Katja Jung Volk – Staat – (Welt-)Gesellschaft
Katja Jung
Volk – Staat – (Welt-)Gesellschaft Zur Konstruktion und Rek...
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Katja Jung Volk – Staat – (Welt-)Gesellschaft
Katja Jung
Volk – Staat – (Welt-)Gesellschaft Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Kollektivität in einer globalisierten Welt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17063-3
Danksagung Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine überarbeitete Version der Dissertation, die im Oktober 2008 im Rahmen des Promotionsverfahrens an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht wurde. Im Rückblick auf die Jahre des Verfassens der Arbeit erweist sich die Selbstzurechnung des Geleisteten als markanter Punkt in der bildungsbürgerlichen Biographie. Den es allerdings ebenso augenblicklich wieder einzuschränken gilt. Denn eine derartige Arbeit kann eigentlich nicht allein bewältigt werden. Sie ist auf Unterstützung angewiesen und so ist hier der Ort (auch dies fügt sich einer bildungsbürgerlichen Praxis, die ihre Emotionen auf die Widmung reduziert, um weiterhin allein wissenschaftliche Neutralität zu ihrem Recht kommen zu lassen), an dem ich mich für die vielseitige und vielfältige Unterstützung der vergangenen Jahre bedanken möchte. Mein Dank gilt zunächst und zuvorderst Professor Armin Nassehi, dem an seinem Lehrstuhl zweierlei gelingt: Eine Atmosphäre der Wissenschaftlichkeit herzustellen, die sich nie aufdrängt, aber immer zur Verfügung steht, und ein enormes Vertrauen in die noch zu entwickelnden wissenschaftlichen Fähigkeiten seines Gegenübers, in diesem Fall die meinen, zu setzen. Ebenfalls bedanken möchte ich mich beim Colloquium Sociologicum für anregende Diskussionen verschiedener Stadien meiner Arbeit. Meinem Vater danke ich für sehr vieles, von dem hier nur wenig genannt werden kann: Für die finanzielle Unterstützung, ohne die alles nicht möglich gewesen wäre, für das unaufgeregte Verstehen alltäglicher Sorgen, für Korrekturarbeiten und besonders für das unerschütterliche Interesse eines Naturwissenschaftlers an der Undurchsichtigkeit und Andersartigkeit soziologischer Fragestellungen. Bei Christoph, Christiane und Luisa für eine Familie, in der nichts erklärt werden muss und doch alles besprochen werden kann. Bei Barbara und Wolfgang für jede Menge Theater; bei Hannelore, Erich und Klaus für eine zweite Familie; bei Susanne und Klara für eine Heimat in der Fremde; bei Marion, Florian und Marc für „global/local sers“; bei Manola für ein Dach über dem Kopf, als es gebraucht wurde; bei Christine und Alexander für das promotionsbegleitende Kulturprogramm; bei Jutta, Andrea und Ingo für ein Leben jenseits des Schreibtischs; bei Julia und Judith für alles Mögliche; bei Michael für lebensrettende Dienste als IT-Helpdesk und schließlich bei Peter, ganz grundsätzlich, für die „schiefe“ sozialwissenschaftliche Bahn, für die er – nachdrücklich wie immer – jegliche Verantwortung abstreiten wird. Diese Arbeit ist meiner Mutter gewidmet. Katja Jung München, im Oktober 2009
Inhalt
1
Einleitung ............................................................................................... 13
2
Zur Genese des modernen Volksbegriffs .............................................. 29 2.1
Begriffsgeschichtliche Herleitung: Der mittelalterliche Volksbegriff .. 29
2.2
Theoriengeschichtliche Herleitung .......................................................... 34 2.2.1 Der Volksbegriff in der frühen Neuzeit .................................... 35 2.2.1.1 Niccolò Machiavelli: Staatsräson und das Politische als Bereich eigener Logik ........................................... 35 2.2.1.2 Jean Bodin: Staat, Souveränität und Recht .............. 43 2.2.2 Der Volksbegriff in der Vertragstheorie .................................... 50 2.2.2.1 Thomas Hobbes: Der Staat als Rechtsstaat ............. 50 2.2.2.2 John Locke: Der Schutz vorstaatlicher Eigentumsrechte ......................................................... 56 2.2.3 Der moderne Volksbegriff ........................................................... 61 2.2.3.1 Jean-Jacques Rousseau: Gemeinwille und Volkssouveränität ........................................................ 61 2.2.3.2 Emmanuel Sièyes: Nation und Verfassung ............. 66
Exkurs I: Nation – Bedeutungskontexte einer Begrifflichkeit ......................... 72 2.3
3
Fazit: Das Volk als Handlungssubjekt seiner selbst ............................... 76
Das Volk in Zeiten der Globalisierung .................................................. 81 Exkurs II: Die Singularität der Weltgesellschaft ................................................ 82 3.1
Die Hauptachsen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung in der Globalisierung ............................................................................................. 85 3.1.1 Der epochale Wandel der Globalisierung .................................. 85 3.1.2 Der autonome, irreversible Status der Globalisierung ............. 87
8
Inhalt
3.1.3 3.1.4 3.2
4
Die soziostrukturelle (Selbst-)Verunsicherung der Globalisierung ............................................................................... 88 Die epistemologische (Selbst-)Verunsicherung der Globalisierung ............................................................................... 89
Globalisierung und Demokratie ............................................................... 3.2.1 Die Herausforderung des demokratischen Selbstverständnisses der Moderne .............................................. 3.2.1.1 Von der Handlungseinheit des Volks zur Pluralisierung der Akteure ......................................... 3.2.1.2 Von rechtlicher Selbstvermittlung zu dezentralen Verhandlungsnetzwerken ........................................... 3.2.1.3 Von der selbstbestimmten Gestaltung des Sozialen zur Steuerung funktionaler Sachzwänge .................. 3.2.1.4 Vom Gemeinwohl zur Fairness ................................ 3.2.2 Vom Gleichheitsideal zur Chancengleichheit ........................... 3.2.3 Vom Vertrauen in einen gestaltungsoffenen Zukunftshorizont zur vergegenwärtigten Zukunft ..................
90 90 90 91 93 94 95 96
3.3
Globalisierung und Verfassung ................................................................ 96
3.4
Fazit: Die Globalisierung als Verabschiedung von der Selbstkonstitution des Volks ..................................................................... 99
Die Perspektive von Materialismus und historischer Schule .............. 103 4.1
Von Status zu Eigentum: Zur politischen Brisanz der sozialen Frage im Zeitalter der Industrialisierung ............................................... 4.1.1 Eine neue Wissenschaft: Wissen der Praxis ............................ 4.1.2 Die Politisierung gesellschaftlicher Interessenlagen und die Radikalisierung politischer Gleichheitsansprüche ............ 4.1.2.1 Die revolutionäre Wiedereinholung ungleicher materieller Bedingungen ........................................... 4.1.2.2 Zur Auflösung politischer und sozialer Gegensätze in der menschlichen Gemeinschaft ... 4.1.3 Eigentum als individuelle Unfreiheit – Eigentum als individuelle Freiheit .................................................................... 4.1.4 Geschichte der Praxis und Praxis der Geschichte .................. 4.1.5 Zum Praxischarakter des Wissens: Wissenschaft zur Revolution und Wissenschaft zur Reform ..............................
103 107 113 113 118 125 128 133
9
Inhalt
4.2
4.3
5
Von Eigentum zu Wissen: Die Vorherrschaft kognitiver Erwartungen in der post-industriellen Gesellschaft ............................ 4.2.1 Zur soziostrukturellen Bedeutung von Wissen in der post-kapitalistischen Gesellschaft ............................................. 4.2.2 Emanzipation durch Wissen und Wissen durch Emanzipation ................................................................... 4.2.3 Die wechselseitige Verschlungenheit der Zukunft des Wissens und des Wissens der Zukunft ............................. 4.2.4 Eine Soziologie der post-industriellen Gesellschaft: Das Ende gesellschaftswissenschaftlicher Großentwürfe .............
137 138 143 144 146
Fazit: Die Allgemeinheit der materiellen und symbolischen Bedingungen .............................................................................................. 147
Die Perspektive des soziologischen Positivismus’ .............................. 153 5.1
Von Eigentum zu Moral: Zur Bedingungsmöglichkeit differenzierter Gesellschaften an der Schwelle zum modernen Wohlfahrtsstaat ...... 153 5.1.1 „Der Soziologe als Moralist“ ..................................................... 158 5.1.2 Die selbststabilisierende Wirkung moralisch integrierter Gesellschaften ............................................................................. 162 5.1.2.1 Individuum und Gesellschaft als gegenseitiger Bedingungs- und Steigerungszusammenhang ....... 162 5.1.2.2 Von mechanischer zu organischer Solidarität ....... 167 5.1.2.3 Solidarität durch Interaktion: Die integrative Wirkung professionalisierter Milieus ...................... 172 5.1.3 Sozialisation des Individuums und Internalisierung gesellschaftlicher Moralvorstellungen ...................................... 174 5.1.4 Zur evolutionären Steigerungsfähigkeit von Solidarität ......... 177
5.2
Von Moral zu Kultur: Ethisierung der Ästhetik in der postmodernen Gesellschaft ..................................................................... 5.2.1 Ethisierung von Anerkennung als Chance institutioneller Wiedereinholung entpolitisierter Verhältnisse ........................ 5.2.2 Die selbstvergessenen Protagonisten der Postmoderne: Der Tod des Selbst als Wiedergeburt im Anderen ................. 5.2.3 Die Zeit der Postmoderne: Zur emotionalen Wiedergewinnung einer verunsicherten Zukunft ...................
5.3
180 181 189 191
Fazit: Die Moralisierung des Sozialen und die Ethisierung der Kultur .................................................................................................. 192
10 6
Inhalt
Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie ..... 197 6.1
6.2
Von Moral zu Funktion: Zur Stabilität hochkomplexer Gesellschaften im 20. Jahrhundert ......................................................... 6.1.1 Eine voluntaristische Handlungstheorie: Zur rekursiven Stabilität von Normen, Sinn und Handlung ............................ 6.1.2 Zum Praxisaspekt normativer Integration als Konstitutionsbedingung differenzierter Gesellschaften ........ 6.1.2.1 Soziale Auseinandersetzungen als Bewährungsund Steigerungshorizont von Integration .............. 6.1.2.2 Zur Schematisierung von Gesellschaften als selbstgenügsame Funktionskomplexe .................... 6.1.3 Sozialisation des Persönlichkeitssystems durch Internalisierung institutionalisierter Normhintergründe ........ 6.1.4 Die evolutionäre Selbsthervorbringung funktionaler Adaption an gesteigerte Komplexitätsbedingungen ............... Die systemtheoretische Verabschiedung vom integrativen Fokus soziologischer Beschreibung ....................................................... 6.2.1 Der Bruch mit der soziologischen Tradition I: Die Gesellschaft als soziales System ......................................... 6.2.2 Der Bruch mit der soziologischen Tradition II: Funktionale Methode ................................................................. 6.2.3 Der Bruch mit der soziologischen Tradition III: Das Ende des Primats des Politischen .....................................
197 201 206 206 208 218 223 227 228 232 234
Exkurs III: Zum Primat des Politischen bei Carl Schmitt ............................. 239 6.2.4 6.3
6.4
Zur Hartnäckigkeit nationaler Selbstbeschreibung ................ 243
Von Funktion zu Risiken: Die subpolitische Wiedereinholung einer riskanten Gegenwart ....................................................................... 6.3.1 Die Subpolitisierung des Politischen ........................................ 6.3.2 Das globalisierte Individuum: Der Einbruch des Subpolitischen in die privaten Lebensbahnen ......................... 6.3.3 Riskante Zukunft: Nebenfolgen und ihre Nebenfolgen ........ 6.3.4 Eine „Soziologie der Globalisierung“: Die Rekonstruktion der Gesellschaftswissenschaft als kritisches Projekt .............
257 258 262 264 266
Fazit: Das integrierende Moment gesellschaftlicher Komplexitätssteigerung und globaler Risikolagen ............................... 268
11
Inhalt
7
Zur Rekonstruktion von Kollektivität in einer globalisierten Welt .... 273 7.1
Post-, reflexiv, vielfältig, verwoben, vor- oder modern? ..................... 273
7.2
Wandel der Gesellschaftsstruktur oder Wandel gesellschaftlicher Selbstbeschreibung? ................................................................................. 280
Bibliographie ............................................................................................... 293
1
Einleitung
Begriffe wie Volk, Nation oder kollektive Identität sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu neuer Prominenz gekommen. Zerfalls- und Unabhängigkeitsprozesse im Zuge der Auflösung des Ostblocks, ethnische bzw. ethnisch-religiöse Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent und dem Balkan, Multikulturalismus- und Staatsbürgerschaftsdebatten in Europa und den USA und nicht zuletzt die Frage nach der Finalität der Europäischen Union führten in den 1990er Jahren zu einem erneuten Aufflammen der Begrifflichkeiten in Wissenschaft, Politik, Recht und Medien. So unterschiedlich diese Auseinandersetzungen auch ausfielen und deren Konsequenzen zu erdulden waren bzw. bis heute sind, so ähnlich der gemeinsame Problembezugspunkt, was es denn mit Nation und Volk, mit Demokratie und Selbstbestimmung grundsätzlich auf sich habe. Während sich die Beantwortung dieser Frage in der modernen Geschichtsschreibung in der Regel als Verweis auf Säkularisations-, Rationalisierungs- und Individualisierungsprozesse modelliert, die in der Herauslösung einer spezifischen Logik des Politischen aus dem Universalzugriff des Religiösen die Geburtsstunde einer sich selbst aufklärenden Gesellschaft sieht, scheint exakt das im Kontext von Entwicklungen, die heute unter dem Begriff der „Globalisierung“ zusammengefasst werden, zusehends an Bedeutung zu verlieren. Diese Aussage gilt es insofern zu qualifizieren, als damit nicht gemeint ist, dass die genannten Semantiken keine Verwendung mehr finden oder gänzlich unverständlich geworden sind – im Gegenteil. Gemeint ist damit jedoch jene diffuse Endzeitstimmung, die sich stets breitmacht, sobald die Sprache auf Demokratie, Nation, Volk, Staat, kollektive Identität, Verfassung oder nationalökonomische Ordnungsmodelle kommt. Mag sich die Reflexion in Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Recht oder Medien auch bei weitem nicht darüber einig sein, ob es sich dabei um soziale Ordnungskonzepte und Beschreibungskategorien einer längst vergangenen Ära handelt oder ob deren Bedeutung und Wirksamkeit nach wie vor ungebrochen ist, so fällt doch auf, dass sich Debatten kaum mehr jenseits dieser Fragestellung thematisieren lassen. Die Welt scheint unaufhaltsam auf einen Epochenwandel zuzusteuern, der die althergebrachte Ordnung des Sozialen zumindest fragwürdig, wenn nicht ganz und gar überflüssig zu machen droht. Die Gegenwart verliert darin ebenso rapide das Vertrauen in die effektive Gestaltbarkeit und Steuerungsfähigkeit ihrer politischen, ökonomischen, rechtlichen, kulturellen, wissenschaftlichen oder pädagogischen Belange wie mit dem Nationalstaat ihre zentrale Institution. Oder wie Armin Nassehi so treffend formuliert hat, „(...) scheint sich
14
1 Einleitung
das Vertrauen in die titanische Kraft des Menschen, in sein schöpferisches Potential doch merklich abgekühlt zu haben“ (Nassehi 2000: 253). Nicht minder betrifft dies eine Volkssemantik, die bis vor gar nicht allzu langer Zeit zu den zentralen Selbstbeschreibungsmomenten der modernen Gesellschaft gehörte. Schon ein kurzer Blick in (populär-)wissenschaftliche Publikationen und auf Feuilletonseiten vergegenwärtigt, dass dem Demos-Begriff in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Selbstbeschreibung einer globalisierten Welt kaum mehr Beschreibungs- geschweige denn Gestaltungsqualität des Sozialen zugerechnet wird. Damit aber scheint eine Idee mehr oder weniger ersatzlos gestrichen, die in den vergangenen 200 Jahren im demokratisch verfassten Nationalstaat als der Herrschaft des Volks über sich selbst ganz grundlegende Bedeutung für Ordnungsvorstellungen des Sozialen überhaupt gewonnen hat. Spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war nicht mehr von einer natur-, gott- oder traditional gegebenen Sozialordnung auszugehen, sondern von einer öffentlichen Sphäre, die die Gestalt ihrer selbst aus ihren je eigenen Entscheidungen bezieht. Die Leerstelle eines entparadoxierenden Paradox’, begrifflich bislang in Natur, Gott oder Tradition aufgehoben, verlegte sich in einen zirkulären Zusammenhang, nach dem die Konstitution sozialer Ordnung Ausdruck des Willens eines Volks (semantisch überhöht: einer Nation) ist, das eben darin erst die Einheit seiner selbst gewinnt und so allein sich selbst unterworfen ist. Oder wie Reinhard Bendix dies ebenso kurz wie prägnant formuliert hat: „Vox populi, vox dei“ (Bendix 1978: 8; Betonung im Original). In dieser Version gesellschaftlicher Selbstbeschreibung aber kommt eine Lösung neuzeitlicher Ordnungsprobleme zum Ausdruck, die sich als ganz unwahrscheinliche evolutionäre Entwicklung ausweist. Erst seit etwa 200 Jahren „bevölkert“ das mit dem bestimmten Artikel versehene „Volk“ einen inzwischen öffentlichen Raum und bestimmt durch jenes magische, bis heute als Devise auf amerikanische Banknoten gedruckte, „e pluribus unum“ seine eigenen Geschicke. „Volkeswille“ ist die ausschlaggebende Instanz und wo dies nicht unmittelbar der Fall sein kann, muss doch zumindest „im Namen des Volks“ entschieden werden. Eben dies stellt jedoch eine Beschreibung wie die der Globalisierung grundlegend in Frage. Die Plausibilität dessen ist offensichtlich enorm und die Einwände dagegen vergleichsweise gering.1 In der Tat scheint einiges darauf hinzudeuten, dass nicht mehr 1 Das schließt gerade auch die „Globalisierungsgegner“ von Attac bis zum Weltsozialforum mit ein, deren Positionen letztlich eine erstaunliche Ähnlichkeit zu denen der „Globalisierungsbefürworter“, gemeinhin im Lager der Ökonomie zu finden, eignet. Findet sich doch in der Hartnäckigkeit veralteter (nationalstaatlicher) Machtapparate der gemeinsame Feind, dem von der einen Seite vorgeworfen wird, die politische Selbstemanzipation der Unterdrückten zu verhindern, und von der anderen, sich der dynamisierten, selbstgesteuerten Logik des Kapitalismus’ entgegenzustellen. Und damit ist noch gar nicht davon gesprochen, dass es exakt die „Globalisierungsgegner“ sind, die es verstehen, sich mit durchgeplanten internationalen Kampagnen und weltweit übertragenen Bildern medial zu inszenieren (man denke nur an die regelmäßigen Proteste rund um die G8-Gipfel) oder sich in wohlorganisierter Weise als Netzwerk über den Globus zu spannen.
1 Einleitung
15
die Nationalökonomien über ihre eigenen wohlfahrtsstaatlichen Belange entscheiden, sondern multinationale Konzerne, die sich ihre Produktions- und Investitionsstandorte nach finanziellen und steuerlichen Gesichtspunkten aussuchen. Umweltkatastrophen, Finanzkrisen und Rezessionen an einem Ende der Welt zeitigen unweigerlich ökonomische, ökologische und politische Konsequenzen an ganz anderen Orten. Wissenschaftliche Forschung, besonders die der Lebenswissenschaften, fordert mehr und mehr die Anpassung des rechtlich Erlaubten an das technisch Mögliche. Nationale Bildungssysteme betreiben mit erstaunlichem Eifer die Vereinheitlichung von Lehrinhalten und Bewertungsstandards. Soweit die Untersuchung den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen in der gegenwärtig nahezu unumgehbaren Behauptung eines epochalen Bruchs der sozialen Ordnungsbedingungen findet, soll die Frage nach der Tatsächlichkeit eines solchen auf den kommenden Seiten jedoch suspendiert und erst im Schlusswort wieder aufgegriffen werden. Hintergrund dessen ist nicht nur, dass die Kriterien, an denen sich ein derartiger grundlegender Wandel festmachen lässt, offensichtlich höchst streitbar sind. Nicht umsonst bringt die Globalisierungsbeschreibung derzeit eine schier unüberblickbare Masse an mehr oder weniger wissenschaftlichen Publikationen hervor. Eine derartige Vorgehensweise tendiert letztlich auch dazu, soziale Realität an bestimmten ex ante aufgestellten Kriterien vorwegzunehmen, um daran Aussagen über Kontinuität oder Wandel zu knüpfen. Das mag einleuchtend sein, sieht sich allerdings zum einen allzu schnell mit der Frage konfrontiert, wie es denn um die Selbstverständlichkeit der unterscheidenden Variablen bestellt ist. Und zum anderen damit, dass sich nicht zuletzt die Behauptung von Neuheit, Andersartigkeit und Exzentrischem einer ganz modernen Ästhetik schuldet, die sich am Zeitindex des „Modischen“ selbst mit immanenter Unruhe versorgt. Damit verschiebt sich der Fokus der Untersuchung zu der Frage, von was man sich eigentlich verabschiedet, wenn das Volk seine Beschreibungsqualität des Sozialen verliert. Zur Beantwortung dessen orientiert sich der geübte Wissenschaftler in der Regel am aktuellen Forschungsstand. In den Blick fällt dabei zunächst jenes reichhaltige Repertoire an Definitionen und Theorien zu Nation bzw. Nationalismus, das von Sozialwissenschaftlern wie Karl W. Deutsch, Charles Tilly, Reinhard Bendix, Ernest Gellner, Anthony D. Smith, Eric Hobsbawm oder Benedict Anderson hervorgebracht wurde, um nur einige wenige der weithin rezipierten Protagonisten zu benennen. Am „einfachsten“ macht es sich dabei vermutlich Charles Tilly. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen Staatsentstehungs- und Nationenbildungsprozessen und konzentriert sich dann nur auf Ersteres, gilt ihm der Nationenbegriff doch als „(...) one of the most puzzling and tendentious items in the political lexicon“ (Tilly 1975: 6).2 Trotz aller Verschiedenheit der Ansätze und Erklärungsmus2 Damit könnte vermutlich bereits erstaunlich mehr über den „aktuellen Forschungsstand“ zu Kollektivität gesagt sein, als sich die Sozialwissenschaften gemeinhin eingestehen möchten.
16
1 Einleitung
ter, lässt sich doch bei den genannten Wissenschaftlern eine erstaunliche Ähnlichkeit der beobachtungsleitenden Unterscheidung von objektiven Kriterien einerseits (gemeint ist damit die je verschiedene Gemeinsamkeit von Sprache, Geschichte, Werten, Institutionen, Symbolen etc.) und einem subjektiven Gemeinsamkeitsgefühl andererseits beobachten (Deutsch 1966: 17-28; Hobsbawm 1992: 15-17; Calhoun 1997: 123-125; Smith 2001: 10-11).3 Kürzer lassen sich die genannten Positionen vermutlich auf die von Emerich Francis geprägte Unterscheidung von Ethnos als vorgeordnete und Demos als konstituierte Einheit eindampfen (Francis 1965; siehe zu dieser Unterscheidung auch Lepsius 1990b). Die Gewichtung tendiert dann je mehr auf die eine oder andere Seite bzw. erweist sich als Mischung aus beiden. So deutet Karl W. Deutsch das Volk als einen gemeinsamen Kommunikationsraum geteilter Bedeutungen (Deutsch 1966: 96, 100). Dahingegen betonen Ernest Gellner und Eric Hobsbawm die Kongruenz von Staatsorganisation und Nation, wobei sich das Verhältnis zwischen beiden je verschieden gestaltet (Gellner 1983: 1, 6; Hobsbawm 1992: 20-22). Craig Calhoun wiederum gilt die Nation in erster Linie als emotionaler Orientierungs- und Sinnhorizont für Individuen in einer überkomplexen Welt (Calhoun 1997: 123-126). Anthony D. Smith betont demgegenüber die Kontinuität vormoderner, ethnischer Elemente in modernen Identitäten und unterscheidet Ethnie und Nation entsprechend am Vorhandensein askriptiver Merkmale und über Eliten hergestellte Solidaritäten (Smith 2001: 13, 140). Schließlich hat Benedict Andersons Version der Nation als „(...) vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“ (Anderson 1993: 15) in den vergangenen Jahren sicherlich die meiste Aufmerksamkeit innerhalb und außerhalb der sozialwissenschaftlichen Diskussion erworben.4 Neben dieser Art sozialwissenschaftlicher „Grundlagenforschung“ entbrannten und entbrennen Fragen nach der Bedingungsmöglichkeit von Volk und Nation gerade auch an je aktuellen Diskussionen und Problemlagen wie den Staatsbürger3 Letzteres findet seinen klassischen Ort wohl bei Max Weber, der unter der Nation die „Idee eines Zusammengehörigkeitsgefühls“ (Weber 1976: 529) versteht. Oder ausführlicher: „’Nation’ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an“ (Weber 1976: 528). 4 Um die Definition Andersons zu ihrem vollem Recht kommen zu lassen: „Vorgestellt ist sie [die Nation – Anm. d. Verf.] deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert. (...) Die Nation wird als begrenzt vorgestellt, weil selbst die größte von ihnen mit vielleicht einer Milliarde Menschen in genau bestimmten, wenn auch variablen Grenzen lebt, jenseits derer andere Nationen liegen. (...) Die Nation wird als souverän vorgestellt, weil ihr Begriff in einer Zeit geboren wurde, als Aufklärung und Revolution die Legitimität der als von Gottes Gnaden gedachten hierarchisch-dynastischen Reiche zerstörten. (...) Schließlich wird die Nation als Gemeinschaft vorgestellt, weil sie, unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als ‚kameradschaftlicher’ Verbund von Gleichen verstanden wird“ (Anderson 1996: 15, 16-17; Betonung im Original).
1 Einleitung
17
schaftsdebatten oder auch der Frage nach der Finalität Europas. So manifestierte sich an der ebenso kurzen wie strittigen Frage, wer gehört dazu und wer nicht, Anfang der 1990er Jahre in diversen europäischen Staaten und den Vereinigten Staaten eine in Politik, Recht, Wissenschaft und Medienöffentlichkeit breit geführte Debatte zu Ausmaß, Chancen und Grenzen von Staatsbürgerschaft. Beachtenswert ist dabei, dass die Diskussion in erster Linie unter dem Eindruck der Verabschiedung vom Nationalstaat als dem eigentlichen Bezugspunkt von Bürgerschaft geführt wurde und nach wie vor wird. Zum Ausdruck kommt darin aber offensichtlich die Erfahrung, dass sich Fragen zu Mitgliedschaft und Zugehörigkeit überhaupt nicht mehr an gesellschaftsinternen Problemlagen (wie Klassen-, Geschlechter- oder Bildungszugehörigkeiten) formulieren und lösen lassen (Nassehi/Schroer 2000: 3132; Mackert 2001: 295). Daran aber entbrennen erst recht Diskussionen über die grundlegende Bedeutung von Demokratie und Legitimation, über das Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten und die Gewährleistungsmöglichkeit von Individualrechten. Auffällig dabei ist, dass auch diese Debatte wiederum eng an der Unterscheidung von Staatsbürgerschaft als ethnisch bestimmtes Geburtsrecht einerseits (ius sanguinis) und als politisches Teilhaberecht andererseits (ius soli) geführt wird. Beide Lösungen erweisen sich allerdings für die Protagonisten der Debatte, unter ihnen Yasemin Soysal, Rainer Bauböck, Will Kymlicka, Andrew Linklater oder Jürgen Habermas, als nur eingeschränkt brauchbar für die neuen Gegebenheiten des Sozialen. Dass man sich solchen gegenübersieht, deutet Yasemin Soysal als Loslösung des bislang an den Nationalstaat gebundenen Zusammenhangs von Identität und Garantie von Individualrechten durch die selbsthervorgebrachten Errungenschaften einer erfolgreichen Nachkriegszeit. Internationalisierung des Arbeitsmarkts, Dekolonialisierung, Multiebenenpolitik und nicht zuletzt die globale Ausweitung der Menschenrechte haben den Nationalstaat als Bezugspunkt individueller Grundrechte zugunsten einer transnationalen Ebene abgelöst, nicht jedoch in Bezug auf die Sicherstellung einer gemeinsamen Identität (Soysal 1996: 18-20). Ob dieser Diskrepanz lassen sich klassische Staatsbürgerschaftskonzeptionen kaum mehr aufrechterhalten. Sie bedürfen vielmehr der Ablösung durch eine „postnational citizenship“ (Soysal 1996: 22), die in „deterrioralized notions of personal rights“ (Soysal 1996: 21) verankert ist. Auf eine ähnliche Version einer jenseits der Nation konstituierten Mitgliedschaft kommt auch Rainer Bauböck, denn „(...) in the increasingly mobile societies of modernity, citizenship must be transnationalized in order to retain its significance as equal membership in territorial polities“ (Bauböck 1994: 331). Unzufrieden mit den Gegebenheiten gibt sich auch Will Kymlicka. Aus seiner Sicht ist es die Multikulturalisierung der Gesellschaften, an der das klassische Instrumentarium nationaler Minderheitenrechte als Kristallisationspunkt von Solidarität auf Dauer scheitern muss und darin immer weniger der Verhinderung gewalttätig geführter Abgrenzungsprozesse dienen kann (Kymlicka 1995: 10, 173-174). Ein gemeinsam geteilter Werthintergrund aber kann dies offensichtlich immer weniger
18
1 Einleitung
abfangen, da eben zunehmend weniger vorstellbar, wohl aber eine gemeinsam geteilte Identität, die nicht durch Unterdrückung oder Ausschluss, sondern nur durch Inkorporierung der Kultur in die politischen Mitgliedschaftsbedingungen zu haben ist – eine „multicultural citizenship“ (Kymlicka 1995). Denn nur „[C]ultural membership provides us with an intelligible context of choice, and a secure sense of identity and belonging, that we call upon in confronting questions about personal values and projects“ (Kymlicka 1995: 105). Für die Aufgabe des veralteten „statist approach“ (Linklater 1998: 23) und den Übergang zum Prinzip des „world citizenship“ (Linklater 1998: 24) als genuin universale Form der Beteiligung an einem allgemeinen Diskurshorizont plädiert auch Andrew Linklater (Linklater 1998: 37-38). Das ähnelt nicht zuletzt der Version eines „Weltbürgerstatus’“ (Habermas 1992a: 659; Betonung im Original), wie er Jürgen Habermas vorschwebt. Schließlich kommt auch die wissenschaftliche Diskussion über die Verfasstheit der Europäischen Union, deren Konstitutionsfähigkeit und -notwendigkeit immer schon mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt, auf die Frage nach dem Volk und demokratischer Legitimation. Die Antworten fallen dabei durchaus konträr aus. So hält die Verfassungsrechtlerin Anne Peters die Voraussetzung eines europäischen Volks für die Konstitution der EU für ganz und gar verzichtbar, da es aus ihrer Sicht „(...) für die Legitimität einer Verfassung vielmehr auf ihre – nur ex post feststellbaren – Leistungen und Akzeptanz (...)“ (Peters 2006: 40-41) ankomme. Ganz anders äußert sich die Mehrheit von Rechts- und Sozialwissenschaftlern, die im Vorhandensein eines genuin europäischen Demos’ die unverzichtbare Konstitutionsbedingung einer supranationalen politischen Gemeinschaft sehen. Bei den Aussichten auf eine solche gehen die Meinungen allerdings wiederum weit auseinander. Deutlich gegen eine solche europäische „Wir-Identität“ spricht sich ErnstWolfgang Böckenförde aus. In dessen Augen „(...) besteht die Europäische Union derzeit aus Völkern und Nationen, hat als ihre Grundlage aber weder ein europäisches Volk noch schon eine Nation der Europäer“ (Böckenförde 1999: 93). Auch Michael Greven und M. Rainer Lepsius vermissen nach wie vor „genuin europäische Perspektiven“ (Greven 1998: 31), die die Rede von einer europäischen Öffentlichkeit rechtfertigen würden (Lepsius 1990a: 266; Lepsius 1990b: 254). Mindestens ebenso deutlich äußert sich Dieter Grimm, für den „(...) es bislang kein europäisches Volk gibt“ (Grimm 1994a: 45). Dass dem so ist, begründet Peter Graf Kielmansegg mit dem vielfach zitierten Diktum, dass selbst Kerneuropa „(...) keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemeinschaft und nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft“ (Kielmansegg 1995: 235) ist. Skeptisch äußerte sich diesbezüglich schließlich auch das Bundesverfassungsgericht in seinem „Maastricht-Urteil“ aus dem Jahr 1993, in dem es den Kerngehalt des Demokratieprinzips dahin gehend deutete, dass „(...) die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse sich auf das Staatsvolk zurückführen lassen und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet werden“ (BVerfGE 89: 182)
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muss. Für die Europa gelte allerdings nach wie vor: „Jedes der Staatsvölker ist Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt“ (BVerfGE 89: 186). Demgegenüber stehen diejenigen Wissenschaftler, die eine genuin europäische Identität bereits im Entstehen sehen. So stellen Ulrich Beck und Edgar Grande in einer auffälligen Mischung aus normativem Wunsch und faktischer Geltung fest: „‚Wir’, die das kosmopolitische Rechtsregime legitimieren – das sind die prospektiven Europäer, die dergestalt zum Subjekt ihrer Geschichte gemacht werden“ (Beck/Grande 2004: 19; Betonung im Original). Gute Chancen für eine europäische Öffentlichkeit sieht auch Jürgen Habermas. Bedarf es dazu zwar einer „(...) gemeinsame[n] Praxis der Meinungs- und Willensbildung, die sich aus den Wurzeln einer europäischen Bürgergesellschaft speist und in einer europaweiten Arena entfaltet“ (Habermas 1998a: 151; Betonung im Original), so kommt doch gerade darin nicht die Wiederholung der Geschichte eines an askriptiven Kriterien festgemachten, nationalstaatlichen Volksbegriffs zum Ausdruck, sondern ein (normativer) Herstellungszusammenhang, auf den Europa aufgrund gemeinsamer historischer Erfahrungen und eines sich verselbständigenden Prozesses der Integration bereits disponiert ist (Habermas 1998a: 155-156; Habermas 2001: 120-124; Habermas 2004: 47). Was an den hier aufgeführten Untersuchungen und Debatten – aller Unterschiedlichkeit zum Trotz – deutlich wird, ist, dass Kollektivitätsbegriffe wie Volk oder Nation (und mit diesen die Pluralität von Gesellschaften) als Grundbedingung sozialer Ordnung sozialwissenschaftlicher Common Sense scheinen. Dass dem so ist, wird in der Regel in den Kontext der „Universalgeschichte“ der Moderne von Reformation und Glaubensspaltung über religiöse Bürgerkriege, Westfälischen Frieden und der Entwicklung des Staatensystems bis hin zur Französischen Revolution und der Entstehung der Menschenrechte gestellt. Zum Ausdruck kommt darin die Praxis einer sich selbst historisierenden Gesellschaft, die sich als Ergebnis von vorangegangenen Ursachen deutet: Die moderne Selbstbeschreibung nationaler Selbstbestimmung dankt sich der Loslösung von askriptiven Merkmalen der Zugehörigkeit und religiösen Universalbeschreibungen. Während sich das Feld eher selten darüber Auskunft gibt, dass die Unterscheidung von traditional und modern eine ganz moderne ist, die sich selbst auf die Kontingenz hinweist, der sie mit Notwendigkeiten und Unbedingtheiten begegnet, orientiert es sich doch exakt daran und kann dann kaum verhindern, dass die eine Seite immer im je anderen wieder auftaucht. Denn gibt sich die Mehrheit der Analysen bei der Behandlung ihres Gegenstands mit der Unterscheidung konstruiert versus primordial zufrieden, belässt die allgemeine Tendenz zur Beschreibung von Volk bzw. Nation als hergestellte Einheit die andere Seite der Unterscheidung erstaunlich unterbelichtet. Oder andersherum gefragt: Wer behauptet schon ernsthaft, an die primordiale bzw. ethnische Gegebenheit von Völkern zu glauben? Andersherum ist es exakt der konstituierte Status der Nation, der sich in der Sichtbarkeit des Kontingenten ebenso unverzüglich mit Notwendigem und Unbedingtheiten ausstattet. Mit anderen Worten:
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Die Unterscheidung von konstruierten gegenüber primordial gegebenen Kollektivitäten gewinnt ihre Plausibilität letztlich daran, immer auf ihre je andere Seite als andere Seite hinzuweisen. Damit lässt sich zumindest die seltsame Ambivalenz sozialwissenschaftlicher Untersuchungen zu Nation und Nationalismus erklären, die immer zwischen objektiv Gegebenem und subjektiv Gefühltem hin und her zu oszillieren scheinen. Während das dem Feld offensichtlich nicht verborgen geblieben ist, reagierte es darauf mit der Absicherung in je spezifischen Eigenschaften. Was sich dann allerdings – zugegebenermaßen recht uncharmant formuliert – wie eine „Einkaufsliste“ der Gemeinsamkeiten von Werten, Mythen und historischem Erfahrungshintergrund über Sprache und Religion bis hin zu Territorium liest, läuft mindestens ebenso häufig auf mehr oder weniger widerspenstige Fälle auf wie auf die Kontingenz der Unbedingtheit der eigenen Unterscheidungskriterien.5 Eine derartige Herangehensweise muss letztlich soziologisch unbefriedigend bleiben. Erweisen sich die ausgetrampelten Pfade der Sozialwissenschaften aus der Sicht der Arbeit als unergiebig, könnte die Lösung darin liegen, sich dem Thema von einer ganz anderen Seite her zu nähern – und zwar von einer Perspektive, die sich für die Behandlung des Sozialen durch sich selbst interessiert. Die Möglichkeit einer derartigen Beobachtung verweist bereits auf eine Bedingung des Sozialen, die sich zur Reproduktion ihrer selbst in eine rekursive Zwei-Seiten-Form bringt und die Selbstthematisierung der Gesellschaft in der Gesellschaft registriert. Beides steht offensichtlich in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. An dem bislang Gesagten zeichnet sich auch ab, dass sich die Untersuchung deutlich von einem Verständnis distanziert, das Kollektivität als integrative Einheit konkreter Personen (in einem grenzbewehrten Territorium) fasst. Sie stellt vielmehr um – von Menschen auf Kommunikation als Minimaleinheit des Sozialen, um sich für die Formierung von Kollektivität als operative Praxis je in Echtzeit interessieren zu können. Kehrt man nun zur gesellschaftlichen Selbstthematisierung zurück, so fällt auf, dass sich das Soziale seit der frühen Neuzeit als grundlegend problematisch und zugleich als sich permanent selbstreproduzierend erfährt. Das setzt die Erfahrung von Kontingenz voraus und bringt sie zugleich in eine bewältigbare Form von Anschlusswahrscheinlichkeiten. Mit anderen Worten: Das Soziale kann nicht mehr vom naturoder gottgegebenen Sein seiner selbst ausgehen, sondern hält sich ob anderslautender Bedingungen – der selbstinduzierten Unruhe durch Rivalität, konkurrierende 5 Demonstrieren lässt sich das beispielhaft an Lutz Hoffmanns These der „unvermeidbaren“ Natur des Volksbegriffs. Während er der im Feld üblichen Behandlung von Kollektivität als objektive Realität eine Absage erteilt, gilt ihm das Volk als subjektive Vorstellung bzw. Idee, die in „sekundäre[n] Objektivationen“ (Hoffmann 1991: 199) wie Sprache, Staat, Religion, Kultur oder Geschichte ihren jeweiligen Ausdruck findet. Das historische Auftreten des Volks erklärt sich dabei als Ersatzfunktion: „An die Stelle ineinander geschachtelter Räume sozialer Zugehörigkeit tritt das ‚Volk’ als der nur noch abstrakte Gegenpol der persönlichen Identität. Es rekonstruiert auf einer letztlich ideologischen Ebene die soziale Einbettung, die beim Übergang von der segmentär zur funktional differenzierten Gesellschaft verloren gegangen ist“ (Hoffmann 1991: 198). Zur Kritik einer derartigen Herangehensweise siehe Kapitel 6.2.4.
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Herrschaftsansprüche, ökonomisierte Individuen mit je eigenen Interessen, die Unterscheidung von Arbeit und Kapital, Arbeitsteilung und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – für grundsätzlich ergänzungsbedürftig – durch herrschaftssichernde Maßnahmen, Einrichtung einer souveränen höchsten Gewalt, Vertrag, Enteignung bzw. Versöhnung, Rekonstruktion einer zeitgenössischen Moral oder Anpassung an selbsthervorgebrachte Komplexitätssteigerungen. Die Aufzählung weist bereits darauf hin, dass die Selbstproblematisierung des Sozialen im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte ganz unterschiedliche Lösungsangebote hervorgebracht hat, an deren Vergleich die Untersuchung Form und Gestalt gewinnt.6 Die tautologische Struktur dessen, die Methode des Vergleichs gewinnt an der Variation ihr beschreibendes Potential und muss darin doch immer schon einen gemeinsamen Bezugspunkt unterstellen, ist Teil der Beobachtung 1. Ordnung der Arbeit und kann auf dieser Ebene nicht reflektiert werden. Zumindest nicht, sofern die Analyse genau das tut, was sie beabsichtigt. Sehen lässt sich der selbstproduzierte „blinde Fleck“ der Darlegungen nur aus einer Beobachtungsebene 2. Ordnung. Das aber ist kein Defekt, sondern Bedingungsmöglichkeit der Untersuchung überhaupt. Das Auftauchen von Kollektivität in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung aber, das ist bekannt, erfolgt zum Zeitpunkt der Umstellung auf eine funktional 6 Auf Ähnliches trifft man übrigens auch, wenn man sich wie Albert Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank und Ethel Matala de Mazza in einer kürzlich erschienenen, aufschlussreichen Studie für die Körpermetaphorik des „fiktiven Staates“ interessiert. Vergleichender Bezugspunkt ist hier die in den vergangenen Jahrtausenden recht hartnäckige Fiktion eines politischen Organismus’, die in der Gegenwart jedoch Ablösung durch die Metapher des Netzwerks findet. Es ist der Verdienst derartiger Untersuchungen auf die Plausibilität gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen aufmerksam zu machen, die sich als weit weniger fiktiv erweisen als gemeinhin vor dem Hintergrund einer durchrationalisierten Moderne, die auf „Imaginäres“ vermeintlich längst verzichten (können) müsste, zu erwarten ist. Gerade vor diesem Hintergrund erweist es sich als so interessant, die Performanz folgender, von den Autoren gegen Ende der Untersuchung gestellten Fragen zu beobachten: „Was hat es für Folgen, wenn Gesellschaften sich nicht mehr als Organismen (beziehungsweise Systeme, die bis zu einem gewissen Grad eine Nachfolgeformation des organologischen Modells von gesellschaftlicher Einheit durch Differenzierung sind), sondern als Vielzahl interdependenter, aber höchst variabel geknüpfter und schnell veränderlicher Netze beschreiben? Was heißt es, sich inmitten von unabgeschlossenen, hybriden Strukturen statt in korporativen Zugehörigkeiten mitsamt ihren Inklusionen und Exklusionen zu imaginieren? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Definition und das Selbstverständnis von sozialen Akteuren und kollektiven Subjekten – die das Herzstück und ständiger Verhandlungsgegenstand der Fiktion des sozialen Körpers waren? Wie ist unter solchen Umständen politische Repräsentation möglich? Und was bedeutet es schließlich in anthropologischer Hinsicht, wenn menschliche Individuen sich nicht mehr in Modellen eines fest umrissenen, sich identitär abgrenzenden, der ihm zugeschriebenen ‚stofflichen’ Qualität nach vergleichsweise beharrlichen Kollektivkörpers spiegeln, sondern, um nur ein Beispiel zu nennen, im nervösen System weltweit verflochtener Finanzströme und ihrer Regulative?“ (Koschorke/Lüdemann et al. 2007: 386). Die Antwort, die es auf diese Fragen zu finden gilt, läuft dann für die Autoren auf eine ganz altbekannte Lösungsformel auf, nämlich die, „(...) wie unter solchen neuartigen Bedingungen ein notwendiges Maß an gesellschaftlichem Ausgleich und Zusammenhang erzeugt werden kann“ (Koschorke/Lüdemann et al. 2007: 387). Das soll hier nicht als Kritik gedeutet werden, sondern als Hinweis auf die Performanz von gesellschaftlichen Beschreibungspraxen.
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differenzierte Gesellschaftsstruktur, die sich in der rekursiven Geschlossenheit ihrer je eigenlogischen Teilsysteme – Politik, Wissenschaft, Recht, Religion, Ökonomie, Kunst etc. – reproduziert. Während nun Niklas Luhmann in Nation und Volk in erster Linie ein dem alteuropäischen Gedankengut allzu sehr verbundenes Übergangsvokabular sieht, haben sich im Anschluss daran in erster Linie Autoren wie Alois Hahn, Reinhard Kreckel, Rudolf Stichweh, Peter Fuchs, Dirk Richter, Georg Weber und Armin Nassehi über die Hartnäckigkeit nationaler Selbstbeschreibungen in der Gegenwart gewundert. Die Deutungsangebote lesen dies ebenso als Kontinuität des Unmodernen im Modernen wie als Auffangmechanismus für aus traditionalen Bindungen freigesetzte individuelle Psychen. Unzufrieden mit diesen voraussetzungsreich gebauten Lösungen ist es im Folgenden vor allen Dingen Armin Nassehi, der ein neues Deutungsangebot formuliert. Kollektivität gilt ihm nun als Problemformel des Politischen schlechthin, dessen Funktion er entsprechend und in Erweiterung der Luhmann’schen Funktionsbestimmung als Herstellung von Zurechenbarkeit und Sichtbarkeit für kollektiv bindendes Entscheiden bestimmt. Dass dem so ist, wurzelt in der ähnlich gelagerten Problemstruktur, das die Operationen des politischen Systems ebenso wie gesellschaftstheoretische Beschreibungen bearbeiten: Das Antreffen von Abweichung, Differenz und Widerstreit fordert zur Herstellung von Einheit, Identität und Solidarität. Während sich also für Nassehi das politische System in der Moderne letztlich durch die sozialdimensionale Bearbeitung von Sachthemen auszeichnet, ist es die Thematisierung von Gesellschaft als integrativem Fokus, die die Praxislosigkeit „klassischer“ gesellschaftstheoretischer Beschreibungspraxen begründet. Auf diese Art und Weise gefasst, taucht für Nassehi Gesellschaft (im Sinne der Herstellung von Gesellschaften als Zurechnungsadressen) grundsätzlich auf der Seite von Identität als dem Gegenüber von Dissens auf (für eine ausführliche Darlegung zu den in diesem Absatz genannten Ansätzen siehe Kapitel 6.2.4). Im Gegensatz dazu beabsichtigt die Untersuchung, sich ihrem Gegenstand von einem anderen Beobachtungsstandpunkt her zu nähern. Die Alternativität dessen weist bereits darauf hin, dass dies unter der Annahme geschieht, dass es sich dabei um einen besseren solchen handelt, und die reichlich unelegante Darstellungsweise, dass dies immer schon geschehen ist. Wovon die Arbeit also bereits ausgeht und was sie gleichzeitig zu zeigen hofft, ist, dass den „klassischen“ gesellschaftstheoretischen Beschreibungen eine deutlich praxisnähere Praxis eignet, als Darstellungen wie die Nassehis vielleicht mitunter unterstellen mögen. Das setzt voraus, den Begriff der Gesellschaft nicht auf der Seite der Identität zu verorten, sondern als die Einheit der Unterscheidung von Differenz und Identität zu behandeln. Sichtbar wird dann eine gesellschaftstheoretische Beschreibungspraxis, die Dissens und Streit als ebenso grundlegend für sich erfährt wie die Ergänzungsbedürftigkeit ihrer selbst, also sowohl auf der einen wie auch auf der anderen Seite anschließen kann, weil sie das für entscheidbar hält. Selbstverständlich verstehen
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sich diese Annahmen mit allen bereits bekannten Einschränkungen versehen, dass die Soziologie tatsächlich viel zu oft allzu nah an der Kongruenz von Gesellschaft und Nationalstaat und einer sich am Beklagens- und Bedauernswerten mit moralischen Obertönen versorgenden Haltung gebaut ist. Genau das gesellschaftstheoretische Bestehen auf Identität und Vernunft, das doch immer nur im Horizont des Kontingenten denkbar ist, hat jedoch in den vergangenen Jahrzehnten auch eine deutliche Abkühlung erfahren. Für das gesellschaftliche Teilsystem der Politik appelliert die Arbeit entsprechend dafür, die Funktionserweiterung des Politischen zurückzunehmen und dieses wieder stärker auf dessen sachdimensionalen Aspekt hin zu deuten. In den Blick gerät damit wiederum die für die Moderne typische machtpolitische Formierung, die freilich nah am Staat und dessen Organisationspotential einer negativen Sanktionsgewalt gebaut ist. Wie kaum eine andere Form des Politischen vorher scheint es jedoch gerade diese zu sein, die als Konkurrenz verschiedener parteipolitischer Programme, Personen, Weltanschauungen etc. in sich hineinnehmend, entscheiden kann, wie sie ihre Konflikte austragen möchte, eben weil sie diesen nicht aus dem Weg gehen kann und will. Was hier in aller Kürze vorangeschickt wurde, soll im Folgenden anhand von ausgewählten beobachtungsleitenden Stichworten – Autonomie, Status, Eigentum, Moral, Funktion – genauer entwickelt und für die vergleichende Beobachtung nutzbar gemacht werden. Die genannten Stichworte stehen dabei für ein jeweils primäres Bezugsproblem ausgewählter Perspektiven der politischen Philosophie und der Gesellschaftstheorie der vergangenen 500 Jahre. Konnotiert werden diese mit an aktuellen gesellschaftstheoretischen Beschreibungen entwickelten Stichworten – Wissen, Kultur, Risiken –, die insofern an vorangegangene Problembeschreibungen anknüpfen, als sie diese unter Hinweis auf epochale Veränderungen in deren Gültigkeit herausfordern. Der Wert einer solchen Vorgehensweise, das hofft die Analyse zeigen zu können, liegt darin, die Stichworte so zu einer Untersuchungsmatrix zusammenzufügen, dass im vergleichenden Blick auf verschiedene Bezugsprobleme des Sozialen der funktionale Ort von Kollektivität sichtbar wird.7 Die genannten Stichworte leisten über die Herstellung von Vergleichbarkeit hinaus jedoch noch mehr, lässt sich an diesen doch die wechselnde Plausibilität verschiedener gesellschaftstheoretischer Ansätze nachvollziehen, die als je funktionierende Beschreibungen von Gesellschaft diesen Wandel nicht zuletzt selbst mitbetreiben. Um ihren vergleichenden Wert voll entfalten zu können, bedarf es zunächst einer detaillierteren Ausformulierung der oben genannten Stichworte. Dabei entwickelt der Begriff der Autonomie für die Fragestellung der Untersuchung lediglich mittelbare Bedeutung, denn gemeint sind damit zunächst jene Perspektiven, deren 7 Es gilt hier darauf hinzuweisen, dass sich die Untersuchung mit der Verwendung des Begriffs der Kollektivität zwar auch von auf Integration abstellenden Bezeichnungen wie denen des Volks oder der Nation zu distanzieren sucht. Worum es ihr allerdings primär geht, ist damit über eine Begrifflichkeit zu verfügen, die sich für den funktionalen Ort von auf Einheit abstellenden Kommunikationen interessiert.
