwen99
digen Kompetenzen fur eine Teilnahme an intersubjektiven Verhandlungen gehen jedoch im Spracherwerb keineswegs auf. Hinzu kommen Kompetenzen, die sich allgemein auf die Fahigkeit beziehen, soziale Interaktionen als solche wahrzunehmen, und vor allem, sich selbst und alter Ego als Subjekt in diesen Verhandlungen erleben zu konnen. Dann aber wird unverstandlich, wie intersubjektive Verhandlungen tiberhaupt moglich sind, wenn diese Kompetenzen erst durch diese intersubjektiven Verhandlungen entwickelt werden sollen. Anders formuliert: Wenn das Subjekt mit spezifischen Kompetenzen erst im Intersubjektiven entsteht, flir dieses aber bereits Subjekt mit spezifischen Kompetenzen sein muss, wird ein Zirkel produziert, der eine trennscharfe Bestimmung des Subjektiven, die flir eine Bestimmung der subjektiven Eigenaktivitat notig ist, verunmoglicht. „Vielmehr", so Manfred Frank (2001: 234) diesen Gedanken in seinem Umkehrschluss formulierend, „scheint umgekehrt ohne eine - von der Erklarungsleitung der Intersubjektivitat logisch unabhangige - Auskunft liber den ontischen und epistemologischen Status selbstbewusster Selbstbeziehung gar keine Theorie der Intersubjektivitat moglich zu sein." Manfred Frank leitet seine Position aus einer Kritik der kommunikativen Handlungstheorie von Jiirgen Habermas ab. Dieser hatte vehement daflir pladiert, die Bewusstseinsphilosophie als vergangene Epoche der Ideengeschichte zu betrachten und die Intersubjektivitat als neues, die Bewusstseinsphilosophie ablosendes Paradigma eingefiihrt. Tatsachlich ist jedoch auch Habermas (1981) gezwungen, Reste der Bewusstseinsphilosophie insofem wieder einzuholen, als er das Wissen um die jeweilige kommunikative Absicht (kommunikatives vs. strategisches Handeln) als dezisionistische Bewusstseinsleistung der Akteure bestimmt. SchlieBlich muss der strategisch Handelnde seine Absichten mit dem Mantel der verstandigungsorientierten Kommunikation verhiillen, um seine Absichten gegenliber alter ego nicht als strategische erkennbar werden zu lassen. Es ist daher immer erst ein selbstbezugliches Wissen, ob die Akteure strategisch oder kommunikativ handeln. Das intersubjektive Feststellen der jeweiligen Absichten der Handlungspartner ist demgegenuber nachfolgend. Und schlieBlich gilt: Auch Habermas kommt um eine Subjektphilosophie nicht herum, wenn er spezifische Kompetenzen angibt, die die Akteure immer schon mitbringen miissen, sollen sie an einem Diskurs teilnehmen. Die ,Einsicht in den zwanglosen Zwang des besseren Arguments' jedenfalls lasst sich nicht aus der Sprachverwendung oder der intersubjektiven Dialogsituation alleine deduzieren. Sie setzt mindestens voraus, dass die Akteure den Stellenwert von Argumenten verstehen konnen. Sie geraten damit in den Strudel einer Kompetenzentwicklung, fur die schlieBlich das oben eingeflihrte Argument gilt: Sie sollen die Kompetenzen erst im intersubjektiven Austausch erwerben, fiir die sie die Kompetenzen eigentlich schon benotigen. Ideengeschichtlich eingefiihrt hatte den Intersubjektivismus George Herbert Mead. Wie bei der Darstellung seines ,symbolischen Interaktionismus' schon angedeutet, entzundet sich die Kritik der sozialisierten Vemunft gerade an seinem Theorieentwurf So heiBt es bei Mead (1995: 191): „Entscheidend flir die Kommunikation ist, dass das Symbol in der eigenen Identitat das gleiche wie im anderen Individuum auslost. Es muss die gleiche Universalitat flir jede Person aufweisen, die sich in der gleichen Situation befindet. Sprache ist immer dann moglich, wenn ein Reiz ein Individuum so wie ein anderes beeinflussen kann." Und an anderer Stelle: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie Intelligenz oder Geist anders als durch die Hereinnahme gesellschaftlicher Erfahrungs- und Verhaltensprozesse in den Ein100
zelnen hatte erfolgen sollen, das heifit durch diese Hereinnahme der Ubermittlung signifikanter Gesten, die dadurch moglich werden, dass der Einzelne die Haltung anderer gegentiber sich selbst und gegeniiber jenen Dingen einnimmt, iiber die man nachdenkt. Wenn sich aber Geist oder Denken so entwickelt hat, dann kann und konnte es ohne Sprache weder Geist noch Denken geben. Die friihen Stadien der Entwicklung der Sprache mussen daher der Entwicklung des Geistes oder des Denkens vorausgegangen sein/' (Ebd.: 235) An diesen Zitaten wird der logische Zirkel oder das logische Paradox der Intersubjektivitat als heuristisches Paradigma deutlich. Wenn Kommunikation eine intersubjektiv gleiche Reizung durch das Symbol voraussetzt, mtisste Mead damit einen Objektivismus annehmen, der vor jeglicher Kommunikation bereits im Subjekt als kantischer Kategorienapparat existiert. Dieser soil aber der meadschen Theorieanlage folgend erst aus der Kommunikation entstehen. Um die Kommunikation erklarlich zu machen, droht Mead hier also mit einer starken, das heiBt inhahlichen, Subjekttheorie operieren zu mussen, die vor jeglichem Intersubjektivismus angesiedelt ist. Er muss das kantische Subjekt um die Kategorie Sprache oder Sozialitat erweitem und hatte dann letztlich eine Fundierung in der Bewusstseinsphilosophie gefunden. Sein eigentlicher Ansatz behauptet jedoch einen Kontingenzraum in der Ontogenese, der durch eine solche Fundierung ab absurdum gefuhrt wlirde. Radikalisiert wird der Zirkel oder das Paradox aus der Sicht der ,Kritik der sozialisierten Vemunft' durch die These, Sprache sei grundsatzlich vor dem Denken oder dem Geist existent, diese setzten jene voraus. Nicht nur zeigt Piaget (1975) empirisch, dass bereits vor dem Spracherwerb Kinder durchaus auf der Grundlage einer (praktischen) Intelligenz handeln, also denken. Es bleibt unverstandlich, wie sich Sprache ohne Denken entwickeln konnen soil, da allein aus einer pragmatischen Perspektive darauf hingewiesen werden kann, dass ohne Denken Sprache moglicherweise iiberhaupt keinen Sinn machen wiirde, sollen doch schlieftlich Gedankeninhalte in Form von Sprache ausgedriickt werden. Mead, so die zusammenfassende Kritik, sieht sich gezwungen entweder seine Theorie fur eine bewusstseinsphilosophische Fundierung zu offnen oder gewagte Spekulationen einzufiihren, die mit ontologischen und objektivistischen Setzungen geflillt sind und die eine trennscharfe und nachmetaphysische Subjekttheorie unmoglich machen. Kurz: Das Intersubjektivitatstheorem kann nicht begriindet angeben, wie sich ein Subjekt denken lasst, das in die intersubjektive Situation eintritt. Dies bedeutet nicht, das Intersubjektivitatstheorem in toto zu diskreditieren. An der Systemtheorie Luhmanns wurde deutlich, dass eine reine Selbstreferenz sich in Tautologien verstrickt, die eine Entwicklung des Subjekts nicht erklaren konnen. Die Annahme eines intersubjektiven Austausches flillt die Lucke, die eine reine Selbstreferenz produziert, indem jene als Umweltkontakt des Subjekts dieses mit Ressourcen (Wissen, Normen, ...) versorgt, die fur eine Ontogenese notwendig sind. Dann aber liegt das Intersubjektivitatstheorem theoriearchitektonisch hinter einem bewusstseinsphilosophischen Subjekt, indem es die Tautologie der Selbstreferenz durchbricht. Wird eine noch naher zu bestimmende Bewusstseinsphilosophie allerdings vor die Intersubjektivitatstheorie gesetzt, verliert sich auch das Paradox der Intersubjektivitatstheorie, da dann deutlich wird, dass bereits ein Subjekt vorausgesetzt wird, das innerhalb sozialer Kontexte agiert. Die Intersubjektivitatstheorie wird hier also nicht generell verworfen, schlieBlich macht sie zu Recht darauf aufmerksam, dass Subjekte sich innerhalb einer Sozialitat bewegen und sich der Prozess der 101
Sozialisation iiber die Schienen eines intersubjektiven Austausches lauft. Sie wird kritisiert beziiglich ihres Anspruches, einen trennscharfen und widerspruchsfreien Subjektbegriff formulieren zu konnen. Wenn aber die Sozialisationstheorie sich zunehmend am Subjekt - verstanden als Eigenaktivitat Oder Selbstorganisation - orientiert und dieses logisch vor seine intersubjektive Einbindung gesetzt werden muss, benotigt die Sozialisationstheorie einen solchen trennscharfen und widerspruchsfreien Subjektbegriff, oder wie Dieter Geulen (1989: 16) einst gefordert hatte: „Der von der Sozialisationstheorie angesetzte Begriff vom Menschen muB nicht nur im angegebenen Sinne unabhangig von den Begriffen, die die Bedingungen der Sozialisation bezeichnen, sondern auch systematisch vor ihnen definiert werden; er ist eine logische Voraussetzung einer genetischen Sozialisationstheorie." Ist aber ein solcher Subjektbegriff iiber die Handlungstheorie oder die Intersubjektivitatstheorie nicht zu haben, muss dies iiber einen anderen Diskurs geleistet werden. Im Folgenden Teil soil dies mit der Erkenntnistheorie eingeholt werden, die aufgrund ihrer Ausrichtung ein Subjektverstandnis offeriert, das die von Geulen gesuchte Bedingung immer schon erfiillt. Die hier vorgetragene Kritik am Intersubjektivismus bekommt durch diese Hinwendung zur Erkenntnistheorie eine zusatzliche Stiitze. Sie ist dann nicht nur eine Kritik, die sich aus dem Zusammenspiel der postulierten Eigenaktivitat des Subjekts und dem Intersubjektivitatsparadigma ergibt, sondern auch eine Kritik, die sich von auBen an den Sozialisationsdiskurs richtet und die aus der Perspektive einer philosophischen Erkenntnistheorie die postulierte Eigenaktivitat des Subjekts ohnehin einklagt. Anders formuliert: Jene Autoren des Sozialisationsdiskurses, die mit einem aktiven Subjekt rechnen, erfiillen aus der Perspektive der Erkenntnistheorie ein Postulat, das sich als erkenntniskritische Selbstverstandlichkeit darstellt. Die Anordnung der ersten beiden Telle der vorliegenden Arbeit konnte also auch andersherum vorgenommen werden. Die Erkenntnistheorie ist nicht nur ein Ausweichdiskurs fur einen immanenten Widerspruch der Sozialisationstheorie. Sie ist auch, wie in der Einleitung bereits geschildert, ein externer Diskurs, aus dem heraus sich die ,Kritik der sozialisierten Vemunft', und das heiBt die Berticksichtigung der subjektiven Eigenaktivitat, begriinden und einfordern lasst. Im Rahmen dieser Form der ,Kritik der sozialisierten Vernunft' stehen die Diskurse der Sozialisations- und der Erkenntnistheorie dann in einem Wechselverhaltnis.
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II. Teil Das Subjekt der Erkenntnistheorie
4. Die klassischen Erkenntnistheorien
Wenn, so die Kritik der sozialisierten Vernunft, aus der Handlungstheorie bzw. dem Paradigma der Intersubjektivitat kein gehaltvoller Subjektbegriff abgeleitet werden kann, ein solcher aber in der Sozialisationstheorie zunehmend als relevante Grofie im Sozialisationsprozess anerkannt wird, bietet es sich an, auf die Erkenntnistheorie zuriickzugreifen, die nicht nur wesentlich die Grundlagen fur die Erfolgsgeschichte des modernen Subjektbegriffes gelegt hat, sondern immer schon mit einem Subjekt handelt, das sich nicht erst innerhalb sozialer Umwelten konstituiert. Der Zirkel der Handlungstheorie wird so von vomherein umgangen. Nun gelten freilich die Hauptfragen der Erkenntnistheorie nicht unmittelbar der Eruierung eines Subjektbegriffes. Gottfried Gabriel (1998: 26) benennt als die zentralen Fragen: die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis, die Frage nach der Realitat und die Frage nach der Beschaffenheit von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt. Das Subjekt spielt damit zwar eine gewichtige Rolle, ist es doch schlieBlich der Protagonist der Erkenntnis. Es fungiert jedoch nicht als eigentliche Zielfigur der klassischen Erkenntnistheorie und kann wohl eher als ein Nebenprodukt dieses Diskurses angesehen werden. Dieser setzt sich namlich vielmehr die Aufgabe, die Moglichkeiten fiir gesicherte Erkenntnisse und vor allem fur die Herleitung sicheren Wissens zu untersuchen. Dies war notwendig geworden, da der Aufschwung der naturwissenschaftlichen Forschung zu immer neueren Ergebnissen fiihrte, die geeignet waren, uberkommene Gesellschaftsstrukturen in Frage zu stellen, und die durch eine philosophische Untersuchung ihrer Bedingungen so gerahmt werden sollten, dass wahre von falschen Erkenntnissen differenziert werden konnten. Entsprechend firmieren unter dem Label der Erkenntnistheorie Begriffe wie Wahrheit, Rechtfertigung Oder Wissen und nicht zuletzt aus diesem Grund wird aus der Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert die Wissenschaftstheorie (vgl. Schnadelbach 2002). Wenngleich es vor allem Francis Bacon (1620/1990) war, der mit seinem ,Novum Organum' bereits auf eine Neujustierung der Wissenschaften abzielte, und diese in der experimentellen Methode gefunden zu haben glaubte, setzt die Erkenntnistheorie im eigentlichen Sinne erst mit Descartes an. Dies nicht zuletzt deswegen, weil mit Descartes zugleich der Grundstein fur die sukzessive Aufwertung des modemen Subjektverstandnisses gelegt wird, das sich schlieBlich derart positionieren konnte, dass alle politischen und sozialen Verhaltnisse in ihm ihre Referenz finden miissen. Mit Descartes wird uberdies ein weiterer grundlegender Aspekt der neuzeitlichen Erkenntnistheorie deutlich: Der Versuch einer Absetzbewegung zum antiken Skeptizismus (Musgrave 1993). Dieser hatte generell die Moglichkeit sicheren Wissens geleugnet, indem er sowohl die Erkenntnis tiber die Sinneserfahrung als auch die Erkenntnis iiber die Verstandestatigkeit als eine unzureichende Quelle fur Wahrheit destruierte (Ricken 1994). Die aufklarerische Philosophic zeichnete sich dadurch aus, diesen nur schwer zu widerlegenden Ansatz uberwinden zu wollen, und ein Fundament sowohl ftir die Wissenschaften als auch 105
fur das Politische und Soziale zu finden, das einen Ausweg aus der aus dem Skeptizismus drohenden Handlungsunfahigkeit aufgrund der Urteilsenthaltung eroffnen sollte. SchlieBlich drohte der Skeptizismus die fruchtbaren Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung derart in Frage zu stellen, dass sie als Quelle ftir eine Verbesserung der Lebensqualitat nicht in Anspruch genommen werden konnten. Wenn also im Folgenden ein Abriss der neuzeitlichen Erkenntnistheorie vorgenommen wird, wird es nicht primar urn die genuin erkenntnistheoretischen Fragestellungen gehen. Diese werden nur soweit rezipiert, als sie fur die Herleitung eines erkenntnistheoretischen Subjektbegriffes notwendig sind. Entsprechend gilt dasselbe, was bereits flir den Abriss der Sozialisationstheorie gegolten hat: Ziel der Ausflihrungen ist nicht eine exegetische und detaillierte Aufarbeitung des angefahrten Autoren, sondern eher ein freies Prozessieren dieser, das heiBt ein selektiver Zugriff, der eine Extraktion des Subjektbegriffes aus der Erkenntnistheorie im Hinblick auf seine Verwendung fur die Sozialisationstheorie intendiert. Der weit ausholende und breite Zugriff auf den Diskurs der Erkenntnistheorie ist dabei aus zwei Griinden erforderlich. Zum einen sollen so diverse Aspekte und Argumente flir einen gehaltvollen Subjektbegriff gesammelt werden. Zum anderen wird auf diese Weise deutlich, welche Probleme bei der Herleitung eines erkenntnistheoretischen Subjektbegriffes auftauchen und das meint, in welche Antinomien sich eine solcher Subjektbegriff verstricken kann. Diese werden namlich erst dann sichtbar, wenn die Pendelbewegung der Erkenntnistheorie zwischen Rationalismus, Empirismus und Idealismus verfolgt wird. Das Vergegenwartigen des Gegensatzes dieser Theorieparadigmen wird schlieBlich behilflich sein, bei der Bestimmung des Subjektiven eine angemessene Vorsicht walten zu lassen, die davor behliten soil, leichtfertig in ontologische Anthropologien oder logische Widerspriiche zu verfallen, die letztlich genauso wenig Auskunft iiber den subjektiven Eigenanteil am Sozialisationsprozess zu geben vermogen wie das intersubjektivistische Paradigma.
4.1. Der Weg iiber die Skepsis: Rene Descartes Rene Descartes gilt zumeist als revolutionarer Denker und Begrlinder der neuzeitlichen Philosophic (kritisch dazu: Horkheimer 1927/1987: 133 ff). Mit seiner suchenden Art des Schreibens begibt er sich auf den Weg, die Moglichkeiten wissenschaftlich wahrer Erkenntnisse neu zu bestimmen. Diese Absicht wurzelt in dem Versuch, sichere Urteile ftir eine alltagliche und moralische Praxis zu fmden und so die Unsicherheiten des gesellschaftlichen Lebens in Bestimmtheiten zu iiberflihren, die schlieBlich dazu dienen sollten, die Lebensbedingungen der Menschheit insgesamt zu verbessem. Er steht mit diesem Ansinnen nicht nur in der Folge des bereits erwahnten Francis Bacon, sondern er formuliert mit diesem Ansinnen das Programm der Aufklarung, durch Uberwindung von Vorurteilen und Aberglauben eine transparente und rationale Grundlage fiir das soziale Miteinander zu fmden. Wenngleich mit dieser Rlickbindung der Erkenntnistheorie an politische und soziale Zwecke eine normative Fundierung der Erkenntnistheorie indiziert wird'^ gilt diese den-
10 Aus soziologischer Sicht, die eine Abhangigkeit jeglicher Form des Wissens und damit auch der Erkenntnisund Wissenschaftstheorie von politischen Auseinandersetzungen behauptet, vgl. Mannheim (1929/1982).
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noch als eigenstandiger Diskurs bzw. kann und muss als eigenstandiger Diskurs behandelt werden. Im Falle Descartes wird dies unter anderem dadurch deutlich, dass er die naive Alltagseinstellung, und damit auch politische Auseinandersetzungen, desavouiert und ihre Gliltigkeit flir die Gewinnung sicherer Erkenntnisse radikal in Zweifel zieht, Diese sind fur Descartes nur dann zu erreichen, wenn alle Urteile, deren Wahrheit angezweifelt werden kann, als (zunachst) unwahre Urteile gelten. Bereits in seiner Schrift „Regulae ad directionem ingenii" (Descartes 1628/1993) hatte er mit der Intuition und der Deduktion zwar zwei Methoden angegeben, die als Quelle flir sichere Erkenntnis fungieren konnen. In seinem „Discours de la methode" (Descartes 1637/1990) und seinen beruhmten „Meditationen uber die Grundlagen der Philosophic" (Descartes 1641/1993) weitet er den Versuch einer Begrlindung sicheren Wissens allerdings aus und erhebt den Zweifel, der zunachst nur gegen falsches Wissen - resultierend aus Vorurteilen - sichern sollte, zum methodischen Prinzip. Die Funktion des Zweifelns wird zu einer dreifachen: Sie soil als Korrektiv vor falschen Aussagen bewahren. Sie soil als Selektionsinstrument die Unterscheidung von falschen und wahren Urteilen ermoglichen. Sie soil als methodisches Prinzip wahre Urteile generieren konnen. Die Methode des Zweifelns wird von Descartes freilich nicht unbegrtindet eingeflihrt. Er bemiiht sich vielmehr zu zeigen, welche Griinde angefuhrt werden konnen, die verschiedenen Wissensinhalte anzuzweifeln (zu den ideengeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen des Skeptizismus vgl. auch Perler 2003). Er nimmt dabei die Argumente der antiken Skeptiker auf, teilt mit diesen allerdings weder das daraus abgeleitete Postulat der Urteilsfreiheit, noch begreift er den Skeptizismus, wie dies vomehmlich in der pyrrhonischen Skepsis der Fall war, als Einstellungsmuster fur den Alltag. Descartes weist ausdriicklich darauf hin, dass sein Skeptizismus im Alltag nur negative Folgen haben wiirde in der Tat konnte etwa Pyrrhon ein hohes Alter nur erreichen Dank der Umsicht seiner Schtiler - und ausschlieBlich als Methode flir die Wissenschaften geeignet ist. Der Skeptizismus wird theoretisiert. Dieser Hinweis von Descartes ist insofern von entscheidender Bedeutung, als damit eine Moglichkeit angedeutet wird, die nur schwer zu widerlegenden Argumente der Skeptiker aufzunehmen, ohne zugleich die Moglichkeit von Wissenschaft generell in Frage stellen zu mtissen, weil die Skepsis einzig als Methode konzipiert wird, deren Ziel nicht die Leugnung der Erkennbarkeit der Realitat ist, sondem gerade das Bemiihen, deren Erkennbarkeit philosophisch zu begrunden. Im Durchgang durch die verschiedenen Wissensformen disqualifiziert zunachst Descartes die Moglichkeit der Generierung sicherer Urteile iiber die Sinneswahrnehmung. Er konstatiert zwar, dass alles, was gewusst wird, vomehmlich iiber die Quelle der Sinne in den Geist gelangt ist. Dennoch weiB Descartes: Die Sinne konnen bezUglich der Erkenntnis von Objekten tauschen. Als Beispiel flihrt er etwa an, dass manche Objekte zunachst sehr klein erscheinen, die bei naherer Betrachtung wesentlich groBer sind. Zu denken ist aber auch an jenes Beispiel, das bereits in der Antike den Skeptikem als Veranschaulichung ihrer Philosophic diente: der gerade Stock, der sich, wird er in Wasser getaucht, aus der Beobachterperspektive kriimmt. Nun konnte auf diese Kritik der Sinneswahrnehmungen eingewendet werden, sie stellen zwar Tauschungen dar, nicht jedoch solche, die nicht durch geeignete Priifung (z. B. Abstandsverringerung) aufgelost werden konnten. Descartes selbst erwidert 107
auf seine Skepsis, dass er uber die Quelle der Sinneserfahrung sicher sein konnte, in seinem Winterrock am Kamin zu sitzen und zu schreiben; dass also die Sinne zwar zuweilen tauschen, aber dennoch sichere Urteile ermoglichen. Er fiihrt jedoch sein beriihrntes Traumargument an, um die Verlasslichkeit der Sinne als Quelle sicherer Erkenntnisse zu disqualifizieren und zugleich den Zweifel an der Existenz denkunabhangiger, materieller Objekte zu begriinden. Im Traum, so Descartes, glauben wir schliefilich hochst unwahrscheinliche Dinge, wie etwa, wir waren Konige, obwohl wir einfache Burger oder gar Bettler sind. Da uns diese Traume zuweilen sehr real vorkommen, konne nicht entschieden werden, ob wir uns tatsachlich in einem Schlaf- oder einem Wachzustand befinden. Damit meint Descartes freilich nicht, wir wurden in einem hypnotischen Dauerzustand leben, der alle Eindrticke zu bloBen Phantasiegebilden der subjektiven Vernunft macht. Indem er aber die widerspruchsfreie Behauptung einfuhrt, Traumobjekten konne der gleiche Realitatsstatus zugeschrieben werden wie Objekten der Sinneserfahrung, kann er zeigen, dass potentiell die Moglichkeit besteht, dass wir uns irren (das heiBt traumen), wenn wir glauben, mit den Sinnen ein Objekt wahrzunehmen. Auf diese Weise wird nicht nur plausibilisiert, dass eine allgemeine Skepsis bezuglich der Sinneserfahrung formuliert werden kann. Die Objekte dieser Sinneserfahrung konnen keineswegs jene denkunabhangige Realitat ausfiillen, die im Prozess der Sinneserfahrung die Sinne affiziert und jene Verstandesinhalte hervorruft, die uns als empirisches Wissen prasent sind, wenn die denkbare Moglichkeit besteht, diese denkunabhangige Realitat ist ein bloBes Produkt unserer Phantasie. Formuliert wird mit dem Traumargument also auch eine Skepsis bezuglich der Existenz auBerer Gegenstande, wobei nicht deutlich genug betont werden kann, dass das Traumargument einen explikativen und nicht einen demonstrativen Charakter hat. Es bleiben hingegen noch jene Wissensinhalte, die empirieunabhangig erworben werden konnen. Jenes Wissen, das innerhalb der Philosophiegeschichte seit der Antike als generell sicheres Wissen gilt, gerade weil es empiric- und damit auch zeitunabhangig gedacht werden kann: Das abstrakte und formalisierte Wissen, das solchen Wissenschaften wie der Geometric oder der Arithmetik entspringt. Da Descartes bereits in seinen „Regulae" die wissenschaftstheoretische These vertreten hatte, dass sichere Erkenntnisse auf dem Fundament der Erkenntnis einfacher, abstrakter Gegenstande aufbaut, bildeten diese Wissenschaften fiir ihn eine sichere Grundlage fiir die Herleitung (bei Descartes: Deduktion) sicheren Wissens. Er reiht sich damit in eine lange und nach wie vor anhaltende Philosophietradition ein, die in der Mathematik bzw. Logik (als allgemeiner Ausdruck der angefuhrten Disziplinen) die sicherste und damit hochste Form menschlichen Wissens erblickt, so dass Philosophen wie Hobbes oder Spinoza selbst ihre ethischen Schriften nach einer geometrischen Methode verfassten. SchlieBlich gilt die Wahrheit von Aussagen wie 2 + 3 = 5 sowohl im Wach- als auch im Traumzustand und das Wissen, dass in einem Dreieck die Summe aller Winkel 180 Grad betragt, kann ohne die unzuverlassige Quelle der Sinne generiert werden. Uberdies zeichnet sich dieses Wissen dadurch aus, dass es zeitunabhangig operiert. Wahrend, wie im ersten Teil gesehen, beispielsweise solche (empirischen) Wissensinhalte, dass die Medien einen spezifischen Beitrag zu politischen Sozialisation zu leisten vermogen, dem Wechsel der Zeit in einer zweifachen Weise unterliegen - Medien mussen in einer Gesellschaft erst entwickelt und verbreitet werden und werden abhangig von politischen
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Bedeutungszuschreibungen unterschiedlich qualifiziert - bleibt der Wahrheitsgehalt mathematischer oder logischer Aussagen von solchen Veranderungsprozessen unberiihrt. Wie aber lasst sich der Wahrheitsgehalt solcher Aussagen, die Descartes immerhin selbst als besondere Wissensformen auszeichnete, anzweifeln? Der Verweis auf die unzuverlassige Erfahrung tiber die Sinne hilft hier nicht weiter, da solche Wissensformen schlieBlich nicht beziiglich ihrer Kenntnisnahme (also etwa dem empirischen Umstand der Schulvermittlung) oder beziiglich ihrer moglichen Erinnerung an eine solche Kenntnisnahme angezweifelt werden sollen, sondem bezuglich ihres Vollzuges bzw. ihrer Geltung. Descartes kann sich aber keineswegs damit begniigen, das mathematische Wissen als Sphare sicheren, und das heiBt nicht anzweifelbaren Wissens, gelten zu lassen und umstandslos mit diesem Wissen die Quelle flir Wahrheit benennen. SchlieBlich batten die antiken Skeptiker auch dieses Wissen in Zweifel gezogen und Descartes war es unter anderem darum zu tun, den Skeptizismus zu iiberwinden. Und schlieBlich lasst sich aus der Geltung mathematischer Satze nicht ohne Weiteres die Existenz einer denkunabhangigen Realitat wiedergewinnen, die durch den Zweifel bereits desavouiert worden war. Descartes kann und muss daher seine methodische Skepsis bis in die genannten Disziplinen treiben, und er uberschreitet dabei die Grenze zum Hypothetischen. Er erwagt die Moglichkeit, dass wir von einem Gott geschaffen worden sind, der Boses im Sinn hat, und uns daher auch bezuglich der Geltung mathematischer Aussagen tauscht. Da die Moglichkeit der Annahme eines solchen ,malin genie' widerspruchsfrei denkbar ist, erreicht Descartes mit dieser Annahme eine Skepsis auch an der als sicher geltenden Bastion empirieunabhangigen Wissens. Er hat, metaphorisch ausgedriickt, samtliche Pfeiler menschlichen Wissens eingerissen und eine Ruinenlandschaft absoluter Unsicherheit hinterlassen. Dabei gilt auch in diesem Fall: Der bosartige Schopfergott hat einen explikativen, keinen demonstrativen Charakter. Seine Einfiihrung ermoglicht Descartes, die Skepsis bis zum AuBersten zu treiben, um so auch noch die Einwande seitens der Verfechter mathematischer Wahrheit zu diskreditieren. Wird dann aber nicht zugleich der Sinn der Skepsis selbst zweifelhaft, da schlieBlich mit der argumentativen Einfiihrung des ,malin genie' zugleich jede Evidenz verloren geht? Wie kann noch mit Gewissheit gezweifelt werden, wenn mit der denkbar radikalsten Form der Skepsis operiert wird, die doch selbst die Moglichkeit des Zweifelns anzweifeln muss? Die Erwiderung auf diese Frage macht nochmals den rein methodischen Charakter der Skepsis deutlich. Die Gewissheit wird namlich keineswegs vollstandig auBer Kraft gesetzt. Sie wird einzig auf eine psychologische oder subjektinteme Form der Gewissheit zuriickgenommen und kann so als Richtschnur ftir die Skepsis weiterhin Verwendung fmden. Ausgeschlossen durch die Skepsis wird ausschlieBlich der objektive, realitatskorrespondierende Wahrheitsgehalt sowohl empirischer als auch logischer Aussagen. Als subjektinteme Gewissheiten bleiben sie ein psychologisches Faktum, das nicht sinnvoll bezweifelt werden kann. Da Descartes mit der Methode der Skepsis ein sicheres Fundament fiir die Herleitung von Wissen generieren wollte, konnte er selbstverstandlich bei dem Resultat seiner Skepsis nicht stehen bleiben. SchlieBlich sollte ein oberster Grundsatz geftinden werden, von dem aus sowohl das Wissen, das im Alltagsvollzug verwendet wird, als auch das Wissen, dass innerhalb der Wissenschaften prozessiert wird, als sicheres Wissen qualifiziert werden kann. Mit seinen skeptischen Argumenten gegen jegliches denkbares Wissen konnte er 109
allenfalls die Gewissheit erlangen, dass nichts gewiss ist. Damit ware er allerdings dem Skeptizismus nicht entronnen, sondem hatte diesen nochmals bestatigt. Descartes ware wohl kaum als Klassiker der Bewusstseinsphilosophie in die Geschichte eingegangen, hatte er sich mit diesem Ergebnis begnugt. Descartes Leistung bestand schlieBlich darin, mit der eigenen Existenz ein sicheres Wissen geflmden zu haben, an dem nicht gezweifelt werden kann. SchlieBlich gilt: Wenngleich auch der bose Schopfergott uns standig tauschen mag, so sind es doch wir, die getauscht werden, und daraus folgt, dass wir existieren. Diese Existenz ist fiir Descartes freilich eine spezifische Existenz. So muss beispielsweise der Korper als moglicher Bezugspunkt ausfallen. Dessen Existenz war ja bereits durch den generellen Zweifel an der Existenz denkunabhangiger Objekte in Frage gestellt worden. Descartes fiihrt daher das genuin rationalistische Verstandnis der eigenen Existenz ein, wenn er versucht, diese als sicheres Wissen aus der Skepsis heraus zu begriinden: „Indem wir so alles irgend Zweifelhafte zuriickweisen und es selbst als falsch gelten lassen, konnen wir leicht annehmen, dass es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Korper gibt; dass wir selbst weder Hande noch FtiBe, tiberhaupt keinen Korper haben; aber wir konnen nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was denkt, zu dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht existiert. Demnach ist der Satz: Ich denke, also bin ich (ego cogito, ergo sum) die allererste und gewisseste aller Erkenntnisse, die sich jedem ordnungsgemafi Philosophierenden darbietet." (Descartes 1644/1992:2) Wird Descartes, wie dies hier schlieBlich geschehen soil, insbesondere subjekttheoretisch angeeignet, fiihrt ihn seine Methode der Skepsis zu einem Subjektbegriff, der im rationalintellektuellen VoUzug seine inhaltliche Konkretisierung erhalt. Das Subjekt konstituiert sich nicht uber eine korperliche Existenz, sondem liber die spezifische Eigenschaft des Denkens, wobei Descartes unter Denken samtliche Aktivitaten des Verstandes zahlt: Einsehen, Wollen, Einbilden und Wahrnehmen. Letzteres muss auf den ersten Blick verwundem, gait ihm doch der Wahmehmungsakt als hochst unzuverlassig. Er merkt jedoch an, dass er unter Wahmehmen im Kontext des Denkens keineswegs einen iiber die Sinne vermittelten Referenzakt auf die denkunabhangige Realitat versteht, sondem ein subjektintemes Operieren. Wird das Sehen eines Objektes gedacht, so ist der Inhalt dieses Denkens nicht anzweifelbar. Vorstellungen, so Descartes, konnen nicht falsch sein. Anzweifelbar ware allenfalls die Aussage, das Sehen rekurriere auf ein Objekt auBerhalb des Denkens. Erkenntnisprozesse sitzen diesem Subjektverstandnis entsprechend dem urteilenden Verstand auf und nicht dem tatsachlichen Affizieren durch ein Objekt. „Aber - wohlgemerkt - seine Erkenntnis ist nicht Sehen, nicht Beriihren, nicht Einbilden und ist es auch nie gewesen, wenngleich es friiher so erschien, sondem sie ist eine Einsicht einzig und allein des Verstandes [,..]." (Descartes 1641/1993: 27) Wenngleich Descartes mit seinem ,Cogito' zwar ein nicht mehr hintergehbares Prinzip gefunden hatte'', hatte er denoch die durch die Skepsis desavouierte Realitat noch nicht wiedergewonnen. Und auch wenn Descartes die Erkenntnis der Realitat liber die Schienen der Verstandestatigkeit laufen lasst, so blieb immer noch die mogliche Annahme des ,malin genie', der tauschend in die Verstandesaktivitaten eingreifen konnte. Wenn Descartes es 11 Zu den Problemen und Diskussionen um das Cogito vgl. Rod (1995).
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aber zu seinem Ziel erklart hat, einen sicheren Bezug auf die Welt zu begrunden, musste die Realitat wieder in ihre Stellung als Referenz flir die Denkakte des ,Cogito' einsetzbar werden. Urn den Realitatsbezug des ,Cogito' auf ein sicheres Fundament zu stellen, flihrt Descartes die hypothetische Argumentationsfigur seines ,malin genie' weiter. Gut phanomenologisch sucht er in seinem Bewusstsein nach weiteren Wissensinhalten, die neben der eigenen Existenz als sichere Wissensinhalte gelten konnen und findet die Vorstellung der Existenz Gottes. Diese zeichnet sich fur Descartes dadurch aus, dass ihr eine Bedeutung zukommt, die alien ubrigen Vorstellungen fehlt. Er schlieBt aus diesem Umstand, dass die Vorstellung Gottes keineswegs durch ihn erzeugt worden ist, wie sich dies etwa flir die korperliche Umv/elt annehmen lasst, sondem eben von einem Wesen, das mit seinen Fahigkeiten die Fahigkeiten endlicher Wesen iibersteigt. Dieser Schluss wiederum bezeugt flir Descartes die Existenz Gottes, die nicht nur als klarste und deutlichste Vorstellung, sondern als eine angeborene Idee von Descartes eingeflihrt wird (ausflihrlicher zum Gottesbeweis und zur Gottesidee vgl. Oeing-Hanhoff 1997). Aufgrund der Vollkommenheit Gottes kann er dann in einem nachsten Schritt seine Hypothese eines bosartigen Schopfergottes wieder verwerfen. Er postuliert, dass Gott keineswegs ein Betriiger ist, der ein falsches Spiel mit uns spiele, da die Absicht des Betriigens in einer (Willens-)Schwache besteht, die Gott nicht zugeschrieben werden kann. Wenn aber Gott nicht tauscht, besteht der Grund flir die Skepsis insbesondere des mathematischen Wissens nicht langer. Aber auch jenes durch die Wahrnehmung generierte Wissen kann Descartes durch die Existenz Gottes wieder rehabilitieren. Denn einerseits geht er davon aus, dass alles was als klar und deutlich erkannt wird, wahr ist und damit auch ist im Sinne eines Seinspradikates und andererseits folgert er aus der Existenz eines nicht betriigenden Gottes, dass auch die Realitat, die uns iiber die Sinne vermittelt wird, aufgrund seiner Schopferfunktion existiert, wir diese also tatsachlich klar und deutlich wahr nehmen konnen. Erkenntnistheoretisch baut Descartes auf dieser wiedererlangten Gewissheit seinen beriihmten Dualismus. Er differenziert zwischen einer res extensa und einer res cogitans, wobei erstere den Bereich der ausgedehnten Dinge bezeichnet und letztere den Bereich des Kognitiven. Verbunden, oder in der Terminologie Luhmanns: strukturell gekoppelt, sind die beiden Bereiche iiber den menschlichen Korper. Mit der Konkretisierung der res extensa durch ausgedehnte Substanzen kann Descartes zwischen primaren (Hohe, Breite, ...) und sekundaren (Farbe, Geruch, ...) Qualitaten der Dinge unterscheiden (vgl. dazu Perler 1998). Erstere sind flir ihn die einzigen Qualitaten, die eindeutig und klar erkannt werden konnen. Er gelangt so wieder in der Nahe der mathematischen Wissenschaften, wenn er die mathematischen Bestimmungen der Dinge zu den einzig verlasslichen Bestimmungen erklart. Nun bedeutet flir Descartes die Abhangigkeit der endlichen Wesen von dem vollkommenen Wesen, also Gott, keineswegs die Aufgabe eines freien Willens. Der Verstand kann sich nicht nur durch falschen Gebrauch irren (was aufgrund einer radikalen Determination durch einen gutmiitigen Gott unmoglich wiirde), er kann sich auch durch Kreativitat iiber die Vorstellungen, die ihm inharent sind, erheben und Phantasiegebilde produzieren. Und schlieBlich postuliert Descartes in der Form einen freien Willen, als wir die Urheber unserer Handlungen sind, und so flir diese verantwortlich gemacht werden konnen. Dieses Postulat 111
der Willensfreiheit bedeutet allerdings nicht, wie Volker Halbach (2002) zu Recht betont, dass Descartes ein erkenntnistheoretischer Voluntarist ware. Sofem Vorstellungen klar und distinkt sind, konnen wir nicht umhin, ihnen zuzustimmen. Ein freies, phantasierendes Prozessieren mit der Wahrheit ist mit Descartes nicht zu haben. Und auch in Bezug auf die Willensfreiheit geht Descartes sogar so weit, diese in den Rang einer angeborenen Idee zu heben. Diesen Rang hat, wie gesehen, neben der Willensfreiheit unter anderem die Idee Gottes. Mit der allgemeinen Annahme, es gabe angeborene Ideen, steht Descartes zweifellos kontrar zu den Grundannahmen der Sozialisationstheorie und wie noch zu zeigen sein wird, haben vor allem die angelsachsischen Empiristen diese Annahme scharf kritisiert. Im Rahmen der cartesianischen Philosophic tragen sie indessen zu einer weiteren Bestimmung des Subjektiven bei. Das Subjekt ist nicht nur wesentlich konstituiert iiber den Vollzug von Denkurteilen. Es kann bei diesem Vollzug mit angeborenen, und das heiBt von Gott gegebenen, Ideen rechnen, die klar und deutlich erkannt werden, und die als Quelle fur weitere Deduktionen Verwendung fmden konnen, Insgesamt nun entspringt das cartesianische Subjekt dem Zweifel an alien verfugbaren Wissensformen, die als Quelle flir sicheres Wissen diskreditiert werden. Indem aber Descartes die Realitat leugnet und so zu einem ,Cogito' kommt, das dann, vermittelt durch die Vorstellung der Existenz Gottes, die Realitat gleichsam aus sich heraus wieder stabilisiert, siedeh er das Subjekt logisch vor seiner Einbindung in die materielle und soziale Umwelt an. Er erfUllt damit das gesuchte Postulat, das sich aus der Kritik der sozialisierten Vernunft ergeben hatte. Sein Subjekt ist nicht auf die interaktive Auseinandersetzung angewiesen, sondern auf einen skeptischen Denkakt, der die interaktiven Bezugnahmen sogar als mogliche Tauschung anzweifeln muss. Das cartesianische Subjekt fmdet bzw. konstituiert sich durch einen rational-skeptischen Selbstbezug. Nun kann selbstverstandlich die Zusatzannahme eines Gottes, der letztlich den Realitatsbezug garantiert, nicht nur nicht langer tiberzeugen. Sie ist, und dies brauchte eigentlich kaum erwahnt werden, dariiber hinaus einer Operationalisierung innerhalb der Sozialisationstheorie nicht zuganglich. Wesentlicher fur eine Kritik des cartesianischen Subjektverstandnisses ist aber, dass Descartes gerade dadurch, dass er das Subjekt schlussendlich doch wieder auf den dualistischen Austausch verweist, das Subjekt also nachtraglich wieder in die materielle und soziale Umwelt einbindet, die empiristische Kritik an seinem Subjektbegriff herausgefordert hat. SchlieBlich hatte Descartes damit auch den Realitatsbezug durch die Sinne wieder rehabilitiert, - wenngleich dieser im Erkenntnisprozess durch die rationalen Denkurteile gerahmt blieb -, den die Empiristen zu einer Subjektvorstellung ausbauten, die gerade durch die Sinneswahmehmung (im Gegensatz zum intellektuellen Prozessieren) konstituiert wird und die auf die problematische Annahme angeborener Ideen verzichten konnte.
4.2. Der Weg iiber die Sinne: John Locke Descartes, so zeigte sich, war auf die Vorstellung der Existenz Gottes angewiesen, um den Referenzakt auf eine subjektunabhangige Wirklichkeit wieder rehabilitieren zu konnen, nachdem er durch die Methode des radikalen Zweifels alle Formen moglichen Wissens als 112
Quelle fiir wahre Aussagen diskreditiert hatte. Zwar hatte er als Ergebnis seines methodischen Zweifelns zu einer Subjektvorstellung geflinden, die im rationalen Prozessieren ihre Ausgestaltung findet. Dennoch hatte er zusatzlich zu diesem Prozessieren die Erfahrung tiber die Sinne wieder als Wissensquelle (bzw. Materiallieferant des rationalen Prozessierens) zugelassen. Dies war nicht zuletzt aufgrund seiner dualistischen Konzeption notwendig geworden. Wenn Descartes schlieBlich mit der res extensa eine subjektunabhangige, oder besser: eine vom Subjekt unterschiedene, Wirklichkeit annimmt, muss diese sinnvollerweise den Status erhalten, als Referenz fur das rationale Prozessieren zu fungieren. Wiirde dieses sich selbst genligen, wie dies bei Berkeley dann tendenziell der Fall sein wird, wlirde die Konzeptionalisierung einer res extensa zwar nicht logisch falsch werden, aber dennoch sinnlos. In dem Moment aber, wo eine subjektunabhangige AuBenwelt angenommen wird, liegt es nahe, den Bereich des moglichen Wissens auf diese auszudehnen - also nicht bei den mathematischen Aussagen stehen zu bleiben. Ein Wissen iiber die subjektunabhangige Wirklichkeit aber ist notwendig ein empirisches Wissen, das iiber die Sinne gewonnen wird. Und neben der Generierung eines axiomatischen Prinzips fiir die Herleitung sicheren Wissens (Cogito), war es nicht zuletzt auch Descartes Intention, diese Form der Wissensgewinnung als zwar unsichere, aber dennoch giiltige zu begriinden. Gravierend fiir den weiteren Verlauf des erkenntnistheoretischen Diskurses ist nun, dass er damit die Tiiren fur den angelsaschichen Empirismus geoffnet hat, der seine Kritik frontal gegen die Annahme angeborener Ideen richtete und diese unter Inanspruchnahme exakt jener Sinneserfahrung fuhrte, die Descartes durch seinen Dualismus konzeptionell als Wissensquelle akzeptiert hatte. John Locke, der seinen „Versuch iiber den menschlichen Verstand" (Locke 1690/1988) in vier Biicher unterteilt, beginnt in seinem ersten Teilband auch zunachst mit einer dezidierten Auseinandersetzung der These, es gabe angeborene Ideen. Da die Argumente, die er dabei ins Feld flihrt, eine gewisse Nahe zu zentralen Argumentationsfiguren der Sozialisationstheorie aufweisen, und iiberdies Lockes generelle Art des Denkens veranschaulichen, sollen sie hier etwas breiter angefuhrt werden. Zunachst geht Locke auf das Argument ein, dass es sowohl spekulative (das heiBt theoretische) als auch praktische Prinzipien gabe, die von alien Menschen geteilt wiirden, und die daher auf ein Angeborensein verweisen. Logisch konsequent erwidert Locke darauf, dass eine mogliche allgemeine Ubereinstimmung allerdings keineswegs notwendig die These stutzt, es gabe angeborene Ideen, da die allgemein geteilten Prinzipien auch auf anderem Wege ihre allgemeine Zustimmung erfahren haben konnten. Empirisch demonstrativ erwidert Locke darauf, dass sich solchen Prinzipien, die sich allgemeiner Zustimmung erfreuen, zudem iiberhaupt nicht finden lassen, sondern vielmehr von einer Pluralitat verschiedenster Kulturen mit verschiedenen Prinzipien ausgegangen werden muss. Beide von Locke angeflihrten Gegenargumente wiirden beziiglich ihrer Struktur in ahnlicher Form von heutigen Sozialisationsforschem angeflihrt werden, wiirden sie mit der These konfrontiert, es gabe angeborene Ideen. Sie wurden darauf verweisen, dass sich zeigen liefie, dass allgemein geteilte Prinzipien iiber die verschlungenen Pfade von Sozialisation, Erziehung und Bildungsvermittlung ihre allgemeine Zustimmung erhalten haben. Und sie wiirden den empirischen Umstand anfiihren, dass sich gerade aufgrund der Heterogenitat der Sozialisationsverlaufe Prinzipien, die allgemein anerkannt werden, nicht auffinden lassen. 113
Und auch Lockes nachstes Gegenargument erinnert wiederum an das klassische Vorgehen der Sozialisationsforschung: Er fiihrt Kinder und Jdioten' an, die empirisch nachweisbar iiber jene Ideen, die als angeboren gelten, iiberhaupt nicht verfligen, obwohl sich bei ihnen die angeborenen Ideen am ehesten zeigen mtissten, ist doch ihre Verstandestatigkeit noch nicht (oder nur in einem geringen MaB) durch den Einfluss von Erziehung und Bildung dcnaturalisiert. Und gesctzt den Fall, sic verfugten doch iiber diese, wiirden sie aber aufgrund ihrer mangelnden intellektuellen Fahigkeiten nicht erkennen, so wiirde die Annahme angeborener Ideen widerspruchsvoll werden. „Wer behauptet, dass ein Begriff dem Geist eingepragt sei, und doch gleichzeitig versichert, der Geist kenne denselben nicht und habe ihn noch nicht bemerkt, der hebt diese Einpragung wieder auf." (Ebd.: 31) Und weiter: Wer behauptet, die angeborenen Ideen wurden erst durch eine sukzessiv wachsende Tatigkeit des Verstandes erkannt, der produziert den gleichen Widerspruch. Zwar erkennt Locke ganz im Sinne des spateren Piaget an, dass insbesondere abstrakte Prinzipien, - und die meisten als angeboren angenommenen Ideen waren abstrakte Prinzipien, - erst im Laufe der Ontogenese erworben werden. Dies sei aber kein zwingender Beweis der Annahme, diese Prinzipien seien angeboren, zumal sich Personen finden lassen, die auch im hoheren Alter die angeborenen Ideen nicht kennen wurden. Locke fiihrt also empirische Beweise an, um die These des Angeborenseins bestimmter Ideen zu widerlegen und wendet damit die von Descartes rehabilitierte Sinneserfahrung gegen dessen These von den angeborenen Ideen. Strukturell ahnlich wiirden Sozialisationstheoretiker (und selbstverstandlich die meisten ubrigen empirischen Forscher) heute argumentieren. Sie wiirden zu zeigen versuchen, dass es empirische Abweichungen von einer behaupteten These gibt, die logisch ausgeschlossen waren, wurde die These verifizierbar sein. Und dabei haben sie es ahnlich wie Locke durchaus auch immer noch mit solchen Theorien zu tun, die von angeborenen Fahigkeiten oder Begabungen ausgehen und damit eine biologisch fiindierte Anthropologic produzieren. Insbesondere gegen den Fall der Theorie angeborener Begabungen wurde dann etwa ganz im Sinne der Argumentationsfigur Lockes auf eineiige Zwillinge hingewiesen, die getrennt voneinander und in unterschiedlichen sozialen Umgebungen aufwuchsen, und die unterschiedliche Begabungen und Begabungsniveaus erreichten, was logisch aufgrund der angenommen Theorie angeborener Begabungen eigentlich ausgeschlossen werden musste. Sinngemafi ahnlich argumentiert Locke gegen die These angeborener praktischer (moralischer) Prinzipien. Und wiederum ganz im Sinne der Sozialisationstheorie versucht er dabei zu erklaren, wie es zu dieser These iiberhaupt kommen konnte. Er konstatiert, dass moralische Prinzipien (Einstellungsmuster) durch Erziehung (und Sozialisation) erworben werden. Im Laufe der Ontogenese verfestigen sich diese durch Gewohnheit zu Glaubensgrundsatzen, der urspriingliche Erwerb wird vergessen und schlieBlich erscheint es plausibel anzunehmen, sie seien angeboren. Wenngleich sich unter den Bedingungen einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft Einstellungsmuster wohl nicht mehr derart verfestigen, erkannte bereits Locke, dass sich Uberzeugungen, und dies gilt dann sowohl fiir theoretische wie auch fiir praktische, durch soziale Vermittlung im Akteur konstituieren, und beschreibt damit exakt die Basisannahmen jeglicher Sozialisationstheorie. Argumentationsstrategisch macht er damit gleichsam eine Metaebene der Erklarung auf, auf der nicht nur die Theorie des Angeborenseins verworfen, sondem die Entstehung dieser Theorie 114
zugleich durch seine (rudimentaren) sozialisationstheoretischen Uberlegungen miterklart wird. Er verweist, anders formuliert, die Theorie des Angeborenseins in den Kontext seiner eigenen Philosophic und nimmt ihr so den Rang der Eigenstandigkeit, die cine originare Erklarungskraft besitzen konnte. Dieses Vorgehen gegen die rationalistische Philosophic seiner Zeit bedurfte freilich einer theoretischen Begriindung. Im zweiten Buch seines „Versuches uber den menschlichen Verstand" stellt Locke daher seine eigene Erkenntnistheorie vor, die seine Argumentationsfigur des ersten Buches absichert. Er konstatiert, dass alle Menschen spezifische Ideen in ihrem Geist haben, das heifit alle Menschen denken, und er macht es sich zur Aufgabe, zu erklaren, wie die Menschen zu diesen Ideen gelangen. Nachdem er die These ihres Angeborenseins verworfen hat, und dies mit empirischen Hinweisen, lag es nahe, die Erfahrung zur Quelle der Ideen zu erheben: „Unsere Beobachtung, die entweder auf auBere sinnlich wahrnehmbare Objekte gerichtet ist oder auf innere Operationen des Geistes, die wir wahmehmen und iiber die wir nachdenken, liefert unserem Verstand das gesamte Material des Denkens." (Ebd.: 108) Unmittelbar relevant fiir das Subjektverstandnis des Empirismus nach Locke ist, dass das Subjekt im Gegensatz zum Rationalismus nicht qua Geburt uber spezifische Ideen verftigt, sondem ausschlieBlich liber die beriihmt gewordene ,Tabula Rasa', also iiber eine leere Tafel, die erst liber die sinnliche Erfahrung sukzessive mit Inhalten gefiillt wird. Wie aus dem Zitat ersichtlich, differenziert Locke in Bezug auf die sinnliche Erfahrung dabei zwischen zwei Wahmehmungsbreichen, die den Bereichen des cartesianischen Dualismus entsprechen. Die Sensation richtet sich auf die subjektunabhangige AuBenwelt und die Reflection auf die subjektinternen Erlebnisse, die als Denken, Wollen etc. qualifiziert sind. Das Subjekt der Erfahrung ist somit auf eine passive Rolle zuruckgeworfen. Wahrend es bei Descartes aufgrund der Vorrangstellung des rationalen Prozessierens gegenliber der Sinneserfahrung als aktives Erkenntnissubjekt gedacht worden war, gerat es im Empirismus in die Rolle des leidenden Subjekts: Es wird durch auBere Objekte und innere Zustande affiziert, die flir die Konstitution der Ideen im Verstand verantwortlich sind, ob dieses dies nun mochte oder nicht. Entsprechend, und auch dies rlickt Locke in die Nahe der modernen Sozialisationstheorie, ergeben sich unterschiedliche Erkenntnisbiographien (oder eben: Sozialisationsverlaufe), die durch die unterschiedliche Mannigfaltigkeit der affizierenden Objekte und den daraus resultierenden mannigfaltigen Verlaufen des Aufbaus des Ideenvorrats generiert werden, wobei gilt: Die Ideen, die der Reflection entspringen, werden spater erworben als die Ideen der Sensation, da erstere eine erhohte Aufmerksamkeit verlangen. Ahnlich hatte Jahrhunderte spater Piaget den Verlauf der Ontogenese beschrieben, da auch bei ihm eine Systematisierung des Denkens, also eine Reflexion auf die eigenen Verstandesoperationen, erst mit einem hoheren Alter erreicht wird. Die Passivitat des erkennenden Subjekts ist selbstverstandlich auch fur Locke keine absolute. Sie bezieht sich auf einfache Ideen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie nicht weiter zerlegt werden konnen, vielmehr als einheitliche Erscheinung erfahren werden. Beispiele, die Locke flir solche einfachen Ideen anflihrt, sind etwa Harte oder Kalte. Sie werden durch die Sensation erworben, und zwar passiv, das heiBt unabhangig vom Willen, und immer dann, wenn entsprechende Objekte die Sinne affizieren. Aktivitat entwickelt der Verstand erst, wenn er aus diesen einfachen Ideen komplexe Ideen erzeugt, das heiBt wenn 115
er die einfachen Ideen assoziiert. Dabei kann der Verstand zwar eine kreative Phantasie entwickeln, er kann jedoch nicht eine einzige einfache Idee als Material fur komplexe Ideen aus sich selbst heraus verursachen. Mit anderen Worten: Er kann surrealistisch die Welt neu zusammensetzen, die Elemente oder Rohstoffe, die er dabei verwendet, sind jedoch nur die, die liber die Sensation oder Reflection erfahren werden. Der Verstand kann die Welt zu seinem Zwecke ordnen, er kann ihr aber keine Erfahrungsinhalte hinzufiigen, die nicht bereits in dieser vorhanden sind und den Verstand affiziert haben. Es brauchen hier nicht die verschiedenen Aufzahlungen und Zusammenstellungen der einzelnen Ideen und ihrer Modi zu interessieren, die Locke in seinem „Versuch" anfiihrt, zumal diese ohnehin meist eher naturphilosophische Uberlegungen darstellen (siehe dazu Euchner 1996). Von nicht geringer Relevanz hingegen ist Lockes Differenzierung primarer und sekundarer Qualitaten, die bereits bei Descartes zu fmden war. Und ahnlich wie Descartes defmiert Locke die primaren Qualitaten als Ausdehnung, Festigkeit, Bewegung etc., also als die mathematischen Bestimmtheiten der Objekte und die sekundaren Qualitaten als Farbe, Geruch etc. also als die asthetisch-sinnlichen Erscheinungsformen der Objekte. Aus heutiger Sicht moglicherweise naiv anmutend stellt er die Frage, wie die Objekte nun die Ideen, die wir von ihnen haben, in unserem Verstand erzeugen konnen. Aus empiristischer Sicht, die von einem passiven Subjekt ausgeht, das durch Objekte affiziert wird, eine Frage, die Locke zweifelsohne beantworten konnen muss. Er nimmt dazu die Korpuskulartheorie in Anspruch und denkt sich die Ubertragung vom Objekt auf die Sinne bzw, den Verstand als einen vom Objekt ausgehenden Impuls, der die Nerven stimuliert und so die Ideen im Verstand hervorbringt. Bezliglich der primaren Qualitaten stellen die Ideen fiir Locke Abbilder der Objekte dar. (Descartes hatte immerhin behauptet, diese werden als einzige Qualitaten klar und deutlich erkannt.) Bezliglich der sekundaren Qualitaten hingegen geht Locke davon aus, diese seien keineswegs in den Objekten enthalten. Diesen bzw. den primaren Qualitaten inhariert lediglich eine Kraft, die die entsprechenden Sensations in uns bewirkt. „Abgesehen von den oben erwahnten primaren Qualitaten der Koper-GroBe, Gestah, Ausdehnung, Zahl und Bewegung ihrer festen Teile - sind alle ubrigen, durch die wir von den Korpern Notiz nehmen und sie voneinander unterscheiden, nichts anderes als eine Reihe von in diesen vorhandenen Kraften, die von den primaren Qualitaten abhangen, wodurch die Korper imstande sind, entweder unmittelbar auf unsere Korper einzuwirken und so eine Reihe verschiedener Ideen in uns zu erzeugen oder durch Einwirkung auf andere Korper deren primare Qualitaten so zu verandern, dass sie fahig werden, in uns andere Ideen als zuvor zu erzeugen." (Locke 1690/1988: 158) Es dlirfte vomehmlich dieses Postulat der Abbildhaftigkeit primarer Qualitaten sein, die Lockes Ruf als Abbildtheoretiker begrtindet hat. Denn wenngleich er in Bezug auf die sekundaren Qualitaten durchaus den rationalistischen Motiven entgegenkommt und ihre unmittelbare Erkennbarkeit leugnet, so fiihrt er letztlich doch auch diese auf einen subjektexternen Reiz zurlick, auf das Vermogen der primaren Qualitaten. Die Kraft (gemeint ist: Kausalitat) allerdings, die dabei (und in anderen kausalen Zusammenhangen) wirksam wird, so gesteht Locke seinem Nachfolger Hume den Weg bereitend freimlitig ein, konne nicht distinkt erkannt werden. Erkannt wird jeweils nur die Abfolge von Ursache und Wirkung.
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Obwohl Locke ein Bild des Erkenntnisprozesses zeichnet, das sich wesentlich durch die passive Abbildung von auBeren Objekten bestimmt, thematisiert er dennoch die flir den vorliegenden Kontext bedeutsame Frage der Willensfreiheit. Diese muss auf den ersten Blick innerhalb des empiristischen Paradigmas als triigerische Illusion und damit als nicht weiter behandelnswert erscheinen. Und tatsachlich kommt Locke auch schnell zu dem Ergebnis, dass allein die Frage nach einem freien Willen falsch gestellt ist. Er definiert Freiheit als die Macht, Ideen zu haben, die eine Handlung anregen (konnen). Da der Mensch jedoch im wachen Zustand immer irgendwelche Ideen prozessiert, besitzt er nicht die Freiheit zu denken oder nicht zu denken, also auch nicht die Macht, „worauf er erst einmal sein Denken richtet, zu wollen oder nicht zu wollen." (Ebd.: 294) Der Begriff der Freiheit, so Locke, lasst sich daher sinnvoll nur auf die Handlungsfreiheit, mithin auf politische Freiheiten, wie sie etwa von Locke selbst in seinen „Zwei Abhandlungen iiber die Regierung" (Locke 1690/1992) ausgearbeitet worden waren, beziehen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass Locke durchaus eine Form der Willensfreiheit einraumt. So gibt er einerseits zu bedenken, dass wir die Wahl haben, von einer Idee zu einer anderen Idee uberzugehen. Andererseits weist er darauf hin, dass einmal gefasste Wunsche unterbrochen werden konnen, so dass sie in den Prozess des Erwagens geraten. Durch diesen Aufschub erhah die Verstandestatigkeit die Moglichkeit einer Guterabwagung, also exakt jenen Freiheitsraum, der allgemein mit dem Terminus Willensfi-eiheit umschrieben wird. Selbstverstandlich treibt Locke seine Uberlegungen damit nicht bis zu einem Autonomieverstandnis vor, wie es spater in der kantischen Philosophic zu finden sein wird. Dennoch weicht er von einer strengen empiristisch-materialistischen Herangehensweise an das Problem der Willensfreiheit ab. Das Subjekt der Erkenntnis wird nicht auf einen bloBen Nachvollzug seiner passiv erworbenen Perzeptionen reduziert, sondem hat die Moglichkeit, diese a) assoziativ zu sortieren und b) diese kontrolliert in Handlungen zu tibersetzen. Das Ideenmaterial entnimmt es dabei wie bereits geschildert der Erfahrung. Wenngleich mit dem bisher geschilderten einige Konkretisierungen des Subjektiven, die sich mit Begriffen wie ,Tabula Rasa', Passivitat oder (eingeschrankte) Willensfreiheit umschreiben lassen, erkennbar wurden, blieb die Frage nach der Konstitution des Subjektiven aus der Sicht des Empirismus unbeantwortet. In dem rationalistischen Paradigma Descartes wurde das Subjekt als logische Deduktion aus der Methode des Zweifelns gewonnen. Da Locke mit seinem empiristischen Grundsatzprogramm das Vorgehen des Deduzierens aus hochsten Axiomen nicht teilen kann, muss er einen anderen Weg flir eine Bestimmung des Subjektiven finden. Konsequent empiristisch konstituiert sich das Selbstbewusstsein bzw. das Subjekt in der Lesart Lockes daher aus der Erfahrung oder genauer: aus der Reflection. Durch die Wahmehmung des eigenen Wahrnehmens, Denkens, Wollens usw. verobjektiviert sich das Subjekt und kann so selbst als Materialquelle fiir die Idee des Subjektiven fungieren. Im Ergebnis bestimmt Locke dann ahnlich wie Descartes die Subjektivitat bzw. das Selbstbewusstsein als Denken, das jeglichen Wahmehmungsakt begleitet, ist es doch flir Locke dieses Begleiten, das die Identitat (des Subjekts) ausmacht. Dies auch deshalb, weil er beziiglich der Erkennbarkeit von Substanzen skeptisch bleibt. Er postuliert zwar, dass wir ganz im Sinne des cartesianischen Dualismus davon ausgehen konnen, dass es, wie die Sensation zeigt, ausgedehnte und, wie die Reflection zeigt, denkende Substanzen gibt. Wir haben aber indessen keine klare und deutliche Idee von diesen. Substanzen sind flir 117
Locke komplexe Ideen, die auf ein ,Etwas' rekurrieren, das seinerseits weder durch die Sensation noch die Reflection erkannt werden kann, da diese nur einfache Ideen erfassen. Bezijglich des Subjekts bedeutet dies: Es gibt keine personale Substanz, die als metaphysisches Axiom dem Subjektiven zugrunde gelegt werden konnte. Es gibt einzig die Erfahrung, die sich auf ein verobjektiviertes Erfahren richtet und die im intellektuellen Nachvollzug der Ideen dieser Erfahrung die Idee der Subjektivitat ableitet. Daraus folgert innerhalb der Philosophic Lockes nicht, dass der menschliche Korper (als ausgedehnte Substanz) nicht einen entscheidenden Anteil an der Identitat des Subjekts hatte. Er wird zur Identifikation subjektiver Identitat operationalisiert. Er hat jedoch nicht den Anteil, den die Korper der unbelebten Natur an der Identitat der Objekte haben. Bei diesen, so Locke, fuhrt die Veranderung hinreichend groBer Teile der Materie zu einem Identitatswechsel. Bei Menschen hingegen bleibt die Identitat stabil, selbst wenn groBe Teile der Materie (des Korpers) einer Veranderung (z, B. Amputation) unterliegen. Mit dem Verzicht auf eine starke Riickftihrung des Identitatsproblems auf eine denkende (Rationalismus) oder ausgedehnte (Materialismus) Substanz reagiert Locke auf das heute kaum mehr aktuelle Problem der ,Seelenwanderung'. Die dabei diskutierte Frage war, ob ein Subjekt in verschiedenen Korpem das gleiche Subjekt bleibt oder nicht. Relevant fiir den vorliegenden Kontext ist dabei, dass Locke seinen Empirismus nicht zu einem radikalen Materialismus ausbaut und das Subjektive umstandslos substantialisiert. Die Identitat des Subjekts ist ftir ihn lokalisiert im Bewusstsein, das sich auf Vergangenes beziehen kann und so die je aktuelle Erfahrung des Erfahrens in eine Zeitunabhangigkeit bringt. Sie ist wesentlich eine personale Identitat, wobei der Begriff der Person explizit auf politische und juristische Kontexte Anwendung fmden soil, das heiBt als personale Zuschreibung von Meinungen und als Zuschreibung der Schuldfahigkeit. Aufgrund dieser Strategic kann er dann einen Vernunftbegriff in seinem Subjektverstandnis implementieren, obwohl dies aus empiristischer Sicht streng genommen nicht erwartet werden kann. Immanuel Kants These von der Vernunft als notwendigem Begriff zu Erklarung der Synthetisierung des Mannigfaltigen vorwegnehmend, behauptet Locke eine Funktionalitat der Vernunft, da das meiste Wissen aus Ableitungen resultiere, die eine entsprechende Instanz, das heiBt die Vernunft, notwendig voraussetze. Mit Lockes empiristischer Philosophic liegt nun insgesamt ein Gegenentwurf zum Rationalismus eines Descartes vor. Wahrend dieser bemuht war, ein allgemeines Prinzip fur eine auf die Deduktion verpflichtete Wissenschaft zu fmden, operationalisiert Locke mit der Erfahrung eine Wissensquelle, die die cartesianische Skepsis als sinnlos entlarvt. Entsprechend braucht Locke dann nicht mehr ein hochstes Axiom suchen, das die Skepsis auszuhebeln vermag. Er kann die subjektunabhangige AuBenwelt und die subjektive Innenwelt als Referenz ftir die Ideen und als Material ftir den intellektuellen Vollzug instruieren und so auf ein der Erkenntnis logisch vorgeschaltetes Subjekt verzichten. Zwar beschreibt Locke damit eher als Descartes den ,naiven' Alltagsverstand. Zwar kann er so die theoretisch notwendige Stellung Gottes, die dieser innerhalb der cartesianischen Philosophic eingenommen hatte, umgehen und auf diese Weise auf einen nicht-operationalisierbaren Begriff verzichten. Er produziert hingegen ahnlich wie die Intersubjektivitatstheorien einen logischen Zirkel, der seine Subjektvorstellung diskreditiert. Wenn das Subjekt sich durch die Wahmehmung des Wahrnehmens konstituieren soil, muss es schon Subjekt sein, um die 118
Wahrnehmung wahmehmen zu konnen. Anders formuliert: Das Erkennende und das Erkannte fallen bei Locke zusammen. Logisch aber muss es bereits ein Erkennendes geben, wenn etwas Erkannt werden soil. So wie Locke also mehrere Basisannahmen der Sozialisationstheorie teilt, teilt er auch deren methodisch-theoretisches Problem, Zu einer gehaltvollen Bestimmung des Subjektiven vermag Locke wenig beizutragen. Es bleibt unklar, wie sich die Konstitution des Subjektiven denken lasst, wenn diese erst mit dem Prozess des Wahmehmens einsetzen soil. So wie in der Intersubjektivtatstheorie das Subjekt gleichursprunglich auf die Sozialitat verwiesen war, ist das Subjekt Lockes gleichursprunglich auf die subjektunabhangige AuBenwelt (inklusive der Sozialitat) verwiesen. Es verfehlt die gesuchte Bedingung, logisch vor dieser zu liegen. Wie bei der Kritik des Intersubjektivtatsparadigmas nicht in Abrede gestellt worden war, dass die soziale Verflechtung des Einzelnen einen Einfluss auf den Sozialisationsprozess hat, wird mit dieser Kritik an Locke selbstverstandlich nicht dementiert, dass eine reflektierte Ich-Identitat im Verlauf der Entwicklung tatsachlich erst nach der Erkenntnis der AuBenwelt auftritt. Mit diesem Hinweis wird allerdings eine Form der Ich-Identitat bezeichnet, die synonym zu einem soziologisch-politischen Begriff der Individualitat eine spezifische Art des Selbstverhaltens und des Selbstverstandnisses bezeichnet. Das Menschen ihren Bezug auf die AuBenwelt reflektieren, das heiBt ihr Wahmehmen wahrnehmen, und daraus eine Ich-Identitat generieren, gibt keinen Aufschluss dariiber, wie sich die dem Wahmehmen zugrunde liegende Subjektivitat begreifen lasst. Es gibt einzig Aufschluss liber den empirischen Umstand, dass Menschen (im Laufe ihrer Entwicklung) die Fahigkeit entwickeln konnen (aber nicht zwangslaufig mussen), ihre Erfahrungen sich selber zuzuschreiben und mit Hilfe des Gedachtnisses daraus eine personliche Biographic abzuleiten, Wenn also mit Locke zwar auf eine Fundierung im Gottesbegriff verzichtet werden kann, verfehh er auf der anderen Seite eine eigentliche Bestimmung des Subjektiven, wie sie hier gesucht wird. Der Empirismus Lockes erweist sich so als theoriestrategischer Fortschritt und Riickschritt zugleich. Es ist daher nicht nur ein chronologisches Fortschreiten, wenn im Folgenden Gottfried Wilhelm Leibniz thematisiert wird, sondem auch ein Zuriickpendeln in den Rationalismus, der, wie bei Descartes gesehen, zu einer eigentlichen Bestimmung des Subjektiven mehr beizutragen scheint.
4.3. Die prdstabilierte Harmonie der Subjekte: Gottfried Wilhelm Leibniz Mit Gottfried Wilhelm Leibniz schlagt der Pendel allerdings nicht einfach nur zurlick in die Philosophic des Rationalismus. Er schlagt zuriick in die Philosophic eines Universalgelehrten, der in unterschiedlichen Disziplinen wie der Mathematik, der Physik, der Theologie und der Philosophic wirkte und dessen Werk sich durch ein Nebeneinander von Systematisierung und Zerstreuung auszeichnet. Die eingangs erwahnte Vorgehensweise, die einzelnen Autoren selektiv aufzuarbeiten, gilt daher nicht zuletzt aufgmnd der Themenvielfalt insbesondere flir Leibniz. Allein, insbesondere flir Leibniz gilt auch: Gerade bei ihm bietet sich ein selektiver und immer schon durch die hier zu verhandelnde Fragestellung verzerrter Zugriff deshalb an, weil so wesentliche Bestimmungen des Subjektiven konzentriert heraus destilliert werden konnen, die fur die Bezugnahme auf die Sozialisationstheorie 119
entscheidende Hinweise zu geben vermogen. Wie sich zeigen wird, lassen sich namlich, ahnlich wie bereits bei Locke, auch bei Leibniz argumentationslogische Parallelen zur Sozialisationstheorie, insbesondere zum Strukturfunktionalismus, zur schichtenspezifischen Sozialisationsforschung und zum Konzept der Selbstsozialisation, finden. Erkenntnistheoretisch setzt Leibniz die Tradition des Rationalismus fort. Dies bedeutet, er diskreditiert die Sinneserfahrung als unsichere Quelle von Wissen und inthronisiert die Verstandestatigkeit als Basis fur wahre Aussagen. Dies kommt auch bei Leibniz selbstverstandlich nicht einer absoluten Dementierung der Sinneserfahrung gleich, sondern schlagt sich etwa in dem Verweis nieder, dass die Wahrnehmungen ihre Deutlichkeit erst durch die Einbildungskraft erhalten, der die Aufgabe zukommt, die Sinnesinformationen zu vervollstandigen und diese auf der Basis von Gemeinsamkeiten zu integrieren (vgl. Mugani 1999). Dies schlagt sich aber vor allem in seinem beruhmten Diktum nieder: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi intellectus ipse (Leibniz 1703/1985: 103). Wahrend Leibniz mit dem ersten Teilsatz das Grundprinzip des Empirismus aufnimmt, verdeutlicht er mit dem Zusatz, dass es letztlich die Verstandestatigkeit ist, die aus sich selbst heraus zu wahren Aussagen flihrt. Ahnlich wie bei Descartes favorisiert daher auch Leibniz konsequenterweise nur jene mathematisch-geometrischen Wahrheiten als notwendige und ewige Wahrheiten, wahrend die Erkenntnisse der Sinneserfahrung grundsatzlich kontingent und undeutlich bleiben. „Demnach miissen wir Menschen in unserem Erkennen zweierlei als Prinzip oder als urspriinglich betrachten, zum einen das Prinzip der Identitat oder des Widerspruchs fur die notwendigen Vernunftwahrheiten, zum anderen die Erfahrungen als Basis unserer Tatsachenaussagen." (Liske 2000: 149; vgl. auch Leibniz 1684/1985) Bei der Bestimmung der Willensfreiheit wird dieser Differenz eine besondere RoUe zufallen. Entsprechend dem Programm einer intern operierenden Verstandestatigkeit nimmt Leibniz (1703/1985) gegeniiber Locke erneut die These auf, es gabe angeborene Ideen, die als Quelle die interne Verstandestatigkeit instruieren. Explizit bezieht er sich dabei auf Lockes „Versuch iiber den menschlichen Verstand" und der dort erfolgten Strategic, mit empiristischen Mitteln die These der angeborenen Ideen zu widerlegen. Allgemein fiihrt er dabei zwei wesentliche Argumentationslinien ein, die die empiristischen Einwande emst nehmen - Leibniz gesteht etwa durchaus ein, dass eine allgemeine Ubereinstimmung beziiglich einer Idee nicht eo ipso deren Angeborensein beweist - und dennoch zu iiberwinden trachten. Zum einen verweist er darauf, dass die angeborenen Ideen (z. B. geometrische Wahrheiten) den Subjekten keineswegs bewusst sein miissen bzw. dass diese erst im Laufe der Ontogenese erlemt werden, Locke hatte auf den Umstand verwiesen, dass bei Kindem (und spezifischen Erwachsenen) sich die als angeboren titulierten Ideen uberhaupt nicht finden lassen. Leibniz reagiert nun darauf, indem er diesen empiristischen Hinweis aufnimmt und sich gleichsam in eine Theorie des Unbewussten zuriickzieht. Er kann so den schwerlich zu widerlegenden Umstand, dass die als angeboren geltenden Ideen nicht umstandslos von alien Subjekten gewusst oder zu Anwendung gebracht werden, aufnehmen und zugleich an der These angeborener Ideen festhalten, indem er argumentationslogisch ahnlich wie Locke auf sozialisationstheoretische Annahmen rekurriert. Beide verwenden die generelle sozialisationstheoretische Argumentationsfigur, nach der die Subjekte erst im Laufe der Ontogenese, vermittelt durch Umwelteinfliisse, ein Bewusstsein generieren, das in der Lage ist, 120
spezifische Inhalte (Ideen) zu prozessieren, wobei die Ontogenese (auch bei Leibniz) in dem Sinne scheitem kann, dass einige Ideen uberhaupt nicht ins Bewusstsein gelangen. Leibniz verschiebt die Frage nach den angeborenen Ideen freilich auf eine Ebene, auf der sie aus der Perspektive des modernen (empiristischen) Wissenschaftsverstandnisses nicht mehr endgiihig zu beantworten ist. Wenn sich die angeborenen Ideen erst im Laufe der Entwicklung realisieren, konnen diese sowohl durch den Austausch mit der Umwelt (Objekte oder andere Subjekte) erworben worden oder tatsachlich angeboren sein. Anders formuliert: Wenn ohnehin nur von dem Ergebnis (Realisierung der Ideen) ausgegangen werden kann, kann die Frage nach ihrer Konstitution mit empirischen Mitteln nicht mehr einwandfrei entschieden werden. Denn selbst wenn sich zeigen lasst, dass bestimmte Ideen sich erst ab einem bestimmten Aher reaUsieren, kann sowohl behauptet werden, diese seien durch den Austausch mit der Umwelt erworben, als auch, sie seien immer schon im Verstand gewesen und wiirden erst spater bewusst werden. Aus der Sicht der heutigen Sozialisationstheorie wird damit hier bereits deutlich: Leibniz steht auf dem Boden der Metaphysik, wenn er annimmt, spezifische Bewusstseinsinhalte batten einen anthropologischen oder sogar ontologischen Status, der jenseits der Auseinandersetzung mit der Umwelt firmiert, Indessen fuhrt Leibniz zum anderen zusatzlich ein erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretisches Argument ein, das nicht auf den Pfaden der empiristischen Philosophie wandelt. Er postuliert, dass angeborene Ideen deswegen als angeboren gelten mussen, weil diese Ideen erst durch die Annahme ihres Angeborenseins als wahr bewiesen werden konnen. Uber die Sinneserfahrung konnten die notwendig wahren Urteile weder entwickelt, noch konnte ihre Wahrheit erwiesen werden, so dass diese Urteile erst dann bewiesen sind, wenn sie als angeboren angenommen werden. Mit diesem Argument verlasst Leibniz die Argumentationslogik Lockes und fuhrt genuin rationalistische Motive ein. Unabhangig von empirischen Umstanden ftihrt er die These der angeborenen Ideen ein, um wissenschaftstheoretisch flir geometrisch-mathematische Aussagen ein Begrundungsmuster finden zu konnen. SchlieBlich batten die Empiristen zugestehen mussen, dass diese Aussagen tatsachlich unabhangig und jenseits von empirischen Verhaltnissen angesiedelt sind. Dieses Zugestandnis nimmt Leibniz auf und griindet darauf seine These, der Verstand bringe diese Aussagen immer schon mit, so dass diese gleichsam als notwendiges Postulat oder als regulative Idee im kantischen Sinne zur Erklarung der mathematischen Wahrheiten fungieren. Fur eine Bestimmung des Subjekts tragt Leibniz mit diesen Ausftihrungen nun wenig bei. Die These angeborener Ideen war bereits bei Descartes aufgetaucht und dem Einwand Lockes, diese seien nicht zu belegen, kann aus moderner Perspektive zweifellos gefolgt werden, da ein derart inhaltliches Subjektverstandnis den Anspriichen an eine nachmetaphysische Theoriebildung nicht geniigen kann. Denn vor diesem Hintergrund operiert auch das von Leibniz vorgetragene zusatzliche Argument, mit der These der angeborenen Ideen lasse sich die wissenschaftstheoretische Lucke zur Deduktion der notwendigen Wahrheiten flillen, letztlich auf dem Boden der Metaphysik, so dass die These der angeborenen Ideen kaum flir eine erkenntniskritische Sozialisationstheorie fruchtbar gemacht werden kann. Leibniz bietet hingegen einen weiteren Theoriestrang, der flir die Problematisierung eines Subjektverstandnisses wesentliche Momente beisteuem kann: Die Monadologie (vgl. Leibniz 1714/1997). 121
Dieser liegen begrifflogisch zwei Prinzipien zugrunde, die zur der Auffassung eines vollstandigen Individualbegriffes fuhren: Die These, dass auBere Denominationen unzulassig sind und das principium identitatis indiscemibilium (vgl. Liske 2000: 64ff.; Zur naturphilosophischen Herleitung des Monadenbegriffes vgl. ebd.: 73 ff). Die These der Unzulassigkeit auBerer Denominationen entspringt der rationalistischen Wahrheitsauffassung, nach der wahre Pradikate im Begriff des Subjekts eingeschlossen sind und a priori erkannt werden miissen, um eben wahr zu sein. Mit dem principium identitatis indiscemibilium postuliert Leibniz, dass es keine zwei Entitaten geben kann, die sich durch keine Eigenschaft unterscheiden. Die Wirklichkeit ist vielmehr derart in sich differenziert, dass jede Entitat immer schon gegeniiber der Umwelt individualisiert ist. Mit diesem Postulat wird bereits die Uberschneidung mit der Systemtheorie Luhmanns erkennbar, die ebenfalls davon ausgeht, dass psychische Systeme sich bereits aufgmnd ihrer autopoietischen Operationsweise durch eine individuelle Stellung auszeichnen. In Verbindung mit der aristotelischen Substanzmetaphysik geht Leibniz nun davon aus, dass die Wirklichkeit letztlich aus unteilbaren und immateriellen Monaden besteht, die ihre ganze Biographic und die gesamte Wirklichkeit in sich enthalten. Als immaterielle Substanzen sind sie freilich hinter den Erscheinungen angesiedeh und erfullen auf diese Weise zunachst die von Geulen geforderte Bedingung. Leibniz fugt jedoch seinem Monadenbegriff weitere, problematische Bestimmungen hinzu. Zunachst ist festzuhalten, dass aufgmnd der oben genannten begriffslogischen Konstitution der Monadentheorie sich diese dadurch auszeichnen, dass alle Pradikate, die ihnen zukommen, in ihnen begrlindet sind und aus diesem abgeleitet werden konnen und dass keine zwei Monaden zu finden sind, die miteinander identisch sind. Als immaterielle Substanzen bezeichnen sie eine schopferische und aktivische Potenz, die als konstitutives Prinzip dem Subjekt zugmnde liegt. Ganz im Sinne Luhmanns sind sie operational geschlossen und somit selbstsozialisierend. Dies bedeutet, Veranderungen resultieren aus intemen Operationen, da keine anderen Substanzen Oder Akzidenzien den Monaden von auBen hinzugefiigt werden konnen. In der bertihmten Formuliemng von Leibniz lieBt sich dies so: „Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas ein- oder austreten konnte." (Leibniz 1714/1997: §7) Die Inhalte der Operationen der Monade bestimmt Leibniz mit dem Begriff Perzeption, wobei er diesen gegen die Apperzeption oder das Bewusstsein abgrenzt und damit einzig eine Abfolge von Bewusstseinsinhalten bezeichnet, die aber dem Subjekt nicht notwendig bewusst werden mtissen. Den Motor der Veranderung, also des Uberganges von einer Perzeption zu einer anderen, erblickt Leibniz im Trieb. Wahrend dieser Prozess also zunachst ein animalisches Niveau beschreibt, setzt die Entwicklung einer selbstbewussten IchIdentitat das Prozessieren der notwendigen Wahrheiten voraus. In einem gewissen Sinn formuliert Leibniz mit dieser entwicklungstheoretischen Annahme bereits die Grundlage fiir eine defizitorientierte Kompetenztheorie, die dann etwa in der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung dahingehend ausgebaut wurde, dass spezifische Milieus etwa durch ihren Sprachgebrauch Probleme haben, eine selbstbewusste Individualitat zu erreichen. SchlieBlich lasst sich das Prozessieren der notwendigen Wahrheiten iibersetzen als elaborierter Code (Bernstein), als eine selbstbestimmte Berufstatigkeit (Kohn) oder als eine soziale Umwelt, die durch anspmchsvolle Bildungsinhalte eine optimale Ontogenese anzuregen vermag (Bourdieu). 122
Erkenntnistheoretisch manovriert sich Leibniz mit seiner Bestimmung der Monaden in die gleiche Situation, in die Descartes mit seinem ,Cogito' geraten war. Wenn die Monaden in sich geschlossen bzw. fensterlos sind, wird unklar, wie sich ein Bezug auf die Welt realisieren lasst. Immerhin gesteht auch Leibniz ein, dass diese existiert, da sie im Erkenntnisakt als existierend erlebt wird. Nun windet sich Leibniz aus diesem Problem zunachst dadurch heraus, dass er die Representation der gesamten Wirklichkeit in der Monade stattfmden lasst. GemaB dem principium identitatis indiscernibilium folgt daraus allerdings nicht, dass samtliche Monaden die Wirklichkeit gleichermafien reprasentieren. Sie tun dies zwar der Potenz nach, realisiert wird jedoch immer nur eine spezifische Ansicht der Wirklichkeit, die Leibniz mit verschiedenen Perspektiven auf eine Stadt vergleicht. So wie eine Stadt aus alien Himmelrichtungen beobachtet werden kann, so dass sich diese fur die unterschiedlichen Beobachter unterschiedlich darstellt, so fokussieren auch die individuierten Monaden unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit, die jedoch in ihrer Gesamtheit fur alle Monaden gleich ist. Wiirde Leibniz bei dieser Strategic stehen bleiben, hatte er im kantischen Sinne den Weltbezug und die Intersubjektivitat durch die Begrifflichkeit einer transzendentalen Subjektphilosophie begriindet. Allen Subjekten kommen a priori die gleichen Erkenntnisfahigkeiten und die gleichen Begriffe zur Strukturierung der Erkenntnisse zu, so dass trotz der Abgeschlossenheit der Monaden eine intersubjektive Ubereinstimmung und eine Ubereinstimmung der kognitiven Strukturen mit der Wirklichkeit garantiert ist. Leibniz vollzieht hingegen noch nicht die transzendentale Wende, sondern stellt seine Monadentheorie in den Rahmen einer theologisch ausgerichteten Metaphysik, die wiederum Gott als Referenz flir den Weltbezug instrumentalisiert (vgl. auch Kaehler 1999). Das eigentliche Hauptthema seiner Theodizee (Leibniz 1710/1985) ist der Versuch, zu begriinden, wieso trotz des Umstandes, dass Gott, der grundsatzlich vernunftgesteuert agiert, die beste aller moglichen Welten geschaffen hat, und diese dennoch eine Unzahl an Leid und Siinden zulasst. Die einzelnen Argumente, die Leibniz dabei vortragt, brauchen an dieser Stelle nicht zu interessieren (vgl. dazu Schneiders 1997). Relevant flir den vorliegenden Kontext sind allein seine Ausfuhrungen zum Problem der Freiheit und der prastabilierten Harmonic. Da die Monaden unteilbar und immateriell sind, konnen sie nur in einem Zug geschaffen und vernichtet werden. Diese Schopferaufgabe kommt dem leibnizschen Zeitgeist entsprechend Gott zu, der auf diese Weise zur einzigen Entitat auBerhalb der Monaden wird, die zugleich einen Einfluss auf die Gestaltung der Monaden hat. Aufgrund der Wahl der besten aller moglichen Welten, ist diese nun bis ins kleinste Detail durch die Schopfertatigkeit Gottes determiniert und damit auch die Monaden. Sie fiigen sich in die Komposition Gottes an genau dem Platz ein, an dem sie von Beginn an vorgesehen waren. Die These, dass die Monaden ihre gesamte (also auch zukiinftige) Biographie in sich selber enthalten, bekommt so den Beigeschmack eines radikalen Determinismus. Abweichende Handlungen von dem Plan Gottes wiirden sein Werk nicht nur zerstoren, sie wiirden die Wahl der besten aller moglichen Welten aufheben, die schlieBlich nur dadurch zur besten aller Welten wird, dass alles seinen von vomherein geregelten Weg geht. Es braucht kaum erwahnt zu werden, dass Leibniz mit diesen Ansichten eine Nahe zur calvinistischen Pradestinationslehre erreicht. Ein wesentlicher Aspekt der Determination ist nun, dass Gott die Wirklichkeit in Form einer prastabilierten Harmonic eingerichtet hat. Dies bedeutet erstens, dass die kognitiven 123
Strukturen der Monaden sich kongruent zur Wirklichkeit verhalten, Gott also den Weltbezug der Monaden, ahnlich wie bei Descartes, garantiert. Zweitens bedeutet dies, dass der intersubjektive Austausch - in der Terminologie Luhmanns formuliert: die Interpenetration der Monaden - seinerseits unter der Pramisse der prastabilierten Harmonie ermoglicht wird, so dass die Monaden zwar fensterlos bleiben, aufgrund ihrer auBeren Determination sich jedoch reziprok verhalten. Beispielhaft illustriert Leibniz dies an zwei Uhren, die durch den gleichen Uhrmacher (Gott) konstruiert und aufgezogen werden, so dass sie unabhangig voneinander funktionieren und dennoch immer die gleiche Zeit anzeigen. SchlieBlich bedeutet die prastabilierte Harmonie drittens, dass Leibniz das Problem des Leib-SeeleDualismus gegenuber Descartes modifizieren kann. Der Korper und der Geist bzw. das Bewusstsein sind streng voneinander getrennt, eine gegenseitige Beeinflussung ist kategorisch ausgeschlossen. Anders als bei Descartes unterscheiden sie sich allerdings nicht durch die Differenz von geistiger und ausgedehnter (materieller) Substanz. In gewisser Weise kommt alien Entitaten, dem Mensch genauso wie dem Stein, die Eigenschaft zu, ,beseelt' zu sein, so dass der Unterschied zwischen ihnen nur gradueller Natur ist. Aufgrund der prastabilierten Harmonie nun stimmen die Prozesse des Geistes grundsatzlich mit denen des Korpers iiberein, so dass der Geist zwar auf den Korper nicht in der direkten Form einer neuronalen Steuerung einwirkt, seine Intentionen (z. B. sich erheben) aber durch die prastabilierte Harmonie im Korper gleichzeitig prozessiert werden. Die Synchronisierung von Bewusstseinszustanden und korperlichen Handlungen wird also von auBen durch Gott geregelt und ermoglicht. Sozialisationstheoretisch riickt Leibniz damit in die Nahe des strukturfunktionalistischen Ansatzes von Emile Durkheim. Zwar hatte sich dieser nicht die Frage gestellt, wie Bewusstsein und Korper integriert werden konnen, oder wie eine intersubjektive Bezugnahme moglich wird. Sein ordnungspolitisches Denken setzt jedoch an jener Individuierung an, die Leibniz durch seine Monadenlehre bereits als anthropologisches Axiom gesetzt hatte und die im Zuge der ftanktionalen Differenzierung schlieBlich soziologisch beobachtet werden kann und neue Formen der Integration notwendig macht. Fiir Durkheim, der bereits unter der Agide einer sakularisierten Gesellschaft denkt, iibemimmt freilich nicht mehr Gott die Aufgabe, jene partikularisierten Individuen (und Berufsgruppen) aufeinander zu beziehen, sondern die Gesellschaft - der allerdings auch bei Durkheim gleichsam noch gottahnliche Akzidenzien zugeschrieben werden, wenn er diese etwa als Ursprung des religiosen Denkens begreift. Die Thematisierung von gesellschaftlich angeleiteter Sozialisation und Erziehung hat bei ihm schlieBlich gerade den Zweck, jene durch die kulturelle Homogenitat der Feudalgesellschaften induzierte „prastabilierte Harmonie" unter dem Vorzeichen eines Individualisierungsprozesses zu reaktualisieren. Und ahnlich wie Durkheim sich das Problem einhandelt, individuelle Freiheit nicht mehr hinreichend in den Blick zu bekommen, hat auch Leibniz in verscharfter Form das Problem, die Freiheitspotentiale des Subjekts zu begriinden. Wenn die gesamte Geschichte, und damit die Biographic jeder einzelnen Monade, durch Gottes Schopfungsakt determiniert ist, konnen die Subjekte nicht anders, als sich gemaB der gottlichen Ordnung und Vorhersehung zu verhalten. Leibniz selbst scheint mit dieser Konsequenz aus seinem Denken nicht einverstanden gewesen zu sein, und hatte sich daher bemiiht, die Determination mit subjektiver Freiheit zu vermitteln. Er greift dazu auf die Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten zurlick und behauptet: Gottes Wahl der besten aller mogli124
chen Welten ist keine Wahrheit, der der Status der Notwendigkeit zukommt. Er hatte auch eine weniger optimale Welt wahlen konnen. „Obgleich Gott [...] mit Sicherheit immer das Beste wahlt, so hindert das nicht, dass das, was weniger vollkommen ist, an sich moglich ist und bleibt, obwohl es nicht eintreffen kann, denn nicht seine Unmoglichkeit, sondem seine Unvollkommenheit macht, dass es zuruckgewiesen wird." (Leibniz 1686/1985: 91) Aus der Sicht einer liberalisierten Gesellschaft und eines entsprechenden Selbstverstandnisses des Subjekts, vermag diese Argumentationsfigur freilich nicht zu iiberzeugen. Vielmehr soil sich die subjektive Freiheit auch darauf erstrecken, das Unvollkommene zu wahlen. Leibniz selbst weii3 um den Umstand, dass Menschen dies aufgrund ihrer Leidenschaften auch tatsachlich tun. Aufgrund seiner generellen Pramisse, Gott habe die gesamte Geschichte bereits geplant, sind solche Abweichungen vom Vollkommenen jedoch ihrerseits determiniert. Es bleibt daher unverstandlich, aus welchem Grund die Moglichkeit das Unvollkommene wahlen, dies aber nicht tun zu konnen, als Begriff der Freiheit fungieren konnen soil. Mit Leibniz wird also eine Position markiert, die das Subjekt zwar einerseits logisch vor seiner Einbindung in die soziale und materielle Wirklichkeit ansiedelt, es aber zugleich im Rahmen einer theologischen Verortung in der Schopfung Gottes mit dem Pradikat der Determiniertheit beschreibt und damit die logische Vorrangstellung vor der Wirklichkeit wieder aufhebt. Wiederum wird Gott zu einem Garanten fur den Weltbezug des Subjekts, das als fensterlose Monade diesen Bezug aus sich selbst heraus nicht herstellen kann. Leibniz fallt damit einerseits hinter den von Locke erreichten Diskussionsstand zuriick. Andererseits verstrickt er sich bei der begrifflichen Bestimmung des Subjektiven nicht in derartige Widerspruche, die Locke aufgrund seiner empiristischen Konzeption provozierte. Aus der Frontstellung zwischen Leibniz und Locke ergibt sich damit das Paradox, dass die rationalistische Strategic zwar einen widerspruchsfreien Subjektbegriff entwickeln kann, der jedoch Zusatzannahmen erfordert, die dem Anspruch an eine postmetaphysische Theoriebildung nicht stand halten konnen, und die empiristische Strategic zwar auf metaphysische Zusatzannahmen verzichten kann, dafiir aber den Preis bezahlt, ein widerspruchsfreies Subjektverstandnis gar nicht erst entwickeln zu konnen. In einem gewissen Sinne hat sich allerdings die empiristische Tradition diesem Dilemma gestellt und mit George Berkeley und David Hume versucht, einen Ausweg zu finden.
4.4. Das immaterielle Subjekt: George Berkeley Aus der Problemstellung der theoretischen Bestimmung des Subjektiven heraus, liest sich George Berkeley auf den ersten Blick als ein radikaler Denker, der mit seinem Ansatz des Immaterialismus scheinbar die Tradition des Skeptizismus auf die Spitze treibt. Seine Aufgabe des Materiebegriffes rlickt ihn in die Nahe einer philosophischen Denkrichtung, die davon ausgeht, dass es nichts gibt und somit nichts entschieden werden kann. Und zweifelsohne beraubt Berkeley dem Alltagsdenken mit der Materie eine Referenz, die nicht nur Impulse fur eine intellektuelle Entwicklung beisteuem kann, sondern die vor allem als Richtschnur fur die objektive Beantwortung strittiger Fragen zur Verfiigung stehen soil.
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Dennoch besteht er darauf, gerade nicht die Tradition des Skeptizismus oder Nihilismus zu tradieren, sondem, ahnlich wie bereits Descartes, diese uberwunden zu haben. In seiner zentralen Schrift, „Eine Abhandlung iiber die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis" (Berkeley 1710/1979), beginnt Berkeley zunachst gut empiristisch, wenn er davon ausgeht, dass alle Inhalte der menschlichen Erkenntnis entweder durch die Sinne eingepragte Ideen sind oder Ideen, die durch das Gedachtnis und die Einbildungskraft gebildet werden. Neben den Erkenntnisobjekten bzw. Ideen existiert flir Berkeley ein „Ich", das von jenen grundverschieden ist, und von dem die Ideen und Erkenntnisobjekte perzipiert werden. Mit dieser Differenz setzt Berkeley die klassische Subjekt-Objekt-Situation an den Anfang seiner Uberlegungen. In einem gewissen Sinne nimmt er sie allerdings in einem zweiten Schritt wieder zurtick, wenn er argumentiert, dass die Ideen oder Erkenntnisobjekte nur in einem sie perzipierenden Verstand existieren konnen oder mit den beriihmten Worten Berkeleys: Esse est percipi aut percipere. Es ist flir Berkeley eine notwendig wahre Aussage, dass die Objekte der Erkenntnis nicht unabhangig von einem sie perzipierendem Subjekt existieren konnen. Er setzt sich damit von dem materialistischen Empirismus eines Locke ab und gibt diesem eine idealistische Wende. Nicht mehr die subjektunabhangige AuBenwelt dominiert den Erkenntnisprozess, sondem das erkennende Subjekt selbst wird in einem starken Sinne zur Bedingung der Moglichkeit von Erkenntnis einerseits und der Existenz der Realitat andererseits. Aber nicht nur die empiristische Position Lockes wird mit dieser Begriffsstrategie aufgegeben. Auch der Rationalismus eines Descartes etwa wird durch diese radikalisiert. Wahrend dieser zwar dem Subjekt eine prominente Rolle gegeniiber der Umwelt zugeschrieben hatte, dehnt Berkeley diese Rolle dahingehend aus, dass er die Annahme einer AuBenwelt vollstandig destruiert. Das Erkenntnissubjekt greift, vermittelt durch seine kognitiven Begriffe, nicht nur selektiv auf die AuBenwelt zu. Es avanciert in den Rang, die einzig annehmbare Existenz und damit seine eigene AuBenwelt zu sein. Fiir die Objekte der Erkenntnis bedeutet dies, dass ihre Realitat sowohl beziiglich ihrer primaren als auch ihrer sekundaren Merkmale nur in dem Sinne angenommen wird, dass sie in einem subjektiven Verstand prozessiert werden. Entsprechendes gih dann selbstverstandlich flir jene mathematischphysikalischen GroBen wie Bewegung oder Ausdehnung. Philosophisch begriindet'^ wird diese Position des Immaterialismus mit dem Hinweis darauf, dass es nur zwei Moglichkeiten der Kenntnisnahme einer subjektunabhangigen Wirklichkeit gibt, die beide als unplausibel zuriickgewiesen werden. Zum einen konnten die Sinneserfahrungen Auskunft iiber eine solche Wirklichkeit geben. Berkeley verweist allerdings darauf, dass selbst die Materialisten eingestehen, dass uber die Sinne nur die Sinnesempfindungen oder Ideen unmittelbar wahrgenommen werden, nicht aber eine unabhangige AuBenwelt. Zum anderen konnte eine rationale Deduktion die Erkenntnis einer AuBenwelt vermitteln. Fur Berkeley gibt es jedoch keine Deduktion, die eine solche Schlussfolgerung ermoglichen wiirde, zumal aufgrund des zuerst genannten Einwandes eine Verbindung zwischen dem Subjekt und der AuBenwelt nicht angenommen werden kann. Der Begriff einer subjektunabhangigen Materie steht damit in dem Verdacht eines metaphysischen Begriffes, da er weder durch die Empiric noch durch eine rationale Vemunfttatigkeit aus12 Zur theologischen Riickbindung des Immaterialismus vgl. Breidert (1997).
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zuweisen ist. Fur Berkeley bedeutet dies, der Begriff der Materie ist sinnlos bzw. uberfliissig, da er zur Klarung des Erkenntnisprozesses nichts Substantielles beitragen kann. Noch deutlicher wird diese Schlussfolgerung in seinen „Drei Dialogen zwischen Hylas und Philonous" (Berkeley 1713/1955), in denen Berkeley bemuht war, seine Philosophie durch die literarischen Form des Dialoges der Leserschaft verstandlicher zu machen, Dort prasentiert er einen philosophischen Opponenten, der als Verfechter des Materiebegriffes eingefuhrt wird, und der Berkeley in Person des Philonous vorwirft, dem Skeptizismus in die Hande zu spielen. Berkeley argumentiert gegen diesen Vorwurf bzw. den Materialismus zwar unter anderem mit der klassisch-skeptitizistischen Strategie, die Sinneswahrnehmung als irrtumsanfallig zu diskreditieren, treibt aber den Diskussionsstrang immer wieder dahin, zu demonstrieren, dass die einzelnen Eigenschaften, die iiblicherweise den Objekten zugeschrieben werden, einzig im Verstand existieren konnen und dass gerade die materialistische Position sich in Widerspriiche verstrickt, die dem Skeptizismus breite Einfallstore bieten, wenn sie am Materiebegriff festhalt. Denn Berkeley begniigt sich nicht damit, die Materie als unerkennbar zu destruieren. Auch ein mogliches begrifflogisches Festhalten am Begriff der Materie kritisiert er, da ein solcher Begriff entweder auf nichts referiert und somit nutzlos sei, oder aber eben in sich widersprtichlich wird, wenn er behauptet auf etwas zu referieren, was (selbst nach materialistischen Zugestandnis) aufgrund des Erkenntnisprozesses nicht erkannt werden kann, aber vor dem Hintergrund des Materialismus eigentlich erkannt werden konnen mtisste. Natlirlich war sich Berkeley des Umstandes bewusst, dass er sich mit dieser Philosophie jenseits des Alltagsdenkens und jenseits bedeutender Teile der Geistesgeschichte positionierte. Eine besondere Bedeutung kommt daher in seiner Schrift liber die menschliche Erkenntnis dem Versuch zu, mogliche Einwande gegen seinen Immaterialismus zu entkraften. Der wohl gewichtigste Einwand gegen den Immaterialismus diirfte die Frage sein, ob durch diesen nicht die Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit verschwinden miisse. Berkeley jedoch macht geltend, dass er mit uneingeschrankter Gewissheit davon ausgeht, dass die Erkenntnisgegenstande tatsachlich existieren. Gerade gegen den Materialismus, der seine subjektunabhangige Materie nicht erkennen und erklaren kann, postuliert Berkeley, sich seiner Ideen vollkommen sicher zu sein, und keineswegs zu zweifeln, dass jene Gegenstande, die er perzipiert, tatsachlich vorhanden sind, wenn auch nur in seinem Geist und nicht in einem absoluten Sinne. Dennoch - oder gerade deswegen - kann er diese entsprechend dem pragmatischen Alltagsvollzug oder entsprechend einer wissenschaftlichen Methodik untersuchen und sich ihre Eigenschaften nutzbar machen. In seinen „Dialogen" lasst er sein alter ego Philonous resumieren: „Ebenso wie ich kein Zweifler bin in Hinsicht auf die Natur der Dinge, bin ich es auch nicht, was ihr Dasein anlangt. Dass ein Ding wirklich durch meine Sinne wahrgenommen werden und zu gleicher Zeit nicht wirklich da sein sollte, ist fur mich ein offener Widerspruch; denn ich kann, selbst in Gedanken, das Dasein eines sinnlichen Dinges von seinem Wahrgenommenwerden nicht abtrennen noch absondem."(Ebd.: 141) Mit diesem Zitat wird nochmals deutlich, wie Berkeley seine Uberwindung des Skeptizismus verstanden wissen mochte. Seine immaterialistische Position, die sich nicht auf eine unerkennbare Materie erstreckt, braucht an den Sinneseindriicken nicht zu zweifeln, da die Frage nach ihrer Referenz und damit nach ihrem Wahrheitsgehalt (bzw. ihrer Ubereinstim127
mung mit den auBeren Gegenstanden) gar nicht erst gestellt wird. Er umgeht damit den Skeptizismus, indem er ihn, ahnlich wie Descartes, an seinen eigenen Homem packt, das heiBt seine starken Argumente nachvollzieht und gerade daraus den Schluss folgert, es gabe keinen Grund an der Existenz der Dinge und damit an der Entscheidbarkeit strittiger Fragen zu zweifeln, da dies bedeuten wiirde, an der Gewissheit der je eigenen Perzeptionen zu zweifein, was die Moglichkeit des Zweifels selbst erodieren lassen miisste. Zum anderen wird an diesem Zitat aber auch deutlich, inwiefern Berkeley die empiristische Ausgangssituation des Subjekt-Objekt-Verhaltnisses nur in einem gewissen Sinne zuriicknimmt. Zwar lokalisiert er dieses Verhaltnis in einem rein geistigen Prozessieren, dennoch bleibt sie der entscheidende Motor, der den Erkenntnisprozess antreibt. Das Subjekt ist keineswegs als solipsistisches gedacht, das in der Lage ware, seine Wirklichkeit frei zu phantasieren. Naturlich kommt dem menschlichen Verstand die Fahigkeit zu mit Hilfe der Einbildungskraft Chimaren zu produzieren. Diese konnen jedoch nicht jenen Status von Erkenntnisobjekten erreichen, der mit einer Existenz verbunden ware. Der MaBstab fiir die Entscheidung, ob etwas ein Produkt der Phantasie ist, oder ob im Sinne Berkeleys an der Existenz von Ideen nicht gezweifelt werden kann, liegt dabei freilich nicht in einer subjektunabhangigen Materie, sondern im Subjekt selbst. „Aber fiktiv - getraumt, eingebildet, bloB vorgestellt - ist etwas nicht darum, weil es mit einer vermeintlichen an sich existierenden Wirklichkeit nicht tibereinstimmt, sondern darum, weil es nach unseren internen Richtigkeits- und Stimmigkeitskriterien, den einzigen die wir haben konnen, nicht in unser Bild der Welt passt." (Kulenkampff 1987: 111) Wenn nun aber das Subjekt keineswegs die Wirklichkeit phantasiert, und wenn, wie Berkeley freimutig eingesteht, die Perzeptionen keineswegs frei gewahlt werden konnen, ergibt sich die Frage, wieso das Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort bestimmte Ideen prozessiert und nicht andere. Das Subjekt kann nicht wahlen, andere Gerausche als Musik zu vernehmen, wenn es ein Konzert besucht. Es kann nicht wahlen, eine anschauliche Gebirgskette zu sehen, wenn es vor dem Schreibtisch sitzt. In der materialistischen Tradition gait, wie schon thematisiert, der Begriff der Materie als die Quelle und Veranlassung unserer Perzeptionen. Will Berkeley an der empiristischen Grundsituation festhalten, muss er einen Ersatz fLir diesen Begriff fmden, den er so riickhaltlos aufgegeben hat. Wie bereits seine rationalistischen Vorganger erblickt er diesen Ersatz in Gott. Dieser ist die einzige Entitat, die unabhangig vom Subjekt existiert und in der die Subjekte existieren. Und da auch die Gegenstande der Erkenntnis in Gott existieren, existieren sie auch dann, wenn der menschliche Verstand diese nicht perzipiert, da sie dann von Gott perzipiert werden. Gegenuber der Vorstellung einer subjektunabhangigen Materie hat nun, Berkeley zufolge, Gott vor allem den Vorteil, aus der Selbstwahmehmung abgeleitet werden zu konnen, so dass an seiner absoluten Existenz, und damit dann auch an der Gewissheit der je eigenen Perzeptionen, nicht gezweifelt werden kann. Die Selbstwahmehmung verbiirgt indessen nicht nur die Existenz Gottes, sondern auch die je eigene Existenz. Nach Berkeley ist das Subjekt als eine geistige Substanz zu denken von der zwar keine Vorstellung zu haben ist, von der aber ein Begriff gewonnen werden kann. Sie ist dabei nicht identisch mit den Vorstellungen, die ein Subjekt perzipiert. Vielmehr gilt sie als ein geistiges, tatiges Prinzip, das sowohl die Erkenntnisakte als auch die Willenakte anzuleiten vermag. Allein, durch die Lokalisierung des Subjektes in Gott droht 128
Berkeley, sich das Problem einzuhandeln, zwischen einem aktiven Verstandnis und einem passiven Verstandnis dieses Prinzips zu oszillieren, ohne eine eindeutige Position beziehen zu konnen. Berkeley betont an mehreren Stellen, dass der Unterschied zwischen den Gegenstanden der Perzeption und der perzipierenden geistigen Substanz genau jener zwischen Passivitat und Aktivitat ist. Wenn aber Gott die Quelle unserer Perzeptionen ist, wie ist dann das Verhaltnis zwischen beiden Polen zu konzipieren, oder anders gefragt: Wie weit greift Gott in unsere Perzeptionen ein? Da aus nachmetaphysischer Sicht der Gottesbezug ohnehin nicht uberzeugen kann, braucht diese Frage hier nicht detailliert verfolgt zu werden. Robert McKim weist allerdings wohl zurecht darauf hin, dass schlussendlich „the Berkeleian mind is active in sense-perception" (1989: 343) Gott veranlasst oder besser: ermoglicht zwar unsere Perzeptionen, dennoch ist der Verstand aktiv beteiligt, da z. B. gilt: „We can voluntarily arrange the circumstances in which our sensations are received." (ebd.: 336) Insgesamt nun reagiert der ,Empirist' Berkeley in radikaler Weise auf das Problem, dass aus der Erfahrung kein Subjektverstandnis gewonnen werden kann, dieses vielmehr logisch vor jeglicher Erfahrung anzusiedeln ist, indem der ,Idealist' Berkeley den Materiebegriff aus dem Kontext der Erkenntnistheorie herauslost und letztlich nur das isolierte Subjekt librig bleibt. Er erfullt damit das gesuchte Postulat einer Subjektbestimmung, die vor ihrer Einbindung in die Umwelt lokalisiert ist. Das Subjekt, wie es im Anschluss an Berkeley zu denken ist, ist auf die formale Instanz eines aktiven Prinzips oder eines immateriellen Subjekts zurtickgenommen. Da der ,Empirist' Berkeley aber generell an der Subjekt-Objekt-Situation festhalt, benotigt er ein Substitut fur die Objektseite bzw. flir den Materiebegriff, das unter nachmetaphysischen Bedingungen nicht akzeptiert werden kann. Dem Subjekt Berkeleys verbleiben durch seine Einbeziehung in Gott zwar einerseits seine aktiven Potentiale, indem es den Erkenntnisprozess willentlich steuem und beeinflussen kann. Es verliert jedoch seinen Status, logisch vor seiner Umwelt konzipiert zu sein und gerat gleichzeitig in eine eigentlimliche Passivitat. Um zu rehabilitieren, was durch den Verzicht auf die Materie suspendiert worden war, verstrickt Berkeley das Subjekt in die Abhangigkeit zu einer machtigeren geistigen Instanz. Aus einer groben Betrachtung heraus lieBe sich formulieren: Berkeley repetiert das ordnungspolitische Denken der Tradition Hobbes, indem er das Subjekt zunachst von den Einfliissen einer materiellen und symbolischen Umwelt befreit, die Befreiung allerdings selbst furchtet und sie daher in einem zweiten Schritt wieder einschrankt. Dennoch kann festgehalten werden: Berkeley zieht aus dem Dilemma, zwischen den Altemativen einer widerspriichlichen Subjektbestimmung und einer metaphysischen Uberhohung des Subjekts zu stehen, die Konsequenz, das Subjekt zwar weiterhin aus dem Erkenntnisprozess abzuleiten (Empirismus), dabei aber die Moglichkeit anzudeuten, den Erkenntnisprozess selbst nicht in Form einer Abbildtheorie zu beschreiben, der der Subjekt-Objekt-Dichotomie aufsitzt, sondem, wird von Gott abgesehen, als Prozess der Realitatserzeugung (Rationalismus). Das Subjektverstandnis, das Berkeley damit nahe legt und das Kant schliefilich konsequent ausformulieren wird, ist eine begriffslogische Deduktion, die das aktive Subjekt als notwendige Instanz im Erkenntnisprozess begreift. Bevor jedoch die kantische Philosophic
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diskutiert wird, soil jener Philosoph Beriicksichtigung finden, der, wie Kant selbst einraumt, dessen Philosophie wesentlich mitvorbereitet hat: David Hume.
4.5. Subjekt aus Gewohnheit: David Hume Mit David Hume wird nicht nur einfach die Reihe der angelsachsischen Empiristen fortgesetzt. Mit David Hume wird die Frage nach dem Subjekt auf einen skeptischen Hohepunkt getrieben, um sie dann in pragmatischer Weise wieder fallen lassen zu konnen. Anders als Berkeley zielt die Skepsis eines Hume nicht nur auf die Erkennbarkeit der AuBenwelt, sondern auch auf die Existenz des je Subjektiven. Anders als Berkeley verzichtet Hume allerdings darauf, die Stabilisierung der AuBenwelt und des Subjektiven Gott zu iiberantworten, indem er mit der Gewohnheit auf den pragmatischen Alltagsverstand setzt. Zunachst jedoch beginnt auch Hume (1739/1989) im Sinne der empiristischen Tradition. Er unterscheidet zwischen Eindrticken (Impressions) und Vorstellungen (Ideas), die die Perzeptionen (oder Bewusstseinsinhalte) des menschlichen Verstandes ausmachen. Impressions sind dabei jene unmittelbaren Wahrnehmungsinhalte, die iiber die Sinne vermitteh werden, wobei Hume ahnlich wie Locke zwischen einer auBeren (Sensation) und einer inneren Sinneswahmehmung (Reflexion) differenziert. Ideas dagegen sind die Abbilder der Impressions, die durch die Geistestatigkeit z. B. in Form der Einbildungskraft erzeugt werden. Der kategoriale Unterschied zwischen beiden Arten von Bewusstseinsinhalten liegt fiir Hume in der Heftigkeit, mit der diese dem Bewusstsein gegenwartig werden. Beide Arten hingegen unterteilt Hume nochmals in einfache und zusammengesetzte Perzeptionen. Erkenntnistheoretisch bedeutsam ist dabei, dass Hume eine Korrelation zwischen einfachen Impressions und einfachen Ideas behauptet - diese hingegen in Bezug auf zusammengesetzte Perzeptionen relativiert - aus der sich die zentrale These des Empirismus ergibt, die Hume in dem allgemeinen Satz zusammenfasst, „dass alle unsere einfachen Vorstellungen bei ihrem ersten Auftreten aus einfachen Eindrticken stammen, welche ihnen entsprechen und die sie genau wiedergeben." (Ebd.: 13) Damit bringt Hume in modifizierter Form das Credo des Empirismus: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, auf den Punkt. Bewusstseinsinhalte resultieren letztlich immer aus Sinneseindriicken, wenngleich durch die Einbildungskraft aus den einfachen Impressions zusammengesetzte Ideas assoziiert werden konnen. Wie Gilles Deleuze (1997) anmerkt, wird mit Letzterem zwar eine Aktivitat bezeichnet, die er als Phantasieren beschreibt, die jedoch grundsatzlich eingebunden bleibt in die Passivitat der Sinneswahmehmung. Dies ist insofem bedeutsam, als dadurch deutlich wird, Hume steht fest auf dem Boden der empiristischen Philosophie und grenzt daher die Aktivitatspotentiale, die der Rationalismus dem Subjekt zugeschrieben hatte, entsprechend ein. Anders formuliert: Das Subjekt dominiert nicht den Erkenntnisprozess etwa durch angeborene Ideen, die die Umwelt immer schon kognitiv umstellen, sondern erleidet Sinneseindrucke, die erst in einem zweiten Schritt voluntaristisch rekombiniert werden konnen. Es ist jedoch gerade der konsequent durchgehaltene Empirismus, der Hume in die Nahe der skeptischen Tradition ftihrt. Denn auch Hume vertritt die These, dass durch die Sinneseindriicke zwar Perzeptionen vermittelt werden, von diesen jedoch nicht unmittelbar auf 130
eine auBere Wirklichkeit geschlossen werden kann. Das Wissen um eine subjektunabhangige Existenz und Permanenz der Erkenntnisobjekte ist ironischerweise mit empiristischen Mitteln nicht zu haben, so dass gerade die Erkenntnistheorie, die scheinbar in ihren Grundannahmen diametral zum Skeptizismus steht, diesen besonders stark macht. Pragnant wird die Affinitat der Philosophie Humes mit dem Skeptizismus in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kausalitat. Hume postuliert, dass alle Tatsachenaussagen immer kausale Aussagen sind. Das Konzept der Kausalitat wird damit in den Rang gehoben, die Grundlage alien Wissens uber die Umwelt zu sein. Allein, Kausalitat ihrerseits kann nirgends beobachtet werden. Was beobachtet werden kann, sind regelmaBige Abfolgen von bestimmten Ereignissen, die jedoch keinen Aufschluss iiber einen kausalen Zusammenhang ergeben. SchlieBlich impliziert ein solcher Zusammenhang immer auch den Aspekt der Notwendigkeit, der an den Abfolgen von bestimmten Ereignissen nicht wahmehmbar ist. Um dies zu verdeutlichen, argumentiert Hume mit der Annahme, die Naturgesetze konnten sich jederzeit andem: „Was moglich ist, das kann man nicht a priori oder demonstrativ ausschliefien. Und es ist moglich, dass der Lauf der Natur sich andert, da wir uns eine solche Anderung denken konnen." (Hume 1740/1980: 27) Wenngleich dieser Hinweis einem hypothetischen Muster folgt, so macht er doch deutlich, um was es Hume geht. Der Begriff der Kausalitat muss ein notwendiger Begriff sein, der ahnlich wie die euklidische Geometric unabhangig von konkreten Naturerscheinungen operieren kann, und dies nicht zuletzt um tatsachlich den Rang einer Grundlage alien Tatsachenwissens einnehmen zu konnen. Ein notwendiger Begriff aber muss beziiglich aller denkbaren Eventualitaten, und damit auch beziiglich einer denkmoglichen Veranderung der Naturgesetze, anwendbar bleiben. Da aus vergangenen Abfolgen bestimmter Ereignisse nicht (mit Notwendigkeit) auf deren Zukunftigkeit geschlossen werden kann, bleibt der Begriff der Kausalitat fragil. Es ist jedoch nicht nur das hypothetische Argument einer Veranderung der Naturgesetze, das Hume anfiihrt. Er dringt gleichsam empiristisch in das Phanomen Kausalitat ein und muss resigniert feststellen, dass sich eine Ubertragung von ,Kraft', die als Ursache zu verstehen ware, nicht sinnlich wahmehmen lasst. Bei dem beriihmten Beispiel zweier Billardkugeln, die aufeinander treffen, so dass die erste Kugel die zweite anstoBt und in Bewegung setzt, wird immer nur wahrgenommen, dass eine Kugel auf die andere trifft, nicht aber, das irgendeine ,Kraft' iibertragen wird, die die Ursache fiir die Bewegung der zweiten Kugel sein konnte. „Die Berufung auf friihere Erfahrung entscheidet hier gar nichts; sie kann hochstens beweisen, dass jener selbige Gegenstand, welcher ehemals einen anderen hervorrief, in jenem selbigen Augenblick mit der fraglichen Kraft ausgerlistet war, sie kann dagegen niemals beweisen, dass dieselbe Kraft in demselben Gegenstand oder derselben Vereinigung wahmehmbarer Eigenschaften konstant vorhanden, und noch viel weniger, dass mit gleichen wahmehmbaren Eigenschaften stets eine gleiche Kraft verbunden sein musse. Sollte man sagen, wir hatten erfahren, dass dieselbe Kraft mit demselben Gegenstand verbunden bleibe und dass die gleichen Gegenstande mit gleichen Kraften ausgerlistet sein, so wiirde ich von neuem fragen, mit welchem Rechte wir aus dieser Erfahrung einen Schluss Ziehen uber die in der Erfahrung gegebenen Falle hinaus." (Hume 1739/1989: 122) Und da die Vemunft allenfalls in den Grenzen sinnlicher Erfahrung operieren kann, kann auch sie keine Auskunft iiber die zu suchende ,Kraft' sein. Mehr noch: Die Vemunft selbst entfaltet 131
das erste Argument, das mit der Moglichkeit einer Veranderung der Naturgesetze rechnet. Es ist also gerade ein konsequent durchgefiihrter Empirismus, der dazu fiihrt, an der Kausalitat der Naturablaufe zu zweifeln, da der Begriff der Kausalitat aus der Erfahrung nicht umstandslos abgeleitet werden kann. Zu dem gleichen Ergebnis kommt Hume dann auch in Bezug auf die Existenz und Permanenz von Objekten. Wenn immer nur die je eigenen Perzeptionen wahrgenommen werden, verbietet sich ein Riickschluss auf subjektunabhangige Entitaten, die nicht in den Erfahrungsbereich fallen. Und da immer nur Einzelperzeptionen wahrgenommen werden konnen, geben die Sinne auch keine Auskunft iiber die Permanenz von Objekten. Beide Begriffe haben daher denselben fragilen Status wie der Begriff der Kausalitat. Sie konnen durch die Sinneswahrnehmung nicht als Begriffe konzipiert werden, die etwas auBerhalb des Subjekts beschreiben. Als Begriffe a priori konnen sie indessen auch nicht verstanden werden, da Hume nicht miide wird zu betonen, dass alle Begriffe durch die Pforten der Erfahrung miissen und die Vernunft nur auf der Basis operieren kann, die durch die Erfahrungsinhalte ermoglicht wird. Indem Hume nun aber einerseits konsequent am Empirismus festhalt, andererseits nicht davor zuriickscheut, die daraus resultierenden Probleme zu benennen und emst zu nehmen, das heifit zu berucksichtigen, dass zentrale Begriffe zum Verstandnis der Umwelt nicht der Erfahrung entstammen konnen, begibt er sich in das Fahrwasser des Skeptizismus. Er bestatigt damit implizit die Thesen Berkeleys, dass der Versuch, Aussagen iiber eine subjektunabhangige Materie zu formulieren, sich in Widerspriiche verstrickt, weil eine subjektunabhangige Materie nicht erfahrbar ist. Dramatisch fiir die vorliegende Fragestellung ist, dass Hume seine Skepsis auf das Subjekt ausdehnt. Hatte sein Vorganger nicht an der eigenen Existenz gezweifelt, muss Hume, der auch in diesem Fall konsequent empiristisch vorgeht, zu dem Ergebnis kommen: Es gibt kein Ich. Denn ein solches, in diesem Punkt folgt Hume Berkeley noch, kann nicht identisch sein mit den Perzeptionen. Vielmehr sollen einer solchen Entitat die Perzeptionen inharieren, das heiBt sie soil als Instanz zur kognitiven Verarbeitung der Erfahrungen und damit vor dieser liegend verstanden werden. Allein, eine solche Instanz ist ihrerseits nicht erfahrbar. Erfahrbar ist allenfalls eine Folge von Einzelperzeptionen, nicht jedoch ein mit sich selbst identisches Subjekt, bzw. eine Substanz, die als Ich bezeichnet werden konnte. „Hume fmdet nichts Identisches im Erlebnisstrom. Das Ich lost sich ihm in flieBende Sinneselemente auf, es ist bloB noch ein Ensemble von Empfmdungen, eine Ansammlung von Perlen ohne Kette. Die empirische Analyse bricht das Ich in Stticke, nirgendwo lasst sich ein solches als ein >dieses hier<, als eine bestimmte Einzelvorstellung aufweisen." (Streminger 1994: 177; vgl. auch Hume 1739/1989: 326 ff) Indem Hume auch noch die Selbstgewissheit mit der Methode einer empiristischen Analyse hinterfragt, bleibt ihm nur noch, die Vorstellung einer Ich-Substanz aufzugeben. Er treibt damit zwar einerseits die Entzauberung metaphysischer Spekulationen weiter, raubt sich aber letztlich selbst das Fundament, auf dem auch der Empirismus stehen muss: Das erkennende Subjekt. Denn schlieBlich macht eine Erkenntnistheorie, die die Affizierung durch ein Erkenntnisobjekt behauptet, streng genommen nur Sinn, wenn es ein Affiziertes gibt. Dadurch dass Hume das Modell der Affizierung auch auf die Frage nach dem Subjektiven iibertragt, stellt er riickwirkend seinen empiristischen Ausgangspunkt wieder in Frage. Dieser Schritt kann allerdings insofem als wesentlicher Beitrag zur Ideengeschichte gelten, 132
als er prononciert deutlich macht: Aus der Erfahrung kann ein Begriff des Subjektiven nicht generiert werden, Wenngleich sich dies aus der kritischen Auseinandersetzung mit Locke bereits ableiten lieB, ist Hume ein Denker, der dieses Ergebnis mit besonderer Deutlichkeit auf die Agenda der Erkenntnistheorie setzt. Doch ahnlich wie es schon fur Descartes gegolten hatte, ware auch Hume kaum der Rang eines philosophischen Klassikers zugesprochen worden, wenn er bei diesem Ergebnis stehen geblieben ware. Das bislang referierte zeigte nur einen Denker, der die skeptischen Einwande gegen die Moglichkeit einer Erkenntnis durch die Sinneswahmehmung oder durch die Vemunfit wiederholt. Hume gehort indessen auch in die Reihe der Philosophen, die versucht haben, die kaum zu widerlegenden Argumente der Skeptiker zu umgehen. Seine ,Losung' der skeptischen Zweifel ist dabei aber nicht, metaphysische Entitaten einzuftihren, die den Realitatsbezug garantieren konnen. Durchaus gemaB seinem empiristischen Programm bleibt er ,auf dem Boden der Tatsachen' und setzt auf den pragmatischen Alltagsverstand. Dieser namlich kann nur dann die lebensnotwendigen (und lebenserfreuenden) Verrichtungen bewerksteUigen, wenn er umstandslos davon ausgehen kann, dass die Erkenntnisobjekte tatsachlich existieren und vor allem, dass das je eigene Ich existiert. Um die Reproduktion des menschlichen Daseins zu gewahrleisten, muss das Subjekt mit einer gewissen Notwendigkeit annehmen, dass es ein Ich gibt, das iiberhaupt reproduziert werden muss und reproduziert werden kann. Femer muss das Subjekt annehmen, dass es Objekte gibt, die zum Zwecke der Reproduktion in Gang gesetzt werden konnen. Um schlieBlich Handlungsplane Schmieden zu konnen, die nicht eo ipso ihren Sinn verlieren sollen, muss das Subjekt annehmen, diese Objekte weisen sich durch eine Permanenz und damit Zukiinftigkeit aus, die nicht an ihrer Perzeption endet. Gleiches gilt dann fiir die Kausalitat. Sie ermoglicht die intendierte Wiederholung bereits erfahrener Naturzusammenhange erst, wenn davon ausgegangen wird, dass sich der Naturablauf nicht andert und einmal erfahrene kausale Zusammenhange perpetuiert werden konnen. Diesem Abstellen auf den pragmatischen Alltagsverstand liegt die theoriearchitektonische Differenzierung zwischen Philosophic und Wissenschaft einerseits und Alltag andererseits zugrunde (vgl. dazu auch Kern 2000). Hume postuliert unmissverstandlich, dass die Philosophic und die Wissenschaften grundsatzlich skeptisch bleiben mussen. Wer die Fragestellungen dieser Diskurse bearbeitet, muss eine skeptische Haltung zur Wirklichkeit einnehmen, sollen nicht metaphysische Chimaren produziert werden. Im Gegensatz dazu ist es fiir den Vollzug von Alltagsaufgaben sinnvoll und geradezu geboten, die durch die Philosophic begriindete Haltung der Skepsis zu uberwinden, um iiberlebensfahig zu bleiben. Die alltagliche Einstellung zur Wirklichkeit kann dann aber nur eine Einstellung sein, die auf einem naiven Glauben beruht. Wenn philosophische Uberlegungen ergeben, dass die Existenz einer subjektunabhangigen Wirklichkeit nicht ohne Zweifel vorausgesetzt werden kann, ist eine Haltung zur Welt, die diese voraussetzt nicht begrlindet und damit nur ein Glauben an eine solche Wirklichkeit. Dieser Glauben allerdings kann auf dem Umstand aufbauen, dass durch Erfahrungen tatsachlich eine Kontinuitat im Naturablauf bestatigt wird. Hume fiihrt den Begriff der Gewohnheit ein, um diesen kognitiven Sachverhalt zu erlautern. Wenn in einer hinreichenden Anzahl von Fallen die erste Billardkugel die zweite in Bewegung setzt, tritt der Effekt ein, dass das Subjekt sich an diesen Zusammenhang ,gewohnt' und daraus das Modell der Kausalitat ableitet. Es kann dann in einem weiteren 133
Billardspiel unterstellen, dass die zweite Kugel wiederholt durch eine erste Kugel in Bewegung gesetzt wird. Ohne diese Unterstellung wiirde ansonsten vermutlich niemand Billard spielen. Kausalitat wird so allerdings zu einem Modell, das einzig im Bewusstsein des Subjekts existiert und von dort aus die Erfahrungsinhalte interpretatorisch aufarbeitet. Mit dieser Wendung, die strittigen Begriffe wie Kausalitat, Existenz und Permanenz als aktive Leistung des Verstandes zu konzipieren, scheint Hume eine Wendung zum Rationalismus zu vollziehen. Dieser hatte, wie gesehen, durch das Konzept der angeborenen Ideen bereits behauptet, derartige Begriffe seien rein subjektiven Ursprungs. Sie verweisen nicht auf eine subjektunabhangige AuBenwelt, der sie entnommen sind, sondem sie steuem den Prozess der Erkenntnis, indem sie die Erfahrungsinhalte zuriisten. Hume allerdings bleibt gegen die Vernunft, der solche Begriffe inharieren konnten, skeptisch. Strittige Fragen, die der Rationalismus durch Verweis auf die Vernunft und damit auf eine allgemeine Gultigkeit beantwortet wissen mochte, konnen fur ihn aufgrund der immer moglichen Fehlerquellen nicht durch demonstrative Beweise eindeutig entschieden werden (Kulenkampff 1989: 44ff.). So uberweist er die Beantwortung strittiger Fragen in den Bereich der Affektivitat. Dies ist insofem konsistent, als der Alltagsverstand ohnehin nur auf einem Glauben basiert, der nicht letztbegriindet werden kann. Menschen miissen daher auf ihre Emotionen, Leidenschaften und Interessen zuriickgreifen, vor deren Hintergrund sie Entscheidungen treffen Oder Begriffe wie etwa Kausalitat konzipieren konnen.'^ Eine klare Absage erteilt Hume auf diese Weise der Vorstellung eines ,anmial rationale', also einem Subjektverstandnis, das mit rationalen Motiven und Handlungsplanen der Subjekte rechnet. Mit dieser Strategic, die Hume gegen den Skeptizismus anfuhrt, bewegt auch er sich zwischen dem Zugestandnis, dass der Skeptizismus eine mogliche Konsequenz erkenntnistheoretischer Uberlegungen ist, und dem Versuch eines Ausweichens vor dem Skeptizismus; in diesem Fall durch die Einbeziehung des Alltags. Subjekttheoretisch leitet sich daraus ab, dass eine Ich-Instanz sich zwar weder theoretisch und schon gar nicht empirisch bestimmen lasst, die je eigene Subjektivitat aber als Voraussetzung ftir die Bewaltigung des Alltags gesetzt werden kann. In seinem „Traktat iiber die menschliche Natur" begreift Hume diese Setzung zunachst als logische Ableitung aus der Notwendigkeit, eine je eigene Subjektivitat annehmen zu miissen. In seiner spateren Schrift, „Eine Untersuchung iiber den menschlichen Verstand" (Hume 1748/1993: 59) erhebt er diese Setzung in den Rang eines angeborenen Instinkts, der durch Vernunftuberlegungen nicht suspendiert werden kann. Das Subjekt ist damit wesentlich Subjekt des Alltags, das sich um eine theoretisch konsistente Herleitung seiner Subjektivitat nicht bemtihen muss und auch nicht bemiihen darf, da dann die skeptischen Einwande die Subjektivitat wieder zunichte machen wiirden. Der ideengeschichtliche Verdienst Humes liegt nun nicht zuletzt darin, undogmatisch die Moglichkeiten einer Subjektbestimmung zu verfolgen und dabei trotz dem Ergebnis, eine solche Bestimmung sei argumentativ nicht plausibilisierbar, dennoch nicht, wie sein empiristischer Vorganger Berkeley, wieder auf Gott zu setzen, sondem auf den Menschen selbst, der in seiner praktischen Lebensfuhrung ohne philosophische Skrupel eine eigene Ich-Identitat
13 Ein solches Subjektverstandnis, das wesentlich auf der Emotionalitat beruht, fiir die soziologische Theoriebildung fruchtbar zu machen, hat Klaus Wahl (2000) eingefordert.