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Bezugsproblem die Konstitution des Politischen als Bereich eigener Logik darstellt. Exemplarisch soll dies an den frühneuzeitlichen Schriften von Niccolò Machiavelli und Jean Bodin gezeigt werden, die im Einbruch von Kontingenz durch die Rivalität von Herrschaftsansprüchen das Hauptproblem ihrer Zeit entdecken. Der Begriff Status steht für das Bezugsproblem der Legitimation von politischer Gewalt jenseits einer durch Natur, Gott oder Tradition bestimmten hierarchischen Standesordnung, die in den politikphilosophischen Schriften des 16. bis 18. Jahrhunderts dominieren, und in dieser Arbeit stellvertretend an den Standpunkten von Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Emmanuel Sièyes nachgezeichnet werden sollen. Mit Eigentum ist das Einrücken sozialer Problemstellungen in einen erstmals als Gesellschaft wahrgenommenen öffentlichen Raum zu Beginn des 19. Jahrhunderts benannt, die vor dem Hintergrund revolutionär erkämpfter, politisch garantierter Freiheits- und Gleichheitsrechte ganz neue Brisanz entwickeln. Stellvertretend für eine Reihe anderer Autoren liegt der Fokus der Arbeit dabei einerseits auf dem „locus classicus“ der Thematisierung von Gesellschaft als soziale Frage – dem historischen Materialismus wie er von Karl Marx und Friedrich Engels geprägt wurde – und andererseits auf Lorenz von Stein als Vertreter der historischen Schule. Mit dem Stichwort der Moral erfasst die Arbeit die Perspektive Émile Durkheims, die die Geburt der Soziologie an den Appell der aktiven Herstellung einer neuen gesellschaftlichen Moral bindet. Sie betritt damit den Boden jener Problembeschreibungen, die sich gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend weniger für eine einzige, die Gesellschaft als solche bestimmende Unterscheidung (von Arbeit und Kapital) interessieren, sondern sich mit differenzierten Gesellschaften konfrontiert sehen, deren je spezifische Teilbereiche ebenso eigenlogisch funktionieren wie sie neue Abhängigkeiten erzeugen. Schließlich sind mit dem Stichwort der Funktion all jene Beschreibungen benannt, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts für die Stabilität und Leistungsfähigkeit hochkomplexer gesellschaftlicher Strukturen interessieren. Im Vordergrund steht dabei der Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons und die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Was an den genannten Stichworten neben den unterschiedlichen Bezugsproblemen, die hier bearbeitet werden, ebenfalls hervortritt, sind zwei entgegengesetzte Versionen der Entfaltung des Grundproblems sozialer Ordnung in der Neuzeit. So stehen die unter dem Begriff des Status’ subsumierten Perspektiven in der Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft für ein Verständnis sozialer Ordnung, das Bernhard Peters als Version „bewußter Vergesellschaftung“ (Peters 1993: 19; Betonung im Original) bezeichnet hat. Gemeint ist damit eine Art der Beschreibung, die soziale Ordnung gegen quasi nicht-soziale soziale Bedingungen in Stellung bringt. Das tendiert zum Blick von Diversem auf Einheitliches und zu der Konzentration auf die Frage, ob soziale Ordnung überhaupt möglich ist, was bereits darauf ausgelegt ist, bejaht zu werden. Auf der anderen Seite stehen die Stichworte Eigentum, Moral und Funktion für jene Variante, die sich, wiederum mit Bernhard Peters gespro-
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chen, als „’Verselbständigung’ des Sozialen“ (Peters 1993: 19; Betonung im Original) verstehen. Die Problembeschreibung ergibt sich nicht mehr an der grundlegenden Gegensätzlichkeit von Individuum und Gesellschaft, die zugunsten bzw. zuungunsten der einen oder anderen Seite aufzulösen ist. In den Vordergrund tritt vielmehr die übergeordnete, verselbständigte Natur von Gesellschaft, von der – wenn auch als menschengemachtes Produkt – immer schon auszugehen ist. Das ist nicht als Widerspruch zu lesen, sondern als sich aneinander realisierender Bedingungs- und Steigerungszusammenhang. Externalisierungen, wie sie die Vertragstheorie noch mit dem Naturzustand vornimmt, erweisen sich aus dieser Perspektive endgültig als überlebt. Dieser wird vielmehr als die immer wiederkehrende Erfahrung von Diskrepanzen etwa in Form einer vom Fortschrittsgedanken getriebenen Geschichte, als Krisenbeschreibung und schließlich als kontinuierliche gesellschaftliche Auseinandersetzungen in die gesellschaftliche Selbstbeschreibung hineingenommen. Das tendiert zu einer Beschreibung anhand der Variation von Gesellschaftsformen, wie sie in der Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität bei Émile Durkheim, der Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies, in Georg Simmels Kreuzung sozialer Kreise oder in Henry Sumner Maines Bewegung vom Status zum Vertrag zum Ausdruck kommt. Die modernen Bedingungen erweisen sich als Ergebnis einer vollständigen Überarbeitung traditionaler, vormoderner Versionen sozialer Ordnung. Damit ändert sich auch die Blickrichtung, die nun ausgehend von Einheit auf zunehmend Divergentes stößt. Um den Blick darüber hinaus auf gegenwärtige gesellschaftstheoretische Beschreibungen zu öffnen, konnotiert die Arbeit die unter dem Begriff des Eigentums subsumierten Perspektiven mit solchen des Wissens, der Moral mit Kultur und der Funktion mit Steuerung. Mit dem Stichwort Wissen sind dann die Beschreibungen gemeint, die soziale Fragen in einer postindustriellen Gesellschaft nicht mehr an Arbeit und Eigentum als strukturgebende Elemente festmachen, sondern an symbolischen Formen. Behandelt werden hier die Perspektiven von Alain Touraine, Daniel Bell, Peter Drucker, Nico Stehr, Manuel Castells und Ulrich Beck. Kultur steht für diejenigen Problembezüge, die an der einheitserzeugenden Wirkung einer einzigen Moral zweifeln und diese in eine Ethik der Ästhetik des Anderen auflösen. Dies soll stellvertretend an den Beschreibungen Michel Maffesolis und Zygmunt Baumans gezeigt werden. Das Stichwort der Risiken steht schließlich für eine Problembeschreibung, die an der Effektivität und Stabilität funktionaler Eigenlogiken zweifelt und dies durch eine Rekonstruktion politischer Lenkungsfähigkeit wieder einzuholen versucht. Derartiges ist aus Sicht der Arbeit bei Ulrich Beck anzutreffen. Bei aller Hoffnung in die Aussagekraft, die die Arbeit aus einer derartigen Vorgehensweise zu gewinnen sucht, gilt es weder den prekären Charakter derartiger übersimplifizierender Begrifflichkeiten aus den Augen zu verlieren noch deren kontingenten Status. Sie sollten weder als eindeutige Übergänge missverstanden werden noch kommt ihnen ein wie auch immer gearteter Anspruch der Beschrei-
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bung einer „wirklichen“ Realität zu. Die berechtigte Frage mag dann allerdings lauten, wozu eigentlich der Aufwand? Vielleicht hilft es, an dieser Stelle weniger vom Sosein der Realität auf der einen und beobachterunabhängiger Wiedergabe auf der anderen Seite auszugehen, also exakt von all dem, was Wissenschaft klassischerweise für sich beansprucht. Die genannten Stichworte sind vielmehr als eine Art idealisierter Abstraktionen zu deuten, wie sie etwa Max Weber mit der idealtypischen Annäherung wissenschaftlicher Beobachtung an eine in ihrer Komplexität nicht einholbare soziale Realität gemeint hat. Sie fungieren darin eher als Knotenpunkte der Plausibilität, die sich in der modernen Gesellschaft in einem nicht geringen Maße auch und gerade der Mode – also einem Zeitkalkül – verdanken. Was die Arbeit allerdings mit Hilfe der Stichworte auch zu zeigen versucht, ist, dass sich die genannten Problembeschreibungen nicht als ein für alle Mal überarbeitete Stufen selbst überleben. Sie gehen in diesem Sinne als sich kumulierende Verständnisse nicht verloren, treten allerdings als beobachtungsleitende Bedingungsmöglichkeit gesellschaftstheoretischer Beschreibung je in den Hintergrund. Und um die eigene Perspektive einmal mehr auf die eigenen Beobachtungsbedingungen aufmerksam zu machen, versteht sich von selbst, dass die Analyse mit der Auswahl ihrer Leitbegriffe, der quasi-chronologischen Aneinanderreihung und den durchaus frechen Vergleichen, sich eine ganz eigene Plausibilität verschafft. Soweit die Analyse ihr beobachtendes Kapital also aus der Abgrenzung zu den im Feld üblichen Herangehensweisen schlägt, versucht sie dies doch genau mit Blick auf das Feld zu tun. Was sie darin zu reflektieren versucht, ist, dass der Gegenstand der Beschreibung nicht äußerlich ist. Damit ist kein endgültiges Verdikt über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit sozialwissenschaftlicher Beschreibung getroffen. Ganz im Gegenteil. Was es allerdings anzuerkennen gilt, ist, dass ein objektiver Standpunkt auf die soziale Realität per se ausgeschlossen ist, eben weil jede Beobachtung der Gesellschaft immer aus derselben heraus erfolgt und dies nicht gleichzeitig mitbeobachtet werden kann. Damit soll gerade auch auf den Entstehungszusammenhang der Soziologie als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin und der Vorstellung eines durch eine Öffentlichkeit gestaltbaren sozialen Raums hingewiesen werden.8 Das setzt Kontingenz voraus und macht diese – trotz aller 8 Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es für die Begründung der modernen Wissenschaft unverzichtbar scheint, sich selbst eine Tradition zu erschreiben. Für die Sozialwissenschaften scheinbar um so mehr als für naturwissenschaftliche Beschreibungen der Welt, sind diese doch offensichtlich wesentlich erfolgreicher, die wissenschaftskonstitutive Unterscheidung von Objekt und Subjekt zu verschleiern. Die Geschichtsschreibung der Soziologie, dies enthüllen diverse in die Disziplin einführende Lehrbücher, verweist dabei in erster Linie auf zwei Denktraditionen. Einerseits auf die vernunftrechtlich basierten Gesellschaftstheorien wie etwa der von Thomas Hobbes oder Jean-Jacques Rousseau des 17. und 18. Jahrhunderts, die das Soziale erstmals als künstlich geschaffen darstellen. Andererseits auf die liberalen Gesellschaftsvorstellungen der schottischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, wie sie etwa bei Adam Smith oder David Ricardo Form gewinnen, die mit der innewohnenden Eigengesetzlichkeit des Sozialen rechnen (siehe hierzu etwa Morel et al. 2007: 3-7; Mikl-Horke 2001: 7-9).
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strukturellen und semantischen Komplexitätsreduktion – zwangsläufig immer wieder sichtbar: Es könnte alles eben immer auch ganz anders ausfallen. Andersherum bringt das für den soziologischen Blick den Zwang mit sich, theoretische und methodische Grundlagen immer mitliefern zu müssen. Eben weil es keinen unmittelbaren Zugang zu einer empirischen Realität geben kann, der wissenschaftliche Aussagen schlichtweg überflüssig machen würde, sind komplexitätsreduzierende, verallgemeinerungsfähige Aussagen so wünschenswert. Der wissenschaftliche Blick ist dann Lösung und Problem zugleich: Das Erkenntnisinteresse konstituiert überhaupt erst den Problemkomplex, bestimmt daran aber das Ergebnis mit. Oder anders ausgedrückt: Die Soziologie versorgt sich selbst mit der Möglichkeit einer Perspektive, die jedoch immer Bestimmtes ein- und Anderes ausschließen muss. Sie kann eben nicht alles sehen und sie kann es nicht zu ein und demselben Zeitpunkt – beides bedeutet dasselbe. Und es ist diese grundsätzlich zirkuläre Bedingung der Beobachtung, die letztlich zur Kontextualisierung des Beobachteten auffordert. Das muss gerade auch für die Untersuchung selbst gelten. Sie formuliert nur, was vor einigen Jahren so vermutlich noch gar nicht sicht- und benennbar gewesen wäre. Aus ihrer je spezifischen Perspektive wirft sie ein Schlaglicht auf ihren Untersuchungsgegenstand, der sich aus einem anderen Blickwinkel und im nächsten Moment schon ganz anders darstellen mag. Das wertet die hier getroffenen Betrachtungen weder ab noch auf, ordnet sie jedoch in eine Beobachtungsbedingung 2. Ordnung ein, die in ihrer Polyperspektivität und -kontexturalität sich nie Vollständiges oder Deckendes für sich in Anspruch nehmen kann.9 Die Untersuchung muss dann all jene enttäuschen, denen an einer endgültigen Klärung der Sachlage gelegen ist. Denn die Analyse interessiert sich weniger für die Beantwortung der Frage, ob gegenwärtig wirklich ein Strukturwandel des Sozialen erfolgt oder nicht. Sie interessiert sich allerdings dafür, in welchem Kontext und unter welchen Bedingungen dergestaltige gesellschaftliche Beschreibungen Plausibilität gewinnen. Diese Entscheidung bringt eine ganz eigene Textart hervor, die einerseits sichtbar machen kann, was sonst verdeckt bleibt und bleiben muss. Andererseits aber in ihrer speziellen Darstellungsform das Beobachtete mitbestimmt. Die Untersuchung fällt in diesem Sinne hinreichend „technisch“ aus, da sie sich um der Vergleichbarkeit willen an ein striktes Schema zu halten versucht, und kann darin immer nur auf sich selbst verweisen. Die Einleitung dient also nicht nur als Hinleitung zum Thema, sondern gewissermaßen auch als Anleitung zur Lektüre für die folgende „Tour de
9 Niklas Luhmann hat dieses Problem der Bedingungsmöglichkeit soziologischer Beobachtung einmal wesentlich treffender so formuliert: „We cannot give an ‚objective’ and definite answer to this question. For the question itself implies a re-entry of the observer/observed distinction into itself. And this means that we shall have to face unresolvable indeterminacies, temporalization, oscillation, memory function and above all that must replace the computation of all possible statements by a feedback reference to the historical situation from which we have to start“ (Luhmann 1997: 78).
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Force“ durch einige der zentralen und hinreichend bekannten klassischen Standpunkte der politischen Philosophie und der Gesellschaftstheorie. Damit ist abschließend zum Programm der Untersuchung zu kommen. In einem ersten Schritt soll es um eine begriffs- und ideengeschichtliche Klärung des Volksbegriffs von den Anfängen im Mittelalter bis zu dessen moderner Version gehen (Kapitel 2). Unmittelbar darauf folgt die Darlegung von Beschreibungen einer globalisierten Welt (Kapitel 3). Diese Gegenüberstellung ist aus Darstellungsgründen bewusst gewählt, da darin das Spannungsverhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik in Stellung gebracht ist, aus dem die Untersuchung ihre Dynamik zu ziehen hofft. Darauf folgen die an den bereits erwähnten Stichworten orientierten Kapitel ausgewählter gesellschaftstheoretischer Perspektiven und die ihnen je gegenübergestellten gegenwärtigen Versionen: Auf historischen Materialismus und Historismus in Gegenüberstellung zu Theorien der Wissensgesellschaft (Kapitel 4) folgen der soziologische Positivismus in Kombination mit Theorien der Postmoderne (Kapitel 5) und schließlich die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie konnotiert mit der Vorstellung einer Risikogesellschaft (Kapitel 6). Abschließend sollen die in den vorhergehenden Kapiteln dargelegten Verständnisse wieder aufgegriffen werden und auf die Beantwortung der Frage nach einem epochalen Wandel hin nutzbar gemacht werden (Kapitel 7).
2 Zur Genese des modernen Volksbegriffs
Kommt man heute auf das Volk zu sprechen, so ist damit in aller Regel das politische Volk gemeint. Ein Verständnis also, das mit gerade einmal 200 Jahren noch relativ jung ist. Anders als diejenigen Untersuchungen, die ihren Gegenstand von Anfang an mit Hilfe einer Definition zu fixieren suchen, interessiert sich die Analyse in erster Linie für Kontexte, deren Verschiedenheit sich an der je spezifischen Bedeutung des Volksbegriffs festmachen lässt. Vorteil einer derartigen Vorgehensweise ist, nicht per definitionem vorwegnehmen zu müssen, was eigentlich erst Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchung sein sollte. Andersherum schärft ein Verständnis, das den modernen Volksbegriff als Resultat eines ebenso unwahrscheinlichen wie unkontrollierbaren evolutionären Prozesses auffasst, erst den Blick für je spezifische Bedeutungen unter je verschiedenen soziostrukturellen Bedingungen. Die Arbeit erweist sich in diesem Sinne als sensibel für die Emergenz von Gesellschaftsstruktur und Semantik. Zur Erarbeitung jeweils vorherrschender Sinnbedeutungen des Volksbegriffs spannt die Untersuchung beginnend mit einer Darstellung der begriffsgeschichtlichen Wurzeln im Mittelalter einen ideengeschichtlichen Bogen von den frühneuzeitlichen Schriften Niccolò Machiavellis und Jean Bodins über die individualistische Vertragstheorie, vertreten durch John Locke und Thomas Hobbes, bis hin zu Jean-Jacques Rousseau und Emmanuel Sièyes, in deren Abhandlungen sich die Geburtsstunde eines modernen Verständnisses von Kollektivität abzeichnet. Damit ist selbstverständlich nur eine engste Auswahl in den Blick genommen, die sich einerseits mit Platzgründen und andererseits damit begründen lässt, dass die hier ausgewählten Perspektiven als repräsentativ für je dominante gesellschaftliche Problembeschreibungen ihrer Zeit gedeutet werden können. 2.1 Begriffsgeschichtliche Herleitung: Der mittelalterliche Volksbegriff Der Begriff „Volk“ – erste Belege gehen auf das 9. Jahrhundert zurück10 – findet in der mittelalterlichen Welt keine einheitliche Verwendung. Zunächst primär im militärischen Kontext im Sinne von „Heerschar“, „Kriegerschar“ oder „Gefolgschaft“ geprägt, steht der Begriff mindestens ebenso häufig für „niederes“ oder „geringes 10 Eine detaillierte Darstellung zu den vielfältigen Bedeutungskontexten des Volksbegriffs im Alt- und Mittelhochdeutschen ist bei Günter Herold nachzulesen (Herold 1940).
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2 Zur Genese des modernen Volksbegriffs
Volk“ in Abgrenzung zum Adel (Ehrismann 1970: 5, 131-136, 154; Herold 1940: 18, 37-38; Stroh 1974: 37; Oexle et al. 1990: 188; Koselleck et al. 1992: 193-194, 250-251, 292, 299; Brandt 2001: 1081;).11 Im kirchlich-religiösen Kontext kann sich der Wortsinn ebenso auf die Unterscheidung des Christenvolks von den Heiden wie auch auf die Kirchengemeinde als Laienvolk erstrecken (Koselleck et al. 1992: 194, 292, 299). Ebenfalls gebräuchlich ist die Verwendung im Zusammenhang mit dem Haushalt bzw. der „familia“ – je nach Zusammenhang unter Ein- oder Ausschluss des Gesindes (Brunner 1939: 296; Herold 1940: 41; Ehrismann 1970: 149-152, 154). Der Volksbegriff dient daneben ebenso häufig zur Bezeichnung von Personengruppen unterschiedlichster Größe und Zusammensetzung (Herold 1940: 41-42; Ehrismann 1970: 5-6, 126-129, 131; Koselleck et al. 1992: 233, 245, 292, 299; Brandt 2001: 1081). Schließlich kennzeichnet der Begriff auch die in einem Herrschaftsbereich lebenden Menschen (Ehrismann 1970: 178-179, 183; Koselleck et al. 1992: 292, 299; Brandt 2001: 1081). Man sieht schon: Ein Verständnis des Volks als einer selbstbestimmt das Soziale gestaltenden Handlungseinheit, wie es heute vorherrscht, wäre unter damaligen Bedingungen kaum nachvollziehbar gewesen. Im Gegenteil: Die Menschen des Mittelalters verstehen sich als Geschöpfe Gottes und als solche als Teil einer universalen Seinsordnung. Es ist der umfassende und unbedingte Charakter des göttlichen Schöpfungsplans, der sämtliche Lebensbereiche durchdringt und zu einem harmonischen Ganzen fügt – strukturiert durch Rang und Vorrang. Der durch und von Geburt an verliehene Stand weist ausnahmslos jedem eine feste Position im größeren Ganzen zu und lässt die Denkbarkeit von Alternativen gar nicht erst aufkommen. Jede Seele ist an ihrem jeweiligen Platz dem Willen Gottes entsprungen und wird genau an diesem einstmals gerichtet. Die mittelalterliche „Gesellschaft“ ist in diesem Sinne ganz personendeckend (Brunner 1939: 158; Duby 1986: 13, 16, 106; Grimm 1993: 28). „Der Begriff der Gliederung der Gesellschaft in Stände durchdringt im Mittelalter alle theologischen und politischen Betrachtungen bis in ihre Fasern. Er beschränkt sich durchaus nicht auf die übliche Dreizahl Geistlichkeit, Adel und dritter Stand. Der Begriff Stand hat nicht nur einen größeren Wert, sondern auch eine viel umfassendere Bedeutung. Im Allgemeinen wird jede Gruppierung, jede Funktion, jeder Beruf als ein Stand angesehen (...). Denn Stand ist Zustand, ‚estat’, oder ‚ordo’; es liegt darin der Gedanke einer von Gott gewollten Seinsweise“ (Huizinga 1975: 74; auch Duby 1986: 114).
Ein derartiges Gefüge, das in seiner „unerschütterliche[n] Grundlage“ (Duby 1986: 12) feststeht, findet seine Ausformung in konkreten personalen Beziehungen. Jede Person, hiervon nehmen sich auch die Mitglieder der herrschenden Stände nicht 11 Wie sehr sich das mittelalterliche Selbstverständnis einer Perspektive der Herrschenden schuldet, offenbart sich nicht zuletzt an der Volkssemantik selbst, die dem Adel – durch seine Titel hinlänglich gekennzeichnet – in erster Linie als Abgrenzungsbegriff gegenüber den niederen Schichten dient. „Deren Name und Aufgabe mußten näher dargelegt werden, um sie zu erkennen, während es beim Adel offenbar genügte, das Geschlecht zu wissen, um die Angehörigen zu bestimmen“ (Ehrismann 1970: 141).
2.1 Begriffsgeschichtliche Herleitung: Der mittelalterliche Volksbegriff
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aus, steht in einem komplexen Geflecht von Über- und Unterordnungs- bzw. wechselseitigen Rechte- und Pflichtenverhältnissen, die sich gegenseitig überlagern und in Konkurrenz miteinander geraten können (Brunner 1939: 299-302).12 Eine Gegenseitigkeit, die in der gottgewollten Hierarchie wurzelt, die „(...) der ungleichen Verteilung des Guten und Bösen im Menschen, der ungleichen Verteilung von Fleisch und Geist, von Irdischem und Himmlischem [entspringt – Anm. d. Verf.]. Da die Menschen von Natur aus mehr oder weniger zur Sünde neigen, ist es angebracht, daß die weniger Schuldigen die Führung der Herde wachsam, liebevoll und gehorsam übernehmen“ (Duby 1986: 104-105). Im Gegensatz zum modernen Verständnis fügen sich die an der Person orientierten Beziehungen des Mittelalters nicht der Unterscheidung von öffentlich und privat. Es handelt sich vielmehr um eine – so Duby – „Pluralität der Ordnungen“ (Duby 1986: 13) im Sinne der Verkettung binärer Beziehungen, in denen der „(...) Austausch gegenseitiger Dienste die Vielfalt der menschlichen Handlungen in die Eintracht zurückführt (...)“ (Duby 1986: 16). Jenes „wohltuende[s] Gleichgewicht“ (Duby 1986: 111) konstituiert die natürliche Unantastbarkeit der Ordnung, die zu durchbrechen einer enormen Anmaßung gleichkäme, hinterfragte sie doch Gottes Wille und dessen Schöpfung. Individuelle Freiheit und Gleichheit, zentrale Beschreibungsmomente der Moderne, sind hier unvorstellbar. Der Status des mittelalterlichen Menschen und dessen Verhältnis zu anderen bestimmt sich allein am religiösen Rahmen, in den er gestellt ist, und einem – für unser heutiges Verständnis – relativ wirren, sich überschneidendem Geflecht personenbezogener (Herrschafts-)Beziehungen (Brunner 1939: 163, 165; Duby 1986: 106; Oexle et al. 1990: 156, 191; Koselleck et al. 1992: 180, 256-258). Eine Welt aber, die sich als nach Gottes Ebenbild geschaffen versteht, lässt einen autonomen Bereich des Politischen, wie ihn die moderne Gesellschaft kennt, weder zu noch notwendig erscheinen (Grimm 1993: 28). Herrschaft ist an die Offenbarung eines bereits existenten, alles restlos einschließenden Seinszusammenhangs höherer Art geknüpft. Wie schon die naturgegebene Ordnung bei Aristoteles, an dessen Schriften sich die mittelalterliche Scholastik seit deren Übersetzung ins Lateinische stark anlehnt, steht auch die in Gott gegründete Ordnung nicht zur Disposition. Sie ist, wie sie ist und als solche ist sie schlechthin perfekt, gerecht und gut. Ihre Zielhaftigkeit findet sie im ewigen Seelenheil des (christlichen) Menschen. Keine irdische Gewalt kann eine Position für sich beanspruchen, die darüber hin12 Geprägt von der aristotelischen Tradition bildet so der Haushalt als Bündel von Herrschaftsbeziehungen um die zentrale Person des Hausherrn als Ehemann, Vater und Herr die kleinste „Herrschaftseinheit“ der mittelalterlichen Welt. Im Mittelpunkt steht die Funktion des Oberhaupts. Denn nur der Herr „(...) vermag rechtmäßige Gewalt im Lande zu üben, er schützt die in seinem Haus Wohnenden, seine Angehörigen, seine Dienstleute, die ‚familia‘. Der Hausherr haftet nach germanischem Recht für die Leute, die in seinem Hause dauernd wohnen, die er ‚haust und hoft‘, Freie wie Unfreie. (...) Ebenso aber hat der Hausherr die Rechtsansprüche seiner Leute zu vertreten. (...) So entwickelt sich ‚im Hause‘ eine Gerichtsgewalt des Herrn über seine Leute, die ihre Grenze erst an jenen Fällen findet, die an Leib und Leben gehen und vor die Landgerichte gehören“ (Brunner 1939: 296-297).
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weggehen könnte. Recht und Gerechtigkeit fallen vor einem derartigen Deutungshintergrund zwangsläufig in eins (Brunner 1939: 159, 163, 165, 302; Duby 1986: 111; Stichweh 1991: 178; Grimm 1993: 28). Eine Unterscheidung nach öffentlichem Raum, in dem das je erst zu ermittelnde Gemeinwohl alleiniges Richtmaß aller politischen Entscheidungen ist, und privatem Bereich, der der individuellen Gestaltung überlassen bleibt, muss hier ebenfalls unverständlich bleiben (Grimm 1993: 28). Im Gegensatz zur modernen Vorstellung eines sachlich und zeitlich offenen Gemeinwohls ist der mittelalterlichen Ordnung das Heil aller (gläubigen) Menschen kraft göttlicher Offenbarung bereits immanent. Es ist nichts, worum erst noch, überdies in einem autonomen Bereich des Politischen und kraft eines die Individualinteressen transzendierenden Gemeinwillens, gerungen werden müsste. Demgegenüber bestimmt sich mittelalterliche Herrschaft am durch Geburt verliehenen Status und Rang. Sie versteht sich als die Gesamtheit aller Verfügungsrechte eines konkreten Herrn über seinen unmittelbaren Herrschaftsbereich (Brunner 1939: 413-417; Koselleck et al. 1982: 2, 5, 14; Duby 1986: 112; Moraw 1983: 68). Herrschaft nimmt für sich also keine sachliche Exklusivität innerhalb eines klar umgrenzten Territoriums in Anspruch, sondern ist vielmehr durch die unmittelbare „Gegenseitigkeit von Herrschen und Beherrschtwerden“ (Koselleck et al. 1982: 8) gekennzeichnet. In ihrer dynastischen Natur ist sie Ausdruck eines an konkrete Personen gebundenen Über- und Unterordnungsverhältnisses, das von jeglicher höheren Gewalt mediatisiert (Brunner 1939: 179, 184; Moraw 1983: 63-65; Stichweh 1991: 187). Für das heutige Verständnis weist sich das Besondere mittelalterlicher Herrschaft dann ebenso an ihrem hohen Grad „territoriale[r] Zersplitterung“ (Moraw 1983: 60) aus wie sie aufgrund der Bindung an konkrete „Herr“-Schaften eine Pluralität von Beziehungen konstituiert. Die Herrschaft des Königs unterscheidet sich in ihrem Wesen nicht von der des Barons oder des Familienoberhaupts, soweit es um die Frage des Herr-Seins geht. Zweifelsohne steht der Monarch an der höchsten Stelle der weltlichen Ranghierarchie und ist für einige wenige Angelegenheiten alleinzuständig. Herrschaft ist jedoch grundsätzlich keine Frage der Exklusivität letztgültiger Regelungskompetenz, sondern kommt jedem Herrn qua seines Status’ zu. Das Mittelalter leidet denn auch chronisch unter sich am konkreten Herrschaftsgegenstand entbrennenden Rivalitäten, die allerdings darin zumeist regional und personal beschränkt bleiben. Die für den modernen Staat schlechthin charakteristische Definition, die Max Weber einmal so treffend auf den Begriff eines „Monopols legitimen physischen Zwanges“ (Weber 1980: 29; Betonung im Original) gebracht hat, muss hier letztlich unbekannt bleiben. Eine derartige Vorstellungswelt lokaler Autoritäten vermag keine Entwicklung eines abstrakten Begriffs von Souveränität, wie ihn erst Jean Bodin entwickeln wird, zu leisten (Brunner 1939: 13; Koselleck et al. 1982: 2, 5, 13, 14; Moraw 1983: 61; Quaritsch 1986: 15-17, 19, 22, 34-38). Eben dies lässt die feudalen Herrschaftsverhältnisse in den Augen
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des modernen Betrachters als so wirr und widersprüchlich, ja geradezu als „NichtStaat, Unordnung, Chaos und Anarchie“ (Brunner 1939: 132) erscheinen. Andererseits ist mittelalterliche Herrschaft durch die „Einbettung (...) in die religiöse Sphäre“ (Koselleck et al. 1982: 8) und die Bindung an eine gottgegebene Rechtsordnung gekennzeichnet. „Denn Menschen, die im Recht den Ausdruck der göttlichen Weltordnung erblicken, denen jeder subjektive Rechtsanspruch ‚Gerechtigkeit’ ist, die ideales und positives Recht nicht scheiden, können sich doch nicht als Wurzel alles positiven Rechts betrachten. Ist ihnen doch die Ordnung, in der sie leben, die alte, gute Ordnung, die bewahrt und wiederhergestellt werden muß, in der jedes Glied sein Recht, seine Gerechtigkeit hat, die nicht weiter ableitbar ist“ (Brunner 1939: 168-169).
Herrschaft ist in einer derartigen von Status und religiösem Universalismus geprägten Weltsicht nicht absolut gesetzt, sondern findet ihre Funktion in der Wahrung und dem Schutz bestehenden Rechts innerhalb einer bereits geltenden, weil gottgegebenen Ordnung (Meier et al. 1972: 838; Koselleck et al. 1982: 2; Duby 1986: 112; Grimm 1993: 30). Sie erscheint, wenn man so will, als verlängerter Arm einer höheren Gewalt. Der politische Eingriff in die Welt erstreckt sich hier allerdings einzig und allein auf die Korrektur jener anmaßenden Überschreitungen gegebener Standesgrenzen, die als vorübergehende Störung der Gesamtordnung alsbald korrigiert werden müssen (Brunner 1939: 168; Huizinga 1975: 79, 83; Duby 1986: 106; Oexle et al. 1990: 187, 191; Koselleck et al. 1992: 264; Grimm 1993: 28).13 Mit anderen Worten: Herrschaft kann hier immer nur die Funktion eines „aus-der-Welt-schaffens“ annehmen, das andersherum ein uneingeschränktes „Ja“ zur bestehenden Ordnung voraussetzt. Das Anforderungsprofil an Herrschaft ist dann ganz klar umgrenzt: „(...) [m]an muß die Worte – oder die Menschen – angemessen ordnen, sie ins rechte Verhältnis zueinander setzen, die Elemente eines Ganzen komponieren, sie an den geeigneten, den von der Vorsehung erwählten Ort rücken; denn es gibt einen früheren, einen immanenten, unbeweglichen Plan für diese Art der Zuordnung, einen Plan, den es mit Hilfe der Reflexion zu enthüllen gilt, um sich ihm anzupassen“ (Duby 1986: 112-113). Wenig verwunderlich, dass sich der zeitliche Erwartungshorizont einer derartigen Vorstellungswelt stark an der Vergangenheit orientiert. Der je gegenwärtige „Zu-Stand“ richtet sich an der gegebenen Ordnung aus, in der Lebensbereiche und Personen immer schon nach dem Willen des Schöpfers vorherbestimmt sind. „Das 13 Das beklagt etwa Sebastian Brant (1457/58-1521) in seinem „Narrenschiff“ aus dem Jahr 1494: „Inn allen landen ist groß schand / Keynen begnügt me / mit sym stand / Nyemans denckt wer ihn vorderen wore“ (Brant 1968: 214; Verse 60-63). Die Verfehlungen der Einzelnen bleiben allerdings nicht auf diese begrenzt, sondern haben Konsequenzen für das größere Ganze, das mehr und mehr aus den Fugen gerät.„Die gantz welt lebt in vinstrer nacht / Und dut in sünden blint verharren / All strassen / gassen / sindt voll narren / Die nüt dan mit dorheit vmbgan / Wellen doch nit den namen han“ (Brant 1968: 3, Verse 8-12). Heilen lässt sich das nur durch die Rückkehr zur gottgegebenen Ordnung: „Dar umb loß gots fürwissenheyt / Und ordenung der fürsichtikeyt / Stan wie sie stat / thu recht und wol“ (Brant 1968: 142, Verse 87-89).
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mittelalterliche Bild der Gesellschaft“, so Huizinga, „ist statisch, nicht dynamisch“ (Huizinga 1975: 75). Das versteht sich von selbst, denn Gott ist Alpha und Omega, Anfang und Ende – von allem. Selbst das Jüngste Gericht als Kulminationspunkt der Zukunft alles Irdischen liegt noch innerhalb eines auf Ewigkeit abstellenden Zeithorizonts. Als Zielpunkt der Heilsgeschichte ist es der Zeit bereits immanent, ja, strukturiert das mittelalterliche Leben geradezu (Koselleck 1989g: 20). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der Volksbegriff der feudalen Ständegesellschaft als ein „Plural-Sammelbegriff“ (Koselleck et al. 1992: 237) in zwei zueinander quer liegenden Fassungen auszeichnet. Während dieser einerseits der Bezeichnung unterschiedlicher funktionaler Kontexte – militärisch, ständisch, religiös, quantitativ und auf den Herrschaftsbereich bezogen – dient, erstreckt sich der Wortsinn andererseits auf eine variable Menge unterschiedlicher Personen. Weder der funktionale noch der quantifizierende Sinn ist aus dem mittelalterlichen Volksbegriff unmittelbar und eindeutig ersichtlich. Erst der jeweilige Verwendungszusammenhang macht das Gemeinte deutlich. So ist es aus heutiger Sicht einerseits die Unschärfe, Uneindeutigkeit und uneinheitliche Verwendung der mittelalterlichen Volkssemantik, die besonders auffällt. Andererseits bezeichnet der Begriff in der feststehenden Ständeordnung der feudalen Welt plurale Personengruppen, die in einem konkreten, abgeleiteten sozialen Beziehungsverhältnis zueinander stehen (Koselleck et al. 1992: 300). „Nirgends aber erscheint das Volk in der Ganzheit der alle Seiten seines Lebens gestaltenden Ordnungen“ (Brunner 1939: 193; Betonung im Original). Dieses Verständnis wird erst die Moderne pflegen. 2.2 Theoriengeschichtliche Herleitung In der frühen Neuzeit erfährt die gesellschaftliche Selbstbeschreibung eine Zäsur, die nicht zuletzt auch die Form der Ausdifferenzierung des Politischen als einem Bereich eigener Logik aus dem universalen Zugriff des Religiösen annimmt. Während sich das Politische zunächst unter Rückgriff bzw. Beibehaltung spezifischer Denkgegebenheiten der mittelalterlichen Welt autonomisiert, stellt sich die Frage, inwiefern sich die genannten evolutionären Veränderungen auch an einem Volksbegriff abzeichnen, der in der Moderne voll politisiert sein wird. Das wurzelt zunächst in der Umdeutung der mittelalterlichen Statusordnung in eine Herrschaftsordnung, die die Herauslösung des Politischen aus dem universalen Zugriff der Religion einerseits nah an gegebenen Rangkriterien belässt, andererseits aber auch schon auf Funktionalisierung abstellt. Herrschaft ist jetzt nicht mehr Ergebnis und Ausdruck einer gottgewollten Ordnung, sondern der unmittelbaren Repräsentation der Beherrschten – dem Untertanenvolk – durch den souveränen Herrscher. Dieses Verständnis ändert sich erneut mit der Ökonomisierung der Gesellschaft, die einerseits eine größere Bewegungsfreiheit der Marktteilnehmer und andererseits, ob der
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Belastung durch religiöse Auseinandersetzungen, Eindeutigkeit und Rechtssicherheit erfordert. Politische Autorität verdankt sich ab jetzt, zumindest in den Schriften der zeitgenössischen Denker, der freiwilligen Zustimmung von freien und gleichen Individuen, deren Interessen sie andersherum zu schützen und zu bewahren hat. Sie hat es dabei nach wie vor mit einem Untertanenvolk zu tun, das sie repräsentiert und das entweder keine oder alle Kontrollrechte darüber zurückbehält, ob die oberste Instanz dies in ihrem Interesse tut oder nicht. Die Übersteigerung absolutistischer Gewalt lässt sich allerdings auf Dauer nicht mit den Prinzipien individueller Gleichheit und Freiheit vereinbaren. Das kann nur mehr die Rückführung aller souveränen Autorität auf das Volk als einer Willenseinheit und die daraus folgende Qualifikation aller Regierungsgewalt als lediglich vorübergehend und stellvertretend verliehen garantieren. Diese hier nur in aller Kürze dargelegte evolutionäre Entwicklung soll im Folgenden an zentralen Positionen der neuzeitlichen politischen Philosophie näher dargelegt werden. 2.2.1 Der Volksbegriff in der frühen Neuzeit 2.2.1.1
Niccolò Machiavelli: Staatsräson und das Politische als Bereich eigener Logik
Kaum ein anderer Name wird in der staats-, sozial- und geschichtswissenschaftlichen Rezeption so einhellig mit der Wende von der Vorstellung einer gottgegebenen Schöpfungsordnung zu der eines autonomen Bereichs des Politischen identifiziert wie der von Niccolò Machiavelli (1469-1527). Und nur wenige Abhandlungen anderer politischer Denker scheinen bis heute so sehr für „Skandalwirksamkeit“ zu sorgen, wie eben jene des frühneuzeitlichen Florentiners (Pocock 1975: 177; Koselleck et al. 1982: 18; Münkler 2004: 97, 289, 100). Dabei ist es gerade die im Autonomiebegriff der Staatsräson aufgehobene Vorstellung des Politischen als eines von Unsicherheit geprägten Raumes eigener Rationalität, die nichts an Aktualität eingebüßt hat (Nassehi 1993: 308). Seit der frühen Neuzeit weisen sich politische Entscheidungen nicht mehr am Glauben an eine umfassende gottgegebene Wahrheits-, Moral- bzw. Rechtsordnung aus, sondern am machtpolitischen Kalkül. Die Apostrophierung einer Handlungs- oder Denkweise als machiavellistisch scheint eben dies immer schon mitzureflektieren. In der Rezeption zumeist als „Exponent kühler Machtrationalität“ abgeurteilt, ist Machiavelli heute in erster Linie „(...) Inbegriff für jene politische Überzeugung, derzufolge jedes Mittel recht ist, wenn es denn zum Erfolg führt“ (Münkler 1990: 14). Während diese Einschätzung sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen ist, spricht doch einiges dafür, in den beiden zentralen Schriften des frühneuzeitlichen Italieners – „Il Principe“ (1513) und die „Discorsi“ (1522) – eine gemeinsame politische Moralität am Werk zu sehen, die sich
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ebenso den Problemen ihrer Zeit schuldet wie sie diese auf den Punkt bringt (Skinner 1978: 183-184; Skinner 1981: 50-51).14 Es lohnt daher, zunächst einen Blick auf die historische Lage der Entstehung der genannten Schriften zu werfen. Geteilt in fünf rivalisierende Herrschaftsgebiete – Venedig, Florenz, Mailand, Neapel und der Kirchenstaat – leidet das Italien zu Machiavellis Lebzeiten unter seiner eigenen Zerrissenheit. Die daraus erwachsende Schwäche macht es umso verwundbarer für die ständigen Interventionen äußerer Mächte, seien es nun französische, deutsche oder österreichische Kräfte (Ottmann 2006: 12). Doch auch nach innen lässt sich kaum von Stabilität sprechen. Herrscher kommen und gehen auf mehr oder weniger „natürlichem“ Wege. Konstant scheint allein die damit einhergehende Erfahrung permanenter Ungewissheit und Diskontinuität. Was für die Zustände innerhalb Italiens gilt, wiederholt sich in nicht geringerem Maße in den regionalen Herrschaftsterritorien. So etwa auch in Florenz, der Heimat und Wirkungsstätte des Staatsbeamten Niccolò Machiavelli. Allein zwischen 1494 und 1530 erlebt die Stadt mehrmalige Wechsel zwischen Alleinherrschaft und Republik. Die Rivalität der nach Macht strebenden Sippen kostet so manchem von deren Familienmitgliedern das Leben. Mordkomplotte, Anschläge und Verschwörungen – das scheint das täglich Brot der politischen Verhältnisse im ausgehenden Mittelalter. Die Lage ist grundsätzlich prekär. Denn wer sich allzu sehr in Sicherheit wiegt oder permanent auf Konfrontation aus ist, hat ebenso schon verloren wie der, der seinen nächsten Familienmitgliedern und Ratgebern zu sehr oder zu wenig vertraut. Die enge Verquickung von politischem Schicksal und personalem Träger macht die nächste Umgebung des Fürsten zugleich zur unverzichtbaren Stütze der Herrschaft wie zum Kreis der potentiell gefährlichsten Feinde derselben. Eine Ausgangssituation, die nicht nur in den Schriften des Ratgebers und Politikers Machiavelli Niederschlag findet. Er selbst gerät gewissermaßen unter fortunas Räder und wird nach einem erneuten Machtwechsel unter dem Verdacht der Verschwörung auf Lebzeiten aus Florenz verbannt (Weber-Fas 2003: 2). Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass Machiavellis Schriften ihren speziellen Reiz aus dem klaren Bruch mit jenen Kernvorstellungen des Mittelalters beziehen, die bis vor kurzem noch ganz selbstverständlich galten. Im Gegensatz zur immanenten Stabilität gottgewollter, ererbter Herrschaft steht für Machiavelli mit der Frage nach der erfolgreichen Erlangung und Sicherung derselben ein ganz andersgeartetes Problem am Ausgangspunkt der Schriften „Il Principe“ und „Discorsi“.15 Der Fürst, speziell der neue Fürst, der frühen Neuzeit muss sich der „unmittelbare[n] Gefahr“ (Machiavelli 1990b: 70) bewusst sein, in der er und seine Herrschaft zu jeder Zeit schweben. Brennpunkt ist dessen Status, der, bis vor kurzem 14 Für eine detaillierte und vielschichtige Einordnung von Machiavellis Denken im Kontext der politischen Philosophie der frühen Neuzeit siehe Skinner 1978. 15 Der folgende Abschnitt konzentriert sich, um der erforderlichen Kürze willen, auf die Schrift „Il Principe“ und greift nur vereinzelt auf die „Discorsi“ zurück.
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noch im göttlichen Willen abgesichert, ihn einerseits schützt, andererseits aber auch zwangsläufig in den Fokus konkurrierender Herrschaftsansprüche rückt (Machiavelli 1990b: 58, 59, 60). Dem ist nur durch radikale Maßnahmen beizukommen und zwar am besten am neuralgischsten aller Zeitpunkte für die Sicherung von Herrschaft – deren Antrittsmoment. Die sofortige Beseitigung des vorhergehenden Herrschers bzw. all jener Unzufriedenen, die sich der neue Fürst durch seine Eroberung zwangsläufig zu erbitterten Feinden machen muss, konstituiert denn auch den eigentlichen herrschaftsbegründenden Akt in Machiavellis Denken.16 Eine Art herrschaftspolitische „tabula rasa“, die die Neuheit und Verwirrung der Umbruchsituation nutzt, um sie nach ihrem Willen neu zu ordnen (Pocock 1975: 160, 172). Es wäre jedoch ein Fehler – so Machiavelli – sich mit dem Wissen der einmaligen Erledigung der Rivalen in falscher Sicherheit zu wiegen. Der radikale Herrschaftsumbruch bringt mit der allgemeinen Verunsicherung der Untertanen noch eine ganz andere, mittelbare Gefahr mit sich. Machiavelli ermahnt den Fürsten eindringlich, sich in dieser Situation nicht auf die Ergebenheit des Volks zu verlassen (Machiavelli 1990b: 91). Im Gegenteil: Der Fürst muss sich dessen bewusst sein, dass er es mit einer Menge von Profiteuren zu tun hat, die stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Aus den gewohnten Bahnen geworfen, in die man sich so schön gefunden hatte, wissen sie nicht, ob sich der Umbruch für sie lohnen wird (Pocock 1975: 164). Eine Situation also, in der eher mit Wankelmut und Unruhe im Volk zu rechnen ist, was wiederum Gegnern in die Hände spielen könnte (Machiavelli 1990b: 60, 78).17 Der neue Herrscher muss also nicht nur hart gegen seine Rivalen vorgehen, sondern auch das richtige Maß zwischen Liebe und Furcht gegenüber den Untergebenen finden, will er nicht nur im Moment der Machtergreifung, sondern auch im Erhalt derselben erfolgreich sein. Eine schier unlösbare Aufgabe, muss die Beseitigung der Konkurrenz doch schnell und ohne großes Aufsehen vonstattengehen, während vertrauensbildende Maßnahmen naturgemäß Zeit benötigen, die der Fürst in dieser Situation höchster Verwundbarkeit gar nicht haben kann. Machiavellis Wink an Herrscher und Karrieristen ist denn auch ganz klar: Im herrschaftskonstituierenden Moment lebt es sich am gefährlichsten und stirbt es sich am leichtesten eines unnatürlichen Todes (Machiavelli 1990b: 72, 98-99). Die Problembeschreibung, das sollte deutlich geworden sein, versteht sich als Selbstverunsicherung einer einstmals religiös gedeuteten Welt, in der sich Herrschaft als Teil einer transzendenten Moral- und Rechtsordnung konstituierte. Rivali16 Beispielhaft gilt Machiavelli hier die durch den Brudermord von Romulus an Remus erfolgte Gründung Roms. „Wenn ihn die Tat anklagt, so muß ihn der Erfolg entschuldigen; und ist dieser gut, wie bei Romulus, so wird er ihn auch immer entschuldigen; denn wer gewalttätig ist, um zu zerstören, nicht wer es ist, um aufzubauen, verdient Tadel“ (Machiavelli 1990a: 151). 17 Während Machiavelli diese Art von Unruhen als potentiell verheerend für die fürstliche Herrschaft versteht, garantieren demgegenüber die in institutionelle Bahnen gelenkten Auseinandersetzungen zwischen Adel und Volk in der Republik die Freiheit derselben (Machiavelli 1990a: 138-139).
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tät und Unruhe konfrontieren die Machthaber der frühen Neuzeit demgegenüber mit doppelter Unsicherheit: Sie können weder davon ausgehen, über ein konkurrenzloses Gewaltmonopol zu verfügen, noch ist mit fortwährender Loyalität von Seiten Gleichrangiger bzw. Untergebener zu rechnen. Oder anders formuliert: Insofern das Problem letztlich die Form der Kontrolle über physische Gewalt annimmt, setzt sich Herrschaft allein dadurch, dass sie existiert, immer schon als gerechtfertigt voraus. Eben das macht sie für ihre Infragestellung so empfänglich. Das Problem ist der politische Akt selbst, „(...) the uncontrolled act having uncontrolled consequences (...)“ (Pocock 1975: 156), dem wiederum nur in Form weiterer politischer Handlungen beizukommen ist. Der frühneuzeitliche Herrscher ist zum Handeln gezwungen, um sich vom Handeln unabhängig zu machen. Und das immer vor dem Hintergrund eines jederzeit drohenden Verlusts der Herrschaft und des eigenen Lebens allein durch einen einzigen falschen Schachzug. Das macht politisches Handeln letztlich so prekär: Jede Wahl ist potentiell selbstzerstörerisch, ohne zugleich die Wahl zu haben, nicht zu wählen (Pocock 1975: 161, 166, 167). In einem derartigen Verständnis müssen die Sicherung der Herrschaft, des Fürstenstaats und der natürlichen Person des Herrschers unwillkürlich in eins fallen. Alles drei zu schützen, wird zur invariablen Staatsräson, zur einzigen, zeitkonstanten Sachnotwendigkeit, die der Fürst kennen darf. Die Handlungsvorgaben der christlichen Tugendkataloge, das macht Machiavelli deutlich, bieten dabei allerdings kaum Hilfestellung (Skinner 1981: 36-37). Denn „[E]in Fürst, und namentlich ein neuer Fürst, kann nicht so handeln, wie die Menschen gewöhnlich handeln sollten, um rechtschaffen genannt zu werden; das Staatserfordernis nötigt ihn oft, Treue und Glauben zu brechen und der Menschenliebe, der Menschlichkeit und Religion entgegen zu handeln. Er muß also nach dem Winde segeln, aber nicht ganz vom Wege des Guten ablenken, solange dies nur möglich ist; erst dann muß er ohne Bedenken Verbrechen begehen, wenn es die äußerste Not erfordert“ (Machiavelli 1990b: 97-98).