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einfach setzt. Wenngleich damit die Verantwortung fur die Subjektivitat dem Subjekt selbst zugemutet wird, macht Hume dennoch eine inhaltliche Bestimmung des Subjektiven. Das Subjekt ist grundsatzlich in den kausalen und damit notwendigen Ablauf der Natur eingebunden. Subjektive Freiheit erstreckt sich fur Hume daher im Sinne Lockes nur auf politische Freiheiten, nicht jedoch, wie schon gesehen, auf eine Erkenntnisaktivitat, die in der Lage ware, die Umwelterfahrungen durch subjektive Begriffe a priori zu selektieren. Das passive Subjekt des Empirismus bleibt bei auch Hume erhalten und dies bedeutet, es ist auf die Erfahrungsinhalte angewiesen. Dennoch lasst sich Hume durchaus ein rationalistischer Subjektbegriff zuschreiben. SchlieBlich gibt es eine Instanz, die die Setzung der eigenen Subjektivitat, der Existenz der AuBenwelt und der Kausalitat vomimmt. Diese muss logisch der Erfahrung vorausgehen, wenngleich die Bildung dieser Konzeptionen durch Erfahrung angeschoben wird. Eine solche Instanz als Theoriebaustein anzuerkennen, hatte Hume sich zwar geweigert. Allerdings scheinen seine Ausfiihrungen darauf zu drangen, dass es ein Bewusstsein geben muss, das zwar mit empirischen Mitteln nicht eingefangen werden, das aber aus der Hinwendung zum Pragmatischen deduziert werden kann. Wenn schlieBlich gilt, dass die Begriffe wie Kausalitat oder Existenz der Erfahrung nicht entstammen, sondem der pragmatisch motivierten Gewohnheit, sind sie Frodukte der Einbildungskraft (was Hume zugesteht), die dann aber ihren Ursprung in einer subjektiven Aktivitat haben, die Uber die Passivitat der Sinneswahrnehmung hinaus geht. SchlieBlich enthalt der Begriff der Kausalitat mehr als bloB die Assoziation von Einzelperzeptionen. Er impliziert den Aspekt der Notwendigkeit, mit dem keine Perzeption korrespondiert. Er wird also durch subjektive Bewusstseinsleitung generiert, die Hume durch seinen konsequenten Empirismus kategorial ausgeschlossen hatte. Dies gesehen zu haben, ist der Verdienst von Immanuel Kant, der auf der einen Seite an die undogmatischen Erkenntnisse Humes ankniipft, auf der anderen Seite diesen aber durch seine transzendentale Wende eine neue Perspektive abgewinnt.
4.6. Das begriffslogische ,Ich denke': Immanuel Kant Kant unterscheidet sich gegenuber Hume nicht nur qualitativ durch seine transzendentale Perspektivenwende auf das Subjekt, sondem allein schon quantitativ durch den Umfang seines Oeuvres. Hinzu kommt eine unzahlbare Menge an Literatur, die sich um eine Interpretation oder Weiterflihrung der kantischen Argumente bemiiht und die nicht zuletzt davon zeugt, dass Kant als einer der wichtigsten Mitbegrlinder der modemen Philosophic und Wissenschaft gelten kann. Wenn bereits im Fall von Leibniz nochmals darauf hingewiesen wurde, dass hier keine detaillierte und umfangreiche Aufarbeitung der angefuhrten Philosophen erfolgen kann und soil, so gih dies in gleichem MaBe fiir Immanuel Kant. Seine Subjektkonzeption soil im Folgenden jenseits der Debatten um die Differenzen der verschiedenen Auflagen der „Kritik der reinen Vemunft" und ohne ausflihrliche Thematisierung der erkenntnistheoretischen Probleme etwa um die Deduktion der Kategorien erfolgen (vgl. dazu etwa Klemme 1996; Mohr/Willaschek 1998; Rosales 2000). Vielmehr soil, auch um eine argumentative Kontinuitat zu erzeugen, die Kant-Aneignung aus der Perspektive der Philosophic Humes angeleitet und dadurch zugeschnitten werden. Dieses Vorgehen lasst 135
sich durch den Umstand legitimieren, dass Kant (1783/1993:118) bekanntlich freimiitig bekennt, es ware die Auseinandersetzung mit David Hume gewesen, die ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer" erweckt habe und seine eigenen Uberlegungen instruierte. Kant hat, wie aus den bisherigen Erorterungen ersichtlich, das Subjekt nicht erfunden, dessen prominente Stellung im Erkenntnisprozess jedoch gegentiber seinen rationalistischen Vorgangem weit uberhoht. Dabei ist es durchaus Kants Anliegen zwischen den Polen des Rationalismus und des Empirismus zu integrieren, wenngleich der Tendenz nach der Pegel seiner Untersuchungen in die Richtung des Rationalismus ausschlagt. Das Fundament seiner transzendentalen Wende und seiner Uberhohung des Subjektverstandnisses ist schliefilich eine Raum-Zeit-Theorie, die beide GroBen nicht als Ergebnis der Erfahrung begreift, sondem als deren konstitutive Elemente, die eine Erfahrung uberhaupt erst moglich machen. Diese bereits in der Dissertation (Kant 1770/1993) vorgestellte Annahme ist insofem eine gewichtige theoriearchitektonische Weichenstellung, als mit ihr zentrale Annahmen des angelsachsischen Empirismus aufgehoben werden. Nicht die sinnliche Erfahrung einer auBeren Welt schiebt die kognitive Entwicklung von Raum-Zeit-Schemata an, sondern diese liegen jeder moglichen Erfahrung immer schon zugrunde. Dies bedeutet zum einen, dass Raum- und Zeiteigenschaften keine Eigenschaften sind, die den Erkenntnisobjekten zukommen, sondem die die Spezifika der menschlichen Anschauung formen (Willaschek 1997). Dies bedeutet zum anderen und damit zusammenhangend: Es werden keine ,Dinge an sich' wahrgenommen, sondern Erscheinungen, die durch die Zeit- und Raumschemata der Anschauung bestimmt sind. „Wir haben also sagen woUen: dass alle unsere Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei; dass die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofur wir sie anschauen, noch ihre Verhaltnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und dass, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne uberhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhaltnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden wtirden, und als Erscheinung nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren konnen." (Kant 1781[7]/1992: A 43/B 60) Kant tradiert und fundiert damit jene bereits bei Berkeley theorietragende Einsicht, dass die Objekte der Erkenntnis immer nur als Sinneseindrlicke gegeben sind und daher keine Referenz auf subjektunabhangige Gegenstande erlauben. Er prazisiert diese Einsicht durch die Annahme, dass jegliche Anschauung grundsatzlich unter den subjektiven Anschauungsformen der Zeit und des Raumes steht und grenzt sich dabei zugleich von Berkeley ab: Die Gegenstande der Erfahrung sind zwar nur Erscheinung, nicht aber (gottlich vermittelter) Schein, wie jener vermutet hatte. Kant (Ebd.: B70/71) insistiert darauf, dass die Objekte in der Erscheinung als reale Objekte vorgestellt werden, wenngleich diese unter der Bedingung der subjektiven Anschauungsformen stehen. Die in der Anschauung gegebene Wirklichkeit zerfallt damit in die beiden Bereiche der Erscheinung und des ,Dinges an sich', wobei letzteres sich verantwortlich flir die Affizierung des Subjekts zeichnet, dabei aber nicht erkannt werden kann. Diese Differenz ist insofem bedeutsam, als mit ihr Kant nicht einen radikalen Idealismus (z. B. eines Berkeley) tradiert, sondern die dominante Position des Subjekts im Erkenntnisprozess rtickbindet an eine objektive oder subjektunabhangige Wirklichkeit und damit dem materialistischen Hinweis gerecht wird, dass die Subjekte sich schliefilich ihre Sinneseindrucke nicht frei erfmden, sondem diese offensichtlich durch auBere Umstande angeschoben werden, was 136
eben das ,Ding an sich' oder das transzendentale Objekt als ,subjektunabhangige Wirklichkeit' indiziert. Dies allerdings nicht im Sinne des cartesianischen Dualismus: Die je subjektiv erfahrene und gedachte Wirklichkeit ist die einzig erfahrbare Wirklichkeit und diese bleibt damit subjektabhangig. Vergleichbar ist dies mit der Uberlegung Luhmanns, Systeme haben einen Zugriff nur auf ihre eigenen Operationen, prozessieren aber intern eine Fremdreferenz, um die Tautologie der Selbstreferenz zu durchbrechen. Mit der in der Dissertation entwickelten These, alle Raum- und Zeiteigenschaften liegen der sinnlichen Erfahrung zugrunde, setzt Kant eine „Wende zum Ich" (Klemme 1999) in Gang, die dann in der ,Kritik der reinen Vernunft' zur vollen Entfaltung gebracht wird, wenn behauptet wird, es seien letztlich die subjektiven Verstandeskategorien, die ein Erfahrungsurteil moglich machen. In der ,Kritik der reinen Vernunft' stellt Kant sich bekanntermaBen die Aufgabe, Metaphysik mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu vereinbaren. Es geht ihm darum, jene von der Metaphysik verhandelten Urteile auf das sichere Fundament der Vernunft und ihren Bedingungen und Moglichkeiten zu stellen. Grob vereinfacht lautet seine Losung dieser Aufgabe: Die synthetischen Satze a priori, die den Inhalt der Metaphysik ausmachen, konnen tatsachlich bis zu einem gewissen Grad als mogliche Begriffe mit wissenschaftlichem Anspruch konzipiert werden, da diese Begriffe als subjektive Verstandeskategorien a priori tatsachlich existieren. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit riickt damit ein Subjekt, das als Bedingung fur die Erfahrung einer objektiven Wirklichkeit konzipiert wird. Um diesen Gedanken in aller gebotenen Kiirze erhellen zu konnen, soil, wie angekundigt, auf die Problemstellung eines David Hume rekurriert werden. Dessen konsequente Anwendung empirischer Methodik auf den Empirismus selbst, hatte zu einer Kritik am Substanzdenken und der Annahme einer kausalen Naturabfolge gefuhrt. Damit war nicht nur eine philosophisch (vomehmlich: rationalistisch) postulierte Subjektivitat fraglich geworden, sondem eben auch der Versuch, Uber die Erfahrung Strukturprinzipien der auBeren Wirklichkeit entnehmen zu konnen. In einer Uberzeichnung liefie sich formulieren, die Natur war in ein Chaos zurtickgesunken, dem doch gerade durch die empirischen Wissenschaften entkommen werden sollte, um die Naturgesetze ftir die Geschicke des Menschen nutzbar zu machen. Und in der Tat ware Hume nur der Ausweg geblieben, auf metaphysische oder theologische Annahmen zurtickzugreifen, hatte er jenseits des Alltagsverstandes an der Konzeption von Kausalitat festhalten wollen. Genau dieser Ausweg blieb ihm jedoch aufgrund seiner empiristischen Pramissen, die nicht aufgegeben werden sollten, wohl auch, weil sie den Kern moderner Wissenschaft ausmachen, versperrt. Wird Kant aus dieser Perspektive angeeignet, so uberwindet er diese dilemmatische Situation durch einen Riickzug ins Subjekt, das die fraglichen Begriffe und Urteile immer schon mitbringt. Dieses hatte zwar bereits durch Philosophen wie Descartes oder Leibniz angeborene Ideen zugeschrieben bekommen und seine Erkenntnisleistungen waren eine gewichtige Steuerungsftjnktion des Erfahrungsprozesses. Dennoch hatten Kants Vorganger den Erkenntnisakt tendenziell vom Objekt her aufgerollt und sich bemiiht, die Bedingungen einer Ubereinstimmung von Gegenstand und Urteil zu eruieren. Kant dreht die Subjekt-ObjektAchse einmal um sich selbst und denkt sich den Akt einer Erkenntnis generierenden Erfahrung als durch das Subjekt konstituiert. Dies nicht in dem Sinne, dass das Subjekt die Wirklichkeit aus sich heraus erfmdet, sondern in dem Sinne, dass eine Erkenntnis, die nicht in 137
subjektiven Urteilen verharrt, sondem die Anforderungen an objektive Urteile (Allgemeinheit, Notwendigkeit) erfiillt, durch die Verstandesleistungen des Subjekts garantiert werden. In der Konsequenz bedeutet dies, die Ubereinstimmung von Urteil und Gegenstand nachweisen zu miissen, also nicht die Frage zu beantworten, wie verarbeitet ein Subjekt seine Sinnesinformationen, sondem die Frage, wie sind die Verstandeskategorien a priori auf die Gegenstande bezogen. Fiir Kant ist es eine ausgemachte Sache, dass jede Erkenntnis der Erfahrung aufsitzt. Auch bei ihm hebt die Erkenntnistheorie mit der empiristischen Grundpramisse an. Das die sinnliche Anschauung dabei den Raum-Zeit-Formen unterliegt, so dass die Gegenstande immer nur als Erscheinung gegeben werden, andert diese Ausgangssituation nicht, gibt ihr aber einen rationalistischen Anstrich. Der Erfahrungsakt unterliegt subjektiven Bedingungen, die eine reine Abbildung der auBeren Wirklichkeit blockieren. Diese Position ware moglicherweise noch mit dem Empirismus vermittelbar, hatte doch schlieBlich auch Locke eine derartige Subjektivitat im Fall der Erfahrung sekundarer Qualitaten ausgemacht. Die vemunftkritische Wende Kants stellt indessen weitergehende Anforderungen an sich selbst. Es soil die Lticke geschlossen werden, die der Empirismus dadurch hinterlassen hatte, dass er zwar allgemeine Begriffe (z. B. Kausalitat, Ich-Identitat, ...) prozessierte, aus der Erfahrung aber streng genommen nicht ableiten konnte und die der Rationalismus dadurch hinterlassen hatte, dass er zwar allgemeine Begriffe als angeborene Ideen annehmen, diese aber nicht umstandslos bzw. nur durch den Rtickgriff auf Metaphysik begriinden konnte. Kant schlieBt diese Liicke, indem er den Erkenntnisakt gleichsam als einen mehrstufigen Prozess anlegt und die Bedingungen von Erkenntnis rational deduziert. In der Sinnlichkeit werden die Objekte durch Anschauung gegeben. Allein, dadurch werden sie noch nicht erkannt. Es bedarf einer Synthese der Mannigfaltigkeit der Erfahrungsinhalte unter Begriffe, die als ordnendes Prinzip die Erfahrungsgegenstande aufeinander beziehen, so dass die Erfahrung zur Erkenntnis bzw. zu einem Erkenntnisurteil avancieren kann. Eine reine Erfahrung bezeichnet ausschlieBlich das je subjektive Erleben spezifischer Eindriicke, die als solche gar nicht wahrheitsfahig sind, weil sie nicht nach allgemeinen Kriterien iiberpruft werden konnen und dies auch nicht beanspruchen. Anders ausgedriickt: Die bloBe Erfahrung einer regelmaBigen Abfolge zweier Ereignisse ist noch kein Erkenntnisurteil, das als allgemeines, objektives und zeitlich entgrenztes Prinzip oder Urteil (in diesem Fall: Kausalitat) formuliert und zukiinftig fur je eigene Zwecke fruchtbar gemacht werden konnte. Um dies zu leisten, miissen die beiden Ereignisse unter dem Begriff der Kausalitat in einen synthetisierenden Bezugsrahmen gestellt werden, der es ermoglicht, dem einen Ereignis das Pradikat Ursache und dem anderen Ereignis das Pradikat Wirkung zuzuschreiben. Erst durch diesen Akt gelingt ein gehalterweitemdes Uberschreiten des unmittelbar gegebenen Erfahrungsinhaltes, das ein Erfahrungsurteil und das heiBt, die Formulierung allgemeiner (Natur-)Gesetze, legitimiert, die dann wahr oder falsch sein konnen. Wie erinnerlich wird Piaget diesen Akt der Synthetisierung spater als Assimilation der Erfahrungen unter die kognitiven Schemata beschreiben. Wenn, so Kants Uberlegung zusammengefasst, dieses gehalterweitemde Uberschreiten der unmittelbar gegebenen Erfahrungsinhalte durch die Erfahrung selbst nicht induziert werden kann, liegt es nahe, dies als aktive Leistung des Subjekts zu konzipieren. So weit war David Hume bereits vorgedrungen, hatte diese Leistung jedoch in einem vorwissen138
schaftlichem AUtagsverstand lokalisiert, der zwar praktischen Nutzen bringt, aber noch lange keine Legitimation fur eine Formulierung notwendiger Naturgesetze. Kant lost diese Lokalisierung wieder und verlagert sie in einen subjektiven Verstand, der durch (wissenschaftliche) Kategorien a priori in der Lage ist, eine Synthetisierung des Mannigfaltigen der Erfahrung auf wissenschaftlichem Niveau zu gewahrleisten. Die Kategorien oder reinen Begriffe des Verstandes machen damit streng genommen die Frage nach der Moglichkeit der Erfahrbarkeit kausaler Naturablaufe iiberfliissig, da sie es sind, die eine solche Erfahrung erst ermoglichen, weil sie den Erfahrungsinhalt der gesuchten Begrifflichkeit unterordnen. Und dieses Ermoglichungsverhaltnis der reinen Begriffe ist zugleich die Bedingung ihrer objektiven Guhigkeit: „Folglich wird die objektive Giiltigkeit der Kategorien, als Begriffe a priori, darauf beruhen, dass durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) moglich sei. Denn alsdenn beziehen sie sich notwendigerweise und a priori auf Gegenstande der Erfahrung, weil nur vermittelst ihrer tiberhaupt irgend ein Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann." (Kant 1781[7]/1992: A 127/B 94) Dieser vom Subjekt ausgehende Bezug auf die Realitat gipfelt schlieBlich in der Behauptung: „Der Verstand schopft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor." (1783/1993: § 36) Der metaphysikkritische Vorteil dieser Konzeptionalisierung von Erkenntnis ist, dass Kant einen ,objektiven Realitatsbezug' denken kann, ohne die vermittelnde Harmonisierungsleistung Gottes in Anspruch nehmen zu miissen (Baumgarten 1997). Nun wird Kant nicht mtide, darauf hinzuweisen, dass die Reichweite dieser Begriffe sich auf eine mogliche Erfahrung beschrankt und diese die Begriffe erst realisiert. Diese konstituieren die Erfahrung einzig der Form nach, beschreiben damit jedoch noch keine konkreten Gegenstande oder Naturgesetze. Seinem prominenten Credo - „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind" (Kant 1781[7]/1992: A 52/B76) - folgend, stellt er die Verstandeskategorien grundsatzlich auf die Sinneswahrnehmung ab, die allein imstande ist, Auskunft liber spezifische Naturgesetzmafiigkeiten zu geben. Ob also das Aufeinanderprallen zweier Billardkugeln tatsachlich als Kausalitatsverhaltnis beschrieben werden kann, wird letztendlich erst durch die erfahrene Reaktion der beiden aufeinander prallenden Kugeln bestimmbar. Die Kategorien ermoglichen diese Erfahrung nur dahingehend, dass sie das Ordnungsschema Kausalitat bereithalten und damit die Zufalligkeit des Weiterrollens der zweiten Kugeln unter das notwendige Gesetz der Kausalitat zu subsumieren erlauben. Kants vehementes Insistieren auf dieses Zusammenspiel von Begriff und Erfahrung macht den Kern seiner Integration von Empirismus und Rationalismus aus und liegt seinem spezifischen Verstandnis des Idealismus zugrunde, der nicht in einer Negation der AuBenwelt miindet. Diese bieibt der Referenz- und Bezugsrahmen jeglicher Erkenntnis. Und aus kantischer Perspektive kann sie es bleiben, gerade weil die Erkenntnismoglichkeit auf Erscheinungen beschrankt wird und nicht von sich verlangt, sich umstandslos auf eine subjektunabhangige AuBenwelt zu beziehen, die jenseits des menschlichen Erfahrungsbereiches angesiedelt ist. Dies wird von Kant in seinen Uberlegungen zu den dialektischen Schltissen der Vemunft, die den Erfahrungskreis ungerechtfertigerweise ausdehnen, eindringlich demonstriert. Deren unauflosliche Kontradiktion, so Kant, resultiere daraus, dass auf eine Wirklichkeit jenseits der Erscheinungen Bezug genommen wird und die dadurch aufgelost werden kann, dass sie auf die in den sinnlichen Anschauungsformen gegebenen Erfahrungsinhalte zurlickgenommen wird. Argumentationslogisch wan139
delt er damit auf dem Pfad, den Berkeley bereits in den Wald des Materialismus geschlagen hatte, als er versuchte zu begriinden, dass es der Versuch sei, eine subjektunabhangige Materie zum Erfahrungsinhalt zu machen, der sich in Widerspriiche verstrickt und damit dem Skeptizismus, das heifit der Negation der AuBenwelt, die Tore offnet. Die Beschrankung auf die Erscheinungen bezeuge hingegen die Existenz der Realitat, da in der raumlichen Anschauung Gegenstande als auBere Gegenstande gegeben sind, als deren Ursache auBere, transzendentale Objekte gedacht werden konnen und mtissen. „Der transzendentale Idealismus", so fasst dies Truls Wyller (2001: 295) zusammen, „besagt nicht, dass ich nicht liber mich oder andere Menschen als Objekte urteilen kann, dass es sie nicht gebe, sondem, dass auch eine Welt ohne Menschen von den formalen Eigenschaften der menschlichen Erkenntnis gekennzeichnet ist." Eine wesentliche Bedingung fur Erkenntnis wurde bislang nicht thematisiert: Das Subjekt selbst. Es darf als ein die Theorietraditionen iibergreifende Postulat gelten, dass dieses notwendig zum Erfahrungs- oder Erkenntnisprozess dazu gehort. SchlieBlich macht es keinen Sinn, ohne ein erfahrendes Subjekt von Erfahrung zu reden. Und wie Hume schlieBlich pointiert deutlich macht: Dieses Subjekt selbst kann nicht erst der Erfahrung entspringen, es geht ihr logisch voraus. Hume hatte dies zwar gesehen, aber eigentiimlich nicht bis zu der Konsequenz treiben wollen, vor der Kant nicht mehr zuruckschreckt. Da er sich methodisch ohnehin auf dem Boden des Rationalismus bewegt, wenn er die Kategorien rational deduziert, bereitet es ihm keine Schwierigkeiten, auf diesem Parkett zugleich die Bestimmung des Subjektiven zu suchen. Und tatsachlich macht er dies auf dem gleichen Weg, der ihn zu seinen Verstandesbegriffen geflihrt hat: Das Subjekt muss notwendig angenommen werden, um uberhaupt eine Erfahrung moglich zu machen und um aus der Mannigfaltigkeit der Erfahrungen zu einem Erkenntnisurteil zu kommen. „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten konnen; denn sonst wiirde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden konnte, welches ebensoviel heiBt, als die Vorstellung wiirde entweder unmoglich, oder wenigstens fur mich nichts sein. [...] Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, wiirden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem SelbstbewuBtsein gehoreten, d. i. als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewuBt bin) mussen sie doch der Bedingung notwendig gemaB sein, unter der sie allein in einem allgemeinen SelbstbewuBtsein zusammenstehen konnten, weil sie sonst nicht durchgangig mir angehoren wiirden." (Ebd.: B 132/133) Dieses ,Ich denke' bezeichnet Kant als einen Akt der Spontaneitat oder als ,urspriingliche Apperzeption' und macht damit deutlich, das Subjekt ist als notwendiger Trager und als notwendige Instanz zur Synthetisierung der Erfahrungen im Erfahrungsprozess unabkommlich (vgl. dazu Deppermann 2001). Nun ist mit dieser Herleitung nicht mehr gewonnen, als eine begriffslogische Subjektbestimmung. Denn nach Kants eigenem Diktum, mussen die rational deduzierten Begriffe mit einer Anschauung korrespondieren, um zu einer wirklichen Erkenntnis zu gelangen. Diese steht aber auch in Bezug auf das Subjekt selbst unter den Bedingungen der zeitlichen und raumlichen Anschauung, so dass eine Erkenntnis eines ,Subjekts an sich' von vomherein verunmoglicht wird. Die Erfahrung einer kontinuierlichen Ich-Identitat, die einem substantiellen Subjektbegriff zugrunde gelegt werden konnte, ist nicht zu haben. „Denn das Ich ist zwar in alien Gedanken; es ist aber mit dieser Vorstellung nicht die mindeste Anschauung 140
verbunden, die es von anderen Gegenstanden der Anschauung unterschiede. Man kann also zwar wahrnehmen, dass diese Vorstellung bei allem Denken immer wieder vorkommt, nicht aber, dass es eine stehende und bleibende Anschauung sei, worin die Gedanken (als wandelbar) wechselten." (Ebd.: A 350) Wahrgenommen wird allenfalls ein empirisches, von Psychologen zu untersuchendes Bewusstsein, das sich durch verschiedene Perzepte auszeichnet, dadurch aber keinen Eindruck einer kontinuierenden Entitat vermittelt. Damit ist Kant scheinbar wieder bei Hume angekommen. Mit der auf den Erkenntnisprozess bezogenen logischen Herleitung eines Subjektbegriffes ist im Rahmen der Theorieproduktion indessen mehr gewonnen, als das Uberantworten der Subjektkonstitution in die Gewohnheit des Alltagsvollzuges. Kant gesteht zu, dass aufgrund der notwendigen Annahme einer Subjektivitat, eine solche als ,Substanz der Idee nach' angenommen werden kann, wenn damit nicht verbunden ist, diese auf eine ,Substanz der Realitat nach' auszudehnen. Damit wird zumindest eine kognitive Potenz eingeflihrt, die Hume fur den Akt des Prozessierens der je eigenen Subjektivitat (und solchen Begriffen wie Kausalitat) eigentlich hatte voraussetzen mussen. Kant hebt die Weigerung, eine solche Identitat wenigstens formal zu denken, auf Im Ergebnis, so lieBe sich formulieren, oszilliert er zwischen einem konsequenten Empirismus und einem metaphysischen Rationalismus ohne die beiden Extreme zu tangieren. Weder fallt er zuriick in ein Substanzdenken, noch beugt er sich ohne Vorbehalt vor den kritischen Hinweisen, dass genau dieses Substanzdenken unhaltbar ist, soil der Metaphysik entronnen werden. Sein Riickzug in die formale Argumentationsstrategie erlaubt Kant, einen Subjektbegriff einzufuhren, der in seinem Begrundungszusammenhang die gesuchte Bedingung fur die Bestimmung des Subjektiven impliziert. Das Subjekt liegt logisch vor seiner Einbindung in eine materielle und soziale Wirklichkeit; es ist sogar die Bedingung der Moglichkeit, eine solche Wirklichkeit zu denken bzw. sich vorzustellen. Konsequenterweise ist die transzendentale Subjektivitat zugleich eine Potenz der aktiven Freiheit. Denn wenngleich die empirischen Verhaltnisse unter den Bedingungen der Kausalitat, das heiBt der notwendigen Zeitfolge nach Regeln, stehen, so fallt das transzendentale Subjekt nicht unter diese Bedingung, da es auBerhalb der in den Anschauungsformen gegebenen Erscheinungen residiert, worauf sich der Begriff der Kausalitat nicht erstreckt. Das Subjekt als aktive Potenz zu begreifen, meint daher nicht nur, die verstandesmaBige Ordnung und Strukturierung der Erfahrungen, sondem auch, Ursache oder Bedingung fur in der Erfahrung gegebene Anschauungen zu sein, die dann allerdings unter dem Begriff kausaler Abfolgen stehen (vgl. ebd.: B 560/A 532 ff). Diese Freiheit wird dann in der „Kritik der praktischen Vernunft" (Kant 1788/1993) die Bedeutung erhalten, das formale Sittengesetz aus einem freien Willen zu befolgen, so dass eine Sanktionierung amoralischer Handlungen legitimierbar wird. Mit Kant ist also der Versuch der theoretischen Bestimmung des Subjektiven aus dem Kontext der Erkenntnistheorie bei einer gleichzeitigen Auflosung und formalen Rehabilitierung des Subjekts als kognitiver Potenz angekommen. Kant zieht die Konsequenzen, die sich aus dem Pendelschlag zwischen Rationalismus und Empirismus ergeben hatten und fangt das durch die skeptischen Hinweise eines Hume bereits defragmentierte Subjekt als Notwendigkeit fur einen gelingenden Erkenntnisprozess auf Ungeachtet der Moglichkeit diverser philosophischer Einwande gegen dieses Programm des transzendentalen Idealismus sticht aus der Perspektive der modemen Sozialisationstheorie vor allem ein Kritik141
punkt im besonderen MaB hervor: Kant unterschlagt mit seinem Apriorismus vollstandig die Einsicht, dass kognitive Schemata, wie Piaget gezeigt hatte, sich erst im Laufe der Ontogenese entwickeln. Es kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass Kinder oder Neugeborene Begriffe wie Kausalitat oder gar Anschauungsformen wie Raum und Zeit auf dem wissenschaftlichen Niveau, das Kant im Sinn hatte, immer schon mitbringen. Zwar mag seine Philosophic insbesondere im Problemhorizont David Humes eine nachvollziehbare Argumentationslogik prasentieren, die die Moglichkeit einer objektiven Erkenntnis stichhaltig begriindet. Wiirde umstandslos an Kant angeschlossen, ware das Geschaft der Sozialisationstheorie und -forschung allerdings erledigt. Es gabe keinen Grund mehr dafur, mit einer Diversifikation von Entwicklungslaufen und Entwicklungsergebnissen zu rechnen, die eine genauere Fokussierung der Entwicklungsbedingungen nahe legen, Damit wird fur den weiteren Verlauf die Transzendentalphilosophie Kants nicht in toto unbrauchbar. Kant halt mindestens ein gewichtiges Argument bereit, an das angeschlossen werden kann: Das Subjekt ist als logische Figur im Spiel der Erkenntnis nicht hintergehbar. Damit wird nicht nur ein entscheidender Hinweis fur eine erkenntnistheoretische Subjektbestimmung gegeben, dadurch wird eo ipso die Kritik am Intersubjektivismus noch mal pointiert. Um eine interpersonal Situation als solche erkennen zu konnen und dann entsprechend zu interagieren, muss ein Subjekt wenigstens logisch gedacht werden, das befahigt ist, die Mannigfaltigkeit der Erfahrung - in diesem Fall eines Gegeniiber, dem synonyme Eigenschaften und spezifische Charakteristika unterstellt werden konnen - unter einen Begriff (intersubjektive Situation) zu bringen und auf eine synthetisierende IchIdentitat zu beziehen. Dies gilt im Besonderen fiir den Fall sozialisatorisch relevanter Interaktionen, die eine tiber den Augenblick hinausreichende Bedeutung erst erhalten konnen, wenn sie unter der Bedingung einer solchen synthetisierenden Subjektivitat stehen, die damit logisch vor der intersubjektiven Situation liegt. Kurzum: Nicht nur der Erkenntnisakt setzt eine Subjektivitat voraus, sondem in gleichem MaBe jeglicher intentionale Handlungsakt. Dies auf den Punkt gebracht zu haben, so eine mogliche Aneignung Kants fur den vorliegenden Kontext, ist eine der Errungenschaften der Erkenntnistheorie im Allgemeinen und der Transzendentalphilosophie Kants im Besonderen.
4.7. Das tdtige Subjekt: Johann Gottlieb Fichte Eine mogliche genuin philosophische Kritik am transzendentalen Idealismus von Kant lautet, dass dieser seine Kategorien nicht dem eigenen Anspruch nach transzendental deduziert, sondern der Empiric entlehnt und damit dieser eigentlich der Vorrang im Erkenntnisprozess zukommt. Tatsachlich lehnt Kant seine Verstandeskategorien an historisch iiberlieferte logische Urteile an, die auf die Ordnung der sinnlichen Wahrnehmung ausgerichtet sind und letztlich auch aus dieser resultieren.'" Es fehlt dann aber dem transzendentalem Idealismus eine fundierende Ausgangsposition, die in der Lage ist, die Bedingung der Moglichkeit jeglicher Form der Erkenntnis und des Wissens jenseits von Erkenntnisprozessen zu begriinden. Diese Kritik zu Eigen gemacht hatte sich Johann Gottlieb Fichte, dessen 14 Vgl. dazu etwa Oehler (1997), der den Riickgriff der kantischen Kategorien auf Aristoteles nachzeichnet.
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eigenes Werk von der kantianischen Philosophie und den Diskussionen um diese inspiriert wird (vgl. Rohs 1991; Seidel 1997). Seine Wissenschaftslehre wird getragen von dem kantianischen Impuls, „dass in einer Wissenschaft nur ein Satz seyn kann, der vor der Verbindung vorher gewiss und ausgemacht ist." (Fichte 1794/197la: 41) Es soil mit der Wissenschaftslehre ein oberster Grundsatz gefunden werden, aus dem sich die Moglichkeit von Wissenschaft und damit auch die Moglichkeit der kantianischen Kategorien ableiten lasst. Seine Wissenschaftslehre ist dabei alles andere als ein transparentes Werk, das die verschlungenen Pfade, die Fichte beschreitet, eindeutig erhellen wiirde. Sie gilt vielmehr als umstandlich geschrieben, so dass eine Aufarbeitung erschwert wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es hier nicht der Ort, um in die Tiefe der Philosophie Fichtes angemessen einzudringen. Die Gefahr grober Vereinfachung in Kauf nehmend, sollen hier einzig zentrale Begrifflichkeiten der Wissenschaftslehre von 1794 angeeignet und so zugeschnitten werden, dass sie ftir die weitere Argumentation fi-uchtbar gemacht werden konnen. Denn wenngleich etwa Frank Witzleben (2003) nicht ganz zu unrecht darauf hinweist, dass eine Rezeption der Wissenschaftslehre unter subjektphilosophischer Agide der eigentlichen Fragestellung nach den Moglichkeiten und Formen des Wissens Gewalt antut, so stellt Fichte doch ftir den vorliegenden Kontext gewichtige Hinweise bereit, die die Stellung des Subjekts deutlich pointieren. In den bisher referierten Erkenntnistheorien war das Subjekt stets ein Produkt des Versuches, sicheres Wissen bzw. sichere Erkenntnis zu begrunden. Descartes etwa hebt mit einem radikalem Zweifel an und fmdet den letzten Halt in seinem ,Cogito'. Locke lasst die Erkenntnis liber die Erfahrung laufen und setzt das Subjekt erst als Ergebnis einer nach innen gerichteten Wahmehmung (reflection). Hume ft)lgt ihm in gewissem Sinne darin und muss schlieBlich sogar eingestehen, dass bei einer konsequenten Untersuchung das Subjekt eigentlich nicht erklarbar ist. Kant dringt tiber die sinnliche Wahmehmung und die Verstandeskategorien bis zu jenem synthetisierenden Moment vor, dass in dem begriffslogischen Subjekt des ,Ich denke' mundet. Fichte nimmt dieses Ergebnis auf und setzt es an den Anfang seiner Philosophie. Die Wissenschaftslehre soil nach Fichte auf einem Grundsatz aufl^auen, dem der Status der Unbedingtheit zukommt und der seinerseits nicht bewiesen werden kann. Er soil jenseits empirischer Bestimmungen des Bewusstseins liegen und dieses iiberhaupt erst moglich machen. Bei seiner Bestimmung eines solchen Grundsatzes gesteht Fichte allerdings ein, dass er einen Zirkel produziert, wenn er zunachst im empirischen Bewusstsein nach Regeln sucht, die die Bestimmung anleiten sollen, deren GUltigkeit streng genommen erst durch den Grundsatz demonstriert wird (vgl. dazu Stolzenberg 1994). Er kann aber ftir sich reklamieren, in Ubereinstimmung mit einer allgemein anerkannten Logik zu operieren, wenn er als Regel fur die Bestimmung seines absoluten Grundsatzes von dem logischen Urteil ,A = A' ausgeht. Damit wird, so Fichte, ein Urteil als giiltig angenommen, dem jedoch keine Existenzaussage inhariert. Der Satz ,A = A' besagt nur, dass wenn ein A ist, ist es ein A. Aufgrund des rein formalen Charakters dieses logischen Urteils, bleibt aber offen, ob ein A ist oder eben nicht. Fichte repetiert damit die schon von Kant gewonnene Einsicht, dass aus der Logik zwar allgemeine Regeln extrahiert werden konnen, diese aber ftir eine Wahrheits- oder Existenzbehauptung nicht hinreichen. Ahnlich zur Argumentationsstrategie Descartes', der ftir seinen Zweifel ein ,Cogito' benotigte, postuliert Fichte daher in 143
einem zweiten Schritt, dass ein solches A nur in einem und durch ein ,Ich' existieren kann. Dieses setzt damit etwas, das sich stets gleich bleibt und das sich in dem Satz ,Ich = Ich' Oder ,Ich bin Ich' ausdriicken lasst. „Der Satz: Ich bin Ich, aber gilt unbedingt und schlechthin, [...]; er gilt nicht nur der Form nach, er gilt auch seinem Gehalte nach. In ihm ist das Ich, nicht unter Bedingung, sondem schlechthin, mit dem Eradicate der Gleichheit mit sich selbst gesetzt; es ist also gesetzt; und der Satz lasst sich auch ausdriicken: Ich bin." (Fichte 1794/1971b: 95) Mindestens zwei gewichtige Anschlussfragen werden mit diesem Anfang der Wissenschaftslehre produziert. Zum einen scheint sich Fichte in das klassische Iterationsproblem zu verstricken, wenn er von einer urspriinglichen Selbstgewissheit, wie sie in dem Satz ,Ich bin' formuliert ist, ausgeht. Ein Ich, das sich seiner Selbst gewiss wird, setzt ein weiteres Ich voraus, dass diese Selbstgewissheit prozessieren kann usw. Klaus Diising (1995) hat indessen verdeutlicht, dass Fichte dieses Problem umgeht, in dem der Akt der Selbstvergewisserung nicht als passiv-rezeptiv verstanden wird, sondem als rein intellektuelle Selbstanschauung, die nicht nach dem Modell der Subjekt-Objekt-Differenzierung fiinktioniert. Das Ich verbleibt in sich selbst und gewinnt seine Selbstgewissheit aus einem rein intellektuellen Prozessieren, das alien weiteren Bestimmungen und Tatigkeiten des Bewusstseins zugrunde liegt. Zum anderen schlieBt sich die Frage an, inwieweit die Selbstvergewisserung zugleich eine Existenzgewissheit darsteHt. Zwar ist in dem Satz ,Ich bin' ein Seinspradikat enthalten. Dennoch stellt Fichte, anders als Descartes, eine Existenzgewissheit nicht an den Anfang seiner Philosophic (Hanewald 2003), so dass der Status jenes bedingungslosen ,Ich', das in der Form des ,Ich bin Ich' als Grundsatz der Wissenschaitslehre fungiert, zu einem subtilen Balanceakt zwischen dem cartesianischen ,Cogito' und dem ,Ich denke' Kants wird. Dem Ich kommt keine urspriingliche Existenzgewissheit zu und unterscheidet sich damit zunachst im Sinne Kants vom cartesianischen ,Cogito'. Das Ich ist nicht erst die notwendig anzunehmende urspriingliche Apperzeption des Mannigfaltigen der Erfahrung, sondem bereits die Bedingung fiir eine solche Synthetisierungsleitung, und unterscheidet sich damit vom ,Ich denke'. Es verbleibt flir das Ich der Wissenschaftslehre also zunachst der Status einer bedingungslosen Entitat, die in der Selbstreferentialitat einer intellektuellen Anschauung eine Selbstgewissheit fmdet, die nicht bloBe Form ist, aber zugleich noch nicht bis zur Existenzgewissheit durchdringt. Diese ergibt sich erst durch die Tathandlung des Sich-Setzens. Das Ich der Wissenschaftslehre geht namlich in dem Zustand reiner intellektueller Selbstanschauung nicht auf. Es ist zugleich ein tatiges Ich, das jenes Urteil ,A = A' in der gehaltvollen Form des ,Ich = Ich' Oder ,Ich bin' in seinem Bewusstsein setzt und damit sich selbst als Seiend. Das Ich enthah sein ,Sein' durch den selbstreflexiven Akt, dass es sich durch sich selbst setzt. Diese Tathandlung des Sich-Setzens wird von Fichte als reine Tathandlung konzipiert. Besondere empirische Bestimmungen des Bewusstseins oder des Handelns gehen in diese nicht ein. Der Status des urspriinglichen Ich der Wissenschaftslehre verschiebt sich damit gegeniiber der intellektuellen Selbstvergewisserung einerseits und den bisher referierten Modellen andererseits: Das Ich ist ein tatiges Ich, das sich in einem radikalen Sinne autopoietisch selbst entwirft. Es iiberwindet ideengeschichtlich seine konstitutionstheoretisch passive Stellung, entweder von Gott mit angeborenen Ideen ausgestattet worden zu sein, oder sich erst durch die Stimuli der Umwelt und der eigenen verobjektivierten Subjektivitat zu kon144
stituieren. Das Ich wird zu seinem eigenen ,Schopfer' und nur als solches vermag es den gesuchten obersten Grundsatz der Wissenschaftslehre zu ermoglichen. Es ist durch seine Selbstreferentialitat als bedingungsloses Ich gesetzt und erfiillt damit die gesuchte Anforderung an einen absoluten Grundsatz. Im Umkehrschluss wird damit der dem empirischen Bewusstsein entliehene Satz ,A = A' begrtindet und als legitimer Ausgangspunkt der Untersuchung gerechtfertigt. Fichte handelt sich mit dieser Ich-Konzeption das Problem ein, das Luhmann mit dem Begriff der ,Tautologie der Selbstreferenz' bezeichnet hatte. Aus einem ausschlieBlich selbstbezliglichem Ich lasst sich zwar ein gehaltvoller Ich-Begriff ableiten - eben den der Selbstbeziiglichkeit - aber keine gehaltvolle Wirklichkeitserkenntnis, um die es schlieBlich auch der Wissenschaftslehre zu tun ist. Fichte erweitert daher seine Uberlegungen um einen zweiten Grundsatz, den er wiederum dem empirischen Bewusstsein entnimmt und der wiederum auf eine allgemeine Zustimmung hoffen darf. So wie der Satz ,A = A' allgemeine Gliltigkeit besitzt, so kommt auch dem Satz ,-A nicht =A' dieselbe Gultigkeit zu. Inhaltlich wird durch diesen Satz ein Entgegensetzen markiert, das allerdings unter der Pramisse des aus dem ersten Grundsatz folgendem einheitlichen Bewusstseins steht. „Es ist ursprlinglich nichts gesetzt, als das Ich; und dieses nur ist schlechthin gesetzt. Demnach kann nur dem Ich schlechthin entgegengesetzt werden. Aber das dem Ich entgegengesetzte ist = NichtIch." (Fichte 1794/197lb: 104) Das Ich setzt also in seinem eigenen Wirkungsbereich ein Nicht-Ich, das als Synonym fiir die materielle und soziale Umwelt des Ich gelten kann. Luhmann wiirde an dieser Stelle von einem Re-entry der System-Umwelt-Differenz sprechen und damit den Sachverhalt benennen, den Fichte mit der Entgegensetzung des NichtIch meint. Das Ich holt sich eine Fremdreferenz in die eigene Absolutheit und durchbricht damit die reine Selbstbeziiglichkeit bzw. die ursprungliche Tatigkeit der selbstreferentiellen Autopoiesis. Diese Durchbrechung produziert nun in der Interpretation Fichtes ein kontradiktorisches Anschlussproblem: Der erste und der zweite Grundsatz heben sich gegenseitig auf. Wird mit dem ersten Grundsatz ein Ich oder ein identisches Bewusstsein gesetzt, so wird mit dem zweiten Grundsatz ein dem entgegenstehendes Nicht-Ich gesetzt, das die erste Setzung des Ich wieder aufhebt. Anders formuliert: Der Realitat des Ich wird die Negation durch das Nicht-Ich entgegengesetzt und umgekehrt. Auf den bereits am Ende des ersten Teils problematisierten Kontext einer intersubjektiven Sozialisationsforschung bezogen bedeutet dies: Das gesetzte Ich wird beziiglich seiner Autonomiepotentiale durch die sozialisatorisch wirksame Existenz einer sozialen und materiellen Umwelt beschrankt und verliert damit seine Autonomiepotentiale wieder, die sich in den (fremd-)sozialisatorischen Einfllissen verlieren. Das Subjekt wird zum Objekt schichtenspezifischer oder geschlechtsspezifischer Umweltbedingungen, oder, in der Terminologie Fichtes, das Ich ist nicht langer als ein identisches Ich zu verstehen. Fichte thematisiert mit seiner kontradiktorischen Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich also den Kern der ,Kritik der sozialisierten Vemunft'. Er bleibt freilich nicht bei der bloBen Problematisierung stehen. Die hegelsche Dialektik bereits andeutend lost er die kontradiktorische Situation in einer Synthese auf Dabei wechselt er von den qualitativen Momenten des Ich und des Nicht-Ich zu einer quantitativen Perspektive. Ich und Nicht-Ich werden als teilbar defmiert und konnen so nebeneinander im Ich existieren. Das teilbare Ich ist dann aber nicht mehr identisch mit dem absoluten Ich. 145
Letzteres ist es, welches sowohl das teilbare Ich als auch das teilbare Nicht-Ich setzt und damit alle Reahtat umfasst. Fichte fasst seine Uberlegungen in dem nunmehr erarbeitetem Grundsatz zusammen: „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen."(Ebd.: 110) Diese Bestimmung des Subjektiven verandert die Stellung des Subjekts zu seiner Umwelt gegeniiber Kant nochmals. Sie nimmt die „transzendentale Wende", die den Erkenntnisprozess aus der Perspektive des Subjekts zu erklaren trachtet, auf, operiert aber mit einem gehaltvolleren und kompetenteren Subjektverstandnis als die begriffslogische Fassung durch Kant. Am Ausgangspunkt steht ein tatiges Subjekt, das sich selbst als Zusammenspiel von Ich und Nicht-Ich entwirft. Die drei Grundsatze, in denen Fichte dieses Verstandnis des Subjektiven entfaltet, konnen dabei als entwicklungstheoretische Konstitution eines identischen Bewusstseins gelesen werden. Und tatsachlich zeigt sich in einem Vergleich mit den entwicklungspsychologischen Befunden Piagets eine synonyme Verlaufsperspektive. Auch Piaget erblickte in einem zunachst in sich ruhendem Bewusstsein den Startpunkt der Ontogenese. Der Saugling trennt nicht zwischen sich und einer Umwelt und hat keinen positiven Bezug zu seinem eigenen Korper. Es verharrt in einem differenzlosen Bewusstseinsmodus, der mit der Formel „Ich = Ich" auf den Begriff gebracht werden kann, wobei selbstverstandlich zu vergegenwartigen ist, dass das ,Ich' hier nicht im Sinne eines soziologischen Individualismus zu verstehen ist. Wie bereits angedeutet, setzt ein solcher Ich-Begriff die Differenzsetzung zu Anderen voraus. Bei Fichte erfolgt diese Setzung im zweiten Grundsatz, der bei Piaget mit der Entwicklung der Objektpermanenz zusammenfallt. Das Kind beginnt zwischen sich und der Umwelt eine Unterscheidung zu treffen, die schlieBlich auch einen positiven Bezug auf den je eigenen Korper ermoglicht. Es setzt ein Nicht-Ich, das allerdings aus der Perspektive Fichtes durch die urspriingliche Setzung des Ich gerahmt bleibt. Dennoch geht auch Fichte davon aus, dass jenes Nicht-Ich eine Begrenzung des operativen Wirkungskreises des Bewusstseins bedeutet. Bei Piaget liest sich dieser Umstand als Uberwindung der kindlichen Egozentrik und als Perspektiwerschrankung mit einer grundsatzlich eigensinnigen Umwelt. Die beiden Prozesse der Assimilation und der Akkommodation und vor allem deren Aquilibration spiegeln dabei die von Fichte im dritten Grundsatz angegebene Synthese der gleichberechtigten Koexistenz von Ich und Nicht-Ich im Ich. Das kindliche Bewusstsein, so Piaget, ist auf der einen Seite in der Lage, die materielle und soziale Umwelt in die erworbenen Schemata zu assimilieren und setzt damit ein Ich, das den Wirkungsbereich des Nicht-Ich begrenzt. Die materielle und soziale Umwelt ist auf der anderen Seite in der Lage, aufgrund ihrer Eigensinnigkeit die Ausdifferenzierung der kognitiven Schemata anzuschieben und so den Wirkungsbereich des Ich zu begrenzen. Und so wie bei Piaget die kognitive Entwicklung angeschoben wird durch die intellektuelle Tatigkeit des Kindes, erreicht auch das Ich bei Fichte seine Entwicklung durch eine Tatigkeit, die gegeniiber den bisher vorgestellten Erkenntnistheorien eine Neuerung darsteUt. Zwar hatte das Erkenntnissubjekt in den rationalistischen Ansatzen eine aktive Stellung gegeniiber der Umwelt erhalten. Bei Fichte und in einem abgeschwachten Sinne auch bei Piaget avanciert das aktive Erkenntnissubjekt zu einem ,Schopfersubjekt', das die Umwelt iiberhaupt erst aus sich selbst heraus und in sich setzt. Es ist nicht mehr nur jenes „produktiv realitatsverarbeitende Subjekt", mit dem Hurrelmann aus einem sozialisationstheoretischen Blickwinkel das Subjektverstandnis des Rationalismus zusammenfasst, 146
sondem es erzeugt bereits jene Umwelt, die es dann produktiv verarbeiten kann (vgl. dazu Beer 2002b). Dies bezieht sich freilich auf das absolute Ich, konzipiert als intellektuelle Potenz oder reine Tatigkeit. Das teilbare Ich diirfte dabei eher dem ,Me' entsprechen, das Mead als das empirische Ich einflihrt und das allerdings auch bei Mead aus dem ,1' als gleichsam absoluten Ich ausdifferenziert wird. Das Nicht-Ich wird nun allerdings nicht, wie sich vermuten lieBe, auf eine rein passive Stellung zuruckgenommen. Wie Alois K. Soller (1997) anmerkt, kann das Nicht-Ich verglichen werden mit dem kantianischen ,Ding an sich'. Dessen Rolle in der kantianischen Erkenntnistheorie, Verursacher der Vorstellungen zu sein, wird von Fichte durch die Verwendung des Terminus des AnstoBes ubernommen, um anzuzeigen, dass der Setzungsakt des Ich nicht als Position eines radikalen oder solipsistischen Idealismus zu verstehen ist. Fichte ist, wie schon sein Vorganger Kant, bemuht zwischen den Positionen des Realismus und des Idealismus zu vermitteln und fiihrt daher ein Verstandnis des Nicht-Ich ein, das seinerseits dadurch charakterisiert wird, dass es die Entwicklung und Reflexion des Ich ,anstoBt'. Seine Realitat erhalt das Nicht-Ich zwar weiterhin vom Ich, dieses aber gelangt zur Reflexion erst liber die Auseinandersetzung mit dem Nicht-Ich, „In dieser Wechselwirkung wird in das Ich nichts gebracht, nichts fremdartiges hineingetragen; alles was je bis in die Unendlichkeit hinaus in ihm sich entwickelt, entwickelt sich lediglich aus ihm selbst nach seinen eigenen Gesetzen; das Ich wird durch jenes Entgegengesetzte bloss in Bewegung gesetzt, um zu handeln, und ohne ein solches erstes bewegendes ausser ihm wiirde es nie gehandelt, und, da seine Existenz bloss im Handeln besteht auch nicht existiert haben." (Fichte 1794/197lb: 279) Wie leicht ersichtlich, nimmt Fichte hier wesentliche Einsichten Luhmanns vorweg. Zwar wird der Prozess der intellektuellen Entwicklung einerseits nach dem Modell der Selbstsozialisation beschrieben, zum anderen aber fmdet die Selbstsozialisation nicht in einem materiellen und sozialen Vakuum statt, sondem wird angetrieben und angereichert durch ein fremdreferentiell gesetztes Nicht-Ich. Mit der pointierten Stellung, die Fichte dem Subjekt gegeniiber der Umwelt einraumt, stellt sich fur ihn das Problem, die postulierte Selbstreferentialitat des Bewusstsein mit dem Umstand kompatibel machen zu miissen, dass nicht erklart werden kann, warum das absolute Ich uberhaupt ein Nicht-Ich und ein Ich setzt. Seine Reaktion auf dieses Problem markiert dabei eine bedeutsame Strategic: Fichte postuliert, ebenfalls im Einklang mit seinem groBen Vorganger, den Primat der praktischen Philosophie. Dies bedeutet, innerhalb der theoretischen Philosophie kann nicht gezeigt oder erklart werden, wie es dazu kommt, dass ein Nicht-Ich und ein Ich als teilbare Mengen innerhalb der absoluten Ich ausdifferenziert werden. Deutlicher formuliert: Es gibt keine (Letzt-)Begrundung dafiir, dass der Mensch aus dem differenzlosem Zustand einer ursprtinglichen Identitat heraustritt und sich auf die tatige Auseinandersetzung mit einem Nicht-Ich einlasst. Zeigen kann Fichte dem eigenen Anspruch nach nur, dass wenn ein Setzen stattfmdet, dieses ein Entgegensetzen ist. Dass aber ein Setzen stattfmdet ist zunachst nur ein Faktum des empirischen Bewusstseins, das heiBt es muss und kann erfahren werden. Den Primat der praktischen Philosophie anzufuhren bedeutet nun, dass Fichte den Begriff des Strebens einftihrt, der dem Setzen und Ausdifferenzieren des Ich und des Nicht-Ich zugrunde liegt. Wenn die je eigene Subjektivitat bzw. Selbstreflexion nur uber die Auseinandersetzung mit einem Objekt zustande kommt, kann dieses Objekt (bzw. das Nicht-Ich) 147
als erstrebenswertes Gut konzipiert werden. Das Verlassen einer urspriinglichen und differenzlosen Identitat folgt also einem Impuls, der als Streben nach Reflexion und damit nach einer qualitativen Selbstbestimmung charakterisiert werden kann. Es braucht hier nicht zu interessieren, inwieweit Fichte mit dem Begriff des Strebens eine (ontologische) Anthropologic verwendet, die er zwar aus dem Feld der theoretischen Philosophic herauslost, die aber durch die Stellung innerhalb der praktischen Philosophic nicht begriindungsfahiger wird. Den Menschen als ein nach Reflexion strebendes Wesen zu konzipieren, operiert mit einer Unterstellung, die unter nachmetaphysischen Bedingungen ebenso wenig zu iiberzeugen vermag wie der Rekurs auf Gott. Interessant fur die weiteren Uberlegungen ist allerdings der generelle Status, den die praktische Philosophic durch Fichte erhah. Sic soil jene Lucke fiillen, die in der theoretischen (bzw. im vorliegenden Fall der erkenntnistheoretischen) Philosophic nicht zu fiillen ist. Fichte kann aus der erkenntnistheoretischen Diskussion heraus begrtindet von einem Ich ausgehen, das alle Realitat aus sich selbst heraus setzt, Sowie Kant bereits vor dem sich daran anschlieBenden Dilemma stand, damit nicht mehr erklaren zu konnen, wie es dann iiberhaupt zu Vorstellungen kommt, muss auch Fichte darauf eine Antwort fmden. Kant kann sich mit seinem subjektunabhangigem ,Ding an sich' immerhin eine Hintertlir offen lassen, durch die fremdreferentielle Impulse auf das Ich wirken. Bei Fichte ist, wie schon in ahnlich radikaler Form bei Leibniz oder Berkeley, diese Hintertlir nicht in der gleichen Art und Weise geoffnet, und er sieht sich genotigt, die Fremdreferenz innerhalb der Selbstreferentialitat zu erklaren. Der Terminus des Strebens mag sich dabei anbieten, da dieser als Modus der Selbstreferentialitat gedacht werden kann. Der Primal der praktischen Philosophic bei Fichte drlickt sich hingegen noch in einer weiteren Argumentation aus, die nicht in gleichem MaBe unter dem Verdacht der Metaphysik steht. Fichtes intellektuelle Biographic zeichnet sich durch einen entscheidenden Wendepunkt aus: Der eher zufalligen Lektlire der ,Kritik der praktischen Vemunft' von Immanuel Kant. Dessen starke Referenz auf die Freiheit kommt Fichte, dem Apologeten der Franzosischen Revolution, entgegen und sein gesamtes philosophisches und politisches Denken fmdet in der Freiheit seinen Fixpunkt. Auf den vorliegenden Kontext bezogen, auBcrt sich dies in einer Begrlindung flir seinen Idealismus, die sich einerseits den verschiedenen erkenntnistheoretischen Paradigmen entzieht und die andererseits ohne starke Setzungen bezliglich des Menschen auskommt. Fichte konstatiert, dass die beiden groBen konkurrierenden Entwurfe des Materialismus (und/oder Empirismus) und des Idealismus (und/oder Rationalismus) jeweils in sich derart begrlindet sind, dass eine Entscheidung fur einen der beiden Entwlirfe auf dem Terrain der Erkenntnistheorie ausgeschlossen ist. Sowohl die Theorie einer Selbststandigkeit der Dinge, die das menschliche Bewusstsein anleiten, als auch die Theorie der Selbststandigkeit des menschlichen Bewusstseins, das die Ordnung der Dinge anleitet, konnen flir Fichte immanent plausibel gemacht werden. Wird allerdings der MaBstab der Freiheit fur eine Entscheidungsfmdung angelegt, muss, so Fichte, der Idealismus vorgezogen werden, da er die Freiheit nicht nur postuliert, sondem als Axiom an den Anfang der Untersuchung stellt. Wahrend im Materialismus das Subjekt durch die materielle und soziale Umweh determiniert oder wenigstens prajudiziert wird, dreht sich dieses Verhaltnis im Idealismus um (vgl. dazu auch Fichte 1800/1971). Die postulierte Freiheit des Erkenntnissubjekts wird so zu einer politischen Autonomie und die politische Autonomie wird zu einem fundierendem Prinzip innerhalb theoretisch148
philosophischer Erorterungen, die im Anschluss an diese Autonomie aus politischen Interessen heraus von der Freiheit des Erkenntnissubjekts ausgehen miissen. Fichte schreibt dazu: „Es ist kein Entscheidungsgrund aus der Vemunft moglich; denn es ist nicht von Ankniipfung eines Gliedes in der Reihe, wohin allein Vemunftgriinde reichen, sondem von dem Anfange der ganzen Reihe die Rede, welches, als ein absolut erster Act, lediglich von der Freiheit des Denkens abhangt. Er wird daher durch Willkiir, und da der Entschluss der Willklir doch einen Grund haben soil, durch Neigung und Interesse bestimmt. Der letzte Grund der Verschiedenheit des Idealisten und des Dogmatikers [gemeint ist der Materialist, R. B.] ist sonach die Verschiedenheit ihres Interesse." (Fichte 1779/1971: 432) Natlirlich kann gegen diese Strategic eingewendet werden, sie operiere auf einer metawissenschaftstheoretischen Ebene, die ihrerseits dem Feld der theoretischen Philosophic angehort. Denn die Konstatierung, dass jegliche Wissenschaft letztlich in den Interessen und Neigungen des Wissenschaftlers fundiert ist, ist selbst ein sowohl theoretischer (etwa Habermas 1968) wie auch empirischer (etwa Feyerabend 1999) Befund, der nicht umstandslos fiir sich beanspruchen darf, einzig aus Uberlegungen der praktischen Philosophic abgeleitet worden zu sein. Dennoch wird mit dieser Strategic ein Entscheidungsmodus eingeflihrt, der jenseits der grundsatzlich fragilen Architektur der Erkenntnistheorie lokalisiert ist. Diese kann die natiirliche Einstellung einer Abbildtheorie nicht plausibilisieren und produziert mit der These der Subjektabhangigkeit der Erkenntnis Anschlussprobleme, die sich im Kern um die Frage zentrieren lassen, wie sich die Genese stabiler Vorstellungen aus der Selbstbezuglichkeit des Subjekts ableiten lasst. Mit der praktischen Philosophic wird ein Erganzungsprinzip eingeflihrt, das diese Probleme nicht lost, der Entscheidung fiir die Subjektabhangigkeit aber cine Verankerung ermoglicht, die nachmetaphysischen Bedingungen zu gentigen vermag. Das Postulat der subjektiven Autonomie kann (inzwischen) auf die Durchsetzung in Form von Menschenrechten verweisen, die als positives Recht vorliegen. In einem Zirkelschluss konnen diese dann durch die erkenntnistheoretisch postulierte Autonomie des Subjekts argumentativ fundiert werden (Beer 2004b). Insgesamt nun spitzt Fichte die These der Subjektabhangigkeit der Erkenntnis in der Form zu, dass er den Ausgangspunkt der Untersuchung in einem identischen Bewusstsein sucht. Das Erkenntnissubjekt ist nicht mehr nur Produkt erkenntnistheoretischer Reflexionen, sondern treibt den Prozess der Erkenntnis aus sich selbst heraus an, indem es selbst die zu erkennende Wirklichkeit in sich setzt. Fichte konzipiert diese in dem Terminus des Nicht-Ich zusammengefasste Wirklichkeit dabei so, dass sie einerseits abgeleitet bleibt vom Subjekt, andererseits als eigensinnige Umwelt gedacht wird, die die Tautologie der Selbstreferenz durchbricht. Der Status des Nicht-Ich oszilliert damit zwischen dem kantianischen ,Ding an sich' und der Immaterialitatsthese Berkeleys. Es ist Produkt der Einbildungskraft und zugleich auBerer AnstoB der intellektuellen Genese. Sozialisationstheoretisch gelesen, entwickelt Fichte mit dieser Anlage den Apriorismus Kants weiter. Da das Subjekt zunachst in der leeren Form des ,Ich bin Ich' prasent ist, miissen auch die Verstandeskategorien erst generiert werden, wobei dies - gut sozialisationstheoretisch - uber die Schienen der aktiven und reziproken Auseinandersetzung mit dem Nicht-Ich lauft. Das Nicht-Ich als auBerer AnstoB ist also nicht, wie dies noch bei Kant nahe gelegt wird, bloBe Fremdreferenz um die Stabilitat der Erfahrung und Erkenntnis erklarbar zu machen, sondem dartiber hinaus ein AnstoB zur intellektuellen Genese oder sozialisationstheoretisch gewendet: zur 149
Personlichkeitsentwicklung. Die Nahe zum systemtheoretischen Konzept der Selbstsozialisation ist dabei unubersehbar. Das Subjekt entwickelt sich nicht in Reaktion auf Umweltstimuli, sondern durch den Aufbau subjektintemer Strukturen, die ihrerseits die weitere Entwicklung programmieren. Die entstehende Frage nach der Moglichkeit eines durch Selbstreferenz angeschobenen Sozialisationsprozesses verschiebt Fichte allerdings im Gegensatz zu Luhmann auf das Feld politischer Motivationen, die im Fall der Sozialisationstheorie aufgrund der postulierten Freiheit als Ergebnis der Ontogenese auch von einem Akteur ausgehen mtissen, der die Potentiale fur das Erreichen eines solchen Telos in seinen Erkenntnisoperationen immer schon mitbringt. Ein Subjekt, wie es bei Fichte konzipiert wird, erfullt aufgrund der eigenen Tatigkeit des Setzens diese Bedingung und fugt sich auf diese Weise in das politische Postulat der Freiheit ein. Und rein sozialisationstheoretisch gilt damit: Die von Geulen aufgestellte Bedingung einer Konzeption des Subjekts, die vor den Bedingungen der Sozialisation liegt, wird mit dem tatigen Ich der Wissenschaftslehre erfullt. Das Subjekt liegt nicht nur vor den Bedingungen der Sozialisation, es generiert sogar diese Bedingungen erst durch das eigene Setzen des Nicht-Ichs im Ich.
4.8. Zwischenbetrachtung: Das Subjekt zwischen einem Konstitutions- und einem Vermittlungsproblem Sinn und Zweck der Ausfuhrungen zur klassischen Erkenntnistheorie war es, zu uberprtifen, ob aus diesem Diskurs ein Subjektbegriff abgeleitet werden kann, der logisch vor seiner Einbettung in soziale und materiale Kontexte positioniert ist und der als Fundierung fiir die Sozialisationstheorie und -forschung Verwendung fmden kann. Der dominierende methodische und heuristische Zugang zu den Prozessen der Sozialisation in Form intersubjektivistischer Annahmen kann zwar flir sich reklamieren, eine kritische Analyse von Umweltbedingungen anzuschieben, die etwa fiir die Reproduktion von sozialer Ungleichheit verantwortlich sind. Derartige Analysen operieren indessen mit einem Subjektmodell, das in seiner theoretischen Konzeptionalisierung widerspruchlich ist. Das Subjekt muss eigentlich schon Subjekt sein, um an intersubjektiven Aktionen partizipieren zu konnen, soil seine Subjektivitat aber erst aus diesen Aktionen generieren konnen. Die klassische Erkenntnistheorie setzt dagegen von vomherein mit einem Subjektbegriff an, der als differentes Prinzip zu den Gegebenheiten der Umweh gedacht ist. Dabei werden allerdings aus der Sicht der Sozialisationstheorie zwei Problemlinien relevant, die die Richtschnur fur den nochmaligen komprimierten Durchgang durch die angefuhrten Philosophen bilden sollen: Zum einen stellt sich die flir den vorliegenden Kontext ohnehin zentrale Frage nach einer widerspruchsfreien Konstitutionstheorie des Subjektiven und zum anderen schlieBt sich an eine solche die Bedingung an, die sozialisationstheoretische Pramisse einer Vermittlung des Subjektiven mit der Umwelt aufnehmen zu konnen. Wie schon deutlich geworden sein sollte, oszilliert das Subjektverstandnis mit dem Pendelschlag zwischen den Polen des Empirismus und des Rationalismus/Idealismus auch zwischen den Polen einer widerspruchfreien Konstitution bei gleichzeitigen Vermittlungsschwierigkeiten und einer problemlosen Vermittlung bei gleichzeitigen Konstitutionswiderspriichen.
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Der Empirismus eines John Locke etwa verstrickt sich in ahnliche Ungenauigkeiten bei der Bestimmung des Subjektiven wie das Intersubjektivitatsparadigma. Zwar rechnet er nicht mit einem dialogischen Prozess, der in der Reziprozitat zweier Akteure wurzelt, sondem mit der passiven Rezeptivitat des erkennenden Subjekts. Aus der sozialisationstheoretischen Sicht von George Herbert Mead verfehlt er damit die Einsicht in die grundsatzliche Bedeutsamkeit von Interaktionen zwischen zwei aktiven Entitaten fiir die Ontogenese. Dennoch operiert Lockes Modell einer Subjektkonstitution liber die „Reflection" argumentationsstrukturell ahnlich zum Intersubjektivitatsparadigma. Das Subjekt soil sich erst im Prozess des Wahrnehmens erkennen konnen, muss aber eigentlich schon Subjekt sein, um wahrnehmen zu konnen. Mit dieser Kritik wird selbstverstandlich nicht die Einsicht verworfen, dass sowohl interaktive Dialogsituationen als auch Prozesse der Selbstwahmehmung einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Personlichkeit darstellen. Sie verfehlen jedoch beide die Moglichkeit einer widerspruchsfreien Konstitutionstheorie des Subjektiven und konnen damit den Ausgangspunkt der Entwicklung nicht bestimmen. Anders formuliert: Sowohl das Modell der Intersubjektivitat als auch das Modell der Selbstwahrnehmung setzen erst an, wenn bereits erste Schritte beziiglich einer Subjektgenese in Gang gebracht wurden. Sie fokussieren streng genommen bereits erste Sozialisationsergebnisse und verlieren so die Bedingung der Moglichkeit von Sozialisation - namlich den Sozialisanden - eigentiimlich aus dem Blick. Diese Vemachlassigung wird korrigiert durch die rationalistische Strategic. Descartes wahlt mit dem Skeptizismus eine Methode, die die Erkenntnisfahigkeit grundsatzlich bestreitet und diskreditiert damit eo ipso das Modell der Selbstwahrnehmung, da er seinen methodischen Zweifel derart radikal vorantreibt, dass er die Moglichkeit einer Selbstwahrnehmung gleich mit auflost. SchlieBlich gilt, selbst die Erkenntnis subjektintemer Zustande fallt unter das Verdikt der moglichen Fehleranfalligkeit, so dass jede Aussage iiber das , Selbst' den gleichen Fragilitatsstatus hat wie eine Aussage iiber die materielle Umwelt. Descartes gelingt aber mit diesem methodischen Vorgehen ein direkter Zugriff auf das Subjekt, das in Form des notwendigen Pendants fur den Zweifel flingieren konnen muss. Er schalt das Subjektive aus den Prozessen der Erkenntnis heraus und gelangt so zu seinem ,Cogito', das dann als Grundlage fur die Philosophic und die Wissenschaften Geltung besitzen kann. Er hat mit seinem ,Cogito' ein Prinzip gefunden, das nicht hintergangen werden kann, soil an der Moglichkeit wahrer Aussagen festgehalten werden. Nicht jedoch aufgrund dieses wissenschaftstheoretischen Selbstanspruches des cartesianischen Rationalismus stellt Descartes einen Anreiz fiir die Problematisierung des Subjektiven innerhalb der Sozialisationstheorie dar - die als wissenschaftlicher Diskurs aus der Perspektive Descartes' schlieClich auch durch das ,Cogito' fundiert wird -, sondem aufgrund des Umstandes, dass Descartes mit einem Subjektbegriff aufwarten kann, der sich der konstitutionslogischen Widerspriichlichkeit des Subjektiven entzieht. Weil das Subjekt nur noch als notwendige Entitat fiir den methodischen Zweifel konzipiert ist, wird es nicht aus den empirischen Umstanden des intersubjektiven Austausches oder der reflexiven Selbstwahrnehmung abgeleitet und verstrickt sich auf diese Weise nicht in den Zirkel, das Subjektive als bedingtes und bedingendes zugleich denken zu miissen. Descartes schneidet das Moment des Bedingtseins ab, indem er das Subjekt gleichsam ,von oben', das heiBt aus der theoretischen Reflexion, und eben nicht ,von unten', das heiBt aus der Empiric, bestimmt. 151
Damit ist nun zwar der theoriestrategische Vorteil gewonnen, die Widerspriichlichkeit des Subjektbegriffes, wie sie im Intersubjektivitatsparadigma oder in der empiristischen Theorie John Lockes angelegt ist, zu iiberwinden. Dieser Gewinn ist aber durch den theoriestrategischen Nachteil erkauft, dass sich die Bezugnahme auf die materielle und soziale Umwelt nicht mehr umstandslos erklaren lasst. Wenn das Subjekt fiir seine (theorieimmanente) Herleitung von der Einbindung in die objektive, subjektunabhangige AuBenwelt abgeschnitten wird, wie ist dann im Umkehrschluss wieder eine Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt (oder einem anderem Subjekt) zu denken? Der Empirismus von Locke und das Intersubjektivitatsparadigma operieren in der Nahe des Alltagsverstandes^' und griinden ihre Theoreme zu einem groBen Teil auf der Existenzunterstellung einer solchen AuBenwelt. Der theoriestrategische Nachteil des Rationalismus gerinnt zum theoriestrategischen Vorteil des Empirismus. Und tatsachlich zeigte sich bei Descartes, dass dieser einen Umweg in seine Theoriearchitektur einbauen musste, um die AuBenwelt nach ihrer skeptizistischen Aushebelung wieder als Referenz flir die subjektive Erkenntnisleistung und als Referenz fiir wahre Aussagen zu instruieren: Die Vermittlungsleistung durch Gott. Bei diesem Schritt folgt ihm mit einigen Modiflkationen Gottfried Wilhelm Leibniz. Auch er lost das Subjekt in Form der fensterlosen Monade aus den empirischen Zusammenhangen der Bezugnahme auf die materielle und soziale Umwelt. Mit seinem grundlegenden principium identitatis indiscernibilium verzichtet er dabei auf die Methode des Skeptizismus und stellt auf ein Differenzdenken um, das schlieBlich iiber die Systemtheorie Luhmannscher Provenienz seinen Niederschlag in der modernen Soziologie fmdet. Zwar weiB auch Leibniz um die Fragilitat menschlicher Erkenntnisfahigkeit, die Descartes methodisches Vorgehen instruierte und die schlieBlich zu seinem ,Cogito' flihrte. Das Subjekt jedoch als immer schon differenzierte Entitat zur Umwelt zu konzipieren, stellt eine begriffliche Setzung dar, die zwar ebenfalls den theoriestrategischen Vorteil flir sich reklamieren kann, einen direkten Zugriff auf das Subjekt zu ermoglichen, die aber das Anschlussproblem der Vermittlung zur Umwelt dramatisch zuspitzt. Hatte Descartes noch auf der Ebene des Methodischen operiert, so dass die Wirklichkeit nur suspendiert war, wird bei Leibniz die Differenz zur Umweh eine gleichsam ontologische. Wenn das Subjekt eine fensterlose Monade ist, ist es dies nicht nur der Methode nach, sondern eben in der ,Wirklichkeit', die damit notwendig den Status einer unzuganglichen Umwelt erhalt. Der Riickzug in die Alltagswelt, der Descartes offen gestanden hatte und den Hume schlieBlich benutzen wird, wird auf diese Weise versperrt. Aber auch die Vermittlungsleistung durch Gott kann dann nicht langer darin bestehen, eine zumindest approximative Erkenntnis der Wirklichkeit zu garantieren. Wenn in die fensterlose Monade nichts eintreten kann, muss der Bezug zur Wirklichkeit anders hergestellt werden. Wahrend bei Descartes die Rolle Gottes eher einem fiirsorglichen Vater gleicht, der hier und da aushilft, grundsatzlich dem ihm anvertrauten Kind aber zumutet, selbst zu wahren Erkenntnissen zu kommen, gleicht die Rolle Gottes in der Philosophic Leibniz' eher dem Ubervater, der hinter den Kulissen den Lebensweg seines Sprosslings plant und auch realisiert, dem Sprossling also die Last der Bezugnahme auf die Umwelt abnimmt. Durch die prastabilierte Harmonic kann das Subjekt grundsatzlich mit einer Ubereinstimmung zwischen Gedachtem und Realem rechnen. Nicht nur vermag 15 Was keineswegs als disqualifizierendes Argument missverstanden werden darf.
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die von Leibniz dennoch koinzidierte Freiheit des Subjektiven durch diese theologische Einbettung nicht zu iiberzeugen. Die starke Ruckbindung an Gott fallt unter die gleiche Kritik wie bei Descartes: Sie halt dem Anspruch auf eine nachmetaphysische Theoriebildung nicht stand. Dennoch kann sowohl an Descartes und in noch deutlicherer Form bei Leibniz veranschaulicht werden, in welche Problemsituation sich die Bestimmung des Subjektiven aus dem Kontext der Erkenntnistheorie manovrieren kann. Aus der Erfahrung selbst ist ein konsistenter Begriff des Subjektiven nicht zu haben und ein rationalistisches Vorgehen produziert die Anschlussfrage, wie das Subjekt, das logisch vor seiner Einbettung in die Umwelt bestimmt wird, diese wieder als Fremdreferenz prozessieren kann. Kurz: Der Empirismus hat ein Konstitutionsproblem, der Rationalismus ein Vermittlungsproblem. Diese Problemlage verschiebt sich freilich mit den Empiristen Berkeley und Hume. Zwar geht auch Berkeley von einem ahnlichen Modell aus, wie es in der Monadologie von Leibniz vorgelegt wurde: Einem selbstreferentiellen Subjekt und einer Vermittlung durch Gott, der die Fremdreferenz zur Durchbrechung der Tautologie der Selbstreferenz beisteuert. Aus der Frontstellung gegen den Materialismus, um die Berkeley bemtiht ist, lasst sich indessen ein Moment fiir die Theorie des Subjekten ableiten, das in der Form vor Berkeley nicht mit der Deutlichkeit formuliert worden war. Die selbstreferentiell erzeugten Vorstellungen sind ,wahr', gerade weil sie selbstreferentiell erzeugt und die allein zuganglichen Vorstellungen sind. Berkeley lost damit die Notwendigkeit der Bezugnahme auf eine objektive AuBenwelt auf, die als Referenz fur die Generierung von wahren Erkenntnissen nicht langer benotigt wird, und postuliert seinem Selbstanspruch nach, mit diesem Theoriearrangement den Skeptizismus uberwunden zu haben. Aus diesem Arrangement folgt dann, dass jene selbstreferentiell erzeugten Vorstellungen als Quelle fiir die Bewaltigung des Alltags oder fur die wissenschaftliche Untersuchung hinreichend sind, weil sie als real existierend gedacht werden konnen, wenn auch nicht in einem absoluten Sinne. Vollig aufgelost hatte Berkeley das Vermittlungsproblem damit freilich nicht. Er laboriert an dem phanomenologischen Umstand, dass die je eigenen Vorstellungen nicht frei gewahlt werden, so dass ein AuBen - bei Berkeley eben Gott - notig wird, das als verantwortlich fiir die Generierung der Vorstellungen gehandelt werden kann. Es gibt also eine Art der Vermittlung. Diese entziindet sich aber nicht mehr an der Situation der Bezugnahme eines Subjekts auf seine Umwelt, sondem am subjektinternen Prozessieren selbst. Was unter dem Vorzeichen einer systemtheoretischen Sozialisationstheorie als Problem der Entwicklung aus Selbstreferenz gehandelt wird, ist fiir Berkeley allerdings noch eine genuin erkenntnistheoretische Frage: Wie kommen die Vorstellungen in das Bewusstsein, oder im Sinne des cartesianischen Vermittlungsproblems formuliert: Wie gewinnt das Subjekt Informationen iiber seine Umwelt? Da diese fiir Berkeley nicht in Form objektivierter Materie vorliegt, muss eine geistige Instanz gefunden werden, die diese Aufgabe ubemimmt, und fiir den Theologen Berkeley war es sicherlich nahe liegend, auf Gott zuriickzugreifen. Es ist dies aber nicht mehr eine sich am Subjekt-Objekt-Dualismus abarbeitende Theoriekonstitution, sondem ein Entwurf, der aus der Innenperspektive des Subjekts entwickelt wird und von dort bis zu Gott hinaufsteigt. Kurz: Das Vermittlungsproblem wird intrapsychisch aufgearbeitet oder: es wird internalisiert.
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Diesen Pfad der Internalisierung baut David Hume aus und er gehort damit zu den zentralen Wegbereitem fiir die transzendentale Wende durch Kant. Indem er die Ausgangsposition des Empirismus konsequent zur Anwendung bringt, treibt er diese so weit, dass schliefilich ein wissenschaftstheoretischer Skeptizismus heraus kommt, der den Zweifel nicht nur auf die ReaHtat der AuBenwelt bezieht, sondem zugleich auf das ,Ich' selbst. Das empiristische Credo, nach dem alle Erkenntnis durch die Pforten der Erfahrung muss, war bei Locke noch als starkes Argument gegen den Skeptizismus ins Feld gefuhrt worden, weil durch dieses Credo im Umkehrschluss die Befunde wissenschaftlicher Forschungen als wahre Aussagen bestatigt werden konnten. Es ist paradoxerweise der Empirist Hume, der durch seine undogmatischen Untersuchungen dieses Credo diskreditiert. Er misstraut der Selbstreferenz der Vernunft und tradiert damit Berkeleys Problemlage der autopoietischen Generierung von Vorstellungen. Er akzeptiert aber zugleich die Grenzen der sensuellen Erfahrung, die eben uber ihren eigenen Phanomenbereich nicht hinaus kommt bzw. die nicht sieht, was sie nicht sieht. Damit sind die beiden groBen Quellen der Erkenntnis zum versiegen gebracht und Hume bleibt eigentlich nur die Wahl zwischen einem Skeptizismus oder einem erneuten Riickgriff auf Gott. Durch den Verzicht auf die letztere Strategic leistet er nicht nur einen gewichtigen Beitrag zum Prozess der Aufklarung; Er destabilisiert streng genommen die Moglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse. Denn durch seine Einflihrung des pragmatistischen Motivs, den Vollzug der Alltagsbewaltigung sicher stellen zu konnen und dazu die Permanenz von Objekten, Relationen zwischen Objekten (z. B. Kausalitat) und der eigenen Identitat voraussetzen zu mussen, zerschneidet er die Bereiche des Alltags und der Wissenschaft und schreibt Letzterer aufgrund ihrer Reflexivitat auf ihre eigenen wissenschaftstheoretischen Grundlagen eine skeptische Haltung ins Stammbuch und akzeptiert ein laissez faire gegeniiber der Unbegriindbarkeit von Objekt- und Ich-Permanenz nur ftir den Bereich des Alltaglichen. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben so nicht mehr den Rang begrundeter Wahrheit, sondern sie mussen sich dem Strudel emotionaler und interessegeleiteter Auseinandersetzungen stellen, die letztlich tiber ihre ,Wahrheit' befmden. Die Skepsis wird auf diese Weise wieder gut cartesianisch eine kontrollierte Methode flir die Selbstreflexion der Wissenschaft. Die Uberwindung des Skeptizismus sucht Hume allerdings nicht mehr wie Descartes auf dem Boden dieser Selbstreflexion - schlieBlich misstraut er der Moglichkeit, durch ein intellektuelles Prozessieren zu einem wissenschaftstheoretischem Fundament zu gelangen - sondern auf dem Feld des Alltags, das auch Descartes mit seiner skeptischen Methode unberuhrt gelassen hatte. Das Subjektive, das Hume zu Recht nicht iiber die Erfahrung zu konstituieren trachtet, und das als rationalistische Begriffsbestimmung nicht durch genau jene Erfahrung bestatigt werden kann, wird so zu einer Bewaltigungsaufgabe innerhalb des Alltagsvollzuges. Hume kann so als ,Vorlaufer' der Sozialisationstheorie gelesen werden, die die Entwicklung einer starken Ich-Identitat (etwa bei Habermas) als Sozialisationsprojekt beschreibbar macht, das aufgrund subjektintemer oder sozialer Umstande scheitern kann. Gegeniiber dem oben angegebenen Dilemma zwischen einem empiristischen Konstitutionsproblem und einem rationalistischen Vermittlungsproblem verhalt sich Hume damit eigentiimlich neutral. Er hat kein Konstitutionsproblem, weil auf der Theorieebene kein Subjekt konstituiert wird, und er hat kein Vermittlungsproblem, weil streng genommen ohne ein konstituiertes Subjekt auch nichts vermittelt werden miisste. Eigentiimlich ist diese Neutralitat deswegen, weil auch Hume sich die Fra154
ge gefallen lassen muss, welche Instanz es denn ist, die im Alltag die Genese eines ,Ich' vorantreibt. Hume thematisiert diese Frage nicht, da es ihm nicht um eine (soziologische) Beschreibung des Alltags geht, wie dies etwa Alfred Schtitz vorgelegt hat, sondem um Fragestellungen, die im Bereich der Erkenntnistheorie oder der Wissenschaftstheorie angesiedelt sind. Wenn aber die Konzepte der Kausalitat, der Objektpermanenz oder der IchIdentitat intemalisiert, also dem Subjekt uberantwortet werden, muss es irgendeine Entitat geben, die als Subjekt fungiert, in die intemalisiert werden kann. Hume bleibt eine Antwort auf diese Frage schuldig, wenn er das Konstitutionsproblem im Bereich wissenschaftlichphilosophischer Reflexion invisibilisiert und allenfalls noch als Fragestellung einer bereits vom alltagsweltlich entwickelten Ich ausgehenden Deskription durch die Psychologic oder die Soziologie zulasst. Mit Immanuel Kant wird diese Invisibilisierung nicht vollstandig aufgehoben, durch die Anbindung an die rationalistische Tradition aber doch korrigiert. Kant nimmt den von Berkeley und insbesondere von Hume problematisierten Hinweis auf die starken Subjektanteile gerade in einem empiristisch verstandenen Erkenntnisprozess auf und dreht die SubjektObjekt-Achse einmal um sich selbst. Er kann an den von Hume noch zogerlich vorgenommen Yersuch ankniipfen, zentrale Begriffe wie Objektpermanenz oder Kausalitat nicht langer der Erfahrung zu entnehmen, sondem als Leistung des Subjekts zu konzipieren. Die transzendentale Wende hat damit fur den vorliegenden Kontext insbesondere die Bedeutung, die bereits bei Descartes oder Leibniz angedachte Stellung des Subjekts, logisch vor der Beziehung auf die Umwelt zu residieren, zu pointieren. Die transzendentale Wende iiberhoht sogar die Stellung des Subjekts, wenn sie gleichzeitig die Stellung der Umwelt derart in ihrer Eigensinnigkeit beschneidet, dass sie ihre Gesetze durch die kognitiven Operationen des Subjekts vorgeschrieben bekommt und auch dadurch, dass ihre Erkennbarkeit liberhaupt erst durch die subjektiven Anschauungsformen des Raumes und der Zeit gewahrleistet wird. Ganz entgegen dem Intersubjektivitatsparadigma ist nicht das Subjekt als abgeleitete GroBe aus seiner Referenz auf die Umwelt, sondem die Umwelt ist als abgeleitete GroBe aus dem Erkenntnisapparat des Subjekts zu verstehen. Daraus folgt, dass die Umwelt nicht ,an sich' zu erkennen ist. Erkannt wird nur nach MaBgabe der begrifflichen Schemata des Subjekts und das heiBt, erkannt wird eine subjektiv zugeriistete Umwelt. Die Rolle einer prajudizierenden Sozialisationsinstanz, wie zuweilen innerhalb des Sozialisationsdiskurses (Strukturfiinktionalismus, schichtenspezifische Sozialisationsforschung) konzipiert, kann die Umwelt damit nicht tibemehmen. Vielmehr dreht sich der Sachverhalt dahingehend um, dass das Subjekt zur prajudizierenden Instanz fur die Umwelt wird. Das rationalistische Vermittlungsproblem wird also aus der Perspektive des Subjekts aufgerollt und es stellt sich nicht mehr die Frage, wie sich das intellektuelle Prozessieren an die Umwelt anschmiegen kann, sondem ob sich die Umwelt durch die Verstandesbegriffe a priori kategorisieren lasst. Fiir Kant ist dies freilich eine ausgemachte Sache, da eben nur aufgrund der Verstandesbegriffe erkannt wird, eine Erkenntnis jenseits dieser Begriffe das menschliche Erkenntnisvermogen iiberschreitet und so das Erkannte immer schon unter die Verstandesbegriffe subsumiert ist. Theoretisch plausibilisieren lasst sich diese Antwort auf das Vermittlungsproblem allerdings nur durch die Dualisierung der Wirklichkeit in die Bereiche der Erscheinung und des ,Dinges an sich'. Dadurch das Letzteres jenseits des Erkenntnisvermogens und ausschlieBlich als begriffliche Notwendigkeit, das Moment der Fremdrefe155
renz einholen zu konnen, fungiert, braucht Kant keine Antwort auf die Frage zu geben, wie sich eine Ubereinstimmung zwischen Gedachtem und Realem denken lasst. Da sich das Erkenntnisvermogen einzig auf die Erscheinungen erstreckt, die schlieBlich erst durch die subjektiven Begriffe ermoglicht und bestimmt werden, ist die Ubereinstimmung von Gedachtem und Realem immer schon gesichert, wenngleich auch hier gilt: Sie ist als empirischer Prozess fehlbar. Wenn somit Kant durch seine transzendentale Wende bzw. durch die Degradierung der Wirklichkeit, auf das Vermittlungsproblem eine Antwort zu geben vermag, die ohne Gottes Hilfe auskommt, verbleibt auch ihm das Konstitutionsproblem. Zwar hinterlasst er durch sein begrifflogisches ,Ich denke' oder das Theorem des transzendentalen Subjekts nicht jene Liicke, die im Anschluss an Hume problematisch geworden war. Dennoch hah er an der von Hume mit empiristischen Mitteln durchgeflihrten metaphysikkritischen Einsicht fest, dass eine Ich-Substanz sich nicht erkennen lasst. GemaB dem Postulat, das sich die Begriffe auf mogliche Erfahrungen beziehen miissen, muss aber auch dem Begriff einer Ich-Identitat eine Erfahrung entsprechen. Dies ist aber, wie Hume schon eindringlich gezeigt hatte, nicht der Fall. Erfahren werden kann nur ein diskontinuierlicher Strom von Perzeptionen, der keine Auskunft iiber eine perpetuierende Instanz gibt, die als Subjekt oder als Ich-Identitat gelten konnte. Es bleibt also nur jenes ,Ich denke', das als Notwendigkeit fur die Synthetisierung des Mannigfaltigen nicht hintergehbar ist, das aber einzig einen deduktiven, begriffslogischen Status hat, trotz des Umstandes, dass Kant einraumt, die begriffslogische Notwendigkeit erlaube die Annahme von Subjektivitat wenigstens der ,Idee nach'. Die Konstitutionsproblematik halt Kant damit in einem Schwebezustand, der auf der einen Seite die Metaphysikkritik eines Hume emst nimmt, der aber auf der anderen Seite dennoch auf die Liicke, die Hume hinterlassen hatte, reagieren kann - wenn auch nur als begriffliche Deduktion. Scheinbar unberiihrt von dieser Problematik agiert der kantianisch inspirierte Johann Gottlieb Fichte. Aus der Sicht der hier diskutierten Konstitutionsproblematik setzt seine Wissenschaftslehre mit einem Paukenschlag ein: Das mit sich selbst identische Ich wird einfach als Ausgangspunkt und fundierendes Axiom der Philosophic gesetzt, Es braucht weder durch die Methode der Skepsis miihsam entwickelt werden, noch muss es durch die Pforten der Erfahrung schreiten und schon gar nicht entzieht es sich einer begrifflichen Bestimmung durch seine Auflosung im Strom der Perzeptionen. Es ist als ,Ich = Ich' gesetzt, weil keine andere Aussage gefunden werden kann, die als bedingungslose Aussage die Rolle eines axiomatischen Prinzips ubernehmen konnte. Das Konstitutionsproblem wird auf diese Weise der Invisibilisierung konsequent entzogen und zugleich von problematischen Ableitungen, die wie bei Hume die Ich-Identitat in Zweifel ziehen konnten, ausgenommen, so dass das Ich zur bedingungslosen Entitat wird. Dies allerdings zunachst nur in der Art eines begrifflichen Prinzips. Dem urspriinglichen Ich kommt keine Existenzgewissheit zu, da seine urspriingliche Selbstgewissheit nicht nach dem Modell einer erkennenden Rezeptivitat konzipiert ist, das sich auf eine ,objektiv' existierende Subjektivitat erstrecken konnte, sondem als rein intellektuelles Prozessieren, das sich mit seiner kognitiven Selbstreferentialitat begniigt. Es ist damit noch kein empirisches Bewusstsein gewonnen, das als Gegenstand der Psychologic eingefiihrt werden konnte, es ist aber doch ein Subjektverstandnis gesetzt, das inhaltlich bestimmter ist als das kantianische ,Ich denke'. Dieses 156
war eine aus den Notwendigkeiten des Erkenntnisprozesses abgeleitete Begrifflichkeit. Das absolute Ich der Wissenschaftslehre ist nicht abgeleitet und als ein tatiges Ich verfasst, das den theoretischen Bestimmungen des Erkenntnisprozesses vorangeht. Kurz: Die Reflexion auf den Erkenntnisprozess steigt nicht von der sinnlichen Anschauung zu einem Ich ,hinauf, sondern von dem gesetztem Ich zu den Moglichkeiten und Bedingungen der Erkenntnis ,hinab'. Die ursprtingliche Selbstreferenz ist damit mehr als ein Ergebnis formaler Deduktionen - sie ist konstituierende Tatigkeit und erst durch diese liber eine bloBe Formalitat hinausschieBende Bestimmung, ermoglicht sie die Setzung der eigenen Existenz, die aus dem ,Ich denke' nicht zu folgern war. Zwar gehen auch in diese Setzung keine Zustande des empirischen Bewusstseins ein, und das Ich wird als reine Tathandlung entworfen, die jedoch die je eigene Existenzgewissheit zu versichem vermag. Das Konstitutionsproblem umgeht Fichte also, indem er das Subjekt einfach setzt und dabei eine Bestimmung vornimmt, die iiber eine reine Begrifflogik hinausgeht und die durch den Begriff der Tatigkeit konkretisiert wird. Im Umkehrschluss wird damit seine Ausgangssetzung legitimierbar: Wenn das Subjekt als (reine) Tathandlung, aus der sich die eigene Existenz und die Prozesse der Erkenntnis ausdifferenzieren, bestimmt wird, eignet es sich auch, die Wissenschaftslehre zu fundieren. Eine abgeleitete und rein formale Bestimmung des Subjektiven kann dies per definitionem nicht leisten, da eine solche Subjektivitat nicht bedingungslos ist und aus einer solchen Subjektivitatsvorstellung keine weiteren Setzungen ableitbar sind. Nun hatte Kant den Kontakt zur Umwelt allein dadurch gehalten, dass er seine Uberlegungen mit der sinnlichen Anschauung beginnen lasst und so deutlich gemacht, dass auch er von der empiristischen Grundposition der Subjekt-Objekt-Dualitat ausgeht, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen. Fichte fmdet in seinem Ausgangspunkt nur ein selbstreferentielles Subjekt vor, dem sich eigentlich das Problem der Vermittlung zur Umwelt gar nicht stellt. Eine Subjekt-Objekt-Dualitat, an der das Subjekt sich abarbeiten konnte und miisste, kommt in der Selbstreferentialitat weder als konstitutives Moment noch als gleichurspriingliche Ableitung vor. Gleichsam gut sozialisationstheoretisch postuliert Fichte jedoch mit seinem Terminus des ,Strebens' einen anthropologischen Entwicklungsdrang, der durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt in Gang gebracht werden muss. Fichte steht damit, ahnlich wie Luhmann, der die Momente der strukturellen Offenheit und der operativen Geschlossenheit kompatibel halten muss, vor der Aufgabe, die Vermittlung zur Umwelt denken zu konnen, ohne sein fundierendes Axiom im Ruckschluss wieder zu destruieren. Die Einfuhrung eines empiristischen Motivs wurde bedeuten, die Selbstaktivitat des Subjekts wieder der rezeptiven Passivitat zu opfem. Fichte verbleibt indessen innerhalb des von Berkeley bis Kant gebauten Gehauses, wenn er das Vermittlungsproblem als rein intrasubjektive Angelegenheit entwickelt. Das Subjekt setzt in seinem eigenen Tatigkeitsbereich die Umwelt und gerat zwar auf diese Weise in den Strudel der Subjekt-Objekt-Dualitat, die sich in der Beschneidung der subjektiven Freiheit durch die Eigensinnigkeit des Nicht-Ich auBert, es erreicht damit aber eine immer schon gelungene Ubereinstimmung zwischen Gedachtem und ,Realem'. Da das Nicht-Ich aber die Rolle des kantischen ,Dinges an sich' ubemimmt und ihm als AnstoB auf die Auseinandersetzung mit der Umwelt gilt, ist diese Ubereinstimmung nicht einer solipsistischen Phantasterei verschuldet. Auch innerhalb des Idealismus nach Fichte gibt es, ahnlich wie bei Berkeley oder Kant, trotz des Umstandes, dass das Subjekt die Umwelt aus sich heraus und in seinem Wirkungskreis setzt, eine ,em157
pirische' Aufarbeitung der Umwelt, die unter dem Vorbehalt der Fallibilitat steht. Dennoch wird bei Fichte das Vermittlungsproblem durch seine Verortung im absoluten Ich entdramatisiert und Fichte braucht keinen Umweg mehr iiber geistige Entitaten (Gott) zu nehmen. Insgesamt lassen sich die entlang der Konstitutions- und Vermittlungsproblematik referierten Ansatze in drei grobe Strange teilen. Der abbildtheoretische Empirismus (Locke) kann (ungeachtet der erkenntniskritischen Einwande) durch seine an der alltagsweltlichen Intuition angelehnten Pramissen eine plausible Antwort auf das Vermittlungsproblem geben, er scheitert indessen an der Konstitutionsproblematik. Letzteres macht ein konsequent durchgefiihrter Empirismus (Hume) deutlich. Der Rationalismus (Descartes, Leibniz) bietet im Gegensatz dazu eine plausible Konstitutionstheorie, erreicht eine Antwort auf die Vermittlungsproblematik aber nur durch die Zusatzannahme eines eingreifenden Gottes. Der kritische Empirismus (Berkeley) und der Idealismus (Kant, Fichte) operieren dagegen sowohl mit einem logisch vor den Bedingungen der Sozialisation liegendem Subjekt und erreichen durch die Intemalisierung der Subjekt-Objekt-Dualitat eine Antwort auf die Vermittlungsproblematik, die ohne metaphysische Hilfstheoreme auskommt. Fiir eine aus der Erkenntnistheorie hergeleitete subjektphilosophische Fundierung der Sozialisationstheorie bietet es sich daher an, die Traditionslinie des Idealismus weiter zu verfolgen, da sie auf beide fur die sozialisationstheoretische Verwendung relevanten Probleme der Konstitution und der Vermittlung Antworten zu geben vermag, die einerseits die gesuchte Bedingung an den fundierenden Subjektbegriff erflillen konnen und die andererseits durch die Strategic der Intemalisierung das Subjekt nicht derart mit der Umwelt konfrontieren, dass eine Bezugnahme nicht mehr zu denken ware. Mit der Phanomenologie Edmund Husserls und dem Radikalen Konstruktivismus werden daher im Folgenden zwei Erkenntnistheorien des 20. Jahrhunderts skizziert, die sich in die idealistische Traditionslinie einreihen und die weitere Argumente fiir eine Ausarbeitung der subjektphilosophischen Fundierung der Sozialisationstheorie bereitstellen.
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5. Das intentionale Bewusstsein: Edmund Husserl
Innerhalb der Soziologie ist Edmund Husserl vor allem durch den in seiner Krisis-Schrift (Husserl 1936/1992; kritisch dazu: Habermas 1992; Waldenfels 1994) eingefiihrten Lebensweltbegriff, den Alfred Schiitz dann in die Programmatik einer Sozialphanomenologie uberfiihrt hat, bekannt geworden. Innerhalb der Philosophic gehort Husserl dagegen vornehmlich zu den Klassikem, die den Selbstanspruch der Philosophic auf eine konstituierendc Begriindung der positiven Wissenschaften bis in das 20. Jahrhundert perpetuiert haben, wobei Husserl mit seinem phanomenologischen Ansatz eincrseits an den Diskurs der Logik anknupft und andererseits dicsen mit crkenntnistheoretischen Fragcstcllungen kombinicrt. Mit seinem Untcmchmen einer phanomenologischen Philosophic setzt cr die bewusstscinsphilosophischen Fragcstcllungen der klassischcn Erkenntnisthcorien fort und fiihrt dicsen Diskurs in die Nahe zur Psychologie, gegenuber der Husserl sich allerdings aufgrund ihrer empiristischen und objektivistischen Einstellung immer auch eine wissenschaftskritisch distanzierte Position vorbchalt. Auf einen ersten und oberflachlichcn Blick gclingt Husserl zunachst nicht vielmehr, als cine bloBc Fortsctzung der cartcsianischen und kantianischen Philosophic. Er operiert mit einer transzendcntalcn Subjektivitat, die aus sich heraus die konstituicrende Quelle fiir die positiven Wissenschaften und die logischen Diskurse (Arithmetik, ...) sein konnen soil. Wenngleich er dabci mcthodisch gcgcniibcr Kant eine diffizilere BegrUndungsfigur anfuhrt, konnte Husserl mit dem groben Verweis darauf hin abgetan werden, dass er letztlich tiber die bercits bei Descartes und Kant angelegten Versuche einer crkenntnistheoretischen Subjcktbestimmung nicht hinaus kommt. Insbesondere fiir den vorliegenden Kontext, cine solche Subjektbestimmung fiir die Sozialisationsthcoric zu gewinnen, halt Husserl jedoch auf den zweiten Blick Hinweise bereit, die - unabhangig von ihrer Einbindung in das Gesamtprojekt einer phanomenologischen Philosophic - fiir einen solchen Subjektbegriff fruchtbar gemacht werden konnen, wobei selbstverstandlich auch in diesem Fall gilt: Geradc um diese Hinweise in aller Deutlichkeit fur die anvisicrte Ziclfigur herausarbciten zu konnen, soil moglichst auf breite und cxegctische Ausflihrungen verzichtet werden (fur einen Uberblick vgl. Prechtl 2002). Husserl hatte im Verlauf seines intcllcktucllcn Schaffens mchrerc Wege in die Phanomcnologie beschritten, die sich in Nuancen immer wicder unterschieden. An dieser Stcllc soil cin Wcg skizziert werden, der sich in die ideengeschichtlichen Ausflihrungen, die bislang dem Argumentationsgang zugrunde lagcn, einfligt. In einer im Wintcrscmester 1923/24 gehaltenen Vorlcsung, die unter dem Titcl „Erstc Philosophic" publizicrt wurde, wahlt Husserl (1924/1992) einen solchen, ideengeschichtlich hcrgclcitctcn Einstieg in die Phanomenologie, der in der Antike scinen Ausgang nimmt. Husserl ordnet die platonische (und 159
aristotelische) Philosophie als Reaktion auf die sophistische Skepsis ein und stellt fest, dass Platon bemiiht war, mit der Logik eine Sphare sicheren Wissens zu generieren, die sich der Skepsis entziehen konnte. Husserl rekurriert damit auf das sich in der Philosophiegeschichte durchgehaltene Ideal der reinen mathematischen Wissenschaften, die gerade aufgrund ihrer Empirieunabhangigkeit, die Husserl (1900/1992a) in seinem ersten Band der „Logischen Untersuchungen" bereits eindringlich demonstriert hatte, nicht anzweifelbar sind, und die sich daher eignen, der Philosophie und den positiven Wissenschaften ein Fundament sicheren Wissens zur Verfligung zu stellen. Wie schon Kant konstatiert Husserl jedoch, dass die Logik allenfalls ein notwendiges, nicht aber ein hinreichendes Wahrheitskriterium anzubieten hat. Die logische Pramisse etwa, dass zwei kontradiktorische Aussagen nicht zugleich wahr sein konnen, sagt schlieBlich noch nichts dariiber aus, welche der beiden Aussagen einen Wahrheitsgehalt fiir sich reklamieren kann. Um diesbezuglich eine Entscheidung treffen zu konnen, bedarf es nach Husserl einer erkenntnistheoretischen Erganzung. Diese muss freilich wieder unter dem Verdikt der Skepsis stehen, dass sich uber die Erfahrung keine begrundete Position zugunsten einer Aussage, also keine objektivprapositionale Erkenntnis, gewinnen lasst. Husserl gesteht ein, dass die skeptische Kritik nicht ohne Weiteres zu widerlegen ist, halt aber aufgrund seiner generellen Uberzeugung, dass eine sichere und rationale Fundierung der positiven Wissenschaften durch eine ,erste Philosophic' moglich ist, daran fest, dass der Skeptizismus nicht das letzte Wort der Ideengeschichte sein kann. Und ahnlich wie Descartes versucht Husserl den Skeptizismus auf seinem eigenen Feld zu liberwinden, indem er die Strategic verfolgt, „den radikalen Subjektivismus der skeptischen Tradition in einem hoheren Sinn wahrzumachen." (Husserl 1924/1992: 61) Um also die Verzahnung der Logik, verstanden als rationale Wissenschaft der Objektivitat, mit der Erkenntnistheorie zu realisieren, ohne sich wiederum den Einwanden der Skepsis ausgeliefert zu sehen, operiert Husserl nicht mit dem Modell eines objektivistischen Sensualismus, der, wie bei Berkeley und Hume gesehen, dem Skeptizismus direkt in die Hande spielt, sondem zieht sich der cartesianischen Strategic gemafi in die reine Subjektivitat zurlick, die als Desiderat auch der skeptischen Philosophie unumganglich ist und die eben zugleich einen positiv gewendeten Skeptizismus derart aufnimmt, dass die je subjektiv-relativen Zugriffe auf die Wirklichkeit in Rechnung gestellt werden konnen. Eine solche Strategic fmdet Husserl bei Descartes zwar bereits vorgezeichnet, der mit seinem ,Cogito' einen Bereich gesichert hatte, der selbst innerhalb eines globalen AuBenwelt-Skeptizismus nicht eliminiert werden kann. Kritisch gegen Descartes wendet Husserl (1929/1992) allerdings ein, dass dieser sein ,Cogito' falsch verstanden habe, und so eine tatsachlich ftindierende Transzendentalphilosophie verfehlte. Das ,Cogito' durfe nicht als letztbegrtindendes Prinzip dazu verwendet werden, die Existenz des eigenen Ich und der AuBenwelt zu deduzieren, sondem mlisse als eigenes Aufgabenfeld der Untersuchung bewusstseinsimmanenter Prozesse angeeignet werden. Dies soil die transzendental-phanomenologische Philosophie leisten, indem sic durch einen spezifischen methodischen Kunstgriff die Sphare der transzendentalen Subjektivitat zuganglich macht. Der zentrale Kern der Phanomenologie, der aus diesen Uberlegungen folgt, liegt damit in dem Anspruch, die Bewusstseinsphilosophie in einem gewissen Sinne zu sich selbst zu bringen, indem sie das Bewusstsein nicht nur als Ausgangspunkt moglicher Deduktionen in 160
Anschlag bringt, sondem indem sie tatsachlich eine Philosophie des Bewusstseins wird, die bewusstseinsintem nach den Bedingungen und Moglichkeiten der Erfahrung fragt. Husserl folgt damit zu einem guten Teil dem Weg Fichtes, der bereits das ,absolute Ich' nicht mehr in seiner Relation zu einer AuBenwelt begreift, sondem diese Relation in Form des Gegensatzes von ,Ich' und ,Nicht-Ich' bewusstseinsimmanent aufarbeitet. Er prazisiert diesen Weg jedoch mit dem Vorhaben, nicht einfach nur die Relation von Subjekt und Objekt in ihrer (dialektischen) Problematik zu fixieren, sondern den je subjektiven Anteil bei der Erzeugung von Objektivitat genauer, und dies meint: in einem psychologischen Sinne, zu beschreiben. Husserl steht mit diesem Vorhaben jedoch, anders als Fichte, der mit seinem ,absoluten Ich' immer schon ein von der AuBenwelt separiertes Bewusstsein vorfmdet, vor dem Problem, den Zugang zu diesem Bereich der Bewusstseinsimmanenz, oder der reinen Subjektivitat, bestimmen zu miissen. In seinen „Ideen zu einer reinen Phanomenologie", mit der Husserl (1913/1992) die transzendentalphilosophische Wende vollzieht, geht er zu diesem Zweck von der „Generalthesis der natiirlichen Einstellung" aus. Im alltaglichen Vollzug, so Husserl, gehen wir unkritisch davon aus, dass die Dinge und Menschen, die wir wahrnehmen, die wir uns wlinschen usw. wirklich und unabhangig von uns existieren. In der Fassung Piagets: Wir gehen von einer nicht philosophisch reflektierten Objektpermanenz aus, die wir in den ersten Lebensjahren erworben haben. Dem Philosophen stellen sich demgegentiber, wie bereits in den obigen Kapiteln gesehen, Zweifel an dieser Generalthesis. Es interessiert Husserl dabei nicht, inwieweit diese auf dem Boden der Generalthesis behoben werden konnen. Solche Zweifel sind moglich und erst solche Zweifel schaffen die Voraussetzung, den radikalen Subjektivismus wahr zu machen. Der Glaube an die Existenz einer subjektunabhangigen AuBenwelt (einschlieBlich des eigenen Korpers) kann und muss daher „eingeklammert werden". Dabei gilt: „Die Thesis, die wir vollzogen haben, geben wir nicht preis, wir andem nichts an unserer Uberzeugung, die in sich selbst bleibt, wie sie ist, solange wir nicht neue Urteilsmotive einflihren: was wir eben nicht tun. Und doch erfahrt sie eine Modifikation - wahrend sie in sich verbleibt, was sie ist, setzen wir sie gleichsam „auBer Aktion", wir „schalten sie aus", wir klammem sie ein". (Ebd.: 63) Mit dieser Methode, die zumeist unter dem Namen ,phanomenologische Reduktion' (vgl. dazu Lembeck 1999) bekannt ist, erreicht Husserl mehrere Ziele. Er nimmt die skeptischen Einwande g&rade dadurch auf, dass er sich ihnen entzieht. Uber die in der Generalthesis vorgenommene Unterstellung der Weltexistenz wird nach der phanomenologischen Reduktion keine Aussage mehr getroffen. Dies bedeutet: Weder wird ihre Existenz weiterhin unterstellt, noch wird ihre Existenz bezweifelt. Gesichert werden damit samtliche bewusstseinsimmanenten ,Erscheinungen' oder ,Erlebnisse', und in genau diesem Sinn, wird die Generalthesis „nicht preis gegeben". Samtliche Objekte und samtliche Mitmenschen, von deren Existenz in der natiirlichen Einstellung ausgegangen werden kann (und muss), bleiben nach der Reduktion erhalten: als subjektinteme Erlebnisse. Der Schreibtisch, an dem geschrieben wird, der Mitmensch, mit dem sich unterhalten wird, das Buch, das gelesen wird, sind durch die Reduktion nicht verschwunden, sondern zuruckgenommen einzig beziiglich ihres Status einer objektiven Permanenz. Wie erinnerlich hatte auf ahnliche Weise Berkeley seinen Immaterialismus verteidigt. Alle subjektinternen Bewusstseinszustande, so Berkeley, konnen umstandslos als ,existent' angenommen werden, nur nicht nach ihrer 161
subjektiiberschreitenden Seite hin. Was Berkeley freilich als Zustand verabsolutiert, ist fiir Husserl rein methodisch gedacht. Und noch in einem anderen Zusammenhang begegnet Husserl dem Skeptizismus. Mit seiner ,phanomenologischen Reduktion' repetiert er die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Alltag, die Hume stark gemacht hatte, urn dem Skeptizismus ausweichen zu konnen. Und so wie Hume fiir den Bereich der Wissenschaft gefordert hatte, skeptisch zu bleiben, diese Skepsis aber im Alltag zu suspendieren, nicht zuletzt um die Uberlebensfahigkeit zu garantieren, so trennt Husserl zwischen der Generalthesis und einer die skeptische Tradition aufnehmenden Einstellung, die mit der ,Epoche' bzw. der ,phanomenologischen Reduktion' markiert wird. Da Husserl gegeniiber dem rein empiristischen Erkenntnismodell kritisch bleibt, braucht er im Gegensatz zu Hume die Alltagswelt allerdings nicht als Garant ftir die ,Gultigkeit' solcher Begriffe wie Kausalitat oder Ich-Identitat einzufuhren, um die Liicke, die im Bereich der empiristischen Wissenschaftsphilosophie offen bleiben muss, zu schlieBen. Er kann die in der ,Epoche' eingelagerte Skepsis als produktive Methode in Anschlag bringen. Die mogliche Anschlussfahigkeit an den Immaterialismus von Berkeley macht dies deutlich. Wie schon erwahnt, ist es Husserl um eine fundierende ,erste Philosophic' zu tun, die auf einer absoluten Evidenz (vgl. dazu Stenger 1996) aufgebaut ist. Zwar steht mit der Logik bzw. den reinen mathematischen Wissenschaften eine solche Evidenz zur Verfiigung, aber eben nur als notwendiges Kriterium. Mit seiner Reduktion kann sich Husserl auch auf dem Boden der erganzenden Erkenntnistheorie eines Bereiches absoluter Evidenz versichern: der bewusstseinsimmanenten Erlebnisse. Ganz im Sinne Berkeleys konnen diese als unbezweifelbare bzw. evidente Erlebnisse aufgefasst werden, solange sie iiber ihren eigenen Geltungsbereich nicht hinaus verweisen, also solange sie nicht eine Korrespondenz in der subjektunabhangigen AuBenwelt beanspruchen. Fiir Husserl ist damit das Prinzip aller Prinzipien formuliert, „dass jede originar gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der „Intuition" originar, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen." (Husserl 1913/1992: 51) Anders als im cartesianischen Zweifel ist also nichts verloren gegangen. Im Gegenteil: Mit den subjektiven Erlebnissen verbleibt nicht nur die in der natiirlichen Einstellung gegebene Wirklichkeit, es eroffnet sich zugleich der Zugang zu den subjektiven Erkenntnisweisen, bzw. zur transzendentalen Subjektivitat. Husserl ist damit bis zu den Toren der Erkenntnistheorie vorgedrungen, die als hinreichende Flankierung zur Logik gewonnen werden sollte und die gleichzeitig vor dem Skeptizismus in Sicherheit gebracht werden musste. Die Reduktion auf bewusstseinsimmanente Prozesse der Erkenntnis lasst die Formulierung einer Erkenntnistheorie zu, die sich in die Tradition des Subjektivismus einreiht. Es gilt nicht mehr die Relation einer Subjekt-Objekt-Trennung aufzuarbeiten, und die Frage nach dem objektiven Bezug der Erkenntnis zu verfolgen. Der cartesianische Dualismus, der die klassischen Erkenntnistheorien in verschiedenen Facetten beschaftigt hatte, wird zugunsten eines subjektintemen Prozessierens eingezogen, ohne in einen Solipsismus zu verfallen, da jegliche Aussage liber die AuBenwelt suspendiert ist und damit auch deren Negation als einem zentralen Bestandteil des Solipsismus.
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Die Uberwindung des cartesianischen Dualismus wird bei Husserl durch eine Terminologie manifestiert, die zu den prominentesten der Phanomenologie gehort. Bereits im zweiten Band seiner „Logischen Untersuchungen" hatte Husserl (1900/1992b) konstatiert, Bewusstsein sei immer Bewusstsein von etwas und diesen Sachverhalt mit dem Terminus ,intentionales Bewusstsein' umschrieben. Aufgegeben wird damit sowohl die empiristische Idee einer „tabula rasa", nach der das Bewusstsein als leeres Blatt konzipiert wird, das durch die sensualistische Erfahrung und damit durch die Gegenuberstellung von Subjekt und Objekt beschrieben werden kann, als auch die rationalistische Vorstellung eines Bewusstseins als aktiver Potenz, die unabhangig von einem Gegenstandsbezug a priori gegeben ist. Ftir Husserl sind Bewusstsein und Gegenstand grundsatzlich ineinander verwoben, so dass keine der beiden Seiten eine abgetrennte Stellung gegeniiber der anderen einnehmen kann. Dennoch gelingt Husserl mit seinem Verstandnis des ,intentionalen Bewusstseins' eine eigensinnige Tradierung der grundlegenden Fragestellung des cartesianischen Dualismus. Indem er zwischen den intentionalen Bewusstseinsakten (cogito) und dem intentionalen Gegenstand (cogitatum) differenziert, behalt er die klassische Subjekt-Objekt-Problematik unter verandertem Vorzeichen bei und bekommt in den Blick, dass der gleiche Gegenstand aufgrund unterschiedlicher Zugriffsweisen durch das Bewusstsein tatsachlich nur in der Form subjektiver, das heifit relativer, Erkenntnis zur Verfligung steht. So mag ein bestimmtes Buch ein einfach wahrgenommenes oder ein gewiinschtes oder ein erinnertes Buch sein. Wenngleich diese Unterscheidung in ihrer expliziten Formulierung eine Neuerung gegeniiber den bisher skizzierten Erkenntnistheorien darstellt, ist sie freilich noch wenig spektakular. Bedeutender ist, dass Husserl mit der Differenz von Bewusstseinsakt (oder -erlebnis) und Gegenstand zugleich verschiedene Glaubens- und Seinsmodalitaten mitberucksichtigt. Diese mit den Begriffen ,Noesis' und ,Noema' durchgeflihrte Analyse bewusstseinsimmanenter Prozesse pointiert die zentrale Absicht der Husserlschen Phanomenologie. Sie soil die Frage aufklaren, wie spezifische Gegenstande dem Bewusstsein gegeben sind und dadurch das Projekt einer subjektivistischen Erkenntnistheorie realisieren. Die Ausgangsstellung der klassischen Erkenntnistheorien, wie sich das Verhaltnis von Subjekt und Objekt denken lasst, wird transformiert in die deskriptive Untersuchung der mannigfaltigen Bewusstseins- bzw. Erkenntnisweisen. Hauptsachlicher Referenzakt ist dabei die ublicherweise in der Erkenntnistheorie verhandelte Wahrnehmung. Diese gestaltet sich allerdings auch in dem Verstandnis Husserl als komplizierter Prozess (vgl. Orth 1995). Vereinfachend formuliert: Gegeben sind immer nur perspektivische Ansichten, die zu einem identischen Objekt synthetisiert werden miissen, so dass in den Wahrnehmungsakt nicht nur passivrezeptive Momente eingehen, sondern auch aktive Momente der Erinnerung oder der Einbildung. Husserl integriert also, wie bereits vor ihm Kant, empiristische und rationalistische Motive. Die perspektivischen Ansichten manifestieren sich aber nicht nur in einem statischen Moment der schattierten Gegebenheit eines Gegenstandes, sondern sind uberdies eingelagert in die Dynamik der Zeit, so dass etwa ein Ton seine Bedeutung erst innerhalb einer Tonfolge erhah. Allgemein gilt: Der Wahrnehmungsgegenstand ist vor einem Horizont noch nicht ausgelegter Perspektiven und zeitlicher Bestimmungen (Retentionen und Protentionen) gegeben. Daraus resultieren verschiedene Abschattungen und eben verschiedene Glaubensmodalitaten bzw. Bewusstseinsakte. Ein Gegenstand kann gemafi der Generalthesis mit der Seinsmodalitat ,seiend' erlebt werden. Er kann aber auch als zweifelhaft 163
erlebt werden, so dass sich der Seinsglaube in die Modalitat des ,zweifelhaft' verandert. „Grundsatzlich ist also in jedem Erfassen eines Gegenstandes zweierlei Identitat im Spiel, und erkennen erweist sich grundsatzlich als eine zweifache identifizierende Leistung: Der intendierte Gegenstand ist nicht nur einer gegeniiber einer moglichen Vielfaltigkeit von Akten; er muss sich ferner auch als einer und derselbe in einer moglichen Vielheit seiner Gegebenheitsweisen oder gegenstandlichen Sinne ausweisen lassen." (Stroker 1992: 64) Die Unterscheidung verschiedener Glaubensmodalitaten dient Husserl auch zur Beantwortung der Frage nach der Objektivitat. Innerhalb der ,Epoche' soil jegliche Aussage iiber die subjektunabhangige Wirklichkeit suspendiert werden. Fur das Subjekt hingegen, dass innerhalb der phanomenologischen Reduktion bezuglich seiner Bewusstseinsleistungen fokussiert wird, stellen die verschiedenen Glaubensmodalitaten zugleich eine Entscheidung liber die Immanenz oder Transzendenz der Gegenstande dar, wobei der Begriff der Transzendenz hier einzig als ein ,Aul3erhalb des Bewusstseins' zu verstehen ist. Die soziale und materielle Wirklichkeit als objektive Wirklichkeit konstituiert sich in Form eines leistenden Aktes der transzendentalen Subjektivitat. Husserl entledigt sich auf diese Weise des Problems Fichtes, den Geltungsbereich des ,Ich' durch das ,Nicht-Ich' begrenzt zu haben. Gegenstande, die mit der Seinsmodalitat „wirklich existierend" erlebt werden, werden zwar bewusstseinsimmanent als „wirklich existierend" erlebt, gehoren dem Bewusstsein aber nicht als reale Komponente an. Sie werden durch das Bewusstsein als objektive und damit subjekttranszendente Gegenstande konstituiert. Als solche fallen sie nicht im Sinne Fichtes in den Geltungsbereich des Ich und stellen auf diese Weise keine Begrenzung dar. Es braucht hier nicht zu interessieren, ob Husserl mit seinem Ansatz eine plausible Erklarung fiir die Giiltigkeit objektiver Urteile gelungen ist. Bedeutsam ist, dass Husserl fiir die Stellung und Bestimmung des Subjektiven bedeutsame Anregungen anzubieten hat. Husserls Phanomenologie, so wie sie hier kurz aneignend skizziert wurde, trumpft nicht wie Fichte mit einer urspriinglichen Setzung des Subjekts auf, steht aber dem Ich der Wissenschaftslehre bezuglich der pragnanten Stellung des Subjektiven in nichts nach. Husserl konzipiert die materielle und soziale Umwelt zunachst nach dem Alltagsmodell einer generellen Wirklichkeitsunterstellung. Dies bedeutet, Husserl beginnt seine Uberlegungen nicht, wie Fichte im Gefolge der erkenntniskritischen Philosophic Kants, mit einem Skeptizismus beziiglich der Erkennbarkeit objektiver Gegebenheiten. Er dreht die Argumentationsfolge von Hume um und schreitet nicht von der Erkenntniskritik zur routinisierten Sicherheit des Alltags, sondern ,steigt' von dort iiber eine wissenschafts- und erkenntniskritische Auseinandersetzung bis zur transzendentalen Subjektivitat. Diese wird im Gefolge Descartes als ein nicht-hintergehbarer Bereich eingefuhrt, der die skeptizistische Tradition dadurch zu iiberwinden trachtet, dass er deren Argumente aufnimmt. Erkenntnisprozesse, so Husserl dem Skeptizismus zugestehend, sitzen tatsachlich einem subjektiven Relativismus auf, der jedoch keineswegs in die Ausweglosigkeit der absoluten Urteilsenthaltung oder gar der positiven Wirklichkeitsverleugnung fiihren muss. Dies deshalb nicht, weil in der Sphare der transzendentalen Subjektivitat in der Form der originaren Anschauung eine Evidenz erreicht werden kann, die sich als fundierendes Prinzip der positiven Wissenschaften aneignen lasst. Die bewusstseinsimmanenten Erlebnisse konnen nicht angezweifelt werden und damit eine „Realitat" fiir sich beanspruchen, die durch das notwendig anzunehmende „Cogito" gesichert wird. Da Husserl seinen Ausgang aber in der alltaglichen Einstellung der 164
Generalthesis wahlt, hat dieses Cogito vor allem einen methodischen Status. Die ,phanomenoiogische Reduktion' stellt die transzendentale Subjektivitat als zu analysierendes Moment heraus, indem sie sich jeglicher Aussage iiber eine subjektunabhangige Wirklichkeit enthalt. Es geht Husserl nicht wie Descartes um die Sicherung eines fundierenden Prinzips von dem aus Deduktionen vorgenommen werden konnen, sondem um die Freilegung der subjektiven Erkenntnisprozesse, die jeglichem Erkenntnisakt zugrunde gelegt werden miissen. Die ,Wirklichkeit' der Generalthesis bleibt im vollen Umfang erhalten und kann beziiglich ihres subjektinternen Prozessierens untersucht werden. Wirklichkeit und Subjektivitat bilden auf diese Weise eine notwendig verwobene Einheit. Und da dies auch fur die eigene, korpervermittelte Subjektivitat gilt, fallen fur Husserl auch die transzendentale und empirische Subjektivitat zusammen. „Das Ich als empirischer Mensch-in-der-Welt ist eine Form der Selbstobjektivation der transzendentalen Subjektivitat. Das empirische als das vom transzendentalen Standpunkt aus gesehen mundane Ich ist auch das transzendentale Ich, aber so, dass es sich als dieses gerade nicht „weii3"." (Marx 1987: 32) Dies erinnert an die von Mead eingeflihrte Differenz von „r' und „Me", die auch zeitgleich die konstituierenden Momente des Subjekts ausmachen. Im Fall Husserls ist die Gleichzeitigkeit allerdings wohl nicht als das Ineinandergreifen kreativer und ansozialisierter Handlungsmotivationen zu verstehen, sondem als die Konstitution der empirischen Subjektivitat durch die transzendentale, die dann aber als ,intentionales Bewusstsein' grundsatzlich Bewusstsein von etwas ist, und das heifit hier: Bewusstsein von der eigenen (empirischen) Subjektivitat. Das transzendentale Subjekt erhalt also auch bei Husserl den Status einer konstituierenden Instanz, die es in Ansatzen bereits bei Hume und dann in radikalerer Form bei Kant und vor allem bei Fichte eingenommen hatte. Es ist dies aber nicht nur eine konstituierende Instanz, aus der heraus solche Begriffe wie Kausalitat oder Identitat abgeleitet werden konnen. Es ist eine Instanz, die hinsichtlich intemer Strukturen und Prozesse in den Blick genommen wird. Dabei wird fiir Husserl sichtbar, dass das Subjekt in mannigfaltigen Modalitaten auf die im Bewusstsein gegebenen Gegenstande rekurriert. Fur die Sozialisationstheorie bedeutet das, dass, wie schon im Anschluss an Kant postuliert, das Subjekt eine Hoheitsfunktion gegentiber der materiellen und sozialen Umwelt geniefit, die sich darin auBert, dass die erscheinenden Objekte aus der Leistung der transzendentalen Subjektivitat heraus mit spezifischen Glaubens- und Seinsmodalitaten eingeordnet werden. Interessant ist dabei, dass Husserl beziiglich der Bewusstseinsakte auch den Terminus ,Sinn' verwendet. Wird dieser in einer allgemeinen Bedeutungskonnotation gelesen, ergibt sich die Zweistufigkeit, dass das Subjekt die erscheinenden Gegenstande und Mitmenschen einerseits iiberhaupt erst durch einen Bewusstseinsakt als objektive Gegenstande und Mitmenschen konstituiert und diese Konstitution andererseits einen Akt der Sinngebung darstellt. Sozialisationsverlaufe werden damit, und dies tragt Husserl gegeniiber seinen Vorgangem zur Bestimmung des subjektiven Anteils am Prozess der Personlichkeitsentwicklung bei, angeschoben durch Bewusstseinserlebnisse, - nach deren Korrespondenz in der Realitat nicht gefragt werden kann, weil der entscheidende Fokus auf den je subjektiven Konstitutions-, Bedeutungs- und Sinnakten gelegt wird - die in ihrem Zusammenspiel verschiedene Formen und Zusammenhange annehmen konnen. Nicht nur sind die Umweltreize in perspektivisch unterschiedlichen Abschattungsstufen gegeben, sie konnen als objektiv existierend, als phantasiert oder als Zeichen flir etwas Anderes gelten und sind dabei eingebettet in einen je sub165
jektiv erworbenen Horizont von Auslegungen und Sinnzuschreibungen. Es ist dies noch nicht zwingend ein Modell der Selbstsozialisation. Dennoch lasst sich mit Husserl vermuten, dass Sozialisationsverlaufe nicht primar durch Umweltereignisse angeschoben werden, da diese erst durch das transzendentale Subjekt als relevante Umweltereignisse konstituiert werden miissen. Das heiBt, Umweltereignisse miissen fur das Subjekt als objektive Ereignisse gelten. Ihre Erkenntnis unterliegt der aktiven Leistung des Subjekts, so dass ihre Auslegung prajudiziert wird durch subjektiv vorgenommene Bewusstseinsakte mit der Folge, dass der Sinnbezug grundsatzlich ein subjektiv-relativer ist, der sich aus dem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Bewusstseinsakte mit dem gegebenen Ereignis ergibt. Kurz: Sozialisationsverlaufe entspringen letztlich bewusstseinsimmanenten Prozessen, die zwar als intentionale Prozesse grundsatzlich Bezug auf Umweltereignisse nehmen, die allerdings hinsichtlich ihrer Stellung (objektiv, phantasiert, ...) aus dem Bewusstsein abgeleitet und konstituiert sind. Inwieweit nun Husserl mit diesem Programm fiir eine erkenntniskritische Sozialisationstheorie fruchtbar gemacht werden kann, wird im dritten Teil genauer diskutiert werden, Zuvor soil jedoch mit dem Radikalen Konstruktivismus ein erkenntnistheoretisches Paradigma thematisiert werden, das sich ahnlich wie Husserl in die Tradition der bislang vorgestellten Autoren einreiht, diese jedoch zugleich in den entscheidenden Pramissen modifiziert.