Es ist die Selbstausnahme des Fürsten – eine Art politischer Sündenfall – von den vorgegebenen Moralvorschriften, die ihm überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, sich entweder tugendkonform oder eben nicht zu verhalten. Denn worum es geht, ist, „(…) selbständig die Mittel gegen die drohende Gefahr zu wählen (…)“ (Machiavelli 1990a: 184), um sich letztlich von den gegebenen Umständen unabhängig machen zu können. Das bedeutet aber gerade auch, sich im gegebenen Moment über die üblichen Tugendvorgaben hinwegzusetzen (Machiavelli 1990b: 91-106). Oder in den Worten des königlichen Ratgebers John of Gaunt in Shakespeares Richard II.: „Teach thy necessity to reason thus; There is no virtue like necessity“ (King Richard the Second, Act I, Scene III). Aber auch das birgt wiederum Gefahren für die Herrschaft und konstituiert zugleich deren immanente Grenze: Zu den Kernfähigkeiten des Fürsten bzw. der Republik gehört es, bei aller Machtrationalität das notwendige Maß walten zu lassen. Da die Funktion von Herrschaft in ihrer eigenen Sicherung liegt, darf sie möglichen Rivalen oder Unruhen keinen Vorschub
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leisten. Der Zweck heiligt die Mittel – aber eben nicht immer und schon gar nicht ohne jedes Maß. Der vorbildliche Fürst stellt sich in diesem Sinne als Rechner mit kühlem Kopf und klarem Verstand heraus, in dessen persönlicher Fähigkeit es liegt, „(...) das Verhältnis der Nachteile und die Natur der Sache zu erkennen und das kleinere Übel als ein gutes anzusehen“ (Machiavelli 1990b: 113). Der Nutzen einer Maßnahme aber ergibt sich nicht aus deren gerechter oder tugendhafter Natur, sondern bedarf der Kalkulation mit der Staatsräson als Konstante sowie den zeitlichen Umständen und den zur Verfügung stehenden Mitteln als den zwei aufeinander bezogenen Variablen (Machiavelli 1990b: 59, 91). Andersherum geht mit der Umstellung von Kriterien- auf Folgenorientierung zwangsläufig die Gefahr von Fehlurteilen und fatalen Entscheidungen einher.18 Was zählt, ist eben nicht die gute Tat oder der gute Wille, sondern der Erfolg: „Man beurteilt die Handlungen aller Menschen, besonders aber die Handlungen der Fürsten, welche keinen Richter über sich haben, bloß nach dem Erfolge. – Es muß also des Fürsten einziger Zweck sein, sein Leben und seine Herrschaft zu erhalten“ (Machiavelli 1990b: 98). In Anbetracht von beständiger Unsicherheit ein mitunter lebensrettendes Kriterium. Dass sich der Fürst alle Optionen offenhalten muss, darf indes auch vor Gewalt nicht haltmachen. Erweist sich diese doch in der „(...) Vorstellung eines zu erwartenden Übels (...)“ (Machiavelli 1990b: 95) als besonders effektives, da universales, zeitunabhängiges Mittel. Allerdings: Auch diese Grenzdurchbrechung bringt wiederum eine neuerliche Grenzziehung hervor. Machiavelli warnt eindringlich davor, die Universalität von Gewalt nicht als Dauerlösung zu verstehen und rät eher zu dem, was Sheldon Wolin eine wohlausgewogene „economy of violence“ (Wolin 2004: 197) nennt. Alles andere erweist sich als ebenso ehrlos wie unökonomisch und angesichts der fortwährend „verschiedenen Umstände und Verhältnisse“ (Machiavelli 1990b: 119) als geradezu fahrlässig. All dies bringt auf den Punkt, was bislang nur unterschwellig zum Ausdruck kam: die grundlegende Erfahrung der Kontingenz der Verhältnisse. „Alles unterliegt dem Wechsel der Zeit, aus ihr entkeimt ebenso das Böse wie das Gute“ (Machiavelli 1990b: 57). Angesichts der kontinuierlichen Veränderung von Situationen und deren Wirkungen müssen jedoch die auf Ewigkeit abstellenden mittelalterlichen Moral- und Normvorgaben ihre Funktion als Orientierungsmaßstab zwangsläufig einbüßen. So ist es in diesem Verständniszusammenhang die Diskrepanz von Sollen und Sein, von allgemeinem Erwartungshorizont und Wirklichkeit, die laufend paradoxe Ergebnisse produziert (Machiavelli 1990b: 91, 118). Nicht die an christlichen Moralvorgaben orientierte Verhaltenskonstanz – so die Folgerung Machiavellis – 18 Das setzt voraus, dass inzwischen mit Diskrepanzen zwischen Intention und Ergebnis zu rechnen ist. Die Unkalkulierbarkeit der Wirkung eigenen Handelns kann Machiavelli allerdings noch nicht als Eigenheit von Zeit verstehen, sondern gibt ihr als Göttin fortuna die Form einer dem menschlichen Einfluss entzogenen, schicksalhaften Gewalt.
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führt zum erwünschten Ziel, sondern das an die jeweiligen Umstände angepasste Handeln (Machiavelli 1990b: 119). Das wiederum setzt einen Raum voraus, der strategische Variationen eines freien Willens zulässt und zugleich das durch das Schicksal Entzogene nicht als pures Chaos versteht. Machiavelli spannt eben diesen Zeithorizont an der Differenz zwischen virtù als der Handlungsmächtigkeit des Fürsten und fortuna als dem Auf und Ab der Zeit auf (Machiavelli 1990b: 118).19 „Da (...) die menschlichen Wünsche unersättlich sind, weil uns die Natur alles zu begehren erlaubt und antreibt, das Schicksal aber nur wenig zu erreichen gestattet, so entsteht daraus eine immerwährende Unzufriedenheit im menschlichen Gemüte und Überdruß an all den Dingen, die man besitzt. So wird die Gegenwart getadelt, die Vergangenheit gelobt und die Zukunft herbeigewünscht, auch wenn man keine vernünftige Ursache dazu hat“ (Machiavelli 1990a: 214).
Das durch Rivalität, Unruhe und Tod vorherrschende Diktat der Kurzfristigkeit lässt also eine langfristige Perspektive ebenso unmöglich erscheinen, wie sie sie zugleich für Fürst und Republik (überlebens-)notwendig macht. Angesichts der Flüchtigkeit der Zeit gilt es, weitausschauende Pläne zu schmieden, dem Künftigen vorzubeugen und seine Zeit gut zu nutzen (Machiavelli 1990b: 56, 72, 74). Andernfalls droht Irreversibilität. Das Schicksal wütet dann mit voller Kraft und ebenso klarem Ausgang: Die Mächtigen müssen fallen und schlimmstenfalls das eigene Leben einbüßen.20 Eine derartige Sicht der Dinge zieht in jeder Situation das Handeln, mag es auch mit Risiko behaftet sein, dem abwartenden, hinauszögernden, passiven Verhalten vor. Wie reflexiv sich dies bei Machiavelli bereits ausnimmt, zeigt sich daran, dass es ihm letztlich um die Herrschaft über das Verhältnis des herrschenden Verhältnisses zwischen virtù und fortuna geht. „If politics be thought of as the art of dealing with the contingent event, it is the art of dealing with fortuna as the force which directs such events and thus symbolizes pure, uncontrolled, and unlegitimated contingency“ (Pocock 1975: 156; Betonung im Original). Die fürstliche virtù aber beherrscht fortuna nur dann, wenn sie dazu in der Lage ist, das Verhältnis zwischen beiden durch ihr Eingreifen zu ihren Gunsten zu verschieben. Ziel des Fürsten muss es also sein, den Einfluss des Schicksals so weit wie möglich aus dem eigenen Handlungsbereich zu externalisieren. Das aber kann niemals vollständig gelingen, denn fortuna lässt sich immer nur auf bestimmte Dauer auf Distanz halten. Und wieder steht der Fürst vor einer prekären Wahl, die ihm keine Wahl lässt: Insofern die virtù als kontrollierte politische Handlung das einzige Mittel zur 19 Und noch zu Shakespeares Zeiten sieht man sich mit der Frage nach der Wirkungsmacht des Schicksals gegenüber menschlicher Handlung konfrontiert, wenn Hamlet fragt: „Whether ’tis nobler in the mind to suffer / The slings and arrows of outrageous fortune, / Or to take arms against a sea of troubles, / And by opposing end them?“ (Hamlet, Prince of Denmark, Act III, Scene 1). 20 Dass dieser Art der Argumentation gerade keine fatalistische Tendenz innewohnt, liegt darin verborgen, dass die Situation gar nicht erst die Wahl lässt, nicht zu wählen. Dass sich aber selbst der erfolgreichste Fürst und die glücklichste Republik dem Schicksal nicht vollständig entziehen können, fordert andersherum dazu auf, dass man „(...) immer hoffen und hoffend in keiner Lage, in keiner Not noch Mühsal sich selbst aufgeben“ (Machiavelli 1990a: 230) darf.
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Kontrolle der unkontrollierbaren fortuna darstellt, setzt er sich genau darin derselben immer wieder unweigerlich aus (Pocock 1975: 162, 167).21 In einem Herrschaftsverständnis, das in Rivalität zugleich die größte Gefahr für die Machtsicherung und die größte Chance auf Machterlangung sieht, kann aber nur derjenige fortuna trotzen, dem es gelingt, seine Herrschaft weitgehendst unabhängig von anderen Personen auszuüben. Je unabhängiger der Fürst handeln kann, desto weniger ist er der kontingenten Polarität von fortuna und virtù ausgesetzt, desto mehr nähert sich seine Herrschaft der Ruhe an (Pocock 1975: 162; Skinner 1981: 34-35). Das hört sich ebenso logisch wie simpel an, scheitert jedoch zwangsläufig an der strukturellen Bedingung, dass der Herrscher sehr wohl auf andere Personen angewiesen ist – allem voran auf (familiäre) Ratgeber und das Militär. Wenig verwunderlich also, dass Machiavelli hier besonders ausführlich auf typisch zu vermeidende Fehler eingeht (siehe Machiavelli 1990b: Kap. XII-XIII). Woran aber kann der Fürst seine Entscheidungen dann überhaupt orientieren, wenn das Problem ebenso in der mangelnden Flexibilität der christlichen Tugendkataloge wie im permanenten Wechsel von Zeiten und Loyalitäten liegt? Orientierungshilfe findet er vor dem Hintergrund zyklisch wiederkehrender Zeitläufe im Erfahrungswissen partikulärer Fallbeispiele, das sich der politische Karrierist im langwierigen „Studium der Geschichte“ (Machiavelli 1990b: 51) aneignen muss, um im Folgenden vor allen Dingen dem eigenen Urteil vertrauen zu können. Das Kreislaufmodell der Zeit, das Machiavelli Polybios entlehnt, bindet die prognostizierbare Zukunft zurück an eine Vergangenheit, aus der man etwas lernen kann – und sei es auch nur, wie man es nicht machen soll (Koselleck 1989g: 32).22 Auch hier trifft der Fürst wieder auf die Reflexivität seiner Handlungsweise: Er kann sich einzig und allein auf seine eigene Einschätzung der Lage verlassen, die zwangsläufig situationsverändernden Charakter haben muss. Damit aber gewinnt eine ganz neue Maßgabe 21 Fortuna als Kulminationspunkt des zugleich Entzogenen und Gestaltbaren taucht auch schon bei Francesco Petrarca (1304-1374) und Dante Alighieri (1265-1321) auf. So zeigt sich die Schicksalsgöttin für Petrarca zugleich in Gestalt des Glücks und des Unglücks (Petrarca 1988: 55, 65). Einerlei, ob das Heilmittel dann in der Selbstzügelung angesichts unverhofften Glücks oder im Trost im Unglück liegt, gibt es letztlich nur einen Grundsatz, der beide Extreme auf Distanz hält: Nämlich „(...) einstweilen mit gewissen handlichen und nächstliegenden Waffen gegen alle Angriffe und jeden plötzlichen Ansturm, woher er auch komme, beständig gerüstet [zu] sein“ (Petrarca 1988: 51). Noch deutlicher bringt Dante Alighieri die ungestüme Natur fortunas in seiner „Göttlichen Komödie“ zum Ausdruck, wenn er warnt: „Was helfen eure Künste gegen sie! / Sie plant, sie richtet, sie vollbringt ihr Werk / als echte Göttin, frei in ihrem Reiche, / ihr Wandlungswille duldet keinen Stillstand, / Notwendigkeit beflügelt ihre Schritte, / und immer drängen neue Kräfte nach“ (Alighieri 2002: 56). 22 Machiavelli rechnet also nach wie vor mit einem dem menschlichen Zugriff entzogenen Bereich. Dieser gewinnt Relevanz für das menschliche Handeln allerdings nicht mehr aus einem transzendenten Willen, sondern als eine dem Weltenlauf immanente Bewegung (Münkler 2004: 105). Oder in Münklers Formulierung: „An die Stelle der providentia Dei trat bei ihm [Machiavelli – Anm. d. Verf.] nun die necessità der geschichtlichen Abläufe. In dieser ehernen Notwendigkeit, nicht aber in der göttlichen Vorsehung sah Machiavelli das aufgedeckte Geheimnis der Geschichte“ (Münkler 2004: 101; Betonung im Original).
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fürstlicher Politik an Bedeutung: die Notwendigkeit der Geheimhaltung (Nassehi 1993: 305-306). Die Strategien fürstlicher Politik müssen gegenüber den Rivalen im Verborgenen bleiben.23 Friede bzw. Ruhe ist mithin das immer wieder erst durch handelndes Eingreifen zu erarbeitende Ergebnis von Herrschaft im Horizont permanenten Wandels. Die Umstände zwingen dazu, zu handeln, um in Ruhe leben zu können, was wiederum die Gegebenheiten verändert, die dann erneut zur Aktion nötigen. Das kann man nicht ändern. Die Lang- oder Kurzfristigkeit der eigenen Perspektive hingegen schon. Dem Fürst gegenüber, das zeigt das Gesagte bereits, steht der Untertan. Beide Positionen machen deutlich, dass sich auch die frühe Neuzeit weiterhin einer an Personen und deren Status orientierten Ordnung verpflichtet fühlt. Allerdings unter anderen Vorzeichen als noch in der mittelalterlichen Vorstellungswelt. In einer Zeit, die unter permanenten Gewaltausbrüchen und Unsicherheit leidet, wird der fürstliche Herrscher zum Garanten von Ruhe und Ordnung. Begriffe wie Maß, Klugheit, Mitte, Lob, Tadel oder Tapferkeit, der Tradition der Fürstenspiegel entnommen, orientieren Herrschaft weiterhin an den Qualitäten und Fähigkeiten der Person des Machthabers. Allerdings nicht im Sinne der Auszeichnung einer unsterblichen Seele, sondern als sehr menschliche Eigenschaften der virtù (Skinner 1981: 27). Die Statusordnung des Mittelalters findet sich so in der frühen Neuzeit als Herrschaftsordnung wieder und verweist auf ihre eigene Spitze, wenn es darum geht, den Kreis jener Personen zu spezifizieren, die über die zur Herrschaft notwendigen, außergewöhnlichen Fähigkeiten verfügen.24 Die Differenz von Fürst und Untertan gründet sich auf die virtù, die die Person des Fürsten von den Untertanen und vor allen Dingen von erfolglosen Aspiranten unterscheidet (Pocock 1975: 161, 167). Es sind die „vortrefflichen Talente“ (Machiavelli 1990b: 52) und die „persönliche Tüchtigkeit“ (Machiavelli 1990b: 63), die über das Erlangen oder Verfehlen der Staatsräson entscheiden. Der Herrscher muss sich darauf verstehen, die christlichen Moralerwartungen im richtigen Moment einzuhalten – oder eben nicht (siehe zum Beispiel zum Umgang mit der Wahrheit Machiavelli 1990b: 96, der Grausamkeit Machiavelli 1990b: 94 oder der Freigebigkeit Machiavelli 1990b: 93).25 Andererseits bedeutet das auch, dass die Sicherheit der Herrschaft und des Staats unvermeidlich mit der des Herrschers als natürlicher Person in eins fallen. Das macht den Machthaber 23 Um so überraschender, dass Machiavelli sich selbst nicht an seine eigene Maxime hält und die Grundlagen fürstlicher Taktik publik macht. 24 Am frühneuzeitlichen Herrschaftsbegriff deutet sich in diesem Sinne bereits das Verständnis von Ordnung als Hierarchie an, insofern man ganz selbstverständlich auf eine Statusordnung zurückgreift, die in der mittelalterlichen Vorstellung noch der Erfüllung des göttlichen Schöpfungsplanes diente. 25 Wie weit sich Machiavelli von der christlichen Tugendlehre des Mittelalters mit der Erfolgsorientierung fürstlicher Handlungen bereits entfernt hat, zeigt sich für Quentin Skinner gerade an der Zielvorgabe, weltliche Ehre zu erringen. „So he totally ignores the orthodox Christian injunction (...) that a good ruler ought to avoid the temptations of worldly glory and wealth in order to be sure of attaining his heavenly rewards“ (Skinner 1981: 30).
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zugleich zum problemlösenden Ruhepol und zum problematischen Unruhepol. Jenes, da er die Möglichkeit für Frieden und Ruhe des Staats verkörpert. Dieses, da er genau in dieser Funktion das Ziel kontinuierlicher Angriffe darstellt. Mit anderen Worten: Am Fürsten und seinen Fähigkeiten zeigt sich, welche Erwartungen an die Stabilität einer frühneuzeitlichen Ordnung zu stellen sind. 2.2.1.2
Jean Bodin: Staat, Souveränität und Recht
Gerade einmal ein halbes Jahrhundert nach Machiavellis Anleitung zur erfolgreichen Herrschaftssicherung an den Fürsten sieht sich Jean Bodin (1529-1596) bereits mit einem ganz anderen Problemkontext konfrontiert. Die Reformation lässt die Konflikte um rivalisierende Herrschaftsansprüche zunehmend in den Hintergrund treten. Schwerer wiegt jetzt der absolute Geltungsanspruch, mit dem Glaubensfragen vertreten werden und so jegliche politische Konfrontation zur schier unlösbaren Zerreißprobe macht. Die Glaubensspaltung überzieht den europäischen Kontinent auf Jahrzehnte hin mit erbittert geführten „konfessionellen Bürgerkriege[n]“ (Grimm 1993: 29). Im Jahr 1555 versucht der Augsburger Religionsfrieden erstmals, im Prinzip des „cuius regio, eius religio“ eine Friedensformel für dieses Problem anzubieten. Der Herrscher kann den Untertanen seinen Glauben oktroyieren. Das setzt voraus, dass Religion nicht mehr die Quelle einer alles bestimmenden Seinsordnung ist. Sie muss bereits eine reduzierte Funktion ihrer selbst hinnehmen, die noch dazu zunehmend, wenn auch langsam, in den Bereich der Entscheid- und Wählbarkeit des Individuums einrückt. Dennoch: Die Befriedungsmacht der monarchischen Ordnung bleibt auch nach dem Augsburger Friedensschluss prekär. Erst der Westfälische Friede 1648 festigt mit dem Prinzip staatlicher Souveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten die Trennung von Politik und Religion auf Dauer. Im Schatten, oder besser, im prallen Licht dieser Entwicklungen entsteht eine gänzlich neue Institution – der souveräne Staat. Dabei gelten der wissenschaftlichen Rezeption Bodins „Sechs Bücher über den Staat“ (1576) als der klassische Ort neuzeitlichen Souveränitätsdenkens, das bis heute zu den Strukturmerkmalen der modernen Staatenordnung gehört (Ottmann 2006: 213). Im Gegensatz zu Machiavelli, der die Bewältigung des Problems der Herstellung und der Wahrung des Friedens gegen die Kontingenz der Verhältnisse an die Person des Fürsten bindet, setzt Bodin bereits auf die Institution des Staats als Garant für Ruhe und Ordnung, der sich dazu des Rechts, der Polizei und einer merkantilistischen Wirtschaftsordnung bedient. In der Befriedung der sozialen Beziehungen durch Monopolisierung politischer Autorität zur höchsten, d.h. souveränen Gewalt gegenüber allen anderen weltlichen oder kirchlichen Mächten liegt dessen eigentlicher Zweck (Heller 1971: 35, 74; Koselleck 1989g: 25, 26, 29; Ottmann 2006: 213). Der König, in der mittelal-
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terlichen Vorstellungswelt lediglich „superior“ gegenüber Papst, Reich und mediatisierten weltlichen Gewalten, muss ab jetzt „supremus“ sein. D.h. er verfügt allein und abschließend über die politischen Angelegenheiten und orientiert sich darin ausschließlich am Recht, nicht am Glauben (Heller 1971: 35).26 Steht dieses Verständnis einerseits noch mit einem Fuß in der mittelalterlichen Vorstellungswelt einer Statusgesellschaft, stellt andererseits der Souveränitätsbegriff – so Quaritsch – bereits auf „Selbständigkeit gegenüber der traditionellen Nomenklatur“ (Quaritsch 1986: 40) ab.27 Damit verschiebt sich die dominante Problemstellung deutlich: Ist es dem Fürsten zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch um die Konstitution und Stabilisierung von Herrschaft zu tun, spielen für den Monarch des ausgehenden 16. Jahrhunderts Rivalitätskonflikte nur mehr eine untergeordnete Rolle.28 Im Gegenteil: Mit der Position an der Spitze des Staats nimmt der Herrscher inzwischen einen derart umfassenden und unwiderstehlichen Machtstatus ein, dass er jeglichem Zugriff durch Konkurrenten gänzlich entzogen bleiben muss. Eben darin findet sich allerdings das Kernproblem der Bodin’schen Abhandlung: In der Begrenzung einer per definitionem unbegrenzbaren, höchsten Gewalt, die an der Spitze des Staats in der natürlichen Person des Monarchen konzentriert ist (Heller 1971: 39). Bereits der Auftakt der Abhandlung verweist darauf, dass sich die Problemdiskussion des Politischen auch im ausgehenden 16. Jahrhundert an einem gegebenen Staatszweck orientiert, den Bodin als ein „Leben der friedlichen Ruhe und süßer Stille“ (Bodin 1986: 103) bezeichnet. Formuliert ist dies ganz offensichtlich gegen die herrschenden Bedingungen, die von einer ganz anderen Erfahrung sprechen. Die Diversität grundsätzlich unvereinbarer Glaubensvorstellungen macht Kontingenz und Differenz ebenso sichtbar wie sie diese in schier unüberwindbaren Konflikten gewaltsam austrägt (Bodin 1986: 100-101). Die Schwierigkeit liegt dabei aus Bodins Sicht darin, dass die Definition von persönlichem Heil und öffentlichem Wohl aufs engste miteinander verbunden ist, ob der Glaubensspaltung allerdings zur unkontrollierbaren Quelle von Unfriede und Unheil geworden ist.29 All das stellt 26 Wie weitgehend die Selbstbeschreibung der frühneuzeitlichen Gesellschaft das Religiöse über den Ausschluss aus Herrschaft, Wissenschaft und Wirtschaft bereits auf einen eigenen Bereich reduziert, zeigt sich etwa an folgenden Versen eines anonymen Verfassers aus dem Jahr 1608: „Christus thut vns in seim Wort lehren / Drey ständ: Zu Lehren / Wehren / Nehren. / Darinn alle Menschen eben / Gläubig / als Christen sollen leben / Aber der Römisch Antichrist / Solcher Ständt ein zerritter ist. / Der Bapst als ein Löw Frech begert / Deß Wehrstandes Cron / Scepter vnd Schwert / Der Jesuit ein Fuchß mit List / Deß Lehrstandes verfälscher ist. / Der Münch Wolff / sampt der Klosterkatzen / Deß Nehrstandts Gütter zu sich kratzen“ (Wagenknecht 1969: 22). 27 Zur Bedeutungsentwicklung des Souveränitätsbegriffs von 1300 bis 1806 siehe Quaritsch 1986. 28 Zumindest nicht mehr in problembestimmender Funktion, wenn auch „(...) Bürgerkriege resultierend aus der Rivalität der Thronanwärter (...)“ (Bodin 1986: 413) ein weiterhin bekanntes Problem bleiben. 29 Anders als in der Moderne, in der ein derartiger Eingriff von staatlicher Seite in die Präferenzen des Einzelnen als zutiefst illegitim verstanden wird, stellt das in einer Epoche, die sich mit dem (überraschenden) Auftauchen anderer (Beobachtungs-)Standpunkte konfrontiert sieht, den einzig denkbaren Ausweg dar. Gerade weil zwischen diesen nicht selbstverständlich diskriminiert werden kann, muss der
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eine enorme Belastung des alltäglichen Lebens dar, das Ruhe und Ordnung mehr als vermissen lässt. Wenn es nun aber einerseits die Wahrheitsprätention religiöser Weltbeschreibung ist, die die Auseinandersetzungen derartig zuspitzt, und andererseits die Vielheit der Stimmen, zwischen denen nicht mehr unproblematisch entschieden werden kann, lassen sich Konflikte nur dann entschärfen, wenn und soweit politische Ordnungsfragen grundsätzlich von Glaubensangelegenheiten getrennt behandelt und der Entscheidung durch eine allen anderen Gewalten – Kirche, Reich und mediatisierte Autoritäten – übergeordneten Instanz überlassen bleiben. Die Problembeschreibung liefert ihre eigene Lösung also schon mit: Worum es Bodin geht, ist die Installation einer „höchsten Gewalt“ (Bodin 1986: 291), der „(...) jede Begrenzung hinsichtlich der Machtbefugnis, der Aufgabenstellung oder ihrer Dauer fremd“ (Bodin 1986: 206) ist.30 Das aber ist die Souveränität, als „(...) die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt (...)“ (Bodin 1986: 205). In Abgrenzung zum feudalen Begriffsverständnis versteht sich diese nun nicht mehr als bloße Summierung mittelalterlicher Regal- bzw. Sonderrechte (Quaritsch 1970: 1986). Dies würde ebenso zu einem quasi unterschiedslosen, auf sämtliche „Herr“-Schaften gleichermaßen anwendbaren Souveränitätsbegriff führen wie die souveräne Gewalt dann zwangsläufig auf die je definierende Instanz übergehen müsste. Beides aber trägt in diesem Denken eher zur Perpetuierung der herrschenden Konflikte als zu deren Beendigung bei (Bodin 1986: 285, 287). Der Begriff der Souveränität bezeichnet vielmehr mit der Gesetzgebungskompetenz die eigentliche Kern-, weil allumfassende Gestaltungsfähigkeit aller staatlicher Gewalt: „Es zeigt sich (...), daß das Wesen der souveränen Macht und absoluter Gewalt vor allem Staat nicht nur das Definitionsmonopol über beide gleichermaßen an sich ziehen, sondern auch deren Zielbestimmung identisch setzen. 30 Noch zu Shakespeares Zeiten sieht man die Unerträglichkeit der Durchbrechung einer derartigen Ordnung: „The heavens themselves, the planets, and this centre, / Observe degree, priority, and place, / Insisture, course, proportion, season, form, / Office, and custom, in all line of order: / And therefore is the glorious planet Sol / In noble eminence enthroned and sphered / Amidst the other; whose med’cinable eye / Corrects the ill aspects of planets evil, / And posts, like the commandment of a king, / Sans check, to good and bad: but when the planets, / In evil mixture, to disorder wander, / What plagues, and what portents, what mutiny, / What raging of the sea, shaking of earth, / Commotion in the winds, frights, changes, horrors, / Divert and crack, rend and deracinate / The unity and married calm of states / Quite from their fixure! O, when degree is shaked, / Which is the ladder to all high designs, / The enterprise is sick! How could communities, / Degrees in schools, and brotherhoods in cities, / Peaceful commerce from dividable shores, / The primogenity and due of birth, / Prerogative of age, crowns, sceptres, laurels, / But by degree, stand in authentic place? / Take but degree away, untune that string, / And, hark, what discord follows! each thing meets / In mere oppugnancy: the bounded waters / Should lift their bosoms higher than the shores, / And make a sop of all this solid globe: / Strength should be lord of imbecility, / And the rude son should strike his father dead: / Force should be right; or rather, right and wrong – / Between those endless jar justice resides – / Should lose their names, and so should justice too. / Then every thing includes itself in power, / Power into will, will into appetite; / And appetite, an universal wolf, / So doubly seconded with will and power, / Must make perforce an universal prey, / And last eat up himself“ (Troilus and Cressida, Act I, Scene III).
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darin besteht, den Untertanen in ihrer Gesamtheit ohne ihre Zustimmung das Gesetz vorzuschreiben“ (Bodin 1986: 222). Ohne dem als souveräne Gewalt selbst unterworfen zu sein, denn souverän ist nur, wer „(...) außer Gott keinen Höheren über sich anerkennt“ (Bodin 1986: 207).31 Mit anderen Worten: Der Souverän entscheidet selbst, worüber er entscheidet und zwar ebenso exklusiv wie ultimativ. Nicht Wahrheit oder Glaube erzeugt also Gesetze, sondern allein die politische Autorität kraft ihrer Souveränität. Im Bodin’schen Denken, das wird sichtbar, ist letztlich und allein Willkür der Garant von Ruhe und Ordnung. Eine derartige Machtfülle aber lässt sich nur an einer Stelle im Staat aushalten: an der (per se) höchsten. Angesichts der Zielvorgabe von Frieden als Ruhe eine eher wenig tröstliche Aussicht, die zum eigentlichen Grundproblem führt: Wie lässt sich eine an sich ungebundene Gewalt binden, ohne dabei ihre für die Herstellung von Ordnung grundlegende Qualität der Ungebundenheit einzubüßen? Die Bindung an die Untertanen ist dabei jedoch ebenso ausgeschlossen wie die Selbstverpflichtung des Souveräns. Denn in Bodins Verständnis ist es von Natur aus unmöglich, „(...) sich selbst etwas zu befehlen, was vom eigenen Willen abhängt“ (Bodin 1986: 214). Man sieht: Eine Formel, wie Rousseau sie später in der Paradoxie der Herrschaft des Volks über sich selbst finden wird, ist hier noch ganz und gar unvorstellbar, denn Herrschaft setzt grundsätzlich Rollendiversifizierung in herrschende und beherrschte Teile voraus. In einem derartigen Verständniskontext ist das Volk weder als ungeteiltes Ganzes vorstellbar noch kann es sich als solches selbst Bindungen auferlegen (Bodin 1986: 223-224). Das würde die Verhältnisse letztlich auf den Kopf stellen, denn „[W]ir haben dargelegt, daß man damit Herrscher und Untertan, Herr und Diener gleichsetzen und denjenigen, der das Gesetz vorschreibt mit dem, der es empfängt, und den, der befiehlt, mit dem, der zum Gehorsam verpflichtet ist, auf eine Stufe stellen würde“ (Bodin 1986: 286). Die Antwort liegt also an anderer Stelle und zwar in der Definition des Staats als „(...) die am Recht orientierte, souveräne Regierungsgewalt über eine Vielzahl von Haushaltungen und das, was ihnen gemeinsam ist“ (Bodin 1986: 98). Auch das klingt zunächst eher paradox: Wie kann die gesetzgebende Instanz zugleich an das Recht gebunden sein, wenn sie doch genau darüber grundsätzlich disponiert? Bodins Antwort auf diese Frage ist ebenso einfach wie trickreich. An der fundamentalen „Kompetenz-Kompetenz“ (Quaritsch 1986: 36) der souveränen Gewalt lässt sich nicht rütteln – wohl aber an den Umständen, in denen Gesetzgebung notwendig wird. Auch Bodin stößt hier also auf die Kontingenz der Verhältnisse, gegen die immer nur durch Kontingenz hervorbringende Kontingenzbewältigung angearbeitet werden kann, ohne sich dem grundsätzlich entziehen zu können. Aufgehoben ist dies allerdings nicht mehr in der virtù des Fürsten, sondern in der 31 Das bleibt auch in der Gegenprobe noch genauso unumstößlich. Die Gesetze unterliegen selbst dann noch dem alleinigen Willen des Souveräns, wenn „vernünftige und zwingende Gründe“ (Bodin 1986: 214) gegen oder für sie sprechen.
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Gesetzgebungskompetenz des souveränen Herrschers. Die Krux liegt darin, dass die höchste Gewalt die Herstellung von Ruhe und Ordnung durch Gesetzgebung garantiert, die Positivität des Rechts allerdings immer und unabwendbar auf die Kontingenz ihrer selbst hinweist. In Zeiten von Glaubenskriegen muss dies eine höchst beunruhigende Wirkung haben. Die in Gesetz gegossene, souveräne Willkür ist als Frieden herstellende Maßnahme dann ebenso grundsätzlich zu misstrauen, wie sie letztlich das einzig denkbare Mittel gegen die Willkür der Verhältnisse darstellt. Das macht die Lage so prekär und lässt Bodin den Rat an den Souverän formulieren, am besten so wenig wie möglich Gebrauch von seiner höchsten Gewalt zu machen. Oder besser: Seine Herrschaftsverhältnisse gesetzlich so zu ordnen, dass weitere schwerwiegende Eingriffe eine Seltenheit bleiben. Gesetzgebung gerät darin, wenn man so will, zur Ausnahme von der Regel und ist nur mehr in zwei Situationen denkbar: als Missbrauch und Notfall. Entweder der Souverän ist dann gar kein Souverän, sondern lediglich Stellvertreter und handelt in dieser Funktion ultra vires, d.h. in „Überschreitung der ihm eingeräumten Kompetenzen“ (Bodin 1986: 210, 225).32 Oder aber der Notfall zwingt den Monarchen dazu, souverän, also letztlich willkürlich zu entscheiden. Ähnlich wie bei Machiavelli bilden also auch in Bodins Denken souveräne Gewalt, Rechtsbindung und zeitliche Umstände ein aufeinander abgestimmtes Gleichgewicht. Es ist einerseits Sache der Autorität, dass der Herrscher das Recht jederzeit ändern kann. Andererseits aber eine Sache von Weisheit und Klugheit, das nur in den allerwenigsten Momenten wirklich zu tun, eben weil der selbstverstärkende Effekt von Unruhe nicht zu unterschätzen ist (Pocock 1975: 30). Die höchste Gewalt muss sich, gerade weil sie unbeschränkt ist, selbst zügeln, indem sie tief in gewohnte Strukturen eingreifende gesetzgeberische Maßnahmen nur im Ausnahmefall vornimmt, zu dem sie es am besten gar nicht erst kommen lässt (Koselleck 1989g: 29). Erst die Not kennt kein Gebot und zwingt zum per se unverregelbaren regelnden Eingriff (Bodin 1986: 84).33 Frieden als Ruhe bedeutet dann nicht mehr 32 Eine Vorstellung, die für Machiavelli und dessen Problembeschreibung so sicherlich nicht nachvollziehbar gewesen wäre. Weder konnte er Herrschaft als göttliche Delegation verstehen, denn die Staatsräson diktiert ja gerade überhaupt erst die Erlangung und Sicherung derselben gegen die althergebrachten religiösen Fundamente. Noch konnte irgendeine diesem Zweck geschuldete Aktion einen wie auch immer gearteten Kompetenzrahmen sprengen, wenn doch gerade die Freigabe der Mittel das Problem der Herrschaftskonstitution löst (und auf ihre Weise wieder erzeugt). 33 Das zeigt sich nicht zuletzt auch an der Maßgabe, wie mit einem Tyrannen als dem per definitionem unrechtmäßigen Herrscher umgegangen werden soll. Man tut sich – so Bodin – „(...) mit der Beseitigung der Tyrannenherrschaft am leichtesten, wenn man sie [erst] beim Tode des Tyrannen abschafft, statt sich unter Anwendung von Gewalt zu bemühen, ihm die Macht zu entreißen und zu riskieren, daß der Staat dabei zugrundegeht (...)“ (Bodin 1986: 88). Man sollte also lieber abwarten, bis die Zeit ihren Teil erledigt hat, als Unverhältnismäßiges zu riskieren. Ganz anders liegt der Fall allerdings, sollte der Tyrann auch die Herrschaftsnachfolge sichern wollen. Angesichts einer derart veränderten Ausgangssituation ist es gerechtfertigt von einem Notfall zu sprechen, d.h. „(...) dann, und nur dann, stünden die Radikalmittel nach Maßgabe der von uns weiter oben getroffenen Unterscheidungen zu Gebote“ (Bodin 1986: 88).
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und nicht weniger als die Aufrechterhaltung bereits bestehender Gesetze und liegt fest in der sich selbst disziplinierenden Hand des Monarchen (Bodin 1986: 81-84).34 Je ruhiger die Umstände, desto unnötiger deren Veränderung und desto größer die mit Eingriffen verbundene Gefahr von Aufruhr und Unruhe. Der Bodin’sche Monarch ist also zugleich ungebunden, da Willkür keine Begrenzung kennen kann, und gebunden, da Friedensbedingung und unerreichbar gesteigerte Machtfülle einen disziplinierenden Zusammenhang bilden. Sichtbar wird daran, dass das ausgehende 16. Jahrhundert auf das Problem der Kontingenz mit einer weiteren Autonomisierung des Politischen antwortet: Der Staat ist zugleich sein eigener Zweck – Frieden und Ruhe – und das Mittel zur Erlangung desselben – staatliche Herrschaft. Das äußert sich auch in zeitdimensionaler Hinsicht. Wie schon Machiavelli beobachtet auch Bodin, „(...) daß Menschen und Staaten sich ständig in Bewegung befinden und nicht umhin können, gewisse notwendige Handlungen vorzunehmen (...)“ (Bodin 1986: 104), um in Ruhe leben zu können. Auch im ausgehenden 16. Jahrhundert problematisiert sich Zeit weiterhin als das „Kontingentwerden der Erhaltung des Bestehenden“ (Nassehi 1993: 315). Im Gegensatz zum Ratgeber der Frührenaissance nimmt die Wandelbarkeit der Zeit im Bodin’schen Verständnis allerdings nicht die Form eines Spannungsverhältnisses zwischen launenhafter Schicksalsgöttin und fürstlichen Fähigkeiten an, dem nur im Modus politischer Entscheidungen Konstanz abgetrotzt werden kann. Der zeitliche Horizont erstreckt sich nun zwischen der permanenten Änderung der Verhältnisse und der Varianz des Rechts, das seine beruhigende Wirkung auf die Ordnungsbedingungen nur ausspielen kann, wenn es möglichst konstant bleibt, was wiederum voraussetzt, dass es jene und sich selbst zu zügeln versteht. Damit bleibt auch im Verständnis des ausgehenden 16. Jahrhunderts das Schicksal von Herrschaft, Staat und Herrscher aufs engste miteinander verknüpft. Auch hier gilt nach wie vor: „Die Einheit der Herrschaft ist die Einheit im Willen des Herrn“ (Heller 1971: 62). Damit bleibt auch für Bodin Herrschaft weiterhin aufs engste mit konkreten Personen und deren Status verknüpft, der sich nun allerdings am Recht bestimmt.35 34 Eine Gefahr, die Bodin, ähnlich wie Machiavelli, im Falle des Herrscherwechsels am deutlichsten vor Augen steht. Sichtbar wird daran die Unsicherheit einer Epoche, die Herrschaft nach wie vor an Personen festmachen muss. Die innewohnende Häufigkeit des Personalwechsels stellt eine nicht zu unterschätzende Unruhequelle in der Kontinuität von politischer Herrschaft dar. 35 Damit einher geht eine gewisse Flexibilisierung von Herrschaft, denn Bodin stellt diese bereits als von beiden Seiten lösbare Beziehung dar. Allerdings einzig und allein unter der Bedingung, dass das alte unverzüglich durch ein neues Gehorsams- bzw. Schutzverhältnis ersetzt wird (Bodin 1986: 177, 178). Man sieht: Im ausgehenden 16. Jahrhundert hat man es mit einer sich verstärkenden Tendenz zur Depersonalisierung zu tun. Es zeichnet sich bereits die Variabilität des Herrschaftspersonals ab. Wohlgemerkt, der beteiligten Personen, nicht von Herrschaft selbst. Die Vorstellung von Rechtsgleichheit, wie sie erst im 17. Jahrhundert entsteht und bis heute fortwirkt, ist zu Bodins Zeiten nicht nur undenkbar, sondern geradezu gleichbedeutend mit Bürgerkrieg und Staatsuntergang (Bodin 1986: 167, 186). Dem liegt die Ausgangsunterscheidung zugrunde, dass nur Hierarchie Ordnung konstituieren kann, wohingegen Symmetrie immer nur gleichbedeutend mit Anarchie ist. So wird es auch in den folgenden Jahrhunderten
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Steht der Fürst zu Machiavellis Zeiten noch unter dem Erfolgsdruck des Herrschaftserhalts und bedient sich dazu einer spezifisch politischen Moral, ist der Bodin’sche Monarch bereits personaler Träger exklusiver Souveränitätsrechte. Wer Rechte hat, hat aber auch Pflichten und so stellt sich erneut das Problem, wie der Souverän zugleich gebunden und ungebunden sein kann. Die Frage verweist bereits auf die Antwort: Als autonomer Bereich entzieht sich das Politische religiös motivierten Eingriffen und gewinnt daran die Möglichkeit der Wiedereinführung religiöser Argumente zu politischen Zwecken und unter politischen Vorzeichen. Die Säkularisierung politischer Herrschaft ist damit eingeleitet: Die souveräne Gewalt verschafft sich selbst ihre eigene Begründung, indem sie das Interpretationsmonopol, über die unmittelbare göttliche Delegation unmittelbarer weltlicher Gewalt an den Herrscher, selbst übernimmt. Die Begründung dessen kann wiederum in der Formel selbst verschleiert werden. Denn „[D]a es auf Erden nächst Gott nichts Höheres gibt als die souveränen Fürsten und weil sie von Gott als seine Stellvertreter dazu berufen sind, den übrigen Menschen zu gebieten (...)“ (Bodin 1986: 284), müssen Gottes Motive bei der Vergabe politischer Gewalt grundsätzlich verborgen bleiben. Die Legitimation unmittelbarer Herrschaft qua unmittelbarer Ableitung von Gott macht den Monarchen in seinem Dasein und in seiner Legitimation letztlich zu jeder Zeit über jeden Zweifel erhaben (Heller 1971: 51). Und bindet ihn eben damit zurück an eine hierarchische Rechtsordnung – allerdings unter rein politischen, nicht religiösen, Gesichtspunkten. Dem Souverän komplementär gegenüber aber steht der Bürger, „(...) worunter präzise gesagt nichts anderes zu verstehen ist, als der freie Untertan (...)“ (Bodin 1986: 158). Freier Untertan deswegen, da der dem Souverän geschuldete Gehorsam, die Freiheit nur geringfügig einschränkt. Man sieht, es kommt Bodin (anders als Rousseau später) noch nicht auf Freiheit, sondern auf Frieden als Ruhe an. Nicht konkreter Ort, privilegierter Status oder Teilhabe an Herrschaftsrechten zeichnet die Herrschaft im Gemeinwesen aus, sondern allein die „(...) Vereinigung eines Volkes (...) unter einer souveränen Herrschaft“ (Bodin 1986: 109). Das hat nicht nur den Vorteil, dass man nun – und darauf kommt es zunehmend an – ein wesentlich größeres Territorium mit bedeutend mehr Untertanen beherrschen kann, sondern auch, dass Treueverhältnisse nicht mehr mit dem Tod der Beteiligten enden: Das Volk stirbt schließlich nie (Bodin 1986: 108). Demgegenüber sorgt das Motto „Der König ist tot, es lebe der König“ für dynastische Kontinuität. So stellt zwar die „durch und durch ständische Konstruktion“ (Quaritsch 1986: 45) der frühneuzeitlichen Gesellschaftsordnung weiterhin die am Status bestimmten Personen einer Herrschaftsordnung zur Verfügung, besonders und inzwischen unerreichbar den Monarchen an der Spitze derselben. Sie löst ihre Probleme jedoch bereits funktional ein plausibles Argument der politischen Philosophie bleiben, dass nichts so unerträglich ist wie die Abwesenheit von Herrschaft.
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in der zunehmend von konkreten Personen absehenden Komplementarität entgegengesetzter Rollenzuweisungen. Der Erfolg von Herrschaft hängt dann nicht mehr von der virtù des Fürsten ab, sondern „(...) von der Kunst zu befehlen und zu gehorchen (...)“ (Bodin 1986: 115). So trifft gewissermaßen die Differenz von Herrscher und Beherrschten in der Person des Monarchen aufeinander, insofern dieser nicht mehr Repräsentant einer gottgewollten Ordnung ist, sondern all jener, die er als Untergebene repräsentiert. 2.2.2 Der Volksbegriff in der Vertragstheorie 2.2.2.1
Thomas Hobbes: Der Staat als Rechtsstaat
Mit dem „Leviathan or The Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil“, wie die von Thomas Hobbes (1588-1679) im Jahr 1651 veröffentlichte Abhandlung im Originaltitel lautet, betritt die Arbeit den argumentativen Boden des Kontraktualismus und damit einen ganz neuen Problemzusammenhang politischer Herrschaft. Dabei misst die gegenwärtige sozialwissenschaftliche Rezeption dem Namen Thomas Hobbes besondere Bedeutung zu, verbindet sie mit diesem doch den Ausgangspunkt kontraktualistischen Denkens schlechthin (Fetscher 1996: XIX; Kersting 1996: 9, 14). Mit ihm – so Kersting – „(...) wird die politische Philosophie individualistisch“ (Kersting 1996: 15). Das erhebt Hobbes aus heutiger Sicht in den Rang eines Begründers der „ersten modernen und bürgerlichen Staatsphilosophie“ (Fetscher 1996: XIX) und seine Schriften zu solchen, die „(...) more than any other defined the character of modern politics (...)“ (Tuck 1997: ix). Dabei ist es vielleicht nicht einmal so sehr der Individualismus wie der rechtsstaatliche Anspruch des Leviathan, der auch heute noch zu den zentralen Selbstbeschreibungsmomenten moderner Staatlichkeit zählt: Nicht göttliche Wahrheit erzeugt Recht, sondern die auf den Willen des Einzelnen und dessen Schutz verpflichtete politische Autorität (Preuß 1994: 8).36 Kann die politische Philosophie des späten 16. Jahrhunderts noch relativ bruchlos an das Selbstverständnis einer ständisch 36 Allgemein gesprochen steht das Rechtsstaatsprinzip, so Heller, für den Schutz vor der Willkür des Herrscherwillens schlechthin, denn „[Ü]ber ausnahmslos jeder Individualität soll eine Rechtsnorm stehen“ (Heller 1971: 39). Wie sehr das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zum Kernbestand des modernen Staatsrechts gehört, führt der Staatsrechtler Klaus Stern aus. So beinhaltet dieser Grundsatz, „(...) daß die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage der Verfassung und von formell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist“ (Stern 1984: 781; Betonung im Original). Als solches zählt das Rechtsstaatsprinzip – so Stern und die herrschende Meinung – zu den Strukturprinzipien des modernen Staates, d.h. zu den „(...) die leitenden verfassungsrechtlichen Prinzipien, die der Staatsorganisation das Gepräge geben, the constitutional framework of government“ (Stern 1984: 552). Das allerdings ist zu Hobbes’ Zeiten noch Zukunftsmusik.
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strukturierten Gesellschaft anschließen, ist es die Sichtbarkeit der Auflösungsprozesse einer noch mittelalterlich geprägten Status- und Privilegienordnung im Verlauf des 17. Jahrhunderts, die zunehmend Erklärungsbedarf erzeugt. Der individuelle Ehrgeiz in Politik und Wirtschaft, von dem aufstrebende Weltmächte wie etwa Großbritannien, Spanien oder die Niederlande geprägt sind, lässt sich nicht mehr vereinbaren mit einer fixierten Statusordnung. Neue Produktionsbedingungen und ein florierender Welthandel mit Luxusgütern, die den Reichtum von Handelsstädten und Hansen begründen, lassen die ökonomischen Bedingungen zu den bestimmenden des alltäglichen Lebens werden. Auf der anderen Seite leidet Europa nach wie vor unter politischen Auseinandersetzungen (Erbfolgestreitigkeiten, Grenzkonflikte oder Allianzbildungen), die nicht selten unter religiösen Vorzeichen geführt werden und den Kontinent mit Krieg und Gewalt überziehen. Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede ebenso wie bürgerkriegsähnliche Bedingungen in England und Frankreich deuten darauf hin, dass eine neue Antwort auf die Frage nach Ursprung und Begrenzung politischer Autorität gefunden werden muss. Deren Zweck lässt sich nicht mehr länger aus transzendenten Vorgaben wie Glück, Ruhe oder Frieden ableiten, sondern muss sich ab jetzt an Kriterien messen lassen, die ihr von den Interessen der beherrschten Individuen vorgegeben sind. Darin liegt das eigentliche Problem, auf das Hobbes eine Antwort sucht: Unter der Bedingung der Knappheit ist der Markt ebenso auf weitgehende Entscheidungsfreiheit der Einzelnen bei der Entfaltung der je eigenen ökonomischen Bedürfnisse angewiesen wie auf die Stabilität der politischen Verhältnisse und auf Rechtssicherheit. Andersherum sieht sich das Politische mit dem Problem der Verschiedenheit eben jener individuellen Interessen und Präferenzen konfrontiert, die nun ungebremst aufeinandertreffen und so zwangsläufig Konflikte erzeugen. Was aber in der Ökonomie konstitutiv für Wohlstand ist, erweist sich im Politischen als grundlegendes Problem der Herstellung von Ordnung, eben weil diese nach wie vor mit einem eindeutigen Über- und Unterordnungsverhältnis identifiziert wird. Darin liegt die eigentliche Schwierigkeit, mit der sich Hobbes konfrontiert sieht: Eine Ordnung zu finden, die individuelle Freiheiten so weit wie möglich zu garantieren vermag, ohne dabei der politischen Autorität die Qualität als zwingende Kraft zu nehmen. Soweit dies nicht mehr gegen den Willen der Individuen möglich ist, so muss es eben mit demselben geschehen. Und wenn die Gefahr nun im Widerstand gegen Entscheidungen der souveränen Gewalt im Namen einer anderen und zwar religiösen Autorität liegt, muss dies durch einen Akt vollständiger Unterwerfung unter die Souveränität abgeschnitten werden. Andersherum ist es die Tatsache, dass die politische Autorität ihre Existenz und Gewalt allein den individuellen Interessen verdankt, die diese auf den Schutz derselben verpflichtet. Nach wie vor bleibt also die Erlangung von Frieden das Kernproblem des Politischen. Allerdings nicht mehr wie noch bei Machiavelli und Bodin als invariable Staatsräson. Das Hobbes’sche Bedürfnis nach Frieden ist bereits sozialer Natur: Es
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erklärt sich aus dem Aufeinandertreffen einer Vielzahl individueller Interessen und konstituiert darin den Naturzustand. Ein Umstand, der den Frieden ebenso gefährdet wie er ihn überhaupt erst notwendig und herstellbar macht (Kersting 1996: 19). Dabei ist es das per Naturgesetz vorgeschriebene Gebot der Selbsterhaltung unter der Bedingung knapper Ressourcen auf der einen und das Naturrecht auf alles auf der anderen Seite, das die Menschen zwangsläufig zu Feinden macht und in die Unerträglichkeit eines „Krieges eines jeden gegen jeden“ (Hobbes 1996a: 108) mündet.37 Das macht den Naturzustand zu einem höchst paradoxen Zustand. Der Einzelne kann hier tatsächlich überleben, eben weil das Naturrecht alles erlaubt. Dieses konstituiert sich als „(...) die Freiheit, die jeder Mensch besitzt, seine eigene Macht nach Belieben zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, zu gebrauchen und folglich alles zu tun, was er nach seiner eigenen Urteilskraft und Vernunft als das hierfür geeignetste Mittel ansieht“ (Hobbes 1996a: 107).38 Urteil und Wille sind vollständig individualisiert und jede Maßnahme, die mit der „(...) Vernunft in Einklang steht, die jedem sein eigenes Wohl gebietet (...)“ (Hobbes 1996a: 121), ist nicht nur gestattet, sondern um der eigenen Selbsterhaltung willen geradezu zwingend notwendig. Das lässt den Naturzustand allerdings auch so prekär werden. Denn je vernünftiger man sich im Sinne der Selbsterhaltung verhält, desto unvernünftiger erweist sich das Ergebnis für dieselbe. Man riskiert permanent 37 Ironisch hat das bereits Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (1621/1622 - 1676) mit seiner Figur des Simplicius Teutsch gewendet. Selbst Soldat im Dreißigjährigen Krieg hält er mit seiner Schrift der Welt den Spiegel ihrer moralischen Auswüchse, Monstrositäten und Grausamkeiten vor, um sich gleichzeitig als Karrierist im Auf und Ab eben dieser Weltgeschichte zu enthüllen, der seinen Erfolg nicht weniger auf Kosten anderer erringt. Das setzt voraus, dass Statusverhältnisse nicht mehr von vornherein geklärt sind: „Es eroeffnet sich zu dieser unserer Zeit (von welcher man glaubt / daß es die letzte seye) unter geringen Leuten eine Sucht / in deren die Patienten (...) / gleich Rittermaessige Herren / und Adeliche Personen von uhraltem Geschlecht / seyn wollen (...). Solchen naerrischen Leuten nun / mag ich mich nicht gleich stellen / ob zwar / die Warheit zu bekennen / nicht ohn ist / daß ich mir offt eingebildet / ich muesse ohnfehlbar auch von einem grossen Herrn / oder wenigst einem gemeinen Edelmann / meinen Ursprung haben (...)“ (Grimmelshausen 1989: 17). Perspektivität und Gegenstand sind hier bereits reflexiv gewendet: Die Welt ist verkehrt, man selbst mit ihr und eben daraus lässt sich kein fester Standpunkt mehr gewinnen. Die Beurteilung dessen erfolgt jedoch noch ganz ambivalent, denn die Welt ist grundsätzlich in ihrer Schlechtigkeit zu verurteilen. Um zu überleben (und wenigstens das muss jetzt als „vernünftig“ oder doch zumindest „erstrebenswert“ unterstellt werden), bleibt allerdings keine Alternative, als sich der Gegebenheiten zu bedienen. Denn ein unschuldiger, ganz und gar undifferenzierter Zustand lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Mit dem Sündenfall ist nun einmal die unentscheidbare Frage nach Gut und Böse in der Welt und mit ihr die Fragilität menschlicher Ordnung. Hinter das Bewusstsein dessen gibt es kein Zurück. Oder wie Grimmelshausen sich selbst im Paradies als einem letztlich nur mehr utopischen Zustand vorstellt: „(...) ich kennete weder GOtt noch Menschen / weder Himmel noch Hoell / weder Engel noch Teuffel / und wuste weder Gutes noch Boeses zu unterscheiden (...) Ja ich war so perfect und vollkommen in der Unwissenheit / daß mir unmueglich war zu wissen / daß ich so gar nichts wuste“ (Grimmelshausen 1989: 20; Betonung im Original). Der Einbruch von Kontingenz als Schlechtes und Ungerechtes lässt sich aber nach wie vor nur Gott zurechnen, dessen Beweggründe dem Menschen ganz uneinsehbar bleiben müssen (Grimmelshausen 1989: 27). 38 Wobei sich dann die Frage stellt, inwiefern es der Natur entspricht, der Natur entsprechend zu leben.
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das eigene Leben, das es eigentlich zu schützen gilt, und kann sich dieser Logik doch nicht entziehen, weil sich dem alle anderen auch nicht entziehen können. Alles ist erlaubt und eben das erzeugt letztlich nicht soziale Ordnung und individuelle Freiheit, sondern Chaos und Notwendigkeit. Eine derartige Situation muss jede Ordnung vermissen lassen, denn „(...) [W]o keine öffentliche Macht ist, gibt es kein Gesetz, wo kein Gesetz ist, gibt es keine Ungerechtigkeit“ (Hobbes 1996a: 106). Eigentum und Herrschaft im Sinne exklusiver Verfügungsrechte kann es hier nicht geben, eben weil es keine übergeordnete Position gibt, die dies auf Dauer sicherzustellen imstande wäre (Hobbes 1996a: 107).39 Wenn das Problem nun im chronisch Unfrieden stiftenden Aufeinandertreffen der Einzelnen liegt, deren je individuelle Vernunft allerdings einzige Maßgabe und Richtschnur ihrer Entscheidungen ist, bedarf es eines Akts der Begründung souveräner Gewalt, der in der freiwilligen Zustimmung aller Einzelnen gründet, diese jedoch gleichzeitig ein für alle Mal vom Konsens der Herrschaftsunterworfenen unabhängig macht (Heller 1971: 63). Das ist die Geburtsstunde des Gesellschaftsvertrags, dem es gelingt, die Vielheit der Einzelwillen in die Einheit eines einzigen, idealerweise in einer natürlichen Person inkorporierten Willens zu überführen.40 Qualitativ aber konstituiert dies „(...) mehr als Zustimmung oder Eintracht; es ist eine wirkliche Einheit von ihnen allen in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem (...) geschaffen wird (...)“ (Hobbes 1996a: 145). Und zwar, weil es sich eben nicht um einen Akt der Rechtsübertragung, sondern um einen des vollständigen Verzichts auf das naturgegebene Recht handelt (Hobbes 1996a: 108). Denn hat der Einzelne erst einmal auf sein Recht am Recht auf alles verzichtet, kann er nicht mehr darüber verfügen (Fetscher 1996: XXV-XXVI). Interessanterweise wird dies bereits in Abgrenzung zur Idee der Selbstbindung formuliert, denn „(...) wer binden kann, kann lösen, und daher ist, wer an sich ge-
39 Es bleibt zu ergänzen, dass Hobbes durchaus davon ausgeht, dass auch der hypothetische Naturzustand Herrschaftsverhältnisse hervorbringt, allerdings eben immer nur prekärer struktureller Art. Denn Machtdifferenz kann hier nicht auf Dauer gestellt sein, sondern ist immer nur das Ergebnis von Auseinandersetzungen. Im Gegensatz zum Staatszustand mangelt es der Herrschaftsgewalt im Naturzustand an Erwartungskonstanz, gerade weil sie keine Exklusivität für sich beanspruchen kann (Hobbes 1996a: 118). Erst das macht die Vermeidungsalternative politischer Durchsetzungsmacht im Staatszustand, im Unterschied zum unterschiedslosen Recht auf alles des Naturzustands, zu einer echten Handlungsalternative und verleiht dem Staatszustand Struktur und Ordnung (Hobbes 1994: 146). 40 Eine sich von Natur aus einstellende politische Einheit schließt Hobbes, das verwundert wenig, von vornherein aus (Hobbes 1996a: 141-144). Die Übereinstimmung muss tatsächlich gegen die Bedingungen des Naturzustands hergestellt werden. „Denn wenn wir uns vorstellen könnten, daß eine große Menge in der Einhaltung der Gerechtigkeit und anderer Naturgesetze ohne eine öffentliche Macht, die sie alle in Schrecken hält, übereinstimmt, könnten wir uns ebenso gut vorstellen, daß die ganze Menschheit dasselbe tut; und dann gäbe und brauchte es überhaupt keine staatliche Regierung oder ein Gemeinwesen, weil dann Frieden ohne Unterwerfung herrschen würde“ (Hobbes 1996a: 143).
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bunden ist, nicht gebunden“ (Hobbes 1996a: 225).41 Das bedeutet andersherum, dass sich im Moment des Vertragsschlusses jeder zum Urheber all dessen macht, was die souveräne Gewalt in Bezug auf Sicherheit und Frieden beschließt (Hobbes 1994: 128; Hobbes 1996a: 145). Das Verhältnis zwischen Untertan und Souverän versteht sich nun als ein unmittelbares zugunsten des Letzteren. Für den Unterworfenen bedeutet das letztlich, dass er Wille und Urteil des Souveräns zu seinen eigenen machen muss. Das schließt gerade auch mit ein, dass der Souverän um des Überlebens willen das Leben des Einzelnen opfern kann (Hobbes 1996a: 184). Worin liegt aber nun die Motivation des Individuums, freiwillig auf sein Recht auf alles zu verzichten, wenn es doch sein Überleben im ursprünglichen Zustand garantiert? Der Trick der Konstruktion liegt in eben jenem ambivalenten Charakter des Naturzustands, der so gestaltet ist, dass der Einzelne darin lange genug überleben kann, um einzusehen, wie viel besser es sein muss, wenn alle Frieden suchen, auf ihr Recht auf alles verzichten und den so geschlossenen Vertrag einhalten. Kurz: Wenn sie durch Orientierung an den Naturgesetzen in den Gesellschaftszustand übertreten (Hobbes 1996a: 108-109, 119). Auch das ist wiederum allein auf das individuelle Überleben ausgerichtet, denn die Naturgesetze verpflichten im Naturzustand lediglich vor dem eigenen Gewissen, also eigentlich gar nicht. Hält sich niemand an die Naturgesetze, außer man selbst, läuft das ebenso gegen das Gebot der Selbsterhaltung, wie wenn sich alle daran halten, nur man selbst nicht (Hobbes 1996a: 132-133). Die Aufgabe des Naturrechts wird also in dem Moment zur echten Option, wenn die durch eigenes Handeln mitverschuldete Lage so unerträglich geworden ist, dass auch Selbsthilfe das Überleben nicht mehr garantieren kann und die individuelle Vernunft bestätigt, dass dies gut und zweckmäßig ist. Der Gesellschaftsvertrag wird in eben diesem Moment zum Akt der Selbsterhaltung und setzt sich darin gewissermaßen selbst von jetzt auf gleich in Kraft. Furcht vor dem Tod, Naturrecht, individuelle Vernunft und Naturgesetze bilden also einen inneren Verweisungszusammenhang, der ebenso den Staatszustand in den Naturzustand hineinreichen lässt wie andersherum. Der Nutzen der staatlichen Gemeinschaft ist dann ganz offensichtlich, vermag sie die Selbsterhaltung des Menschen doch unendlich effektiver zu garantieren, als es der Einzelne im Natur41 Erst der Vertrag löst die naturgegebene Ununterscheidbarkeit in die künstliche Unterscheidung von Souverän und Untertanen auf und macht so aus der Vielheit aller Einzelwillen einer Menge die Willenseinheit eines Volks (Hobbes 1994: 131 (FN)). Oder in Hobbes’ eigenen Worten: „Das Volk ist eine Einheit mit einem Willen und ist einer Handlung fähig; all das kann von einer Menge nicht gesagt werden. Das Volk herrscht in jedem Staate, selbst in der Monarchie; denn da äußert das Volk seinen Willen durch den eines Menschen. Die Menge besteht dagegen aus den Bürgern, d.h. aus den Untertanen. In der Demokratie und Aristokratie sind die Bürger die Menge, und die Versammlung ist das Volk; in der Monarchie sind die Untertanen die Menge, und (wenn dies auch paradox ist) der König ist das Volk“ (Hobbes 1994: 198-199; Betonung im Original). Augenfällig ist, dass die Vorstellung des Volks als einer handlungs- und rechtsfähigen Einheit sich hier bereits in Vorbereitung findet, wenn sie auch noch nicht als Lösung für das Problem der Herrschaft akzeptiert werden kann.
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zustand selbst je könnte. Mehr noch: Sie verspricht Entwicklung und Wohlstand – schlicht ein angenehmeres Leben. Damit einher geht zugleich die volle Positivierung des Rechts und die Konstitution des Staats als Rechtsstaat (Hobbes 1996a: 120-121, 224). Vor dem Gesellschaftsvertrag kann es nur ein unterschiedsloses Recht auf alles geben, das eigentlich gar kein Recht ist, weil es keine Grenzen kennt. Politische Autorität und Staatszustand differenzieren sich also gegen die Natur aus, eben weil sie den ursprünglichen Problemkontext bildet. Damit verliert auch das bislang übliche Analogieverständnis zwischen politischer und natürlicher Herrschaftsordnung an Plausibilität. Unter der Bedingung freiwilliger Zustimmung geraten die einstmals naturrechtlich abgesicherten häuslichen Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen Mann und Frau, Vater und Kind sowie Herr und Knecht zwangsläufig zu Willkürverhältnissen. Gewalt kann jedoch für Hobbes weder im Natur- noch im Staatszustand ein Recht auf Herrschaft begründen. Die vollständige Unterwerfung unter die souveräne Autorität erweist sich dann gerade nicht als Widerspruch zur Freiheit, sondern als Teil der Freiheit, auf Freiheit zu verzichten. Allein das Recht auf Selbsterhalt verbleibt beim Einzelnen, denn „(...) letztlich sind Motiv und Zweck, wozu diese Aufgabe oder Übertragung des Rechts eingeführt ist, nichts anderes als die Sicherheit der Person eines Menschen in bezug auf sein Leben und die Mittel, es (...) zu erhalten (...)“ (Hobbes 1996a: 110-111). Für die Freiheit im politischen Gemeinwesen bedeutet das, dass sie sich negativ bestimmt: Der Einzelne ist in all dem frei, was nicht durch Gesetz geregelt ist, das wiederum seinen Zweck allein im Erhalt der Einzelnen findet. Das Verpflichtungsverhältnis der Bürger gegenüber dem Herrscher dauert andersherum nur so lange, wie dieser jene zu schützen vermag. Allein daraus leiten sich die Rechte und Befugnisse der souveränen Gewalt ab, die diese wiederum nur in der Funktion als höchste Gewalt garantieren kann. Die Souveränität muss folglich unverwirkbar, unveräußerlich und unteilbar sein (Hobbes 1994: 205; Hobbes 1996a: 146-150, 153, 179, 183-186, 284).42 Damit verschiebt sich aber auch das zeitliche Verständnis. Lag das Problem für Niccolò Machiavelli und Jean Bodin noch in der Kontingenz der Zeit, gegen das mit ebenso kontingenten Mitteln angearbeitet werden musste, um Konstanz herzustellen, zeichnet sich mit der Vertragstheorie ein ganz anderer Erwartungshorizont ab. Wird hier doch „(...) das Erlebnis der Kontingenz der Zukunft mehr und mehr unter die Ägide des Zukünftigen als eigentlichem Ziel jedes Geschehens gestellt“ (Nassehi 1993: 315). Das spricht nicht gegen, sondern für Vorsorge im Sinne der 42 Das Leben des Menschen, so Hobbes trocken, ist eben nicht perfekt. Gleichwohl: Jede souveräne Gewalt, egal in welcher Ausformung, ist besser als alles Leid und Elend des Naturzustands (Hobbes 1996a: 155-162). Andersherum muss man sich dessen bewusst sein, dass jeder Versuch einer Begrenzung der Souveränität unweigerlich zum Ausgangsproblem zurückführt. Denn „(...) wer immer in der Meinung, die souveräne Macht sei zu groß, sie zu vermindern sucht, muß sich der Macht unterwerfen, die sie einschränken kann, das heißt einer größeren“ (Hobbes 1996a: 176).
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Verfügbarkeit über die Mittel, sich selbst zu schützen. Die Perspektivität verkürzt oder verlängert sich je nachdem, ob man sich im Natur- oder Staatszustand befindet. Die Aussichten sind in jenem, in dem es darauf ankommt, immer der Stärkste zu sein, naturgemäß schlechter als in diesem, in dem eben dieses Problem durch die Exklusivität souveräner Autorität immer schon gelöst ist. Denn hier herrscht nicht die Kontingenz der Einzelwillen, sondern die Konstanz der souveränen Entscheidungen, aus der sie zugleich Legitimität und Effektivität bezieht: Der Untertan kann und darf die Maßnahmen, die der Monarch im Namen von Frieden und Sicherheit trifft, nicht beurteilen, sondern muss sie kommentar- und widerstandslos zu den seinen machen. Andersherum ist die souveräne Gewalt jederzeit dazu in der Lage, gesetzgeberisch tätig zu werden, eben weil sie nicht auf den Konsens der Beherrschten angewiesen ist. Es versteht sich dann von selbst, dass jede Ausrichtung auf die Zukunft eine strikt Diesseitige sein muss. Eben weil sich die Frage nach einem Leben nach dem Tod als eine des (individuellen) Glaubens und nicht des (allgemeinen) Wissens ausweist, ist es ratsam, sich besser auf das Überleben im Hier und Jetzt zu konzentrieren, als sich auf die unsichere Perspektive ewiger Glückseligkeit nach dem Tod einzulassen (Hobbes 1996a: 123). Andersherum findet die Absolutheit der souveränen Gewalt ihren Zweck im Schutz der individuellen Rechte, denen sie sich erst verdankt. Darin aber manifestiert sich die Grenze des „sterbliche[n] Gott[es]“ (Hobbes 1996a: 145; Betonung im Original), die zu überschreiten sein Ende im Sinne der Erfüllung seines Zwecks bedeutet. Das aber ist ein radikal moderner Gedanke. 2.2.2.2
John Locke: Der Schutz vorstaatlicher Eigentumsrechte
Als John Locke (1632-1704) seine „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ im Jahr 1689 veröffentlicht, jährt sich die „Glorious Revolution“ gerade zum ersten Mal. Obgleich die Ausführungen Lockes bereits Jahre zuvor entstehen, thematisieren sie jene seit Jahren schwelende politische Kontroverse zwischen katholischen und protestantischen Herrschaftsansprüchen auf den britischen Thron, die sich in der unblutigen Revolution 1688 entladen hatten. Locke nutzt die Gunst der Stunde und stellt einen expliziten Zusammenhang zwischen Schrift und Ereignis her, indem er als Rechtfertigung formuliert, was ihm andersherum als historischer Beleg dient. So schreibt er in der Einleitung zu seinem Werk: „Sie [die zwei Abhandlungen – Anm. d. Verf.] mögen vor der Welt das englische Volk rechtfertigen, dessen Liebe zu seinen gerechten und natürlichen Rechten, verbunden mit der Entschlossenheit, sie zu bewahren die Nation gerettet hat, als sie sich hart am Rande von Ruin und Sklaverei befand“ (Locke 1995: 63). Die Formulierung macht deutlich, dass Locke (anders als Bodin oder Hobbes) in souveräner Gewalt keinesfalls die Lösung für Frieden als Ruhe sieht. Denn es ist deren Absolutheitsanspruch, der das
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eigentliche Problem markiert: „Die Situation hat sich verändert, und die dringlichste Frage lautet nicht mehr, wer Individuen und Gruppen vor den Bürgerkriegsparteien schützt, sondern wer sie vor dem Staat als ihrem Beschützer schützt“ (Specht 1989: 175). Dabei findet Locke in dem 1680 erschienenen Werk „Patriarcha, or the Natural Power of Kings“ von Sir Robert Filmer (1588-1653) diejenigen absolutistischen Argumente, gegen die er seine Darstellung von Ursprung, Ausmaß und Zweck politischer Autorität entfaltet. Während Filmer Herrschaft weiterhin in der unmittelbaren Delegation von Gott an Adam fundiert, kann das in Lockes Verständnis nur Willkür konstituieren (Tully 1993: 10; Euchner 2004: 69). Staatliche Autorität ist dahingegen eine Frage einstimmiger Übereinkunft und darin ganz und gar diesseitiger Natur: Der Individualwille ist ab jetzt im wahrsten Sinne des Wortes Anfang und Ende aller staatlichen Gewalt (Dunn 1969: 98; Euchner 1979: 2, 207). Dabei liegt auch bei Locke der gedankliche Ausgangspunkt im Aufeinandertreffen einer Vielzahl unterschiedlicher Einzelinteressen in einem Naturzustand. Anders als bei Hobbes resultiert dies allerdings nicht in bürgerkriegsähnlichen Zuständen, sondern trägt bereits erste Züge einer „commercial society“. Die Motive der Individuen wurzeln hier nicht allein in der Selbsterhaltung, sondern müssen, wie Locke betont, breiter gefasst werden als Interesse am Schutz „(...) ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens, was ich unter der allgemeinen Bezeichnung Eigentum zusammenfasse“ (Locke 1995: 278; Betonung im Original). Während für Hobbes der Naturzustand keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten oder Sicherheiten zu bieten vermag, ist für Locke das ökonomische Leben von allem Anfang an Teil individueller Freiheit, ja begründet diese überhaupt erst. Der Mensch ist, was er arbeitet, verdient, besitzt, handelt, tauscht. Dies einzuschränken oder zu behindern, käme der Infragestellung der Freiheit des Menschen und dessen Leben als solchem gleich. Der Naturzustand kennt denn auch bereits die Unterscheidung von Mein und Dein, ja sie ist in Lockes Denken Voraussetzung der staatlichen Gesellschaft überhaupt. Verargumentiert wird dies mit einer Umkehrung der üblichen naturrechtlichen Annahmen. So liegt der Ursprung individuellen Eigentums zwar weiterhin in göttlicher Delegation, allerdings nicht als exklusive Begünstigung Adams und dessen Erben, sondern als Verfügungsrecht, das an alle Menschen gleichermaßen ergeht (Locke 1995: 215-216).43 Das bedeutet einerseits, dass keiner von vornherein von der Möglichkeit, Eigentum zu erwerben, ausgeschlossen werden kann. Andererseits ko-fundiert Locke darin die Individualität des Individuums und den Ursprung von Eigentumsdifferenzen. Beide fallen in eins, denn es ist die Arbeit des Einzelnen, durch die er erst „persönliches Recht“ (Locke 1995: 217) im Sinne von Exklusivität erwirbt. Anders gesagt: Eigentum bzw. Herrschaft, d.h. Selbstbestimmung und individuelle Freiheit, entspringen als exklusive Verfügungsrechte ein und 43 Vor dem Hintergrund der Vorstellung von Eigentum als exklusivem Ausschlussrecht würde die Delegation an Adam letztlich bedeuten, eine einzige Person zum universalen Herrscher über alles und alle zu machen (Locke 1995: 215-216, 227).
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demselben Moment (Locke 1995: 221). Und obgleich sich Eigentum gegen die göttliche Delegation an alle ausdifferenziert, ist es doch die individuelle Vernunft, die dies gutheißen kann, denn „[O]bwohl die Dinge der Natur allen zur gemeinsamen Nutzung gegeben werden, lag dennoch die große Grundlage des Eigentums tief im Wesen des Menschen (weil er der Herr seiner selbst ist und Eigentümer seiner eigenen Person und ihrer Handlungen oder Arbeit)“ (Locke 1995: 227; Betonung im Original).44 Locke geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, dass da, wo kein Eigentum ist, auch kein Recht sein kann.45 Der Rechtsgrund des Rechts liegt also weder in der Voraussetzbarkeit eines göttlichen Willens noch in der Unabhängigkeit einer naturgegebenen Ordnung, sondern fundiert im Individuum selbst. Der Locke’sche Naturzustand ist also auf den ersten Blick ganz erträglich. Jeder kann durch Arbeit Eigentum erwerben, wirtschaften, tauschen und so sein Leben kontinuierlich verbessern. Dabei leben die Menschen im „(...) Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein. Es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer (...)“ (Locke 1995: 201; Betonung im Original).
In Abwesenheit einer allgemeinen Autorität richten die Einzelnen selbst über ihre Angelegenheiten im Sinne ihrer eigenen Interessen (Locke 1995: 203-204). Und darin liegt denn auch die eigentliche Krux des Naturzustands: Die individualisierte Vernunft empfiehlt jedem etwas anderes zur Mehrung seines Eigentums, was mit zunehmender ökonomischer Differenzierung des Naturzustands immer unerträglicher wird. „Increase in population, the introduction of money, the development of agricultural arts, the extensive appropriation of land, the division of labour and the emergence of commercial activity all lead to interminable disputes and quarrels over property rights“ (Tully 1993: 28). Der Mangel allgemein verbindlichen Rechts und einer Durchsetzungsinstanz und die daraus folgende Belastung des Naturzustands mit endlosen Konflikten, für die er nicht gerüstet ist, macht die freiwillige Unterwerfung und Vereinigung der Individuen in einer bürgerlichen Gesellschaft zum willkommenen Ausweg (Locke 1995: 248). Der Vertragsschluss erfordert Einstimmigkeit der Individualwillen und versorgt künftige politische Entscheidungen mit der notwendigen Legitimität und dem entsprechenden Durchsetzungspotential gegenüber oppositionellen Minderheiten. An Selbstbindung einer Kollektiveinheit 44 Für das damalige Verständnis der Gesellschaft sicherlich ein Schlag ins Gesicht der gesellschaftlichen Eliten, dass auch der Untergebene, der Bauer oder das Gesinde Individuen sein sollen, Herren ihrer selbst, ihres Lebens, ihres Besitzes und ihrer Arbeit. 45 Das bedeutet allerdings auch, dass nur demjenigen ein Interesse an der politischen Gemeinschaft unterstellt werden kann, der über Eigentum verfügt. Denn allein darauf führt sich der Staatszweck ja zurück (Euchner 1979: 204).
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ist auch hier noch nicht zu denken. Soweit sich Staat und politische Autorität erst den naturgegebenen exklusiven Verfügungsrechten des Individuums danken, finden sie in deren Schutz ebenso ihre Daseinsberechtigung wie ihre Grenzen (Locke 1995: 278-279). Denn soweit sie sich allein dem Zweck des Eigentumsschutzes dankt, kann sie sich nicht weiter erstrecken als auf das „Wohl der Gesellschaft“ (Locke 1995: 301). Andersherum endet der geschuldete Gehorsam von Seiten der Bürger an eben diesem Punkt (Locke 1995: 284). Die Locke’sche politische Gesellschaft löst demnach soziale Probleme, die sie überhaupt erst hat, da in den naturwüchsigen gesellschaftlichen Verhältnissen bereits Eigentümer aufeinandertreffen (Dunn 1969: 97, 103, 153; Euchner 1979: 192, 195). Auch bei Locke bringt sich die gesellschaftliche Ordnung gewissermaßen selbst hervor. Im Naturzustand herrschen zwar einerseits bereits Verfügungsrechte. Andererseits aber auch wieder nicht, denn es ist nicht möglich, alle anderen dauerhaft und sicher davon auszuschließen. Recht und Unrecht sind hier nicht fremd, allerdings wiederum nur bedingt. Denn während das Naturgesetz das Eigentum im Naturzustand schützt, ist es zugleich die strukturelle Abwesenheit eines exklusiven Gewaltmonopols, das dieses gefährdet (Dunn 1969: 115). Die individuelle Vernunft wiederum lässt den Einzelnen einsehen, wie nützlich der Gesellschaftsvertrag für die eigenen Interessen eigentlich ist. Es ist dann vor dem Hintergrund des Dargelegten wenig erstaunlich, dass auch Locke der Analogievorstellung von Herrschaft im Haushalt und in der politischen Gemeinschaft kaum etwas abgewinnen kann. So verführerisch die Ähnlichkeit zwischen beiden auch erscheinen mag, so steht für Locke dennoch fest, dass die Familie „(...) in Verfassung, Gewalt und auch in ihrem Ziel sehr verschieden von einem solchen Staat“ (Locke 1995: 252) ist. Die unübersehbare Differenz derselben liegt in der grundsätzlichen Verschiedenheit der jeweiligen Zwecke. Während die väterliche Gewalt zum Zweck der Erziehung und die Gewalt des Herrn über den Knecht zum Zweck des Lohns lediglich zeitlich begrenzte Autoritäten einräumen, kennt die der Reproduktion dienende Ehe überhaupt keine naturgegebenen Rangunterschiede (Locke 1995: 231-232, 248-252). Die Beziehung zwischen Herr und Sklave schließlich liegt außerhalb jeglicher Analogie, denn als absolute Herrschaftsbeziehung willkürlicher Gewalt kann sie kein Verhältnis der Gegenseitigkeit konstituieren. Wer nicht frei ist, ist auch nicht rechtsfähig, kann also auch kein Eigentum erwerben, dessen Schutz aber der Zweck ist, auf den die bürgerliche Gesellschaft überhaupt gegründet ist. Im Gegensatz dazu sind die Individuen in Lockes Verständnis von Natur aus frei und gleich (Locke 1995: 260). Frei, weil sie ausschließlich der eigenen Vernunft folgen (Locke 1995: 238). Gleich, weil sie alle gleichermaßen die Möglichkeit haben, Eigentum zu erwerben und dabei denselben Gesetzen unterworfen sind (Locke 1995: 236). Allerdings: Freiheit braucht Grenzen, sonst ist sie keine. Oder in den Worten Schillers: „Auch die Freiheit muss ihren Herrn haben“ (Die Räuber, 1. Akt, 2. Szene). Locke verargumentiert dies, indem er Freiheit doppelt und als Unter-
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scheidung von Freiheit und Zügellosigkeit fasst. Freiheit aber setzt die Existenz von Gesetzen voraus, die nicht als Beschränkungen zu verstehen sind, sondern dem „frei und einsichtig Handelnden“ (Locke 1995: 234; Betonung im Original) überhaupt erst ermöglichen, unter gegebenen Bedingungen sein eigenes Interesse zu kennen und zu vertreten. Das gipfelt in dem Hinweis Lockes, dass, wo kein Gesetz, auch keine Freiheit sein kann (Locke 1995: 234). Dass die Freiheit, auf Freiheit vollständig zu verzichten, per Naturgesetz entzogen ist, kann dann nur wenig erstaunen. Alles andere aber ist Willkür und so kann sich Locke im Gegensatz zu Hobbes nicht vorstellen, dass man sich selbst opfert, um sich zu erhalten. Denn mein Wille/meine Vernunft ist eben nicht der Wille/die Vernunft eines anderen. Der Einzelne bleibt jederzeit Richter über seine Freiheit und Person, d.h. sein Eigentum. Alles andere würde bedeuten, die Qualität als Mensch zu verlieren, denn die „(...) Freiheit von absoluter oder willkürlicher Gewalt ist so notwendig und eng mit der Erhaltung des Menschen verbunden, daß er sie nicht aufgeben kann, ohne dabei gleichzeitig seine Erhaltung und sein Leben zu verwirken“ (Locke 1995: 214). Der in einen Kriegszustand degenerierte Naturzustand stellt nun allerdings eine chronische Belastung der Freiheit als Selbstzweck dar, deren Opfer der Einzelne unter der Abwesenheit einer souveränen Gewalt permanent wird. Eine per definitionem unerträgliche Situation, die sich nur mit Hilfe der Freiheit als Mittel zum Zweck lösen lässt: Man kann auf die naturgegebene Freiheit zugunsten der Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft verzichten (Locke 1995: 259). Und ist damit letztlich besser dran als vorher, denn in der Befolgung der Gesetze unterwirft sich das Individuum nur seinem eigenen Willen. In den unverregelten Bereichen hingegen ist es frei, zu tun, was immer ihm beliebt (Locke 1995: 213-214, 254). Anders als bei Hobbes steht für Locke dabei außer Zweifel, dass der Mensch nur die Gewalt übertragen kann, über die er selbst verfügt. Das Recht auf Selbstbestimmung aber ist unveräußerlich (Dunn 1969: 88; Euchner 1979: 197). Denn Gott hat die Welt erschaffen und mit ihr den Menschen. Sie sind sein Werk und konsequenterweise auch sein Eigentum. Ihr Fortbestehen richtet sich allein nach seinem Willen (Locke 1995: 203). Das schließt die Möglichkeit einer absoluten Verfügungsgewalt des Menschen über sich selbst aus, denn „[N]o man can confer the right to take his life upon other men by his own will since he does not possess this right himself“ (Dunn 1969: 126). Locke bietet damit wohl die seinerzeit radikalste Lösung für die Frage nach der Möglichkeitsbedingung politischer Herrschaft. Alle Autorität geht von den individuellen Rechtsträgern aus und wird ausschließlich im Vertrauen auf den Schutz des Eigentums verliehen. Alleiniger Richter darüber ist und bleibt das Individuum (Locke 1995: 294). Darin findet die politische Herrschaft ebenso ihre Grenzen wie die Untertanentreue, die nichts anderes bedeutet als „Gehorsam nach dem Gesetz“ (Locke 1995: 295; Betonung im Original). Wie schon bei Hobbes manifestiert sich dann auch an Lockes Denken ein neues Verständnis von Zeit. Die Variabilität von Eigentum führt Dynamik und
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zeitliche Unsicherheit in das System ein. Nicht einmaliger Beschluss oder Delegation konstituiert die Differenz von Mein und Dein, sondern Arbeit, Produktion, Verbrauch, Tausch, Handel oder Erbe. Die dem Markt innewohnenden Kräfte von Angebot und Nachfrage lassen die Eigentumsverhältnisse nie stillstehen. Je ausgeprägter, intensiver und komplexer diese sozialen Beziehungen zwischen den Menschen werden, desto mehr sind sie auf die Sicherstellung und Überwachung exklusiver Verfügungsrechte angewiesen. Es bedarf einer staatlichen Autorität, die kraft ihrer Regelungskompetenz und Sanktionsgewalt die Eigentumsverhältnisse auch auf eine zwangsläufig offene Zukunft hin absichern kann. Ob ihr dies zugetraut wird oder nicht, hängt freilich vom individuellen Urteil als der einzig legitimen Entscheidungsinstanz ab. Locke steigert so die Vorstellung eines offenen Zukunftshorizonts gegenüber dem Denken Hobbes’ nochmals erheblich (Nassehi 1993: 318). Während sich die Hobbes’schen Individuen durch die Veräußerung ihres Naturrechts der staatlichen Gesellschaft vollständig unterwerfen, konstituiert der vollständige Entzug der Entscheidungsfähigkeit über die eigene Zukunft in Lockes Verständnis bloße Willkür, hat also rein gar nichts mit einer bürgerlichen Gesellschaft gemein (Locke 1995: 255). Denn diese zeichnet sich eben dadurch aus, dass letzten Endes ihre Bürger darüber entscheiden, ob und wie lange das Gemeinwesen existiert. 2.2.3 Der moderne Volksbegriff 2.2.3.1
Jean-Jacques Rousseau: Gemeinwille und Volkssouveränität
1762, im Erscheinungsjahr des „contrat social“ von Jean-Jacques Rousseau (17121778), herrscht Ludwig XV. absolutistisch über Frankreich. Allerdings, das System hat bereits Risse bekommen. Die enormen Staatsausgaben für Feldzüge, höfischen Luxus und große Bauvorhaben – kurz: für die absolutistische Selbstdarstellung in Politik, Architektur und Kunst – bringen Frankreich immer wieder kurz vor den finanziellen Ruin, der durch Steuererhöhungen einer bereits stark belasteten Bevölkerung kaum mehr aufzuhalten ist. Ebenfalls in diese Zeit fallen die ersten Diskrepanzen in den Beziehungen zwischen englischem Mutterland und den amerikanischen Kolonien. In Preußen herrscht mit Friedrich dem Großen ein aufgeklärter Absolutist, der jeden nach seiner Façon glücklich werden lässt. Darunter übrigens auch Rousseau, dem er, nachdem „Gesellschaftsvertrag“ und „Émile“ in Paris und Genf verbrannt werden, für einige Zeit Zuflucht gewährt (Brockard 1977: 195-196; Ottmann 2006: 463, 465). Dabei zählt der contrat social zu Rousseaus Lebzeiten kaum zu seinen beliebtesten Schriften. Eine Situation, die sich, zumindest was den Kanon neuzeitlicher politischer Philosophie anbetrifft, grundlegend geändert hat. Rousseau gilt der Rezeption heute als der „Staatstheoretiker der Neuzeit“ (Brockard 1977: 202) schlechthin. Gut 100 Jahre nach den Abhandlungen Lockes wird am
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Gesellschaftsvertrag Rousseaus allerdings deutlich, wie aktuell der Ruf nach Freiheit und Gleichheit in Politik und Ökonomie nach wie vor ist. Ein sich von Statusschranken und alten Privilegien emanzipierendes Bürgertum fordert im zunehmenden Maße einen Staat, der nicht mehr den Kapriolen monarchischer Selbstdarstellung dient, sondern dem Wohl der aufstrebenden Schichten. „Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten“ (Rousseau 1995: 61). Mit dem berühmten Fanal zu Beginn des contrat social bringt Rousseau das Problem der Freiheit auf die Frage nach der Legitimität und Moral gesellschaftlicher Ordnung schlechthin. Eine Problemstellung, die nach diesem Verständnis fundamentaler nicht sein könnte, stellt sie doch die Frage nach dem Beziehungsverhältnis von individueller Freiheit und souveräner Gewalt. Und Rousseau kennt darauf nur eine Antwort: Diejenigen, die den Gesetzen unterworfen sind, müssen auch deren Urheber sein.46 Er distanziert sich dabei jedoch explizit von einem Herrschaftsvertrag Hobbes’scher Art. Der ursprüngliche Sozialvertrag als „(...) die wahre Begründung der Gesellschaft“ (Rousseau 1995: 72) muss auf einen Akt ganz anderer Art zurückgehen. Während auch Rousseau nach wie vor von einem ursprünglichen Zustand ausgeht, gegen den sich die gesellschaftliche Ordnung erst ausdifferenziert, deutet er diesen nicht als (Natur-)Rechts-, sondern als Unrechtszustand. Denn das hier herrschende Recht des Stärkeren eignet sich schlichtweg nicht als Fundament einer legitimen Rechtsordnung. „Ich behaupte, daß daraus ein unerklärliches Durcheinander entstünde. Denn sobald die Gewalt Recht schafft, tauschen Wirkung und Ursache die Plätze: Jede Gewalt, die eine vorhergegangene Gewalt übersteigt, übernimmt auch deren Recht. Sobald man ungestraft ungehorsam sein kann, kann man es auch mit Recht sein. Weil der Stärkere immer recht hat, kommt es nur darauf an, immer der Stärkste zu sein“ (Rousseau 1995: 65).
Gerade das verstößt aber gegen das von Natur aus gegebene Prinzip individueller Freiheit, kann also nur Unrecht konstituieren. Da es dem Recht auf alles zudem an komplementären Pflichten fehlt, ist der Naturzustand fundamental ungerecht (Rousseau 1995: 96). Anders als bei Hobbes bzw. Locke ist es in Rousseaus Denken also nicht die Unerträglichkeit eines Kriegszustands, die den Naturzustand so problematisch macht, sondern die aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessen resultierenden, gegen die natürliche Freiheit des Einzelnen verstoßenden Relationsverhältnisse.47 Das lässt sich wiederum nur so lange aushalten bis die Hinder46 Eine Aufgabe, die weniger Menschliches als Göttliches verlangt (Rousseau 1995: 130). Denn: „Mettre la loi au-dessus de l’homme est un problème en politique que je compare à celui de la quadrature du cercle en géométrie. Résolvez bien ce problème; et le gouvernement fondé sur cette solution sera bon et sans abus. Mais jusque-là soyez sûrs qu’où vous croirez faire régner les lois, ce seront les hommes qui régneront“ (Rousseau 1971: 528). 47 Gegen Hobbes argumentiert Rousseau, dass der Naturzustand kein Kriegszustand ist und entsprechend der Gesellschaftszustand nicht die Lösung für das Problem des Friedens. Denn während der ursprüngliche Zustand keine exklusiven Rechtsansprüche kennt, kann es auch keinen Krieg darum geben. Worum es geht, ist Freiheit und diese findet sich nur dort, wo selbstgegebene Gesetze herrschen.
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nisse, die der Naturzustand dem Einzelnen entgegensetzt, dessen Kräfte übersteigen. Das Problem gibt die Lösung bereits vor, denn die Konstitution der Gesellschaft verdankt sich dann ebenso dem „Gegensatz der Einzelinteressen“ wie dem daraus resultierenden „Zusammenspiel der gleichen Interessen“ (Rousseau 1995: 84). Es gilt, das Gemeinsame im Differenten zu finden: Weil jeder ein Interesse daran hat, die eigenen Interessen zu verwirklichen, liegt die Antwort auf die Frage nach der Herkunft politischer Gewalt in einer Gesellschaftsform, „’(...) die mit der gesamten gemeinsamen Kraft aller Mitglieder die Person und die Habe eines jeden einzelnen Mitglieds verteidigt und beschützt; in der jeder einzelne, mit allen verbündet, nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor.’ Das ist das Grundproblem, das der Gesellschaftsvertrag (contrat social) löst“ (Rousseau 1995: 73; Betonung im Original). Rousseau bietet damit eine Lösung für das Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Herrschaft, die in der naturrechtlichen Tradition noch ganz undenkbar ist. Politische Autorität konstituiert sich nicht mehr als hierarchisches Repräsentationsverhältnis, sondern als Akt der Selbstbindung – als vollständige Überäußerung an den Gemeinwillen und zwar nur an diesen (Rousseau 1995: 73-74). Ähnlich wie bei Hobbes dient der Schritt der Vergesellschaftung auch hier der Reduzierung der Vielheit der Einzelwillen, allerdings nicht auf die Einheit eines einzigen, alle anderen repräsentierenden Willens, sondern auf die Einheit des Gemeinwillens. Das Ergebnis ist dann ein „(...) Moral- und Kollektivkörper, der aus so vielen Mitgliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat; aus diesem Akt hat er seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen“ (Rousseau 1995: 74; Betonung im Original). Je nach Standpunkt ergeben sich dann verschiedene Beziehungsverhältnisse: „Staat“, wenn die so entstandene Einheit passiv und „Souverän“, wenn sie gesetzgeberisch aktiv ist. Als Teilhaber heißen alle „Volk“, als Einzelne „Bürger“ und „Untertan“, wenn sie den Gesetzen unterworfen sind (Rousseau 1995: 75). Allein der Gemeinwille vermag die Gesellschaft auf das Gemeinwohl als ihrem eigentlichen Zweck hinzulenken, denn dieser „(...) ist allein dadurch, daß er ist, immer schon das, was er sein soll“ (Rousseau 1995: 77). Wenn also Repräsentation, dann nur als Identität des Ganzen mit sich selbst. Denn „[W]enn das ganze Volk über das ganze Volk beschließt, sieht es nur sich selbst. Entsteht jetzt ein Verhältnis, so findet es ohne eine Teilung des Ganzen nur zwischen dem ganzen Objekt unter einem Standpunkt und dem ganzen Objekt unter einem anderen Standpunkt statt. Dann ist der Gegenstand, über den man beschließt, genauso allgemein wie der Wille, der beschließt. Diesen Akt nenne ich ein Gesetz“ (Rousseau 1995: 97).
Darin gründet für Rousseau letztlich die Unmöglichkeit eines Herrschafts- oder Unterwerfungsvertrags, wie Hobbes ihn vorsieht: Der Gemeinwille kann sich kein Also nicht im Naturzustand, in dem lediglich die Unabhängigkeit der Einzelnen von allen anderen herrscht (Rousseau 1995: 68-70).
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weiteres Mal binden. Das widerspräche seiner Natur, alle Einzelnen als Einzelne in die Einheit der Allgemeinheit zu überführen (Rousseau 1995: 76, 102). Die Souveränität des Gemeinwillens ist und bleibt unveräußerlich, unteilbar und unrepräsentierbar (Rousseau 1995: 84-86). Während der Gemeinwille einerseits nicht allgemeiner werden kann, als er es schon ist, muss er andererseits auch vom Einzelnen absehen. Denn „[W]ie ein Einzelwille nicht den Gemeinwillen vertreten kann, so verändert der Gemeinwille seinerseits sein Wesen, wenn er einen Einzelfall behandelt. Er kann dann, eben weil er allgemein ist, weder über einen Menschen noch über eine Sache befinden. (...) Wahrlich ein bewundernswerter Einklang der Interessen und der Gerechtigkeit, der den gemeinsamen Beschlüssen einen Zug von Billigkeit verleiht, die bei der Behandlung einer jeden privaten Angelegenheit zu verschwinden droht, weil kein einigendes gemeinsames Interesse besteht und die Norm des Rechts mit der der Partei verwechselt wird“ (Rousseau 1995: 91, 92).
Ein spezieller Schutzmechanismus des Individuums vor der souveränen Gewalt ist also gar nicht erst vonnöten. Denn soweit diese ein auf den Einzelfall oder die Einzelperson abzielendes Interesse gar nicht erst haben kann, vermag der Gemeinwille an sich nichts zu beschließen, was gegen das allgemeine Interesse gerichtet sein könnte. Andersherum konstituieren Beziehungsverhältnisse, wie sie etwa Familie, Recht des Stärkeren oder Sklaverei begründen, keinesfalls rechtmäßige bzw. legitime Gewalten, eben weil sie nicht auf dem Prinzip der Freiheit als Willensbeteiligung, sondern auf Zwang als Willkür beruhen. Dass die Freiheit, d.h. das Recht grundsätzlich selbst über die eigenen Interessen zu bestimmen, der eigentliche Wesenszug des Individuums ist, steht der Bildung einer gesellschaftlichen Ordnung in Rousseaus Denken also gerade nicht entgegen, sondern ist deren eigentliche Bedingungsmöglichkeit (Rousseau 1995: 63). Denn wenn der Naturzustand nur durch Notwendigkeit und Unrecht strukturiert ist, so muss die Gesellschaft als Rechtszustand die Verwirklichung der wahren Freiheit des Einzelnen bedeuten. Dass es also überhaupt zu sozialer Ordnung kommt, begründet sich auch bei Rousseau letztlich zirkulär. Denn die Freiheit, auf Freiheit zu verzichten, ist dem Menschen von Natur aus entzogen. Dass es aber der Natur entspricht, der Natur entsprechend zu leben, liegt wiederum im Menschen selbst verborgen. Denn „[A]uf seine Freiheit verzichten heißt, auf sein Menschtum, auf die Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten zu verzichten. (...) Ein solcher Verzicht ist mit der menschlichen Natur unvereinbar. Es hieße, seinen Taten jeden sittlichen Wert nehmen, nimmt man seinem Willen jede Freiheit“ (Rousseau 1995: 67). Die bürgerliche Vergesellschaftung aber konstituiert in Rousseaus Denken „die freiwilligste Handlung von der Welt“ (Rousseau 1995: 170-171). Niemand kann gegen seinen Willen dazu gezwungen werden, in den Gesellschaftsvertrag einzuwilligen. Der Gesellschaftsvertrag konstituiert also nichts weniger als eine Ordnung der Freiheit, der Moral und Sittlichkeit, im Gegensatz zur instinktiven Zügellosigkeit des Naturzustands strukturiert durch je vorherrschende physikalische Kräftever-
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hältnisse (Rousseau 1995: 79, 112-113, 117-119).48 Andersherum bedeutet das aber auch: „Wer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, muß durch den ganzen Körper dazu gezwungen werden. Das heißt nichts anderes, als daß man ihn dazu zwingt, frei zu sein“ (Rousseau 1995: 77). Dass sich damit das zeitliche Verständnis nun endgültig an einem offenen Zukunftshorizont orientiert, zeigt sich daran, dass Rousseau die Beweislast gegen die Vorstellung des unausweichlich Gottgegebenen umkehrt. So argumentiert er, dass es zwar durchaus eine göttliche Ordnung geben mag. Es ist jedoch gerade die Existenz von positiven Gesetzen und Regierungen, die beweist, dass diese dem Menschen ganz offensichtlich nicht unmittelbar zugänglich ist (Rousseau 1995: 96). „Gäbe es keine unterschiedlichen Interessen, so würde man das Gemeinschaftsinteresse, das ja niemals auf ein Hindernis stößt, kaum wahrnehmen. Alles ginge von allein und die Politik würde aufhören, eine Kunst zu sein“ (Rousseau 1995: 88 (FN)). Das lässt sich jedoch nicht beobachten. Das die Gesellschaft konstituierende Problem ist selbst ganz sozialer Art, rechnet also immer schon mit Kontingenz und reagiert darauf ebenso kontingent mit der vollständigen Positivierung des Rechts aufgehoben im Gemeinwillen. Gewinnt der soziale Körper durch den Gesellschaftsvertrag erst sein Leben, so ist es die Gesetzgebung, die diesen mit der jederzeitigen Revision seiner selbst versorgt (Rousseau 1995: 95). Es ist dies, was das Volk letztlich zum Subjekt seiner eigenen Geschichte macht. Die Zukunft fungiert dann als Entlastungshorizont der Gegenwart: Gerade weil sie sich jetzt als grundsätzlich offen erweist, muss es auch der Gemeinwille sein. „Der Souverän könnte zwar sagen: ’Ich will jetzt dasselbe, was dieser oder jener Mensch will, oder wenigstens, was er zu wollen behauptet.’ Aber er kann nicht sagen: ’Was dieser Mensch morgen will, werde ich ebenfalls wollen’, da es absurd ist, daß sich der Wille Ketten für die Zukunft auferlegt, und da der Souverän von keinem Willen abhängt, in etwas einzuwilligen, das sich dem Wohl des Wesens, das will, widersetzt“ (Rousseau 1995: 85).