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6. Die erfundene Wirklichkeit: Der Radikale Konstruktivismus
Der cartesianische Ausgangspunkt der klassischen Erkenntnistheorie wurzelte in einer Kritik der Moglichkeit, liber die Sinneserfahrung zu verlasslichen, das heiBt wahren, Aussagen zu kommen. Wenngleich eine solche Kritik seit der Antike bekannt war, spielt sie bei Descartes insofern eine prominente Rolle, als er damit auf den entscheidenden Anteil des Verstandes im Erkenntnisprozess verweisen kann. Dennoch suspendiert Descartes die Sinneserfahrung nicht grundsatzlich. Mit seinem Dualismus zementiert er die Frontstellung eines Subjektes gegenliber einem Objekt, wobei das Subjekt Informationen uber die ,res extensa' immer auch mittels der sensuellen Erfahrung erhalt. Die Philosophen nach ihm arbeiten sich dann in verschiedenen Fassungen an der durch Descartes vorgegebenen Subjekt-Objekt-Dichotomie ab. Und wenngleich die rationalistische Tradition die aktiven Potential, die das Subjekt notwendig mitbringen muss, will es zu wahren Aussagen kommen, betont, bleibt eine Restpassivitat erhalten, die sich durch die Reize seitens des Objektes manifestiert. Selbst Kant, der mit seiner Drehung der Subjekt-Objekt-Achse das Subjekt pointiert als aktives und autonomes Subjekt konzipiert, halt sich die Hintertlir eines AnstoBes durch die bewusstseinsunabhangige AuBenwelt in Form des ,Ding an sich' offen. Und Fichte, der durch die Positionierung des Subjektes am Ausgangspunkt seiner Deduktionen die Subjektstellung nochmals radikalisiert, sieht sich vor dem Problem, die Aktivitat des Subjektes durch das Nicht-Ich begrenzt zu sehen, so dass aufwendige Theoriekonstruktionen notwendig werden, um diesem Problem entgehen zu konnen. Wie in der Zwischenbetrachtung bereits dargestellt, fiihrt die an dem cartesianischen Dualismus aufgearbeitete Subjekttheorie in die Schwierigkeit, entweder ein Vermittlungsproblem Oder ein Konstitutionsproblem zu generieren. Wird die Subjektivitat aus der empiristischen Perspektive des Objekts thematisiert, wird, wie Hume eindringlich gezeigt hat, die Konstitution des Subjektiven unwahrscheinlich. Wird die Subjektivitat aus der rationalistischen Perspektive des Subjekts selbst thematisiert, bleibt unklar, wie sich der Bezug zur AuBenwelt realisieren lasst. Mit der Phanomenologie Husserls wird dagegen eine Erkenntnistheorie offeriert, die sich konsequent dem cartesianischen Dualismus verweigert. Erkenntnis wird als subjektintemes Prozessieren verstanden, ohne dass Aussagen iiber die bewusstseinsunabhangige AuBenwelt getroffen werden bzw. getroffen werden miissen. Mit dem Radikalen Konstruktivismus wird dieses Paradigma fortgeschrieben und unmissverstandlich mit einer Subjektvorstellung verbunden, die logisch vor einer Einbindung in die materielle und soziale Umwelt angesiedelt ist und die das Subjekt als aktive Potenz instruiert.
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Wenngleich damit auf den ersten Blick die in der Zwischenbetrachtung aufgeworfene Problemsituation losbar zu werden scheint, darf nicht iibersehen werden, dass der Radikale Konstruktivismus seinerseits Anschlussprobleme produziert, die sich vomehmlich aus seiner Verwendung der empirisch ausgerichteten Neurophysiologie speisen. Grob zusammengefasst weisen die Ergebnisse der Himforschung darauf bin, dass das Gehim als selbstreferentielles und autopoietisch geschlossenes System zu verstehen ist (insbesondere Roth 1987, 1997). Zugrunde liegt dem die These der ,undifferenzierten Codierung' (vgl. v. Foerster 1993: 30 ff.), nach der iiber die Sinnesorgane einzig die Intensitat eines Reizes erfasst wird, jedoch keine qualitative Bestimmung. Das Gehirn selbst erstellt aus diesen undifferenzierten Nervenimpulsen Reprasentationen der Wirklichkeit, oder anders formuliert: „Die Umwelt, die wir wahmehmen, ist unsere Erfmdung." (Ebd.: 26) Erkenntnistheoretisch scheinen damit die Befunde der Himforschung die erkenntniskritische Tradition eines Hume, Kant oder Fichte zu bestatigen, die bereits vor dem Hintergrund philosophischer Theorienbildung davon ausgegangen waren, dass ein sensualistischer Zugriff auf die Wirklichkeit nicht umstandslos zu haben ist, Erkenntnis vielmehr uber subjektinteme Prozesse gesteuert wird. Mit der Himforschung kann diese These insofem konkretisiert werden, als iiber die Analyse des neuronalen Netzwerkes die biologischen Grundlagen des menschlichen Erkenntnisvermogens eruiert werden konnen (vgl. dazu auch Maturana 2000a). Konnten in den klassischen Erkenntnistheorien die Verweise auf die grundsatzliche Beschranktheit der menschlichen Erkenntnis in Bezug auf die Abbildung einer subjektunabhangigen Wirklichkeit nur aus theoretischen Spekulationen deduziert werden, so wird mit der Neurophysiologie gleichsam eine empirische Verifikation nachgeliefert. Damit gilt, dass nicht mehr nur die Hinweise auf die Fehleranfalligkeit der Sinne, der Hinweis auf die Unmoglichkeit der Evaluation der eigenen Beobachtung durch eigene Beobachtung oder der Hinweis auf Begriffe wie Kausalitat oder Permanenz, die der sensuellen Erfahrung nicht entstammen konnen, als Argumente flir eine Erkenntniskritik herangezogen werden miissen, sondem die ,harten Fakten' der Naturwissenschaften in Form der Analyse der Funktionsweise des Gehims deutlich machen, es gibt keinen unmittelbaren Zugang des Subjekts zur AuBenwelt. Auf den Punkt gebracht, muss vielmehr damit gerechnet werden, „dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondem als das Ergebnis eines auBerordentlichen aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muss, bei dem das Gehim die Initiative hat. Das Gehim bildet standig Hypothesen dariiber, wie die Welt sein soUte, und vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen." (Singer 2002: 72) Der Radikale Konstruktivismus macht sich diese Befunde der Himforschung insofem zueigen, als er die klassische Subjekt-Objekt-Trennung aufgibt und alle Erkenntnis als Erleben im Subjekt reformuliert (etwa Rusch 1987; v. Glasersfeld 1997; Watzlawick 2000). Der allgemeine Selbstanspmch ist dabei, eine nachmetaphysische und widerspruchsfreie Epistemologie zu generieren, die die bereits thematisierten Antinomien der klassischen Erkenntnistheorien iiberwindet. Zu diesem Zweck wird die Frage nach der Moglichkeh einer (sensualistischen) Erkenntnis der subjektunabhangigen Wirklichkeit transformiert in die Frage nach den Passungsverhaltnissen je subjektiver Wirklichkeitskonstruktionen. Anders formuliert: Das empiristische Grundmodell, nach der jede Erkenntnis durch die Pforten der Erfahrung muss, die eine Abbildung der auBeren Realitat erlaubt, wird endgiiltig ad acta 168
gelegt, um die kantische Perspektive, den Erkenntnisprozess konsequent aus der Perspektive des Subjekts zu untersuchen, weiter auszubauen. Hatte dieser die subjektive Aktivitat noch in Form der Affizierung durch das ,Ding an sich' beschrankt, um dem materialistischen Argument, die Bewusstseinserlebnisse werden nicht frei gewahlt, gerecht werden zu konnen, so gibt der Radikale Konstruktivismus diese Hommage an den Materialismus auf und behauptet, alle Wirklichkeit sei subjektive Konstruktion. Jegliche Form von Objektivitat, unabhangig davon, ob sie als Referenzakt oder als Stimulus flir subjektive Erkenntnisse eingefiihrt wird, verliert genau diesen Status des Objektiven oder Subjektunabhangigen und wird unter den Hoheitsbereich des Subjekts subsumiert. „Der Beobachter trifft die Unterscheidung zwischen einem Organismus und seiner Umwelt als Unterscheidung in seinem eigenen Erfahrungsbereich." (Richards/v. Glasersfeld 2000: 208) Dies bedeutet freilich nicht, in einem dogmatisch-skeptizistischen Sinne die Existenz der Welt uberhaupt in Frage zu stellen. „Der radikale Konstruktivismus vertritt nicht etwa einen ontologischen Solipsismus (oder objektiven Idealismus) sondem - wenn uberhaupt - dann einen epistemologischen Solipsismus, der an den Begriff des Beobachters gebunden werden konnte. Der radikale Konstruktivismus leugnet nicht die Wirklichkeit, er sagt nur, dass alle meine Aussagen liber diese Wirklichkeit zu hundert Prozent mein Erleben sind. Dass dieses Erleben dann zusammenstimmt, kommt natiirlich aus der Wirklichkeit." (Schmidt 2000: 35) Ahnlich wie Husserl den Skeptizismus uberwinden wollte, indem er diesen wahr macht, umschifft der Radikale Konstruktivismus das Skeptizismusproblem, indem er dessen kritische Spitze gegen die Erkenntnisfahigkeit gelten lasst und zugleich abstumpft. Die Frage nach einer Wirklichkeit jenseits eines Beobachters wird aufgegeben und so, wie vom Skeptizismus postuliert, die Subjektabhangigkeit aller Erkenntnis manifestiert. Mogliche Zweifel an diesen Erkenntnissen bezliglich ihrer Ubereinstimmung mit der Realitat konnen auf diese Weise als sinnlos zuriickgewiesen werden. Es gelten einzig die subjektintemen Konstruktionen, ohne dass diese auf ein Urbild zurlickgeflihrt werden konnten. Wie bereits Descartes oder auch Berkeley attestierten, konnen Subjektintema aber schlechterdings angezweifelt werden, solange sie keine Referenz iiber die Subjektgrenzen hinaus beanspruchen. Wie leicht ersichtlich wird mit diesem Theorieangebot das klassische Wahrheitsproblem modifiziert. Der Begriff Wahrheit bezieht sich nicht mehr auf die Ubereinstimmung von Gedachtem und Gegenstand (bzw. Sachverhalt) oder auf die Ubereinstimmung von Gesprochenem und Gegenstand (bzw. Sachverhalt), sondem auf die Passung der subjektiven Konstruktionen untereinander, wie dies bereits Jean Piaget oder Alfred Schiitz thematisiert batten. Damit handelt sich der Radikale Konstruktivismus freilich den Vorwurf der Beliebigkeit und damit einer drohenden Handlungsunfahigkeit ein. Konnten die klassischen Erkenntnistheorien damit aufwarten, durch die Erfahrung oder durch die Vemunft transparente Urteile zu ermoglichen, die intersubjektiv verhandel- und einsehbar sind, und die als Handlungsanleitungen fungieren konnen, fiihrt der Rlickzug in die subjektiven Erlebniswelten dazu, dass jeder und jede letztlich denken kann, was er oder sie mochte. Weder flir individuelles Handeln noch flir intersubjektive Austauschprozesse steht ein objektiver Prufstein zur Verfugung, der zwischen richtigem und falschem Handeln zu trennen erlaubt. Ernst von Glaserfeld (2000a) hat auf diesen Vorwurf reagiert und mit Anleihen beim Pragmatismus das Wahrheitskonzept in das Programm der Viabilitat transformiert. Er differen169
ziert in einem ersten Schritt zwischen einem Wissen um das Ding an sich und einem instrumenteilen Wissen. Wahrend Ersteres benotigt wird, um Informationen aus der subjektunabhangigen Wirklichkeit zu bekommen, dient Letzteres zur Bewahigung konkreter Probleme. Da Informationen aus der subjektunabhangigen Wirklichkeit nicht zu haben sind, besitzt nur jenes Wissen zur Problembewaltigung fiir den Radikalen Konstruktivismus Relevanz. Erkenntnis kann von Glasersfeld damit zuriickfuhren auf eine pragmatisch motivierte Subjekttatigkeit, die sich an ihrer eigenen Viabilitat entziindet. Ahnlich wie bereits der Pragmatist William James (1992, 2001) Wahrheit durch die Perspektive des je individuellen Nutzens relativiert hatte, wird liber das Prinzip der Viabilitat die ,Wahrheit von Erkenntnissen' durch den subjektiven MaBstab der Problembewaltigung evaluiert. Mit dieser Strategic wird zwar der Relativismus nicht in toto aufgehoben - er verschiebt sich in die je subjektiven Niitzlichkeitsvorstellungen -, die drohende Handlungsunfahigkeit kann jedoch plausibel entkraftet werden, wenn als Mafistab flir richtiges oder falsches Urteilen und Handeln der Erfolg von Bewaltigungsstrategien eingefuhrt wird. In diesem Zusammenhang gilt selbstverstandlich, dass im Zuge von Problemlosungen iiber das Gedachtnis Handlungsroutinen aufgebaut werden konnen, so dass nicht in jeder Problemsituation erneut aufwendige Konstruktionsleitungen und Entscheidungen des Subjekts notig werden. Jeweils neue Situationen, werden dann, wie ebenfalls von Jean Piaget oder Alfred Schiitz thematisiert, vor dem Hintergrund sedimentierter kognitiver Schemata ausgelegt und bewaltigt. Wenngleich also der Radikale Konstruktivismus mit klassischen Wahrheitsvorstellungen bricht und damit eine Neuorientierung in Bezug auf die Evaluation individuellen und intersubjektiven Handelns nahe legt, verbleibt er in Bezug auf die problematischen Begriffe wie Kausalitat oder Objektpermanenz innerhalb des durch Hume und Kant vorgegebenen Rahmens. Ganz im Sinne des Viabilitatskonzeptes gelten diese Begriffe als subjektive Konstruktsleitungen, die dem pragmatischen Motiv auf antizipierende Handlungsstrategien entspringen (v. Glasersfeld 2000b). Ahnlich hatte bereits Hume diese Begriffe als subjektive Leistungen mit pragmatischem Hintergrund konzipiert. Der Radikale Konstruktivismus umgeht also das Problem, Begriffe wie Kausalitat nachweisen zu miissen, dadurch, dass diese als subjektive Konstruktionen begrlindet werden. Im Gegensatz zu Kant verweist der Begriff der Konstruktion jedoch auf eine aktive Tatigkeit. Begriffe wie Kausalitat kommen dem Subjekt oder dem Verstand nicht a priori zu, sondem miissen im Laufe der Ontogenese erst erworben werden. Sie werden damit zu einem fragilen Konzept, da Begriffe wie Kausalitat auch nicht erworben oder bewusst durch andere Begriffe substituiert werden konnen. Der Vergleich zu Kant macht ein ftir den vorliegenden Kontext entscheidenden Unterschied zu den bisher referierten Ansatzen deutlich: Das Subjekt ist in einem iiberhohtem Sinne als aktives Subjekt zu verstehen. Das kantische Subjekt konnte immerhin auf die komfortable Ausstattung mit wichtigen Begriffen zur Verarbeitung der Umweh rechnen. Eine eigene Aktivitat, um diese Begriffe zu erreichen, war nicht notig. Das Subjekt Fichtes musste sich mit einem Nicht-Ich auseinandersetzen, das den eigenen Tatigkeitsbereich und das heifit, die eigene Aktivitat, einschrankte. Das Subjekt des Radikalen Konstruktivismus erhalt liber seinen Status als Beobachter, vom dem jede Aussage uber die Wirklichkeit abhangt, die voile Souveranitat liber die Entwicklung von Begriffen und Differenzierungen zwischen dem eigenen Ich und der Aufienwelt. Wenngleich die Formulierung, nach der wir 170
die Welt erfinden, als rhetorische Ubertreibung gelten darf, ist in dem Begriff des Konstruierens eines Subjekttatigkeit involviert, die das Subjekt unmissverstandlich vor seiner Einbindung in die materielle und soziale Umwelt konzipiert. Mehr noch: Es konstruiert diese Umwelt aus seinen autopoietischen Operationen heraus. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Subjekt verarbeitet nicht nur Umweltdaten nach je eigenen Mustem, es konstruiert zunachst genau jene Umweltdaten nach je eigenen Mustem, um sie dann nach je eigenen Mustern zu verarbeiten. Da das Subjekt damit auch selbst die Differenz zwischen Innen- und AuBenwelt aufbaut, obliegt ihm zugleich die Konstruktion des je eigenen Ich. In Bezug auf den soziologisch definierten Begriff der Individualitat ist diese Selbstbeziiglichkeit unproblematisch. Das Subjekt entwirft aufgrund seines autopoietisch organisierten Erkenntnisapparates seinen eigenen Lebensstil.'^ Dies kann z. B. ein Lebensstil sein, der die Privatheit der eigenen Individualitat betont (Liberalismus) oder der sich bewusst an kollektiven Normensystemen orientiert (Kommunitarismus). In beiden Fallen allerdings resultiert der je eigene Entwurf eines Lebensstiles nicht aus den Freisetzungsprozessen der modemen Gesellschaft (Beck 1986; Beck/Beck-Gemsheim 1994; Schulze 1997), sondem, wie schon von Luhmann vermutet, aus dem basalen Umstand der Erkenntnisorganisation. Subjekte sind grundsatzlich zur Wahl ihres eigenen Lebensstiles verdammt und das nicht erst seit der (reflexiven) Modeme. Problematisch ist die Selbstbezliglichkeit des Subjekts hingegen in philosophischer Hinsicht. Wenn das Subjekt sich selbst als Subjekt konstruiert, gerat das Subjekt in einen infmiten Regress, da wiederum ein Subjekt notig wird, das das konstruierende Subjekt konstruiert (vgl. dazu Krause 2000). Im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus lasst sich keine einheitliche Position fmden, die auf dieses Problem reagiert. Am weitesten vorgewagt hat sich Gerhard Roth, der zwischen einem realen und einem wirklichen Gehirn trennt. Ersteres zeichnet sich fiir die Konstruktion des wirklichen Gehims verantwortlich. Theoriearchitektonisch schlieBt Roth damit an die kantische Differenz zwischen dem transzendentalen und dem empirischen Subjekt an. „Wenn ich [...] davon ausgehe, dass die Wirklichkeit durch das reale Gehirn erzeugt wurde, so folgt daraus logisch, dass es eine Entitat geben muss, welchen nicht selbst Teil der Wirklichkeit ist." (Roth 1997: 358) Siegfried J. Schmidt, der einst zu den bedeutendsten Vertretem des Radikalen Konstruktivismus zahlte, hat inzwischen die Subjektzentriertheit des Radikalen Konstruktivismus aufgeben und auf den (systemtheoretischen) Analysefokus des Prozessierens umgesteUt. Gezeigt werden soil damit, „dass in so verschiedenen Bereichen wie Bewusstsein, Aktant, Raum und Zeit, Gegenstand und Ereignis, Schema und Sinn, Wissen und Sprache oder Alter und Ego keine ontologischen Existenzannahmen erforderlich sind, um die entsprechenden Wirklichkeiten in den Blick zu bekommen. Vielmehr reicht es aus, den Wirklichkeiten konstituierenden Status der generativen Prozesse zu beschreiben, die aus konkreten Bezugnahmen folgen." (Schmidt 2003: 91) Da es sich bei der Frage nach dem Status und Stellenwert des Subjektiven um eine im vorliegenden Kontext zentrale Frage handelt, die im dritten Teil zusammengezogen werden wird, braucht dies hier nicht weiter verfolgt zu werden. Es wird aber deutlich, dass eine Ausweitung der Subjektaktivitat auf die eigene Konstitution mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert ist. 16 Damit soil nicht geleugnet werden, dass okonomische und kulturelle Ressourcen einen Einfluss auf die Wahl eines Lebensstils haben bzw. im Fall depravierter Verhaltnisse bestimmte Lebensstile nicht gewahlt werden konnen.
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Sowohl die Strategie von Gerhard Roth als auch die von Siegfried J. Schmidt beziehen sich nicht nur auf die Frage nach der Konstitution des Subjektiven, sondern auch auf die oben erwahnten Anschlussprobleme, die sich aus der Anbindung an die Neurophysiologie ergeben. Wenn, so der Radikale Konstruktivismus, alle Wirklichkeit als beobachterdurchtrankte Konstruktion zu verstehen ist, gilt dies eo ipso fiir die empirischen Befunde der Hirnforschung. Dass also das Gehim tatsachlich autopoietisch geschlossen operiert, ist eine Konstruktion von Himforschem, die keineswegs objektiven Anspruch erheben darf. Die naturwissenschaftliche Verifikation des Radikalen Konstruktivismus wird durch die theoretische Aufarbeitung der empirischen Befunde seitens des Radikalen Konstruktivismus dementiert. Ronald Kurt hat diesen Umstand in Anlehnung an das platonische Hohlengleichnis metaphorisch umschrieben. Der in der Schattenwelt der Hohle lebende Mensch, dem der Aufstieg gelingt, erschaut im Glanz des Sonnenlichtes die Idee, die als Wahrheit die Welt der Hohle als Schein entlarvt. Der Radikale Konstruktivist legt einen ahnlichen Aufstieg hinter sich, indem er die Ergebnisse der Hirnforschung zur Entlarvung der traditionellen Abbildtheorie und damit der lebensweltlichen Einstellung fruchtbar macht. Der ontologisch orientierte Mensch Platons nun kann sich mit den Ideen als neue (bzw. hohere) Form der Wirklichkeit zufrieden geben. Der Radikale Konstruktivist hingegen hat zwar die lebensweltliche Einstellung als Schein entlarven konnen, damit aber keine neue Stufe des Seins erreicht. „Denn das Nervensystem kann letztlich nichts anderes sein als eine Synthesis aus Empfmdungen. Das Nervensystem ist nichts Substantielles, und auch kein Ding an sich, sondern eine innerweltliche Konstruktion unter anderen innerweltlichen Konstruktionen. Mit der Enttamung des Nervensystems als Konstruktion sagt sich die konstruktivistische Theorie selbst den Ast ab, auf dem sie sitzt." (Kurt 1995: 28) Indem Roth ein jenseits der Wirklichkeit operierendes reales Gehim einfiihrt, umgeht er das Problem durch die Verschiebung auf eine philosophische Theorieebene, die selbst nicht durch empirische Messverfahren bestatigt werden braucht. Er kann mit dem realen Gehim einen eraeuten Beobachterstandpunkt fixieren, der, wie Roth betont, selbst nicht in der empirisch zu untersuchenden Wirklichkeit vorkommt und daher durch die neurophysiologische Entlarvung auch nicht tangiert wird. Roth stellt sich dem Problem des Selbstwiderspmches des Radikalen Konstruktivismus also durch das Festhalten an einer Subjektvorstellung, die dem Idealismus entstammt. Es kann und braucht dies hier nicht ausfiihrlich diskutiert zu werden, ob Roth damit erreicht, den Selbstwiderspruch aufzulosen. SchlieBlich ist der Radikale Konstmktivismus als philosophische Erkenntnistheorie nicht notwendig auf die empirische Hirnforschung angewiesen. Er kann sich die bereits seit der Antike und dann von Descartes bis Husserl vorgebrachten erkenntniskritischen Uberlegungen zu Eigen machen, und die Abbildtheorie des Realismus einzig durch theoretische Argumente kritisieren. Die Schlussfolgerungen, die der Radikale Konstruktivismus aus dieser Kritik zieht, und nach der die Wirklichkeit als subjektives Konstrukt zu verstehen ist, knupfen dann ebenfalls an die in der Philosophiegeschichte immer wieder vorgetragenen Argumente an, eine Wirklichkeitserkenntnis, die auf sicheres Wissen abzielt, sei erst durch eine subjektive Aktivitat zu haben. Dies batten sowohl Hume als auch Berkeley oder Kant tiberzeugend dargelegt. Sie batten dabei allerdings in unterschiedlicher Form an der empiristischen Grundstellung festgehalten und sahen sich deswegen gezwungen, entweder Gott oder einen Verstand mit apriorischen Begriffen annehmen miissen, um die empirische Referenz auf 172
eine subjektunabhangige Realitat stabilisieren zu konnen. Einzig Hume fallt diesbezuglich aus der Reihe. Er verzichtet sowohl auf Gott als auch auf einen Verstand, der bereits sicheres Wissen verbiirgt und iiberlasst die Wirklichkeitserkenntnis pragmatisch orientierten Subjekten, die aus sich heraus die notigen Begriffe erarbeiten miissen. Der Radikaie Konstruktivismus pointiert diesen Gedanken und stellt ihn in das Zentrum seines Theoriegebaudes. Ihm gelingt damit, dem eigenen Anspruch auf eine nachmetaphysische und widerspruchsfreie Erkenntnistheorie gerecht zu werden. Wenn das Subjekt selbst zum konstituierenden Prinzip der Wirklichkeit wird, wird es auch zum konstituierenden Prinzip von Begriffen, die die Wirklichkeit ordnen sollen (Kausalitat, Permanenz, ...), die aber der Wirklichkeit nicht entnommen werden konnen. Die kantische Frage, wie sich die Begriffe a priori auf die Gegenstande beziehen konnen, entfallt. Die Begriffe beziehen sich auf die Gegenstande, weil die Gegenstande kein AuBeres bezeichnen, das unabhangig von einem Beobachter eigene GesetzmaBigkeiten entwickelt, die dem Beobachter eine eigensinnige Renitenz entgegensetzen. Da sowohl Begriff wie Gegenstand Produkt von subjektiven Konstruktionsprozessen sind, siedeln sie auf der gleichen Ebene an. Klassische Erkenntnisprobleme, die sich unter dem Terminus Irrtum zusammenziehen lassen, sind so nicht mehr an der Grenze zwischen einer ,res extensa' und einer ,res cogitans' zu lokalisieren, sondern als Unvereinbarkeit zwischen zwei (oder mehreren) subjektiven Konstrukten. Der MaBstab fur eine derartige Unvereinbarkeit liegt wie gesehen im Prinzip der Viabilitat. Mit einer rein philosophischen Argumentation lassen sich also die zentralen Annahmen des Radikalen Konstruktivismus begrlinden. Die Hirnforschung ist dann bestenfalls ein Indiz oder jene Leiter Wittgensteins, die hinaufgeklettert werden muss, um sie dann wegzuwerfen. Um es noch mal zusammenfassend zu verdeutlichen: Der Vorteil des Radikalen Konstruktivismus liegt in der konsequenten Rucknahme des Dualismus. Die klassische Dichotomic von Subjekt und Objekt fiihrt sowohl in Anschlussprobleme beziiglich der Erkennbarkeit der Objektseite als auch in Anschlussprobleme beziiglich der Konstitution und dem Stellenwert auf der Subjektseite. Wenngleich Letzteres eine Frage ist, die sich auch innerhalb des Diskurses des Radikalen Konstruktivismus stellt, so konnen zumindest die Probleme der Erkennbarkeit von Wirklichkeit iiberzeugend minimiert werden. Die Strategic ist dabei keineswegs neu. Sie fmdet ihre Vorganger bei den kritischen Empiristen und den Idealisten. Gemeinsam ist diesen beiden Diskursen, die Sicherheit des Wissens um die Realitat in subjektinternen Operationen zu erblicken. Wenn ein Subjekt einen Gegenstand sieht, sieht es zwar nicht, was es nicht sieht. Es braucht die Frage danach aber auch nicht zu stellen, sondern kann etwaige Anschlussoperationen vor dem Hintergrund des Wissens um den wahrgenommenen Gegenstand arrangieren. Und es kann seine Anschlussoperationen nicht nur vor diesem Hintergrund arrangieren, es muss sie vor diesem Hintergrund arrangieren, weil kein anderer zur Verfligung steht. Problematisch wird es erst, sobald der Anspruch auf eine objektive Referenz erhoben wird, da dann genau jenes Dilemma auftaucht, dass wir eben nicht sehen konnen, was wir nicht sehen. Dies schlieBt nicht aus, dass auch der Gegenstand als subjektintemes Erlebnis problematisch wird, wenn er etwa mit anderen kognitiven Schemata kollidiert. Diese Form des Problematischen verbleibt jedoch auf der Ebene subjektinternen Erlebens. Der Begriff des Konstruierens zieht diesen Umstand zusammen. Er darf allerdings nicht in der Weise missverstanden werden, dass er mit Begriffen wie Phantasieren gleichgesetzt wird. Wie Siegfried J. Schmidt anmerkt, geht es dem 173
Radikalen Konstruktivismus nicht um die Leugnung der Existenz der AuBenwelt oder um deren solipsistische Ertraumung, sondern einzig um die nachdriickliche Betonung der Beobachterabhangigkeit jeglicher Erkenntnis. Die Konnotation des Erzeugens oder Erfindens erhalt der Begriff des Konstruierens dadurch, dass mit dem Wegfall des Dualismus auch die Eigenmachtigkeit der AuBenwelt wegfallt und die Erkenntnisaktivitat des Subjekts die Aufgabe aufgebtirdet bekommt, die AuBenwelt als dem eigenen Ich gegeniiberstehende und eigengesetzliche Sphare zu konzipieren. Unter einer dualistischen Agide, wird dem Subjekt diese Aufgabe durch die Wirksamkeit objektiver GesetzmaBigkeiten, die entdeckt (und nicht erfunden) werden mussen, abgenommen. Dennoch gibt es Autoren dieses Diskurses, die sich weigem, den Solipsismus grundsatzlich auszuschlieBen (etwa Kurt 1995). Heinz von Foerster halt dem entgegen, dass der Solipsismus aus logischen Griinden nicht plausibilisierbar ist. Selbst wenn Ego sich als Zentrum der Welt entwirft, so kann er nicht leugnen, dass er in seiner Erlebniswelt Entitaten fmdet, denen er die gleichen Eigenschaften zuschreibt, die er selbst fiir sich in Anspruch nimmt. „Folglich muss er einraumen, dass diese Wesen ihrerseits darauf bestehen konnen, sich als einzige Realitat, alles sonst aber als Produkt ihrer Einbildung zu betrachten." (v. Foerster 2000: 84) Die Konsequenz ware, dass Ego in diesem Fall zu einer Vorstellung von alter ego reduziert wiirde und eo ipso seine eigene Existenz anzweifeln miisste. Inwieweit dies fiir die in der Sozialisationstheorie zentrale Annahme der Intersubjektivitat relevant ist, wird im dritten Teil behandelt. An dieser Stelle ist nur darauf hinzuweisen, dass der Solipsismus keine unumgangliche Folge des Radikalen Konstruktivismus ist. Und wenngleich Roland Kurt moglicherweise Recht hat, dass er nicht grundsatzlich ausgeschlossen werden kann, so wird dadurch das Projekt einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie nicht verunmoglicht. Aufgrund der Sicherheit subjektintemer Operationen kann Ego (in diesem Fall der Autor dieses Textes) mit dem Ziel der Ordnung und Klassifikation dieser Operationen theoretische oder empirische Aussagen iiber (seine) Wirklichkeit machen und von deren Richtigkeit uberzeugt sein. Trifft der Solipsismus zu, sind sie schlimmstenfalls irrelevant, nicht jedoch notwendig falsch. Wie sich noch zeigen wird, wird im Folgenden jedoch kein Solipsismus vertreten. Die Erfiillung der gesuchten Bedingung, nach der das Subjekt logisch vor seiner Einbindung in die materielle und soziale Umwelt konzipiert, wird aber in jedem Fall durch den Radikalen Konstruktivismus erreicht, ohne dass die fiir die Personlichkeitsentwicklung fbrderliche Auseinandersetzung mit Umweltdaten aus dem Analysefokus ausgeblendet werden miisste. Sie findet nur nicht langer zwischen zwei Bereichen statt, sondern als subjektinternes Prozessieren, und das heiBt, unter der Hoheit von subjektiven Konstruktionsund Erkenntnisprozessen, oder wie Roland Kurt (1994: 340, Fn. 6) es formuliert hat: „Das Bewusstsein bestimmt das Sein, das das Bewusstsein bestimmt."
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III. Teil Erkenntniskritik und Sozialisation
7. Erkenntnistheoretische Subjektivitat
Die chronologische Aufarbeitung der Erkenntnistheorien hatte zugleich auch eine demonstrative Dimension. Sie sollte erstens, wie in der Zwischenbetrachtung ausflihrlich dargelegt, zeigen, dass die in der cartesianischen Philosophie angelegte Dualitat von ,res cogitans' und ,res extensa' zwar einerseits den lebensweltlichen Bezugsrahmen fur Erkenntnisprozesse auf den Punkt bringt, andererseits - wie die Philosophien nach Descartes zeigen - zu Problemen ftihrt, wenn der Begriff des Subjektiven widerspruchsfrei und nachmetaphysisch bestimmt werden, soil und sie sollte zweitens andeuten, in welcher Weise sich der Radikale Konstruktivismus anbietet, diesen Problemen zu begegnen. Wie im ersten Teil gesehen, fallt zu dem Zweck einer widerspruchsfreien Subjektbestimmung der Versuch einer handlungs- bzw. intersubjektivitatstheoretischen Herleitung aus, weil dieser Versuch letztlich den cartesianischen Dualismus beerbt, und einzig die Seite der ,res extensa' durch eine zweite ,res cogitans' ersetzt. Wenngleich sich damit zwar soziale oder eben intQraktive Prozesse beschreiben lassen, wird eine widerspruchsfreie Subjektbestimmung verfehlt, so dass streng genommen unklar bleiben muss, welchen theoretischen Status denn die Subjekte haben, die soziale Prozesse in Gang bringen sollen. Gerade jedoch um die den Subjekten zugeschriebene Selbstbeteiligung am Sozialisationsgeschehen konsistent bestimmen zu konnen, bedarf es eines widerspruchsfreien Subjektbegriffes. Der Riickgriff auf die philosophische Erkenntnistheorie kann allerdings nicht, wie der zweite Teil verdeutlicht, als problemlose Bedienung in einem komfortabel ausgestatteten Kaufhaus gelten. Vor alien Dingen dann, wenn im Besonderen an den Radikalen Konstruktivismus angeschlossen wird, um den Problemen des Dualismus zu entkommen, ist es ein Riickgriff, der immanente Schwierigkeiten produziert. Insbesondere zwei Schwierigkeiten sind dabei zu uberwinden. Zum einen muss die theoretische Begrlindbarkeit eines erkenntnistheoretischen Subjektbegriffes nachgezeichnet und der paradoxe Zirkel aufgelost werden, der sich im Kontext des Konstruktivismus durch die Selbstkonstitution ergibt. Zum anderen muss geklart werden, welche Stellung der erkenntnistheoretischen Subjektvorstellung zukommen kann, wenn sie im Kontext der empirischen Sozialisationsforschung Anwendung finden soil. Im Zuge dieser Erorterungen wird dann deutlich werden, wie der Subjektbegriff, der der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie zugrunde gelegt werden soil, konzipiert ist. Konstruktivistisches Subjektverstandnis und der Zirkel der Selbstkonstitution Wird vom Empirismus John Lockes abgesehen, lautet die generelle These der Erkenntnistheorie: Es gibt keine unmittelbare Erkenntnis der AuBenwelt. Da diese These der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie fundamental zugrunde liegt, sollen hier noch mal die drei wesentlichsten Argumente fur diese These wiederholt werden. Zum Ersten gilt, die Sinne geben keine verlasslichen Informationen uber die AuBenwelt. Dies wird neuerdings durch die Hirnforschung bzw. durch die These der ,undifferenzierten Codierung' empirisch 177
untermauert. Zwar konnen Erkenntnisirrtiimer auf der Ebene des Pragmatischen durch veranderte oder verbesserte Erkenntnisbedingungen aufgehoben werden. Rein theoretisch bleibt jedoch unklar, wieso andere Erkenntnisbedingungen eine realitatsgerechtere Erkenntnis ermoglichen sollen. Wenn die urspriingliche Fehleranfalligkeit der Sinne konstatiert wird, wird damit ein strukturelles Problem der biologischen Erkenntnisorganisation konstatiert. Etwaige Hilfsmittel unterliegen dann in ihrer Erkenntnis denselben Problemen, so dass iiber die Wahrnehmung selbst nicht zweifelsfrei geklart werden kann, warum und ob diese Hilfsmittel die Fehleranfalligkeit der Sinne korrigieren. Die Entscheidung iiber solche Hilfsmittel kann also als eine Sache der (pragmatischen) Vernunft angesehen werden. Das zweite Argument hangt eng damit zusammen. Erkenntnisprozesse erster Ordnung konnen nicht durch Erkenntnisprozesse erster Ordnung evaluiert werden. Wenn jemand einen Gegenstand wahmimmt, kann er nicht gleichzeitig sein Wahrnehmen wahrnehmen, so dass die Ubereinstimmung von Gedachtem'^ und Gegenstand nicht kontrolliert werden kann. Dazu bedurfte es einer Erkenntnis zweiter Ordnung, die jedoch dem gleichen Problem unterliegt, das Luhmann in die griffige Formulierung gebracht hat: Wir sehen nicht, was wir nicht sehen. Wenngleich die Erkenntnistheorie immer auch partiell Wahrheitstheorie war, darf dieses Argument hier freilich nicht als wahrheitstheoretisches missverstanden werden. Es geht nicht darum, eine wissenschaftlich-philosophische Wahrheitstheorie zu begriinden, fiir die es sich moglicherweise anbietet, Wahrheit in der Ubereinstimmung von Satz und Wirklichkeit zu erblicken (Habermas 1984b), so dass Erkenntnisprozesse ohnehin nur eine untergeordnete Rolle spielen. Es geht hier um den alltaglichen Vorgang des Wahrnehmens, der aus sich selbst heraus keine Kontrollinstanz generieren kann, die eine Verlasslichkeit der Sinneswahrnehmung und damit eine objektive Giiltigkeit der Wahmehmungsinhalte verbiirgen konnte. Drittens konnen schlieBlich allgemeine Begriffe wie Kausalitat, Objektpermanenz oder Identitat nicht umstandslos der Erfahrung entnommen werden. Sachverhalte, die diesen Begriffen entsprechen, kommen in der Wirklichkeit nicht in der Art vor, dass sich diese Begriffe als Ableitung aus der Wahrnehmung konzipieren lieBen. Sie setzen vielmehr ein Bewusstsein voraus, das diese Begriffe den Erfahrungsinhalten praskribiert. Mit diesem Umstand wird daher eine subjektive Eigenaktivitat vorausgesetzt, die iiber reine rezeptive Wahrnehmungsprozesse hinausweist, wenngleich sie freilich auf der anderen Seite nicht als vollig autark gegeniiber Wahrnehmungen denkbar ist. Aus der generellen These einer Unzuganglichkeit der AuBenwelt iiber die sensuelle Erfahrung lasst sich also eine Subjektstellung folgem, die sich als dominante Stellung gegeniiber der AuBenwelt beschreiben lasst. Das Subjekt ist genotigt, entscheidende Begriffe und Klassifikationsschemata aus dem eigenen Verstand zu generieren, und es kann sich nicht auf die bequeme Position zuruckziehen, alle Erkenntnis dem sensuellen Operieren zu iiberlassen. Wie Kant (1783/1993: § 36) iiberzeugend gesehen hat, bedeutet dies, dass dem Subjekt die Aufgabe zukommt, der Natur ihre GesetzmaBigkeiten vorzuschreiben. Ahnliches gilt dann selbstverstandlich fiir soziale Prozesse. Auch sie konnen nicht einfach der sensuellen Erfahrung entnommen werden, sondem sie setzen eine Verstandesaktivitat voraus, die in der Lage ist, soziale Verhaltensmuster, soziale Handlungsstrategien, soziale
17 Ahnliches gilt fiir die Ubereinstimmung von Gesprochenem und Gegenstand, es sei denn, das Gesprochene wird als subjekt- oder erkenntnisloses Prozessieren aufgefasst,
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Ordnungsschemata etc. als Verstandesbegriffe zu entwickeln. Hier zeigt sich bereits, dass die - am pointiertesten bei Hurrelmann - eingeforderte Selbstbeteiligung am Sozialisationsgeschehen mit den Mitteln der Erkenntnistheorie plausibler begriindet werden kann als mit den Mitteln der Handlungstheorie (siehe Kapitel 3). Aus dem Kontext der Erkenntnistheorie heraus erscheint die Selbstbeteiligung als basale Notwendigkeit, die sich aus der Unzuganglichkeit der AuBenwelt ableiten lasst. Sie ist damit aber nicht ein bloBer Reflex auf gesellschaftliche Liberalisierungstendenzen, die eine Eigenaktivitat herausfordern, um auf pluralisierte und dynamisierte Umwelten reagieren zu konnen, wie dies Hurrelmann (2002) annimmt. Rein erkenntnistheoretisch ergibt sich aus den Hinweisen auf die Unzuganglichkeit der AuBenwelt bis hierhin also nur eine nachholende Begrlindungsstrategie fiir das ,Modell des produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts'. Wird jedoch der Pfad der Erkenntnistheorie beschritten, um die Eigenaktivitat des Sozialisanden genauer heraus destillieren zu konnen, ergeben sich theorieimmanente Anschlusssetzungen, die iiber dieses Modell hinausreichen. Um namlich die Bestimmung des Subjektiven aus dem Kontext der Erkenntnistheorie widerspruchsfrei und vor allem nachmetaphysisch anlegen zu konnen, sind weitere Schritte notig, die die Stellung des Subjekts radikalisieren. Eine erkenntnistheoretische Bestimmung des Subjektiven kann sich nicht alleine auf die Bedingungen der Erkenntnis einer AuBenwelt beschranken. Sie zieht in ihren Wirkungskreis die Konstitution des Subjektiven selbst ein. Genau hier jedoch liegen die Fallstricke, die in das Problem der zirkularen Selbstkonstitution fiihren. Gut dualistisch gedacht, liegt es zunachst scheinbar auf der Hand, die Erfahrung als Quelle auch der eigenen Subjektivitat zu bemuhen. John Locke hat diesen Gedanken verfolgt und sich dabei in die dilemmatische Situation manovriert, Explanandum und Explanans zusammenfallen zu lassen. Wenn das Subjekt sich iiber eine nach innen gerichtete Erfahrung konstituieren soil, braucht es bereits den Subjektstatus, um iiberhaupt Erfahrungen machen zu konnen. Locke nimmt den Zirkel der Handlungstheorie erkenntnistheoretisch vorweg. Die Gegenstrategie, die sich unmittelbar aufdrangt, das Subjekt qua Geburt mit entsprechenden Ideen auszustatten, so dass es auf die Erfahrung nicht angewiesen ist, vermag schlichtweg dem Druck nachmetaphysischer Theorieanforderungen nicht zu genugen, zumal die empirische Sozialisationsforschung hinreichend Material gesammelt hat, um zu demonstrieren, dass sich auch Erkenntnismodi erst im Laufe der Ontogenese entwickeln und keineswegs einen hereditaren Status beanspruchen dtirfen. Ein Festhalten an der Theorie ,angeborener Ideen' wiirde also das Ende genau jenes Diskurses bedeuten, auf den die vorliegenden Uberlegungen zugeschnitten sind. Dies miisste freilich in Kauf genommen werden, wenn sich tatsachlich ,angeborene Ideen' identifizieren lieBen, was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Bereits John Locke, als Zeitgenosse der Vertreter der Theorie ,angeborener Ideen', hatte dies ja mit ,sozialisationstheoretischen' Mitteln eindrucksvoll demonstriert. Ubrig bleibt also scheinbar nur die Aufgabe des Subjektbegriffes uberhaupt, wie dies Hume nahe legt. Unterstiitzung fur eine solche Aufgabe des Subjektbegriffes konnte Hume neuerdings in der Hirnforschung akquirieren. Wolf Singer etwa erklart das Subjekt zu einer Illusion bzw. einem sozialen Konstrukt. Zugrunde liegt dieser Erklarung ebenfalls eine Uberwindung des Dualismus, der allerdings zu der Seite der ,res extensa' hin aufgelost wird. Grob zusammengefasst, wird die These aufgestellt, der Mensch sei neuronal determiniert (eindringlich 179
formuliert vor allem bei Roth 2004). Diese These betrifft vornehmlich die Frage subjektiver Autonomic, aber auch die Frage nach dem Status des Subjektiven. Wolf Singer weist darauf hin, dass mentale Zustande, die bislang als einzig der Erstcn-Pcrsonen-Perspektive zuganglich gahen, sich mittlerweile durch eine objektivistische Fremdbeschreibung erfassen lassen. „A\\Q diese Verhaltensmanifestationen [mentale Zustande des Subjekts, R.B.] lassen sich operationalisieren, aus der Dritte-Personen-Perspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zuriickfiihren. Somit erweisen sie sich als Phanomene, die in koharenter Weise in naturwissenschaftlichen Beschreibungssystemen erfasst werden konnen." (Singer 2004a: 238) Dies bedeutet fiir Singer allerdings nicht, dass im Umkehrschluss mentale Zustande mit neuronalen Prozessen identisch sind, erstere also umstandslos auf letztere reduziert werden konnten. Es gilt allerdings, „dass die kognitiven Funktionen mit den physiko-chemischen Interaktionen in den Nervennetzen nicht gleichzusetzen sind, aber dennoch kausal erklarbar aus diesen hervorgehen." (Ebd.). Gegen diese Postulate ist erwartungsgemaB Widerspruch formuliert worden, der sich zentral auf die Dementierung der Eigenstandigkeit geistiger Phanomene konzentriert (etwa Kohler/Mutschler 2003). Bewahrt werden soil damit in erster Linie das kulturelle Selbstverstandnis des modernen Menschen, sowohl eine Freiheit des Willens, als auch eine Freiheit des Handelns zu besitzen. Da es bei der Bestimmung des Subjektiven an dieser Stelle nicht zentral um die Frage der subjektiven Autonomic geht (siehe dazu Kap. 8.3.), braucht dieser Disput hier nicht weiter verfolgt zu werden. Es bleibt dennoch die Herausforderung seitens der Hirnforschung, das Subjekt als Gehim zu begreifen. Wenn, wie sich im Folgenden zeigen wird, der Dualismus nach der anderen Seite, der Seite der ,res cogitans' uberwunden werden soil, kann dies nicht allein mit dem Hinweis auf die europaische Geistestradition begriindet werden. Wenn Himforscher das Subjekt (mindestens der Tendenz nach) physikalistisch reduzieren und dafur empirische Befunde anfiihren, miissen diese zweifelsohne emst genommen werden (Glasmeyer 2004). Erfreulicherweise liefert Wolf Singer selbst einen Hinweis fur eine Kritik seiner Befunde. Er konstatiert, dass gerade mit der Hirnforschung - jenes schon bei Locke auftretende Problem - virulent wird, dass das Explanandum mit dem Explanans zusammenfallt. „Das Erklarende, unser Gehim, setzt seine eigenen kognitiven Werkzeuge ein, um sich selbst zu begreifen, und wir wissen nicht, ob dieser Versuch gelingen kann." (Singer 2004: 235) Repetiert wird damit in einem weiten Sinne die generelle Skepsis gegeniiber unserer Erkenntnisorganisation, zumal Singer zu jenen Hirnforschern gehort, die vehement gegen die Abbildtheorie Front machen und auf die (konstruktive) Eigenleistung unseres kognitiven Apparates verweisen. Damit konnen die Befunde der Hirnforschung aber letztlich nur den Stellenwert von (kognitiven, kulturellen) Interpretationen haben, die wiederum ein Subjekt voraussetzen, das in der Lage ist, solche Interpretationen vorzunehmen. Fiir die These, dass dieses Subjekt nur das Gehim selbst sein kann, spricht dann genau so viel, als fur die gegenteilige Position, an einer ,res cogitans' festzuhalten. Dies darf nicht im Sinne der Beliebigkeit verstanden werden. Empirische Befunde stellen selbstverstandlich ein starkes Indiz fiir die eine oder die andere Interpretation dar. Mit empirischen Mitteln lasst sich allerdings eine ,res cogitans' weder verifizieren noch falsifizieren - was aus empiristischer Sicht wegen der schwierigen Operationalisierbarkeit freilich gegen die Annahme eine solchen Instanz spricht - , so dass im vorliegenden Fall durch die Empiric keine eindeutigen Befunde fiir oder gegen die Annah180
me einer ,res cogitans' geliefert werden. Diese bleibt damit selbstverstandlich ein fragiles theoretisches Konstrukt, das sich als heuristisches Modell bewahren konnen muss. Das heiBt: Die Annahme einer ,res cogitans' ist nicht mehr und nicht weniger als eine Interpretationsfolie flir die empirische (Sozial-)Forschung, die sich theoretisch begrunden lassen muss. Gegeniiber der These einer neuronalen Determination ist sie deswegen zu praferieren, da schlieBlich von den Vertretern dieser These selbst eingestanden wird, dass eine vollstandige Reduktion mentaler Zustande nicht plausibilisierbar ist und das Subjekt sich durch einen Akt der bewussten Zuwendung durchaus als autonom entscheidendes Subjekt erleben kann. Wenn es schlieBlich gerade auch um solche Selbstzuschreibungen und erlebnisse geht, stellt sich aber die Anschlussfrage, ob zur (sozialwissenschaftlichen) Analyse subjektiver Entwicklungsverlaufe nicht andere heuristische Modelle und andere Methoden besser geeignet sind. Dies ist freilich eine Frage, die mit dem Fortschreiten neurophysiologischer Befimde und Methoden standig neu gestellt werden muss und nicht abschlieBend beantwortet werden kann. Daraus folgt: Weder die Methoden der Hirnforschung - Oder auch die Hirnforschung in toto - noch die These der (relativen) Beschreibbarkeit mentaler Zustande durch eine physikalistische Sprache werden disqualifiziert. Als Anregungspotential und fruchtbares Erkenntnismittel fur die Fokussierung des Subjektiven bleiben sie gerade auch fiir die erkenntniskritische Sozialisationstheorie von groBem Interesse. Um der Aufgabe eines Subjektbegriffes iiberhaupt entgehen zu konnen, soil also der Dualismus zur Seite der ,res cogitans' hin uberwunden werden. Ideengeschichtlich verortet sich die erkenntniskritische Sozialisationstheorie damit in der Tradition des deutschen Idealismus, wie er von Kant und Fichte betrieben wurde. Eine solche Strategic muss allerdings begrtindet werden und kann sich nicht allein auf das Aufbieten historischer GeistesgroBen stiitzen. Wie gesehen, droht unter der Agide des Dualismus die Auflosung des Subjektiven. Werden jedoch die objektiven Umweltverhaltnisse in das Subjekt (re-)implementiert, ist das Subjekt nicht langer darauf angewiesen, sich selbst in Anlehnung an das Modell der AuBenweltwahmehmung zu konstituieren. Wenn die Erfahrungen als subjektives Erleben konzipiert werden, wie dies im Radikalen Konstruktivismus am deutlichsten durchgeflihrt wird, fallen sowohl die skeptischen Einwande gegen die Erkennbarkeit der AuBenwelt, als auch die damit verbundenen Antinomien der Subjekt-Objekt-Relation in Bezug auf die Konstitution eines Subjektbegriffes. Entgegen dem ersten Eindruck, der Radikale Konstruktivismus sei empiriefeindlich, kann mit diesem Theorieparadigma an einem stabilen Begriff von Erfahrung festgehalten werden. Wie oben bereits geschildert, hatte Berkeley (1713/1955) auf diese Weise seinen Immaterialismus gegen materialistische Einwande zu flmdieren versucht. Die Auffassung, dass subjektinterne Erlebnisse nicht angezweifelt werden konnen, solange mit ihnen keine (ontologische) Objektreferenz verbunden ist, erlaubt, ein Residuum flir Erfahrungen zu markieren, das sich dem Problem der Unzuganglichkeit der AuBenwelt iiber die Sinne entzieht. Der Terminus Residumm ist dabei durchaus in einer zweideutigen Verwendung gemeint. Es schiitzt vor skeptizistischen Einwanden, schlieBt aber gleichzeitig das Subjekt in sich selbst ein und droht im Solipsismus zu enden. In der klassischen Erkenntnistheorie war es Gott, der dem Subjekt aus seinem Residuum der internen Erlebnisse heraus geholfen hatte. Der Radikale Konstruktivismus bietet als nachmetaphysischen Ersatz das aktive, konstruierende Subjekt an. Dieses braucht genau deswegen keine ubergeordnete Entitat, 181
weil es sich gleichsam selbst an die Stelle setzt, die die Stabilitat der Erfahrungen garantiert. Und da alle internen Erlebnisse als ,Erfindungen' gelten, wird die Frage, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Bewusstseinserlebnisse auftreten, obsolet. Sie treten auf, weil das aktive Subjekt sie so konstruiert, wie es sie konstruiert. Die konstruktivistische Uberwindung des Dualismus bietet damit den theoriestrategischen Vorteil, sowohl den Erfahrungsbegriff beibehalten zu konnen und zugleich von einem Subjekt auszugehen, dass als conditio sine qua non im Sinne Fichtes als axiomatisch gesetzt wird. Wurde dem klassischen Empirismus vorgeworfen, Explanandum und Explanans zusammenfallen zu lassen, so gilt nun ahnliches fur eine derartige Subjektvorstellung. Wenn das Subjekt anstelle von Gott fur die Konstitution von stabilen Erfahrungen verantwortlich wird, erstreckt sich die Verantwortung auch auf die eigene Subjektivitat. Das Subjekt soil schlieBlich in seinem eigenen Geltungsbereich die Unterscheidung zwischen einem subjektiven Innen und einem objektiven AuBen treffen, wozu es die Seite des Subjektiven bezeichnen konnen muss. Das Subjekt kann sich aber nicht selbst als Subjekt setzen, ohne schon Subjekt zu sein. Der Ansatz der konstruktivistischen Selbstkonstitution scheint demzufolge ebenfalls in einem Zirkel oder einem infiniten Regress zu enden. Eine mogliche Reaktion auf dieses Dilemma ware ein forschungspragmatisches Abbrechen des infiniten Regresses nach folgendem Muster. Der problematische Satz lautet: Das Subjekt ist Subjekt (SI). Dieser Satz lasst sich als empirische Aussage mit Referenz auf das erste Subjekt als zu untersuchendes Objekt verstehen. Wird diesem Sachverhalt ein Beobachter zugefiigt, lasst sich der Satz (S2) formulieren: Ein Subjekt (Beobachter) weiB, dass das Subjekt ein Subjekt ist. Entwicklungspsychologisch ist damit die Stufe des Bewusstseins erreicht. Auf der Stufe des Selbstbewusstseins erweitert sich (S2) schlieBlich zu (S3): Ein Subjekt (Beobachter) weiB, dass es weiB, dass das Subjekt ein Subjekt ist. Logisch lieBe sich diese Folge beliebig fortsetzen. Geht es aber forschungspragmatisch um SI (bzw. um das objektivierte, empirische Subjekt aus SI) wird eine Fortsetzung sinnlos, da im weiteren Verlauf das zu untersuchende Objekt verschwindet und es nur noch um reine Kognition geht, die in standigen Riickkopplungen auf sich selbst rekurriert. Bei der noch zu diskutierenden Stellung des Subjekts wird das Abzielen auf die Forschungspragmatik ein entscheidendes Moment sein. Bei der Bestimmung des Subjektiven, die schlieBlich vor der logischen Einbettung auch in Forschungszusammenhange residieren konnen soil, vermag diese Strategie nicht recht zu liberzeugen, weil sie letztlich einen willkurlichen Charakter hat. Auf den Zirkel der Selbstkonstitution soil daher theorieimmanent durch eine Doppelung des Subjektbegriffs reagiert werden, um die zirkulare Selbstbeztiglichkeit zu entzerren. Damit liegen dann zwei Subjektbegriffe vor: das konstituierende und das konstituierte Subjekt. Da es darum geht, die gesuchte Bedingung zu erfullen, nach der der Subjektbegriff logisch vor seiner Einbindung in die materielle und soziale Umwelt liegt, zielt die erkenntniskritische Sozialisationstheorie in einem ersten Schritt vomehmlich auf das erstere, das konstituierende Subjekt. Der hier verfolgte Konstruktivismus wird auf diese Weise idealistisch ausgerichtet. Unter der zusatzlichen Pramisse einer nachmetaphysischen Theoriebildung hat dieses Subjekt nun allerdings nicht einen realen oder ontologischen Status. Es soil hier als begriffslogische Entitat verstanden werden, die als Moglichkeit, den Zirkel der Selbstkonstitution zu durchbrechen, eingefuhrt wird. So wie das intentionale Bewusstsein bei Husserl hat es jedoch einen immer schon gleichzeitigen Bezug auf Fremdrefe182
renzen - in diesem Fall das konstituierte Subjekt - urn die tautologische Selbstreferenz zu durchbrechen. Anders formuliert: Das konstituierende Subjekt dient als Leerformel, das einzig einen theoretischen Status hat und das die geistige oder intellektuelle Potenz auf den Begriff bringt, die die konstruktive Eigenaktivitat des Subjekts markiert und die sich auf ein konstruiertes Subjekt bezieht, urn der eigenen Selbstreferentialitat zu entgehen. Das konstituierte Subjekt hat dementsprechend nicht die gleiche Bedeutung, wie etwa das ,Me' bei Mead. Als Konstrukt des konstruierenden Subjekts hat das konstituierte Subjekt den gleichen Rang wie konstruierte Objekte: Es ist ein Konstrukt ohne empirisch-objektive Geltung, also eine Geltung iiber die Grenzen subjektinternen Operierens hinaus. Es bezeichnet nicht die empirische Seite des Subjekts in der Art, dass es als sozialer Ansprechpartner ftir Andere fungiert, sondem allein den Umstand, dass tiberhaupt von einem Subjekt die Rede sein kann, das sich nicht in der Selbstreferenz der reinen Transzendentalitat verfluchtigt. Intersubjektiv oder empirisch im Sinne des ,Me' wird das konstituierte Subjekt erst in der Form des Individuums (siehe Kapitel 3), das einen spezifischen Lebensstil und spezifische Umgangsformen in Relation zu Anderen entwickelt. Zur Verdeutlichung sei an die Wissenschaftslehre von Fichte erinnert. Auch ihm stellte sich das Problem der zirkularen Form seiner Ausgangspramisse ,Ich = Ich'. Und auch Fichtes Reaktion darauf bestand in der Doppelung des Subjektbegriffes in ein absolutes und ein gesetztes Ich, wobei letzteres innerhalb der Sphare des absoluten Ich gesetzt wird und nicht als verauBerte (empirische) Seite operiert. In diesem Sinne sind die Uberlegungen zum Subjektbegriff zu verstehen. Das konstituierende Subjekt wird als notwendige Entitat eingefuhrt um durch die Bennennung eines Anfangspunktes den Zirkel des Selbstkonstitution zu unterbinden, und das konstituierte Subjekt steht flir die gesetzte Seite des Konstitutionsprozesses, die bezeichnet werden muss, um nicht in der tautologischen Selbstreferenz eines rein transzendentalen Subjekts stehen zu bleiben. Beide Subjektbegriffe als einheitlicher Verweisungszusammenhang zusammen genommen, machen den Subjektbegriff aus, der der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie zugrunde gelegt wird. Anders als bei Kant oder Mead ist die Doppelung des Subjektbegriffes damit weder anthropologisch noch ontologisch konnotiert, so dass in der Folge mit einem kreativen Ich und einem sozialen Ich gerechnet werden miisste, die in dem Dauerkonflikt stehen, dass die kreative Seite Bediirfnisse auBert, die durch die soziale Seite (schmerzhaft) kultiviert werden miissen. Die Doppelung des Subjektbegriffes ist eine theorieimmanente Anschlussoperation an den Zirkel der Selbstkonstitution und beansprucht keine Pradikation bezuglich empirischer Subjekte. Sie ist, anders formuliert, eine wissenschaftliche Hilfskonstruktion. Dieses in die Theorie zuriickgezogene Subjektverstandnis wirft nun allerdings die Anschlussfrage auf, welche Bedeutung es im Kontext der empirischen Sozialisationsforschung haben kann. Konstruktivistisches Subjektverstandnis und empirische Sozialisationsforschung Die Analyse sozialisatorischer Prozesse zielt auf empirische Umstande und damit auf empirische Subjekte. Aus dem Kontext einer nachmetaphysischen Erkenntnistheorie heraus ergibt sich indessen ein Subjektverstandnis, das sich in theoretische Bestimmungen zuruckzieht, die das Subjekt auf eine Art und Weise jenseits der empirischen Wirklichkeit ansiedeln, die wohl weit iiber die eingeforderte Bedingung, wie Dieter Geulen (1989: 16) sie im 183
Sinn hatte, hinaus gehen. In einem rein theoretischen Diskurs der Erkenntnistheorie, der sich zunachst nicht urn die Frage der empirischen Anschlussfahigkeit kummem muss, lasst sich dies plausibel begriinden. Eine tiber die Sinne vermittelte Zuganglichkeit der AuBenwelt lasst sich nicht hinreichend plausibilisieren, um etwa abstrakte Sachverhalte begriinden zu konnen, die doch auch im Prozess der Sozialisation eine gewichtige RoUe spielen. Ein alleiniges Vemunftprozessieren verfangt sich in der Tautologie der Selbstreferenz bzw. im Solipsismus. Extemale Entitaten, die aus dieser Tautologie heraus helfen konnten, fallen nachmetaphysischen Anforderungen zum Opfer. Eine materialistische Theorie vermag aufgrund der Einfallsmoglichkeiten fur den Skeptizismus weder theoretisch noch, wie Fichte (1800/1971) betont, praktisch zu uberzeugen, da sich innerhalb eines konsequenten Materialismus das Moment der Freiheit moglicherweise nicht iiberzeugend implementieren lasst. Dieser praktische Hinweis steht freilich auf fragilem Boden, da der (politische und moralische) Begriff der Freiheit aufgegeben werden musste, wenn zwingende theoretische Oder empirische Hinweise dafiir vorlagen. Im Kontext der Sozialisation ist er deswegen nicht unbedeutend, da auch empirische Subjekte sich selbst als freie Subjekt erleben und beschreiben, so dass eine Sozialisationstheorie aus Analysezwecken gut daran tut, in ihren heuristischen Grundlagen das Konzept der Freiheit zu integrieren.'^ Das Ergebnis dieser theoretischen Uberlegungen ist eben jenes Subjekt, das als konstruierendes Subjekt die Aktivitaten Gottes Ubernimmt und dessen Erfahrungen als subjektinterne Erlebnisse interpretiert werden. Damit scheinen sich die Diskurse der Erkenntnis- und der Sozialisationstheorie zueinander wie autopoietisch geschlossene Systeme zu verhalten, die sich bestenfalls irritieren konnen, ohne sich in Form eines Interpenetrationsverhaltnisses wechselseitig Ressourcen zur Verfugung zu stellen. SchlieBlich ist es innerhalb des Sozialisationsdiskurses eine ausgemachte Sache, das Subjekt immer schon in sozialen Umwelten eingebettet zu sehen, so dass eine erkenntnistheoretische hergeleitete Subjektivitat mit einem zentralen Axiom dieses Diskurses kollidiert. Und tatsachlich hat - mit Ausnahme von Luhmann - die Diskrepanz der unterschiedlichen Subjektvorstellungen bislang eher zu einer gegenseitigen Indifferenz gefiihrt, Wenn hier mit einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie beide Diskurse aufeinander bezogen werden sollen, mtissen erste Schritte erkennbar werden, die ein solches Beziehen aufeinander ermoglichen. Soviel steht fest: Das als konstruierend gefasste Subjekt liegt logisch vor seiner Beziehung auf die soziale und materielle Umwelt. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Es ist einer empirischen Analyse nicht umstandslos zuganglich, da die logische Stellung vor der Umwelt um den Freis erkauft ist, dass es nicht dem Bereich empirischer und kausal determinierter Objekte angehort. Der Konstruktivismus vermag vielleicht einen stabilen Erfahrungsbegriff vor den Einwanden des Skeptizismus sichern, sein Erfahrungsbegriff bleibt jedoch in den Operationen des Subjekts stecken und kann nicht ohne weiteres auf empirische Forschungszwecke ubertragen werden, die eine Ausweitung der Erfahrung uber die Grenzen des subjektintemen Prozessierens hinaus beanspruchen. Welche Bedeutung kann dann aber dem erkenntniskritischen Subjektbegriff innerhalb der Sozialisationstheorie zukommen? 18 Dies ist hier nicht als eine empirische Aussage iiber die Freiheitsoptionen in Gegenwartsgesellschaften zu verstehen, sondem nur als analytische Option, den Freiheitsbegriff in der empirischen Sozialisationsforschung aufzunehmen.
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Das Subjekt konstruiert seine Umwelt, oder: die Umwelt ist seine Erfindung. Wiirden wir im Alltag von dieser Pramisse ausgehen, waren wir einem Dauersog des Reflektierens ausgesetzt, weil wir standig uberpriifen mussten, ob unsere Bewusstseinsinhalte pragmatisch umsetzbar sind. Wir mussten standig kontrollieren, ob wir in einem Wach- oder Schlafzustand sind, um sicher gehen zu konnen, dass die von uns vermeinten Objekte nicht bloBe Traumobjekte sind. Wir mussten uns in regelmaBigen Abstanden der Tragfahigkeit solcher Konzepte wie Objektpermanenz oder Kausalitat versichem, da sie als unsere Erfindungen keineswegs automatisch eine iiberzeitliche Geltung beanspruchen diirfen. SchlieBlich mussten wir im sozialen Kontakt mit einem alter ego uns immer wieder bewusst machen, dass die Konstruiertheit der Welt auch fiir Andere gilt, und wir fur unsere Werte und unser Wissen keineswegs Allgemeingtiltigkeit voraussetzen konnen, so dass jede neue soziale Situation streng genommen auslegungsbediirftig ware. Fiir die pragmatischen Aufgaben des Alltags ist es daher eine Entlastung, von einer stabilen AuBenwelt auszugehen, die fiir uns ohne unser Zutun eine Objektpermanenz here it halt, und dies sowohl in Bezug auf die materielle als auch auf die soziale Umwelt, in der wir damit rechnen konnen, andere Subjekte vorzufinden, die sich auf die gleiche AuBenwelt beziehen. Damit soil nicht eine mogliche Fruchtbarkeit des Konstruktivismus fiir ethische und moralische Anschauungen und damit fiir den pragmatischen Alltag dementiert werden (vgl. etwa Singer 2004b: 117ff.; Maturana 2000b: 301). Damit soil ausschlieBlich verdeutlicht werden, dass der feste Glaube an eine stabile AuBenwelt und damit die Suspendierung konstruktivistischer Argumente im Bereich des Alltags pragmatische Motive anflihren kann, die eine ,materialistische' Alltagsanschauung nahe legen. Fiir die wissenschaftliche Beschreibung dieses Alltags gilt indessen nicht die gleiche Pragmatik. Sie kann nur dann den Status der Wissenschaftlichkeit fur sich reklamieren, wenn sie zu methodisch kontrollierten Aussagen kommt. Damit ist der wissenschaftlichen Beschreibung grundsatzlich eine Distanz zum Alltag eingebaut. SchlieBlich gelten damit logische Pramissen, wie etwa die Widerspruchsfreiheit oder die Koharenz, die im Alltag keineswegs auf eine ungeteilte Realisierung hoffen diirfen, die sogar in Widerspruch zu alltaglichen Notwendigkeiten oder Bedurfnissen geraten konnen. Etliche Befunde der Wissenschaften (z. B. auch die konstruktivistische Erkenntnistheorie) sind kontraintuitiv und finden nur schwerlich den Weg in alltagliche Lebensgestaltungen. Kurz: Die wissenschaftliche Beschreibung ist eine Beschreibung zweiter Ordnung, die nach eigenen GesetzmaBigkeiten angelegt ist und die nicht automatisch mit den GesetzmaBigkeiten des Alltags identisch sind. Dies wird von alien wissenschaftlichen Disziplinen durchaus zugestanden. Philosophiegeschichtlich war es David Hume (1739/1989, 1748/1993), der diesen Umstand scharfsinnig erkannt hat und der zwischen einer alltaglichen und einer wissenschaftlichen Beschreibungsebene differenzierte. Der wissenschaftlichen Beschreibung schrieb er eine skeptische Haltung gegeniiber der Wirklichkeit ins Stammbuch. Dies jedoch nicht, weil er ein begeisterter Anhanger des Skeptizismus gewesen ware, sondem weil er theorieimmanent keine Moglichkeit sah, den Skeptizismus begriindet zuriickzuweisen. Im 20. Jahrhundert wird Husserl (1924/1992) eine andere Strategic vorschlagen: Wenn der Skeptizismus schon unsausweichlich ist, dann muss er - wohl gegen die eigene Intention - wahr gemacht werden, und dies durch die Beschrankung auf bewusstseinsimmanente Erfahrungsinhalte. Der Konstruktivismus hat diese Strategic zu seinem Programm erhoben. Im 185
Sinne der Differenzsetzung von Hume ist die Beschrankung auf bewusstseinsimmanente Erfahrungsinhalte dann aber kein Problem mehr. Sie gilt als (ein) Modell der wissenschaftlichen Beschreibung und impliziert keine ontologische Pradikation. Drastisch formuliert: Ob die empirischen Subjekte im Alltag tatsachlich ihre Umwelt konstruieren (unabhangig davon, ob sie sich dies bewusst machen) oder nicht, spielt fiir die wissenschaftliche Beschreibung nur eine untergeordnete Rolle. Dass die empirischen Subjekte ihre Umwelt konstruieren ist ein Ergebnis wissenschaftlich-philosophischer Reflexionen, das sich theoretisch (und wie im Fall der Hirnforschung gegebenenfalls empirisch) begriinden lassen muss und begriinden lasst. Dieses Ergebnis fuhrt dazu, davon auszugehen, dass die Subjekte die Umwelt konstruieren, ihre sensorische Zuganglichkeit zur AuBenwelt eingeschrankt ist. Relevant fiir die wissenschaftliche Beschreibung ist indessen aber nur, dass sich dies mit den Mitteln der Wissenschaft begriinden lasst. Fiir die empirische Sozialisationsforschung bedeutet dies, dass mit konstruierenden Subjekten gerechnet werden muss, es allerdings eine empirische offene Frage bleibt, wie die Subjekte sich auf ihre Umwelt beziehen, ob sie sich also an einer ,konstruktivistischen' oder eine ,materialistischen' AUtagsanschauung orientieren bzw. ob sie im Alltag Mischformen fmden. In Anlehnung an Husserl konnte dieses Vorgehen auch als ,Epoche' bezeichnet werden. Zwar geht es im Kontext der Sozialisationsforschung nicht primar um die wissenschaftstheoretische Frage nach der Sicherung evidenten Wissens. Methodisch allerdings sind die Ergebnisse vergleichbar: Die Wirklichkeit wird weder geleugnet, noch wird ihre Existenz unterstellt. Sie wird als bewusstseinsimmanentes Erleben sichergestellt, ohne dass die Probleme auftauchen, die sich durch das Modell der Bezugnahme eines Subjekts auf die Objektivitat ergeben. Aus forschungspragmatischen Griinden werden also im Rahmen einer konstruktivistischen Subjekttheorie empirische Subjekte unterstellt. Dies wird moglich, weil der Konstruktivismus, wie Siegfried J. Schmidt betont, kein ontologischer Solipsismus ist, der die Existenz der AuBenwelt negiert. Der Konstruktivismus ist als Methode zu verstehen, die auf der Ebene wissenschaftlicher Beschreibungen operiert. Wenngleich so der Forschungsgegenstand gesichert werden kann, bleibt das Problem, dass der Konstruktivismus als wissenschaftliche Methode sich selbst in die eigene Beschreibung muss einbeziehen konnen. Die Konsequenz ist, dass jegliche wissenschaftliche Beobachtung zu einem Konstrukt wird, das keine objektive Giihigkeit besitzt. Nun ist die Beobachterabhangigkeit auch wissenschaftlicher Aussagen spatestens seit Luhmann in den Sozialwissenschaften ein anerkanntes Phanomen. Und Luhmann selbst hat sich nicht gescheut, trotz seines vehementen Insistierens auf diesem Phanomen, weitreichende gesellschaftsanalytische Positionen zu beziehen, fiir die er selbstverstandlich (empirische) ,Wahrheit' reklamiert. Klaus Hurrelmann hat die Beobachterabhangigkeit fiir die Sozialisationsforschung folgendermafien zusammengefasst: „Der Begriff Soziahsation ist ein wissenschafthches Konstrukt, das in beschreibender und analytischer Absicht einen nicht unmittelbar beobachtbaren Ausschnitt der Realitat bezeichnet. Personlichkeitsentwicklung als dynamischer Prozess ist ein real existierender, aber in der Realitat nicht dinghaft greifbarer Untersuchungsgegenstand. Deshalb benotigt die Sozialisationsforschung eine iibergeordnete theoretische Modellvorstellung, die als Kristallisationspunkt ftir erkenntnisleitende Annahmen dient und den komplexen Untersuchungsgegenstand begrifflich verfugbar macht." (Hurrelmann 2002: 155) Kurzum: Die Beobachterabhangigkeit wissenschaftlicher Beschreibungen ist kein Problem, das nicht 186
ohnehin gesehen und akzeptiert wird. Fur einen als Methode ausgerichteten Konstruktivismus folgt daraus, dass dieser sich neben seiner theoretischen Begriindbarkeit forschungspragmatisch bewahren konnen muss, das heiBt er muss zeigen, dass er in der Lage ist, eine empirische Sozialisationsforschung heuristisch anzuleiten. Die scheinbare Untauglichkeit konstruktivistischer Theoriebildung, die sich wegen der Umdeutung des Erfahrungsbegriffes als subjektintemes Erlebnis aufdrangt, besteht also nur solange, wie eine Identitat von wissenschaftlicher Beschreibung und ihrem Gegenstand postuliert wird. Wird hingegen auf die Beobachterabhangigkeit umgestellt, kann die konstruktivistische Theorie als Modell im Rahmen empirischer Forschung sehr wohl zur Anwendung gebracht werden. Mehr noch: Gerade das Sichern eines stabilen Erfahrungsbegriffes gegenuber materialistischen Ansatzen, macht den Konstruktivismus zu einer wissenschaftlichen Methode, die eine empirische Anwendung im besonderen MaBe herausfordert. Zusammenfassung Bevor in Ansatzen angedeutet wird, wie sich die Verwendung der konstruktivistischen Theorie als Modell fiir die Sozialisationsforschung auswirkt, sollen die zentralen Positionen, die hier bezogen worden sind, kurz zusammengefasst werden. Das Subjekt, wie es sich aus dem erkenntnistheoretischen Diskurs ableiten lasst, liegt in dem Sinne logisch vor seiner Einbeziehung in die Umwelt, als es einen transzendentalen Stellenwert hat. Dies bedeutet: Als Bedingung der Moglichkeit von Erkenntnis Uberhaupt konstruiert es die Umwelt nach MaBgabe eigener Kriterien, die sich im Laufe der Ontogenese entwickeln. Dieses Konstruieren bezieht die Setzung der Differenz zwischen subjektintemen und ,objektiven' Zustanden mit ein. Anders als bei Kant ist dieses Subjekt jedoch nicht als inhaltliche Bedingung der Moglichkeit gedacht. Es bringt nicht bereits fertige Konzepte und Begriffe zur Ordnung und Klassifizierung von Erfahrungen mit, sondem muss diese Begriffe erst, wie Piaget (1975) deutlich gemacht hat, sukzessive entwickeln. Mit dem hier zugrunde gelegten Subjektbegriff wird nicht mehr und nicht weniger auf den Punkt gebracht als eben diese Potenz zur aktiven Konstruktionsleitung. Nicht mehr die Auseinandersetzung mit einer vorgegeben Umwelt stellt daher den zentralen Analysefokus dar, sondern die Frage nach den Passungsverhaltnissen subjektiver Konstrukte. Aufgrund dieser in theoretische Deduktionen zuriickgenommen Begriffsbestimmung kann dieses Subjektverstandnis nicht den Anspruch haben, mit empirischen Subjekten identisch gesetzt zu werden. Als begriffslogisches Subjekt ist es ahnlich zu dem Begriff des kommunikativen Handelns von Jiirgen Habermas zunachst eine kontrafaktische Unterstellung. Das heiBt, dieser Subjektbegriff geht von empirischen Indizien (Sinnestauschung, Pluralitat von Wissen und Werten, Himforschung) aus, wird dann aber nach idealistischer Tradition rein theoretisch (und das meint: jenseits empirischer Verhaltnisse und Bestimmungen) entwickelt. In der empirischen Anwendung hat es folglich eine heuristische Ausrichtung, die in ihrer Operationalisierung Subjekte unterstellt, die tatsachlich nach MaBgabe eigener Kriterien ihre Umwelt konstruieren. Es ist damit ein Subjektbegriff gefunden, der sowohl der Widersprlichlichkeit intersubjektivistischer Herleitungen wie auch den Problemen des erkenntnistheoretischen Dualismus entgeht. Wird das Subjekt als nicht hintergehbare Bedingung der Moglichkeit gesetzt und zugleich mit dem aktiven Potential der Wirk187
lichkeitskonstruktion ausgestattet und werden schlieBlich Erfahrungen als subjektinterne Erlebnisse ohne Anspruch auf objektive Giiltigkeit reinterpretiert, braucht das Subjekt weder schon Subjekt zu sein, um als Subjekt (empiristisch oder handlungstheoretisch) bestimmt werden zu konnen, noch ist es auf metaphysische Theoriearchitekturen wie die These der angeborenen Ideen oder der Hilfeleistung durch Gott angewiesen. Die im Sozialisationsdiskurs durchaus gesehene Eigenaktivitat des Sozialisanden ist dann kein zusatzliches Postulat mehr, das der Verstricktheit in die soziale Umwelt hinzugefugt wird, letztlich aber einen unklaren und auslegungsbedlirftigen Horizont produziert, der dem Axiom der Verstricktheit eigentiimlich gegeniiber steht. Um es vorwegnehmend deutlich zu machen: Es wird nicht geleugnet, dass eine Auseinandersetzung mit Fremdreferenzen (insbesondere sozialen) notwendig ist, um die Entwicklung der Personlichkeit voranzutreiben. Diese Fremdreferenzen aber werden im Subjekt prozessiert und bezeichnen nicht eine durch einen Beobachter zu diagnostizierende und dem Subjekt vorgegebene Umwelt, die dieses mehr oder weniger passiv aufarbeiten muss. Die der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie zugrunde gelegte Subjektivitat lasst sich also iiber erkenntnistheoretische Uberlegungen begriinden. Im Weiteren muss nun gezeigt werden, inwieweit sich eine solche Subjektivitat als Heuristik fiir die Sozialisationstheorie auswirkt.
8, Sondierungen zu einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie
Der zentrale Untersuchungsgegenstand der Sozialisationsforschung ist die Personlichkeitsentwicklung der Sozialisanden unter besonderer Berucksichtigung ihrer Enkulturation (siehe dazu Kap. 8.3.)- E)ass dieser Prozess ohne die Bezugnahme auf Fremdreferenzen in der Tautologie der Selbstreferenz enden wiirde, ist ein Umstand, den die SoziaHsationsforschung hinreichend dokumentiert hat, und der durch die erkenntnistheoretischen Uberlegungen keineswegs in Abrede gestellt wird. Vier Sozialisationsinstanzen haben sich in der Sozialisationsforschung als bedeutsame Fremdreferenzen kristallisieren lassen: Familie, Schule, Peers und Medien. Alle vier Fremdreferenzen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einer objektivierenden Analyse zugangig sind. Familien konnen etwa beztiglich ihrer Binnenkommunikation klassifiziert werden. Die Schule bietet ohnehin standardisierte Strukturen (Zeit, Curriculum) und kann dartiber hinaus bezuglich sozialer Ungleichheits- oder Herrschaftsmomente beschrieben werden. Peers lassen sich ahnlich wie Familien durch Kommunikationsformen unterscheiden und zudem durch verschiedene Jugendstile, die sich im Musikkonsum oder der Kleidung niederschlagen konnen. Ftir die Medien schlieBlich ergibt sich die Moglichkeit einer Einordnung von verschiedenen Sendeformaten. Kurz: Ftir alle vier Sozialisationsinstanzen lassen sich objektive Klassifikationen vomehmen, die durch entsprechende Diskurse (hier: Familien-, Jugend-, Bildungs- und Mediensoziologie) elaboriert werden konnen und denen spezifische Einfltisse auf den Prozess der Sozialisation attestierbar sind. Im Rahmen einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie entfallen diese Instanzen nicht, sie erhalten jedoch einen anderen Status. Sie werden zu moglichen Fremdreferenzen unter anderen moglichen Fremdreferenzen degradiert und verlieren zudem ihren objektiven Status. Die zentrale Fragestellung einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie verschiebt sich damit auf das subjektinteme Prozessieren von Fremdreferenzen, das heiBt auf die Frage, welche Fremdreferenzen liberhaupt prozessiert werden und wie sie prozessiert werden. Dies hat Auswirkungen auf die gesellschaftstheoretische und normative Verknlipfung der Sozialisationstheorie, die zunachst erlautert werden miissen, um anschliefiend umreiBen zu konnen, wie sich aus der Perspektive einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie der Prozess der Personlichkeitsentwicklung antizipieren lasst.
8.1. Erkenntniskritische Sozialisationstheorie und Gesellschaftstheorie Ftir die Sozialisationsforschung wenig rtihmlich, lieBe sich formulieren, diese sei letztlich nur ein Liickenfuller fiir die Theorie moderner Gesellschaften. Diese konnen, wie Durkheim (1893/1992) bereits gesehen hat, ihren symbolischen Reproduktionsbedarf nicht mehr auf kodifiziertes Standesrecht stutzen, sondem miissen unter der Pramisse demokratischer 189
Freiheit und Gleichheit mit einer kulturellen Diversifikation rechnen, die den erhohten Aufwand erfordert, Personlichkeitsentwicklungen im Rahmen des gesellschaftlich Akzeptablen auszubalancieren und auf diese Weise integrierende Werte zu vermitteln. Der Sozialisationsforschung kommt vor dem Hintergrund dieser Problemstellung die Aufgabe zu, die Bedingungen einer solchen symbolischen Reproduktion der Gesellschaft auf der Ebene der einzelnen Akteure zu untersuchen. Aber auch anders herum lasst sie eine Zweirangigkeit der Diskurse formulieren. Zum einen lasst sich der Zusammenhang einfach umdrehen, so dass Gesellschaft erst iiber die Sozialisationspraxis erklart wird. Gesellschaft wird dann als Explanandum zu einer abhangigen GroBe. Zum anderen lasst sich die Gesellschaftstheorie funktional instrumentalisieren. Der Sozialisationsdiskurs hat die Aufgabe die Personlichkeitsentwicklung zu beschreiben. Zu diesem Zweck mussen die Rahmenbedingungen, innerhalb derer eine Personlichkeitsentwicklung stattfindet, konturiert sein. Dies ist dann die Aufgabe der Gesellschaftstheorie, die zum Zweck der Beschreibung von Sozialisationsverlaufen Gesellschaftsanalysen beisteuem muss, um zu klaren, welche moglichen Zielvorstellungen innerhalb einer Gesellschaft formuliert werden, und auf welche Strukturen und Wertmuster die Sozialisanden in ihrer Ontogenese treffen. Die im ersten Teil verfolgte Aufarbeitung des Sozialisationsdiskurses zeigt, dass viele Vertreter dieses Diskurses selbst die erste Variante zu praferieren scheinen. Sowohl Durkheim, als auch Parsons oder Habermas konzipieren ihr Sozialisationsmodell in Anlehnung an ihre gesellschaftstheoretischen oder normativen Uberlegungen. Flir Durkheim (1995) ist es eine ausgemachte Sache, dass die hausliche Erziehung die erhohten Anforderungen an die symbolische Reproduktion der Gesellschaft nicht alleine zu leisten vermag und durch eine staatliche Erziehung in Form des Schulunterrichts komplementiert werden muss. Parsons (1999c) erwartet vom Prozess der Sozialisation eine reibungslose Eingliederung in die stratifizierte Ordnung einer Gesellschaft nach MaBgabe der je individuellen Leistungsfahigkeit. Habermas (1973a, 1973b) schlieBlich dreht die normative Spitze seiner Vorganger um und erhofft sich emanzipatorische Potentiale, die sich im Verlauf der Personlichkeitsentwicklung entfalten sollen und die jene Offentlichkeit erwartbar machen, auf die eine demokratische Gesellschaft angewiesen ist, Bronfenbrenner (1993) zieht das Zusammenspiel von Sozialisation und Gesellschaft bereits in seinem Verstandnis des Sozialisationsgeschehens konsequent zusammen, wenn er neben den direkten Interaktionsverhaltnissen auch die Ebene der Gesamtgesellschaft als relevante Sozialisationsumgebung mitberiicksichtigt und seine Sozialisationsforschung explizit mit sozialpolitischen Intentionen fundiert (Bronfenbrenner (1973/1976). Erst Luhmann (2002b) bricht mit diesem Wechselverhaltnis der beiden Diskurse. Sein Konzept der Selbstsozialisation ist durch die Begriffe der Autopoiesis und der Selbstreferentialitat nicht primar auf die Passungsverhaltnisse von Gesellschaft und Individuum zugeschnitten, sondem auf die systeminteme Strukturentwicklung, die ohne den Import gesellschaftlicher Werte auskommen muss. Erst iiber die Erziehung holt sich Luhmann, synonym zu Durkheim, auch die Frage nach den Passungsverhaltnissen wieder in seine Theorie herein. „Konsens (im Sinne einer Ubereinstimmung der Bewusstseinszustande) zu erwarten, ware utopisch. Aber gespielter Konsens (wenn man so formulieren darf) ist unerlasslich, wenn die Autopoiesis sozialer Systeme fortgesetzt werden soil. Und durch Erziehung lasst sich erreichen, dass dies auch in nichtstandardisierten Situationen moglich wird, wahrend Sozialisation sehr stark an ihren Ursprungskontext gebunden 190
bleibt." (Ebd.: 81) Wahrend die (Selbst-)Sozialisation aufgrund ihrer autopoietischen Prozesshaftigkeit also zu multiplen und ,gesellschaftsvergessenen' Ergebnissen fiihren kann, wird die soziale Uberschneidungsfahigkeit psychischer Systeme erst durch den korrigierenden Einfluss der Erziehung - zumal der schulischen - garantiert. Wie verhalt sich nun eine erkenntniskritische Sozialisationstheorie zu dem wechselseitigen Zusammenspiel von Gesellschaftstheorie und Sozialisationsdiskurs? Klar ist, wenn sich der zentrale Analysefokus auf die subjektinternen Umweltkonstruktionen verschiebt, entfallt die Rlickkopplung an die gesellschaftstheoretische Frage nach der symbolischen Reproduktion. Dies deshalb, weil mit dem Analysefokus auf das Subjekt sich auch die Perspektive auf die Gesamtgesellschaft verschiebt. Die Kopplung zwischen Sozialisations- und Gesellschafstheorie war schlieBlich deswegen so zentral, weil mit ihrer Hilfe eruiert werden sollte, wie und unter welchen Bedingungen Personlichkeiten zu erwarten sind, die als Ergebnis ihrer Sozialisation zu integrierten Mitgliedem einer Gesellschaft geworden sind. Diese Ergebnisorientierung wird aufgegeben, wenn der Prozess der Sozialisation und damit die Wirklichkeitskonstruktion (einschliefilich der sozialen Wirklichkeit) konsequent aus der Perspektive des Subjekts angeschaut wird. Aus dem Blickwinkel des Gesellschaftlichen konnen (normative) Erwartungen formuliert werden, die spezifische Sozialisationsverlaufe honorieren. Aus dem Blickwinkel des Subjekts gelten nur solche Erwartungen, die das Subjekt sich selber setzt und die keineswegs immer mit gesellschaftlichen Erwartungen harmonieren mussen. Mit anderen Worten: Die normative Dimension der Verflechtung von Gesellschafts- und Sozialisationstheorie ist unter der Pramisse einer subjektzentrierten Perspektive nicht aufrecht zu erhalten.'^ Anders liegt der Fall in Bezug auf die analytische Dimension dieser Verflechtung. Es wurde bereits konstatiert, dass das Prozessieren von Fremdreferenzen unabdingbar ist, um uberhaupt eine Entwicklung in Gang zu bringen. Im Sozialisationsdiskurs haben sich vier solcher Fremdreferenzen als die bedeutsamsten herausgestellt, die unterschiedliche Aspekte der Gesellschaft beleuchten. Eine kritische Theorie der Gesellschaft, wie sie von Marx (vgl. KoBler/Wienold 2001) oder Adomo (vgl. Auer/Bohnacker/Muller-Doohm 1998) entfaltet wurde, konnte dagegen nun einwenden, dass entscheidende Momente des Gesellschaftlichen nicht thematisiert werden. Allem voran wiirde diesen Theoretikern wohl der Bereich des Wirtschaftlichen fehlen, der insofem Impulse in das Sozialisationsgeschehen einbringt, als die Allokation von Lebenschancen von diesem Bereich abhangt und in kapitalistischen Gesellschaften dieser Bereich tiberdies Entfremdungstendenzen produziert, die zwar moglicherweise zu dem normativen Ergebnis einer gleichsam unbewussten Eingliederung in die Gesellschaft ftihren konnen, die jedoch aus der kritischen Distanz als kulturelle Verarmung diagnostiziert werden mussen, gerade auch weil sie die Gefahr einer emeuten Diktatur virulent halten. Jlirgen Habermas (1981), der sich in die Tradition der ,Kritischen Theorie' gestellt hat, versucht diesem Ansinnen insofem gerecht zu werden, als er mit seinem System und Lebenswelt umgreifenden Gesellschaftsbegriff Verzerrungen der (herrschaftsfreien) Kommunikation aufspliren mochte, die durch das Eindringen systemischer Imperative in die Lebenswelt und damit in den Prozess der Sozialisation entstehen. Bronfenbrenner 19 Zur verbleibenden Restnormativitat, um die auch die erkenntniskritische Sozialisationstheorie nicht herum kommt siehe Kap. 8.2. Hier geht es nur um die Normativitat, die der Verzahnung von Sozialisations- und Gesellschaftstheorie entspringt.
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kann durch seine Differenzierung in verschiedene Ebenen des Gesellschaftlichen ebenfalls mehrere Analysedimensionen in seine Sozialisationstheorie implementieren, die sich in vielfaltigen Wechselverhaltnissen zueinander verhalten und so ein breites Spektrum gesellschaftlicher Einfliisse auf den Sozialisanden erkennbar werden lassen. Fiir eine erkenntniskritische Sozialisationstheorie miissen diese vielfaltigen Bezugnahmen auf die Gesellschaft ubemommen werden. SchlieBlich ist es eine offene Frage, welche Fremdreferenzen die entscheidenden Impulse fiir die Ontogenese beisteuem. Dies konnen jene oben genannten vier Fremdreferenzen sein, die sich im Sozialisationsdiskurs herauskri stall isiert haben. Dies konnen aber auch Momente des Gesellschaftlichen sein, die weit liber solche direkten Interaktionsbeziige wie Familie, Peers oder Schule hinaus weisen. Gerade iiber die Medien konnen Inhalte vermittelt werden, die sich entweder konkret auf z. B. andere (Sub-)Kulturen, die dann adaptiert werden, oder abstrakt auf z. B. die Menschenrechte beziehen, die als politisch-moralisches Wertesystem einen normativen Fixpunkt fiir die eigene Entwicklung darstellen konnen. Im Sinne der ,Kritischen Theorie' konnen wirtschaftliche (oder auch politische oder wissenschaftliche) Strukturen und Prozesse, die keineswegs immer in direkten interaktiven Beziigen erfahren werden mussen, spezifische Anregungspotentiale zur Verfiigung stellen, die sich unter anderem in einem besonderen Interesse oder auch einer kritischen Reflektion niederschlagen konnen. Das Prozessieren solcher eher gesamtgesellschaftlichen Beziige hat dann selbstverstandlich Auswirkungen auf das Prozessieren direkter Aktionsbezlige wie Familie oder Peers, wobei letztere moglicherweise in Anlehnung an erworbene Interessen oder normative Uberzeugungen gewahlt werden und die dann einerseits als Verstarker solcher Interessen und Uberzeugungen wirken, anderseits jedoch ihrerseits wieder spezifische Anregungspotentiale bereit halten, die im Wechselverhaltnis mit den Interessen und Uberzeugungen ausgehandelt werden mussen. Ahnliches giU fur soziale Ungleichheitsverhaltnisse. Diese werden keineswegs durch eine konstruktivistische Heuristik, wie sie hier Verwendung finden soil, geleugnet. Ihnen wird allerdings nicht die Praponderanz unterstellt, die sie bei Bourdieu (1994) erhalten haben; das heiBt ein direktes Durchschlagen soziookonomischer Verhaltnisse auf die individuelle Lebens- und Biographiegestaltung wird dementiert, da auch solche Verhaltnisse im Rahmen der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie nur innerhalb des Subjekts lokalisiert sind und damit als subjektintemes Prozessieren von Fremdreferenzen aufgefasst werden. Dies schlieBt nicht aus, dass die Subjekte dann, wie Bourdieu erwartet, tatsachlich milieukonforme Denk- und Handlungsmuster generieren. Dieser Umstand wird aber vor dem Hintergrund des konstruierenden Subjekts erklarungsbediirftig. Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie, die aufgrund ihrer starken Zentrierung auf das Subjekt zunachst den Eindruck der Gesellschaftsvergessenheit suggeriert, ist also keineswegs unabhangig von gesellschaftstheoretischen Diagnosen. Dies konnen zeitdiagnostische Gesellschaftsbegriffe (vgl. dazu Kneer/Nassehi/Schroer 1997, 2001) sein oder gesellschaftstheoretische Uberlegungen, die bemiiht sind, fundamental die Prinzipien der Vergesellschaftung zu beschreiben. Die Gesellschaftstheorie hat dabei freilich nicht die normative Konnotation, mogliche Zielvorstellungen flir die Sozialisation zu bestimmen. Sie spielt einzig eine analytische Rolle, das heifit sie soil mogliche Fremdreferenzen auskundig machen, die als potentielle Anregungspotentiale vom Subjekt prozessiert werden konnen. Diese verlieren fur die Sozialisationsforschung auf diese Weise den Status, die Umwelten 192
zu beschreiben, in die die zu untersuchenden Sozialisanden dann gesetzt werden konnen. Gegeniiber dem Subjekt, wie es der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie zugrunde gelegt wird, bleiben die gesellschaftstheoretischen Beschreibungen insofem auBerlich, als sie nur mogliche Fragestellungen fur den wissenschaftlichen Beobachter generieren konnen sollen. Sie haben (im Kontext der erkenntniskritischen Sozialisationsforschung) nicht den Rang objektiver Gegebenheiten, da sie ihre sozialisatorische Wirksamkeit erst entfalten konnen, wenn sie von Subjekten konstruiert werden, wobei es dann immer noch eine offene Frage ist, wie und mit welchen Beziigen auf welchen anderen Konstrukte sie konstruiert werden. Kurz: So wie das theoretisch hergeleitete Subjekt, haben auch gesellschaftstheoretische Uberlegungen einen heuristischen Status, der Forschungsfragen soil anregen und anleiten konnen. Dies fiigt sich insofem in die Sozialisationstheorie ein, als, wie im ersten Teil gesehen, eine gemeinsame inhaltliche Ausrichtung der unterschiedlichen Sozialisationstheorien ohnehin nicht existiert und weitergehende Forschungsfragen in den Kontext der Sozialisationsforschung importiert werden mussen. Die Starke Verzahnung von Sozialisations- und Gesellschaftstheorie wird also nicht vollig durchbrochen, aber doch abgeschwacht. Normativ entfallt die Verzahnung und analytisch dient die Gesellschaftstheorie nicht mehr als Folic ftir Umweltbeschreibungen, innerhalb derer dann Sozialisationsprozesse angesiedelt werden konnen, sondem als extemer Diskurs, der seinerseits von sozialisationstheoretischen Uberlegungen entkoppelt, gesamtgesellschaftliche Strukturen und Prozesse erschlieBt, die dann innerhalb der Sozialisationsforschung als mogliche Fremdreferenzen eingesetzt werden konnen, wobei es nicht die Frage ist, wie das Subjekt auf diese Strukturen und Prozesse reagiert, sondern ob es sie uberhaupt als (sozialisations-)relevante Umwelten konstruiert und wie es diese dann in einem zweiten Schritt verarbeitet. Die normative Entkoppelung von Gesellschafts- und Sozialisationstheorie beinhaltet vor allem die Aufgabe von Sozialisationszielen, die auf bestimmte Gesellschaften zugeschnitten sind. Daraus folgt allerdings nicht eo ipso, dass die erkenntniskritische Sozialisationstheorie grundsatzlich nicht normativ ausgerichtet ist. Normativitat lasst sich schliefilich auch jenseits von gesellschaftstheoretischen Bezugen denken, und wenngleich die praktische Philosophic als Vorlaufer der modemen Gesellschaftstheorie angesehen werden darf, finden sich auch in diesem Diskurs diverse Vertreter, die ihre normativen Bestimmungen explizit ohne Beriicksichtigung konkreter gesellschaftlicher Verhaltnisse durchftihren. Da die erkenntniskritische Sozialisationstheorie im weitesten Sinne an einen dieser Vertreter Immanuel Kant - anschlieBt, soil im Folgenden untersucht werden, ob - und wenn ja in welcher Weise - sie normativ zu verstehen ist.
8.2. Erkenntniskritische Sozialisationstheorie und Normativitat Wie gesehen, wird die Frage nach der Normativitat innerhalb der Sozialisationstheorie bereits anhand der Verzahnung mit der Gesellschaftstheorie thematisch. Und wenngleich die erkenntniskritische Sozialisationstheorie mit dieser Verzahnung auch einen wichtigen Pfeiler einer normativen aufgestellten Sozialisationstheorie einzieht, muss (in diesem Fall) selbstverstandlich eine negative Seite benannt werden, die nicht unterschritten werden darf 193
Es sollen keine positiven Ziele fiir die Personlichkeitsentwicklung formuliert werden, die sich auf konkrete gesellschaftliche Verhaltnisse beziehen. Damit wird ein groBer Toleranzradius formuliert, der allerdings seine Grenze an diktatorischen oder rassistischen Regimes fmden muss.^^ Gegenliber einem Sozialisationsziel, das die Verfolgung (oder sogar Totung) von politischen Opponenten, ethnischen oder religiosen Minderheiten propagiert, bleibt die Entzerrung von Gesellschafts- und Sozialisationstheorie nicht indifferent. Daraus folgt: Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie kommt nicht grundsatzlich ohne eine normative Querverbindung aus. Dies muss erlautert und begriindet werden. Die konstruktivistische Theorie scheint auf den ersten Blick nicht nur empiriefeindlich, sie scheint auch normativ leer zu sein. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indessen, dass der Konstruktivismus sehr wohl normativen Diskursen zuganglich ist, diese sogar herausfordert. Wissenschaftstheoretisch namlich manovriert sich der Konstruktivismus in das Problem, jegliche Aussage als beobachterabhangig zu konzeptionalisieren. Nun kann innerhalb des Wissenschaftssystem die daraus resultierende (oder: drohende) Relativitat jeglicher Aussage dadurch aufgefangen werden, dass spezifische Methoden und Messverfahren eingeflihrt werden, die eine intersubjektive Beurteilung moglich machen. Allein, solche Methoden und Messverfahren sind ihrerseits nicht vollstandig beobachterunabhangig. Innerhalb der Wissenschaften fmden sich unterschiedliche (und zuweilen gegensatzliche) Methoden, die nicht immer kompatibel sein mussen. Aus konstruktivistischer Sicht entspringt dies dem Umstand, dass auch Methoden als Konstruktionsleistungen zu verstehen sind. Sie resultieren aus unterschiedlichen Kontexten, in denen die Wissenschaftler operieren und auf die sie sich beziehen. Gemeint sind damit vor allem theoretische Uberzeugungen oder Hintergrundannahmen, die nicht immer empirisch verifiziert werden konnen, die aber einen Einfluss auf methodische Operationalisierungen haben. Intersubjektive Transparenz kann dann aber nur erzeugt werden, wenn diese Hintergrundannahmen verdeutlicht werden. Als empirisch nicht (vollstandig) verifizierbare Annahmen haftet ihnen jedoch immer ein normativer Horizont an, der schlieBlich als EvaluationsmaBstab relevant wird. Anders formuliert: Die aus der Beobachterabhangigkeit wissenschaftlicher Aussagen folgende Relativitat kann in einem ersten Schritt durch intersubjektiv verhandelte Methoden ausgehebelt werden. In einem zweiten Schritt hingegen, mtissen - und dies zeigt der Terminus verhandeln bereits an - die Hintergrundannahmen, die der Bestimmung der Methoden zugrunde liegen, ebenfalls dem Sog der Problematisierung ausgesetzt werden. Diese Problematisierung ist aufgrund der empirietranszendenten Momente aber notwendig auch eine normative Angelegenheit. Was heiBt dies flir die erkenntniskritische Sozialisationstheorie? Diese handelt sich durch den Rlickgriff auf den Konstruktivismus dessen Beobachterabhangigkeit wissenschaftlicher Aussagen ein und steht daher vor der Aufgabe, ihre (normativen) Hintergrundannahmen auszuweisen. Sie kann sich nicht auf eine positivistische Attitude^' zuriickziehen und sich normativer Fragestellungen enthalten. Damit stellt sich die Frage, welche normative Position die erkenntniskritische Sozialisationstheorie beziehen kann, ohne im Riickschluss mit den eigenen wissenschaftstheoretischen Uberlegungen zu kollidieren. Eine normative Posi20 Zur Diskussion um den Toleranzbegriff vgl. Forst (2000). 21 Wobei anzumerken ist, dass der Positivismus bei seinen urspriinglichen Verfechtem wie August Comte (1844/1994) oder Emile Durkheim (1895/1991) selbst normativ verwiesen war.
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tion drangt sich bei dieser Suche unmittelbar auf. Die ,Kritik der sozialisierten Vemunft' fand ihren Ausgang in der Diskrepanz zweier in der Sozialisationstheorie angelegter Momente: Dem methodischen Intersubjektivismus und der Orientierung am Individuum. Dieses stellt innerhalb der praktischen Philosophie, oder genauer in der liberalistischen Tradition, eine gewichtige normative GroBe dar. In dieser Tradition hat das Individuum grundsatzlich die Stellung, Ausgangs- und Fixpunkt zu sein. Im Kontraktualismus sind es freie und autonome Individuen (Citoyen), die in einer verfahrensgerechten Situation die blirgerliche Gesellschaft konstituieren und dabei die individuelle Freiheit (insbesondere gegeniiber dem Staat) und die demokratischen Partizipationsrechte festschreiben. Dieses politischphilosophische Programm ist durch Jiirgen Habermas (1994) auf dem Boden des Intersubjektivitatsparadigmas reinterpretiert worden. Dem Intersubjektivitatsparadigma soil zwar im Rahmen der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie nicht gefolgt werden soil. Dieses Programm kann jedoch auch mit konstruktivistischen Mitteln hergeleitet werden. An anderer Stelle (Beer 2004b) wurde zu diesem Zweck argumentiert, dass sich eine demokratische Vergesellschaftungsform gerade dadurch normativ anbietet, dass von konstruierenden Subjekten ausgegangen wird. Dies namlich bedeutet im Kontext der politischen Philosophie: Die Subjekte differieren nicht nur bezuglich ihrer Interessen und Uberzeugungen, sondem bereits beztiglich ihrer Wirklichkeitsvorstellungen. Die Demokratie ist unter diesem Aspekt die angemessene Staats- und Gesellschaftsform, weil sie hinreichende Freiraume zur Verfugung stellt, die diesem Umstand gerecht werden.^^ Eine konstruktivistische Demokratiebegriindung hat auf diese Weise eine Schlagseite zur liberalistischen Lesart der Demokratie und lost so die Orientierung am Individuum ein. Wie leicht ersichtlich, bekommt mit einer solchen Strategic die Begrundung der Demokratie einen funktionalen Anstrich. Sie steht nicht mehr auf jenen normativen Saulen, die etwa Kant (1793/1991) oder Habermas (1994) in die europaische Geistesgeschichte eingeflockt haben. Als (bloBes) Pendant zur Erkenntnisorganisation der Subjekte, kann die Demokratie nicht einen normativen Uberschuss gegeniiber Diktaturen flir sich reklamieren. Ihr kommt nicht der Status zu, um ihrer selbst willen praferiert zu werden. Nun wurde dies zu der Aufgabe der normativen Verzahnung von Gesellschafts- und Sozialisationstheorie passen, die schlieBlich auch nur als funktional-analytische Beziehung ubernommen wird. Ganz so einfach ist dieser Sachverhalt allerdings nicht. Eine konstruktivistische Demokratiebegriindung kommt nicht ganzlich ohne Ruckversicherung in jener Geistestradition aus, die die Demokratie normativ iiberhoht. Denn: Als Pendant zu einer Erkenntnisorganisation, die als Konstruktion der Wirklichkeit gesetzt wird, kann sie sich nicht auf notwendige Griinde stiitzen, die eine Realisierung der Demokratie auch wahrscheinlich machen. Eine konstruktivistische Erkenntnisorganisation konnte ebenso gut eine diktatorische Staatsform nahe legen, die exakt eine Konstruktion der Wirklichkeit vorschreibt und die Subjekte damit entlastet, eigene Konstruktionsleistungen zu erbringen, oder die trotz einer autokratischen Regierung hinreichend individuelle Freiraume gewahrt. Der Hinweis, dass eine politisch gewollte Homogenisierung der Wirklichkeitskonstrukte niemals absolut sein kann, reicht dann (moglicherweise) nicht aus, die Demokratie vorzuziehen. Die konstruktivistische
22 Wobei selbstverstandlich gilt, dass diese Freiraume nur durch die Inanspruchnahme der Rechtsgenossen perpetuiert und erweitert werden konnen.
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Demokratiebegriindung erreicht also nur eine hinreichende, aber eben nicht notwendige Begriindung. Sie schlieBt hingegen weitergehende, normative Argumente uberhaupt nicht aus. Diese konnen sich dann aber nicht auf empirische oder erkenntnistheoretische Voraussetzungen stutzen, sondem mussen als transzendentale Diskurse gefuhrt werden. Dabei konnen Theoriekonstruktionen wie der KontraktuaHsmus (in jiingster Zeit vor allem bei Rawls 1979) Verwendung finden, die an eine normativ aufgestellte Geistestradition anschlieBen, wenn sie, anders als etwa bei Hobbes (1651/1992), eben nicht in anthropologischen Zuschreibungen fundiert sind. Eingerahmt sind solche Diskurse, werden sie vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Demokratiebegriindung gefuhrt, allenfalls durch die Erkenntnisaktivitat des Subjekts, die aber inhaltlich leer bleibt. Argumente, die die Demokratie um ihrer selbst willen zu begriinden suchen, sind also nicht der Kern einer konstruktivistischen Demokratiebegriindung, werden aber auch nicht kategorisch ausgeschlossen, wenn es darum geht, in der politischen Praxis flir die Demokratie zu votieren. In diesem additiven Sinne und bezogen vor allem auf die politische Praxis versichert sich also auch eine konstruktivistische Demokratiebegriindung in der europaischen Geistestradition. Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie formuliert keine inhaltlichen Ziele flir den Prozess der Personlichkeitsentwicklung, da sie die Verklammerung mit der Gesellschaftstheorie aufbricht. Sie impliziert jedoch in ihren theoretischen Grundpramissen einen Querverweis auf normative Fragen, der der Beobachterabhangigkeit entspringt. Aus dem Umstand der Beobachterabhangigkeit, die aus der Unterstellung konstruierender Subjekte folgt, lasst sich eine (liberalistische) Demokratie begriinden, die mit den wissenschaftstheoretischen Uberlegungen nicht kollidiert. Im Gegenteil fordert die Demokratie die Notwendigkeit der Verhandlung auch von Methoden und Messverfahren, bzw. von deren theoretischen Hintergrundannahmen heraus. Die konstruktivistische Grundlegung der Sozialisationstheorie und die normative Idee der Demokratie stehen somit in einem Zirkel. Die der Beobachterabhangigkeit zugrunde liegende Subjekttheorie kann (flir diesen Zweck hinreichend) die Demokratie begriinden, die im Umkehrschluss die innerwissenschaftlichen Diskurse einfordert. Die normative Querverbindung der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie ist also wiederum einzig auf einer (wissenschafts-)theoretischen Ebene lokalisiert. Sie bezeichnet den basalen Umstand, dass wissenschaftliche Ergebnisse grundsatzlich temporar sind und sich gegenuber der scientific community (und wohl auch der Offentlichkeit) ganz im Sinne von Jurgen Habermas (1972/1984) diskursiv als ,wahre' Ergebnisse ausweisen mussen. Dennoch drangt sich damit die Frage auf, ob durch diesen Querverweis nicht schlieBlich doch Sozialisationsziele praskribiert werden. Wie am Eingang dieses Kapitels erwahnt, setzte ich eine Untergrenze der Toleranz. Im weitesten Sinne un- oder antidemokratische Sozialisationsziele sollen trotz der Entzerrung mit der Gesellschaftstheorie nicht akzeptiert werden. Dies kann nun begriindet und detailliert werden. Zunachst gilt: Aus analytischen Griinden muss selbstverstandlich mit Diktaturen gerechnet werden, so dass eine erkenntniskritische Sozialisationstheorie in der Lage sein muss, Sozialisationsverlaufe auch dann zu untersuchen, wenn sie politisch induziert auf antidemokratische Sozialisationsziele ausgerichtet sind. Normativ wird mit dem Konzept der Demokratie ein Sozialisationsziel formuliert, das allerdings inhaltlich bzw. ethisch indifferent bleibt. Es geht nicht darum, spezifische Lebensstilformen zu postulieren, sondern gerade darum, an der liberalistischen Idee einer Trennung von Staat und Gesellschaft 196
festzuhalten und damit an der ethischen Neutralitat gegeniiber dem Individuum. Wie Michael Walzer (1995) jedoch richtig erkannt hat, ist der Liberalismus damit nicht unabhangig von eigenen Wertvorstellungen, die die liberale Demokratie konstituieren und zugleich antidemokratische Positionen ausschlieBen. Dies sind zwar keine inhaltlich-ethischen Werte. Im Kontext der politischen Sozialisation kann jedoch demonstriert werden, dass aus einem liberalen Demokratieverstandnis kognitive Anforderungen an die Mitglieder einer Gesellschaft abgeleitet werden konnen (Beer 2004c). Diese mtissen namlich den intrinsischen Gehalt der Demokratie kognitiv erfassen konnen, sie miissen alien Mitgliedem der Demokratie unabhangig von deren politischer Meinung, ethnischer Herkunft oder Geschlecht die gleichen demokratischen Abwehr- und Partizipationsrechte einraumen und sie miissen schlieBlich moral-kognitiv befahigt sein, couragiert an offentlichen Diskursen teilzunehmen. Dies sind allgemeine kognitive Momente, die der Demokratie zugrunde liegen, bzw. die eine Demokratie ihren Rechtsgenossen beziiglich einer gleichberechtigten und miindigen Partizipation abverlangt und die gerade dazu beitragen sollen, eine ethische Indifferenz des Staats (und der Gesellschaft) gegeniiber den Individuen zu sichem.'^ Denn: gegeniiber den Verselbststandigungstendenzen staatlicher oder wirtschaftlicher Institutionen bedarf es, wie Habermas (1994, 1996) zu Recht immer wieder betont, einer Offentlichkeit, die sich aus miindigen und gleichberechtigten Individuen rekrutiert. Eine derart in kognitive Voraussetzungen ftir die Demokratie zuriickgenommene Normativitat setzt nun freilich nicht mehr eindeutige Sozialisationsziele. Eine solche Normativitat verbleibt auf einer abstrakten Begriffsebene und moglicherweise gilt sogar der Hinweis, dass kognitive Voraussetzungen, die von moralischen und empirischen Verhaltnissen abstrahieren, normativen Diskursen auBerlich bleiben. In diesem Fall ware die erkenntniskritische Sozialisationstheorie beziiglich der Formulierung eines Sozialisationszieles sogar vollstandig normfrei. Um es zusammenzufassen: Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie impliziert wegen ihrer Verortung im konstruktivistischen Paradigma einen normativen Gehalt, der wissenschaftstheoretisch begriindet ist. Der starken Stellung des Erkenntnissubjekts entspricht normativ die Orientierung am autonomen Individuum, vor dem sich gesellschaftliche und staatliche Strukturen und Prozesse legitimieren lassen miissen. Die angemessenste politische Form, die diese Legitimation einzulosen vermag, ist die Demokratie. Diese kann zwar insbesondere in der politischen Praxis nicht allein durch den fianktionalen Hinweis der Adaquatheit begriindet werden, fur den wissenschaftstheoretischen Ausweis der normativen Hintergrundannahmen der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie reicht dieser Hinweis jedoch aus. Die Konsequenz ist, dass ein voUiger Verzicht auf die Formulierung eines Sozialisationszieles nicht mehr plausibel erscheint. Der auf dem Boden einer konstruktivistischen Demokratiebegriindung ohnehin in die Theorie zuriickgenommene Querverweis auf normative Bestimmungen erlaubt jedoch nur ein ebenfalls in die Theorie zuriickgezogenes Sozialisationsziel zu formulieren: Die kognitive Befahigung der Rechtsgenossen fiir eine 23 Diese allgemeinen kognitiven Momente haben selbstverstandlich keine Aussagekrafl beziiglich der Ubernahme demokratischer Einstellungen, also dem handelnden Eintreten fiir die Demokratie, und sie haben explizit nicht den Zweck, kognitive Momente als Zugangsvoraussetzungen zur Demokratie aufzubauen. In Demokratien muss die rechtlich abgesicherte allgemeine und gleiche Chance auf Partizipation unabhangig von den kognitiven Ressourcen der Staatsbiirger gewahrleistet sein, soil die Demokratie nicht ihren Sinn verlieren.
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mundige und gleichberechtigte Partizipation. Zu thematisieren, ob dieses Abstellen auf eine kognitive Befahigung in einem strengen Sinn uberhaupt ais normatives Ziel angesehen werden darf oder nicht, ist die Aufgabe normativer Diskurse. In diesem Sinne bezieht sich die erkenntniskritische Sozialisationstheorie daher neben der theoretischen Philosophic auch auf die praktische, um ihre implizite Normativitat ausweisen und begrtinden zu konnen.
8.3. Das Subjekt der Sozialisation Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie ist als heuristische Theorie gedacht, die sich explizit auf die empirische Forschung bezieht. Um die Differenzen zu den im ersten Teil diskutierten intersubjektivistischen Sozialisationstheorien konkretisieren zu konnen, muss abschlieBend skizziert werden, wie sich diese Heuristik auf das Verstandnis von Sozialisationsverlaufen auswirkt. Dies konnen, insbesondere wenn sie an konkreten Beispielen illustriert werden, freilich an dieser Stelle nur spekulative Antizipationen sein, da eine genauere Auskunft empirischer Untersuchungen bedarf. Um diese Skizze zu strukturieren, soil dies anhand von systematischen Diskussionen erfolgen. Selbstsozialisation Auf den ersten Blick erscheint die erkenntniskritische Sozialisationstheorie nicht mehr als eine Abwandlung des Selbstsozialisationskonzepts zu sein, das Niklas Luhmann vor dem Hintergrund der autopoietischen Systemtheorie vorgeschlagen hat. Der einzige Unterschied ware dann, dass hier nicht von einem psychischen System die Rede ist, sondem - gut alteuropaisch - von einem Subjekt. Da dieses jedoch aufgrund seiner Erkenntnisorganisation so gedacht ist, dass es ohne den Import von Werten und Wissen auskommen muss, ist es auf die Notwendigkeit zuruckgeworfen, sich selbst zu sozialisieren, also Werte und Wissen unter Verwendung des Prozessierens von Fremdreferenzen - selbst zu konstruieren. Aus einer groben, groBtheoretischen Perspektive ist der Eindruck einer Synonymic von Systemtheorie und erkenntniskritischer Sozialisationstheorie auch durchaus richtig. Wie in so vielen Fallen, liegt die Differenz zur Systemtheorie jedoch auch hier im Detail. Bei der Besprechung des systemtheoretischen Selbstsozialisationsparadigmas im ersten Teil wurde bereits darauf verwiesen, dass Luhmann eigentlimlich zwischen zwei Lesarten seiner Theorie schwankt. Mit dem Hinweis auf die Beobachterabhangigkeit jeglicher Aussage eroffnet er die Moglichkeit einer radikal konstruktivistischen Interpretation. Mit der Formulierung, „es gibt Systeme", schwacht er im Gegenzug den konstruktivistischen Charakter seiner Systemtheorie ab und ontologisiert seinen Systembegriff dann auf eine unzulassige Weise, wenn er gleichzeitig daran festhalt, dass die Erkenntnis von Systemen tatsachlich beobachterabhangig ist. Sein Begriff der Selbstsozialisation ist von dieser unklaren Ausrichtung der Systemtheorie nicht unberiihrt. Von Luhmann eindeutig formuliert ist zunachst nur: Es geht nicht um Identitat, also um das Hereinsetzen des Subjekts (bzw. psychischen System) in eine Umwelt, mit der es reziprok gekoppelt ist, sondern um Differenz. Weder iiberschneiden sich Bewusstseinssysteme, noch iiberschneiden sich Bewusstseins198
systeme mit sozialen Systemen. Aufgrund dieser Konstellation lasst sich nicht mehr von einer Fremdsozialisation reden, sondem eben von Selbstsozialisation. Jeglicher Strukturaufbau im Bewusstseinssystem ist eine Leistung dieses Bewusstseinssystems und kann nicht kausal auf exteme Systeme zuriickgefiihrt werden. Bis zu diesem Punkt entfaltet Luhmann einzig seine generelle Theorie autopoietischer Systeme flir den Bezugsrahmen der Sozialisationstheorie, die mit (radikal) konstruktivistischen Positionen kompatibel ist. Nun koinzidiert auch Luhmann, dass reine Selbstreferenz zur Tautologie fuhrt und daher durch Fremdreferenz durchbrochen werden muss. Bei der Bestimmung der Fremdreferenzen nahert sich Luhmann allerdings wieder einem (fast schon) materialistischen Verstandnis an: Er unterstellt, es gibt andere Systeme, die das Bewusstseinssystem irritieren und auf diese Weise zumindest umlagem und grob programmieren. Wie gesagt: Luhmann kopiert damit nicht die Theorie der Intersubjektivitat eines Jiirgen Habermas eins zu eins in seine Theoriearchitektur. Dies wird durch seine Fundierung im Differenzbegriff blockiert. Es wird aber mit dieser Bestimmung nicht recht deutlich, wieso sich Luhmanns Sozialisationsverstandnis grundlegend von dem (auch bei Habermas impliziten) Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' unterscheiden soil. Dieses stellt doch schlieBlich ebenfalls in Rechnung, dass die Subjekte ihre Umweh, die es objektiv gibt, selektiv prozessieren und durch Umweltreize bestenfalls in eine Richtung gelenkt werden konnen, nicht jedoch in ihrem Entwicklungsverlauf determiniert werden. Das allgemein theoretische Dilemma, die eigene Verwendung konstruktivistischen Gedankenguts nicht hinreichend transparent gemacht zu haben, wiederholt sich also im Konzept der Selbstsozialisation. Wie die Debatte in der ,Zeitschrift fur Soziologie der Erziehung und Sozialisation' (Heft 2, 2002) zeigt, ist es Luhmann allerdings gelungen, dass klassische Sozialisationsverstandnis zu irritieren, indem er einen zentralen Analysefokus aufgibt: Den Einfluss sozialer Ungleichheitslagen auf die Personlichkeitsentwicklung. Selbstsozialisation meint in dieser Konfrontationsstellung, dass Sozialisationsverlaufe durch die Ressourcenausstattung der Herkunftsfamilie nicht dahingehend gepragt sind, dass die Sozialisationsergebnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartbar die Milieustrukturen reproduzieren. Kurz: Selbstsozialisation ist in diesem Kontext ein sozialisationstheoretisches Pendant zur Individualisierungsthese von Ulrich Beck und opponiert vor allem gegen den Begriff der Fremdsozialisation, wobei hier dem jeweils Fremden, also der sozialen Umwelt, der entscheidende Anteil am Prozess der Personlichkeitsentwicklung zugesprochen wird. In eine alltagssprachliche Formulierung gebracht meint Selbstsozialisation dann: Jeder ist seines Gllickes Schmied (Bauer 2002). Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie weicht sowohl von der Bestimmung der Fremdreferenzen als auch von der Frontstellung zwischen Selbst- und Fremdsozialisation ab. Bei der Bestimmung der Fremdreferenzen nahert sich Luhmann wieder stark an das intersubjektivistische Modell an, wenn auch ohne es in toto zu iibernehmen. Es gibt in der Umwelt des psychischen Systems andere psychische und soziale Systeme, die als Fremdreferenzen von einem Beobachter als relevante Fremdreferenzen diagnostizierbar sind. Fiir die erkenntniskritische Sozialisationstheorie gih dies in der Form nicht. Sie zieht sich konsequent in eine husserlsche ,Epoche' zuriick und behandeh Fremdreferenzen grundsatzlich als subjektinteme Inhalte. Das heiBt, Fremdreferenzen fmden nicht in der Umwelt statt, sondern nur als subjektives Prozessieren, ohne nach dem ,objektiven' Gehalt dieser Referenzen zu fragen. Um es nochmals anzumerken und Missverstandnissen vorzubeugen: Die 199
Realitat der AuBenwelt wird nicht geleugnet. Sie wird aus erkenntnistheoretischen Grunden methodisch ausgeklammert und ais Bewusstseinsimmanenz behandelt. Die Konsequenz dieses Untemehmens ist, dass immer erst nach den Wirklichkeitskonstruktionen der Subjekte gefragt werden muss, und diese nicht in eine vom Beobachter konstruierte Wirklichkeit hineingestellt werden. Ausgeschlossen werden damit Analysen, die etwa danach fragen, wie die Subjekte mit bestimmten, in ihrer Umwelt vorfmdbaren Gegebenheiten oder Sachverhalten umgehen. Vielmehr wird danach gefragt, welche Gegebenheiten oder Sachverhalte die Subjekte in ihrer Umwelt liberhaupt lokalisieren. Streng genommen liefie sich bei Luhmann ein Widerspruch entdecken zwischen seinem ,objektiven' Verstandnis der Fremdreferenzen und der Interpretation des Selbstsozialisationskonzeptes als Gegensatz zur Fremdsozialisation. Gibt es objektive Fremdreferenzen in einem ontischen Sinne, sind diese fremdsozialisatorisch wirksam. Durch das Einholen der Fremdreferenzen in das Subjekt selbst entfallt aber auch die Antinomie von Fremd- und Selbstsozialisation. Ohne das Prozessieren von Fremdreferenzen gabe es keine Entwicklung. Welchen Stellenwert flir die je eigene Ontogenese die Subjekte diesen Fremdreferenzen jedoch zumessen, resultiert aus deren Konstruktionsleistungen. Dies kann bedeuten, dass Subjekte sich als besonders wirkmachtig konstruieren und in der Folge davon ausgehen, ihre Personlichkeitsentwicklung tatsachlich selbst anzuschieben. Dies kann aber auch bedeuten, dass Subjekte sich in ein Geflecht von Fremdreferenzen hinein konstruieren und diesen Fremdreferenzen eine besondere Relevanz fur ihre Entwicklung zuschreiben.^"* Ob also von einer Selbst- oder einer Fremdsozialisation gesprochen werden kann, ist aus der Perspektive der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie eine empirische Frage nach den bewusstseinsimmanenten Prozessen des Subjekts und nicht eine Frage nach der Konstitution der Gesellschaft, bzw. nach den Autonomiespielraumen, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern flir ihre eigene, autonome (Selbst-)Entwicklung zugesteht. Es ist auch keine Frage nach der Erkenntnisorganisation der Subjekte. Diese, so wird unterstellt, funktioniert nach ,autopoietischen Kriterien', so dass der Sozialisationsverlauf aus der Perspektive des Subjekts konstruiert wird. Wie er dann konstruiert wird, ob als fremd- oder selbstbestimmt, ist einzig eine Frage nach den je subjektiven Inhalten der Konstruktion. Damit stellt sich freilich die Frage, ob damit entgegen einer gut soziologischen Tradition den Subjekten jegliche Konstruktion zugestanden wird. Das Problem einer aus der Sicht eines materiahstischen orientierten Beobachters eindeutig fiktiven Konstruktion, wie etwa die Selbstzuschreibung Napoleon zu sein, kann hier auBer Acht gelassen werden. Es geht im Kontext der Antinomie von Selbst- und Fremdsozialisation vielmehr um den Sachverhalt, dass gesellschaftliche Strukturen hinter dem Rticken der Akteure eine Wirkmachtigkeit erlangen, die sich die Akteure nicht bewusst machen, so dass sie moglicherweise eine Selbsttatigkeit konstruieren, die aus einer (materialistisch bzw. realistisch gedachten) Beobachterperspektive als fremdbestimmt zu qualifizieren ist. Eine gute soziologische Tradition ist dieses Vorgehen insofem, als damit der Impuls der Aufklarung weiter getrieben wird, den Menschen von „seiner selbstverschuldeten Unmundigkeit" (Kant 1783/1991: A 481) zu befreien, also jene Wirkmachte transparent zu machen, die etwa durch Religion, Marktme-
24 Durch diese Theoriefigur wird die erkenntniskritische Sozialisationstheorie anschlussfahig an die Untersuchungen zur KontroUiiberzeugung. Vgl. dazu Schneewind et al. (1999).