Als künstliches Projekt, das Zweck und Ziel jenseits seiner selbst findet, schließt das aber letztlich auch den „Tod des politischen Körpers“ (Rousseau 1995: 152) mit ein.
48 Damit einher geht ein tiefgreifender Wandel im Wesen des Menschen. Soweit ihm die Möglichkeit der Perfektion von Natur aus verwehrt ist, kann er doch durch die Vergesellschaftung zur Moralperson werden (Rousseau 1995: 78-79). Das, so Koselleck, verweist auf die Vorstellung der „Perfektabilität“ des Menschen: „Seitdem konnte die ganze Geschichte als ein Prozeß andauernder und zunehmender Vervollkommnung begriffen werden, der, trotz aller Rückfälle und Umwege, schließlich von den Menschen selber zu planen und zu vollstrecken sei. Die Zielbestimmungen werden seitdem von Generation zu Generation fortgeschrieben, und die in Plan oder Prognose vorausgenommenen Wirkungen werden zu Legitimationstiteln politischen Handelns. In einem Satz: der Erwartungshorizont erhält seitdem einen mit der Zeit fortschreitenden Veränderungskoeffizienten“ (Koselleck 1989c: 363).
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Emmanuel Sièyes: Nation49 und Verfassung
Im Januar 1789 erscheint in Paris eine anonyme Kampfschrift, wie sie zu dieser Zeit in ungekannter Menge auftauchen und wieder verschwinden (Dann 1988: 1, 12). Diese allerdings sollte als eine der wohl bekanntesten der Revolutionszeit in die Geschichte eingehen. Ihr Thema konnte für damalige Verhältnisse aktueller nicht sein. Nur wenige Monate zuvor hatte Ludwig der XVI. auf innenpolitischen Druck hin die französischen Generalstände einberufen, die seit mehr als 150 Jahren nicht mehr getagt hatten (Dann 1988: 3). Damit geriet jedoch eine Frage ganz unvermittelt in den Fokus: Während die Abgrenzung von Adel und Klerus qua ihres Status’ durchaus klar war, ließ sich dies für den weitaus größeren Teil der Gesellschaft nicht so ohne weiteres klären. Alles lief also auf die Frage hinaus: „Was ist der Dritte Stand?“. Versuchte sich einerseits das in die Krise geratene absolutistische Herrschaftssystem mit Hilfe der Wiederbelebung ständischer Institutionen zu reformieren, barg die Fragestellung im Schatten aktueller Entwicklungen jenseits des Atlantiks jedoch an enormer Explosivität (Foerster 1968: 11; Dann 1988: 3-4). Sowohl die Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonien vom britischen Mutterland 1776 wie auch die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika kraft Verfassung 1787 lassen absolutistische Reformversuche als geradezu antagonistisch erscheinen. So sieht es zumindest der Verfasser der eingangs erwähnten Flugschrift – Emmanuel Sièyes (1748-1836). Er kann und will sich nicht mehr mit einer bloßen Reform der Abstimmungsmodi in der Ständevertretung zufrieden geben, sondern fordert eine ständelose Nationalversammlung. Die Nation herrscht. Über wen? Über sich selbst! Die paradoxe Gleichzeitigkeit von Über- und Unterordnung, von Herrschen und Beherrschtwerden kennzeichnet dabei das, was bis heute als „demokratischer Verfassungsstaat“ (Kielmansegg 1988: 397) bezeichnet wird.50 Zum Durchbruch kommt darin das Prinzip der Volkssouveränität, nach dem alle politische Gewalt vom Volke ausgeht. Die unterstellte Identität von Staat und Herrscher – das „l’état, c’est moi“, das Ludwig der XIV. angeblich formuliert haben soll – 49 Einen ausführlichen Überblick zum Beziehungsverhältnis von Volk und Nation seit dem Mittelalter bis heute bieten die Ausführungen aus den Geschichtlichen Grundbegriffen von Koselleck et al. 1992: 141-433. Besonders interessant scheint dabei aus der Sicht der Untersuchung folgender Hinweis Kosellecks zu Volk und Nation: „Beide Begriffe müssen – unbeschadet aller Selbstdeutungen – wissenschaftsterminologisch als genuin politische Begriffe bezeichnet werden. Beide implizieren autonome Selbstorganisation und Verwirklichung, gleich ob sie ‚Volk’ oder ‚Nation’ heißen“ (Koselleck et al. 1992: 389). Zum Verhältnis der Begriffe in Frankreich und Deutschland zwischen 1760 und 1815 vergleiche Schönemann 1989. Einen interessanten Überblick zum Verständnis des Begriffs der Nation in Frankreich kurz vor und während der Revolutionszeit bietet Fehrenbach 1986. 50 Für eine ausführliche Betrachtung der historischen und systematischen Bedingungen der Volkssouveränität siehe die gleichnamige Untersuchung von Peter Graf Kielmansegg (Kielmansegg 1977). Näheres zum Begriff der Demokratie von der Antike bis heute siehe den gleichnamigen Artikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen (Meier et al. 1972). Für die Demokratievorstellungen, die die Französische Revolution hervorbringt, siehe Dippel 1986.
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gehört ab jetzt ebenso der Vergangenheit an wie jeder Verweis auf Transzendentes. „L’état, c’est la nation“ müsste man nun entsprechend formulieren. Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung sind ab jetzt delegierte Gewalten, die ihre Funktionen nicht mehr „im Namen Gottes“, sondern „im Namen des Volks“ wahrnehmen (Koselleck et al. 1992: 204). Oder wie Horst Dippel es formuliert: „An die Stelle der göttlichen Investition von Herrschaft ist der Mensch getreten, statt von den Rechten der Herrschaftsausübung ist von ihren Pflichten die Rede, an Stelle der Erhabenheit des Mächtigen wird von der Würde des Regierten gesprochen, der Monarch ist dem Volk gewichen“ (Dippel 1986: 57-58). Abgesichert über die Verfassung, wie Stern betont, denn „[N]icht das government by men soll maßgeblich sein, sondern das government by constitution“ (Stern 1984: 82). „1.q Qu’est-ce que le Tiers état? – Tout. 2.q Qu’a-t-il été jusqu'à présent dans l’ordre politique? – Rien. 3.q Que demande-t-il? – A Être quelque chose“ (Sièyes 1970: 119). Der titelgebende Fragenkomplex zu Beginn der Abhandlung Sièyes’ stellt in unmittelbarer Nachfolge zu Rousseau erneut das Problem der Freiheit als Frage nach dem Ursprung legitimer politischer Gewalt. Und löst es mit Hilfe des Zirkels von Nation und Verfassung. Dabei stellt Sièyes zunächst klar, dass der Dritte Stand letztlich nichts anderes als die vollständige Nation ist – er ist schlichtweg alles (Sièyes 1970: 120, 126, 150, 195).51 Freiheit aber ist gleichbedeutend mit dem allen gleichermaßen zukommenden Rechtsstatus des Bürgers.52 Die Gesellschaft bedarf im Gegensatz zur Privilegienordnung des Adels einer gemeinsamen rechtlichen Grundordnung – der Verfassung. Sie regelt die fundamentalen rechtlichen Beziehungen zwischen den Menschen hinsichtlich ihrer Einzelinteressen und dem Gemeininteresse. „C’est à elle à nous dire ce qu’on auroit dû faire; et après tout, il n’y a qu’elle qui puisse le dire“ (Sièyes 1970: 177-178). In der Verfassung gewinnt die politische Regierungsgewalt zugleich Gestalt, Begrenzung und Legitimation. Oder wie Ulrich Preuß es ausdrückt: „Es [das Verfassungsrecht – Anm. d. Verf.] tritt dem scheinbaren Chaos gesellschaftlicher Vielfalt und Heterogenität nicht als das unfaßbare, ungefaßte und rettende ganz andere, als Heilsversprechen, damit zugleich aber immer auch als lauernde Bedrohung entgegen, sondern unterliegt als ordnende Kraft selbst dem Zwang zur Form, zur Begrenzung und zur Vermittlung von Gegensätzlichem“ (Preuß 1994: 12).
Politische Gewalt erweist sich im modernen Verständnis als ebenso „einrichtungswie regelungsbedürftig“ (Grimm 1994a: 21). Darin spiegelt sich der Bedeutungswandel des Verfassungsbegriffs von einer rein deskriptiven Funktion bestehender 51 Ein alles, das eben selbst schon die Sprache einer den Einzelnen transzendierenden Kollektiveinheit spricht. Der Dritte Stand ist nicht deswegen alles, weil er tatsächlich alle Einzelnen darstellt, sondern weil er jenes alles ist, auf das es ankommt, wenn es um die Beobachtung von Willkür und (legitimer) politischer Gewalt geht. Und es sei hier nur kurz ergänzt, dass Willkür dann jede Gewalt sein kann, eben nur nicht die politische. 52 Zur Umdeutung des „citoyen“-Begriffs im Verlauf der Französischen Revolution siehe Rétat 1988.
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Herrschaftsverhältnisse zur präskriptiven bzw. normativen Funktion als herrschaftshervorbringende, umfassende und universale Grundordnung (Grimm 1987: 48-49, 52; Grimm 1994a: 22-23). Das Problem, das die Verfassung in diesem Sinne löst, ist die Frage, wie sich staatliche Gewalt rechtlich binden lässt, wenn das Recht selbst der „schöpferischen Kraft der Politik“ (Preuß 1994: 9) entspringt. Dies gelingt im Rückgriff auf die „Idee der Legeshierarchie“ (Grimm 2004: 153), kraft derer sich die Verfassung, die Unterscheidung von Recht und Unrecht vorwegnehmend, sich selbst als Recht unterstellt. Darin konstituiert sich ihr Geltungsvorrang vor allem anderen Recht, das sich im Folgenden als verfassungsgemäß ausweisen muss, und entzieht darin ihre Vorgaben ganz oder teilweise der Revidierbarkeit (Sièyes 1970: 180-181). Änderungen sind dann nur als Reform der gegebenen rechtlichen Bedingungen denkbar oder eben als Revolution (Böckenförde 1991: 44).53 In ihrer ordnungsfundierenden Funktion kann sich die Verfassung jedoch nicht auf Externes zurückführen, hieße das doch den eigenen Voraussetzungen zu widersprechen. Ihren Ursprung findet sie vielmehr in der Nation als der „pouvoir constituant“ (Sièyes 1970: 181). „La nation existe avant tout, elle est l’origine de tout. Sa volonté est toujours légale, elle est la loi elle-même. Avant elle et au-dessus d’elle il n’y a que le droit naturel“ (Sièyes 1970: 180; Betonung im Original). Charakterisiert durch ihre Ungebundenheit von jeglichem positiven Recht unterscheidet sie sich von der Regierung, die ihre Existenz allein der Konstitution verdankt und entsprechend ihre Gewalt nur in deren Rahmen ausüben kann und darf. Der Nationalwille hingegen ist aus sich selbst heraus verbindlich, denn „[L]a nation est tout ce qu’elle peut être par cela seul qu’elle est. (…) La volonté nationale (…) n’a besoin que de sa réalité pour être toujours légale, elle est l’origine de toute légalité“ (Sièyes 1970: 181, 182).54 Als verfassungsgebende Gewalt kann und darf die Nation keinesfalls positivierte Form annehmen (Sièyes 1970: 182). Sie kann nicht, denn weder existiert eine ihr vorgeordnete Autorität, die sie binden könnte, noch kann sie sich für alle Zukunft binden, noch ist eine Instanz vorstellbar, gegenüber der sie sich binden könnte – außer sie selbst. Der Gemeinwille ist eben nur dann Gemeinwille, wenn er sich ausschließlich auf isolierte Einzelwillen zurückrechnen lässt. Jegliche a priori Willensakkumulation hat zwangsläufig allgemeinwillenverfälschende Wirkung (Sièyes 1970: 189, 205). All dies würde letztlich bedeuten, auf das Recht zu wollen ein für alle Mal zu verzichten. Konstituiert sich die Nation jedoch überhaupt erst durch den ihr zugeschriebenen einheitlichen Willen, so muss es ihr grundsätzlich 53 Von der Revolution als der sich selbst hervorbringenden, treibenden Kraft der Geschichte schreibt Sièyes: „En vain les privilégiés fermeroient les yeux sur la révolution que le temps et la force des choses ont opérée; elle n’en est pas moins réelle“ (Sièyes 1970: 196). Zur Umdeutung des aus dem naturwissenschaftlichen Kontext entnommenen Begriffs der Revolution vgl. Koselleck 1989e. 54 Das bedeutet andersherum zugleich auch, dass dem Zugriff der Nation per se nichts entzogen sein kann: „Jeder Lebensbereich, der sich überhaupt menschlicher Einwirkung öffnet, ist auch schon Gegenstand staatlicher Tätigkeit gewesen“ (Grimm 1994b: 771).
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unmöglich sein, zu wollen, nicht zu wollen. Sie darf sich nicht in positivierte Form bringen, denn damit beraubte sie sich ebenso ihrer Freiheit wie sie das gegenseitige Bedingungsverhältnis von politischer Gewalt und rechtlicher Begrenzung zwangsläufig in einen unauflöslichen Teufelskreis stürzte, übte sie dann doch nur eine abgeleitete Gewalt aus. Allerdings und wiederum – abgeleitet wovon? Die Vorstellung einer konstituierten Nation widerspricht also grundsätzlich sich selbst. Mit anderen Worten: Der Sièyes’schen Nation bleibt die Möglichkeit, sich selbst nicht als Nation zu behandeln, letztlich entzogen. „Une nation ne peut pas décider qu’elle ne sera pas la nation, ou qu’elle ne le sera que d’une manière; car ce seroit dire qu’elle ne l’est point de toute autre. De même une nation ne peut statuer que sa volonté commune cessera d’être sa volonté commune “ (Sièyes 1970: 188). Die Nation ist und bleibt also die Herrin der Verfassung und steht als solche außerhalb der sozialen Ordnung (Sièyes 1970: 187). Man bekommt es dann aber unweigerlich mit zwei Paradoxien zu tun. Mit der vollen Positivierung des Rechts, d.h. das Recht bestimmt selbst, was Recht bzw. Unrecht ist. Und mit dem Souveränitätsparadox – dem Problem der Bindung einer per se ungebundenen Gewalt. Denn behielte die Nation ihre Qualität im konstituierten Zustand bei, so würde die Dauerhaftigkeit des Rechts kontinuierlich durchbrochen.55 Die Lösung des Dilemmas findet Sièyes in der freiwilligen Selbstbindung der Nation, die aus der ursprünglichen „pouvoir constituant“ eine „pouvoir constitué“ im Sinne einer an das selbstgegebene Recht gebundenen Einheit macht (Sièyes 1970: 126).56 Das Souveränitäts55 Ein Problem, das auch das heutige Staatsrecht nach wie vor formuliert. So versteht etwa ErnstWolfgang Böckenförde die verfassunggebende Gewalt des Volks als einen „Grenzbegriff des Verfassungsrechts“ (Böckenförde 1994: 58), den dieses nicht aus sich selbst heraus zu klären vermag: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde 1991: 112; Betonung im Original). Ähnliches beobachtet auch Peter Graf Kielmansegg, wenn er von einem Verfassungsparadox als dem „Gefälle“ (Kielmansegg 1988: 410) zwischen dem Grundsatz der Demokratie – der innewohnenden Kontingenz der Entscheidungen des Gemeinwillens – und dem Geltungsvorrang der Verfassung – als das dem Eingriff Entzogenem – formuliert. „Der demokratische Verfassungsstaat ist kein Gebilde aus einem Guß. Seine Regeln gehorchen nicht einer bestimmten und nur einer Logik. Die Prinzipien, die ihm Gestalt gewonnen haben, lassen sich nicht spannungsfrei miteinander verknüpfen“ (Kielmansegg 1988: 411). Gehört der Vorrang aus verfassungsrechtlicher Sicht begrifflich zur Konstitution, kann sie dies nur für sich in Anspruch nehmen, und nichts anderes beobachten Verfassungsrechtler wie Böckenförde, Kielmansegg, Grimm oder Preuß als Dilemma bzw. Paradox, soweit sie sich auf etwas ihr Vorgeordnetes zurückrechnet. So greift sie auf das politische Volk als einer „vorausliegenden Größe“ (Böckenförde 1994: 58; Betonung im Original) aus, als jenes „Formlos-Formende“ (Böckenförde 1994: 62; auch Schmitt 1928: 81), der allein die verfassunggebende Gewalt zukommen kann (Kielmansegg 1988: 408). 56 Diese Zirkularität beobachtet später auch Karl Marx: „Die gesetzgebende Gewalt ist die Gewalt, das Allgemeine zu organisieren. Sie ist die Gewalt der Verfassung. Sie greift über die Verfassung. Allein anderseits ist die gesetzgebende Gewalt eine verfassungsmäßige Gewalt. Sie ist also unter der Verfassung subsumiert. Die Verfassung ist Gesetz für die gesetzgebende Gewalt. Sie hat der gesetzgebenden Gewalt Gesetze gegeben und gibt sie ihr beständig. Die gesetzgebende Gewalt ist nur gesetzgebende Gewalt innerhalb der Verfassung, und die Verfassung stände hors de loi, wenn sie außerhalb der gesetzgebenden Gewalt stände. Voilà la collision!“ (Marx 1981b: 257; Betonung im Original).
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paradox, wie es seit Bodin immer wieder entfaltet werden muss, löst sich dann an der selbstbezüglichen Erkenntnis, dass „[A]ucune sorte de pouvoir délégué ne peut rien changer aux conditions de sa délégation“ (Sièyes 1970: 181). Der Repräsentativwille hat dann zwar die Funktion der Ausübung politischer Gewalt keinesfalls aber die der Verfassungsgebung (Sièyes 1970: 180-181). Oder anders formuliert: Während die Nation per se nicht konstituierbar ist, bedarf die Regierung ganz zwangsläufig der „institutionellen Einfassung“ (Koselleck et al. 1982: 4). Mit dem Begriff der Demokratie verbindet sich dann weniger das Verständnis einer alternativen Regierungsform neben anderen, sondern dieser erweist sich als „(...) ein den modernen Verfassungen im ganzen inhärierendes politisches Element (...)“ (Meier et al. 1972: 862). Öffentliche Autorität und Staatsgewalt fallen so ebenso zwangsläufig in eins wie Besitz und Ausübung politischer Autorität auseinander (Grimm 2004: 152).57 Die enorme Steigerung zum „Monopol legitimer Gewaltsamkeit“ (Weber 1976: 821) muss allerdings mit reduzierter Anwendbarkeit in ausschließlich jenen von der Verfassung vorgesehenen Bahnen bezahlt werden. Zieht man demgegenüber die Vorstellung der „raison d’état“ in Betracht, so zeigt sich ein fundamentaler Wandel im Staatsverständnis der Moderne. Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung der Moderne versteht sich als normatives Modell, das auf der Annahme aufruht, „(...) die Gesellschaft sei aus sich heraus in der Lage, zu Wohlstand und Gerechtigkeit zu gelangen, wenn sie sich nur frei von externer Bestimmung entfalten dürfe“ (Grimm 1991: 399).58 Im Gegensatz zur frühen Neuzeit, in der die Staatsräson das Glück aller vorschrieb, reduziert sich der Staatszweck jetzt auf den Schutz jener individuellen Rechtsansprüche, aus denen sich die Staatsgewalt grundsätzlich herauszuhalten hat. „A ces seules conditions nous pouvons 57 Dahinter verbirgt sich für Werner Conze der Trick, der den Demokratiebegriff für die moderne Verfassung überhaupt erst anwendbar macht, denn „[M]it Hilfe verfassungsrechtlich institutionalisierter Repräsentation des ‚Volkes’ sollte grundsätzlich für alle Staaten die Identität von Regierenden und Regierten ermöglicht werden“ (Meier et al. 1972: 873). 58 Der Markt kennt mit der „invisible hand“ ein komplementäres Vertrauen, das genau andersherum funktioniert. Nicht Einheitlichkeit eines Gemeinwillens birgt hier das Versprechen auf die Verbesserung der Gegenwart, sondern die ungezähmte Divergenz der Einzelinteressen. So schreibt Adam Smith in der „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“: „As every individual, therefore, endeavours as much as he can both to employ his capital in the support of domestick industry, and so to direct that industry that its produce may be of the greatest value; every individual necessarily labours to render the annual revenue of the society as great as he can. He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it. By preferring the support of domestic to that of foreign industry, he intends only his own security; and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. Nor is it always the worse for the society that it was no part of it. By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it“ (Smith 1994: 484-485). Das hat im modernen Verständnis die „’Trennung von Staat und Gesellschaft’“ (Grimm 1991: 403) zur Folge. Der Staat, aller Vorstellungen einer mittelalterlichen „societas civilis“ entkleidet, bleibt der Gesellschaft, als der einzigen Instanz, über ihr Schicksal selbst zu bestimmen, nachgeordnet.
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nous rendre raison de la possibilité de fonder les associations humaines sur l’avantage général des associés et par conséquent nous expliquer la légitimité des sociétés politiques“ (Sièyes 1970: 207; Betonung im Original). Auch in der Sozialdimension kommt dieser selbstbegründende Zirkel zum Ausdruck, wenn Sièyes betont, dass „[L]es droits politiques, comme les droits civils, doivent tenir à la qualité de citoyen. Cette propriété légale est la même pour tous, sans égard au plus ou moins de propriété réelle dont chaque individu peut composer sa fortune ou sa jouissance. (…) Ce droit est un; tous l’exercent également, comme tous sont protégés également par la loi qu’ils ont concouru à faire“ (Sièyes 1970: 145).
Unterschiede von Eigentum, Erziehung, Alter, Geschlecht etc. berühren die bürgerliche Gleichheit nicht – sie liegen jenseits des Bürgerstatus’. So bedeutet individuelle Freiheit letztlich nicht mehr und nicht weniger als unter den Bedingungen öffentlicher Ruhe und Ordnung, die eigenen Interessen und Bedürfnisse zu verfolgen, die ihre Grenzen lediglich darin finden, was das Gesetz zum Wohl der Allgemeinheit vorschreibt (Sièyes 1970: 205, 208-209). Begriffe wie Verfassung, Volk, Nation, Gemeinwohl oder Fortschritt, das sollte deutlich geworden sein, nehmen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Form eines „Kollektivsingular[s]“ (Koselleck 1989f: 305) an und verzeitlichen sich, insofern sie Erwartungen an eine unbekannt bleibende Zukunft formulieren (Koselleck et al. 1992: 149, 385). So gilt dies etwa für die Verfassung „(...) in dem Sinn, daß sie zum Zielbegriff wird, der bestimmte Erwartungen transportiert, die historisch erst einzulösen sind“ (Grimm 1995: 100). Ähnlich verhält es sich auch mit Kollektivitätssemantiken. Mit der endgültigen Umstellung von einem empirischdeskriptiven Volksbegriff auf einen normativen Erwartungsbegriff steht erstmals eine Begrifflichkeit zur Verfügung, deren hauptsächliches Charakteristikum es ist, sich „(...) erst in der Zukunft zu verwirklichen (...)“ (Koselleck et al. 1992: 149). Es ist ein „(...) Vorgriff, ein Erwartungsbegriff, dem in der Wirklichkeit noch keine Erfahrung (...)“ (Koselleck et al. 1992: 149) entspricht. Ähnlich fungiert auch der Gemeinwohlbegriff jetzt als „(...) Absage an jede transpersonale und jede gemeinschaftsorientierte Zielsetzung des Staates (...)“ (Böckenförde 1990: 35). Gerade da die Zukunft offen ist, können sich weder Gemein- noch Einzelwille an eine Gegenwart binden, von der zu erwarten ist, dass sie im nächsten Moment schon eine ganz anders ist. Die Wende zu besseren Zeiten aber fällt ab jetzt in den Machbarkeitsbereich des Menschen. Das Volk nimmt sein politisches Schicksal selbst in die Hand und wird so zum Subjekt seiner selbst (Koselleck et al. 1992: 150). Dass sich der Fokus in eine unbestimmte, allerdings nicht allzu ferne Zukunft verschiebt, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Sièyes selbst punktuell den Blick auf eben dieses demnächst richtet, in dem sich das jetzt Versprochene bereits eingelöst haben wird (Sièyes 1970: 128). Mehr noch: Das Künftige wird selbst reflexiv, wenn Sièyes im Futur II nach der Beurteilung der nahenden Fortschritte durch folgende Generationen fragt
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(Sièyes 1970: 192-193). Die gesamte Schrift Emmanuel Sièyes’ spricht so vom Vertrauen in die baldige Bewältigung der vorherrschenden widrigen Umstände durch und zu Vernunft und Moral, die den selbstbestimmten Zielvorgaben per se innewohnen, eben weil sie selbstbestimmt sind. Die Schrift versteht sich so nicht zuletzt als Appell an den Dritten Stand, den Adel und dessen Privilegien als „ennemi des progrès sociaux“ (Sièyes 1970: 123) endlich zu überwinden und das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Erreicht ist damit schließlich der Zirkel, der das Verständnis des Politischen als Ursprung sozialer Ordnung bis heute prägt: Die Verfassung bringt die politische Gewalt erst hervor, der sie ihre Rechtskraft verdankt; das Volk gibt sich mit der Verfassung selbst die politische Handlungsfähigkeit, die nur in rechtliche Bahnen gelenkt vorstellbar ist. Das Recht greift unter den je eigenen Bedingungen auf das Politische aus und andersherum. Wesentlich eleganter formuliert dies freilich der Verfassungstext selbst, der die Unterscheidung von „pouvoir constituant“ und „pouvoir constitué“ bereits in sich hineingenommen hat.59 Exkurs I: Nation – Bedeutungskontexte einer Begrifflichkeit Während die Untersuchung den Ausgangspunkt ihrer Fragestellung nach der Funktion von Kollektivitätssemantiken im Volksbegriff findet, soll im Folgenden kursorisch auf den Begriff der Nation eingegangen werden. Dabei geht es in erster Linie darum, den durchschlagenden Erfolg und die Plausibilität einer derartigen Semantik im ausgehenden 18. Jahrhundert darzulegen, der sich offensichtlich verschiedenste Kontexte nicht entziehen konnten und darauf mit je eigenen Konnotationen reagierten. Mit Hilfe der von M. Rainer Lepsius getroffenen Typisierung von „Staatsbürgernation“, „Volksnation“ und „Kulturnation“ versucht die Untersuchung im Folgenden die je spezifischen Ausgangsbedingungen in Frankreich, den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland zu demonstrieren (Lepsius 1990c).60 Das unterscheidende Moment liegt dabei in den jeweiligen Konstitutionsbedingungen –
59 Dass dem Begriff des demokratischen Verfassungsstaats kein normativer Anspruch innewohnt, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Staaten per se auf die konstituierte Form ihrer selbst angewiesen sind (Grimm 2004: 146). Oder andersherum formuliert: „Politische Herrschaft kraft göttlicher Einsetzung, unvordenklicher Tradition oder überlegener Einsicht ist heute nicht mehr anerkennungsfähig. Als einzige Legitimationsquelle gilt vielmehr weithin die Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen“ (Grimm 1991: 425-426). Auch wenn Zweifel an der Funktion von Verfassungen über einen rein symbolischen Gehalt hinaus bestehen mögen, wie Neves exemplarisch an ausgesuchten südamerikanischen Staaten ausgeführt hat (Neves 1994), so lassen sich daran doch zumindest Abweichungen beobachten (Grimm 1994a: 24). 60 Dass diese Unterscheidung keine rein ästhetische ist, bringt Lepsius darin zum Ausdruck, dass die Ausgangsklassifikation Folgen für Institutionalisierung und Interessen der Mitglieder einer jeweiligen Nation zeitigt (Lepsius 1990c: 235). Das ist nachvollziehbar, führt allerdings wieder in sich selbst zurück.
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staatsbürgerliche Gleichheitsrechte und demokratisches Verfahren, gemeinsame ethnische Abstammung sowie kulturelle Einheit (Lepsius 1990c: 235-244). Weist sich die Staatsbürgernation nach Lepsius an der Garantie unumstößlicher Bürgerrechte und der demokratischen Legitimation staatlicher Gewalt aus, lässt sich daran gerade die Erfahrung der Französischen Revolution und der folgenden Verfassungsgebungsprozesse veranschaulichen. Denn diese gewinnen ihre Dynamik und Bedeutung in erster Linie aus der radikalen Gegenüberstellung der bestehenden absolutistischen Institutionen auf der einen und der Souveränität der Nation als der Einheit aller freien und gleichen Bürger auf der anderen Seite. So formuliert etwa Art. 3 der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ vom 26. August 1789: „Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d’autorité, qui n’en émane expressément“. Oder ähnlich im ersten Artikel der Französischen Verfassung vom 3. September 1791: „La souveraineté est une, indivisible, inaliénable et imprescriptible. Elle appartient à la nation; aucune section di peuple, ni aucun individu, ne peut s’en attribuer l’exercise“. Fungiert der Begriff der Staatsbürgernation in den ersten Jahren der Revolution noch als „Integrationsinstrument“ (Koselleck et al. 1992: 323) spitzt er sich in den Jahren des „terreur“ zur Kampfvokabel um die authentische Deutung des authentischen Willens der Gesamtheit zu und findet schließlich in der sich selbst überhöhenden „grande nation“ ihren Abschluss (Fehrenbach 1986: 100-104). Deutet Lepsius die Volksnation primär als ethnisch geprägt, lässt sich der Begriff aus Sicht der Untersuchung insofern für ein Verständnis der amerikanischen Staatsgründung fruchtbar machen, als es in der Auseinandersetzung um die Frage nach bundesstaatlicher Verfassung oder Konföderation gerade um das Problem der Herstellbarkeit eines einheitlichen Volkskörpers ging. Das selbstbewusste „We hold these truths to be self-evident (…)“ der „Declaration of Independence“ vom 4. Juli 1776 oder „We the People of the United States (...)“ der amerikanischen Verfassung vom 17. September 1787 scheinen exakt dies auf den Punkt zu bringen. Man könnte dann in Abwandlung von Lepsius an eine Volksnation qua Staatsbürgernation denken. Davon zumindest sprechen die sog. „Federalist Papers“, die für eine von einem einheitlichen amerikanischen Volk verabschiedete Verfassung plädieren: „Nothing is more certain than the indispensable necessity of government, and it is equally undeniable, that whenever and however it is instituted, the people must cede to it some of their natural rights in order to vest it with requisite powers. It is well worthy of consideration therefore, whether it would conduce more to the interest of the people of America that they should, to all general purposes, be one nation, under one federal government, or that they should divide themselves into separate confederacies, and give to the head of each the same kind of powers which they are advised to place in one national government“ (Federalist Paper No. 2).
Die „Antifederalists“ hingegen, die sich selbst als die eigentlichen Föderalisten verstehen, weisen ein derartiges Ansinnen aufs vehementeste zurück, dient die
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Bildung der „Vereinigten Staaten von Amerika“ doch in deren Augen allein dem Interesse der wenigen, nicht der Freiheit aller: „Compulsive or treacherous measures to establish any government whatever, will always excite jealousy among a free people: better remain single and alone, than blindly adopt whatever a few individuals shall demand, be they ever so wise. I had rather be a free citizen of the small republic of Massachusetts, than an oppressed subject of the great American empire“ (Antifederalist Paper No. 1).61
Originellerweise ist es später Alexis de Tocqueville (1805-1859), der die Vereinigten Staaten in seinem Werk „De la démocratie en Amérique“ als die einzig wirkliche Demokratie der Welt bezeichnen wird. Der entscheidende Unterschied liegt für ihn im Gründungsmoment der USA selbst, der sich im Gegensatz zu seinem Heimatland von allem Anfang als zutiefst demokratisch erweist, eben weil es nicht um die Abwehr absolutistischer Herrschaft ging, sondern um die Gründung eines wirklich freien Gemeinwesens aus dem Prinzip der Volkssouveränität (Tocqueville 1951: 5456). Daran bemisst sich eine ganz andere Qualität politische Autorität, denn „(…) le principe de la souveraineté du peuple n’est point caché ou stérile comme chez certaines nations; il est reconnu par les mœurs, proclamé par les lois; il s’étend avec liberté et attaint sans obstacles ses dernières conséquences“ (Tocqueville 1951: 54). Der kulturell fundierter Nationenbegriff schließlich bestimmt sich aus Lepsius’ Sicht gerade nicht an der Qualität als staatlich fundierte Entscheidungsgemeinschaft, sondern am gemeinsam geteilten kulturellen Hintergrund. Es liegt Nahe, das Selbstverständnis als Kulturnation im durch politische Fragmentierung charakterisierten Deutschen Reich des 18. und 19. Jahrhunderts am Werk zu sehen. Die Errichtung einer Staatsnation muss hier ob der Uneinheitlichkeit der deutschen Siedlungsgebiete nicht nur ganz und gar unerreichbar bleiben. Sie gilt als geradezu unechte Version des nationalen Selbst, eben weil sich der wahre, authentische „Volksgeist“ in der Gemeinsamkeit von Sprache, Literatur, Bildung und den darin zum Ausdruck kommenden sittlichen und moralischen Anschauungen, Überzeugungen und Weltdeutungen äußert. Das Volk „bildet“ sich daran gleichsam selbst zur nationalen Einheit.62 So erteilt Friedrich Schiller (1759-1805) im „Lied von der Glocke“ (1800) 61 Die Federalist bzw. Antifederalist Papers entstehen zwischen 1787 und 1789. Während jene für die Bildung der Vereinigten Staaten von Amerika kraft Verfassung plädieren, votieren diese aufgrund ihrer Befürchtungen vor einem übermächtigen Zentralstaat für eine Konföderation. Man liegt jedoch nicht nur in den Ansichten weit auseinander. Auch der Status der Autoren könnte unterschiedlicher nicht sein. Denn hinter den unter dem Pseudonym „Publius“ in verschiedenen New Yorker Zeitungen veröffentlichten Federalist Papers stehen mit John Jay (1745-1829), Alexander Hamilton (1757-1804) und James Madison (1751-1836) wohlhabende und gebildete Vertreter der amerikanischen Oberschicht, die hochrangige Staatsämter bekleiden. Madison wird später sogar Präsident der Vereinigten Staaten (1809-1817). Die Artikel der Antifederalists hingegen, die ebenfalls unter Verwendung von Pseudonymen erscheinen, sprechen – im wahrsten Sinne des Wortes – eine ganz andere Sprache. Stilistisch und inhaltlich weniger informiert, reichen sie bei weitem nicht an die Wortgewalt und Überzeugungskraft ihrer Gegner heran. 62 Es ist denn auch die deutschsprachige Literatur der Romantik, die eine ungeahnte Faszination für Volkslieder, -dichtung und -überlieferung entwickelt, kommt doch der deutsche „Volksgeist“ gerade hier
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jeglicher politischen Selbstbefreiung à la française eine deutliche Absage. Die einschlägigen Verse sind bekannt: „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, / Da kann sich kein Gebild gestalten, / Wenn sich die Völker selbst befrein, / Da kann die Wohlfarth nicht gedeihn“ (Schiller 1983: 237).63 Die Nation, so Schiller ist vielmehr auf Bildung angewiesen und dem Theater als Ort der Zerstreuung und Erziehung kommt dabei zentrale Bedeutung zu. „Unmöglich kann ich hier den großen Einfluß übergehen, den eine gute stehende Bühne auf den Geist der Nation haben würde. Nationalgeist eines Volks nenne ich die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung seiner Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber eine andere Nation anders meint und empfindet. Nur der Schaubühne ist es möglich, diese Uebereinstimmung in einem hohen Grad zu bewirken, weil sie das ganze Gebieth des menschlichen Wissens durchwandelt, alle Situationen des Lebens erschöpft, und in alle Winkel des Herzens hinunter leuchtet; weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt, und den gebahntesten Weg zum Verstand und zum Herzen hat. (...) mit einem Wort, wenn wir es erlebten eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation“ (Schiller 1962: 99).
Demgegenüber beantwortet Johann Gottfried von Herder die Frage, wann ein Volk eine Nation ist, in den „Briefen zur Beförderung der Humanität“ (1796) mit der Gemeinsamkeit stiftenden Funktion der Sprache. „Diese ist ein göttliches Organ der Belehrung, Strafe und Unterweisung für Jeden, der für sie Sinn und Ohr hat. Das Band der Zunge und des Ohrs knüpft ein Publikum; auf diesem Wege vernehmen wir Gedanken und Rat, wir fassen Entschließungen, und teilen mit einander Belehrung, Leid und Freude. Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sich schütten, seine Seele in ihr ausdrücken lernte, der gehört zum Volk dieser Sprache. (...) Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet; mittelst der Sprache wird sie Ordnung- und Ehrliebend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig“ (Herder 1991: 304, 305; Betonung im Original).
Dass es den Deutschen seinerzeit an einer solchen mangelt, gründet für Herder allerdings weniger in den geografischen als in den ständischen Gegebenheiten. Das darin verloren gegangene gemeinschaftliche Band, so Herder an sein Publikum, kann aber nur mit Hilfe einer gemeinsamen Sprache wieder geknüpft werden. „Ohne eine gemeinschaftliche Landes- und Muttersprache, in der alle Stände als Sprossen Eines Baumes erzogen werden, gibt es kein wahres Verständnis der Gemüter, keine gemeinsame patriotische Bildung, keine innige Mit- und Zusammenempfindung, kein väterländisches Publikum mehr. (...) Wenn die Stimme des Vaterlandes die Stimme Gottes ist, so kann diese zu gemeinschaftlichen, allumfassenden, und aufs tiefste greifenden Zwecken nur in der Sprache des Vaterlandes tönen; sie muß von Jugend auf, durch alle Klassen der Nation, an Herz und Geist erklungen sein; so nur wird durch sie ein zu seinem originärsten Ausdruck. Anführen lassen sich hier beispielsweise die Volksliedsammlungen von Johann Gottfried von Herder (1744-1803), Achim von Arnim (1781-1831) oder Clemens Brentano (1778-1842) ebenso wie die bis heute populäre Verschriftlichung von Märchen und Sagen durch Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859). 63 Auch Immanuel Kant (1724-1804) lehnt übrigens die Revolution als Freiheit konstituierendes Mittel ab. Wenn diese auch das absolutistische System aus der Geschichte fegen mag, so kann mit ihr doch „(...) niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen (...)“ (Kant 1974: 11), weil sie selbst nicht unter der Bedingung der Freiheit entsteht. Diese aber ist nur durch die Selbstaufklärung des Volks im Sinne des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft zu erreichen.
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2 Zur Genese des modernen Volksbegriffs Publikum, verständig und verstanden, hörend und hörbar“ (Herder 1991: 306-307; Betonung im Original).
Auch Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) wendet sich in seinen „Reden an die deutsche Nation“ (1807-1808) bereits an ein ebensolches nationales Publikum, redet er doch „für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg“ (Fichte 2005: 105) unabhängig von allem Trennenden, das vorherrschen mag. Für ihn ist es jedoch nicht die Kraft der Sprache, die eint, und schon gar nicht die politisch eingreifende Gestaltung per Revolution, sondern die Gemeinsamkeit der Bildung. „Der vernunftgemäße Staat läßt sich nicht durch künstliche Vorkehrungen aus jedem vorhandenen Stoffe aufbauen, sondern die Nation muß zu demselben erst gebildet, und heraufgezogen werden. Nur diejenige Nation, welche zuvörderst die Aufgabe der Erziehung zum vollkommnen Menschen, durch die wirkliche Ausübung, gelößt haben wird, wird sodann auch jene des vollkommenen Staats lösen“ (Fichte 2005: 178-179).
Die Deutschen sind in diesem Sinne ein Urvolk, ein Volk im eigentlichen Sinne, denn „(...) was an Geistigkeit, und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sey, und in welcher Sprache es rede, ist unsers Geschlechts, es gehört uns an, und es wird sich zu uns thun“ (Fichte 2005: 195-196). Nicht Sprache ist hier das konstituierende Moment der Nation, sondern die jederzeit unmittelbar mit sich selbst identische Einheit, die sich permanent selbst zu dem bildet, was sie ist. Am Ende dieses sicherlich viel zu kurzen Exkurses zum Nationenbegriff angekommen, sei nochmals daran erinnert, dass es der Arbeit dabei weniger um eine Typisierung zu tun war, als um die Plausibilität einer kollektivierenden Logik, der sich offensichtlich selbst unterschiedlichste historische Konstellationen nicht entziehen konnten. 2.3 Fazit: Das Volk als Handlungssubjekt seiner selbst Mit Hilfe einer auf der Annahme gesellschaftsstruktureller Variation aufruhenden historisch vergleichenden Vorgehensweise, ausgehend vom Entstehungskontext im frühen Mittelalter über die Verwendung in der politischen Philosophie seit der frühen Neuzeit bis hin zum Wendepunkt zur modernen Gesellschaft, deren Begriffsbedeutung bis in die Gegenwart fortwirkt, ging es dem vorangegangenen Kapitel darum, sich dem modernen Volksbegriff als Ergebnis eines voraussetzungsreichen evolutionären Prozesses zu nähern. Im Folgenden soll eine zusammenfassende Einordnung der jeweiligen Verwendungspraxis in die je herrschenden gesellschaftlichen Strukturbedingungen vorgenommen und so herausgearbeitet werden, dass sich das moderne Verständnis von Kollektivität den Bedingungen eines ganz spezifischen Kontexts dankt. Die Zirkularität von Perspektive und Gegenstand, die an dieser Stelle offen zutage tritt, lässt sich nicht verhindern, wohl aber für die eigene Untersuchung durch deren Entfaltung nutzen. So entsteht der Volksbegriff als
2.3 Fazit: Das Volk als Handlungssubjekt seiner selbst
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pluraler Sammelbegriff im Kontext einer an konkreten Personen festgemachten, mittelbaren Herrschaftsordnung des Mittelalters, die einerseits durch die Einbettung in einen religiösen Bedeutungszusammenhang und andererseits durch ein sich als wirr, überschneidend und mitunter konkurrierend erweisendes Beziehungsgeflecht zwischen fixierten Statuspositionen geprägt ist. Der Volksbegriff bezeichnet hier variable, ständisch bestimmte Personengruppen und ist darin nicht näher funktional spezifiziert. In der Vielzahl der Verwendungskontexte – militärisch, ständisch, religiös, quantitativ, herrschaftlich – erweist sich der Begriff aus heutiger Sicht nah am Verständnis einer formlosen Menge oder Masse. Während im Folgenden der frühen Neuzeit die Bedeutung des Volks als pluraler Sinnbegriff nicht fremd bleibt, zeichnet sich mit der Autonomisierung des Politischen gegen die universalen Institutionen und mediatisierten Herrschaftsstrukturen des Mittelalters (Kirche und Reich) eine erste Bedeutungsverschiebung ab. So sehen Niccolò Machiavelli und Jean Bodin in der Kontingenz der Verhältnisse das grundlegende Problem einer zeitgenössischen Gegenwart, die in der chronischen Belastung durch Kurzfristigkeit und Unsicherheit zu Ruhe als Frieden und Konstanz als Langfristigkeit tendiert. Eben darin liegt nun das Ziel aller politischen Gewalt, die invariable Staatsräson, die auf politische Herrschaft im Sinne von eindeutiger Über- und Unterordnung als Mittel angewiesen ist. So formuliert Machiavelli das Kernproblem seiner Schriften als die aus dem Spannungsverhältnis von fortuna und virtù resultierende Unsicherheit von Herrschaft, die sich nur durch erfolgreiche Manipulation desselben bewältigen lässt. Gegen die in der Schicksalsgöttin personifizierte Willkür der Verhältnisse können auch die besten Fähigkeiten des Fürsten auf Dauer nichts ausrichten. Wohl aber lässt sich diese auf Distanz halten, sofern man die ambivalente, da zugleich Kontingenz bewältigende und hervorbringende Natur von Entscheiden und Handeln versteht und so für alle Eventualitäten vorzusorgen imstande ist. Demgegenüber spricht die Bodin’sche Problemformulierung der Rechtsbindung einer per se ungebundenen, da souveränen, d.h. über das Recht disponierenden Gewalt bereits von einer ganz anderen Stabilitätserwartung. Die Staatsräson, als die Möglichkeit der Verwirklichung des je durch persönlichen Status bestimmten Glücks, setzt Ruhe und Frieden voraus und kann dies doch nur durch eine souveräne Gewalt mit exklusiver Gesetzgebungskompetenz absichern, die über den mit transzendenten Argumenten geführten Auseinandersetzungen diverser Mächte – nach wie vor: Papst, Kirche und mediatisierte Herrschaften – steht. Auch dies läuft auf ein sich selbst zügelndes Gleichgewicht von zugleich Kontingenz bewältigender und erzeugender Rechtsetzung hinaus. In einem derartigen frühneuzeitlichen Verständniskontext behält die mittelalterliche Statusordnung insofern an Bedeutung, als sie sich nun als Herrschaftsordnung ausweist. Fürstenhäuser bzw. Dynastien stellen die Machthaber, die sich als Gegenüber des niederen Volks verstehen, das sich ab jetzt aus Untertanen zusammensetzt. Daran macht sich erstmals ein funktionales Verständnis von Herrschaft als dual gefasstes, unmittelbares Beziehungsverhältnis zwischen
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Herrscher und Beherrschten fest. Die Bezeichnung des Volks bestimmt sich dabei insofern negativ, als damit all jene gemeint sind, die nicht herrschen und zu Gehorsam verpflichtet sind. Der Volksbegriff steht also für das durch den Herrscher repräsentierte Untertanenvolk. Der Bruch mit dem frühneuzeitlichen Verständnis politischer Herrschaft erfolgt an der Stelle, an der das Ökonomische und mit ihm die Notwendigkeit individueller Bewegungsfreiheit und grundlegender Rechtssicherheit überhandnehmen. Die Prädisposition einer wie auch immer gearteten Staatsräson muss darin ebenso ihr Ende finden wie die Statusprivilegien einer im Rekurs auf Gott abgestützten Herrschaftsordnung. Damit verschiebt sich der Problemkontext zu einem, der sich mit grundsätzlich freien und gleichen Individuen mit je verschiedenen (ökonomischen) Interessen konfrontiert sieht, auf deren freiwillige Zustimmung sich politische Autorität ab jetzt zurückführen muss. Dieser verdankt sie ebenso ihre Existenz wie sie im Schutz der individuellen Rechte die Grenzen ihrer Gewalt findet. Herrschaft kann sich ab jetzt nicht mehr am Status konkreter Personen orientieren, sondern wird zur Amtsmacht, die in ihren Entscheidungen stellvertretend alle anderen repräsentiert. Nichts anderes formulieren Vertragstheoretiker wie Thomas Hobbes und John Locke, wenn auch in unterschiedlichen Versionen. Der gedankliche Ausgangspunkt ist bei beiden bereits sozial gewendet: Es ist das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Einzelinteressen, die einen ursprünglichen Zustand der Uneinigkeit erzeugen, aus dem die Gesellschaft erst als soziale Ordnung per Vertrag – man beachte: einer im Ökonomischen üblichen Rechtsform – hervorgeht. Während für Hobbes das auf Dauer im Sinne der Selbsterhaltung suboptimale Ergebnisse zeitigende Naturrecht (auf alles) zugleich einzige Überlebensgarantie und Ursprung bzw. Verstärker von Todesangst darstellt, kann die individuelle Vernunft einsehen, wie sinnvoll es für das eigene Überleben ist, auf das ursprüngliche Recht (auf alles) vollständig und irreversibel zu verzichten. Diese Lösung kann Locke so nicht teilen. Für ihn ist es das ursprüngliche, individuelle Verfügungsrecht über eigenes Leben, Freiheit und Eigentum, das aufgrund der steigenden Komplexität des ökonomischen Lebens nicht mehr durch das Individuum allein gesichert werden kann und so auf Rechtssicherheit in einem Eigentum schützenden Staat angewiesen ist. In der Erfüllung dieses Zwecks liegt denn auch die Bestandsgarantie der Gesellschaft, die zu beurteilen allein die Gemeinschaft der Betroffenen für sich beanspruchen kann. Der Volksbegriff bleibt auch hier nach wie vor einem Verständnis der Repräsentation von Unterworfenen verpflichtet. Die Denkbarkeit von Selbstbindung befindet sich zwar bereits in Vorbereitung, ist aber für die naturrechtliche Tradition noch nicht vollständig tragbar. Sie muss Herrschaftsverhältnisse nach wie vor in entgegengesetzten Positionen aufheben. Das ändert sich schließlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts grundlegend. Das Vokabular zur Beschreibung des Politischen wird ein weiteres Mal überarbeitet. Das Volk, bis dahin innerhalb eines auf zwei Seiten reduzierten Bezie-
2.3 Fazit: Das Volk als Handlungssubjekt seiner selbst
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hungsverhältnisses von Herrschern und Beherrschten immer auf der letzteren zu finden, gewinnt nun als Teil eines reflexiven Zirkels, der sich als unmittelbar und depersonalisiert ausweist, fundamentale Bedeutung für die Konstitution des Sozialen. Das markiert den Zeitpunkt, an dem die Unterwerfung unter bindende Entscheidungen nur dann akzeptabel und legitim ist, sofern es die Unterwerfung unter die eigenen Entscheidungen ist. Mit der vollen Ausformulierung der Selbstbindung aber schließt sich der Zirkel. Nichts anderes formulieren Jean-Jacques Rousseau und Emmanuel Sièyes, wenn auch jener als politikphilosophische Abhandlung und dieser als revolutionäre Streitschrift gegen die Unerträglichkeit absolutistischer Herrschaft. Dabei ist es für Rousseau das ursprünglich herrschende Recht des Stärkeren, das in der Verletzung der prinzipiellen Freiheit und Gleichheit des Einzelnen einen fundamentalen Unrechtszustand erzeugt. Individuelle Freiheit lässt sich aus dieser Sicht allerdings nur dann garantieren, wenn jeder Einzelne als Teil des Ganzen selbst über die Bedingungen entscheidet, denen er unterworfen ist. Erst die volle Positivierung der Gesetze erzeugt den Rechtszustand und die Gesellschaft als sittlich-moralische Einheit. Auf die Zirkularität von Herrschen und Beherrschtwerden kommt auch Emmanuel Sièyes, vermag diese aber anders als noch Rousseau bereits in der neuartigen Rechtsform der Verfassung aufzuheben. Diese aber kann sich nur die Nation selbst geben, denn darin wurzelt die Legitimität aller folgenden politischen Entscheidungen. Dass diese im Folgenden nicht zum Störfeuer gegen die selbstgegebene Ordnung werden kann und darf, reguliert sich einerseits dadurch, dass die Verfassung zugleich die Änderbarkeit ihrer selbst in wesentlichen Teilen entzieht und andererseits, dass weitere Gesetzgebung nur in verfassungsrechtlich vorgegebenen Schranken erfolgen kann. Die Bedeutung des Volksbegriffs stellt sich dabei von einem vergangenheitsorientierten, deskriptiv-empirischen auf einen normativ gedeuteten Kollektivsingular um (Koselleck et al. 1992: 149). Oder lapidar ausgedrückt: Der König ist (im wahrsten Sinne des Wortes) tot und bleibt es auch. Ab jetzt regiert Volkeswille, was zur Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative zwingt und diese wiederum darauf einschwört, ihre Entscheidungen „im Namen des Volks“ zu fällen. Damit einher geht die Reduzierung und Konzentration des Volksbegriffs auf den Kontext des Politischen. Während der Begriff zwar auch in anderen Zusammenhängen verständlich bleibt, verbindet sich mit dem Volk ab diesem Zeitpunkt zuerst und zuvorderst die Vorstellung der „Selbstkonstitution einer politischen Handlungseinheit“ (Koselleck et al. 1992: 145). An diesem Prozess der Bedeutungsveränderung lassen sich – nochmals kürzer ausgedrückt – verschiedene Umdeutungs- und Konzentrationsprozesse ausmachen. Von der frühen Neuzeit bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts löst sich das Politische aus dem universalen Zugriff des Religiösen und reduziert sich zugleich auf einen spezifischen Bereich eigener Logik, der schließlich von Fremdreferenz auf Selbstreferenz umstellt (Luhmann 1985a: 11). Was sich an der mittelalterlichen Vorstellung gottgegebener und statusgebundener Herrschaftsverhältnisse bislang als
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Lösung bewährte, erweist sich nun zunehmend als Problem der Willkür. Die Erfordernisse einer sich selbst als unruhig und beweglich begreifenden Gesellschaft, registriert und bearbeitet etwa als individuelle Freiheit und Gleichheit, verlangt nach einer neuen Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit politischer Herrschaft, die individuelle Freiheiten ebenso bewahrt, wie sie effektiv zu binden versteht. Lösung für die Problemstellung ist zunächst die Selbstbindung per Vertrag und später der spezielle Kniff eines selbstrefentiellen Zirkels von Nation und Verfassung. Recht greift auf Politik aus, um sich durch das Volk zu konstituieren, Politik auf Recht, um sich durch das konstitutionelle Gesetz zu legitimieren. Das Ergebnis ist ebenso einfach wie genial und durchschlagend: Haben alle Anteil an der Souveränität, liegt sie letztlich bei niemandem. Entscheiden alle gleichermaßen, gehorcht jeder nur sich selbst. Gewonnen ist damit die Fiktion eines Nullmoments, der zugleich die Offenheit einer ab jetzt als kontingent verstandenen Zukunft ausmacht.