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chanismen oder die Medien verschleiert werden. Um nun dieses Programm umsetzen zu konnen sind (mindestens) gesellschaftstheoretische Annahmen notig, die klaren, welche moglichen Strukturen eine intransparente Wirkmachtigkeit entfalten. Ob und wie sich ein konstruktivistischer Subjektbegriff auf solche gesellschaftstheoretischen Fragestellungen transformieren lasst, ist eine offene Frage, deren Beantwortung weitere (theoretische) Forschungen voraussetzt. Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie reagiert zunachst nur auf das innerhalb der Sozialisationstheorie vorgefundene Problem, die subjektive Tatigkeit angemessen berucksichtigen zu wollen, aber gleichzeitig keinen hinreichenden Subjektbegriff zu haben. Das zugrunde gelegte Subjektverstandnis soil immanente Widerspruche eines speziellen Diskurses iiberwinden helfen und muss daher seine Tauglichkeit auch zunachst nur innerhalb dieses Diskurses demonstrieren. Die Frage, ob mit diesem Subjektverstandnis jegliche Konstruktion gleichsam unhinterfragt bleibt, weil die (mogliche) Objektivitat der prozessierten Fremdreferenzen ausgeklammert bleibt, ist also eine legitime Frage, weil sie den aufklarerischen Charakter der Sozialforschung beriihrt. Sie trifft aber nicht den Zuschnitt der hier vorgelegten Sozialisationstheorie, weil sie deren Radius uberschreitet. Intersubjektivitat Die Auseinandersetzung mit dem Selbstsozialisationskonzept Luhmanns fiihrte dazu, jegliche Fremdreferenz als Subjektintema zu begreifen. Wie lasst sich vor dem Hintergrund dieser MaBgabe das in der Sozialisationstheorie unbezweifelbar wichtige Phanomen der Intersubjektivitat platzieren? SchlieBlich zeigt sich auch in einer phanomenologischen Selbstbeobachtung, dass etwa der groBte Teil des Wissensvorrates nicht den Quellen subjektiver Konstruktionsleistungen entsprungen ist, sondem einer intersubjektiven Vermittlung durch elterliche Bezugspersonen, Lehrer oder Peers. Dies ist freilich kein Umstand, der bereits einen Bruch mit konstruktivistischen Modellen erzwingt, da die Notwendigkeit der Fremdreferenz zugestanden wird. Im Fall der Intersubjektivitat lasst sich indessen nicht mehr einfach nur allgemein von Fremdreferenzen reden. In aller Kegel werden diese differenziert in einen Teil, der die unbelebte Natur bezeichnet, und einen Teil, dem eine ahnliche Subjektivitat unterstellt wird, die sich Subjekte auch selbst zuschreiben. In den Worten Max Webers: „Soziale Beziehung soil ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heiBen." (Weber 1921/1972: 13) LieBe sich also im Fall der unbelebten Natur noch schlicht von einem Input reden, der sich iiber die notige Nahrungsaufnahme bis hin zu anregenden Objekten erstreckt, die eine kognitive und/oder emotionale Auseinandersetzung anstoBen, so stellen sich andere Subjekte als komplexeres Phanomen dar. Diese reagieren auf eine nicht steuerbare Weise auf eigene Handlungen oder Sprechangebote und notigen auf diese Weise zu einer doppelten Betrachtung. Subjekte mlissen ihre eigenen Einstellungen, Motive, Aktionen usw. grundsatzlich mit den Einstellungen, Motiven und Reaktionen eines alter ego in Verbindung setzen, um z. B. eigene Handlungsziele (strategisches Handeln) oder eine konsensuelle Ubereinkunft zu erreichen (kommunikatives Handeln) oder um eine Unterhaltung Anschlussfahig zu halten (narratives Handeln). Damit ist die intersubjektive Situation zugleich anspruchsvoller als der Austausch mit der dinglichen Natur und anregungsreicher. Sie ermoglicht einen Erwerb von 201
Wissen, ohne dass je eigene Erfahrungen benotigt werden und zudem den Erwerb solcher Wissensinhalte, die jenseits des je eigenen Erfahrungsbereiches liegen. Fur die Sozialisation ist dies insofern bedeutend, als Entwicklungsprozesse beschleunigt und die Partizipationschancen in einer Gesellschaft erhoht werden konnen. Dies deshalb, weil eine gleichberechtigte Partizipation die Dezentriemng der je eigenen Perspektive als Ziel und Motor der Personlichkeitsentwicklung voraussetzt. Die Figur des Robinson Crusoe kann auf eine solche Entwicklung verzichten.^^ Fiir sie gentigt in der Tat ein basaler Wissenserwerb, der dem Umfang der Insel und der materiellen Reproduktion gentigt. Dies kann - und im Fall Robinson Crusoes muss dies auch - durch subjektive Erfahrungen geleistet werden. Fiir die Teilnahme an Gesellschaften reicht dies nicht aus, so dass der intersubjektive Erfahrungsund Wissensaustausch zweifelsohne eine gewichtige Rolle im Sozialisationsprozess spielt. Um es zu iiberhohen: Er ist die entscheidende Fremdreferenz, die fiir eine Sozialisation prozessiert werden sollte bzw. muss. Gerade aber weil andere Subjekte nicht berechenbar sind, scheint das Intersubjektivitatsparadigma ein konstruktivistisches Subjektverstandnis auszuschlieBen. Das Robinson Crusoe einen Baum nicht als Baum, sondern als irgend etwas anderes konstruiert und dann mit dieser Konstruktionsleistung seine Hiitte baut, mag noch als bewusstseinsimmanenter Prozess einleuchtend zu machen sein. Der Baum wehrt sich nicht gegen eine solche Konstruktion und solange Robinson Crusoe mit seiner Konstruktion erreicht, was er erreichen mochte, spielt es auch keine Rolle, ob aus einer (realistischen) Beobachterperspektive die Konstruktion streng genommen ,falsch' ist. Andere Subjekte zeichnen sich demgegentiber durch eine Eigensinnigkeit aus, die sich nicht so passiv verhalt, wie der Baum. Sie notigen moglicherweise zu einer Revidierung von Konstruktionen, deren Ausloser in der Umwelt des Subjekts verortet wird. Nun gilt auch im Fall der Intersubjektivitat, was bislang nicht oft genug angemerkt werden konnte: Die Existenz der Umwelt und damit die Existenz anderer Subjekte wird nicht dementiert. Ein weiteres kommt hinzu: Es soil zwar explizit nicht an das Paradigma der Intersubjektivitat angeschlossen werden. Dies bezieht sich jedoch auf die Frage nach der Konstitution des Subjekts, nicht auf die Frage, ob andere Subjekte eine bedeutsame Fremdreferenz darstellen. Dies bedeutet, dass es andere Subjekte nicht nur gibt, sondern dass ihnen auch der Status zukommt, eine gewichtige Rolle im Prozess der Sozialisation zu spielen. Wenn allerdings alle Wirklichkeit als Konstruktion des Subjekts konzipiert wird, muss sich dies auch auf das Phanomen der Intersubjektivitat erstrecken. Auch andere Subjekte werden durch die Methode der ,Epoche' eingeklammert, das heiBt beziiglich ihrer ,objektiven' Wirklichkeit suspendiert. Zwei Autoren hatten diesen Gedanken bereits angedacht und versucht, die Sozialwissenschaften auf das Fundament des je individuellen Bewusstseins zu stellen: Max Adler und Alfred Schiitz. Max Adler (1936) ist bemuht durch eine Riickbindung an Kant, dessen Programm einer transzendentalen Bewusstseinstheorie fur die Soziologie fruchtbar zu machen. Er geht dabei
25 Die Figur des Robinson Crusoe wird hier uberspitzt gelesen als isolierte Figur. Diese Lesart trennt damit die Vorgeschichte Robinson Crusoes von seinem Leben auf der Insel ab und ubersieht damit bewusst, dass Robinson Crusoe bereits einen intersubjektiven Wissenserwerb genossen hatte, als er auf die Insel verschlagen wurde. Zu denken ist hierbei an die von Dahrendorf (1958/1977) vorgenommene Differenz zwischen dem ,Mensch als Ganzem' im Gegensatz zum ,Homo Sociologicus' oder an die von Simmel (1908/1992, 1917/1999) problematisierte vorsoziale Form von Individualitat.
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mit Kant insofem konform, als er das Bewusstsein als Bedingung der Moglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis anerkennt. Fiir den hier strittigen Fall der Intersubjektivitat wiirde nun nahe liegen, den kantischen Kategorien einfach eine weitere zu addieren, die fur soziale Erfahrungen benotigt wird, und die soziale Erfahrungen uberhaupt erst moglich macht. Max Adler hatte sich dann wohl den Vorwurf der Metaphysik eingehandeh und ware als Ankniipfungspunkt kaum mehr interessant. Sein Losungsvorschlag fur das Problem des Sozialen aus der Sicht der Transzendentalphilosophie hat indessen einerseits den Reiz des Schlichten und wartet andererseits mit einem komplexen erkenntnistheoretischen Argumentationsgang auf. Adlers zentrale These flir eine Theorie des Sozialen auf dem Boden eines logisch nicht hintergehbaren Bewusstseins lautet: Das je individuelle Bewusstsein ist immer schon sozial ausgerichtet, weil das je individuelle Bewusstsein immer schon ein uberindividuelles Bewusstsein ist. Die Erkenntnisorganisation, die das Subjekt befahigt, Erfahrungen zu machen, kommt schlieBlich alien Subjekten gleichermaBen zu, weshalb das Phanomen des Anderen sich dadurch auszeichnen kann, einen Erfahrungsgegenstand zu bezeichnen, dem die gleichen Moglichkeiten unterstellt werden, die ein Subjekt an sich selbst beobachtet. Anders herum gilt fiir die Dingerfahrung: Diese ist aufgrund der notigen Begriffe wie Objektivitat, Wahrheit und Wirklichkeit nur moglich, weil das individuelle Bewusstsein a priori sozial flindiert ist. Solche Begriffe machen schlieBlich erst innerhalb eines sozialen Bezuges Sinn. Robinson Crusoe braucht sich um die Wahrheit seiner Begriffe nicht zu ktimmern (und er kann dies auch nicht, weil eine unabhangige Perspektive in Form anderer Subjekte fehlt). Er braucht nicht einmal sicher zu sein, ob die Insel tatsachlich existiert. Solange er den rein subjektiven Eindruck hat, die Insel versorge ihn mit den notigen Ressourcen, um das Uberleben zu sichem, braucht er keine Begriffe, die uber Wahrheit oder Wirklichkeit Auskunft geben. „Objektivitat und Wirklichkeit sind also, trotzdem sie nie anders als individuell erlebt werden konnen, etwas uberindividuelles; sie sind, wiewohl stets nur einem Ich gegeben, etwas immanent und a priori soziales. Die Realitat, weit entfemt, etwas fiir sich sachhaft bestehendes zu sein, als das sie der naiven Auffassung erscheint, gewinnt ihren objektiven Charakter nur, weil sie zwar aus der Gesetzlichkeit des Ichbewusstseins hervorgeht, die aber zugleich eine solche ist, in der das Ich die Bezogenheit auf fremde Iche zu seinen eigenen personalen Erfahrungsbedingungen hat. Auf diese Weise wird der Charakter der Realitat oder objektiven Gegenstandlichkeit nur das Seitenstiick (Correlat) zu der Eingebundenheit des Einzelbewusstseins in ein geistiges System einer Vielverbundenheit von Subjekten." (Ebd.: 92) Max Adler gelingt mit seiner sozialen Bestimmung der je subjektiven Erfahrungsmoglichkeiten jene Uberlegungen zur Intersubjektivitat einzufangen, die oben thematisiert wurde. Die soziale Erfahrung zeichnet sich durch eine Eigensinnigkeit gegeniiber der dinglichen Erfahrung aus, und sie stellt wesentliche Momente auch zur Erkenntnis der dinghaften Welt zur Verfugung. Dies nicht in der Hinsicht, dass durch sprachliche Vermittlung der Kreis subjektiver Erfahrungen erweitert werden kann, ohne auf eigene Erfahrungen angewiesen zu sein. Sondem dies in dem transzendentalen Sinne, dass entscheidende Begriffe flir die Erkenntnis sich aus einem sozialen Bezug speisen. Rein erkenntnistheoretisch wandelt Adler damit die kantische Frage nach der Bedingung der Moglichkeit insofern ab, als er ihr eine sozialwissenschaftliche Fundierung gibt, sie also ein Sttick weit aus dem Feld der reinen Erkenntnistheorie herauslost. Dennoch kann Adlers Losungsvorschlag fiir das 203
Problem der Intersubjektivitat flir den vorliegenden Kontext nicht uberzeugen, wenngleich ihm eine Synthese aus Erkenntnistheorie und Soziologie gelingt, deren fruchtbarer Gehalt flir die Frage nach der Moglichkeit von Erkenntnis hier nicht ganzlich in Abrede gestellt werden soil. Sein Ansatz kollidiert namlich mit einem als konstruierend gedachtem Subjekt, wie es der Forderung von Geulen (1989: 16) folgend, der Sozialisationstheorie vorangestellt werden soil. Adler suggeriert ein Subjekt, das immer schon - und zw^ar transzendental - sozialisiert ist. Im Rahmen der Sozialisationstheorie geht es aber um die Frage, wie sich die Sozialisation verstehen lasst und wie sie sich gestaltet. Fiir die Verkniipfung des konstruierenden Subjekts mit dem Phanomen der Intersubjektivitat muss der Bezug auf andere Subjekte daher als erklarungsbedurftiges Phanomen erhalten bleiben. Radikal ausgedriickt: Es muss von einem Subjekt ausgegangen werden, dass, wie bei Fichte (1794/197lb), zunachst nur in sich selbst kreist und aus diesem Kreisen heraus andere Subjekte konstruiert und dabei auch fehlschlagen kann, was sich dann unter anderem in egozentrischen Dispositionen niederschlagt. Dies mag zwar eine kontrafaktische Unterstellungsein, die aber benotigt wird, um iiberhaupt an einem Begriff von Sozialisation bzw. Entwicklung festhalten zu konnen. Das Subjekt a priori mit einem Sozialbezug auszustatten, nimmt dem Sozialisationsverstandnis gerade die Dimension, die doch zugestandenermafien eine gewichtige Dimension darsteUt: Das Prozessieren von intersubjektiven Bezugen Oder genauer: Die Entwicklung dieses Prozessierens. Der andere Autor, der versucht hatte, das Soziale konsequent aus dem Subjekt heraus zu denken, ist Alfred Schiitz. Bei ihm bot sich dieses Programm deswegen an, weil er sich die phanomenologische Methode Husserls zu Eigen gemacht hatte. In seiner friihen Untersuchung „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt" (Schiitz 1932/1991) geht es Schutz auch zunachst um die „Konstitution des Sinns im je eigenen Erleben des einsamen Ich." (Ebd.: 21) Er stand damit vor dem gleichen Problem, das Husserl dann vehement vorgeworfen worden ist und das hier verhandelt werden soil: Der Stellenwert der Intersubjektivitat. In seiner groB angelegten Untersuchung zu den „Strukturen der Lebenswelt" (Schutz/Luckmann 1994) umgeht Schutz daher eine streng am Subjekt ausgerichtete Methodologie, wie sie von Husserl durch die ,Epoche' markiert worden war, indem er sich konsequent auf den Boden der Generalthesis stellt, das heiBt indem er die objektive und soziale Welt als fraglos gegebene Lebenswelt annimmt. Gleichsam umgekehrt zu Husserl lasst Schiitz die Moglichkeit einer wissenschaftlich-kritischen Einstellung hinter sich und orientiert sich an der naturlichen Einstellung eines handelnden Akteurs und damit an dem unzweifelhaften Glauben an die Existenz einer AuBenwelt inklusive der Sozialitat. Dieses Vorgehen erinnert an die Strategic Adlers. Das je individuelle Bewusstsein ist immer schon auf eine soziale Mitwelt ausgerichtet, so dass sich das Problem der Intersubjektivitat nicht stellt. Anders als Adler begrundet Schiitz diesen Umstand allerdings nicht mehr auf dem Boden der Transzendentalphilosophie, sondem, um bei der von Hume eingefuhrten Unterscheidung zu bleiben, auf dem Boden des Alltags, also auf dem Boden des explizit nicht wissenschaftlich eingestellten Akteurs. Daraus folgt nicht, dass seine Uberlegungen nicht „auch hier von dem am Subjekt orientierten Bezugsrahmen geleitet [sind, R.B.], der Sozialitat immer nur als Unterstellung zu denken erlaubt." (Eickelpasch/Lehmann 1987: 47) Daraus folgt aber, die Moglichkeit einer intersubjektiven Bezugnahme nicht mehr auf den komplizierten Umwegen einer transzendentalen Deduktion zu 204
suchen, sondem erkenntniskritische Fragen ,auszuklammem' und im je individuellen Bewusstsein das objektivierende Prozessieren von sozialen Bezugen vorauszusetzen bzw. zu unterstellen. Auf diese Weise kann Schiitz dann mit seinen zentralen Begriffen der Relevanz, der Motivation und der Typik den sukzessiven Aufbau von Sinnstrukturen im Bewusstsein nachzeichnen, die durch die Sozialitat angeschoben werden und die ein Handeln in dieser Sozialitat strukturieren und so ermoglichen, Aus der in dieser Arbeit verfolgten erkenntniskritischen Fundierung lasst sich gegen Schutz freilich einwenden, er stellt sich dem Problem der Intersubjektivitat nicht, er umgeht es einfach (vgl. dazu Schiitz/Luckmann 1994: 27). Diese Kritik wird deswegen moglich, weil Schutz durchaus die erkenntniskritische Position eines Husserl kennt und diese auch zunachst angewendet hatte. Die „Strukturen der Lebenswelt" pendeln dann zwischen einem Festhalten an dieser Position und einer Aufgabe dieser Position, ohne theoretische Vermittlungsschritte zu entfalten. Wie schon bei Max Adler soil mit dieser Kritik die Fruchtbarkeit fiir eine sozialwissenschaftliche Analyse sozialer Handlungen und sozialen Verstehens nicht geleugnet werden. Gerade auch fiir eine Sozialisationstheorie tragen die Begrifflichkeiten von Schutz hilfreiche Anregungen bei (vgl. Grundmann 1997). Schutz hilft hingegen fiir eine erkenntniskritische Sozialisationstheorie scheinbar wenig weiter, wenn er die Erkenntniskritik ,ausklammert'. Scheinbar deswegen, weil die Kritik an Schutz sich auf die theoretisch-begriffliche Konstitution der Intersubjektivitat aus einem subjektiv gedachtem Bewusstsein bezieht. Oben wurde aber bereits dargelegt, dass intersubjektive Bezlige als Fremdreferenz nicht geleugnet werden. Im Rahmen der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie braucht das Phanomen der Intersubjektivitat nicht konstitutionstheoretisch begriindet zu werden, weil das konstruierende Subjekt als methodische Unterstellung eingeftihrt wurde, nicht als ontologische Pramisse, aus der heraus Sozialitat in der Tat nur schwer zu denken ist. Wenn es aber (nur) darum geht, wie Intersubjektivitat prozessiert wird, bietet Schutz, wie gesagt, hilfreiche Anregungen (siehe unten). Anders als bei Schiitz kann der intersubjektive Bezug jedoch nicht einfach durch die Einstellung der Generalthesis rehabilitiert werden. Diese wird mit dem konstruktivistischen Paradigma in Frage gestellt und lasst sich nicht durch die Hinterttir wieder hereinholen. Wenn es aber nicht um die theoretisch-begriffliche Konstitution der Intersubjektivitat geht, wird ein Verlassen der erkenntniskritischen Einstellung auch nicht notig. Intersubjektivitat kann als theoretische Unterstellung in das Modell des konstruierenden Subjekts implementiert werden. Das allerdings hat Konsequenzen: Die Frage nach der Intersubjektivitat hat dann keinen theoretischen Gehalt mehr, sondem einen empirischen. Es geht um die Frage, ob und wie Subjekte soziale Fremdreferenzen prozessieren, ohne zunachst davon auszugehen, dass sie diese zwingend prozessieren und dass diesen ein objektiver Gehalt gegeniiber steht. Anders formuliert: Intersubjektivitat ist nicht, wie in den im ersten Teil skizzierten Sozialisationstheorien, der auBere Motor individueller Entwicklung und damit ursachlich verantwortlich fur die Personlichkeitsentfaltung, sondem ein spezifischer Inhalt je subjektiven Bewusstseins, der sich (empirisch) im subjektiven Bewusstsein konstituieren muss. Dies kann verschiedene Formen annehmen, die den Status des Intersubjektiven fur die Ontogenese verschieben. Mogliche Extrempunkte sind solche Konstruktionen von Sozialitat, die in dieser ausschliefilich ein Bedrohungspotential sehen, und die einen introvertierten Riickzug aus dem Sozialeben provozieren, bis hin zu Konstruktionen, die sich grundsatz205
lich in einer soziale Umwelt verorten und alle subjektiven Bewusstseinsinhalte (und Handlungen) auf diese ausrichten. Dazwischen liegen solche Konstruktionen, die die Sozialitat differenzieren in relevante und nicht-relevante Beziehungen, also der Zugehorigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen, seien dies nun lockere Freundeskreise oder organisierte Gruppen wie politische oder religiose Vereinigungen. Hier dUrfte es unmittelbar einleuchten, dass die Wahl solcher Gruppen nur schwerlich den Gruppen selbst zuzuordnen ist, diese vielmehr als subjektive Entscheidung qualifiziert werden kann, die aus einem subjektiven Verlauf der Entwicklung entspringt. Multiple Sinnebenen An diesen Zugriff auf das Phanomen der Intersubjektivitat, der Intersubjektivitat in das Subjekt hereinholt, schlieBt sich ein zentraler Aspekt der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie an: Die Multiplizitat der Sinnebenen und deren Relation. Durch das Verzichten auf eine Einbettung des Subjekts in seine soziale Umwelt, muss diese in ihrer Komplexitat im Bewusstsein selbst reprasentiert werden, Dabei kann nicht auf auBere Umstande, die in einer objektivierenden Beobachterperspektive zuganglich werden, rekurriert werden, sondern nur auf bewusstseinsimmanente Wirklichkeitskonstruktionen, die sich durch ein relationales Netz unterschiedlicher Gegenstandsbereiche und Sinnzuschreibungen auszeichnen. Es ist der erkenntniskritischen Einstellung zufolge allerdings keine ausgemachte Sache, dass dieses Netz sich in der ,Wirklichkeit' wieder findet. Und es ist dies nicht nur keine ausgemachte Sache, es spielt flir die erkenntniskritische Untersuchung von Sozialisationsprozessen auch keine Rolle. Bedeutsam fur die Entwicklung des Subjekts ist, wie spezifische Gegenstande oder andere Subjekte konstruiert und wie diese Konstruktionen eingebunden werden in Sinn- und Bedeutungszuschreibungen und wie diese Konstruktionen untereinander in Beziehung gesetzt werden. Zu Analysezwecken konnen dabei mehrere Unterscheidungsebenen (spekulativ) antizipiert werden. Alfred Schiitz kann hierbei sein Anregungspotential entfalten, das oben bereits angedeutet wurde. Um Missverstandnisse zu vermeiden, sei jedoch angemerkt: Die folgenden Ausflihrungen beanspruchen keine Vollstandigkeit und haben einen nur spekulativen Charakter. Sie sind nicht als allgemeine Aussagen uber Subjekte bzw. iiber subjektives Prozessieren von Fremdreferenzen zu verstehen. Ob es Subjekte gibt, auf die die Unterscheidungen zutreffen, ist eine empirische Frage, deren Beantwortung nicht aus der Theorie abgeleitet werden kann. Zunachst kann auf einer ersten groben Achse zwischen der Sozialwelt, der Dingwelt und der Ichwelt unterschieden werden. Dies nicht in einem ontologischen Sinne, sondem als mogliche (Fremd-)Referenzpunkte, die von einem Subjekt differenziert werden konnen. Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens lassen sich theoretisch zwei der Weltbeziige zuordnen. So ist z. B. die Kunst einerseits bezuglich ihres objektiven, dinghaften Charakters prozessierbar. Andererseits kann Kunst als sozial erzeugtes gelten und auf diesem Weg in Beziehung zu dem KUnstler, dem Kunstpublikum oder auch zu asthetischen und politischen Theorien gesetzt werden. Technischen Gegenstanden haftet ebenfalls an, als dinghafte oder als artifizielle Objekte gedacht werden zu konnen. Grundsatzlich gilt fur alle Objekte der Sozial- und der Dingwelt, dass das Subjekt diesen mit einer (negativen oder positiven) Wertschdtzung oder mit Indifferenz begegnen kann. 206
Bedeutsam flir Sozialisationsprozesse ist dies deswegen, weil sich aus dieser Einordnung relevante Anschlussoperationen ergeben konnen. So kann die begeisterte Wahmehmung eines bestimmten Musiksttickes dazu fiihren, weitere Musik dieser Art zu konsumieren und liber den Musikstil dann einen Lebensstil oder die Zugehorigkeit zu einer sozialen Gruppe zu entwickein. Dies ist selbstverstandlich auch andersherum moglich. An die Wertschatzung bestimmter Personen kann sich eine Sensibilitat fiir eine bestimmte Musik anschlie15en. Wenn tatsachlich, wie Bourdieu (1994) behauptet, in modernen Gesellschaften das Konsumieren von unterschiedlichen Musikstilen und -gattungen keineswegs unschuldig ist, sondern Auskunft uber den sozialen Status gibt, konnen solche Entwicklungen langfristig einen Einfluss auf die sozialen Karrierechancen haben. Im Fall der Sozialwelt kann in loser Anlehnung an Alfred Schiitz unterschieden werden zwischen relevanten Bezugspersonen, Funktionstrdgern und Fremden, wobei hier Abstufungen und Uberschneidungen denkbar sind. Die relevanten Bezugspersonen konnen nochmals unterteilt werden in Familienangehorige unterschiedlichen Grades, Peers und Bekannte, denen ein besonderer Status zugeschrieben wird. Diese Personen der Sozialwelt konnen als Einzelperson prozessiert werden, oder als Gruppen. Im Fall von Jugendcliquen wird dies besonders deutlich. Diese kann als ganze Gruppe gesehen werden, wobei dann Differenzlinien zu anderen Gruppen gezogen werden konnen und der Einzelne sich ein Stiick weit der Gruppendynamik unterwirft. Auf die Jugendclique kann aber auch als Netzwerk von Einzelpersonen zugegriffen werden, wobei dann dyadische Beziehungen das Binnengeflige der Gruppe charakterisieren. Sozialisatorisch wirksam ist diese Unterscheidung moglicherweise fiir das je eigene Erleben in sozialen Zusammenhangen dahingehend, ob spater eher ein individualistischer Lebensstil praferiert wird oder ein kollektivistischer Lebensstil, der sich durch starke Zugehorigkeitsbediirfnisse auszeichnet. Interaktive Beziehungen, die sich auf Einzelpersonen beziehen, konnen unterschieden werden bezuglich Handlungen, Sprechakten und Gesten bzw. Korperausdruck. Handlungen meint in diesem Zusammenhang, das Handeln, das einen bestimmten Zweck in der Dingwelt intendiert, aber in besonderer Form in der interaktiven Beziehung fundiert ist. Dies kann ein formalisiertes Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhaltnis im produzierenden Sektor sein oder das gegenseitige Bereitstellen von handwerkhchen Dienstleistungen ,unter Freunden'. Die Trennung von Sprechakten und Gesten ist selbstverstandlich rein analytisch. In der Kegel wird beim Sprechen auch gestikuliert und viele Sprechakte erschlieBen sich erst sinnhaft durch ihre Korrelation mit Gesten. Dies kann die Luge sein, die durch ein Erroten verraten wird. Dies kann ein Annaherungsverhalten sein, dass weniger sprachlich, als vielmehr gerade durch die ,Korpersprache' vermitteh ist. Dies kann aber - flir die Sozialisation von besonderer Bedeutung - auch die Diskrepanz zwischen intendiertem Ziel des Sprechaktes und der ,falschen' Bedeutungszuschreibung durch alter ego aufgrund der Gestik sein, die im schlimmsten Fall zum Abbruch der Beziehung fiihren kann, und im weniger dramatischen Fall zu einem Fremdverstehen, das mit der Selbstbeschreibung von ego nicht kompatibel ist, was seinerseits ,Verzehrungen' der Beziehung provoziert. Mit Riickgriff auf Bronfenbrenner (1993) kann die Sozialweh aufgeschichtet werden in verschiedene Ebenen, die von der dyadischen Beziehung bis zu Gesamtgesellschaften reicht. Vereinfachend kann dies unter den Begriffen Konkret und Abstrakt gehandelt werden. Konkrete Sozialbeziehungen bezeichnen dann Formen der Bezugnahme, die eine zeit207
liche und raumliche Gemeinsamkeit aufweisen, Sie markieren die entscheidende Differenz zu Fremdreferenzen der Dingwelt, wie sie oben thematisiert wurde. In ihnen miissen die Beteiligten die jeweils eigene Perspektive mit der Perspektive ihres Gegeniibers abgleichen und mit dessen Eigensinnigkeit rechnen. Abstrakte Sozialbeziehungen sind demgegenliber Bezugnahmen auf abstrakte Gebilde wie Gesamtgesellschaften, groBere Bevolkerungsteile oder politische Bewegungen. Dazu zahlt aber auch die Bezugnahme auf z. B. Ideen (z. B. Menschenrechte), Normen, wissenschaftliche Theorien, das Rechtssystem oder die Kunst im Allgemeinen. Insbesondere in konkreten Sozialbeziehungen konnen unterschiedliche Ziele verfolgt werden, die zum einen die Grenze zur Ichwelt tiberschreiten, weil sie dort prozessiert werden, die aber auch den Beteiligten zugeschrieben werden konnen, und damit in der Sozialwelt platziert sind. Mit Habermas konnen diese Ziele auf der Achse zwischen konsensueller Einigung und strategischem Handeln abgebildet werden. Die Dingwelt kann in einem ersten Schritt zwischen der naturlichen Umwelt und jenen artifiziellen Gegenstanden, die auf der Grenze zur Sozialwelt liegen, unterteilt werden. Die natilrliche Umwelt kann in einem zweiten Schritt gemafi dem westlichen Naturverstandnis als belebte oder als unbelebte Natur gehandelt werden. Aus der Sicht des Subjekts konnen alle Fremdreferenzen der Dingwelt als wertgeschdtzte, als indifferente oder als begehrte Gegenstande behandelt werden. Und auch auf die Dingwelt kann in Form einer konkreten Bezugnahme zugegriffen werden oder in Form einer abstakten Bezugnahme. Im ersten Fall geht es dann um einen bestimmten Gegenstand und im zweiten Fall um eine Gruppe von Gegenstanden oder um allgemeine Sachverhalte, wie etwa klimatische Bedingungen. Insbesondere hierbei spielen Theorien und Wissensbestande, die in der Sozialwelt verhandelt werden eine gewichtige Rolle, da sie eine Klassifikation und Strukturierung der Dingwelt ermoglichen. Ftir eine Differenzierung der Ichwelt stellt wiederum Alfred Schutz bedeutsame Anregungen zur Verfugung. Fiir Schutz (1982) sind Handlungen grundsatzlich eingebunden in subjektive Motivationslagen, Relevanzen und einen sedimentierten Wissensvorrat, die in ihrer Korrelation je aktuelle Situationsdefmitionen anleiten. Daneben kann die Ichwelt zergliedert werden in einen rein kognitiven Bereich und einen emotionalen Bereich, wobei sich im alltaglichen Handeln und Denken beide Bereiche iiberlappen. Dennoch kann auf andere Subjekte oder Objekte tendenziell eher kognitiv-rationalistisch reagiert werden oder emotional-affektiv. Wenn emotional reagiert wird, konnen diese Emotionen verschiedene Formen wie Freude, Angst oder Unziifriedenheit annehmen. Wird auf andere Subjekte reagiert, kann dies unter strategischen oder normativen Gesichtpunkten geschehen. Die Aufzahlung unterschiedlicher Sinndimensionen, die vom Subjekt prozessiert werden konnen, kann hier abgebrochen werden, da hier nicht der Anspruch auf Vollstandigkeit verfolgt werden soil und eine systematische Kategorisierung ohnehin empirischer Forschungen bedarf, wobei selbstverstandlich auf bereits existierende Befunde zurtickgegriffen werden kann. Zwei zu verdeutlichende Momente des erkenntniskritischen Sozialisationsverstandnisses konnen jedoch mit dieser kursorischen Aufzahlung umrissen werden. Zum einen sollte mit ihrer Hilfe gezeigt werden, dass die soziale und materielle Umwelt des Subjekts nicht verschwindet, wenn das Subjekt methodisch eingeklammert wird. In Form der unterschiedlichen Sinndimensionen wird diese aber als bewusstseinsimmanentes Pro208
zessieren verstanden, so dass die Sinndimensionen keineswegs bei alien Subjekten gleichermaBen zu finden sind, und diesen Sinndimensionen nicht notwendig ein Pendant in einer ,objektiven' Wirklichkeit gegeniibersteht, bzw. diese Sinndimensionen nicht (kausal) auf ,objektive' Gegebenheiten zuriickgeflihrt werden konnen. Zum anderen erlaubt die analytische Trennung von unterschiedlichen Sinndimensionen die Pluralitat von Sozialisationsverlaufen zu explizieren. Die unterschiedlichen Bezlige auf unterschiedliche Welten, die in sich nochmals nach verschiedenen Gesichtspunkten differenziert werden konnen, konnen von den Subjekten auf je eigene Art und Weise kombiniert werden, so dass jeweils eigene Anschlussoperationen nahe gelegt werden. So kann etwa die Wertschatzung eines Objektes der Dingwelt darauf zuriickzufuhren sein, dass dieses Objekt das Geschenk eines geschatzten Freundes war und dieses Geschenk in einer Situation iiberreicht wurde, die das Subjekt emotional als besonders positiv erlebt hat. Die Wertschatzung des Geschenkes kann sich relativieren, wenn die emotionale Befmdlichkeit eher negativ ausgerichtet ist. Je nachdem, unter welchem Zusammenspiel ein Objekt der Dingwelt erworben worden ist, modifiziert sich unter Umstanden der weitere Gebrauch dieses Objekts. Bei Objekten, die in besonderer Weise in sozialen Verhaltnissen eine Rolle spielen, kann dies seinerseits zu Anschlussoperationen gegeniiber den sozialen Verhaltnissen flihren. Als Beispiel mag Kinderspielzeug dienen, das gegeniiber anderen Kindem einen hohen Statuseffekt erzielen kann. Fiir die Entwicklung des Subjekts relevant ist aus der Sicht der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie also das Zusammenspiel unterschiedlicher BezUge. Dabei kommt es zum einen darauf an, wie die einzelnen Sinndimensionen konstruiert werden und wie diese Konstrukte zu anderen Dimensionen in Verbindung gesetzt werden. Und wenngleich etwa Geschenke zweifellos ,von auBen' kommen, ist die Einordnung, also das Prozessieren dieses Geschenkes und des Beschenkt-Werdens, eine aktive Leistung, die vom Subjekt erbracht werden muss und die andere Einordnungen ausselektiert und auf diese Weise weitere Einordnungen programmiert. Grob schematisiert besteht der Unterschied zu einem intersubjektivistischen Sozialisationsverstandnis somit darin, dass die unterschiedlichen Bezlige nicht aus der Umwelt abgeleitet werden, um dann zu liberprlifen, wie diese verarbeitet werden, sondern diese Bezlige ausschlieBlich im Subjekt als Konstruktionsleistung verortet werden, die dann vom Subjekt selbst objektiviert, also der Umwelt zugeschrieben werden konnen. Mit dieser Differenzsetzung wird zugleich auf eine allgemeine Ebene der unterschiedlichen Referenzbezlige aufmerksam gemacht, die der obigen Aufzahlung zugrunde liegt. In Anlehnung an Husserl kann vermutet werden, dass das Zuschreiben von unterschiedlichen Beziigen auf die Umwelt verschiedenen Glaubensmodalitaten folgt, so dass das Subjekt andere Subjekte oder Gegenstande als ,objektiv existierend' oder als Phantasiegebilde mit jeweils spezifischen Anschlussmoglichkeiten konstruieren kann. Dies gilt sowohl flir andere Subjekte, die als Phantasiesubjekte vorgestellt werden, wie dies in der Literatur liblich ist, aber auch fiir Objekte der Dingwelt, die, wie etwa im Surrealismus, so kombiniert werden konnen, dass neuartige Objekte entstehen, denen der Status des Phantastischen anhaftet, und schlieBlich fur die Ichwelt, in der emotionale Zustande oder auch Wissensformen eingebildet werden konnen. Aus einer realistischen Beobachterperspektive kann unterschieden werden, ob die Subjekte „realitatsgerecht" handeln oder nicht, wenn sie z. B. mit phantasierten Personen kommunizieren. Aus konstruktivistischer hingegen sind auch solche 209
Bezlige, die als ,objektiv existierend' prozessiert werden, ohne dass ihnen ein ,realer Gehalt' gegentibersteht, trotzdem als bedeutsam fiir die Ontogenese einzustufen. Dies deshalb, weil zu vermuten steht, dass auch aus Kommunikationen mit ,blo6 vorgestellten' Subjekten Anschlussoperationen folgen, die andere Anschlussoperationen selektieren und Sinnsetzungen darstellen, die je spezifische Entwicklungen des Subjekts anschieben. Und da auf eine Starke Telossetzung der Sozialisation verzichtet werden soil, macht es zunachst, das heiBt fur die Frage nach der Personlichkeitsentwicklung, keinen Unterschied, ob diese Entwicklung in einen Realitatsbezug mtindet, der aus einer realistischen Perspektive auch als ,realitatsgerecht' qualifiziert werden kann. Verlaufsperspektive und subjektive Autonomic Das Abzielen auf subjektinteme Anschlussoperationen an unterschiedliche Referenzbeziige im Rahmen unterschiedlicher Glaubensmodalitaten deutet darauf hin, dass die erkenntniskritische Sozialisationstheorie explizit die insbesondere von Piaget (siehe Kap. 2.7.) problematisierte Verlaufsperspektive aufnimmt. Es geht bei der Untersuchung von Sozialisationsverlaufen darum, wie das Subjekt auf Referenzbeziige reagiert und welche Wissensbestande, Uberzeugungen und Interessen sich dabei im Laufe der Entwicklung so sedimentieren, dass ein groBer Teil von moglichen Anschlussoperationen routinisiert wird und Situationsdefmitionen vor einem komplexer werdenden Gertist von Wissensbestanden und Uberzeugungen vorgenommen werden konnen. Das gleichzeitige Prozessieren von unterschiedlichen Beztigen, wie etwa normative Muster und objektivierte Sachverhalte, kann dann unter anderem dazu fiihren, dass bestimmte Situationen bewusst vermieden werden, wie dies Bourdieu (1993) als Selektionsmechanismus des Habitus beschreibt. Dies kann aber auch dazu fiihren, dass neue Relevanzen und Motivationen ausgebildet werden, die ihrerseits zu einer Modifikation des Wissensvorrates beitragen, der dann die Modifikation von normativen Mustern anschiebt. Oder anders herum: Das Prozessieren veranderter normativer Muster kann zu einer Revision von Wissensbestanden anregen, sowohl was die quantifizierbare Seite von Wissen betrifft, als auch was die qualitative Seite des Umganges mit Wissen betrifft. Wie schon bei Piaget gesehen, ist dies ein Prozess, flir den sich weder empirisch noch theoretisch ein Endziel formulieren lasst. Dennoch steht zu erwarten, dass sich im Laufe der Ontogenese bestimmte Muster und deren Zusammenspiel (Normen, Wissen,...) verfestigen, die zu einer routinisierten Selektion von Anschlussoperationen fuhren, so dass beispielsweise bestimmte Wissensgebiete bewusst nicht prozessiert werden, wodurch sich der Radius des noch zu erwerbenden Wissens eingrenzt. Fiir das Verstandnis der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie wichtig ist nun, dass mit diesem Abzielen auf eine Verlaufsperspektive Begriffe, die sich im Umfeld der Subjektphilosophie ansiedeln und bislang eher ignoriert wurden, in Bezug auf den Analysefokus der subjektiven Entwicklung justiert werden konnen. Ein Telos der Entwicklung gibt es nicht, allein schon deswegen, weil das Prozessieren von Anschlussoperationen grundsatzlich vor dem Hintergrund eines Moglichkeitsraumes lokalisiert ist, so dass auch dann, wenn bestimmte Anschlussoperationen selektiert wurden, die nicht gewahlten Operationen sich nicht auflosen, sondem als Option erhalten bleiben, und das heiBt, dass jederzeit Anschlussoperationen revidiert werden konnen. 210
Diese Bestimmung optionaler Anschlussoperationen erinnert an die Begriffe der Autonomie Oder der Willensfreiheit, wie sie am pointiertesten von Immanuel Kant (1781 [7]/1992) in die Subjekttheorie implementiert wurden. Das Subjekt hier auf der Linie Kants zu bestimmen und dabei durch den Begriff des aktiven Konstruierens gegenuber Kant noch zu erhohen, legt den Verdacht nahe, das Subjekt als autonomes Subjekt zu denken. Bei Kant ist es vor allem das Subjekt der ,praktischen Vemunft', das iiber die Autonomie verfiigt, zwischen einer Befolgung und einer Nichtbeachtung des kategorischen Imperativs zu entscheiden. Zweifelsohne kommt Subjekten diese Autonomie zu, da ansonsten Handlungen oder Denkakte, die intendiert gegen den Anspruch, den Mensch ,jederzeit als Zweck, niemals bloB als Mittel" (Kant 1785/1993: 62) zu behandeln, verstoBen, nicht vorkommen durften, zumal dann, wenn der kategorische Imperativ a priori der Vernunft inhariert. Nun ist das Subjekt hier zwar als aktive Potenz der Wirklichkeitskonstruktion gedacht, nicht aber als mit apriorischen Begriffen ausgestattete. Normative Uberzeugungen miissen daher durch die Pforten der Entwicklung, und da diese subjektintemen Operationen unterliegt, kann nicht automatisch mit einer Entwicklung zum kategorischen Imperativ gerechnet werden. Im Bereich von Normen kann es daher bei der Analyse von Sozialisationsverlaufen nicht um die Anerkennung und Befolgung bestimmter Normen gehen, sondern nur jeweils um die Normen, die tatsachlich vom Subjekt entwickelt wurden. Es bleibt damit allerdings die Frage, kann das Subjekt sich eigene Normen (und Wissensbestande) unabhangig von Fremdreferenzen bilden und hat es die Autonomie, sich reflexiv zu diesen, eigenen Normen (und Wissensbestanden) zu verhalten? Die Formulierung ,aktive Potenz der Wirklichkeitskonstruktion' scheint diese Frage bereits beantwortet zu haben. Das Subjekt ist qua Subjektsein befahigt, sich unabhangig von Fremdreferenzen eigene (Sozial-, Ding- und Ich-)Welten zu konstruieren und das heiBt, es ist autonom im Sinne einer Entscheidungsfreiheit und -moglichkeit. Eine solche Vorstellung eines autonomen Subjekts kollidiert allerdings mit den oben getroffenen Bestimmungen. Einerseits relativiert der Konstruktivismus iiber das Hereinholen pragmatischer Motive selbst den Autonomiebegriff. Konstruieren im Sinne des Konstruktivismus bedeutet schlieBlich nicht, Phantasiewelten zu erfinden, sondem Wirklichkeitskonstruktionen, die dem Prinzip der Viabilitat geniigen miissen (v. Glasersfeld 2000a, 200b). Der Messstab fiir die Viabilitat kommt dabei, wie Siegfried J. Schmidt (2000: 35) anmerkt, „aus der Wirklichkeit". Andererseits wurde oben koinzidiert, dass eine subjektive Entwicklung ohne das Prozessieren von Fremdreferenzen theoretisch nicht plausibilisierbar ist. Damit werden Beziige in die subjektiven Konstruktionen implementiert, iiber die das Subjekt nicht in der Weise verfiigen kann, dass von einer absoluten Autonomie im Sinne absoluter Selbstreferenz ausgegangen werden konnte. Der Terminus ,Konstruieren', wie er innerhalb der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie verwendet werden soil, bedeutet also nicht eo ipso eine Autonomie iiber die ,Wirklichkeit', die in der Form subjektiven Prozessierens von Fremdreferenzen schlieBlich als verobjektivierte Wirklichkeit erhalten bleibt. Im Rahmen des Analysefokus auf Sozialisationsprozesse dramatisiert sich dies, wenn darauf verwiesen wird, dass insbesondere Neugeborene oder Kleinkinder, wenn sie nicht mit Begriffen a priori auf die Welt kommen, kaum iiber hinreichend Begriffe und damit Selektionsmoglichkeiten beziiglich der Strukturierung und Einordnung von Erfahrungen verfiigen, so dass ihnen auch nicht die Autonomie zu211
kommt, bewusst spezifische Fremdreferenzen zu prozessieren oder eben nicht. Genau dies macht Piaget mit seiner Verlaufsperspektive deutlich: Die kognitiven Strukturen miissen sich erst sukzessive ausdifferenzieren, bevor es zu einer Emanzipation oder Autonomie gegeniiber sedimentierten kognitiven Mustem kommen kann. Sowohl das theoretische Denken in Moglichkeiten, als auch das moralische Denken in abstrakten Regelwerken setzt eine Entwicklung voraus, die damit zugleich zur Bedingung der Moglichkeit wird, bestimmte Fremdreferenzen iiberhaupt prozessieren zu konnen. Und wie in den Diskussionen um die formalistische Ausrichtung der kantischen Philosophic eindringlich gezeigt wurde: Bin Konnen heiBt nicht automatisch, dies auch zu tun, oder sogar, dies reflexiv zu tun. Aus der Verlaufsperspektive ergeben sich also gravierende Einwande gegen die Bestimmung eines Subjekts als immer schon autonomem Subjekt. Dies kann vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Theoriebildung freilich nicht heifien, den Autonomiebegriff zu disqualifizieren. Das Prozessieren von Fremdreferenzen meint schlieBlich nicht den Import von Fremdreferenzen, sondern deren Prozessieren unter der MaBgabe der Selbstreferentialitat und damit unter der MaBgabe revidierbarer Selektionen. Bei der Besprechung von David Hume war kurz angesprochen worden, dass Hume sich das Subjekt als Verstrickt in den kausalen Naturzusammenhang denkt. Freiheit (oder Autonomie) konnte Hume daher, ahnlich wie heute einige Himforscher (s. o.), nicht auf der Ebene der Subjekttheorie platzieren. Er gliedert die Freiheit aus auf die Ebene des Politischen, so dass mit Freiheit einzig die Freiheit, etwas (in der Welt) tun zu konnen, gemeint ist. Die Willensfreiheit, so lieBe sich von rationalistischer Seite aus polemisieren, wird zur Handlungsfreiheit degradiert. Nun wird, wie oben dargelegt, auch hier nicht davon ausgegangen, das Subjekt sei nach dem Bild kausaler Naturablaufe zu verstehen, sondern als eine ,res cogitans', die explizit ein ,Jenseits' dieser Kausalitat bezeichnet. Von Hume ubemommen wurde aber die Unterscheidung zwischen ,Alltag' und ,Wissenschaft', innerhalb der sich der Begriff der Autonomie in der Lesart Humes auf die Seite des (politischen) Alltags verschiebt. Diese zugespitzte Form kann fiir die Stellung des Begriffes der Autonomie freilich nicht zugrunde gelegt werden, da mit dem Anschluss an die rationalistische bzw. idealistische Philosophic bereits die Vorentscheidung gefallen ist, von einer ,res cogitans' auszugehen, die unabhangig von kausalen Naturablaufen oder auch sozialen Strukturierungen ist. Die Unterscheidung Humes kann aber in leicht modifizierter Form als Leitfaden aufgegriffen werden. Um die Ausgangssituation nochmals deutlich zu machen: Aus der Verlaufsperspektive heraus kann Autonomie nicht in das Subjektverstandnis selbst implementiert werden. Als mogliches Entwicklungsergebnis wird Autonomie damit aber nicht diskreditiert. Subjekte konnen die Fahigkeit erlangen, sich reflexiv (das heiBt autonom) zu tradierten kognitiven und moralischen Mustern zu verhalten. Autonomie kann daher bestimmt werden als eine potentielle Eigenschaft von Subjekten, nicht aber als eine notwendige. Sie uberschreitet so die Grenze, die im ersten Teil zwischen den Begriffen Subjekt (formale Theorie) und Individuum (empirischer Lebensstil) gezogen worden ist. Wird ein autonomer Umgang mit kognitiven und moralischen Mustem erreicht, muss sich dies auf der Ebene des Lebensstils zeigen lassen, weil als theoretisch hergeleitete Potenz Autonomie nicht beobachtbar ist. Die empirische Ebene des Lebensstils als Indikator fiir Autonomie zu instruieren heiBt nun nicht, dass nur ein individualisierter Lebensstil Autonomie indizieren wiirde. Autonomie 212
hat dcmgcgcniiber cincn formalcrcn Gehalt, dcr sich im Sinnc Piagets als ,Dcnkcn in hypothctischcn Moglichkcitcn'^^ zusammcnfasscn lasst. Das Ergebnis cines solchcn Dcnkcns kann cin individualisicrtcr Lcbcnsstil scin. Es kann abcr auch cin Lcbcnsstil scin, dcr sich bcwusst an Kollcktivcn orienticrt. Entschcidcnd ist, ob die jcwcils altcmativcn Moglichkeitcn prozcssicrt wurdcn und ob Entschcidungcn bcgrundct wcrdcn konncn. Dieses Modell findet im Alltag nicht standig Anwendung und wiirde, wenn doch, vermutlich in einem Terror der Reflexion enden, der, bis zu einem gewissen Punkt getrieben, zur Handlungsunfahigkeit fuhren kann. An bedeutsamen Entschcidungcn (Berufswahl, politische Uberzeugungen,...) hingegen kann diese Mcsslatte als Indikator fiir Autonomic angelegt wcrdcn. Das Subjekt als theoretisch hergcleitctcs bringt also nur die leere Potenz fur das Errcichen von Autonomic mit. Empirisch zeigen lassen muss sich Autonomic hingegen auf der Scite des Individuums. Die Untcrschcidung Humes wird so in den Bercich dcr ,Wisscnschaft' hereingcholt, wcil dcr Begriff der Autonomic als ,Dcnkcn in hypothctischen Moglichkcitcn' cine wissenschaftlichc Bestimmung blcibt, die extern an zu untcrsuchende Lcbcnsstilc, wie sie im ,Alltag' vorkommen, angelegt wird. Autonomic wird nicht als Begriff des Alltags verwendet, gleichwohl er dort kommuniziert wird und sich dort ausweisen lassen muss. Er kann als Pendant zu dcr oben cingcflihrten normativen Ziclfigur von Sozialisationsprozessen geschen wcrdcn. Dies cinmal inhaltlich, wcil Dcmokraticbefahigung cincn autonomen Umgang mit tradierten Wissensbestanden und Normen implizicrt. Und dies theoretisch, wcil dcr Begriff dcr Autonomic sich in cin formal-thcorctischcs Modell zuruckzicht, dass sich vcrtcilt auf die Bereiche des Subjektverstandnisscs und die heuristische Anleitung empirisch-wisscnschaftlichcr Forschung. In Bezug auf die Verlaufsperspektive stellt dcr Autonomicbegriff auf dcr subjektthcorctischen Scite die Anbindung an zcntralc Einsichten Piagets her. Ein ,Denken in hypothctischen Moglichkcitcn' ist erst dann praktizierbar, wenn alternative Moglichkciten prozcssicrt wcrdcn konncn. Dies setzt die Akkumulation von Wissen voraus, die erst inncrhalb subjektiver Entwicklungsvcrlaufe realisiert wird. Daraus folgt nicht, dass Autonomic erst ab einem bestimmten Alter erreichbar wird, wie Piaget angenommen hatte. Es kann abcr angenommen wcrdcn, dass sich die hypothctischen Moglichkcitcn, in denen gcdacht wcrdcn kann, sowohl quantitativ als auch qualitativ im Laufe der Ontogenese erweitern. Dies deshalb, so cine weitcre zcntralc Einsicht Piagets, die hier aufgenommen wcrdcn soil, wcil bestimmtc Wissensbestande erst auf der Grundlagc bercits errcichter kognitiver Fahigkeiten prozcssicrt wcrdcn konncn. Um z. B. cincn abstrakten Bezug wie den intrinsischen Gehalt den Menschenrcchtc prozessicren zu konncn, ist moglichcrwcisc cin Wissen um die Bedcutung von Recht, um die historische Genese der Menschenrcchtc und um die Bedcutung von Moralitat crfordcrlich. Die Erweiterung des Moglichkcitsraumcs, inncrhalb dessen Altcmativcn formuliert wcrdcn konncn, ist also cin sukzessiver Prozess, der fiir das Subjekt das Ergebnis haben kann, dass sich dessen Wissensbestande so anreichem, dass sich auf dcr empirischen Ebene der Lebensstile ein autonomer Umgang beobachten lasst. Im weitesten Sinnc nimmt diese Verzahnung von Vcrlauf und Autonomic die Denkfigur Hegels (1812/1996) auf, 26 Im Rahmen des hier vorgelegten Subjektverstandnisses wird mit dieser Bestimmung von Autonomic explizit eine kognitivistische Engfuhrung verfolgt. Die Frage nach dem Verhaltnis von ,innerer' Autonomic und ,au6erer' Chance wird auf diese Weise ausgeklammcrt, das heiBt: sic wird nicht als ubcrfliissige oder unrelevante Frage diskreditiert, sondern auf andere Diskurse verwicsen.
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die mit einem Umschlagen von Quantitat in Qualitat rechnet. Potentiell ist das Subjekt zur Autonomic befahigt und die Einlagerung des Prozessierens von Fremdreferenz in die Selbstreferentialitat macht deutlich, dass Konstruktionsleistungen nicht kausal bestimmt werden konnen (quantitative Autonomic). Mit der subjektiven Entwicklung wachsen die Wissensbestande, so dass das Subjekt genotigt ist, zunehmend (bewoisste) Entscheidungen zu treffen, zumal dann, wenn es sich um gegenseitig ausschlicBende Wissensbestande handelt. Dieses Modell der bewussten Entscheidung kann schlieBlich in einen Lebensstil miinden, der die reine Potenz verlasst und auf der empirischen Ebene sichtbar wird (qualitative Autonomic). Enkulturation Bislang sollte deutlich geworden sein, dass die hier verfolgte Perspektive auf den Prozess der Sozialisation konsequent aus dem Subjekt heraus gedacht wird. Damit stellt sich die Frage, ob hier uberhaupt von Sozialisation im Sinne der -S'oz/a/werdung des Einzelnen gesprochen werden kann. Unumstritten durfte sein, dass die skizzierten Antizipationen eine Entwicklungstheorie des Subjektiven fokussieren. Sozialisation meint dagegen mehr, als dass sich Subjekte entwickeln. Sozialisation meint, dass sich Subjekte so entwickeln, dass sic einen Bereich des gemeinsam geteilten Verstandnisses des Welt (Wissen, Normen,...) bilden, der sic zu gesellschaftsfahigen Subjekten macht. Dieses Verstandnis von Sozialisation kann, wie im ersten Teil gesehen, sowohl eine ordnungspolitische Dimension annehmen, wie etwa im Strukturfunktionalismus, oder eine liberalisierte Form, wie etwas bei Habermas oder Hurrelmann. Gemeinsam ist diesen Zugriffen auf das Sozialisationsgeschehen, dass im Ergebnis sozial handlungsfahige Subjekte heraus kommen, die tiber gemeinsam geteilte Beziige eine gemeinsame Praxis konstituieren konnen. Der Einzelne mag zwar einen individualistischen Lebensstil fiihren, teilt aber die allgemeine, kulturelle Orientierung am Individuum mit Anderen, so dass etwa gegenseitige Erwartungen auf individuelle Reaktionen bestehen, die ein reziprokes Aufeinanderbeziehen moglich machen, ohne dass standige Verhandlungen uber die je eigene Sicht der Weh, die je eigenen Bedeutungszuschreibungen und die je eigenen Praferenzen notig wiirden. Nun wurde oben bereits ausfiihrlich dargelegt, dass mit der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie die Formulierung eines normativen Zieles der Sozialisation in diesem Sinne nicht zu haben ist. Die abstrakte Demokratiebefahigung, als verbleibendes Restziel, richtet sich zwar auf gesamtgesellschaftliche Prozesse und Strukturen, trifft aber keine Aussagen iiber inhaltliche Ausgestaltungen dieser Befahigung, so dass aus diesem abstrakten Ideal nicht zwingend ein Bestand an geteilten Uberzeugungen und Wissensbestanden folgen muss. Aufgrund der starken Subjektorientierung wird jegliche derart weitergehende Zielsetzung von Sozialisationsverlaufen zu einer (normativen) Pramisse, die von auBen durch einen Beobachter an die Sozialisation angelegt wird. Der Hinweis auf die gleichsam wortliche Bedeutung von Sozialisation, also dem Sozialwerden des Einzelnen, hat jedoch auch eine analytische Dimension, die bei der Diskussion um die Verzahnung der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie mit der Gesellschaftstheorie sichtbar wurde. Das subjektive Prozessieren von intersubjektiven oder gesellschaftlichen Bezugen wurde als eine gewichtige Dimension fur die Ontogenese herausgestellt. Dies zunachst in dem 214
Sinne, dass uber intersubjektive Beziige ,Wirklichkeiten' jenseits der je eigenen Erfahrungen erschlossen werden konnen. Dies tragt zu einer Differenzierung der Weltsicht bei und ermoglicht so eine Auseinandersetzung mit komplexen Umwelten, wie modeme, pluralisierte Gesellschaften sie darstellen. Dieser Vorteil des Prozessierens von intersubjektiven Bezijgen, so kann vermutet werden, gelingt aber nur dann, wenn dieses Prozessieren einem „gespieltem Konsens" (Luhmann 2002b: 81) aufsitzt. Dies aus zwei Griinden: Zum einem mtissen gemeinsam geteilte Wissensbestande vorhanden sein, in die neue Wissensinhalte eingefligt werden konnen. Neues Wissen, unabhangig davon, ob es sich um positives Wissen oder um Normen handelt, ist nie absolut neues Wissen, weil es, wie Piaget verdeutlicht hat, von einem Subjekt nur dann als neues Wissen prozessiert werden, wenn dieses zu einem bestimmten Teil bereits bekannt und entsprechend unter bereits existierende kognitive Schemata subsumierbar ist. Um also in einer Lehrer-Schliler-Situation dem Schiiler tatsachlich ,etwas beibringen' zu konnen, muss der Lehrer an bereits bestehende Wissensbestande ankniipfen. Es ist daher tatsachlich sinnvoll mit einfachen mathematischen Operationen zu beginnen, die sich lebensweltlich konkretisieren lassen (z. B. durch Apfel oder Kuchen) und so vorhandene kognitive Strukturen aufzugreifen, und erst in einem weiteren Schritt abstraktere mathematische Operationen zu vermitteln, die dann auf dem Wissen um die mathematischen Grundbegriffe aufbauen konnen. Kurz: Die explizite Lemsituation setzt einen gemeinsamen Bestand von Wissen voraus, den der Lehrende zu Explikationszwecken fruchtbar machen kann (und muss) und den der Lemende benotigt, um die neuen Wissensinhalte prozessieren, das heifit in diesem Fall: begrifflich einordnen zu konnen. Zum anderen gelingt das Lemen von Anderen nur dann, wenn dies in einer Situation geschieht, die durch die gemeinsam geteilte Bereitschaft des Lehrens und Lemens getragen wird. „Gespielter Konsens" bezeichnet in diesem Sinne jene Konnotationen, die sich um den von Habermas emphatisch liberhohten Konsensbegriff anreihen. Die Beteiligten milssen sich reziprok aufeinander einstellen und sich dabei bemiihen, ihre Perspektiven zu dezentrieren, also sich auf den jeweils anderen einzustellen. Sie miissen in der Lemsituation davon ausgehen, dass sie die Situation innerhalb eines gewissen Rahmens ,identisch' begreifen und bewerten. SchlieBlich muss insbesondere auBerhalb institutionell arrangierter Lemsituationen (Schule) das Lemergebnis mindestens den Eindmck nahe legen, es sei konsensuell (bzw. kommunikativ) vermittelt. Dies schlieBt ein ,Lernen auf Befehl' nicht aus, macht aber dessen nachhaltigen Lernerfolg unwahrscheinlicher, wenn dieses ,Lernen auf Befehr nicht standig wiederholt wird und so einen Gewohnungseffekt produziert. In beiden Fallen kann es unter der Voraussetzung subjektiver Selbstreferentialitat nicht darum gehen, einen tatsachlichen Konsens herzustellen, der von einem Beobachter als solcher zu diagnostizieren ware. Es reicht aus, wenn die beteiligten Subjekte einen Konsens konstruieren, ihn also ,spielen'. Der Bestand an gemeinsam geteiltem Wissen, der dabei erzeugt wird, ist dann kein absolut gleicher und moglicherweise, wenn das Spiel falsch gespieh wird, sogar eigentlich ein Dissens. Fiir die Entwicklung des Subjekts folgt aus diesem Spiel jedoch, dass andere Subjekte als solche konstruiert werden, mit denen gemeinsame Uberzeugungen und Wissensbestande geteilt werden. Auffallig werdende Differenzen konnen dann entweder tabuisiert bzw. ignoriert werden, oder sie fiihren zu einer modifizierten Konstruktion des Anderen, aus der neue Aushandlungen oder der Abbmch der Beziehung folgen konnen. 215
Was hier explizit an Lemprozessen demonstriert wurde, kann auf solche intersubjektiven Bezugnahmen transformiert werden, die sich durch eine Egalitat der Beteiligten charakterisieren lassen. Dies sind bei Kindem und Jugendlichen vomehmlich Peer-Beziehungen, die sich nicht an der hierarchischen Struktur eines Lehrenden gegentiber einem Lemenden orientieren, in denen es also nicht intendiert um Lemprozesse geht. Auch solche Bezugnahmen sind nur moglich, wenn ein Bestand an gemeinsam geteilten Interessen und Uberzeugungen im je subjektiven Bewusstsein simuliert wird. Dies heiBt fur das Subjekt, es muss davon ausgehen, dass die Anderen bestimmte Interessen, die das Subjekt selbst auch verfolgt, teilen, um eigene Ziele erreichen zu konnen. Dies gilt sowohl fur kommunikativ eingeloste Interessen, als auch fur strategisches Handeln, das ohne eine gemeinsam geteilte Anschlussfahigkeit nur geringe Chancen auf Erfolg hat (vgl. Habermas 1981). Wer etwa mit dem Ziel, FuBball zu spielen, in einem FuBball-Verein geht, muss unterstellen, dass die anderen Vereinsmitglieder ahnliche Absichten mit ihrer Mitgliedschaft verfolgen, so dass nicht vor jedem Training oder Spiel emeut verhandelt werden muss, ob denn uberhaupt FuBball gespielt werden soil. Wer einen Vereinskameraden auBerhalb des Vereins trifft, kann unterstellen, dass ein Gesprach iiber FuBball angenommen wird, und wenn nicht, dies begrtindungsbedurftig ist. In jedem dieser Falle ist es aus der Ferspektive der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie bedeutungslos, ob ein tatsachlicher Konsens besteht oder nicht. Das Ergebnis solcher intersubjektiven Bezugnahmen ist jedoch, dass die jeweiligen Subjekte unterstellen, sie teilen mit bestimmten Anderen ihre Interessen, ihr Wissen oder ihre Uberzeugungen. Anders formuliert: Sie konstruieren in die soziale Welt intersubjektive Uberschneidungen, auf die sie mit weiteren Konstruktionen reagieren miissen. Dies kann eine totale Orientierung an Anderen, eine bewusste Individualisierung oder eine Balance zwischen beiden Moglichkeiten bedeuten. Die subjektive Entwicklung, wie sie hier angedeutet wird, widerspricht also nicht eo ipso einem Sozialwerden des Einzelnen. Ob uberhaupt intersubjektive Beziige prozessiert werden, ist aus konstruktivistischer Sicht allerdings nicht bedingungslos deduzierbar. Wenn aber solche Bezuge prozessiert werden, unterliegen sie der funktionalen Bedingung, dass ein Bestand an gemeinsam geteilten Hintergrundverstandnissen konstruiert bzw. unterstellt wird. Wie immer das Subjekt auf diese Konstruktion reagiert, sie stellen fur die Ontogenese einen Orientierungsrahmen zur Verfiigung, der als Moment der Sozialintegration in Anspruch genommen werden kann. Das Subjekt kann seine konstruierte intersubjektive Uberschneidung benutzen, um sich intendiert auf andere Subjekte einzustellen, das heiBt aus einer Beobachterperspektive gesellschaftlich handlungsfahig zu werden. Insgesamt aufgegeben wird mit diesem Sozialisationsverstandnis allerdings jegliche Form von ethischer bzw. substantieller Ergebnisorientierung. SchlieBlich obliegt es auch in Bezug auf die Sozialwerdung des Einzelnen dem Subjekt, die je eigene gesellschaftliche Handlungsfahigkeit zu bewerten und in das Netzwerk seiner Konstruktionen einzuordnen, also anschlussfahig zu machen fur weitere Operationen, die sich auf die Sozialwelt beziehen. Ganz im Sinne der kantischen Traditionslinie geht es der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie um die Frage nach der Bedingung der Moglichkeit fiir Sozialisationsprozesse auf der Grundlage der Unterstellung eines konstruierenden Subjekts. Anders formuliert: Es geht um die Frage nach den subjektintemen Konstruktionszusammenhangen als Motor fiir
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die subjektive Entwicklung, und dies sowohl nach ihrer rein individuellen Seite bin und als auch nach ihrer Seite der Sozialintegration.
8.4. Konsequenzen der erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialisationstheorie Um die ersten Sondierungen in die Richtung einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie zu konturieren, sollen abschliefiend die wesentlichsten Grundzlige pointiert zusammengefasst werden. Da der Terminus Konturen hier als Differenzbegriff verstanden werden soil, werden in einem ersten Schritt ideengeschichtliche Abgrenzungen als Negativfolie fur die in einem zweiten Schritt zu erlauternden Positionen der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie diskutiert. Da es bei der vorliegenden Schrift ausdrticklich um eine Theorie der Sozialisation geht, werden sich sowohl die Abgrenzungen als auch die Positionen auf theoretischer Ebene bewegen. Sowohl mogliche Widerholungen als auch grobe Uberzeichnungen werden dabei bewusst in Kauf genommen. Abgrenzungen Bislang waren die Ausfiihrungen eher in einem integrativen Stil gehalten. Es ging darum zu zeigen, dass mit einer erkenntniskritischen Fundierung der Sozialisationstheorie wesentliche Bausteine dieses Diskurses unter verandertem Vorzeichen erhalten bleiben konnen; eine erkenntniskritische Sozialisationstheorie also nicht einen Sprung in kalte Wasser anvisiert, sondem auf den zentralen Analysefokus der Sozialisationstheorie/-forschung bezogen bleibt und sich in den Traditionslinien dieses Diskurses verorten kann. Der Eindruck, der dabei erweckt werden kann, ist freilich, dass die erkenntniskritische Sozialisationstheorie in bereits existierenden Entwiirfen aufgeht bzw. aufgehoben werden kann. Um diesem Eindruck entgegen zu wirken, soil im Folgenden an ausgewahlten Theorien das Vorgehen umgedreht werden. Nicht die Integration in einen vorliegenden Theoriekontext, sondem die Differenz zu diesen soil in den Vordergrund riicken. Eine unmittelbar einsichtige Differenz besteht zunachst zu den strukturfiinktionalistischen Ansatzen eines Emile Durkheim (vgl. Kap. 2.1.) oder Talcott Parsons (vgl. Kap. 2.3.). Beide denken vom Pol der Gesellschaft aus. Damit weisen sie nicht nur dem Individuum als soziologisch-empirischem Subjekt eine subordinative Stellung zu; sie thematisieren das Subjekt als Erkenntnissubjekt erst gar nicht, eben weil sie von objektiven Strukturen der Gesellschaft ausgehen, auf die die Subjekte - und zwar alle Subjekte gleichermaBen - treffen. Sozialisation ist dann fur beide Denker folgerichtig nur der Kitt, der die objektiven Strukturen mit den Subjekten versohnt, in dem sie die Werte und Normen dieser Strukturen verbindlich vermittelt. Und da beide Denker wissen, dass Sozialisation letztlich ein nicht steuerbarer Prozess ist, misstrauen beide auch nicht-institutionalisierten Sozialisationsagenturen und richten ihr Augenmerk auf die Schule, der sie die Aufgabe zuschreiben, anarchische Sozialisationsprozesse durch geordnete Erziehung zu erganzen. Die Kritik, die die erkenntniskritische Sozialisationstheorie an diesem Modell iibt, liegt auf der Hand. Objektive Strukturen, seien dies nun Naturgesetze oder gesellschaftliche Strukturen, unterliegen der aktiven Konstruktionsleistung von Erkenntnissubjekten. Sie haben damit nicht 217
den Rang einer beobachterunabhangigen Objektivitat. Ihre Objektivitat resultiert aus subjektintemen Operationen, die die gesellschaftlichen Strukturen in die Umwelt des Subjekts hineinkonstruieren und ihnen damit erst den Status einer Objektpermanenz zusprechen. Als subjektintemes Hineinkonstruieren verbleiben sie damit aber letztiich innerhalb der Subjektgrenzen und gerinnen zu einer fragilen Angelegenlieit, die dem relationalem Strudel subjektiver Konstruktionen ausgesetzt ist. Und da unterschiedliche Subjekte unterschiedliche Konstruktionen oder Beobachtungen prozessieren, kann nicht a priori davon ausgegangen werden, dass die subjektiven Konstruktionen in einer gemeinsamen Konstruktion, die dann als Objektivitat gehandelt werden konnte, kulminieren. An diese theorieimmanente Kritik schlieBt sich eine politisch-moralische Kritik an. Wenn nicht von Subjekten ausgegangen werden kann, die alle in derselben Weise auf objektive Strukturen treffen, verliert die Subordination unter solche Strukturen ihren Sinn. Politischmoralisch ist eine solche Forderung (uberhaupt nur) dann aufrechtzuerhalten, wenn tatsachlich davon ausgegangen werden kann, dass die Subjekte durch Sozialisation und Erziehung verbindliche Werte und Handlungsmuster so internalisieren, das eine Abweichung von diesen Werten und Mustem unwahrscheinlich wird, so dass die Integration der Subjekte von diesen nicht als schmerzhafter Prozess der Sublimierung erlebt wird. Anders formuliert: Eine Forderung nach Subordination unter gesellschaftliche Strukturen und Werte ware nur dann legitimierbar, wenn Subjekt und Objekt (hier: Gesellschaft) immer schon restlos ineinander fielen. Da die erkenntniskritische Sozialisationstheorie mit einer Differenz zwischen subjektiven Konstruktionen rechnet und daher die beobachterunabhangige Objektivitat von Gesellschaft in Frage stellt, wird diese Voraussetzung nicht erftillt. Die Forderung nach Subordination verliert damit ihre einzig denkbare Legitimationsbasis. Anders stellt sich die Differenz zu den beiden prominentesten Vertretem einer intersubjektivistischen Lesart der Sozialisation: George Herbert Mead (vgl. Kap. 2.2.) und Jtirgen Habermas (vgl. Kap. 2.3.) dar. Beide verstehen den Prozess der Sozialisation nicht als Intemalisierung von praskibierten Werten, so dass eine entsprechende politisch-moralische Kritik unnotig wird. Die Differenz der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie zu Mead und Habermas liegt in dem zugrunde gelegten Subjektverstandnis. Flir Habermas (1985: 346) ist es eine ausgemachte Sache, dass das Paradigma der Bewusstseinsphilosophie erschopft ist. Er hofft daher durch den Paradigmenwechsel zur Intersubjektivitat den Aporien einer Doppelung des Subjekts in eine selbstbezugliche und eine empirische Subjektivitat entgehen zu konnen, indem er das Subjekt nicht mehr als transzendentale Bedingung ftir Erkenntnis begreift, sondem als sozial vermitteltes Sprach- und HandlungssuhJQkt. Gerade aber dadurch, dass Habermas zuzugestehen ist, dass er mit seinem Zugriff den Aporien der Doppelung entgeht und ein einheitliches, empirisches Subjekt an deren Stelle setzt, gerat er in die Kritik der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie. Dabei steht nicht so sehr im Vordergrund, dass Habermas Erkenntnisprozesse ausblendet, die sprachlichen Vermittlungen insofern vorausgestellt werden konnen, als diese Vermittlungen sich unter anderem auf die ,Welt der Tatsachen' beziehen, die von Subjekten erst erkannt werden miissen, bevor sie in diskursiven Verhandlungen in die Form gultiger oder wahrer Aussagen gebracht werden konnen. Im Vordergrund steht die zirkulare Struktur, die seinem Subjektbegriff zugrunde liegt. Habermas zieht die Doppelung in eine transzendentale und eine empirische Subjektivitat zur Seite der empirischen hin ein. Damit kann er aber die Bedingungen, die 218
Subjekte mitbringen miissen, um uberhaupt an Diskursen teilnehmen zu konnen, nicht mehr angemessen beriicksichtigen. Er verfangt sich damit in dem Kreislauf einer Subjektivitat, die erst durch soziale Interaktionen zur Subjektivitat wird, diese Subjektivitat aber immer schon benotigt, um an sozialen Interaktionen teilnehmen zu konnen, bzw. um sich auf soziale Situationen beziehen zu konnen. Fur die Zwecke einer Moralphilosophie, die auf soziale Verhaltnisse zugeschnitten ist, mag dies ein fruchtbares Untemehmen sein. Fiir die begriffliche Konstitution eines Subjekts handelt sich Habermas damit Voraussetzungen ein, die er nicht weiter problematisiert. Er miisste zu dem a priori der Intersubjektivat ein Pendant auf der Seite der Subjekte angeben, die die intersubjektive Situation schlieBlich tragen und konstituieren. Mit dem Verzicht auf die transzendentale Bewusstseinsphilosophie beraubt er sich jedoch der Mittel, um ein solches Programm angehen zu konnen. Aus dem empirischen Subjekt lassen sich die Voraussetzungen fiir die Subjektivitat nicht ableiten ohne einem empiristischen Fehlschluss zu unterliegen, der vom Sein auf die Bedingungen des Seins schlieBt. Fiir die Sozialisationstheorie bedeutet dies: Mit Habermas lassen sich Sozialisationsverlaufe erst dann beschreiben, wenn sie bereits in Gang gesetzt wurden. Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie zielt hingegen auf die Voraussetzungen von Sozialisationsprozessen. Der Unterschied besteht dann darin, dass die Beschreibung solcher Prozesse differeriert, je nachdem welches Modell als Analyserahmen gewahlt wird (s. u.). Ahnlich gestaltet sich die an Habermas explizierte Abgrenzung im Fall von George Herbert Mead. Ein weiteres kommt allerdings hinzu. Mead halt insofern an der Bewusstseinsphilosophie fest, als er sein Subjektverstandnis doppelt in ein ,1' und ein ,Me'. Diese Doppelung erinnert zunachst an die kantische Differenz zwischen einem transzendentalen und einem empirischen Ich. Sie geht indessen dariiber hinaus, weil Mead dem ,1' nicht einfach den (leeren) Status einer conditio sine qua non zuschreibt, sondem sein ,1' als kreative Instanz auffasst, die das Subjekt in seiner ,Ursprunglichkeit' oder ,Natiirlichkeit' markiert und die einen Einfluss auf die Handlungen und Denkakte des empirischen Subjekts nimmt. Anders formuliert: Mead halt Kontakt zur Bewusstseinsphilosophie dadurch, dass er eine vorsoziale Subjektivitat annimmt, die von intersubjektiven Austauschprozessen unberiihrt bleibt und die im (standigen) Konflikt mit den uber das ,Me' vermittelten Anspruchen der Gesellschaft steht. Politisch kann er mit einem solchermaBen verstandenem ,1' radikaldemokratische Institutionen einklagen, die dem Einzelnen Freiraume fur eine Entfaltung der kreativen Potentiale bereitstellen. Subjekttheoretisch vermag er damit nicht zu uberzeugen, weil er damit in die Nahe zu anthropologischen Setzungen gerat. Solche Setzungen operieren als erklarende Beschreibungen empirischer Subjekte und miissten sich daher empirisch verifizieren lassen. Da dies nicht zu haben ist, konnen solche Setzungen inhaltlich (Triebe, Bediirfnisse, ...) immer auch anders dediziert werden - sie sind beliebig. Das Subjekt der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie stellt sich demgegenuber anders dar. Die oben (siehe Kap. 7.) vorgenommene Doppelung des Subjektbegriffs ist ein begriffliches Hilfsmittel, um die Tautologie der Selbstkonstitution zu umgehen. Sie entspricht nicht einer Dopplung, die dem hier vorgestellten Subjekt als (anthropologisches) Wesensmerkmal eigen ware. Im Gegenteil wird das Subjekt als Einheit aus konstituierendem und konstituiertem Subjekt begriffen und damit ebenfalls jener Doppelung entzogen, der Habermas entkommen wollte - nur nicht zur Seite des empirischen Subjekts, sondem zur Seite der transzendentalen Selbstbezuglichkeit. Bei der Beschreibung von Sozialisati219
onsverlaufen wird daher keine ,Ursprunglichkeit' oder vorsoziale ,Naturlichkeit' angenommen, die kontingente Einflusse auf die Sozialisanden austibt. Angenommen wird nur eine aktive Potenz zur Wirklichkeitskonstruktion, der als Bedingung der Moglichkeit von Erkenntnis ein vorsozialer Status eingeraumt wird, nicht aber eine inhaltliche Zuschreibung von Personlichkeitsmerkmalen, die sich als Gegensatz zur Gesellschaft auswirken konnen, wie dies Dahrendorf (1958/1977) besonders pragnant nachzeichnet. Das Subjekt als aktive Potenz zur Wirklichkeitskonstruktion riickt in die Nahe des Subjektverstandnisses von Jean Piaget (vgl. Kap. 2.7.). Dieser war im ersten Teil der Arbeit hauptsachlich als bedeutender Vertreter einer elaborierten Verlaufsperspektive eingefuhrt worden. Indessen gait sein Bemtihen von Beginn seiner intellektuellen Arbeit an der Generierung einer Erkenntnistheorie, die auf dem sicheren Boden der biologischen Naturwissenschaften stehen sollte. Und zweifellos stellt sein Oeuvre bedeutende Anregungen fur die erkenntniskritische Sozialisationstheorie bereit. Piaget schliefit in einer Weise an die kantische Philosophic an, die die zentrale Einsicht einer Subjektdominanz im Erkenntnisprozess fortfiihrt. Zugleich nimmt er dabei jedoch Modifikationen vor, von denen sich das Subjekt der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie unterscheidet. Gemeint ist damit nicht der von Piaget aufgegebene Apriorismus der kantischen Philosophic. Gemeint ist, dass Piaget in der Tendenz die Subjekthaftigkeit von Erkenntnissen betont, diese aber doch zuriick bindet an eine objektive Aufienwelt. Ideengeschichtlich wird er zwar als Vorlaufer des Konstruktivismus gehandelt. Er reiht sich aber eher in die Tradition des Rationalismus ein, der mit dem Begriff der Assimilation auf den Punkt gebracht wird. Subjekte verarbeiten ihre Umwelt nach kognitiven Schemata, die sie im Verlauf ihrer Ontogenese erworben haben. Daraus folgt: Sie ordnen die Wirklichkeit nur so, wie sie sie eben nach dem Stand ihrer Entwicklung ordnen konnen. Flankiert wird dieses Moment der Assimilation bei Piaget jedoch mit dem Moment der Akkommodation. Dieses implementiert einen Realitatsbezug in den Erkenntnisprozess, der diesen letztlich auf die Generierung einer Ubereinstimmung von Gedachtem und Gegenstand verpflichtet. Thomas Bernhard Seller (1994: 84) spricht daher in Bezug auf Piaget von einem adaptiven Konstruktivisten und fiihrt aus: „Der Assimilation steht als Antithese und Erganzung immer die Akkommodation gegeniiber. Die fortschreitende Konstruktion auch qualitativ neuer Erkenntnisstrukturen, die das Wesen seiner [Jean Piagets, R.B.] ontogenetischen Erklarung ausmacht, ist eine Folge der adaptiven Funktion der Akkommodation und der Aquilibration. Ja, er [Jean Piaget, R.B.] geht sogar soweit, die Erkenntnisentwicklung als ein Streben nach, vielleicht sogar als ein Marsch hin zu Objektivitat und Wahrheit zu konzipieren. Menschliches Erkennen erreicht zwar dieses Ziel nie ganz, aber es nahert sich ihm konstant an." Das Subjektverstandnis der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie gibt eine solche Richtung des Erkenntnisprozesses auf Das Theorem einer Ubereinstimmung von Gedachtem und Gegenstand basiert auf der Annahme einer Objektivitat, die moglicherweise aufgrund subjektiver Unzulanglichkeiten nicht immer adaquat erkannt wird, potentiell durch eine optimale Entwicklung der kognitiven Strukturen aber adaquat erkannt werden kann, so dass dem Gedachten (oder auch Gesprochenen) das Moment der Wahrheitsfmdung innewohnt. Aus der Sicht des hier verwendeten Radikalen Konstruktivismus verfliichtigt sich demgegenuber der Wahrheitsbegriff. Er spielt eine Rolle nur auf der Ebene subjektiver Konstruktionen. Subjekte konnen diese mit dem Status der Wahrheit ausstatten und damit 220
eine uberzeitliche und intersubjektive Giiltigkeit fur ihre Konstrukte reklamieren. Auf der Ebene der Theoriebildung hingegen iasst sich aufgrund der Einholung der AuBenwelt in das Subjekt ein objektives Korrelat nicht finden, so dass Wahrheit als Denken und Gegenstand iibergreifender Begriff seinen Sinn verliert. Die entscheidende Differenz zu Piaget liegt also in dem Moment der Akkommodation, das nicht wie bei Piaget als Uberschreitung der Subjektgrenzen gehandelt wird. Streng genommen handelt sich Piaget mit diesem Moment wieder eine Passivitat des Subjekts ein, die eigentumlich mit der in der Assimilation angelegten Aktivitat kollidiert. Aus einer groben Distanzperspektive konnte Piaget daher vorgehalten werden, er lasse im Laufe der Entwicklung zwar Irrtumer in der Erkenntnis der AuBenwelt zu, weil diese aufgrund des noch nicht entwickelten intellektuellen Niveaus unvermeidlich sind, rechnet dann aber doch damit, dass Subjekte gleichsam in die Wirklichkeit fmden und ihre Assimilationen an einer objektiven Wirklichkeit ausrichten. Die vor allem im Kindesalter zugestandene Aktivitat der (zuweilen phantasievoll-kreativen) Assimilation tritt im Laufe der Ontogenese zugunsten einer akkommodierenden Passivitat in den Hintergrund. Diese Befiirchtung gegeniiber Piagets Subjektverstandnis wird durch den Begriff der Aquilibration keineswegs zerstreut. Denn: Die postulierte Aquilibration der beiden Momente soil schlieBlich eine Erkenntnis der Wirklichkeit garantieren und muss daher die Seite der Akkommodation als Ubergreifen auf diese Wirklichkeit betonen. Um diese Kritik an Piaget auf die oben eingefuhrte Uberwindung des Dualismus zu beziehen, kann sie auch so formuliert werden, dass Piaget am Subjekt-Objekt-Dualismus mit einer Schlagseite zum Subjekt festhalt. Er anerkennt den Umstand, dass subjektive Kognitionen nicht zwangslaufig mit ihrer Umwelt deckungsgleich sind und Erkenntnis mehr ist als eine Abbildung der Wirklichkeit. Er sucht indessen weiter nach einer Erkenntnistheorie, die eine solche Abbildung wenigstens als approximativen Prozess erklarbar machen soil. Das Subjekt der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie gibt eine solche Suche durch die Abkehr von einem dualistischen Denken auf und begniigt sich mit einem Erkenntnisbegriff, der als subjektintemes Erleben ohne Referenz auf die AuBenwelt auskommt. Die Erkenntnisaktivitat des Subjekts wird auf diese Weise nicht durch eine residuale Restpassivitat gerahmt und sie wird nicht daraufhin ausgerichtet, ihre Konstruktionen der AuBenwelt wenigstens anzunahem. Sie wird gegeniiber Piaget radikalisiert. Der, so lieBe sich resiimieren, lehnt sich zu stark an das biologische Adaptionsmodell an. Dieses als austauschtheoretisch angelegte Modell muss aber notwendig mit einem Dualismus, also mit zwei Seiten, rechnen, zwischen denen ein Austausch stattfmden kann. Positionen Die Abgrenzungen sollten verdeutlichen, inwieweit das Subjektverstandnis der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie von gangigen Subjektvorstellungen dieses Diskurses abweicht. Entweder ist die Differenz in dem Begriffspaar empirisch vs. transzendental lokalisiert Oder, falls wie bei Mead dennoch mit transzendentalen Theorieelementen operiert wird, liegt die Differenz in der Fassung der subjektiven Transzendentalitat. Das den Unterschied codierende Begriffspaar ist dann inhaltlich vs. formal. Wenn nun aber solche Abgrenzungen vorgenommen werden, muss sich dies auf die Beschreibung von Sozialisati221
onsprozessen auswirken. Dazu sollen im Folgenden vier Positionen diskutiert werden, die skizzenhaft die Beschreibungsmuster der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie umreiBen. Eine erste Position, die sich unmittelbar an das Begriffspaar empirisch vs. transzendental anschlieBt ist, dass mit der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie zentral auf die Bedingungen oder Voraussetzungen der Sozialisation abgezieh wird. Dies heifit nicht, Sozialisationsverlaufe aus dem Blick zu verlieren, sondern diese Verlaufe perspektivisch an ihren subjektivistischen Ursprung zuriick zu binden. Wie genau die Beschreibung von Sozialisationsverlaufen damit variiert, lasst sich ohne empirisches Datenmaterial nur schwer antizipieren und illustrieren. Es konnen jedoch Vermutungen bzw. Hypothesen aufgestellt werden. Mit dem hier vorgelegtem Modell soil schlieBlich die Personlichkeitsgenese daraufhin untersucht werden, wie die Sozialisanden eine ,Wirklichkeit' konstruieren und wie sie ihre eigenen Konstrukte ordnen und bewerten. Es geht also nicht um Fragen des Typus: ,Wie reagiert jemand auf bestimmte vorher beobachtete Verhaltnisse?', ,Welche Verhaltnisse miissen als Sozialisationsagenturen angenommen werden, so dass von diesen Verhaltnissen Sozialisationsstimuli ausgehen?' oder ,Nach welchen Mustem interagieren die Sozialisanden?', sondern um Fragen des Typus: ,In einer auf welche Weise strukturierten Umwelt erleben sich die Sozialisanden?' ,Wie greifen die Sozialisanden auf bestimmte (konstruierte) Umweltverhaltnisse oder Ressourcen zu?', ,Welche (konstruierten) Umweltverhaltnisse haben eine besondere Bedeutung fur die Sozialisanden aus der Sicht der Sozialisanden und wie wird diese Bedeutung eingeschatzt bzw. begrundet?', ,Welche (konstruierten) Umweltverhaltnisse werden in bestimmte Relationen zu anderen Umweltverhaltnissen gesetzt und welche Folgerungen ziehen die Sozialisanden aus diesen Setzungen?', ,Mit welchen Zuschreibungen werden Mitmenschen erlebt?', ,In welches Verhaltnis werden (konstruierte) Mitmenschen untereinander und zu einem Selbst gesetzt?' Fur alle Fragen gilt dabei, dass diese ohne Vorannahmen iiber die Umwelt der Sozialisanden auskommen miissen, da diese, wie oben postuliert, eingeklammert, das heiBt aus dem Analysefokus entfemt wird. Sichtbar werden sollen durch dieses - noch weiter auszuarbeitende Programm - Sozialisationsumstande, die einzig auf subjektive Erkenntnisleistungen zuriickgehen; also solche Sozialisationsumstande, die aus der Beobachterperspektive moglicherweise nicht wahrgenommen werden, oder auch nicht wahrgenommen werden konnen. Die dahinter stehende These ist, dass die Personlichkeitsentwicklung nur zu einem Teil durch die (bedeutsamen) Institutionen der Gesellschaft gerahmt wird. Zum einem nicht unerheblichen Teil hingegen werden Entwicklungen durch subjektive Erlebnisse (als bewusstseinsinterne Erkenntnisprozesse) angeschoben, die die Entwicklung zu einem diskontinuierlichem Prozess werden lassen k5nnen, so dass Abweichungen von statistischen Wahrscheinlichkeiten erwartbar werden. Um dies an einem Beispiel zu konkretisieren: Jene von Bourdieu attestierten Wahrscheinlichkeiten, das Kinder aus bildungsfemen Milieus in aller Kegel bildungsfem bleiben, konnen durch unterschiedlichste Konstruktionen durchbrochen werden. Dieser Umstand wiederum kann aus den Umweltverhaltnissen nicht erklart werden, sind diese doch, wie Bourdieu immer wieder insistiert, gerade auf die Reproduktion von Milieugrenzen ausgerichtet. Erklarbar werden solche Abweichungen von Wahrscheinlichkeiten durch die Fokussierung der anderen Seite von Umweltverhaltnissen: dem Subjekt. Dieses muss sich - auch in einem sozialphilosophischen Sinne - gleichsam 222
iiber die Umwelt erheben. Und mit dem Theoriemodell eines erkenntniskritischen Subjektverstandnisses muss es sich nicht nur iiber die Umwelt erheben, es tut dies aufgrund der unterstellten aktiven Konstruktion von Wirklichkeit ohnehin. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Milieuverhaltnisse verlieren aufgrund der hier zugrunde gelegten Subjektivitat ihre subjektunabhangige Wirkmachtigkeit. Diese muss sich innerhalb subjektiver Konstruktionen wieder finden lassen, das heiBt Subjekte miissen Milieuverhaltnisse so erleben, dass sie ihnen eine Wirkmachtigkeit zukommen lassen. Verweigem sie (aus Stolz, Unwissenheit, politischer Absicht oder auch unbewusst) ein solches Erleben, verlieren Milieuverhaltnisse ihre Praponderanz (vgl. dazu Beer 2006). Eine zweite Position der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie kniipft daran an: Sozialisationsverlaufe sind keine linearen oder progressiven Entwicklungen. Dies nicht deshalb, weil Subjekte durch gesellschaftliche Institutionen oder personliche Veranderungen (Umzug, plotzliche Arbeitslosigkeit der Eltem, Schul- oder Berufswechsel, ...) zu Brtichen in ihrer Entwicklung animiert werden, oder weil Subjekte als aktive Gestalter ihrer Sozialisation eine Wahlfreiheit batten, die zu neuen Lebensentwiirfen und damit neuen Entwicklungsdynamiken fiihrten. Diskontinuitaten, die durch solche Anlasse verursacht werden, sollen keineswegs geleugnet werden, wobei auch hier zu untersuchen ware, wie die Subjekte solche Brtiche konstruieren, also welchen Stellenwert sie ihnen beimessen, welche Ursachen sie daflir verantwortlich machen und in welche Relationen sie diese Bruche stellen. Der Grund fur die Diskontinuitat liegt in dem Subjektverstandnis und der damit einhergehenden Suspendierung der AuBenwelt. Wurde der Erkenntnisprozess durch eine Abbildung der AuBenweh charakterisiert sein, wurde das Subjekt auf eine Objektpermanenz treffen, die in der Beschaffenheit der Erkenntnisobjekte residiert und die entsprechend stabile, permanente kognitive Strukturen nahe legt, um eine Ubereinstimmung des Gedachtem mit dem abgebildetem Gegenstand zu erreichen. Eine solche Stabilitat steHt sich aus der Sicht eines konstruktivistischen Subjektverstandnisses anders dar. Sie muss von den Subjekten als Konstruktion geleistet werden und unterliegt damit der Fragilitat von subjektiven Wirklichkeitsentwiirfen. Daraus folgt nicht, dass Subjekte im Laufe ihrer Entwicklung nicht zu stabilen Konstrukten gelangen und so die Selektion von Anschlussoperationen routinisieren. Dies heifit aber, dass die Subjekte nicht von einer stabilen AuBenwelt umgeben sind, auf die sie zu Zwecken der Routinebildung zuriickgreifen und die sie fiir ihre Routinebildung (wiederum auch in einem sozialphilosophischem Sinne) verantwortlich machen konnten. Korrelativ zu der Suspendierung einer perseverierenden AuBenwelt muss dann aber auch die je eigene Geschichte als eine objektive Abfolge von Ereignissen ,eingeklammert' werden. Subjekte konstruieren sich eine eigene Geschichte und diese Konstruktionen emeuern sich streng genommen mit jeder neuen Hinwendung auf diese Geschichte. Konkret bedeutet dies, dass die Subjekte bestimmte Ereignisse der Vergangenheit schlichtweg aus dem Blickfeld verlieren, ihnen einen anderen Stellenwert oder eine andere Bedeutung zuweisen oder diese in neue Relationen einfugen. Entscheidend fur die sozialisatorische Genese ist dabei, dass aus einer modifizierten Vergangenheit andere oder sogar neue Anschlussoperationen folgen konnen, die sich dann als Bruch oder Diskontinuitat beschreiben lassen. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings keine ausgemachte Sache, dass die Subjekte Diskontinuitaten auch als solche erleben. Sie konnen sich trotz zahlreicher Veranderungen eine lineare Geschichte ihrer 223
Genese erzahlen, weil sie etwa das Ideal der Authentizitat verfolgen. Sie konnen aber auch im Gegensatz dazu, etwa weil sie die Diskontinuitat zu einem Ideal erheben, ihre Geschichte als durchzogen mit Veranderungen schildem. In beiden Fallen wird die Vergangenheit damit zur zukunftsorientierten Gegenwart, weil sie fiir den weiteren Verlauf der Personlichkeitsentwicklung jeweils neue Ausgangssituationen erzeugt. Pointierter formuliert: Es gibt keine geronnene Geschichte des Subjekts, die als sedimentierte (und unbewusste) Vergangenheit die Zukunft programmiert (Bourdieu 1993: 105ff.). Es gibt immer nur eine Gegenwart, die sich eine Vergangenheit konstruiert und damit Selektionsmuster fiir die Zukunft bereitstellt. Diese wird dann ihrerseits zu einer Gegenwart, die sich eine neue Vergangenheit konstruiert und damit wieder neue Selektionsmuster generiert. Neu ist diese zweite Vergangenheit deswegen, weil die erste Vergangenheit Selektionen und damit Entwicklungen anschiebt. In diesem Sinne ist in den Sozialisationsprozess eine grundsatzliche Diskontinuitat eingelagert. Sie ist eine Folge der subjektiven Selbstreferenz. Die zweite Position der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie kann somit dahingehend zusammengefasst werden, dass Sozialisationsverlaufe nicht unter der Pramisse kumulativer (Kausal-)Reihen beschrieben werden. Linearitaten sind also entweder Konstruktionen, die sich Subjekte selbst erzahlen oder Konstruktionen, die ein Beobachter zweiter Ordnung an die Subjekte herantragt, um deren Genese in eine (kausale?) Ordnung zu bringen. Mit dieser Aufgabe einer Linearitat drangt sich nun freilich die Frage auf, ob damit nicht die oben thematisierte Verlaufsperspektive wieder aufgehoben wird. Wenn es nur nicht-kumulative Gegenwarten gibt, gibt es dann iiberhaupt Entwicklung? Zunachst gilt, dass die Verlaufsperspektive insbesondere auf den Umstand aufmerksam machen soil, dass im Prozess der Sozialisation neue Kompetenzen erworben werden (konnen), die dann eine Verarbeitung immer komplexerer ,Wirklichkeiten' ermoglichen. Entwicklung in diesem Sinne bezieht sich also nur auf die formale Seite der Sozialisation und nicht auf eine inhaltliche, um die es bei der Frage nach der Kontinuitat vornehmlich geht. Hinzu kommt, dass die erkenntniskritische Sozialisationstheorie als theoretisches Beschreibungsmodell verstanden wird. Die Aufgabe der Linearitat siedelt demzufolge auf der Theorieebene und fordert eine Beschreibung von Sozialisationsverlaufen heraus, die explizit auf Diskontinuitat angelegt ist. Dies heiBt nicht, dass Sozialisationsverlaufe nur daraufhin untersucht werden sollen, wo sich Diskontinuitaten zeigen und wie sie sich auBem. Subjekte konnen sich, und tun dies aus pragmatischen Grlinden auch, eine eigene lineare Geschichte erzahlen und dabei kumulative Prozesse unterstellen. Was mit der Aufgabe einer linearen Beobachterperspektive erreicht wird, ist - dem generellen Verstandnis der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie entsprechend - die aktiv gestaltende Hoheit der Subjekte iiber ihre Sozialisation. Diesen obliegt, ihre Sozialisationsgeschichte unter eine ordnende Zeitund Kausalstruktur zu bringen, um sich selbst in diese Struktur einzugliedem und sich selbst aus dieser Struktur heraus zu erklaren bzw. sich als Personen mit genau dieser und keiner anderen Geschichte zu identifizieren. Mit der Differenz von theoretisch koinzidierter Diskontinuitat und empirischer Kontinuitat gerat also die Verlaufsperspektive in verscharfter Form in den Analysefokus. Sie ist nicht nur wie bei Piaget ein sukzessiver Prozess der Ausdifferenzierung von kognitiven Schemata mit dem Ergebnis einer gesteigerten Erkenntnisfahigkeit im Sinne kognitiver Kompetenz, sondem daruber hinaus eine sich standig
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emeuemde Perspektive des Subjekts auf die eigene Genesis mit daraus resultierenden neuen Perspektiven auf die weitere Entwicklung. Eine dritte Position der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie ergibt sich aus der Abgrenzung zu George Herbert Mead. Das Subjekt der Erkenntniskritik, so wurde gesagt, ist keine inhaltlich-anthropologische Wesenseinheit. Es hat keine Bedtirfnisse, Neigungen oder Triebe. Kamen ihm derartige Attribute zu, konnte es als vorsoziales Subjekt instruiert werden. Aus der Sicht einer liberalistischen Theorie hatte ein solches Vorgehen zweifelsfrei den Vorteil eine Instanz zu haben, die durch die Anforderungen, Regelungen und Zumutungen der Gesellschaft gegangelt wird, so dass die Begrundung einer Trennung von Gesellschaft und Privatsphare einfach zu haben ware. Im Fall des erkenntniskritischen Subjekts lasst sich indessen nicht von einem vorsozialen Subjekt reden. Es ist eine inhaltlich leere Potenz zur Wirklichkeitskonstruktion und sobald in dieser Wirklichkeit andere Subjekte vorkommen, die sich dadurch auszeichnen, dass ihnen die gleichen Eigenschaften untersteUt werden, die einem selber auch zukommen, ist das Subjekt sozial ausgerichtet und damit eben: ein ,soziales' Subjekt. Es bringt dadurch aber keine naturlichen oder kreatiirlichen Eigenschaften mit, die es mit seinen in die Umwelt projizierten Wirklichkeitskonstruktionen und mit den konstruierten Mitmenschen in eine Balance bringen muss. Diese Notwendigkeit entsteht erst, wenn dass Subjekt eigene Bediirfiiisse und Neigungen als ihm selbst zugehorige konstruiert bzw. entwickelt hat. Der Konflikt zwischen individuellem Bedlirfiiis und gesellschaftlichen Anforderungen ist damit ein Konflikt zwischen subjektinternen Konstruktionen, die untereinander nicht harmonisiert werden konnen. Sozialisationsverlaufe sind, anders formuliert, kein Prozess der Sublimierung. Sie sind Prozesse der Erkenntnisorganisation. Diese wird zwar als transzendentale Aktivitat gedacht, die jedoch kein inhaltlich anthropologisches Moment bezeichnet. Dass die Subjekte sich selbst als aktive Gestalter erleben oder entwerfen, ist schlieBlich keine transzendentale Notigung. Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie behauptet, dass Subjekte aktiv die Umwelt konstruieren, ob sie dies nun wollen und bewusst tun, oder nicht. Die subjektive Erkenntnisaktivitat zieht sich in eine Latenz zurlick, die zur Aktualitat erst wird, wenn konkrete Subjekte sich selbst eine Aktivitat zuschreiben. Als Latenz kann sie dem Sozialisationsprozess aber nicht als eine inhaltliche Voraussetzung voran gestellt werden. Eine vierte Position ist eng damit verkniipft: Es geht der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie um Erkenntnis, nicht um Handlung. Nun soil nicht geleugnet werden, dass Menschen handeln. Mit dem hier zurunde gelegten Sozialisationsverstandnis werden Handlungen jedoch aus dem primaren Blickfeld ausgegrenzt und durch Erkenntnisoperationen ersetzt. Sie spielen eine Rolle nicht als soziale oder verobjektivierte Zustande in einer beobachterunabhangigen Welt, sondem als speziflsche Konstruktionen der Subjekte, die mit diesen Konstruktionen Vorgange bezeichnen, die sie selbst oder andere bewirkt haben. Interessant ist dabei nicht so sehr, wie sie solche Handlungen auf die Umweltgestaltung auswirken oder welche Handlungsketten sich ergeben konnen, sondem wiederum, wie dass Subjekt Handlungen wahmimmt, einordnet, bewertet, in welche Relationen es Handlungen stellt, kurz: wie das Subjekt Handlungen konstruiert. Begriindet wird diese lexikalische Ordnung von Erkennen und Handeln dadurch, dass das Subjekt als Erkenntnissubjekt eingeftihrt wird und damit auch Handlungen erst Handlungen werden, wenn sie als solche wahrgenommen und das heiBt als solche erlebt werden. Die 225
logische Stellung des Subjekts vor seiner Einbindung in die soziale Umwelt wird so betont. SchlieBlich siedelt das Erkenntnissubjekt auf einer transzendentalen Theorieebene und verfugt ausschliefilich iiber eine aktive Potenz der Wirklichkeitskonstruktion. Handlungen sind demgegeniiber Zustandsveranderungen in der ,Wirklichkeit', so dass das Subjekt erst eine ,Wirklichkeit' konstruieren (bzw. erkennen) muss, bevor es Handlungen in dieser ,Wirklichkeit' lokalisieren kann. Handlungen haben dann aber nicht den Status von fremdvermittelten Einflussen, und dies auch dann nicht, wenn Handlungen auf das Subjekt gerichtet sind. Handlungen miissen nicht nur ,produktiv verarbeitet' (Hurrelmann), sie miissen ,erfunden' werden. Die im Intersubjektivismus bedeutsame Sprach- und Handlungskompetenz kann somit auf eine ihr vorausgehende Bedingung zuriickgefiihrt werden. Wenn Subjekte in ihrer ,Wirklichkeit' Handlungen konstruieren, liegt es nahe, dass sie sich auf diese Konstrukte einstellen. Die Bedingung flir eine entsprechende (Sprach- und Handlungs-)Kompetenz liegt dann in der aktiven Erkenntnisorganisation. Wird diese wie im vorliegenden Fall als transzendentale Bedingung gesetzt, ist die Sprach- und Handlungskompetenz keine Leistung des Subjekts mehr, die diesem nachtraglich zugeschrieben werden muss, um iiberhaupt das dyadische Spiel eines intersubjektiven Austausches in Gang zu bringen, sondem eine Entwicklungsstufe des Subjekts, die dieses selbst erreichen muss. Sie wird nicht ,von auBen' als Bedingung der Moglichkeit unterstellt, sondem dem sozialisatorischen Prozess untergeordnet. Und das heiBt auch: Das Subjekt kann diese Entwicklungsstufe verfehlen oder nur eingeschrankt zur Geltung bringen. Wird von einem Subjekt erst ausgegangen, wenn es intersubjektiv verwurzelt ist, bedeutet eine fehlende Sprach- und Handlungskompetenz streng genommen, dass das Subjekt eigentlich keines ist, weil es am intersubjektiven Austausch nicht kompetent teilnehmen kann. Und ohne intersubjektiven Austausch fmdet im Rahmen des Intersubjektivitatsparadigmas streng genommen keine Sozialisation statt. Mit dem Erkenntnissubjekt wird dagegen am Subjektstatus nicht geriittelt, so dass eine Sozialisation auch dann stattfinden kann, wenn es zur Ausbildung einer (hinreichenden) Sprach- und Handlungskompetenz nicht kommen sollte.^^ Welche Konsequenzen sind nun aus diesen Position zu ziehen bzw. was bedeuten sie flir die Sozialisationstheorie? Generell wird mit dem Riickgriff auf die Erkenntnissubjektivitat intendiert, den Prozess der Sozialisation breiter auszulegen. Die Ausfiihrungen zur Sprachund Handlungskompetenz etwa zeigten, dass im Intersubjektivitatsparadigma, insbesondere in der Variante von Habermas, Sozialisation um soziale Austauschprozesse zentriert wird. Mit der erkenntniskritischen Grundlegung wird dies nicht aufgegeben, aber um weitere Prozesse qualitativ und quantitativ erganzt. Quantitativ erganzt wird der Blick auf den Sozialisationsprozess dadurch, dass mit dem Erkenntnissubjekt grundsatzlich die ganze ,Wirklichkeit' als sozialisatorische Agentur moglich wird. Erkenntnis erstreckt sich schliefilich nicht nur auf andere Subjekte, sondem auch auf artifizielle und natiirliche Gegenstande. Im Intersubjektivitatsparadigma kommen diese nur auf der Ebene sprachlicher Vermittlung vor und werden so gegeniiber ihrer primaren Erkenntnis immer schon durch Begriffe zugeriistet. Mit diesem Hinweis soil nicht im Sinne Adomos (1998e) ein originarer Erkenntnismodus gegen die Zumutungen der Gesellschaft gesichert werden, um dann eine
27 Wobei, wie im Kapitel iiber Intersubjektivitat ausgefiihrt, den Sozialisanden ohne eine intersubjektive Bezugnahme entscheidende Fremdreferenzen fehlen, so dass die Entfaltung der Personlichkeit behindert wird.
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Utopie der ,Erkenntnismimesis' zu formulieren. Erkenntnisse haben jedocli einen Bedeutungstiberschuss, der in sprachliclier Vermittlung keineswegs aufgehen muss. Mit der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie wird dieser Bedeutungsiiberschuss als soziaiisatorische Instanz berucksichtigt, ohne ihn gegen die intersubjektive Situation ausspielen zu miissen. Wird diese als subjektive Konstruktionen gehandelt, hat sie zwar den gleichen Erkenntnisrang wie Gegenstandskonstruktionen, sie ist damit aber nicht desavouiert. Kurz: Mit der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie wird aufgrund ihres Riickzuges in die Formalitat ein groBeres Spektrum ,empirischer' Sozialisationsinstanzen fokussiert. Die qualitative Erganzung bezieht sich auf die subjektive Selbstreferenz. Das Subjekt als Konstrukteur seiner Umwelt zu begreifen heifit, das Subjekt nicht in eine vorgegebene Urn welt zu stellen, sondem andersherum, die Umwelt aus dem Subjekt abzuleiten. Dann aber miissen die Relationen und Verbindungen, die das Subjekt konstruiert, in die Beschreibung von Sozialisationsverlaufen als zentrale BezugsgroBe integriert werden. Das bedeutet zum einen, jenen Bedeutungsuberschuss von Erkenntnissen emst zu nehmen. Dies bedeutet zum anderen, Phanomene wie Intersubjektivitat oder abstrakte Gebilde (Nationen, Menschenechte, ...) auf der gleichen Ebene zu behandeln und nicht, wie bei Bronnfenbrenner (1976), in ein aufgeschichtetes Mehrebenenmodell zu bringen. Subjekte konnen solche Ebenen konstruieren, indem sie in Anlehnung an die Mathematik Klassen oder Schnittmengen bilden. Welche Hierarchien sie dabei in ihre Konstruktionen bringen, ist aus Sicht der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie jedoch eine offene Frage. Kurz: Die qualitative Erganzung zeichnet sich dadurch aus, dass sie subjektintem mit verschachtelten und relationalen Konstrukten rechnet, die weit iiber beobachtete Verschachtelungen und Relationen der ,Wirklichkeit' hinausgehen konnen oder sich sogar von diesen massiv unterscheiden. Zu untersuchen ist daher das subjektive Netz von kognitiven Beziigen und den Kriterien, nach denen solche Bezlige gestaltet und geordnet werden.^^ Die je subjektive Entwicklungsdynamik, die mit der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie unterstellt wird, folgt dann daraus, dass diese subjektiven Beziige und Kriterien zwischen den Subjekten differieren. Abweichungen von statischen Wahrscheinlichkeiten sind daher kein Ausdruck von mehrdeutigen Impulsen seitens objektiver Institutionen, die die Subjekte notigen eigene Verarbeitungen dieser Impulse vorzunehmen, sondern iiber die unterstellte Erkenntnissubjektivitat prinzipiell in die Entwicklung implementiert. Die quantitative und qualitative Erganzung stehen in einem Wechselverhaltnis. Quantitativ wird ein groBerer Rahmen sozialisatorischer Agenturen angenommen, der qualitativ von einem breiten Netz subjektintemer Erlebnisse prozessiert werden muss. Und weil subjektinterne Erlebnisse einen breiten Horizont moglicher Erkenntnisprozesse eroffnen, gelangt ein groBerer Rahmen sozialisatorischer Agenturen in das Blickfeld der Analyse. Die Breite sozialisatorischer Agenturen, die mit der erkenntniskritischen Grundlegung anvisiert wird, ist also ein Ergebnis der logischen Stellung des Subjekts vor seiner Einbindung in die Umwelt, wie Geulen (1989: 16) sie eingefordert hatte. Das Subjekt wird, metaphorisch ausgedriickt, in eine groBere Distanz zur Umwelt gebracht, so dass es einen groBeren Ausschnitt dieser Umwelt iiberblicken kann. Und ahnlich einem Beobachter, der einen Gegenstand nur aus weiter Feme erblickt und dann die undeutlichen Sinneseindrucke zu 28 Zu diesem Zweck kann unter anderem auf die Hirnforschung zuruckgegriffen werden.
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einem Gesamtbild zusammenfugen muss, ist auch das distanzierte Subjekt genotigt, aktiv eine Erkenntnis der verschwommen wahrgenommenen Umwelt zu gestalten. Diese Aktivitat der Subjekte oder Sozialisanden wurde bereits von diversen Autoren des Sozialisationsdiskurses postuliert. Mit der erkenntniskritischen Grundlegung wird diese Aktivitat auf ein stabiles Begriindungsfundament gestellt. Wahrend ihr Status im Intersubjektivitatsparadigma nicht hinreichend geklart werden kann (siehe Kap. 3), kann sie aus der Erkenntnisorganisation als notwendige Bedingung fiir Erkenntnis abgeleitet werden. Sie hat allerdings, als aus dem allgemeinen Moment der Erkenntnis abgeleitet, einen selbstreflexiven Bezug auf die Theorie. Eine weitere Konsequenz ftir die Sozialisationstheorie ergibt sich namlich aus der doppelten Bedeutung des Terminus erkenntniskritisch, Dieser steht hier einerseits flir einen entsprechenden Subjektbegriff Er impliziert aber andererseits eine Skepsis gegeniiber der Erkennbarkeit der AuBenwelt, die damit in die Sozialisationstheorie herein getragen wird. Zwar hatte bereits Hurrelmann (2002: 155) eingeraumt, dass Sozialisation kein „dinghaft greifbarer Untersuchungsgegenstand'' ist. Mit der hier zugrunde gelegten Erkenntniskritik wird dies bestatigt und scharfer gefasst, weil sich die Skepsis nicht nur auf die Sozialisation selbst bezieht, sondem sich auf die Umwelt der Sozialisanden ausdehnt. Gesetzt ist einzig das transzendentale Subjekt. Sollen daher mit dem Analysemodell der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie Sozialisationsverlaufe untersucht werden, muss der Forscher oder die Forscherin eine ,Zuruckhaltung' iiben, die sich auf (methodisch kontrollierte oder vorwissenschaftliche) Beobachtungen bezuglich der Umwelt der Sozialisanden bezieht. Diese diirfen nicht als vorgegebene Umstande behandelt werden. Im Sinne Husserls sind sie eingeklammert und erfahren eine Thematisierung erst, wenn die Sozialisanden diese als Umwelten konstruiert haben, das heifit wenn sie als Bewusstseinsinterna erlebt werden. Verortung der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie Fragestellungen, die sich auf den Zusammenhang von auBeren Umstanden (Ressourcen, familiare Kommunikationsstile, ...) und subjektiver Entwicklung beziehen, werden mit diesem Zuschnitt der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie aus dem Analysefokus ausgeklammert. Im Sinne der phanomenologischen ,Epoche' bedeutet diese Ausklammerung jedoch nicht, solche Fragestellungen als obsolet zu erklaren. Im Kontext der Sozialisationstheorie und -forschung beansprucht die erkenntniskritische Sozialisationstheorie keine Substituierung anderer Zugange, sondem den Status eines Korrelats. Sie soil den Prozess der Personlichkeitsentwicklung ,von unten' betrachten, ohne jene intersubjektivistischen bzw. objektivistischen Betrachtungen ,von oben' aufzuheben. Und sie kann diese Betrachtungen nicht aufheben, weil die Suspendierung der AuBenwelt einen methodischen und keinen ontologischen Charakter hat. Fragestellungen also, die aus Sozialisationsforschungen mit einer objektivistischen Heuristik generiert werden, konnen und sollen von der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie aufgenommen und durch die Konzentration auf das Subjekt komplementiert werden, bzw. umgekehrt. Fragestellungen, die sich im Rahmen einer durch die erkenntniskritischen Sozialisationstheorie angeleiteten Forschung herauskristallisieren, konnen und sollen mit einem objektivistischen Zugang korreliert werden. Erst durch diese Kombination kann eruiert werden, inwieweit subjektive Konstruktionen in 228
einem ,Passungsverhaltnis' zu auBeren Umstanden stehen und inwieweit diese beiden Dimensionen untereinander differieren und schlieBlich: ob die Passung oder Differenz eine Bedeutung flir die Personlichkeitsentwicklung hat. Wie gelegentlich bereits angedeutet, reiht sich die erkenntniskritische Sozialisationstheorie aber nicht nur in den tradierten Diskurs iiber Sozialisation ein. Angestrebt werden soil ein interdisziplinares Theorie- und Empiriedesign, das sich aus verschiedenen Diskursen wie der soziologischen Gesellschaftstheorie, der philosophischen Erkenntnistheorie, der praktischen Philosophic und der Himforschung zusammensetzt. Wenngleich dies ohnehin flir samtliche wissenschaftliche Theorien und Forschungen gilt, ist die erkenntniskritische Sozialisationstheorie damit ein grundsatzlich unabgeschlossenes Projekt. Zum einen miissen neue theoretische Uberlegungen bezliglich des Subjekts reflektiert werden. Dies betrifft sowohl neue Erkenntnisse seitens der Himforschung als auch Entwicklungen in der philosophischen Subjekttheorie. Weiterhin mussen Debatten innerhalb der praktischen Philosophic beriicksichtigt werden, um die normative Grundlegung und Ausrichtung der erkenntniskritischen Sozialisationstheorie weitertreiben zu konnen. Und schlieBlich unterliegt die erkenntniskritische Sozialisationstheorie einem immanenten Entwicklungszirkel, der sich aus dem Zusammenspiel von Theorie und Empiric ergibt. Da die erkenntniskritische Sozialisationstheorie nicht als Selbstzweck gedacht ist, sondem als heuristisches Modell zur Anleitung empirischer Forschung, haben mogliche Forschungsergebnisse einen rtickwirkenden Einfluss auf die Theorie. Insbesondere die hier nur spekulativ antizipierten Sinnebenen (siehe S. 206 ff.) mussen sich einer empirischen Forschung stellen, um weitere Differenzierungsebenen zu eruieren, oder um hier antizipierte Ebenen als irrelevant zu disqualifizieren. Mit dem vorgestellten Bemlihen um eine Sozialisationstheorie, die an subjektphilosophische Diskurse anschlieBt, ist also nur ein erster Schritt erreicht, der die grundlegenden theoretischen Pramissen ausweist, der aber in seinem Zuschnitt auf weitere Forschungen und Uberlegungen verweist und diese explizit herausfordert.
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9. Schluss: Die erkenntniskritische Sozialisationstheorie - ein offenes Projekt
Mit der vorliegenden Arbeit sollten die zwei aufeinander zu beziehenden Theoriestrange der Sozialisationstheorie und der Erkenntnistheorie vergegenwartigt werden, um so erste Vermittlungsschritte in die Richtung einer erkenntniskritischen Sozialisationstheorie einzuleiten. Im ersten Teil wurde zu diesem Zweck die wesentliche Ausrichtung der Sozialisationstheorie und -forschung sowohl nach ihrer inhaltlichen Seite als auch nach ihrer methodischen Seite beleuchtet. Deutlich wurde dabei, dass eine inhaltliche Ausgestaltung der Sozialisationstheorie nur schwer auf einen Nenner zu bringen ist. Zwar liegt den unterschiedlichen Theorien und Forschungen die Pramisse zugrunde, dass die Subjekte sich in Auseinandersetzung mit ihrer Umweh entwickeln und dabei gesellschaftliche Muster des Denkens und Handelns iibernehmen, die zu einer gesellschaftlichen Handlungsfahigkeit flihren bzw. diese konstituieren. Daruber hinaus lassen sich jedoch mit der Sozialisationsforschung weitergehende Fragestellungen verbinden, die nicht zwangslaufig aus der zugrunde liegenden Pramisse ableitbar sind. Die Frage etwa nach dem Emanzipationspotential (Habermas) fuhrt politisch-normative und gesellschaftstheoretische Uberlegungen zusammen, um dann unter sozialisatorischen Gesichtspunkten zu eruieren, welche Bedingungen dem Erwerb emanzipatorischer Potentiate forderlich bzw. hinderlich sind. Deutlich wurde aber auch: Die Eigenaktivitat des Subjekts wird in jUngerer Zeit zunehmend gesehen und entsprechend als GroBe im Sozialisationsprozess anerkannt. Diese Anerkennung kollidiert jedoch, so die ,Kritik der sozialisierten Vemunft' mit der methodischen Grundausrichtung der Sozialisationstheorie. Diese operiert vomehmlich mit einem intersubjektivistischen Paradigma, das freilich die grundlegende Pramisse der Sozialisationstheorie auf den Begriff bringt, zugleich aber eine widerspruchsfreie Bestimmung des Subjektiven verhindert. Das Intersubjektivitatsparadigma entspricht methodisch dem zentralen Ansinnen der Sozialisationstheorie, die Entwicklung des Einzelnen vor dem Hintergrund sozialer bzw. gesellschaftlicher Bedingungen zu denken und dies aus dem Blickwinkel der Enkulturation. Uberspitzt formuliert fiillt das Intersubjektivitatsparadigma methodisch die Lticke, die die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften hinterlassen hatte und die den Erklarungsbedarf eingefordert hatte, warum sich Menschen trotz ihrer Freisetzung aus feudalen Strukturen dennoch (mehr oder weniger) zwanglos in bestehende soziale Verhaltnisse einpassen. Diese Frage hatte Durkheim der Soziologie im Allgemeinen und der Sozialisationsforschung im Besonderen ins Stammbuch geschrieben, und dabei ein Vorgehen gewahlt, das grundsatzlich die Perspektive der Gesellschaft einnimmt. Sein ordnungspolitisches Denken ist jedoch keineswegs die unabdingbare Folge eines Intersubjektivitatsparadigmas, das zudem erst mit Mead pointiert entwickelt wird. Wie sich an Habermas oder Hurrelmann demonstrieren lasst, ist dieses Paradigma durchaus in der Lage, liberale Vorstellungen der Sozialisation zu postulieren. Vor dem Hintergrund der Strategie, das Subjekt als immer schon eingebunden in die soziale und materielle Umwelt zu sehen, haftet diesem 231
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Postulat jedoch die Irritation an, dem Subjekt eigentiimlich auBerlich zu bleiben. Dies nicht, weil auf diese Weise moglicherweise nur eine eingeschrankte Form der Liberalitat erreicht wird, und hier weitergehende liberalistische Motive verfoigt werden sollen. Dies deshalb, weil nicht eindeutig zu bestimmen ist, wie sich denn eine Emanzipation von auBeren Sozialisationsbedingungen, die empirisch schlieBlich zu beobachten ist, theoretisch soil konzipieren lassen, wenn die Sozialisationsbedingungen den Prozess der Ontogenese derart rahmen, dass die Sozialisanden mit ihnen verwoben sind. Mit seinem Modell des ,produktiv realitatsverarbeitenden Subjekts' treibt Hurrelmann sein Sozialisationsverstandnis zwar konsequent in die Richtung eines aktiv gedachten Subjekts. Das Hineinstellen in die Umwelt produziert jedoch eine begriffliche Unscharfe, die eine hinreichend eindeutige Bestimmung des subjektiven Aktivitatsanteils erschwert. Es wirft die Anschlussfrage auf, welche Sozialisationsergebnisse auBeren Verhaltnissen angelastet werden konnen und welche Ergebnisse tatsachlich subjektiven Ursprungs sind und wie sich das Verhaltnis beider Entwicklungsquellen zueinander verhalt. Dies nicht in einem empirischen Sinne, sondem auf der Ebene der Theoriebildung. Dabei bleibt die Skepsis angebracht, dass aus unklaren Begriffen moglicherweise keine klare Operationalisierung fiir die empirische Forschung ableitbar ist. Um nun einen Subjektbegriff zu fmden, der dieser Ungenauigkeit entgeht, wurde der Vorschlag gemacht, sich der philosophischen Erkenntnistheorie zu bedienen. Diese bietet den Vorteil, das Subjekt vor seiner sozialen und materiellen Einbindung zu bestimmen, Gebrochen wird auf diese Weise mit einem Zugriff auf das Sozialisationsgeschehen, das sich um jene Lticke bemiiht, die modeme Gesellschaften aufgrund ihrer Freisetzungsprozesse produzieren. Methodisch wird mit einem erkenntniskritischen Subjektbegriff kein Pendant zu der Frage hergestellt, wie sich die Einbindung des Einzelnen in die soziale Wirklichkeit gestaltet bzw. gestalten lasst. Unter der Agide des Intersubjektivismus ist die Beantwortung dieser Frage gleichsam a priori geklart: Weil das Subjekt ohnehin nur Subjekt uber seine soziale Anbindung ist. Fiir das erkenntniskritische Subjekt, wie es hier vorgestellt wurde, wird die Enkulturation zu einem fragilen Projekt, weil die soziale Wirklichkeit erst im Subjekt konstruiert werden muss, und weil unterschiedliche Subjekte unterschiedliche Wirklichkeiten konstruieren, so dass es nicht die eine ,Wirklichkeit' gibt, auf die sich die Subjekte beziehen konnen und von der aus entschieden werden kann, wer einen gelungenen Bezug erreicht und wer nicht. Dieses Brechen mit einem auf die Gesellschaft bezogenem Sozialisationsverstandnis bedeutet nun aber nicht, die Sozialisationstheorie in toto der philosophischen Erkenntnistheorie zu opfern und sich in die transzendentale Festung eines in sich kreisenden Subjekts zuriickzuziehen. Das Untemehmen, zwei differente Diskurse aufeinander zu beziehen, hat zur Folge, dass beide Diskurse zuriickstecken miissen. Fur die Sozialisationstheorie heiBt das: Nicht die Einbindung in die Umwelt ist der entscheidende Motor fiir die Sozialisation, sondem ein aktives und konstruierendes Subjekt. Fur die Erkenntnistheorie heiBt das: Das transzendentale Subjekt kann nicht, wie dies zuweilen suggeriert wird, ontologisiert werden, sondem muss auf den Status einer Heuristik zuriickgezogen werden, um im Rahmen einer empirischen Sozialisationsforschung Anwendung fmden zu konnen. Das transzendentale Subjekt muss in einem doppelten Sinne sozialisiert werden. Es muss fiir die Praxis der Forschung als empirisch-soziales Subjekt gedacht werden konnen und es muss auf soziale Verhaltnisse beziehbar sein. Dies nicht als Einbindungsverhaltnis, sondem als mogliche 232
Fremdreferenz. Es muss aus seinem apriorischen Selbstbezug gelost werden, um als Konstitutionsmoment von sozialer Wirklichkeit gelten zu konnen. Die flir dieses Vorhaben notwendigen Theorieschritte wurden dabei so angelegt, dass ein Subjektbegriff gefunden werden kann, der sowohl die aus erkenntniskritischen Uberlegungen resultierende Stellung des Subjektiven aufnimmt, und sich zugleich an einer empirischen Verwendbarkeit ausrichtet. Das Ergebnis ist eine in die theoretisch-abstrakte Heuristik zurijckgezogene Subjektivitat, die mit aktiv konstruierenden Subjekten rechnet, diese jedoch nicht als ,Wahrheit' im Sinne einer ontologischen Subjekttheorie oder Anthropologic bewertet. Wie sich diese Heuristik in Bezug auf ein verandertes Bild der Sozialisation auswirkt, konnte hier nur spekulativ angedeutet werden. Die Frage hingegen wie sich die abstrakten Begrifflichkeiten in ein konkretes Forschungsdesign uberflihren lassen, ist hier bewusst nicht naher thematisiert worden. Dies deshalb, weil die Formulierung einer allgemeinen Ubersetzungsformel von abstrakter Theorie in empirische Forschung der Vielfalt unterschiedlicher Sozialisationsforschungen vermutlich nicht gerecht wiirde. Die Operationalisierung des konstruierenden Subjekts in der empirischen Forschung soil vielmehr eine Aufgabe sein, die im Zusammenhang mit konkreten Forschungsfragen gelost und auf diese bezogen werden soil. Nicht zuletzt aufgrund dieser Uberlegungen bedarf die erkenntniskritische Sozialisationstheorie der Weiterentwicklung durch empirische Forschungen, flir die hier die ersten theoretischen Grundlagen auf den Weg gebracht wurden. Sie bleibt damit ein sowohl theoretisch wie empirisch offenes Projekt.
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