3 Das Volk in Zeiten der Globalisierung
Das vorhergehende Kapitel endete mit dem politischen Volk als Ergebnis eines evolutionären Prozesses, in dessen Verlauf sich das politische Teilsystem ausdifferenziert und am Rekurs auf eine selbsthervorgebrachte Kollektivität, die wiederum die rechtliche Grundlage künftiger politischer Entscheidungen konstituiert, schließt. In den vergangenen Jahren macht sich jedoch in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Medien ein Begriff breit, der ebenso schillernd wie un(an)greifbar scheint und exakt von der Ablösung einer derartigen Ordnungsvorstellung spricht. Gemeint ist der Begriff der „Globalisierung“. Es soll nun im Folgenden weniger darum gehen, in den allgemeinen Chor von Befürwortern oder Gegnern einzustimmen oder darüber zu urteilen, ob Globalisierung eher von ihren Schattenseiten (Stiglitz 2002) oder ihren Chancen (Stiglitz 2006) her zu bestimmen ist. Bereits ein kurzer Blick auf die inzwischen unüberschaubare Menge an Publikationen muss eine vollständige Aufarbeitung des Themas verhindern. Nicht umsonst wird dem Begriff gemeinhin eine gewisse Biegsamkeit bis hin zur Beliebigkeit vorgeworfen, was allerdings mindestens ebenso durchgängig nicht von der weiteren Verwendung desselben abzuhalten scheint. So hat sich die wissenschaftliche Literatur in den vergangenen Jahren darum bemüht, dem „Phänomen“ mit einer unübersichtlichen Vielzahl von Definitionen zu Leibe zu rücken, die diese primär als Grenzüberschreitungs- bzw. Entgrenzungsprozesse wirtschaftlicher (Hirst/Thompson 1996; Cerny 1998; Brock 1998a), sozial-wirtschaftlicher (Zürn 1988; Zürn 2003), politisch-sozialer (Held 1998; Held 1995; Schmalz-Bruns 2005; Perraton et al. 1998) oder kultureller (Robertson 1992; Meyer et al. 1997) Art fassen. Derartige Definitionen haben jedoch zwei Probleme. Erstens geraten die Verständnisse zumeist zu weit: Während sich unter dem Stichwort der Globalisierung offensichtlich nahezu jedes grenzüberschreitende Phänomen subsumieren lässt, bedeutet das im Gegenzug, dass nur wenig ausgeschlossen bleibt. Zweitens gehen derartige Definitionen von einem „containerartigen“ Verständnis von Gesellschaft und Staat aus. Da die Plausibilität der Vorstellung einer „nationally constituted society“ (Robertson 1992: 5) allerdings gerade die eigentliche Fragestellung der Untersuchung konstituiert, soll an dieser Stelle ein anderer Weg eingeschlagen werden. Der Begriff der Globalisierung soll hier als die wissenschaftliche (und darin nicht zuletzt gesellschaftliche) (Selbst-)Verunsicherung eben jenes klassischmodernen Verständnisses der Kongruenz von Nationalstaat und Gesellschaft gedeutet werden, die darin allerdings unweigerlich reproduzieren muss, was sie eigent-
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3 Das Volk in Zeiten der Globalisierung
lich verabschieden will. Zuvorderst scheint dies für einen Volksbegriff zu gelten, dem die aktuelle Selbstbeschreibung einer globalisierten Welt keinerlei Beschreibungsqualität des Sozialen mehr zugesteht. Dieser scheint ebenso zu den „ZombieInstitutionen“ (Beck 1993: 217; Betonung im Original) oder einer „Semantik Alteuropas“ (Luhmann 1999b: 893) zu gehören wie etwa Status, Monarch, Herrschaft oder Privilegien gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund dient der erste Teil des Kapitels zunächst weniger der Scharfstellung auf spezifische Argumentationen als einer „atmosphärischen“ Darstellung der nahezu allgegenwärtigen Metapher. So verbindet sich mit dem Globalisierungsbegriff ebenso die Erfahrung eines epochalen Bruchs und allgemeinen Kontrollverlusts wie die Verunsicherung bestehender gesellschaftsstruktureller Bedingungen und wissenschaftlicher Kategorien zur Beschreibung derselben. Auf welche Art und Weise dies mit der Verabschiedung von der Vorstellung einer mit eigenem Willen ausgestatteten Kollektiveinheit verbunden ist, soll im zweiten Teil des Kapitels veranschaulicht werden.64 Exkurs II: Die Singularität der Weltgesellschaft Bevor das angekündigte Programm zu seiner Entfaltung kommt, soll an dieser Stelle zunächst auf den Begriff der Weltgesellschaft eingegangen werden, der bereits in den 1970er Jahren entsteht und auf soziostrukturelle Veränderungen aufmerksam zu machen versucht, dabei allerdings bei weitem nicht die Durchschlagskraft der heutigen Globalisierungssemantik entwickelt.65 Im Folgenden sollen vier der prominenteren Versionen kurz angerissen werden. Beobachtungsleitend ist dabei der jeweilige Aspekt, auf den hin die Weltgesellschaft ihre Einheit gewinnt. Dies sind: Kommunikation, Interaktion, Massenproduktion bzw. -konsum und nationalstaatliche Institutionalisierung. Schon der Titel des 1971 von Niklas Luhmann verfassten Artikels „Die Weltgesellschaft“ weist auf die behauptete Faktizität und die durch den bestimmten Artikel hervorgehobene Singularität eines einzigen weltweiten Gesellschaftssystems hin. Beides hängt aufs engste zusammen. Denn für Luhmann ist es die Durchsetzung der modernen Gesellschaft (zeitdimensional im Wechsel der Orientierung von Vergangenheit auf Zukunft, sachdimensional in der funktionalen Differenzierung als Primärstruktur des Sozialen, sozialdimensional in der Inklusion von Individuen in Teilsysteme), die einen einzigen weltweiten Erwartungs- und Kommunikations64 Es ist hier darauf hinzuweisen, dass das folgende Kapitel angesichts der schier unüberschaubaren Anzahl von Veröffentlichungen zur Globalisierung weder Vollständigkeit noch entsprechende Würdigung der vorhandenen Ansätze beanspruchen kann. Ebenso wenig ist es ihm darum zu tun, Aussagen über die Validität derselben zu treffen. 65 Einen Überblick zur begrifflichen und theoretischen Entwicklung der Weltgesellschaft bietet Richter 2000.
3 Das Volk in Zeiten der Globalisierung
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horizont herstellt (Luhmann 1971: 8-9, 32; Luhmann 1999a: 148, 149; Luhmann 1999b: 1136-1140). Die moderne Gesellschaft weist sich als Weltgesellschaft aus, eben weil funktionale Differenzierung mit einer segmentären Logik nicht vereinbar ist. Begrifflich ist dabei Welt bzw. Gesellschaft, darauf hat Hartmann Tyrell hingewiesen, weder als geografische Ausdehnungsbezeichnung zu verstehen noch verbindet sich damit der Anspruch weltweiter Integration. Beide fungieren vielmehr als Einheitsbegriffe, an denen deutlich gemacht werden soll, dass die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne nur als singulärer Horizont des Sozialen gedacht werden kann (Luhmann 1971: 32; Tyrell 2005: 36). Treffender hat dies Tyrell so ausgeführt: „Die Gesellschaft ist hier ja immer schon gemeint als (jeweilige) ‚Einheit des Sozialen’. Als ‚umfassendes Sozialsystem’, über das hinaus es kein Soziales mehr gibt, ist sie, auch im Falle von ‚Weltgesellschaft’, jeden Zusatzes unbedürftig. Die Aussage ‚nur noch eine Gesellschaft’ – im Gegensatz zu einer Mehrzahl von Gesellschaften in früheren Zeiten – reicht eigentlich schon aus, um das, was ‚Weltgesellschaft’ meint, auszusagen. Wenn wir es recht verstehen, so ist, was die Begriffsbildung ‚Weltgesellschaft’ angeht, der Weltzusatz nur eine Stützmaßnahme, die der gesellschaftsbezogenen Singularitätsaussage den Rücken stärkt. An der Welt im Kompositum der Weltgesellschaft ist mithin nicht ‚das Weltliche’ wichtig, sondern daß sie eine ist“ (Tyrell 2005: 17; Betonung im Original).
Von einem ganz anderen Bezugspunkt der Einheit der Weltgesellschaft geht Anfang der 1980er Jahre der Soziologe Peter Heintz aus. Jene konstituiert sich als eine neben anderen Interaktionsfeldern (politisch organisierte Gesellschaft, Gemeinde, Familie etc.), weist allerdings eine wesentlich geringere Intensität und Dichte sozialer Beziehungen auf, was wiederum die wissenschaftliche Vernachlässigung derselben erklärt (Heintz 1982: 9, 10). Das lässt sich allerdings nicht mehr länger durchhalten, denn „[W]enn man unter Gesellschaft das Zusammenleben der Menschen versteht, kann man mit Recht von der Existenz einer Weltgesellschaft sprechen. Es dürfte heute kaum mehr isolierte Gruppen von Menschen geben, die tatsächlich außerhalb der Weltgesellschaft leben“ (Heintz 1982: 7). Im Gegensatz zu Niklas Luhmann geht Heintz nicht von differenzierten Funktionssystemen aus, sondern von territorial begrenzten Gesellschaften „als Teile einer und derselben Weltgesellschaft“ (Heintz 1982: 10). Diese ist sozioökonomisch durch ein Entwicklungsschichtungssystem und politisch-militärisch durch ein intergouvernementales System integriert. Beiden eignet eine voneinander mehr oder weniger unabhängige vertikale Struktur, orientiert am jeweiligen Entwicklungsstand einerseits und der Positionierung zur Blockkonfrontation andererseits (Heintz 1982: 32-34, 49-52). Inzwischen – so Heintz – sind es jedoch gerade multinationale Konzerne, die ganz eigene Steuerungskapazitäten entwickeln und darin jene traditionellen Ordnungsstrukturen zunehmend in Frage stellen (Heintz 1982: 62, 64). Mit anderen Worten: Der Verlust weltweiter, gegebener Strukturbedingungen macht die Weltgesellschaft als normatives Ordnungsproblem erst sichtbar. Vergleichshintergrund dessen ist und bleibt für Heintz die Nationalgesellschaft, gegenüber der sich die Weltgesellschaft in erster Linie durch das Fehlen einer globalen Identität, starke sozioökono-
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mische Schichtung, eine Vielzahl politisch-militärischer und sozioökonomischer Machtzentren mit geringem Zusammenhalt, dezentrale Struktur, internalisierte Konfliktstruktur und hohe kulturelle Heterogenität auszeichnet (Heintz 1982: 3339, 75-79). Man sieht: Im Gegensatz zu Luhmann, der die Ko-Evolution von funktional differenzierter Gesellschaftsstruktur und Weltgesellschaft funktional bestimmt, sprechen die Äußerungen Heintz’ nach wie vor von der Erwartung normativer Integration als eigentliches ordnungsschaffendes Moment von Gesellschaft – sei dies nun auf nationalstaatlicher oder globaler Ebene. Einer derartigen Sicht der Dinge würde sich Immanuel Wallerstein wohl kaum anschließen. Für ihn ist es gerade die Ausgangsannahme einer Pluralität nationalstaatlicher Gesellschaften, die Weltgesellschaft zur bloßen Begleiterscheinung macht, der dann keinerlei eigenständige soziale Realität eignen kann (Wallerstein 1985: 83, 84). Im Gegensatz dazu aber liegt für Wallerstein das eigentliche Ergebnis des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in der Emergenz eines einzigen Weltwirtschaftssystems, nicht in der Entstehung nationaler Gesellschaften.66 Es verhält sich letztlich umgekehrt: Das von Europa ausgehende kapitalistische Weltsystem initiiert die weltweite Institutionalisierung von Nationalgesellschaften. „Es ist das moderne Weltsystem, das heißt die kapitalistische Weltwirtschaft, deren politischer Rahmen das aus souveränen Staaten bestehende zwischenstaatliche System ist, das die Gesellschaft ausmacht, in der unsere vertraglichen Verpflichtungen angesiedelt sind. Um ihre Strukturen zu rechtfertigen, hat diese Gesellschaft nicht nur die vielfältigen Gemeinschaften, die in der Geschichte vorkamen (...) zerstört, sondern ein Geflecht von neuen Gemeinschaften geschaffen (und vor allen Dingen die Nationen, das heißt die sogenannten Gesellschaften)“ (Wallerstein 1985: 86).
Vor diesem Hintergrund aber muss die Aussicht auf politische, d.h. nationalstaatliche Steuerung des ökonomischen Weltsystems eher pessimistisch ausfallen. Auf ein ganz ähnliches Resultat scheint auch die Forschungsgruppe von Neoinstitutionalisten um John Meyer zu kommen, wenn sie die Einheit der Weltgesellschaft als Ausdruck und Ergebnis einer einzigen Weltkultur deuten. Dass sich trotz starker regionaler Unterschiede weltweit „(...) surprisingly similar institutions of modernity (...)“ (Meyer 1987: 42) herausgebildet haben, lässt sich aus deren Sicht keinesfalls aus den je spezifischen Gegebenheiten heraus erklären. Ein derartiges Maß an Rationalisierung, Formalisierung und Standardisierung lässt sich nur als Ergebnis einer einzigen Weltkultur (europäischen Ursprungs) deuten, deren disziplinierender Charakter überall und jederzeit strukturell ähnliche Nationalstaaten basierend auf den universellen Prinzipien Territorium, Bevölkerung und exklusives Gewaltmonopol hervorbringt (Meyer 1987: 41-43, 46; Meyer et al. 1997: 144-145, 66 Die Existenz eines Weltmarktes als wesenbestimmende Errungenschaft des bürgerlichen Zeitalters beobachten schon Karl Marx und Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“ (Marx/Engels 1946: 35). Für eine ausführliche Darlegung der Entwicklung und Ausbreitung des kapitalistischen Weltsystems vom Mittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wie sie Wallerstein vertritt, siehe die drei Bände „The Modern World-System“ (Wallerstein 1974, Wallerstein 1980, Wallerstein 1989).
3.1 Die Hauptachsen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung in der Globalisierung
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173; Meyer et al. 2005: 17, 28, 33). Denn „Kultur, wie wir sie verstehen, schließt die institutionellen Modelle der Gesellschaft selbst mit ein. Diese kulturellen Modelle bestimmen den gesellschaftlichen Rahmen, die als legitim geltenden Akteure und die Handlungsmuster, die zur Verfolgung kollektiver Ziele zur Verfügung stehen, und beziehen diese Elemente aufeinander“ (Meyer et al. 2005: 29). Der (universellen) Institutionalisierung in (partikulare) Nationalstaaten entspricht die Staatenlosigkeit der Weltgesellschaft. Die Behauptung einer die Souveränität des Nationalstaats schwächenden Globalisierung muss aus dieser Sicht zwangsläufig an der Wirklichkeit vorbeigehen: Gerade die globalisierenden Tendenzen der Gegenwart lassen sich als erneute Welle der Rationalisierung deuten: „In our view, the growing list of perceived ‘social problems’ in the world indicates not the weakness of worldcultural institutions but their strength“ (Meyer et al. 1997: 175). Zusammenfassend lässt sich am Ende dieses kurzen Exkurses zum Begriff der Weltgesellschaft sagen, dass es dabei weniger um einen Plausibilitätstest ging. Sondern vielmehr darum, dass bereits seit einigen Jahrzehnten in der Soziologie Zweifel an der nationalstaatlichen Steuerungsfähigkeit als einer der sozialen Realität angemessenen Beschreibungskategorie hegen. Auffällig ist und bleibt dabei jedoch, dass auch diese Debatte mitunter nah an einer Unterscheidung bleibt, die auf der einen Seite mit integrationsfähigen und -bedürftigen und darin das Soziale erst konstituierenden Einheiten rechnet, und auf der anderen Seite mit funktionalen Eigenlogiken (politisch, wissenschaftlich, religiös, ökonomisch, pädagogisch etc.), die sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Punkt hin beziehen lassen. 3.1 Die Hauptachsen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung in der Globalisierung 3.1.1 Der epochale Wandel der Globalisierung „Ein Zeitalter endet. Ein Zeitalter beginnt (...)“ (Brock 1998b: 39). Die Charakterisierung der Gegenwart als Zeitenwende drängt sich als der dominante Beschreibungsmodus einer globalisierten Welt geradezu auf. Als allumfassende qualitative Veränderungserfahrung versteht sie sich als Übergangs- bzw. Umbruchsituation zwischen dem „nicht mehr“ einer „untergehenden Epoche“ (Münch 2001: 155) und dem „noch nicht“ einer unbekannten Zukunft. Dabei ist es der Verlust einstiger Sicherheiten einerseits und die chamäleonartige Natur der Veränderungen der Gegenwart, die auf sich selbst zurückzuwirken scheinen und so eine wie auch immer geartete Handhabung derselben per se unterminieren (Münch 2003: 128; Leibfried/Zürn 2006: 41). Die gegenwärtigen Veränderungen spiegeln die Erfahrung eines „tiefgreifenden Wandels der Vergesellschaftung“ (Münch 2001: 291) wider, der erstmals über die konstitutiven Bedingungen der Moderne hinauszurei-
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chen scheint. Sei es nun als Schwelle zu einer neuen Epoche oder als Umbruch innerhalb derselben: Die institutionellen Vorkehrungen der Moderne erweisen sich als zunehmend ungenügend, um den gegenwärtigen Herausforderungen etwas entgegenzusetzen geschweige denn diese zu kontrollieren (Zürn 1988: 30). Globalisierung scheint sich darin zur Schicksalsfrage über diejenigen „Kernelemente der Moderne“ (Willke 2003: 540) zuzuspitzen, die bis vor kurzem noch selbstverständlich galten – zuvorderst die Institution des demokratischen Verfassungsstaats.67 Die beobachteten „Erschütterungen“ (Willke 2003: 551) von Politik und Demokratie in Zeiten der Globalisierung erweisen sich, so die gängige Beschreibung, als ernsthafte Herausforderung souveräner Staatlichkeit. Damit einher geht für einen großen Teil der Beschreibungen ein Gestaltwandel der Politik, die ab jetzt nicht mehr exklusiv auf den Nationalstaat bezogen gedacht werden kann (Hirst/Thompson 1996: 183; McGrew 1998: 380; Streeck 1998b: 184; Münch 2003: 127). Stichworte wie etwa Michael Zürns „Regieren im Zeitalter der Denationalisierung“ (Zürn 1988: 11; im Anschluss an diesen auch Leggewie 2003: 442; Sassen 1998: 347) bringen dies auf plakative Weise zum Ausdruck.68 Debattiert werden parallel dazu die immense Beschleunigung und das globale Ausmaß der Veränderungsprozesse (Held 1995: 20-21; Rosenau 1998: 35; Perraton et al. 1998: 161, 166; Streeck 1998b: 178; Habermas 1998b: 77; Schmalz-Bruns 1999: 186; Jachtenfuchs 2001: 72; Sassen 2003: 1). Ereignisse und Entscheidungen überschreiten, wenn auch ungewollt, zunehmend nationale Grenzen und erzeugen so „potentiell globale Handlungszusammenhänge“ (Zürn 1988: 20). Steigende Abhängigkeiten über globale Distanzen hinweg sprechen so von einer Erfahrung der „Entterritorialisierung“ 67 Es lässt sich beobachten, dass (National-)Staat und Demokratie gegenwärtig nur noch in Begleitung von Begrifflichkeiten wie Krise, Zukunft, Schicksal, Abschied oder Herausforderung sinnvolle und verständliche Versionen ihrer selbst anzubieten scheinen. Dies allerdings in schier unerschöpflichen Kombinationsmöglichkeiten. Diese reichen von der „Zukunft des Nationalstaats“ (Streeck 1998a: 11), der „(...) Zukunft des Projekts der Demokratie unter Bedingungen der Globalisierung (...)“ (SchmalzBruns 2005: 82), dem „fate of democracy“ (Held 1998: 11) über den „Abschied vom Nationalstaat“ (Albrow 1998), dem „(...) Ende der Politik und Abschied vom Staat?“ (Münch 1999: 49), „The end of the nation state“ (Ohmae 1995), „Beyond the nation state“ (Windfuhr 2005), „After the nation state“ (Hossman 1995), „jenseits des Nationalstaates“ (Habermas 1998a: 95; Betonung im Original), den „Herausforderungen der Staatlichkeit des Goldenen Zeitalters“ (Leibfried/Zürn 2006: 34) bis hin zur Abgrenzungsfunktion des Präfix „post“: So etwa beim „Weg zur postnationalen Gesellschaft“ (Habermas 1992b: 603), „postparlamentarische Demokratie“ (Benz 1998; Benz 2001) oder der „postnationalen Gesellschaft“ (Leggewie 2003: 465). 68 Die Bevorzugung des Begriffs der „Denationalisierung“ anstelle von „Globalisierung“ erklärt Zürn mit dessen Unangemessenheit und mangelnder Präzision. Gerade weil die Mehrzahl der grenzüberschreitenden Prozesse keine globalen Ausmaße annehmen und auch nicht überall erkennbar sind, ist der Begriff der Denationalisierung vorzuziehen, insofern dieser die Betonung auf die Entstehung neuer sozialer Räume legt (Zürn 1988: 16, 65-67). Aus Sicht der Arbeit macht dies insofern keinen Unterschied, da es nicht um die Beurteilung der Beschreibungsqualität eines Begriffs in Beziehung zu einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit geht. Da beide Bezeichnungen von Inkongruenz vor dem Hintergrund angenommener Kongruenz ausgehen, werden sie hier funktional äquivalent behandelt.
3.1 Die Hauptachsen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung in der Globalisierung
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(Zürn 1988: 20). Die Bedeutung des Raums für die sozialen Beziehungen nimmt also nicht nur ab, sondern wird gar zum Hindernis in einer Welt, in der räumliche Distanzen zunehmend nivellieren (Zürn 2003: 341). 3.1.2 Der autonome, irreversible Status der Globalisierung Mindestens ebenso dominant wie die Erfahrung eines epochalen Bruchs der Globalisierung ist der Eindruck der innewohnenden Autonomie derselben. Als „form with its own dynamics“ (Robertson 1992: 182) und „multikausales Phänomen“ (Perraton et al. 1998: 167) entzieht sie sich jeglicher Kontrolle und einheitlichen Logik. Dabei ist es vor allen Dingen die Vorherrschaft von mit politischen Mitteln kaum noch zu beeinflussenden wirtschaftlichen Imperativen, die es der nationalen Politik zunehmend erschwert, als Steuerungsmonopol gegenüber einer „entkoppelten weltwirtschaftlichen Dynamik“ (Habermas 1996b: 149) zu fungieren. Der Nationalstaat wird von der entfesselten Globalisierung nahezu „überrollt“ und „entmächtigt“ (Habermas 1996b: 149). Die zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung zwingt die politischen Gemeinschaften dazu, sich auf die Wirklichkeit des Marktes einzustellen, nicht andersherum (Rosenau 1998: 45; Streeck 1998a: 21; Held 1998: 17-18; Scharpf 1998a: 81; Habermas 1998a: 120; Habermas 1998b: 71). „Where states were once masters of markets, now it is the markets which, on many crucial issues, are the masters over the governments of states“ (Strange 1996: 4). Im Gegensatz zum bis vor kurzem noch gültigen nationalökonomischen Verständnis erfährt sich der Nationalstaat zunehmend als austauschbar. War er es, der einst die Bedingungen des Standortwettbewerbs diktierte, sieht er sich inzwischen selbst einem solchen unterworfen und muss sich dem mit der möglichst optimalen Anpassung ökonomischer und rechtlicher Gegebenheiten an die Forderungen ausländischer Investoren und Unternehmen beugen (Brock 1998a: 279; Perraton et al. 1998: 164-165; Streeck 1998b: 180-184; Münch 2001: 186). „Der Staat mag zwar noch über das Monopol legitimer Gewaltsamkeit verfügen, aber er verfügt nicht mehr über das Regelungsmonopol. Statt dessen können nun die Wirtschaftssubjekte die neuen Freiheiten des grenzüberschreitenden Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften nutzen, um den aus einzelwirtschaftlicher Sicht jeweils günstigsten Standort zu wählen, während die Staaten untereinander zum ‚Standortwettbewerb’ und damit zum Wettbewerb der Regulierungssysteme um mobile Produktionsfaktoren und Steuerzahler gezwungen werden“ (Scharpf 1998a: 82).
Die exogene Einengung staatlicher Handlungsspielräume bringt jedoch nicht nur die „akute Gefahr einer Deregulierungsspirale“ (Zürn 1988: 20) mit sich, da sich globale Handels- und Kapitalströme einer multilateralen Regelung zunehmend entziehen. Sie muss auch die Legitimation des demokratischen Regierungssystems untergraben. Die Bürger haben auf einstmals in ihren Entscheidungsbereich fallen-
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de Regelungsgegenstände schlicht keinen Einfluss mehr. So wird die Globalisierung gerade als Verlust demokratischer Entscheidungsfähigkeit, Kontrolle und Transparenz erfahren (Scharpf 1998a: 99; Münch 2001: 203; Leggewie 2003: 441). Ein „Gefühl extremer Machtlosigkeit“ (McGrew 1998: 384) macht sich bei Bürgern und Regierungen gleichermaßen breit. „Sie [die Globalisierung – Anm. d. Verf.] beschneidet die Autonomie der Staaten und zwingt zu drastischen Veränderungen bestehender Politiken; sie untergräbt die Demokratie und damit die Legitimität des politischen Systems; sie verändert die Natur der Souveränität und transformiert letztlich die Grundstrukturen des internationalen Systems: Es gibt kaum eine grundlegende politische Institution der Moderne, von der nicht behauptet würde, daß Globalisierung sie herausfordert, transformiert oder untergräbt“ (Beisheim et al. 1999: 15).
Die Globalisierung schafft Tatsachen und externe Zwänge, denen von nationalstaatlicher Seite scheinbar kaum mehr etwas entgegenzusetzen ist. Die einstige Gestaltungsmacht des Nationalstaats hat sich unter dem Druck der sich globalisierenden wirtschaftlichen Kräfte hin zur Ohnmacht desselben gewandelt. Dies wird durch die offensichtliche Unumkehrbarkeit der gegenwärtigen Prozesse nochmals verstärkt: Es gibt schlicht keinen Weg zurück in eine Welt ohne Globalisierung (Zürn 1988: 11, 28, 342; Habermas 1998b: 71; Leggewie/Münch 2001: 10). Im Gegenteil: ReNationalisierung vermag die gegenwärtigen Probleme nicht nur keinesfalls zu lösen, sondern führt geradewegs in weitere Krisen mit unkalkulierbaren Kosten. Sie gilt in diesem Sinne als rückwärtsgewandt, ja geradezu als Verneinung aller historischen Tatsachen. Eine Beschreibung, die nicht weniger für den Nationalstaat gilt. Dieser steht nicht nur unter strukturellem Anpassungsdruck, sondern untergräbt sich zusehends selbst, sollte er sich als reform- und anpassungsresistent erweisen (Zürn 1988: 22; Brock 1998a: 277; Grimm 2004: 162). 3.1.3 Die soziostrukturelle (Selbst-)Verunsicherung der Globalisierung Mit dem unumkehrbaren Kontrollverlust des Nationalstaats über die globalisierten gesellschaftlichen Bedingungen aber geht zwangsläufig die Erfahrung „struktureller Unsicherheit“ (Leibfried/Zürn 2006: 55; Betonung im Original) einher. Die Gegenwart scheint zunehmend dadurch charakterisiert, dass „(...) Ordnung verlorengeht, Unsicherheit sich ausbreitet und die Suche nach neuen Sicherheiten beginnt“ (Brock 1998b: 49). Eine Destabilisierungserfahrung, die sich noch dadurch verstärkt, dass die dem Nationalstaat zugeschriebenen Steuerungsfähigkeiten nicht einfach verschwinden, um andernorts wieder aufzutauchen. Es ist die „Veränderung von Ordnungsstrukturen“ selbst, die ein „Problem für die praktische Gestaltung von Politik“ (Kohler-Koch 1998: 12) darstellt und also keinerlei Orientierungspotential mehr zu bieten vermag. Globalisierung kennt in diesem Sinne zwar einen Ausgangs- aber keinen Endpunkt (Perraton et al. 1998: 136, 137; Leggewie/Münch
3.1 Die Hauptachsen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung in der Globalisierung
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2001: 9; Zürn 2003: 345). Es findet sich schlicht „(...) no single organizing principle on which global governance rests, no emergent order around which communities and nations are likely to converge. Global governance is the sum of a myriad – literally millions – of control mechanisms driven by different histories, goals, structures and processes“ (Rosenau 1998: 32). Mehr noch: Während die Globalisierung des Ökonomischen als quasi originärer, immanenter Prozess beschrieben wird, scheint die Politik dazu verurteilt, dem immer auf verwirrten und uneinheitlichen Pfaden hinterher zu sein (Brock 1998b: 40). Angesichts der Abwesenheit globaler Steuerungsmechanismen steigt so zwangsläufig der Eindruck, inzwischen mit quasi „’unsichtbaren Mächten’“ (Leggewie 2003: 462) konfrontiert zu sein, denen es kaum etwas entgegenzusetzen gibt. Oder in den Worten Lothar Brocks erweist sich der „(...) globale Strukturwandel als historisch präzedenzlose Komplexitätssteigerung der Wechselwirkung zwischen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklungen (...)“ (Brock 1998a: 288), der dem Glauben an unmittelbare Steuerungseingriffe quasi-utopischen Status verleiht. 3.1.4 Die epistemologische (Selbst-)Verunsicherung der Globalisierung Die Globalisierung erfährt sich jedoch nicht nur als Infragestellung bisher unhinterfragter gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, sondern auch als epistemologische Verunsicherung der „Angemessenheit fundamentaler Erklärungskategorien“ (Kohler-Koch 1998: 12). Darin zeichnet sich ein allgemein festgestellter Erneuerungsbedarf wissenschaftlicher Methoden und Begrifflichkeiten ab, der Ausmaße einer Kuhn’schen „’scientific revolution’“ (Cerny 2003: 51) zu erreichen scheint. „Gerade die empirische Analyse von Entgrenzungsprozessen macht deutlich, daß die theoretische Reflexion die gesellschaftliche Praxis noch nicht eingeholt hat und wir vor der Herausforderung stehen, die zu beobachtenden Prozesse transnationaler und nicht-territorialer Vergesellschaftung und die Diffusität überlappender politischer Räume auf den Begriff zu bringen“ (Kohler-Koch 1998: 25).
Eine globalisierte Welt, so der dominante Eindruck, verweigert sich schlicht den althergebrachten Beschreibungskategorien einer anderen Epoche. Damit scheint auch jegliche verlässliche Prognose von vornherein ausgeschlossen (Perraton et al. 1998: 167). Dabei sind es nach herrschender Meinung die bisherigen Kategorien und Theorien selbst, die der Entwicklung adäquater Beschreibungen im Weg stehen, weil sie die Komplexität des Neuartigen entweder unterschätzen oder sich Fortschritt und Innovation in den Weg stellen (Strange 1995: 72; Münch 1999: 51, 53; Leggewie 2003: 465). Schlimmstenfalls erzeugen sie dadurch neue, kaum zu bewältigende Risiken für Gegenwart und Zukunft (McGrew 1998: 418-419; Münch 2003: 122). So mokiert etwa Susan Strange: „A great deal of political theorising is resistant to notions of change. The state remains the focus of analysis, and its insti-
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tutions and processes are sufficiently unchanged, so that many political scientists (…) are reluctant to admit that, behind the unchanged façade, the reality of state authority is not the same as it once was“ (Strange 1996: 84). Eine Alternativbeschreibung scheint von Nöten und so wenig einig man sich auch darüber ist, wie eine solche aussehen sollte, so sicher ist man sich doch in der Distanzierung von einem „‚methodological nationalism‘“ (Zürn 2003: 358). 3.2 Globalisierung und Demokratie Das Grundproblem, das die Globalisierungssemantik zu bezeichnen scheint, ist die Aufhebung der Kongruenz des gesellschaftlichen und politischen Raums wie sie bislang klassischerweise mit dem Nationalstaat identifiziert wurde. Vor dem Verständnishintergrund von Kongruenz als Effektivität politischer Autorität, läuft die Beobachtung von Inkongruenz, denn nichts anderes besagt Globalisierung, allerdings zwangsläufig auf die Ineffektivität der bisherigen nationalstaatlichen Form des Politischen für eine institutionelle Wiedereinholung gegenwärtiger globaler Gegebenheiten hinaus. Der Verlust dessen muss zugleich das Vertrauen in die Fähigkeit, das eigene politische Schicksal zu gestalten, zutiefst erschüttern.69 Das moderne Verständnis des demokratischen Verfassungsstaats wird sich selbst zum Problem und fungiert darin als das Gegenüber einer Beschreibung, die politische Autorität auf deren Leistungs- und Lösungsfähigkeit gegenwärtiger gesellschaftlicher Problemlagen hin grundlegend hinterfragt. Es melden sich zunehmend Zweifel am „systematischen Zusammenhang“ (Brock 1998a: 271) von Demokratie und Nationalstaat an. Dies soll im Folgenden näher dargelegt werden. 3.2.1 Die Herausforderung des demokratischen Selbstverständnisses der Moderne 3.2.1.1
Von der Handlungseinheit des Volks zur Pluralisierung der Akteure
War es bis vor kurzem noch die Einheit des Volks, die in der Allgemeinheit ihres Willens ihr eigenes Schicksal selbstbestimmt zu gestalten wusste, bringt die Globalisierung – so die herrschende Meinung – eine Pluralisierung von „Akteuren“ mit sich (Münch 2003: 119). Auch supra- und transnationale Organisationen, multinationale Konzerne und private Gruppierungen betreten nun die politische Bühne. Mit diesen aber diffundiert politische Autorität zusehends weg zu anderen Arenen und Formen als der hierarchischen Kontrolle eines nationalstaatlich integrierten Territo69 Das Urteil über die mangelnde Effektivität des Staates scheint bereits an breiter Front gefallen. So etwa bei Zürn 1988: 10-11; Rosenau 1998: 39; McGrew 1998: 377; Held 1998: 22; Streeck 1998b: 170; Kohler-Koch 1998: 11, 13-14; Jachtenfuchs 2001: 72; Leggewie 2003: 462; Leibfried/Zürn 2006: 34, 35.
3.2 Globalisierung und Demokratie
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riums (Robertson 1992: 5, 9; Strange 1995: 56, 67-68; Strange 1996: 82, 86 188; Kohler-Koch 1998: 17). Oder wie Willke es formuliert: „Im Kontext globaler Regimes expandiert die Funktion der Politik in eine Vielzahl von Formen der Willensbildung und Entscheidungsfindung für ‚Kollektive’, die sich aus den unterschiedlichsten Komponenten zu globalen Kommunikationskontexten verdichten (...) und sich dem Zugriff der nationalen Politiken entwinden“ (Willke 2003: 541). Vor diesem Hintergrund aber wird der Gedanke eines einheitlichen Demos’ ebenso zur Fiktion wie das republikanische Demokratiemodell Rousseau’scher Prägung zur Utopie gerät (Münch 2001: 277-278). 3.2.1.2
Von rechtlicher Selbstvermittlung zu dezentralen Verhandlungsnetzwerken
War das Politische bis vor kurzem ausschließlich als Konstitution eines selbstbestimmten Demos’ institutionalisiert denkbar, versteht sich der von der Globalisierung erzwungene Strukturwandel der Politik als Ab- bzw. Auflösungsprozess dieses Vermittlungsverhältnisses. „Die wachsende Heterogenität der Interessen lässt nur noch das Abstecken von Spielräumen der Interessenverwirklichung zu, und zwar auf allen Ebenen der Politik, von der lokalen über die regionale, nationale und europäische bis zur globalen Ebene, und in allen Phasen, von der Programmformulierung über die Programmgestaltung bis zur Implementation und zur Nutzung des Rechtsstreits für die punktuelle Interessenabstimmung“ (Münch 2001: 192).
Die einstmals ausschließlich auf den Nationalstaat konzentrierte politische Autorität diffundiert gleichermaßen von diesem weg in horizontal und vertikal differenzierte Komplexe (Münch 1999: 51; Leggewie 2003: 461). Mit der „(...) Verlagerung politischer Prozesse in problemfeldspezifisch ausdifferenzierte und weiträumig vernetzte Verhandlungssysteme (...)“ (Brock 1998b: 42) in einer „Mehrebenennetzwerkgesellschaft“ (Münch 2001: 179) geht jedoch zwangsläufig auch der Funktionswandel des Politischen einher. Nicht inhaltliche Gesellschaftsgestaltung, sondern formale Konfliktmoderation, nicht Vermittlungsleistung bürgerlicher Teilhabe im nationalen Verbund, sondern Koordinationsleistung zwischen einer Vielzahl von Institutionen, nicht Willensbildung, sondern fortdauernde diskursive Austauschprozesse prägen jetzt die politische Arena (Münch 2001: 166, 192; Schmalz-Bruns 2005: 92). Das Politische gerät so zunehmend unter Wettbewerbslogik (Rosenau 1998: 32). Nicht die als immer schon vorausgesetzt zu denkende Aggregation aller Einzelwillen im Gemeinwillen, sondern der sich per se selbst determinierende Auswahlprozess zwischen konkurrierenden Interessen konstituiert das Verständnis des Politischen in einer globalisierten Welt. Das bedeutet andersherum auch, dass sich soziale Integration nicht mehr an der Einheitlichkeit und Allgemeinheit eines alle Einzelnen transzendierenden Gemeinwohls festzumachen vermag, sondern an der möglichst um-
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fassenden Teilnahme einer Vielfalt von Interessen, die allerdings nicht zwangsläufig in die endgültige Entscheidung eingehen müssen (Münch 1999: 58). Die Rede ist dann nicht mehr von einem Demos, sondern von deren vieler: „Konstitutiv für solche demoi sind nicht gemeinsam geteilte (Wert-)Präferenzen bzw. situativ vorgegebene Interessenlagen, sondern die Verortung in Handlungsfeldern und die aus spezifischen Sachpolitiken entstehende Betroffenheit der Bürger. Gemeinsamkeiten werden über Zurechnung und interaktive Argumentation hergestellt“ (Kohler-Koch 1998: 21). Das Politische in der Globalisierung hat nichts mehr mit den demokratischen Verfahren nationalstaatlicher Prägung gemein. Im Gegensatz dazu ist es die offene, dynamische, flexible, innovative und experimentierfreudige Natur der neuen politischen Formen, die sie für die gegenwärtig turbulenten Zeiten so geeignet machen (Rosenau 1998: 32; Münch 1999: 49). Diese „Derivate oder Quasiformen der Steuerung, der Willensbildung und der Entscheidungsfindung“ (Willke 2003: 546) fluktuieren zwischen Ordnung und Unordnung. Als vorübergehende Mechanismen entstehen sie ebenso schnell wie sie wieder verschwinden (Rosenau 1998: 33-34). Auch die Institution des Rechts muss in diesem Zusammenhang einen Bedeutungswandel hinnehmen. Die Funktion als der Gesellschaft erst gestaltgebender Ausdruck des Gemeinwillens wird von einem Verständnis als Kulminationspunkt der Harmonisierung einer Vielfalt subjektiver Rechtsgarantien abgelöst. Als solches ist es ebenso wenig flächendeckend wie allgemeingültig, sondern ergibt eher ein „heterogenes Konzert rechtlicher Teilordnungen“ (Willke 2003: 546), das mehr und mehr mit Konflikten belastet wird, die einstmals im Parlament, nun aber eher vor Gerichten ausgetragen werden (Münch 1999: 57; Münch 2001: 194, 283). Soweit sich die neuen Formen supra- bzw. transnationalen Regierens zunehmend verselbständigen und die demokratische Beteiligung im Nationalstaat dem nicht zu folgen vermag, büßt diese in gleichem Maße an Legitimität ein (Habermas 1998a: 109-111; Kohler-Koch 1998: 17; Leggewie 2003: 453, 454). Neue Formen müssen gefunden werden, die sich – so die Beschreibung – weniger aus einem voluntaristischen als aus einem verfahrenstechnisch-epistemischen Modus der Entscheidungsfindung speisen (Schmalz-Bruns 1999: 204; Schmalz-Bruns 2005: 90, 95). Deren Legitimität bemisst sich nicht mehr an der Bedingung der Allgemeingültigkeit, sondern daran, ob die für sie sprechenden guten Gründe von allen Betroffenen akzeptiert oder zumindest nicht vernünftigerweise zurückgewiesen werden können (Scharpf 1998b: 236-237; Schmalz-Bruns 1999: 205; Münch 2003: 125). Inhaltliche Offenheit, Revidierbarkeit, thematische bzw. situative Flexibilität, Versachlichung, Transparenz und kontinuierliche Evaluationsmöglichkeit – nur einige Vorteile, aus denen die Verfahrenslösung laut der herrschenden Meinung ihre Legitimität bezieht und als solche den statischen, exklusiven und ideologisch vorbelasteten Auseinandersetzungen in nationalstaatlichen Institutionen vorzuziehen ist (Münch 2001: 178, 201-202, 204; Münch 2003: 123-124, 126; Leggewie 2003: 461). Nicht Konfliktlösung durch Mehrheitsentscheidung, sondern Konfliktabsorption mit Hilfe von prozeduralen
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Endlosschleifen erzeugen nun ihre ganz eigene Legitimität (Scharpf 1998b: 236-237; Schmalz-Bruns 1999: 216; Münch 2001: 176; Münch 2003: 126). Ergebnis ist dann eine Art Fleckenteppich der Legitimität, der sich aus der Steuerungs- und Entscheidungsfähigkeit der in den verschiedenen Sachbereichen tätigen transnationalen und globalen Regimes ergibt (Willke 2003: 550). „Mehr Legitimität“, so Münch, „ist weder möglich noch nötig“ (Münch 2001: 280). Dass damit auch das staatliche Gewaltmonopol, das bislang als eines der zentralen Charakteristika des modernen Staats galt – man denke nur an Webers berühmte Definition – einem Verständniswandel unterliegen muss, scheint naheliegend. Nicht Zwang, sondern die Freiwilligkeit rationaler Willensentscheidung tritt in den Vordergrund. Die Politik ist unter diesen Umständen gezwungen, sich und ihre Mittel umzustellen: Von obligatorisch auf voluntaristisch, von hoheitlichem Zwang, frei zu sein, auf die Bereitstellung eines Systems von Anreizen und Belohnungen, das das Politische zunehmend mit einem Ethos wirtschaftlichen Wettbewerbs durchdringt. 3.2.1.3
Von der selbstbestimmten Gestaltung des Sozialen zur Steuerung funktionaler Sachzwänge
Geht das moderne Selbstverständnis von einem offenen Gestaltungshorizont aus, d.h. davon, dass prinzipiell alles zum Regelungsgegenstand des Gemeinwillens werden kann, sieht sich die globalisierte Gesellschaft – so die herrschende Meinung – zunehmend mit extern gegebenen, unbeeinflussbaren Sachzwängen konfrontiert (Münch 2003: 124). Die „(...) für legitime politische Herrschaft charakteristische funktionale Diffusheit (...)“ (Streeck 1998a: 35), die bis vor kurzem noch zu den konstitutiven Voraussetzungen der Demokratie gehörte, verliert angesichts eines zunehmend globalen Ausmaßes von Problemfeldern an Gültigkeit. Vor diesem Hintergrund verbindet sich aus der Sicht gegenwärtiger Beobachter mit nationalstaatlicher Steuerungskapazität nur mehr das künstliche „’Einheitsdenken’“ (Leggewie 2003: 454) und die „Omnipotenzphantasien“ (Scharpf 1998b: 247) einer längst vergangenen Ära. Demgegenüber ist die Gegenwart durch die Verlagerung in „grenzüberschreitende Politikfelder“ (Leggewie 2003: 449) geprägt. Gerade die auf ein nationales Territorium bezogene allgemeingültige Regelung in Form von Gesetzen erweist sich jedoch in Anbetracht der Zwänge globaler Sachfragen als zunehmend unbrauchbar. Regulierung kann vor diesem Hintergrund nicht mehr flächendeckend erfolgen, sondern macht sich an Problemknotenpunkten fest. Jedes Sachproblem findet so seine je individuelle Ausgestaltung in sektoral spezifischen globalen „Politiknetze[n]“ (Münch 2001: 177). Dabei sind es die Spezifika des Problemfelds selbst, die Parameter, Zuschnitt und Konturen des jeweiligen Regimes und dessen Regelungsdynamik bestimmen. Je nach Sachbereich entstehen so neue, grenzübergreifende soziale Räume auf einer Vielzahl von Ebenen, von
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denen „(...) alles andere als eine neue Deckungsgleichheit von Identitäts-, Problemund politischen Handlungsräumen zu erwarten ist“ (Kohler-Koch 1998: 22). Gleichzeitig verengt sich der Zuständigkeits- und Mitbestimmungsbereich nationaler Politiken (Streeck 1998a: 35-36). Für die Globalisierungsbeschreibung verwirklicht sich daran allerdings ebenso die Flexibilisierung und Dynamisierung politischen Entscheidens wie die (längst überfällige) Orientierung an der Sache selbst. Entscheidungsfindung erfolgt hier nicht mehr anhand ideologischer Konfliktaustragung, sondern in zunehmend professionalisierter Form als kontinuierliche Auseinandersetzung zwischen sachverständiger Expertise und Gegenexpertise (Leggewie 2003: 462). Die Idee eines ausschlaggebenden Demos’ kann sich jedoch gerade angesichts dessen nicht mehr an der Kongruenz von Urhebern und Unterworfenen orientieren, sondern nur mehr an einem im Vorfeld nicht näher bestimmbaren Beziehungsverhältnis von Regelungsinteressenten und Regelungsadressaten, das sich kontinuierlich mit der Dynamik des zu regelnden Sachgegenstands ändert (Leggewie 2003: 463). 3.2.1.4
Vom Gemeinwohl zur Fairness
Ebenso erfährt die Vorstellung der dem Gemeinwillen immanenten Orientierung auf das Gemeinwohl in der Globalisierungsbeschreibung einen Bruch. Auf nationaler Ebene mangelt es aus dieser Sicht zusehends an eben jenen strukturellen Voraussetzungen kultureller Homogenität und nationaler Solidarität, derer es für die Bildung eines „interessenintegrierenden Gemeinwohls“ (Münch 2001: 192; Betonung im Original) bedarf. Die Heterogenität der Einzelinteressen lässt deren Bündelung auf einen einheitlichen Bezugspunkt hin nicht mehr zu (Münch 2001: 178; Münch 2003: 129). „In einem solchen Raum ist für die starke politische Gestaltung der Lebensverhältnisse nach Maßstäben eines konkret bestimmten Allgemeininteresses kein Platz“ (Münch 2003: 119). Zwischen der Diversität der individuellen Interessen lässt sich nicht mehr ohne weiteres mit Hilfe der Gemeinwohlorientierung „diskriminieren“. Das läuft auf eine Umkehrung hinaus: Ausgangspunkt ist nicht mehr die immer schon angenommene positive Integration der Einzelinteressen im Gemeinwillen, sondern die negative Integration auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner hin (Streeck 1998a: 26; Münch 1999: 52; Willke 2003: 547-548). Das bedarf institutioneller Anpassungen: Nicht einheitliche Repräsentation, sondern flexible und situationsspezifische Verfahren der Interessenabstimmung und die Vielfalt von Repräsentationsorganen und -formen, in denen jedes spezifische Interesse die faire Chance hat, im Laufe des Prozesses ein Stück weit zum Zuge zu kommen, bieten eine Lösung (Scharpf 1998b: 237). „Politische Entscheidungsfindung ist in diesem Fall kein Prozess, der das Gemeinwohl sucht (...), sondern ein Prozess des fortlaufenden Durchspielens von Vorschlägen, die eine Reihe von Hürden überspringen
3.2 Globalisierung und Demokratie
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müssen, um am Ende in der Regel mit einer Vielzahl von Korrekturen versehen durchzukommen oder doch zu scheitern“ (Münch 2003: 126). Die Idee des fairen Wettbewerbs individueller Interessen und die Vorstellung von Gerechtigkeit als Fairness setzen andersherum gewisse Mindeststandards voraus. Der Staat, der Funktion der Sozialgestaltung beraubt, wird zum Garant eben dieser Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Interessen in einem wettbewerbsorientierten Verfahren gegeneinander antreten (Münch 2001: 151, 160, 176, 189; Willke 2003: 547). 3.2.2 Vom Gleichheitsideal zur Chancengleichheit Bot sich in einer Zeit, in der die Realität einer ständestaatlich strukturierten Gesellschaftsordnung zu schwinden begann, mit der Vorstellung staatlich abgesicherter Freiheit und Gleichheit des Individuums eine Auffangsemantik an, die bis in die Gegenwart gültig bleiben sollte, vollzieht sich mit der Globalisierungsbeschreibung auch hier ein Verständniswandel. Während der Nationalstaat angesichts von Entgrenzungsprozessen nach außen kaum mehr als Garant sozialer Ausgleichsrechte aufzutreten vermag, ist es die nicht mehr einzuholende Vielfalt der Interessen nach innen, der die Einheitlichkeit eines Volkskörpers geradezu diametral entgegen zu stehen scheint (Münch 2001: 174; Münch 2003: 128). Mehr noch: Die Individuen der gegenwärtigen Gesellschaft sind mit zu vielen sozialen Kontexten zugleich konfrontiert, als dass sie noch eine einzige tragende Identität ausbilden könnten. Für den Einzelnen bedeutet das andersherum den Anspruch, zum optimalen Verwerter der sich ihm bietenden Chancen zu werden (Münch 2001: 157, 199). Eine Umstellung, die der Ineffizienz und Statik nationalstaatlicher Bestandsgarantien von Individualrechten die gesteigerte Effizienz, Flexibilität und Dynamik einer kommunikativen bzw. dialogischen Assoziativform entgegensetzt. Gerade dass der persönliche Status zur Frage von Eigeninitiative und -leistung wird, garantiert die Freiheit des Individuums, insofern dieses aus den „(...) Zwängen der kollektiven Solidarität traditional gegebener segmentärer Einheiten (...)“ (Münch 2001: 155) entlassen wird. Das Individuum bleibt nach diesem Verständnis Autor bzw. Adressat, allerdings nicht mehr von Macht, sondern von (guten) Gründen (Schmalz-Bruns 2005: 95). Rückhalt findet dies einerseits in Mindeststandards, die gleiches Recht und gleiche Chancen auf das Vorbringen eigener Ansprüche und Argumente garantieren (Schmalz-Bruns 2005: 94). Andererseits setzt dies auf der Seite des Einzelnen die Verfügbarkeit entsprechender Mittel – Zeit, Geld, Kontakte – für die kontinuierliche Erarbeitung eines weitverzweigten Netzes je individueller Bindungen voraus. Der Nationalstaat bietet vor diesem Hintergrund nur mehr einen von vielen Integrationshorizonten, der noch dazu eher im Not- als im Normalfall zum Tragen kommt (Münch 1999: 53, 57-58; Münch 2001: 165-166, 193, 197, 274-277).
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3.2.3 Vom Vertrauen in einen gestaltungsoffenen Zukunftshorizont zur vergegenwärtigten Zukunft Mit dem epochalen Wandel der Globalisierung geht schließlich, so die weitgehende Beschreibung, auch der Bruch mit einem Zeitverständnis einher, das die Moderne bis vor kurzem noch pflegte. Wenn Karl Valentin spitzbübisch behauptet, dass früher selbst die Zukunft noch besser war, so wird die Gegenwart daran zum ausdehnungslosen Bezugspunkt eines unaufhaltsamen Prozesses permanenter Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Zukunft. Heute war von gestern aus gesehen besser als es morgen von heute aus ist und es wird morgen noch schlechter sein, wenn heute von gestern ist. Die Globalisierungsbeschreibung hingegen tendiert in der reflexiven Kurztaktung ihrer strukturgebenden Bezugspunkte – etwa: Wissen, Information, Kultur, Risiken – zu einer weiter gesteigerten Vergegenwärtigung der Zukunft. Man entscheidet dann immer noch heute für morgen. Allerdings: Der Horizont dessen verkürzt sich auf lange Sicht ganz erheblich, ja wird geradezu in erneut gesteigerter Weise in die Gegenwart als Bezugspunkt aller Zukunft hineingezogen. Das allerdings verstärkt den Eindruck der Unkalkulierbarkeit des Künftigen um ein Vielfaches. Greift man an dieser Stelle etwa die Metapher der Risikogesellschaft von Ulrich Beck heraus, so sind es hier die durch ein unreflektiertes „business as usual“ unbeabsichtigt produzierten Nebenfolgen und deren Nebenfolgen, die irreversible, unberechenbare und zumeist auch unsichtbare globale Gefährdungslagen produzieren, die im Moment der Entscheidung (oder Nichtentscheidung) weder bekannt noch absehbar sind (Beck 2003: 25, 28-29, 36, 40). Eine „Potenzierung der Risiken“ (Beck 2003: 47), die die Unsicherheit der Zukunft um ein Mehrfaches steigert, eben weil dies immer schon heute entschieden wird. Ähnlich formulieren dies auch Protagonisten einer post-industriellen Informations-, Wissens- oder Netzwerkgesellschaft, die in Wissen bzw. Information den neuen strukturgebenden Bezugspunkt des Sozialen schlechthin sehen (siehe dazu auch Kapitel 4.2). Das macht die Gegenwart zum bestimmenden Bezugspunkt der Zukunft: Man muss letztlich heute schon wissen, was man morgen wissen können will. Eben diese Möglichkeit wird jedoch durch die reflexive Struktur des Wissens permanent untergraben, eben weil Wissen sich selbst permanent überarbeitet und man von heute aus noch nicht wissen kann, wie das je geschieht. 3.3 Globalisierung und Verfassung Die Herausforderung des demokratischen Selbstverständnisses der Moderne, wie es oben dargelegt wurde, lässt nun allerdings vermuten, dass auch die Verfassung als zentrale Institution des modernen Ordnungsverständnisses einem Wandel unter-
3.3 Globalisierung und Verfassung
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liegt. Eine Annahme, die im Folgenden kurz ausgeführt werden soll. Ähnlich wie bereits dargestellt, stößt auch die staatsrechtliche Literatur mit der Beobachtung der Inkongruenz von Gestaltungs- und Wirkungsrahmen auf Diskrepanzen zwischen Volkssouveränität einerseits und dem „Grad rechtlicher Verfaßtheit“ (Preuß 1995: 41; Grimm 2004: 159) andererseits. So erfahren Gegenstände, die bis vor kurzem noch dem exklusiven Kompetenzbereich nationalstaatlicher Regelung zugerechnet wurden, zunehmend Verlagerung auf andere (europäische) Ebenen (Preuß 1995: 41; Grimm 2004: 156; Peters 2005: 41). Damit nicht genug, sind es inzwischen vor allen Dingen nicht-staatliche Akteure, die in den hoheitlichen Bereich des Staats hineinwirken, wenn nicht sogar selbst legislative bzw. judikative Aufgaben übernehmen (Cottier/Hertig 2003: 124; Grimm 2004: 160; Peters 2005: 41). Neben den durch völkerrechtlichen Vertrag gegründeten Institutionen, wie EU oder internationale Organisationen, sind es mittlerweile gerade auch multinationale Unternehmen, NGOs und supranationale Gerichte, die ihren Aktionsradius beständig ausbauen (Cottier/Hertig 2003: 125; Grimm 2004: 160-162). Das aber bringt erhebliche Konsequenzen für den traditionellen legislativen Prozess mit sich. Formal-hierarchische Strukturen nationalstaatlicher Gesetzgebung machen mehr und mehr der Informalität von Verhandlungsergebnissen zwischen je Betroffenen Platz (Grimm 2004: 156-158, 159). Eine Entwicklung, die sich für die Mehrheit der Staatsrechtler als fundamentale Infragestellung des Konstitutionalismus’ erweist, da die Verfassung dadurch in ihrer Kernfunktion als „rechtliche Grundordnung“ (Grimm 1994a: 16) systematisch ausgehebelt wird. Globalisierung versteht sich hier mithin als die Herausforderung der Staatsverfassung in ihrem „umfassenden Legitimierungs- und Regelungsanspruch“ (Grimm 2004: 150). Diese als Prozess der „deconstitutionalization“ (Peters 2005: 40) oder auch der „’legal and de facto denationalisation’“ (Cottier/Hertig 2003: 124) beschriebene Entwicklung, wirft auch in der verfassungsrechtlichen Reflexion wiederum die Frage nach dem systematischen Zusammenhang von Demokratie, Verfassung und Staat auf. Denn, so Dieter Grimm, „[D]as Bedürfnis nach Verrechtlichung entsteht, wo politische Herrschaft ausgeübt wird. (...) Zugespitzt lautet die Frage also, ob die Verfassung als eine ursprünglich auf den Staat bezogene Verrechtlichungsform von diesem abgelöst und auf nicht-staatliche politische Einheiten, die öffentliche Gewalt ausüben, übertragen werden kann“ (Grimm 2004: 164). Auffällig ist: Unabhängig von den je konkreten Ausformulierungen stößt auch hier die Beantwortung eben dieser Frage unwillkürlich auf das Problem der kompensierenden Wiedereinholbarkeit einer aus den (nationalstaatlichen) Fugen geratenen Rechtssetzungspraxis. Es geht dann primär um Denkbarkeit und Legitimität von Konstitutionalisierungsprozessen jenseits des Nationalstaats (Peters 2005: 42). In der rechtswissenschaftlichen wie in der sozialwissenschaftlichen Argumentation ist und bleibt also das Verständnis von Staat und Gesellschaft als kongruente Einheit nach wie vor beobachtungsleitend, wenn auch nun in der Funktion eines
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Negationshintergrunds. Und hier wie dort lassen sich unterschiedliche Ansichten über den Zusammenhang von Demokratie, Verfassung und Staat antreffen. So sehen Staatsrechtler, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Dieter Grimm, Peter Graf Kielmansegg oder Ulrich Preuß, in der Kongruenz von Volk und Verfassung eine strukturelle Bedingung, die sich nicht ohne weiteres auf die Europäische Union und noch weniger auf die internationale Ebene übertragen lässt.70 Denn es fehlt an einem „konstitutionsfähigen Gegenstand“ (Grimm 2004: 166), gerade weil sich hier kein einheitliches Volk antreffen lässt (Kielmansegg 2003: 57). Das bedeutet andersherum: Die Rechtsform der Konstitution lässt sich nur im und am Staat realisieren (Grimm 1994a: 51; Preuß 1995: 43, 44, 46; Kielmansegg 2003: 61).71 Eine Ansicht, von der sich Autoren wie Ingolf Pernice, Armin von Bogdandy, Thomas Cottier und Maya Hertig deutlich distanzieren, wenn sie betonen, dass der Verfassung der exklusive Bezug auf den Staat nicht eingeschrieben ist. In Zeiten faktisch und rechtlich relativierter Staatlichkeit zeigt sich der Verfassungsbegriff „(...) offen für ergänzende, komplementäre, übergreifende Strukturen politischer Integration; als Antwort auf Zwecke, die Staat und Nation überfordern (...)“ (Pernice 2001: 10). Die Verfassungsfähigkeit der EU bzw. der internationalen Arena bestimmt sich dann weniger daran, Zeugnis der Selbstgesetzgebung eines Volks zu sein, sondern daran, bestimmte Regelungsanforderungen tatsächlich und wirksam bewältigen zu können (Pernice 2001: 12-13, 19, 22; Cottier/Hertig 2003: 157).72 Am Staatsrecht lässt sich also Analoges zur obigen Beschreibung des Politischen beobachten: Hier wie dort ist es die Vervielfältigung der Akteure, die Verschiebung in ein polyzentrisches System der Rechtssetzung und -anwendung, die an spezifische Funktionen orientierte Neubestimmung des Staats und die Reduzierung des Integrationshorizonts, die die Steuerungsfähigkeit der Verfassung in Frage stellen (Steinberg 1999: 23). Der Verfassungsbegriff sieht sich infolgedessen dazu gezwungen, Prozesshaftigkeit, Dynamik und Offenheit in sich selbst einzubauen (Preuß 1995: 59-61; Pernice 2001: 14, 21; Cottier/Hertig 2003: 121, 139-142). Das lässt sich allerdings kaum mehr mit der Vorstellung vereinbaren, dass „(..) ein aus den Einzelwillen abstrakter, nivellierter und gleicher Staatsbürger-Individuen gebildeter Gemeinwillen sich machtvoll und homogenisierend über die Vielfalt der Gesellschaft legt“ (Preuß 1995: 63). Das geht auch an der Vorstellung der Entstehung 70 Die Diskussion einer „’constitutionalization’“ (Cottier/Hertig 2003: 126) jenseits des Nationalstaats orientiert sich dabei primär an der Frage der Konstitutionalisierbarkeit der EU und erst in zweiter Linie am Völkerrecht als einer sich im Nukleus befindenden Weltverfassung (Cottier/Hertig 2003: 126). Beides muss jedoch immer voraussetzen und kann dies an der Europäischen Union offensichtlich leichter, dass sie es mit konstitutionsfähigen und -bedürftigen Gegenständen zu tun hat. 71 Davon ausgehend weist sich das „europäische Demokratiedefizit“ (Kielmansegg 2003: 56) aus. 72 Wenig erstaunlich, dass der Vorwurf gegen den „’statist’ approach“ (Cottier/Hertig 2003: 134) vor allen Dingen dahin gehend lautet, dass deren hartnäckiges Beharren auf der Demos-Bedingung eine höchst statische und unrealistische Vorstellung erzeugt, die einer neuen Lösung angesichts multipler Identitäten und Loyalitäten im Wege stehen muss (Cottier/Hertig 2003: 132-138).
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der Verfassung nicht spurlos vorbei. Sie versteht sich nicht mehr als das überraschende Ergebnis eines „‚big bang’“ oder einer „‚creatio ex nihilo’“ (Cottier/Hertig 2003, 140), sondern als prozesshaft niemals abgeschlossenes Projekt. 3.4 Fazit: Die Globalisierung als Verabschiedung von der Selbstkonstitution des Volks An dieser Stelle gilt es, das auf den vorangegangenen Seiten Dargelegte nochmals auf dessen Funktion für die Argumentation der Untersuchung hin zu beleuchten. Bereits zu Beginn des Kapitels wurde darauf hingewiesen, dass dies zunächst als ganz undifferenzierte Spiegelung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Selbstbeschreibung als globalisierte Bedingung geschehen soll. Dabei fällt auf, dass die Globalisierungssemantik ihren spezifischen Charakter der epochalen Neuartigkeit, Autonomie, Irreversibilität und Krisenhaftigkeit exakt aus der Erschütterung jener Kernelemente der Moderne bezieht, die bislang als ganz selbstverständlich und unhinterfragbar galten. Gemeint ist damit im Wesentlichen eben jener Zirkel, nach dem die soziale Ordnung allein im selbstbestimmten Willen einer (nationalen) Kollektivität wurzelt, die darin wiederum ihre je spezifische (Rechts-)Gestalt gewinnt. Eben dies stellt jedoch eine Globalisierungsbeschreibung in Frage, die mit dem demokratischen Selbstverständnis der Moderne zu brechen scheint. Denn war es bislang die mit einem einzigen Willen ausgestattete Volkseinheit, die ihr eigenes politisches Schicksal selbstbestimmt gestaltete, um es auch gegenüber abweichenden Meinungen in einer hierarchischen Struktur durchzusetzen, sieht sich das Politische nun mit einer Vielheit an Akteuren konfrontiert, die sich nicht mehr ohne weiteres auf einen gemeinsamen Bezugspunkt hin integrieren lassen. Damit gerät allerdings auch das Prinzip rechtlicher Selbstvermittlung (Volkeswille ist schließlich Gesetz) unter Druck. Politische Handlungs- und Entscheidungsfähigkeiten verlagern sich nach herrschender Meinung zusehends in informelle Verhandlungsnetzwerke, die, in einer Mehrebenengesellschaft von bürgerlichem Engagement über Protestbewegungen und Parteien bis hin zu nationalstaatlichen Einrichtungen und inter- bzw. transnationalen Institutionen, je Arenen für das Aufeinandertreffen von Interessen, für Aushandlung, Entscheidungsfindung und Revision zur Verfügung stellen. Das setzt das Politische nicht nur zunehmend unter Wettbewerbslogik, sondern verleiht auch dem Recht den Charakter punktueller Teilordnungen und erzeugt darin eine Art Fleckenteppich demokratischer Legitimität. Dieser Verlust der selbstbestimmten Gestaltung des Sozialen scheint wiederum der Vorherrschaft funktionaler Sachzwänge zu entsprechen, die sich dem Staat zunehmend aufdrängen und lediglich punktuell und der jeweiligen Sachlogik entsprechend steuern lassen. Darin aber lässt sich nicht mehr ein übergreifendes Gemeinwohl realisieren, sondern lediglich Fairness und Chancengleichheit garantieren, wenn es
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3.4 Fazit: Die Globalisierung als Verabschiedung von der Seng
um die Teilhabe an Entscheidungsprozessen, nicht aber deren Ausgang, geht. Dieses Verunsicherungspotential der Globalisierungsbeschreibung realisiert sich nicht zuletzt auch in zeitlicher Hinsicht: Markierte die Selbstbeschreibung als nationalstaatliche Gesellschaft noch das Vertrauen in einen gestaltungsoffenen Zukunftshorizont, ist es die Erfahrung der Undurchsichtigkeit desselben, die Unsicherheiten nun erheblich steigert und zunehmend in die Gegenwart zieht, die sich daran wiederum erst als problematisch und ergänzungsbedürftig konstituiert. Mit der fundamentalen Infragestellung demokratischer Grundbedingungen muss allerdings auch die Verfassung in ihrer Bedeutung als normative Grundordnung unter Druck geraten. Die Demosbedingung wird entsprechend als je notwendige oder suspendierbare Kondition interpretiert, um Antwort auf die Frage nach der Konstitutionsfähigkeit von Gebilden wie der EU oder der Weltgemeinschaft zu geben. Sichtbar wird an dem Dargelegten eine Beschreibung, die sich zunächst und zuvorderst als Zeitenwende stilisiert: Es ist die Neuheit der gegenwärtigen Vergesellschaftungsform, die sich schlicht mit dem veralteten institutionellen Gefüge der Moderne nicht mehr bewältigen lässt, eben weil sie deutlich über dessen territoriale Grenzen hinausgeht und die Trägheit bürokratisch-wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in der enormen Beschleunigung durch moderne Kommunikationstechnologien und Transportmittel klar überfordern muss. Daran knüpft sich unmittelbar die Erfahrung immanenter Autonomie und Unumkehrbarkeit der neuen Gegebenheiten, die unweigerlich dem Optimismus aktiver Gestaltbarkeit, wie ihn eine gesellschaftliche Beschreibungspraxis der vergangenen 200 Jahre pflegte, den Boden angesichts einer ebenso übermächtigen wie multikausalen Dynamik entziehen muss. Die Gegenwart ist beherrscht von Fremdlogiken und Sachzwängen nicht von Gemeinwille und Selbstbestimmung. Angesprochen sind damit in erster Linie die ökonomischen Eigengesetzlichkeiten, die sich dem Nationalstaat als klassischem Akteur der Moderne aufdrängen und nicht nur dessen Bedeutung zusehends eindampfen, sondern diesen geradezu zum Spielball fremder Mächte werden lässt. Das kulminiert im Eindruck einer tiefgreifenden soziostrukturellen Verunsicherung bis hin zum vollständigen Ordnungsverlust, der seine besondere Schwere nicht nur aus der Infragestellung einstiger Gestaltungsmächtigkeit bezieht, sondern gerade auch daran, dass sich die verlorengegangenen Kontrollmechanismen nicht schlicht an anderer Stelle wiederauffinden lassen. Das schlägt sich nicht zuletzt auch am Misstrauen eingelebter wissenschaftlicher Beschreibungskategorien und Methoden nieder. Der „methodologische Nationalismus“ der Moderne lässt sich nicht mehr auf die gesellschaftlichen Bedingungen der Globalisierung übertragen, bedarf also selbst noch der Überarbeitung. So verhallt der Ruf nach neuen Sicherheiten wissenschaftlichen Wissens, um Notwendiges zu erkennen und Mögliches zu formen, in der Unzulänglichkeit und Widerspenstigkeit einstiger Begrifflichkeiten und Formalia. Interessiert man sich nun weniger für die Frage nach der Tatsächlichkeit oder Realität, sondern für die Performanz des Beschriebenen, so wird daran letztlich die
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Rekursivität einer Beschreibungspraxis sichtbar, die an der Infragestellung eigener (Denk-)Voraussetzungen die Krisenbeschreibung ihrer selbst gewinnt und daran doch nur das bereits Verabschiedete – das klassische Modernisierungsdenken – reproduziert. Die Plausibilität der Globalisierung erklärt sich aus Sicht der Untersuchung also aus dem grundlegenden Verständnis der Ko-Fundierung von Gesellschaft und Staat, das angesichts nun weltweiter Ausmaße sozialer Beziehungen ebenso Zweifel an der Gestaltungs- und Steuerungsfähigkeit nationalstaatlicher Politik hegen muss wie sich darin die Abkehr von an Völkern oder Nationen orientierten Kollektivitätsbegriffen als einer nicht mehr länger validen Beschreibungsformel des Sozialen ergibt. Damit aber ist im Kern nichts weniger als das Selbstverständnis der Moderne der vergangenen zwei Jahrhunderte in Zweifel gezogen. Auf Ähnliches scheinen seit den 1970er Jahren auch schon Beschreibungen zu stoßen, die unter dem Begriff der Weltgesellschaft (Niklas Luhmann, Peter Heintz), des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems (Immanuel Wallerstein) oder der Weltkultur (John Meyer) laufen. Während auch hier politisch-integrative Denkvoraussetzungen in der Mehrheit scheinen, die an klassisch-moderne Kategorien anschließen, ist es erst der Begriff der Globalisierung, der seit den 1990er Jahren auf enorme Plausibilität stößt. Und es lässt sich bereits an dieser Stelle andeuten, dass Identitäts- und Institutionalisierungsfragen auch im Zeitalter der Globalisierung erstaunlich traditionell-modern (die Widersprüchlichkeit des Ausdrucks ist ebenso beabsichtigt wie wörtlich zu nehmen) gestellt und beantwortet werden. Das aber gilt es erst im abschließenden Kapitel der Arbeit näher darzulegen. Im folgenden Hauptteil der Untersuchung soll es nun vielmehr darum gehen, eine zwangsläufig begrenzte Auswahl verschiedener gesellschaftstheoretischer Perspektiven unter dem Gesichtspunkt der Plausibilität und Performanz von Kollektivitätssemantiken in der Moderne darzulegen und zu vergleichen. Dass sich deren Perspektive, im Unterschied zu den Schriften der politischen Philosophie wie sie im zweiten Kapitel zu Wort kamen, nicht mehr an Herrschaft und Staat, sondern an Gesellschaft als einem öffentlichen Raum festmachen, ist Ausdruck und Ergebnis zugleich des hier beschriebenen evolutionären Prozesses.
4 Die Perspektive von Materialismus und historischer Schule
4.1 Von Status zu Eigentum: Zur politischen Brisanz der sozialen Frage im Zeitalter der Industrialisierung Zwischen den beiden vorangegangenen Kapiteln hat die Untersuchung einen gut 200-jährigen Zeit- und Gedankensprung vollzogen, der nun im Hauptteil der Arbeit mit verschiedenen, je aktuellen (um nicht zu sagen: modischen) gesellschaftstheoretischen Ansätzen gefüllt werden soll. Kehrt man also zu den Anfängen des 19. Jahrhunderts zurück, fällt auf, dass dieses von einem tiefgreifenden Wandel der alteuropäischen Adels- und Agrargesellschaften geprägt ist. Wie tiefgreifend und umfassend die Veränderungen – politisch die endgültige Ablösung des „Ancien régime“ und wirtschaftlich die Wandlung zu industriell geprägten Nationalökonomien – dieses Jahrhunderts sind, lässt sich kaum unterschätzen: An dessen Ende werden die westlichen Gesellschaften an der Schwelle zum verfassungsrechtlich legitimierten, bürokratisch organisierten und ökonomisch freien Wohlfahrtsstaat stehen, der das 20. Jahrhundert so nachhaltig prägen wird. Doch das ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch „Zukunftsmusik“. Von den an- und abebbenden Wellen der Nationalstaatsbildung und der Industrialisierung erfasst, erleben die Gesellschaften eine beispiellose Umwälzung ihrer alltäglichen Lebens- und ökonomischen Produktionsbedingungen. Eisen und Stahl ermöglichen neue Techniken und Bauweisen, die Mechanisierung der Güterproduktion hält Einzug, die Eisenbahn verkürzt die Zeit für den Transport von Menschen und Waren um ein enormes Maß, mit der Dampfmaschine kehrt eine wesentlich effektivere Form der Energiegewinnung in Industrie und Verkehrswesen ein, der zunehmend weltweite Handel eröffnet ebenso neue Absatzmärkte wie er zur schrittweisen Liberalisierung der nationalen Wirtschaftspolitiken führt, das (europäische) Banken- und Finanzwesen gewinnt zentrale Bedeutung, wenn es um das Aufkommen von Investitionen und die Verselbständigung des Kapitalmarkts geht, die Bevölkerungsexplosion macht aus Städten Agglomerationen neuen Ausmaßes und der wissenschaftliche Fortschrittsglaube bringt bahnbrechende Entwicklungen hervor. Es ist das „Jahrhundert der Erfindungen“, an dessen Anfang die Entwicklung der Lokomotive (1803/1814), des Elektromotors (1834) und der Fotografie (1837) steht, in deren Mitte das erste Unterseekabel von Dover nach Calais verlegt wird (1851), Alfred Nobel das Dyna-
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mit entdeckt (1867), das von Alexander Bell entwickelte Telefon seinen Siegeszug beginnt (1876) und das mit Thomas Edisons Erfindung der Glühbirne (1879), dem Dieselmotor von Alfred Diesel (1897) und der Entdeckung des Radiums durch Marie Curie (1898) endet – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Von all dem ist man allerdings zu Beginn des Jahrhunderts noch weit entfernt. Dominant ist und bleibt zunächst die Erfahrung schwerwiegender politischer Spannungsverhältnisse. Die napoleonische Herrschaft hat die politische Landkarte Europas nachhaltig verändert und die Restauration das Ihrige dazu beigetragen. Kontinentaleuropa findet sich nach den ersten revolutionären Umbrüchen wieder im festen Griff der Monarchie – mag diese ab jetzt auch konstitutionell verfasst sein. Die bürgerliche Revolution vermochte nicht zu halten, was sie versprochen hatte, denn es konsolidiert sich schon wieder, was eigentlich endgültig beseitigt werden sollte.73 Die kommenden Jahrzehnte pendeln so zwischen Verändern und Verharren, zwischen Revolution und Restauration, zwischen monarchischer Vorherrschaft und Volkssouveränität. Sie finden ihren Höhepunkt in einem letzten großen Aufbegehren der Massen in Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich-Ungarn und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten im Jahr 1848, dem allerdings nur bedingt Erfolg beschieden ist. Neben den andauernden politischen Unruhen entwickelt sich jedoch mit dem ersten Industrialisierungsschub eine neuartige Kraft, die die europäischen Gesellschaften zwar zeitlich und graduell versetzt erfasst, diese allerdings ebenso nachhaltig verändern wird wie die politischen Umwälzungen. Mit einem Schlag wischen die nun industriellen Produktions- und Konsumbedingungen die bis vor kurzem noch ständisch gebundenen ökonomischen Beziehungen aus dem Leben der Menschen. Die nun gewährte Gewerbefreiheit erweist sich als eine der grundlegenden Bedin73 Wenn sich auch Fürst von Metternich (1773-1859) als einem der Protagonisten der Restauration eher der Eindruck vermittelt, eine Epoche und ihre Institutionen zu Grabe zu tragen. In seinen persönlichen Niederschriften vermerkt er am 1. Oktober 1820: „Die bisherige Gesellschaft ist in ihrem Niedergang begriffen. Nichts steht still, weder in der moralischen noch in der physischen Welt, und die Gesellschaft hatte ihren Zenith erreicht. Unter diesen Umständen heißt vorwärtsschreiten, hinabschreiten. Auch das Uebel gelangt zu seinem höchsten Punkt und steigt dann herab. Solche Perioden erscheinen dem Zeitgenossen sehr lang, was sind aber zwei bis drei Jahrhunderte in den Jahrbüchern der Geschichte?“ (Metternich-Winneburg 1881: 347). Und fünf Tage später schreibt er: „Mein Leben ist in eine abscheuliche Periode gefallen. Ich bin entweder zu früh oder zu spät auf die Welt gekommen; jetzt fühle ich mich zu nichts gut. Früher hätte ich die Zeit genossen, später hätte ich dazu gedient wieder aufzubauen; heute bringe ich mein Leben zu, die morschen Gebäude zu stützen. Ich hätte im Jahre 1900 geboren werden und das 20. Jahrhundert vor mir haben sollen“ (Metternich-Winneburg 1881: 348). Eine Klage, die sich erst vor dem Hintergrund einer auf Fortschritt eingestellten Zeit versteht. Gerade da die Zukunft jetzt als gestaltbarer Horizont erscheint, ist der Niedergang des Einstigen eine für Zeitgenossen so unbefriedigende Zeitspanne, weil das Vergangene nicht mehr, das Künftige aber noch nicht wirkt. Dem Zeitgenossen Metternichs – und ebenfalls Staatsmann – Charles-Maurice Talleyrand-Périgord (1754-1838) muss übrigens ob seiner Gegenwart eine ähnlich melancholische Stimmung befallen haben, wenn dieser – so von Karl Jaspers in seinem Buch zur „Geistigen Situation der Zeit“ indirekt zitiert – feststellt, dass nur die vor 1789 Geborenen die eigentliche Süße des Lebens gekannt haben (Jaspers 1947: 12).
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gungen für das freie Spiel unternehmerischer Kräfte, die einerseits die Existenzgrundlage vieler sichert, andererseits aber auch gerade den von der Landwirtschaft abhängigen Bevölkerungsteilen das traditionelle Einkommen entzieht. Weitgreifende sozialstrukturelle Verschiebungen gehen damit einher. Eine Phase der Landflucht setzt ein, die das Gesicht der Städte mit den zu den neuen Industrieanlagen gehörenden Arbeitervierteln dauerhaft verändern wird (Mommsen 1969: 42, 44). Der traditionellen Versorgungsinstitutionen von Familie, Sippe und Dorfgemeinschaft beraubt, sehen sich die Industriestädte des 19. Jahrhunderts mit einem Heer von Arbeitern konfrontiert, die im Fall von Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit oder Tod des Versorgers in tiefste soziale Not stürzen. Massenverelendung, Krankheiten und Seuchen, katastrophale hygienische Zustände und Wohnbedingungen prägen die Lebensbedingungen einer aus unrentabler Landwirtschaft und Handwerk entlassenen Arbeiterschaft. Es ist die Geburtsstunde des „Proletariats“, jener zahlenmäßig überlegenen Masse, die jedoch von den Lebensbedingungen und Idealen eines Bürgertums ausgeschlossen bleibt, das sich im Kontext der Konstitutionalisierungsprozesse politisch etabliert, ökonomisch festigt und die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft mehr und mehr prägt (so Lepsius 1987). Ob der Unerträglichkeit der ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen aber wird der Ruf nach Abhilfe im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts immer lauter. Maschinenstürmerei, Proteste gegen die Gewerbefreiheit und die Forderung, zur alten Ordnung zurückzukehren, verhallen jedoch alsbald angesichts des durchschlagenden Erfolgs einer ganz neuen Weltanschauung. Denn Sozialismus und Kommunismus bieten erstmals eine Interpretation der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich explizit der Perspektive einer Mehrheit von Benachteiligten schuldet. Sie aber sehen im revolutionären Aufbegehren der arbeitenden Massen gegen die vom Besitzbürgertum oktroyierte Wirtschafts- und Herrschaftsordnung das einzig adäquate Mittel zur Durchsetzung einer neuen, klassenlosen Gesellschaft. Das aber ändert die politische und ökonomische Lage der jungen nationalstaatlichen Gesellschaften radikal, denn Unzufriedenheiten manifestieren sich nun nicht mehr nur in vereinzelten Protestaktionen. Die ideologische Rückendeckung rückt die Möglichkeit einer flächendeckenden Mobilisierung der Massen in greifbare Nähe. Das ist den Vertretern kommunistischen Gedankenguts, vorneweg Karl Marx und Friedrich Engels, ein halbes Jahrhundert nach der Französische Revolution ebenso willkommen wie die „’bürgerlichen’ Sozialtheoretiker“ (Riedel 1963: 52) des Historismus wie etwa Lorenz von Stein (1815-1890), Leopold von Ranke (1795-1886), Robert von Mohl (1799-1875), Heinrich von Treitschke (18341896) oder Wilhelm H. Riehl (1823-1897) darin einen fundamentalen Angriff auf Ruhe und Konstanz der gesellschaftlichen Bedingungen sehen. So unterschiedlich die Vorstellungen auf beiden Seiten auch ausfallen mögen, gemeinsam ist ihnen doch der Problembezug, dass die soziale Frage als eine der dringlichsten Gegebenheiten nicht mehr länger verdrängt werden kann, sondern als politische Herausfor-
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derung institutionellen Wandels aufgegriffen werden will (Pankoke 1977: 119). Um dies zu zeigen, konzentriert sich die Untersuchung im Folgenden, stellvertretend für ähnliche Perspektiven, auf die gesellschaftstheoretischen Ansichten von Karl Marx und Friedrich Engels einerseits sowie Lorenz von Stein andererseits. Dabei fällt zunächst eine erstaunliche Parallelität auf. Denn Marx, Engels und Stein deuten die grundlegende Erfahrung kontinuierter Ungleichheitsverhältnisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz ähnlich, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven. Gemeinsam ist ihnen die Interpretation der bürgerlichen Revolution Frankreichs als eines historisch notwendigen, wenn auch letztlich ungenügenden Schritts. Unzureichend, da die bürgerliche Gesellschaft die in der Statusdifferenz der feudalen Gesellschaftsordnung liegende Ungleichheit lediglich in eine ebensolche sozioökonomischer Klassenstrukturen überführte (Blasius 1977: 4). Für Marx und Engels weist sich die Französische Revolution dabei lediglich als bürgerliche, nicht aber genuin soziale Revolution aus, die zwar die feudalen Statusunterschiede überwinden mag, diese jedoch lediglich durch neue, nämlich soziale, Ungleichheiten ersetzt (Marx 1981c: 354, 361, 368-369). Der bürgerliche Staat kann daher in der materialistischen Sicht der Dinge immer nur der „vorletzte[n] Schritt der Geschichte“ (Dahrendorf 2006: 60) sein. Im Gegensatz dazu ist es für Lorenz von Stein die aus der Einseitigkeit der Behebung politischer Unfreiheit folgende Gewalttätigkeit derselben, die Revolutionen im Allgemeinen und die Französische im Besonderen zu einer ebenso illegitimen wie uneffektiven Gestaltungsstrategie gesellschaftlicher Verhältnisse macht. Denn gerade die ökonomische Dimension der Freiheit muss hier außen vor bleiben (Blasius 1977: 29-30). Oder pointierter formuliert: Geht die bürgerliche Revolution Marx und Engels bei weitem nicht weit genug, überspannt sie für Lorenz von Steins in ihrer gewalttätigen Einseitigkeit entschieden den Bogen des Erträglichen. Aus beiden Perspektiven stellt sich die Niederlage der Französischen Revolution jedoch nicht unbedingt als weniger zweckmäßig dar, als es womöglich ihr Gelingen gewesen wäre. Sie erweist sich als vorläufiges Experiment der Geschichte, das zwar noch nicht die gewünschten Ergebnisse gezeitigt hat, sich jedoch als nicht weniger relevant für die gesellschaftstheoretische Interpretation einer Epoche erweist. Denn soweit und sofern sich das Soziale selbst bedingt, muss es sich auch das Misslingen seiner Ereignisse selbst zurechnen, kann aber gerade daraus wiederum Hinweise auf sich selbst beziehen.74 Mit anderen Worten: Die Ereignisse in Frank74 Das Misslingen einer Revolution versteht sich dann zumindest im materialistischen Verständnis gerade nicht als Widerspruch zur eigenen Theorie, sondern als deren Beleg. Denn die „(...) vorgefundenen Lebensbedingungen der verschiedenen Generationen entscheiden (...), ob die periodisch in der Geschichte wiederkehrende revolutionäre Erschütterung stark genug sein wird oder nicht, die Basis alles Bestehenden umzuwerfen, und wenn diese materiellen Elemente einer totalen Umwälzung, nämlich einerseits der vorhandnen Produktivkräfte, andrerseits die Bildung einer revolutionären Masse (...) nicht vorhanden sind, so ist es ganz gleichgültig für die praktische Entwicklung, ob die Idee dieser Umwälzung schon hundertmal ausgesprochen ist (...)“ (Marx/Engels 1978: 38-39; Betonung im Original). Man ist
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reich können nur dann als sinnvoll (in einer nicht rein willkürlichen Welt) gedeutet werden, wenn man sie als nicht hinreichend in notwendig zu erfüllenden Bedingungen versteht. Das setzt voraus, dass menschliches Handeln tatsächlich einen Unterschied macht, was wiederum auf soziale Strukturen schließen lässt, die als Gesamtheit dem unmittelbar handelnden Zugriff des Menschen entzogen, aber doch in Teilen (und zwar zeitlich bestimmt) revidierbar sind. Fehlschläge erweisen sich dann lediglich als Episoden auf dem langen Weg des Fortschritts, auf dem man sich mit der Unvollständigkeit zwischen gestern und morgen herumschlagen muss.75 4.1.1 Eine neue Wissenschaft: Wissen der Praxis Beschäftigt die Frage nach der Möglichkeit, Wissen zu wissen, bereits von dessen Beginn an, erreicht sie im Zuge der Rückrechnung des Sozialen auf sich selbst neue und aktuelle Brisanz. Wenn es nun nicht mehr „weltfremde“ Kräfte sind, die das menschliche Geschick und dessen Verständnis bestimmen, so muss die gesellschaftliche Gegenwart als Ergebnis eines vom Menschen gemachten und diesen zugleich übergreifenden Geschichtsverlaufs gedeutet werden (Blasius 1977: 12). Das gewinnt insofern doppelte Bedeutung, als sich daran einerseits die Gesellschaft (im Unterschied zum Staat) als ganz neuer Untersuchungsgegenstand konstituiert und sich daran andererseits die neue Disziplin einer Gesellschaftswissenschaft herauskristallisiert. Pointierter hat dies Manfred Riedel so formuliert: „Die ‚Gesellschaft’ bildete für den Historismus mehr als ein soziales und politisches Problem: sie betraf sein Geschichtsbild im ganzen, die sittlich-politische Kontinuität der Gegenwart mit der geschichtlichen Vergangenheit. Zwischen der traditionellen Staatsidee der ‚politischen’ Geschichtsschreibung und dem nach 1850 mehr und mehr in den Vordergrund tretenden Gesellschaftsbegriff war eine Vermittlung unmöglich geworden. Dem ‚Staat’ und der noch einmal aufgenommenen Lehre von der Politik stand die ‚Gesellschaft’ einer neuen Wissenschaft gegenüber, die als ‚Soziologie’ den gleichen Anspruch wie dieses erhob: eine umfassende Theorie des gesellschaftlichen Daseins der Menschen zu sein“ (Riedel 1963: 50).
Wissen gewinnt daran, gerade in seiner wissenschaftlichen Form, ganz neue gesellschaftliche Relevanz. Erkenntnis- und Praxisinteresse gehen einen bis dato undenkbaren, sich gegenseitig bedingenden Zusammenhang ein, der bis in die Gegenwart der Gesellschaftstheorie fortwirkt (Blasius 1977: 9-10; Pankoke 1977: 88). Damit einher geht allerdings ein weiterer neuartiger Aspekt von Wissen: dessen latente also vielleicht intellektuell gesehen schon weit genug, das revolutionäre Gedankengut zu formulieren, die materiellen Umstände sind es jedoch noch nicht, die Revolution auch wirklich zu vollziehen. Es genügt eben nicht „(...), daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen“ (Marx 1981d: 386). 75 Eine ausführliche Abhandlung zum Bedeutungswandel des Begriffs „Fortschritt“ von der Antike bis in die Moderne bietet der gleichnamige Artikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen (Koselleck/Meier 1975: 351-423).
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Ideologiehaftigkeit. Ideen und Theorien sind nicht nur Stoff der Geschichte, sie machen sie auch (Böckenförde 1972: 515; Pankoke 1977: 88, 96).76 Wissen beansprucht in diesem Sinne nicht mehr nur die Beschreibungs-, sondern gerade auch die Beurteilungsfähigkeit einer Historie, die immer auch anders ausfallen könnte. Die Bevorzugung der eigenen Position als die der Wahrheit und Wirklichkeit näheren schwingt darin immer schon mit. Nationalismus, Sozialismus, Konservativismus – das Suffix kennzeichnet die Vorstellungen immer schon auf ihre immanente Relativierbarkeit auf einen anderen Standpunkt hin. Oder anders formuliert: Wissen sichert sich selbst seine Aussagekraft zu, muss sich ab jetzt allerdings fortwährend die Frage nach der eigenen Perspektive gefallen lassen. War es also bis dato (stark vereinfacht ausgedrückt) die Vorstellung einer transzendenten Ordnung, in die man kraft Erkenntnis richtige oder falsche Einblicke zu gewinnen vermochte, wird dies von einem Verständnis abgelöst, das von einer durch Ursache-WirkungBeziehungen strukturierten Wirklichkeit ausgeht, deren allgemeine Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlich fassbar sind. Gegenwärtiges muss als Wirkung vorangegangener Ursachen gedeutet werden. Kurz: Es bedarf eines geschichtlich ausgewiesenen Erklärungsmodells (Blasius 1977: 7). Was die Angelegenheit allerdings so sensibel macht, ist, dass Fehlschlüsse mitunter schwerwiegende Konsequenzen für das Handeln in der Gegenwart und dessen Ergebnisse in der Zukunft zeitigen können.77 Was hier in aller Kürze bereits vorweggenommen ist, gewinnt bei Marx und Engels in Auseinandersetzung mit dem als metaphysisch bezeichneten Denken Hegels Form und Ausdruck. Ausgangspunkt ist zunächst die Klärung der Bedingungen wissenschaftlicher, d.h. objektiver Beobachtung. „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorge76 So bezeichnen etwa Karl Marx und Friedrich Engels das ursprünglich 1848 erschienene „Kommunistische Manifest“ im Vorwort der Ausgabe von 1872 als „(...) geschichtliches Dokument, an dem zu ändern wir uns nicht mehr das Recht zuschreiben“ (Marx/Engels 1946: 26). Engels wiederholt diese Ansicht in einer der späteren Auflagen mit der Begründung, dass „(...) die Geschichte des Manifestes bis zu einem gewissen Grade die Geschichte der modernen Arbeiterbewegung seit 1848 wider[spiegelt]“ (Marx/Engels 1946: 31). 77 Oder in den mahnenden Worten Lorenz von Steins: „Wer die Augen verschließen will, den wird die Bewegung erfassen und vernichten; das einzige Mittel, ihrer Herr zu bleiben, ist die klare, ruhige Erkenntnis der wirkenden Kräfte und des Weges, auf den die höhere Natur der Dinge die Bewegung lenkt. Und die Aufgabe dieses unsres Werkes soll die bleiben, jene Kräfte und jenen Weg allen, die es wissen mögen, deutlich in ihrer inneren Notwendigkeit darzulegen“ (Stein 1959a: 112). Darin kommt die Vorstellung zum Ausdruck, dass allein das Unabhängige, weil Allgemeine, sinnvolle und deutbare Gestaltungskraft in der Geschichte entwickeln kann. Ähnlich drückt dies übrigens auch Fichte aus: „Was seine Selbstständigkeit verloren hat, hat zugleich verloren das Vermögen einzugreifen in den Zeitfluß, und den Inhalt desselben frei zu bestimmen; es wird ihm, wenn es in diesem Zustande verharret, seine Zeit, und es selber mit dieser seiner Zeit, abgewickelt durch die fremde Gewalt, die über sein Schiksal gebietet; es hat von nun gar keine eigne Zeit mehr, sondern zählt seine Jahre nach den Begebenheiten und Abschnitten fremder Völkerschaften und Reiche“ (Fichte 2005: 104).
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fundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar“ (Marx/Engels 1978: 20).
Diese wirklichen Bedingungen gilt es nun in das richtige, d.h. „notwendige Verhältnis zwischen zwei Dingen“ (Marx 1962: 560) zu bringen. Dazu aber vermag Hegel, so der Vorwurf, ob seiner Denkvoraussetzungen gar nicht erst zu kommen. Denn in dessen Denken stehen die Fakten nicht für die ihnen eigene, materielle, sondern für eine ganz andere, ideelle Wirklichkeit. Der Zweck der Idee manifestiert sich jedoch im Selbstzweck der Logik, die im Denken von Marx und Engels wiederum keine von den materiellen Umständen unabhängige Wirklichkeit im Sinne einer Ursache beanspruchen kann (Marx 1981b: 206-208). Als Ausdruck einer inneren, nicht aber äußeren, Notwendigkeit ist die Idee als Form per se inhaltslos und in ihrem Inhalt formlos. Gerade weil also Hegel „Inhalt und Form, Ansichsein und Fürsichsein“ (Marx 1981b: 264; Betonung im Original) von allem Anfang an trennt, bleiben Unterscheidbarkeit, d.h. zeitliche Variation, und damit wissenschaftliches Beschreiben letztlich auf der Strecke. Das gedanklich Gegebene muss ganz zwangsläufig auf beiden Seiten der Unterscheidung wieder auftauchen: Es ist dann Ursache und Wirkung zugleich, taucht ebenso im (beobachtenden) Subjekt wie im (beobachteten) Objekt auf und ist vorher, was es nachher ist. Oder anders formuliert: Absolutes Wissen gerät tautologisch und Tautologien taugen nun einmal nicht zur Beschreibung der sozialen Welt. Die wirklichen Phänomene aber sind und bleiben dann zwangsläufig ganz „unbegriffene“ (Marx 1981b: 211). Ähnlich sieht das auch Lorenz von Stein: Auch er distanziert sich zunächst von jenen Auffassungen, „(...) die uns außerhalb der wahren Geschichte stehen lassen“ (Stein 1959c: 122). Gemeint sind damit aus seiner Sicht all diejenigen Geschichtsanalysen, die die paradigmatische Natur der Ereignisse in Frankreich, von vernachlässigbaren Spezifika abgesehen, nicht als Ausdruck allgemeiner Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu deuten verstehen.78 Wissen kann man auch in diesem Verständniszusammenhang nur das kausal Unabhängige, d.h. Allgemeine (Stein 1956: 14; Stein 1959a: 12, 13).79 Das setzt voraus, dass Ereignisse weder auf einen 78 Oder wie Stein wörtlich sagt: „Die neuere Zeit aber ist durch gewaltige Ereignisse belehrt worden, daß jene Erscheinungen auf einer, die ganze Existenz der Völker, ja sogar die jedes einzelnen durchdringenden Kraft beruhen; daß sie in einem inneren, notwendigen Zusammenhange stehen, und daß die menschliche Erkenntnis, mit ihnen sich beschäftigend, bei einer von jenen Entdeckungen angelangt ist, die uns gleichsam hinter der bisher bekannten Welt und ihrer Ordnung einen anderen noch großartigeren Organismus von Kräften und Elementen erkennen lassen, und für die man im Anfange von jeher nur Zweifel und ein gewisses Staunen, aber weder einen Namen noch ein Gesetz zu haben pflegt. Unsere Zeit zeichnet sich durch solche Entdeckungen der elementaren Grundkräfte auf allen Gebieten aus (...)“ (Stein 1959a: 11). Eine interessante Feststellung – besagt sie doch nichts anderes als, dass man erst verstehen können muss, dass man verstehen können muss. 79 Eben das verbirgt sich in Steins Denken nicht hinter komplizierten Denkgebäuden, sondern findet Ausdruck in den einfachsten Sätzen, die dem Inhalt nach von „allen Verständigen gleich erfaßbar“ (Stein 1956: 17) sind. Das spielt jetzt insofern eine Rolle, da die Menschen die Gesetzmäßigkeiten der sozialen
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„Zufall äußerer Gewalten“ (Stein 1956: 37) noch auf die „Willkür einzelner Menschen“ (Stein 1956: 37) zurückgehen, sondern sich als Ausdruck eines wahren, d.h. unabhängigen Verhältnisses von Ursache und Wirkung deuten lassen. Alles andere läuft auf Wissen als bloß „logische Übung“ (Stein 1971: 22) hinaus. Beide Ansätze, das wird deutlich, gehen von einem verstehbaren, da eben nicht willkürlichen historischen Prozess aus.80 Die eigentliche Krux liegt dann allerdings nicht nur darin, jene unsichtbar im Hintergrund ablaufenden eigentlichen Bewegungsgesetze der Geschichte als solche zu erfassen, sondern gerade auch in der Perspektive, von der aus das möglich sein kann. Beides läuft auf die Operation des Vergleichs hinaus. Wie aber lässt sich das Allgemeine im Besonderen identifizieren und wie verwandelt sich das Besondere dem Allgemeinen an? Der Problemzusammenhang impliziert mithin bereits die Lösung: Während Einzelereignissen in diesem Verständniszusammenhang keinerlei sinnkonstituierende Bedeutung zukommen kann, gewinnen sie diese andersherum erst kraft einer tieferliegenden allgemeinen Logik, auf die hin sie in ihrer Partikularität vergleichbar werden – der Geschichte. Soweit diese ihre Gestalt zwar lediglich in und an Einzelereignissen findet, muss sie doch zugleich mehr als die Summe derselben sein, eben weil sie diesen Sinn verleiht. In ihrer vollen Tragweite deuten lassen sich historische Ereignisse also erst durch Einordnung in die allgemeine Bewegung der Geschichte. Um im materialistischen und im Stein’schen Sinne wissenschaftlich beschreiben zu können, braucht man also beides zugleich: allgemeine Gesetzmäßigkeiten und empirische Fakten. Der Vergleichsgesichtspunkt, auf den hin das geschieht, bestimmt sich grundsätzlich am Gegenstand selbst, denn nur so ist Objektivität garantiert. Oder kürzer: Materialismus und Historismus gewinnen die wissenschaftliche Aussagekraft ihrer selbst an ihrem Gegenstand als beobachterunabhängigem Objekt.81 Als je gegenwärtige Beobachtung des je herrschenden Beziehungsverhältnisses zwischen Vergangenheit und Zukunft ist zugleich garantiert, dass sich die wissenschaftliche Perspektive am Gegenstand als unabhängigem Objekt dynamisch mit der Geschichte mitbewegt. Dabei ist es aus materialistischer Sicht wiederum das Hegel’sche Denken, an dem sich dies als Differenzbeschreibung manifestiert. Dessen Aussagekraft ist dann gerade deswegen eingeschränkt, da „(...) für Hegel, alles was geschehen ist und noch Welt verstehen können müssen, um darin die gestaltende Rolle zu spielen, die ihnen zukommt. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch, wie noch zu zeigen sein wird. 80 Chronologie als Ausdruck immanenter Vorsehung ist nach diesem Verständnis ebenso uninteressant wie metahistorische Totalentwürfe, eben weil sich daraus die innere Bewegung der Geschichte nicht rekonstruieren lässt (Marx/Engels 1978: 27; Stein 1959a: 33; Koselleck1989: 92; Blasius 1977: 8; Pankoke 1977: 91). Sinnvolles Wissen kann sich dann nur derjenige aneignen, der sich dem komplexen und langwierigen Studium der historischen Verhältnisse widmet, nicht der kontemplative Denker. 81 Nochmals anders formuliert: Man beginnt zu beobachten, dass man sich selbst beobachtet, der Gegenstand also in der Beobachtung wieder auftaucht. Durchbrochen wird das Paradox mit Hilfe der Unterscheidung von Subjekt und Objekt als einem (beobachter-)unabhängigen Bedingungsverhältnis. Eine Vorgehensweise, die bis heute das (Selbst-)Verständnis wissenschaftlichen Wissens konstituiert.
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geschieht, genau das [ist – Anm. d. Verf.], was in seinem eigenen Denken vor sich geht“ (Marx 1959, 129). Theorien, Ideen und Vorstellungen kommen allerdings im Denken von Marx und Engels keine von den jeweils herrschenden materiellen Bedingungen unabhängige Existenz zu. Eine derartige Perspektive muss zwangsläufig partikular, d.h. willkürlich geraten (Marx 1959, 126-127; Marx 1962: 509).82 Partikulare Voraussetzungen aber enden in ebenso partikularen Ergebnissen – also eigentlich gar keinen. Ein Problem, das die materialistische Perspektive schon deswegen nicht haben kann, da sie in der immanenten Unmittelbarkeit der materiellen Bedingungen die Allgemeinheit ihres Objekts findet. Denn „(...) die Natur ist der unmittelbare Gegenstand der Wissenschaft vom Menschen“ (Marx 1962: 604; Betonung im Original). Das Objekt ist also nichts weniger als der Mensch selbst. Der Beobachter aber kann diesen immer nur aus dem je herrschenden materiellen und geistigen Verhältnis heraus erfassen, dessen Teil er selbst unweigerlich ist (Marx 1962: 604). „Natur“ steht in diesem Verständniszusammenhang für eine historisch bedingte (d.h. letztlich soziale) Korrelation – von Bewusstsein und Bedürfnis, von Praxis- und Erkenntnisinteresse. Der Mensch ist sich in der Wissenschaft selbst Ausgangs- und Endpunkt, Beobachter und Beobachtung – der unhintergehbare Vergleichsgesichtspunkt aller wissenschaftlicher Beobachtung. Wie dieses Verhältnis sich je gestaltet, lässt sich nur empirisch feststellen. Damit ist für Marx allerdings auch klar: „Die Sinnlichkeit (...) muß die Basis aller Wissenschaft sein. Nur, wenn sie von ihr, in der doppelten Gestalt sowohl des sinnlichen Bewußtseins als des sinnlichen Bedürfnisses, ausgeht – also nur wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht –, ist sie wirkliche Wissenschaft“ (Marx 1962: 604; Betonung im Original). Das erweist sich als letztlich unhintergehbarer blinder Fleck der materialistischen Beobachtung: In der Objektivität der materiellen Bedingungen garantiert sich die Wirklichkeit den Wirklichkeitsstatus ihrer selbst, eben weil diese nicht ideologisch korrumpierbar sind und die wissenschaftliche Beobachtung ganz zwangsläufig Teil dieser ist. Damit ist allerdings auch klar, dass die Wissenschaft erst in der kommunistischen Gesellschaft zur eigentlichen Allgemeinheit ihrer Aussagen kommen kann.83 Auch Lorenz von Stein kommt auf das Problem der Standortbezogenheit einer „beobachtenden Wissenschaft“ (Stein 1971: 45) zu sprechen, deren Aufgabe es ist, allgemeine Aussagen über die Wirklichkeit zu formulieren. In die Kritik geraten 82 Als fortgeschrittenere, da eben an den wirklichen Bedingungen orientierte wissenschaftliche Perspektive kann der Materialismus die Hegel’sche Gedankenwelt als bereits veraltete Ideologie der herrschenden materiellen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft enttarnen. Deren Aussagekraft ist damit – bis auf wenige noch auszumerzende Überreste – eigentlich schon gebrochen (Marx/Engels 1978: 18-19, 40). 83 Das nimmt sich einerseits originell aus, da der Materialismus für sich bereits in Anspruch nimmt, was eigentlich erst in der Zukunft erreicht werden kann. Andererseits auch wieder nicht, spricht es doch von der Hoffnung, die Diskrepanz zwischen materiellen und ideologischen Bedingungen endgültig und für alle gleichermaßen zu überwinden. Das scheint dann nicht zuletzt der Auftrag an Erziehung zu sein, den Marx und Engels in ihren Schriften wahrnehmen: Aus einer uneinheitlichen Masse von Arbeitern als ökonomischer Größe die Einheit des Proletariats als einer politischen Größe zu machen.
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dabei zunächst all jene Auffassungen, die die Kontingenz ihres eigenen Beobachtungsstandpunkts nicht reflektieren wollen, oder besser: können. Sie müssen sich notwendigerweise als objektive Tatsache selbst voraussetzen und gewinnen gerade darin keinen Einblick in die Gesetzmäßigkeiten der realen Welt, so wie sie wirklich ist (Stein 1956: 11, 12; Stein 1974a: 11-12). Für Stein hingegen lässt sich die Frage nach dem adäquaten Standpunkt wissenschaftlichen Beobachtens nur damit beantworten, dass „(...) jede Beobachtung (...) von ihrem besonderen Standpunkte aus wenigstens den Versuch mache, das eigentümliche Wesen desselben [des Gegenstands – Anm. d. Verf.] in seinem rechten Kerne zu erfassen“ (Stein 1971: 19). Dieser Gegenstand aber ist nichts weniger als die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, steht für Stein doch fest, dass letztlich „(...) gar kein Zustand ohne die Gesellschaft denkbar, noch auch ohne die Erkenntniß der gesellschaftlichen Gesetze ganz verständlich“ (Stein 1956: 104; Betonung im Original) ist.84 Die Suche nach eben diesen Gesetzmäßigkeiten als Ausdruck der „Notwendigkeit in der Freiheit“ (Stein 1959a: 46) konstituiert dann erst die Gesellschaft als eigenständiges Gebilde und die Gesellschaftswissenschaft als autonome Disziplin. Wie schon für Marx und Engels liegt also auch für Stein der Schlüssel zu einer aussagekräftigen wissenschaftlichen Perspektive in der (Allgemeinheit der) Sache selbst, die beobachtet wird. Auch für ihn ist es das Verhältnis zwischen den je herrschenden Produktions- und Eigentumsverhältnissen in der Gesellschaft und den politischen Bedingungen im Staat, das als universaler Vergleichsgesichtspunkt je spezifische Ausformungen des Sozialen sicht- und deutbar macht (Stein 1956: 23, 104; Stein 1959a: 12; Stein 1971: 21). Am Begriff der Gesellschaft manifestieren sich dann allerdings auch die Grenzen gesellschaftswissenschaftlicher Betrachtung, gehört dieser für Stein doch „(...) nicht bloß darum zu den schwierigsten in der ganzen Staatswissenschaft, weil sein Umfang ein so allgemeiner ist, daß man nur schwer dazu gelangt, ihm überhaupt einen selbständigen Inhalt zu geben, sondern auch vorzüglich deshalb, weil jeder gewohnt worden ist, mit jenem Ausdruck eine mehr oder weniger klare Vorstellung zu verbinden, die vollkommen willkürlich wird, da es bisher kaum einen Anlaß gab, sich über ihren Inhalt recht klar bewußt zu werden“ (Stein 1959a: 12).85
Der Auftrag an die Gesellschaftswissenschaft erweist sich als wahre Sisyphosaufgabe: Dass sie es mit einem in seiner Komplexität nicht in Gänze erfassbaren Gegenstand zu tun bekommt, kennzeichnet nicht nur die Entstehungszeit der Disziplin, die es zwangsläufig zunächst mit einer unübersichtlichen Vielzahl von Einzelbeo84 Oder nochmals ausführlicher: „Die Gesellschaftsordnung ist offenbar zunächst ein ebenso absolut Allgemeines und an und für sich Nothwendiges für die Menschen, als das Güterleben mit seinen Verhältnissen und der Staat mit seinen Ordnungen. Es ist dieselbe, weil sie nur der geordnete Ausdruck eines absolut im Menschen liegenden Momentes ist, eine unter allen Verhältnissen der Menschheit gegenwärtige, in ihr thätige, sie bestimmende, von ihr bestimmte“ (Stein 1956: 35; Betonung im Original). 85 Eine Erfahrung, die bis heute disziplinbezeichnend ist. So etwa Armin Nassehi: „Beim Gegenstand der Gesellschaft fällt die Selektivität aber insofern besonders auf, als sich der Gegenstand einer Eindeutigkeit suggerierenden Beschreibung geradezu entzieht“ (Nassehi 2006: 311; Betonung im Original).
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bachtungen, nicht mit einem systematischen Ganzen zu tun haben muss (Stein 1956: 14, 103-104). Als „(...) beständige Schöpfung der Welt des geistigen Erkennens“ (Stein 1974b, 19), die sich kontinuierlich mit und an ihrem Gegenstand wandelt, kann sie niemals abgeschlossen sein.86 Dies aber konstituiert den eigentlichen Charakterzug der Gesellschaftswissenschaft, der „(...) ewig den Mangel der vollständigen Erledigung unsrer Aufgabe bilden wird (...)“ (Stein 1971: 33). 4.1.2 Die Politisierung gesellschaftlicher Interessenlagen und die Radikalisierung politischer Gleichheitsansprüche 4.1.2.1
Die revolutionäre Wiedereinholung ungleicher materieller Bedingungen
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx 1961a: 226). Eine paradox anmutende Äußerung, thematisiert sie doch das Dilemma, an dem sich der Wesenszug moderner gesellschaftlicher Selbstbeschreibung seit Rousseaus berühmten Diktum konstituiert: Wie ist zu rechtfertigen, dass der Einzelne Bedingungen unterworfen ist, die er nicht selbst bestimmt (hat)? Und die einhellige Antwort darauf lautet – gar nicht. Marx und Engels reformulieren dieses Problem und dessen Lösung allerdings am gegenseitigen Bedingungsverhältnis von ökonomischem Grundprinzip, Herrschaftsstruktur und Bewusstsein. Ausgangspunkt ist dabei die Natur des Menschen als Gattungswesen, das in der „freie[n] bewußte[n] Tätigkeit“ (Marx 1962: 567) seinen Ausdruck findet. Der Begriff der Natur ist also von allem Anfang an ein sozial bestimmter. Der Einzelne entspricht seiner Natur, weil er arbeitet; er arbeitet, weil es seiner Natur entspricht. An der Arbeit gewinnt das Individuum die Qualität als Mensch im Unterschied zum Tier, das sich von seinem Tun nicht zu unterscheiden weiß und also kein bewusstes Verhältnis zu sich selbst gewinnen kann (Marx/Engels 1978: 30-31; Lange 1995: 173). „Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. Er hat bewußte Lebenstätigkeit. Es ist nicht eine Bestimmtheit, mit der er unmittelbar zusammenfließt. (...) Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen. Oder er ist nur ein bewußtes Wesen, d.h. sein eigenes Leben ist ihm Gegenstand, eben weil er ein Gattungswesen ist. Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit“ (Marx 1962: 567).
Am Begriff der Arbeit konstituiert sich im materialistischen Denken das Bestimmungsverhältnis des Menschen zu sich selbst als Bestimmungsverhältnis zu seiner 86 Was wiederum garantiert, dass Wissenschaft mit der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung Schritt hält und veraltete Denkmodelle als ideologisch verstellte sichtbar werden.
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bearbeitbaren Umwelt. Oder anders ausgedrückt: Arbeit markiert die Verlegung des göttlichen Schöpfungsmythos in die selbstbewusste Gestaltungsfähigkeit des Menschen als Ausdruck seines Menschseins. Das setzt andersherum die Existenz einer materiellen Umwelt voraus, die nicht äußerlich sein kann, sondern eine „natürliche Einheit“ (Marx 1966: 130) mit der Arbeit bilden muss. „Eigentum meint also ursprünglich nichts als Verhalten des Menschen zu seinen natürlichen Produktionsbedingungen als ihm gehörigen, als den seinen, als mit seinem eignen Dasein vorausgesetzten; Verhalten zu denselben als natürlichen Voraussetzungen seiner selbst, die sozusagen nur seinen verlängerten Leib bilden. Er verhält sich eigentlich nicht zu seinen Produktionsbedingungen; sondern ist doppelt da, sowohl subjektiv als er selbst, wie objektiv in diesen natürlichen anorganischen Bedingungen seiner Existenz“ (Marx 1966: 145; Betonung im Original).
Eigentum ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis des Produktionsprozesses wie dieser von jenem. Indem der Mensch arbeitet, produziert er sein materielles Leben wie dieses ihn. Darin wurzelt die Universalität des Menschen, da ihm die Natur, d.h. er sich selbst, gleichzeitig unmittelbarer Lebenszweck und Mittel des Lebens ist. Er ist sich darin Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung in einem (Marx 1962: 566). Eigentum aber ist der soziale Wesenszug bereits immanent, da es ausschließlich in Bezug auf andere gedacht werden kann. Eben das zeichnet den Menschen als zutiefst soziales Wesen aus (Marx 1962: 597, 598; Marx 1966: 146, 149; Marx/Engels 1978: 21; Marx 1990: 6).87 Am Eigentum als dem objektiven Bedingungsverhältnis der menschlichen Gemeinschaft zu sich selbst bestimmt sich also auch das subjektive Bedingungsverhältnis des Einzelnen zu sich selbst (Marx 1966: 139-140, 146). Verhältnis, da es sich immer nur um ein je spezifische Version des Eigentums zu seinem Produktionsprozess und zum (Selbst-)Bewusstsein handelt. Letzteres „(...) ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren“ (Marx/Engels 1978: 31). Diese drei Bedingungen aber fallen im materialistischen Denken in einem „ursprünglichen“ Moment in eins: „Die Bedingungen, unter denen die Individuen, solange der Widerspruch noch nicht eingetreten ist, miteinander verkehren, sind zu ihrer Individualität gehörige Bedingungen, nichts Äußerliches 87 Dass dieses Verständnis ganz anders ausfallen muss wie etwa die aristotelische Bestimmung des Menschen als zoon politikon, verdeutlicht sich am folgenden Ausschnitt aus dessen „Politik“: „Daraus geht nun klar hervor, daß der Staat zu den von Natur aus bestehenden Dingen gehört und daß der Mensch von Natur aus ein staatsbezogenes Lebewesen ist und daß ferner der, der seiner Natur nach und nicht dem Zufall gemäß ohne Bindung an einen Staat ist, entweder schlecht ist oder bedeutender als ein Mensch. (...) Daß nun der Mensch in höherem Grade ein staatsbezogenes Lebewesen ist als jede Biene und jedes Herdentier, ist klar. Denn nichts, meinen wir, schafft die Natur vergeblich. Über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch. (...) Doch die Sprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und in der Folge davon das Gerechte und das Ungerechte. Denn das ist im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, daß nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe verfügen. Doch die Gemeinschaft mit diesen Begriffen schafft Haus und Staat“ (Aristoteles 1989: 1253a).
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für sie, Bedingungen, unter denen diese bestimmten, unter bestimmten Verhältnissen existierenden Individuen allein ihr materielles Leben und was damit zusammenhängt produzieren können, sind also die Bedingungen ihrer Selbstbetätigung und werden von dieser Selbstbetätigung produziert. Die bestimmte Bedingung, unter der sie produzieren, entspricht also, solange der Widerspruch noch nicht eingetreten ist, ihrer wirklichen Bedingtheit, ihrem einseitigen Dasein, dessen Einseitigkeit sich erst durch den Eintritt des Widerspruchs zeigt und also für die Späteren existiert“ (Marx/Engels 1978: 71-72).88
Im nicht-differenzierten Gesellschaftszustand des Gemeineigentums, von dem das materialistische Denken ausgeht, geht der Einzelne ganz im durch den objektiven, weil allgemeinen Produktionsprozess bedingten sozialen Leben auf. Eine Situation, die allerdings bei weitem nicht vollendet ist, da es ihr an bewusster, selbstbestimmter Gestaltung mangelt, „(...) eben weil die Natur noch kaum geschichtlich modifiziert ist (...)“ (Marx/Engels 1978: 31). Mit dem gegenseitigen Bedingungsverhältnis von Eigentum, Produktion und Bewusstsein ist im materialistischen Denken also das Ähnliche im Verschiedenen, das Konstante im Wandel benannt: Es konstituiert die je herrschenden soziostrukturellen Bedingungen und ist eben darin ganz unhintergehbar, d.h. selbst nicht sozial bedingt (Marx 1966: 139).89 Es herrscht immer, wenn auch immer in je verschiedener Gestalt. Das setzt Variation voraus und wirft die Frage auf, wie diese in einer derartigen Theorieanlage induziert wird. Der Bruch mit der ursprünglichen Konstellation aber erfolgt in der Überschreitung der Bedingung der ökonomischen Selbstgenügsamkeit als der ersten wirklich geschichtlichen Tat (Marx 1966: 143; Marx/Engels 1978: 28). Die Zirkularität des Bedingungsverhältnisses macht die Verortung einer ersten Asymmetrie unmöglich und weist diese der Geschichte als unabhängig wirkender Kraft zu, die den Verfallsprozess gegen die ursprünglichen Bedingungen in Kraft setzt. Die drei Momente Eigentum, Produktion und Bewusstsein verselbständigen sich infolgedessen und treten in Widerspruch zueinander (Marx 1966: 148). Darin aber liegt der Ursprung des Gegensatzes von Arbeit und Kapital, der die Gesellschaft im Folgenden durch die verschiedenen Stufen der Geschichte treibt (Marx 1966: 164). Zugleich geht damit die Ausdifferenzierung der politischen Herrschaftsverhältnisse einher. Erweisen sich Einzelinteressen und Gemeininteresse im naturwüchsigen Zustand als (unbewusst) identisch, geraten sie unter der Bedingung der arbeits- und kapitalteiligen Gesellschaft in Widerspruch zueinander (Marx/Engels 1978: 32-33, 76). Es ist die „(...) Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Ge88 Und man sieht schon die Krux der Beschreibung: Wollen Marx und Engels den undifferenzierten, unreflektierten Zustand beschreiben, müssen sie ihn unterscheiden – von einem differenzierten, der doch erst das Ergebnis der Voraussetzung ist. 89 Auf das Problem, die eigenen Voraussetzungen voraussetzen zu müssen – oder wie Marx formuliert „[D]ie ursprünglichen Bedingungen der Produktion (...) können ursprünglich nicht selbst produziert sein (...)“ (Marx 1966: 143; Betonung im Original) – reagiert der Materialismus mit der Umkehrung der Beweislast. Nicht die ursprüngliche Identität der Verhältnisse ist erklärungsbedürftig, sondern die Trennung der Produktionsbedingungen in einem sozial bedingten Differenzierungsprozess, der (ähnlich wie der biblische Sündenfall) als Auftakt von Zeit (und Bewusstsein von Zeit) in der Zeit fungiert.
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walt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht (...)“ (Marx/Engels 1978: 33). Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft erweist sich in diesem Denken also gerade nicht als naturwüchsig, sondern als sozial bedingt. Politischer Herrschaft kommt hier, anders als bei Hegel, gerade keine unabhängige Existenz zu, eben weil sie immer nur Mittel zum Zweck der zwangsläufig partikularen, d.h. willkürlichen Interessen der je Herrschenden über die Beherrschten ist (Marx 1981a: 146; Marx 1981b: 206, 207, 252).90 Ist die ursprüngliche Gesellschaft dabei von einem ganz bornierten Selbstverständnis geprägt, eben weil sie sich selbst von nichts zu unterscheiden weiß, ändert sich dies im Moment des „materialistischen Sündenfalls“ grundlegend. Mit der historischen Variation der materiellen Zustände differenzieren sich notgedrungen auch die menschlichen Vorstellungen, Ansichten und Begrifflichkeiten aus. Ein Moment babylonischer Sprachverwirrung, um in den biblischen Analogien zu bleiben: Ideen, Politik, Gesetze, Moral, Religion, Metaphysik, Philosophie – überall herrscht die Partikularität der jeweils herrschenden materiellen Verhältnisse (Marx/Engels 1978: 26). Nicht ewige Prinzipien, sondern Entfremdung kommt in ihrer Existenz zum Ausdruck. Denn, so die berühmte Diagnose von Marx und Engels, „[D]ie herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse“ (Marx/Engels 1946: 51). Hat sich der ursprüngliche Zustand der Naturwüchsigkeit erst einmal (von sich) differenziert, durchläuft die Geschichte einen Prozess revolutionären Fortschreitens, in dem die vollständige Überarbeitung der je herrschenden Bedingungsverhältnisse die zunehmende Verallgemeinerung derselben zur Folge hat (siehe genauer Kapitel 4.1.4). Das geht bis zur bürgerlichen Gesellschaft, die die Unverhältnismäßigkeit der materiellen (alles Kapital ist als Privateigentum in den Händen weniger), produktiven (maximale Vergegenständlichung des Arbeiters und seiner Leistungen) und ideologischen (nationalökonomische und metaphysische Theorien) Verhältnisse derart auf die Spitze treibt, dass sie nur mehr in der „Auflösung der bisherigen Weltordnung“ (Marx 1981d: 391; Betonung im Original) enden können. Die bürgerliche Epoche zeichnet sich mithin im materialistischen Denken letztlich dadurch aus, nicht nur ihr eigenes geschichtliches Schicksal zu besiegeln, sondern das Schicksal der Geschichte selbst (Marx/Engels 1946: 39). Denn das ureigenste Produkt der bürgerlichen Epoche, auf die materielle und geistige Produktion kommt es dem Materialismus ja an, sind jene Bedingungen, unter denen sie sich selbst überwindet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Denn in der historischen Bedingtheit ihrer ideologischen Vorstellungswelt ist die bürgerliche Epoche ebenso unfähig, die katalysatorische Wirkung ihrer selbst zu sehen, wie dazu verurteilt, mit jeder Maßnahme den selbstdestruktiven Effekt zu verstärken, indem sie dem Proletariat die 90 Denn diese ist erst dann erfüllt, wenn „(...) der ‚Mensch’ zum Prinzip der Verfassung geworden ist“ (Marx 1981b: 218), was aber erst in der kommunistischen Gesellschaft der Fall ist, in der ja jegliche politische Gewalt im Sinne eines ungleichen Herrschaftsverhältnisses passé ist.
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Willkür und Zufälligkeit der herrschenden Ordnung umso deutlicher vor Augen führt (Marx/Engels 1946: 41-43). Die bürgerliche Gesellschaft weist sich aus dieser Sicht letztlich daran aus, sich selbst in die Form einer Unterscheidung gebracht zu haben, die in der ultimativen Verneinung des Menschen und dessen Natur nur mehr durch eine letzte (kommunistische) Revolution als der „Negation der Negation“ (Marx 1962: 608) überwunden werden kann.91 In diesem Sinne liegt das eigentliche Ziel des Kommunismus nicht in der Konstitution einer weiteren historischen Gesellschaftsform, sondern in der Unterscheidung von – eigentlich nichts (Marx 1962: 608). Denn er konstituiert die wirkliche Rückgewinnung der menschlichen Identität mit sich selbst: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung“ (Marx/Engels 1978: 35; Betonung im Original). Erst und allein die maximale Unverhältnismäßigkeit der Verhältnisse ermöglicht also die Auflösung derselben durch Rückführung in Verhältnismäßigkeit. In diesem Sinne kennt das materialistische Geschichtsverständnis keine Abkürzungen. Allerdings, und darin liegt der wesentliche Gegensatz zur Ausgangssituation der naturwüchsigen Gesellschaftsform, geschieht dies eben nicht unreflektiert, sondern im vollen Bewusstsein der selbstbestimmten Herstellung der gesellschaftlichen Bedingungen als Bedingungen der Gesellschaft. Darin liegt ebenso die Symmetrie von Inhalt und Form, die Freiheit und Gleichheit der Einzelnen wie die Entwicklung der Geschichte zur Nichtgeschichte, zur Differenzlosigkeit der Zeit in der Zeit. Eben darin bezeichnet der Begriff der Enteignung bei Marx und Engels womöglich weniger eine juristisch-ökonomische Maßnahme, als jenen (Nicht-)Moment, der sich durch die Rückführung des Allgemeinen allein auf Allgemeines auszeichnet (Marx/Engels 1978: 70).92 Darin verliert die öffentliche Gewalt ihren politischen Charakter im Sinne verselbständigter, d.h. partikularer Herrschaftsverhältnisse bestimmter Klassen und deren Interessen (Marx/Engels 1946: 53; Marx/Engels 1978: 34, 75; Marx 1981d: 390). An deren Stelle tritt „(...) die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ (Marx/Engels 1946: 91 Oder morbider ausgedrückt: Die letzte Revolution frisst nicht ihre Kinder, sondern sich selbst. Sie ist die Totengräberin der Geschichte auf dem Friedhof der Geschichte. Es ist die Stunde, in der „(...) die Toten ihre Toten begraben (...), um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen“ (Marx 1961a: 228-229). Die Frage jedoch, ob diese letzte aller Revolutionen Willensakt oder Notwendigkeit der Geschichte ist, kann womöglich nur paradox beantwortet werden (Dahrendorf 2006: 66). Sie kann kein Willensakt und muss geschichtliche Notwendigkeit sein, weil die bürgerliche Gesellschaft noch mit einem Fuß in der Geschichte steht. Sie muss Willensakt und darf nicht Notwendigkeit sein, weil die Bedingungen der Allgemeinheit selbst nur allgemeinen Bedingungen entspringen können. Sie muss also beides zugleich sein: Freiheit in der Notwendigkeit und Notwendigkeit in der Freiheit. 92 Und es zeichnet sich schon ab: Auch die Rückführung der Unverhältnismäßigkeit der Verhältnisse in deren Verhältnismäßigkeit muss ihr Ergebnis voraussetzen, um es zu erreichen.
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4 Die Perspektive von Materialismus und historischer Schule
44), die in der freien Entwicklung des Einzelnen die Bedingung zur freien Entwicklung der Gesamtheit – kurz: das Gemeinwohl – erfüllt (Marx/Engels 1946: 53). Allein dadurch ist garantiert, dass das Individuum nur den unmittelbar selbstbestimmt produzierten gesellschaftlichen Bedingungen unterworfen ist (Marx 1962: 595-596). Oder wie Marx es formuliert: „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Es ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung“ (Marx 1962: 593-594; Betonung im Original).
4.1.2.2
Zur Auflösung politischer und sozialer Gegensätze in der menschlichen Gemeinschaft
Auch Lorenz von Stein sieht im Problem der Selbstbestimmung des Menschen den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Befreit von der Vorstellung transzendenter Vorgaben, aber auch von der Unmittelbarkeit individueller Wirkungsmacht in einer komplexer werdenden sozialen Welt, in der der Einzelne „(...) nicht mehr über das zu bestimmen hat, was er im Ganzen seyn oder thun will“ (Stein 1956: 52), muss der Mensch seine gesellschaftliche Stellung auf etwas zurückführen, das ihm zugleich nicht äußerlich sein darf, um nicht willkürlich zu geraten, aber doch äußerlich sein muss, um nicht willkürlich zu geraten. Ähnlich wie im materialistischen Denken sieht auch Lorenz von Stein Problem und Lösung dieses Dilemmas in der Eigentumsordnung als einer aus der arbeitenden Tätigkeit der Einzelnen hervorgehenden, diese jedoch zugleich transzendierenden Kraft. Im Gegensatz zum materialistischen Weltbild geht Stein allerdings nicht von der Ausdifferenzierung einer ungleichen Eigentumsordnung als dem Ergebnis eines historischen Prozesses aus, die nur durch ultimative revolutionäre Umkehrung der gesellschaftlichen Bedingungen aufgehoben werden kann, sondern deutet jene als grundlegende Voraussetzung eines solchen. Er rechnet immer schon mit der Existenz ungleicher Eigentumsverhältnisse, ja nimmt diese geradezu billigend in Kauf. Hatte die ständisch strukturierte Gesellschaftsform die proprietären Grundbedingungen auf ihre ganz eigene Weise gelöst, gewinnt die Frage nach dem institutionellen Umgang mit ökonomischen Ungleichheitsverhältnissen in Zeiten von bürgerlichen Revolutionen, Industrialisierung und erwachendem Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft jedoch ganz neue Brisanz. Die Französische Revolution, die die ständische Herrschaftsordnung
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auf gewaltsame Weise aus der Geschichte fegte, und das Auftauchen sozialistischen und kommunistischen Gedankenguts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das mit der Enteignung ein Mittel zur endgültigen Überwindung von Eigentumsdifferenzen benennt, erweisen sich in den Überlegungen Steins nicht als historische Epiphänomene, sondern als grundlegende Hinterfragungen der herrschenden ökonomischen und politischen Verhältnisse (Stein 1959b: 109; Stein 1971: 16, 60). Dabei gelten Stein die Erfahrungen Frankreichs als geradezu beispielhaft für die akuten gesellschaftlichen und politischen Risiken, denen Europa im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen ausgeliefert sind (Stein 1959b: 1-2, 4-5, 7, 12; Stein 1971: 7-8; Stein 1974b: 27). Die Ungewissheit einer künftigen politischen Ordnung brennt nach wie vor auf den Nägeln der Gegenwart: Der König ist tot und mit ihm die absolutistische Herrschaftsverfassung, ohne jedoch von einer neuen abgelöst worden zu sein. Alle Staatsgewalt muss vom Volke ausgehen – das ist das irreversible Erbe der bürgerlichen Revolutionen. Wie damit konstitutionell umzugehen ist, bleibt allerdings nach wie vor eine der beherrschenden Fragestellungen europäischer Gesellschaften. Andererseits ist es dem Auftauchen von Sozialismus und Kommunismus zuzuschreiben, dass die „(...) gesellschaftliche Frage die Hauptfrage des ganzen Lebens der civilisierten Welt geworden (...)“ (Stein 1974a: 15) ist. An beidem aber gewinnt das Proletariat zunehmend an selbständiger Einheit, denn während es an den politischen Revolutionen lernt, „(...) was es nicht ist, lernt es an diesen Lehren, was es zu hoffen, zu fordern, zu erstreben hat. Erst durch sie ist es eine Macht, denn erst durch sie hat es einen Willen“ (Stein 1959b: 117; Betonung im Original). An der Frage also, wie mit dem Risiko gewaltsamer Erhebungen gerade unter dem Druck sozialer Problemlagen umzugehen ist, deren Brisanz die Sprengkraft rein politisch motivierter Revolutionen vermutlich um ein Mehrfaches übertreffen muss, manifestiert sich für Lorenz von Stein der eigentliche, schicksalsentscheidende Problemkomplex seiner Epoche. Dabei steht für Stein fest, dass Politik und Gesellschaft je spezifische Felder mit je eigenen Logiken konstituieren. Politisch gesehen ist mit der bürgerlichen Gesellschaft das Höchstmaß an Freiheit und (Rechts-)Gleichheit erreicht, das das Individuum erwarten kann. Denn „(...) indem der einzelne sich in dem allgemeinen Willen nur dem eigenen unterwirft, ist jeder einzelne durch den Staat selber selbstherrlich, sein eigener Selbstherrscher. So scheint das große Rätsel der Freiheit endlich gelöst, wie der an sich freie Mensch zugleich unterworfen und frei sein könne. Und indem nun dieser Grundsatz für das ganze Volk praktisch durchgeführt wird, indem also der Volkswille, das ist die Vielheit der einzelnen Willen, zugleich und notwendig der Staatswille, das ist die zur Persönlichkeit und Einheit erhobene Vielheit der einzelnen ist [sic – Anm. d. Verf.], ist das Volk – die bestimmte Gesamtheit einzelner – zugleich sein eigner Herrscher, es ist souverän, selbstherrlich“ (Stein 1959c: 129; Betonung im Original).
Das aber ist nur die eine, die statische Seite der Medaille. Es fehlt jenes Feld, das sich als „Triebfeder“ (Böckenförde 1972: 526) des Fortschritts erweist – die Gesellschaft, also der Bereich der Produktion, des Handels und des Konsums materieller
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Güter (Stein 1959a: 17; Stein 1971: 25). Dieser aber strukturiert das menschliche Leben mindestens ebenso dominant wie das Politische. Denn das Recht auf Eigentum im Sinne eines exklusiven Verfügungsrechts erweist sich für Stein als konstitutiv für die individuelle Persönlichkeit, ja als wesenbestimmend für den Menschen in seiner Qualität als Mensch (Stein 1959a: 18; Stein 1959b: 89; Stein 1971: 30, 31; Stein 1974a: 4). Hier ist jeder dazu angehalten, „(...) sich selbst als Zweck zu setzen und die Arbeit anderer für seine Zwecke zu verwenden“ (Böckenförde 1972: 527). Darin unterscheiden sich Staat und Gesellschaft also grundlegend: Während das Zusammenwirken der Einzelinteressen auf der einen Seite in einen übergreifenden Gemeinwillen mündet und damit das Politische begründet, ist es der Gegensatz derselben, der auf der anderen Seite unbeeinflussbare, ökonomische Gesetzmäßigkeiten und mithin die Gesellschaft konstituiert (Stein 1971: 29, 74). Hier herrscht also bei weitem nicht Willkür: Im Egoismus der Einzelnen gründet der Nutzen für alle, denn „(...) das Füreinandersein zeigt sich als die Ordnung der gemeinschaftlichen Arbeit aller für alle“ (Stein 1971: 27). An den je herrschenden Produktionsund Eigentumsbedingungen gewinnen Individuum und Gesellschaft Form und Gestalt, denn erst daran treten „(...) die Dinge, welche im Innern der Gesellschaft vor sich gehen, (...) an die Wirklichkeit, und so entsteht das, was wir die Gestalt der Gesellschaft nennen“ (Stein 1956: 37; Betonung im Original). Eine Gesellschaftsordnung ohne Besitzordnung ist hier grundsätzlich undenkbar (Stein 1956: 53). Für Stein erweist sich dabei die herrschende arbeitsteilige Erwerbsgesellschaft als die weitestgehende Verwirklichung gesellschaftlicher Freiheit, legt sie doch fest, „(...) daß das Recht [auf Erwerb – Anm. d. Verf.] und die Berechtigung jedes einzelnen dem anderen einzelnen gegenüber gleich ist“ (Stein 1959b: 2; Betonung im Original). Man sieht: Auch für Lorenz von Stein stellt das sich am Eigentum bestimmte gegenseitige Bedingungsverhältnis von Gesellschaft und Individuum als ein ganz unhintergehbares, zu allen Zeiten und für alle Arten des Zusammenlebens der Menschen gleichermaßen gültiges dar, an dem die Geschichte variiert. Die Gesellschaft produziert das Individuum und andersherum. Eigentum konstituiert auch hier den in jeder Hinsicht Unterschied, der einen Unterschied macht – zwischen Struktur und Bewegung der Gesellschaft (Stein 1959a: 40-45; Böckenförde 1972: 528). Staat und Gesellschaft führen sich also im Stein’schen Denken gleichermaßen auf den Menschen zurück und stehen sich darin ebenso unvereinbar gegenüber wie sie zwangsläufig aufeinander ausgreifen (Stein 1956: 34; Böckenförde 1972: 520).93 Denn jeder Staat verfügt unweigerlich über eine Gesellschaftsordnung. Die Besitzverhältnisse der Gesellschaft müssen dann allerdings zwangsläufig auf die politischen Herrschaftsverhältnisse im Staat durchschlagen (Stein 1959a: 51; Stein 1971: 93 Die Versöhnung des einen mit dem jeweils anderen ist strukturell ebenso ausgeschlossen wie die vollständige Aufhebung des Widerspruchs selbst (Stein 1959a: 31-33). Eben weil die Bewegung der Gesellschaft sich immer nur aus der Freiheit der Einzelnen schöpfen kann, fehlt es ihr per se an Allgemeinheit (Böckenförde 1972: 544-546).
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36): „Das, was sich durch jenen Gegensatz vielmehr bildet, und was mithin, eben weil es bei jedem konkreten Lebensakt des tätigen Staates eintritt als den Willen des Volksstaates bestimmend, den wirklichen Staat beherrscht, von jeher beherrscht hat und ewig beherrschen wird, das ist die Ordnung der Gesellschaft und der Gegensatz ihrer Interessen“ (Stein 1959c: 137; Betonung im Original). Die immanente Bewegung der gesellschaftlichen Bedingungen zu ungleichen Eigentumsverhältnissen erweist sich dann so lange nicht als Problem, sondern als Lösung menschlichen Zusammenlebens, solange niemand vom durch Arbeit erworbenen „Recht des persönlichen Eigentums“ (Stein 1959b: 101; Betonung im Original) ausgeschlossen ist (Stein 1959a: 106-107, 109).94 Aus der „harmonischen Wechselwirkung“ (Stein 1956: 95) entwickelt sich jedoch früher oder später unwillkürlich deren Gegenteil: Der Ausschluss der Vielen von der Möglichkeit, Besitz zu erwerben. Das aber bedeutet die Aufhebung der gesellschaftlichen Freiheit. Das (gesellschaftliche) Gemeininteresse am Kapitalerwerb aller wandelt sich zum Sonderinteresse jedes Einzelnen an der Mehrung des eigenen Kapitals auf Kosten anderer (Stein 1959c: 199). Ein Missverhältnis, das zwangsläufig auf die Konstitution des Staats ausgreifen muss. Die Herrschaftsverhältnisse verschieben sich, abgesichert durch das Gewaltmonopol und fundiert in ideologischen Vorstellungen, zugunsten der Besitzenden und deren Interessen (Stein 1959a: 52, 67-68; Stein 1971: 49). Darin nehmen die gesellschaftlichen Umwälzungen und revolutionären Verfassungskämpfe ihren Ausgang und mit ihnen die geschichtliche Entwicklung, die allerdings dazu verurteilt ist, die Unfreiheit der ökonomischen und politischen Verhältnisse immer nur zu reproduzieren, nicht zu lösen. Bis hin zur bürgerlichen Gesellschaft, die von der Gegenüberstellung maximaler Gegensätze – ökonomisch von Kapital und Proletariat, politisch von der konstitutionalisierten Monarchie – geprägt ist (Stein 1959b: 32-35, 39-40, 55-57, 96-98). Damit, so Stein, ist das eigentliche Problem der modernen Industriegesellschaft benannt: Deren Arbeits- und Kapitalstruktur schließt den Erwerb von Eigentum für die Masse der Arbeiter ebenso aus wie die monarchische Machtausübung und das Zensuswahlrecht die Teilhabe an der politischen Willensbildung. „Es ist der lebendig gewordene, körperlich dastehende, absolute Widerspruch“ (Stein 1959c: 192).95 Darin aber wurzelt die eigentliche Bri94 Zweifel an der Qualität des Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft als wirkliches Eigentum hatten auch schon Marx und Engels im Kommunistischen Manifest angemeldet: „Man hat uns Kommunisten vorgeworfen, wir wollten das persönlich erworbene, selbsterarbeitete Eigentum abschaffen; das Eigentum, welches die Grundlage aller persönlichen Freiheit, Tätigkeit und Selbständigkeit bilde. Erarbeitetes, erworbenes, selbstverdientes Eigentum! Sprecht Ihr von dem kleinbürgerlichen, kleinbäuerlichen Eigentum, welches dem bürgerlichen Eigentum vorherging? Wir brauchen es nicht abzuschaffen, die Entwicklung der Industrie hat es abgeschafft und schafft es täglich ab. Oder sprecht Ihr vom modernen bürgerlichen Privateigentum? Schafft aber die Lohnarbeit, die Arbeit des Proletariers ihm Eigentum? Keineswegs“ (Marx/Engels 1946: 46). 95 Denn alles Eigentum ist Eigentum an Arbeit, alle Arbeit ist Arbeit des Eigentums. Ersteres, denn die Arbeiter „(...) sind nicht frei, nicht gleich, sie sind es nicht, weil sie kein Kapital, nur Arbeitskraft, nicht
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sanz der Gegenwart: Was in den Tiefen der Geschichte (vor allen Dingen von den bildungs- und besitzbürgerlichen Schichten) unbeachtet schwelt, könnte sich ebenso schnell wie ungewollt zum gesellschaftlichen Flächenbrand mit ungeahnten Ausmaßen entwickeln. Hat die Ablösung der absolutistischen Herrschaftsordnung durch das Prinzip der Volkssouveränität dem Proletariat seine unterdrückte und die Schriften des Sozialismus bzw. Kommunismus seine ausgebeutete Lage vor Augen geführt, wurzelt darin die Gefahr revolutionären Aufbegehrens, das sich nicht mehr nur gegen eine unfreie und ungleiche politische, sondern auch gegen eine ebensolche ökonomische Ordnung richtet. Das eigentliche Problem der Stein’schen Gegenwart liegt also tiefer, eben weil dieses jetzt auch soziale Aspekte mit einschließt (Böckenförde 1972: 532-533; Pankoke 1977: 104). Es gilt also, das Auftauchen kommunistischen und sozialistischen Gedankenguts als zeitspezifisches Symptom für die tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft zu verstehen, steht dieses doch für die Haltung des Proletariats „gegen das persönliche Eigentum überhaupt“ (Stein 1971: 66; Betonung im Original).96 Exakt dieses Zusammentreffen spezifischer historischer Entwicklungslinien ist es also, das, obwohl sich ganz anderen Interessen, Mächten und Gesetzen schuldend, das Proletariat im Bewusstsein seiner selbst in Frontalstellung zum Kapital als neue, gesellschaftliche Kraft hervorbringt: „Die Gegensätze in der Gesellschaft haben ihren Ausdruck und ihr Bewußtsein erhalten; sie fangen an zu erkennen, worum es sich handelt; sie bereiten die Waffen, die ihnen ihre Stellung gibt, und schon haben die ersten Zeichen der Zeit uns gemahnt, daß wir am Vorabende eines Kampfes im Herzen der Gesellschaft stehen“ (Stein 1971: 71).97 Eben dem gilt es jedoch, einen Riegel vor-
das der Persönlichkeit zufällige, nur das ihr natürliche und angeborene besitzen“ (Stein 1959b: 97). Zweites, da sich die Gegenwart als die „(...) Herrschaft des Kapitalbesitzes über das ganze Güterleben und seine Bewegungen“ (Stein 1959b: 26; Betonung im Original) erweist. 96 Eine Ansicht, die Reichskanzler Otto von Bismarck noch im April 1872 in einem Brief an Kaiser Wilhelm I. ganz ähnlich formuliert: „Die sogenannte Internationale ist nur eine, wenn auch augenblicklich die hervorragendste von den Formen, in welchen eine die ganze civilisierte Welt durchziehende Krankheit zur Erscheinung kommt. Diese Krankheit hat ihre Ursache darin, daß die besitzlosen Klassen in dem Maaße als ihr Selbstgefühl und ihre Ansprüche am Lebensgenuß allmählich steigen, sich auf Kosten der besitzenden Klassen die Mittel zur Befriedigung dieser Ansprüche zu verschaffen streben. Auf eine Heilung dieser Krankheit durch repressive Mittel wird man verzichten müssen; dieselbe kann nur das sehr langsame Werk theils der fortschreitenden Bildung und Erfahrung, theils einer Reihe, die verschiedensten Gebiete des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens berührender legislativer und administrativer Maßregeln sein, welche darauf gerichtet sind, die Hindernisse thunlichst zu beseitigen, die der Erwerbsfähigkeit der besitzlosen Klassen im Wege stehen. So lange dieser Heilungsprozeß nicht vollzogen ist, wird es allerdings Aufgabe der Regierungen sein, die Gesellschaft gegen den Versuch eines gewaltsamen Angriffs auf den Bestand des Besitzes zu schützen“ (Rothfels 1953: 331). Die angekündigte Sozialgesetzgebung folgt Jahre später mit Kranken- (1883), Unfall- (1884), Invaliditäts- und Altersversicherung (1889). 97 Auch der Stein’sche Gang der Geschichte lässt sich in diesem Sinne nicht abkürzen. Die (Gesellschafts-)Wissenschaft kann der Geschichte nicht vorgreifen, bevor sie sich nicht erfüllt hat. Oder anders
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zuschieben. Dem historischen Fingerzeig auf die Zuspitzung der Krise wohnt aus dessen Sicht keinesfalls die adäquate Lösung derselben inne. Denn diese lässt sich aufgrund der fundamentalen Veranlagung des Menschen nicht einseitig lösen – weder rein politisch noch rein ökonomisch (Stein 1959a: 73, 79). Denn während sich politische Reformen immer nur innerhalb des rechtlich Bestehendem und politisch Vorherrschendem bewegen können, sind sie zwangsläufig dazu verurteilt, die Ungleichheiten zu reproduzieren, die es eigentlich zu beseitigen gilt (Stein 1959a: 93-96, 100-102). Die politische Revolution schafft zwar in der Umwälzung der herrschenden Bedingungen ganz neue Verhältnisse, allerdings auch darin wiederum nur solche, die den Interessen eines Teils, nicht der Gesamtheit dienen (Stein 1974a: 15; Pankoke 1977: 112-113). Andererseits lässt sich das Problem auch nicht auf rein ökonomische Weise bewältigen. Denn ist der Gegensatz der Sonderinteressen konstitutiv für Gesellschaft und Individuum gleichermaßen, muss die Aufhebung derselben durch (sozialistische) Unterwerfung des Kapitals unter die Arbeit bzw. kommunistischer Aufhebung des Eigentums, die kapitalistische Ökonomie in ihrem ureigensten Bestandskern treffen (Stein 1959b: 98, 99; Stein 1959c: 202-203). Das aber ist letztlich eine Utopie, „(...) denn diese Erde, auf der wir leben, ist der Stern des persönlichen Interesses“ (Stein 1959c: 194).98 Der eigentliche Schlüssel des Problems muss also an anderer Stelle liegen und zwar in der grundlegenden Einsicht, dass Staat und Gesellschaft zwei verschiedene und eben darin für das Individuum unverzichtbare Lebensbereiche konstituieren, die es in ihrer je spezifischen Gestalt und Funktion zu erhalten gilt, gerade weil sich letztlich nicht über eine Rangordnung zwischen beiden entscheiden lässt. Oder anders formuliert: Die Bedingungsmöglichkeit des Gelingens einer Überarbeitung der gegebenen Verhältnisse liegt darin, eine Form der Institutionalisierung politischer Gewalt zu finden, die diese weder zum Spielball der Herrschafts- noch der ökonomischen Bedingungen werden lässt und gleichzeitig die freie Entfaltung der ökonomischen Kräfte erlaubt.99 Stein hebt dies in der Einheitsperspektive einer beide Bereiche übergreifenden „menschlichen Gemeinschaft“ auf, die sich als „Republik des gegenseitigen Interesses“ (Stein 1959c: 194-207) konstituiert. „Wenn nämlich der Staat aus sich selber heraus sich nicht helfen, und die Gesellschaft ihrem Prinzip nach nicht frei sein kann, so wird die Möglichkeit des wahren Fortschrittes notwendig in einem Moment liegen müssen, das über beiden stehend, mächtiger als beide ist“ (Stein 1959a: 75). Kapital und Proletariat müssen gleichergesagt: (Wissenschaftliche) Fakten konstituieren sich als Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die das Gegenwärtige als Ergebnis von Vorhergehendem deuten (Stein 1959c: 200). 98 Überhaupt kann Stein weder im Kommunismus noch im Sozialismus einen wissenschaftlich oder soziostrukturell großen Wurf sehen. Denn „[Z]u dem ersten fehlt ihnen die eigentümliche philosophische Bildung, zu dem letzteren ein wahres Verhältnis zur Wirklichkeit“ (Stein 1971: 9). 99 Oder wie Böckenförde es formuliert: Im Stein’schen Denken bedient sich das Soziale des Politischen ebenso wie dieses an jenem seinen Inhalt findet (Böckenförde 1972: 533, 538).
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maßen verstehen, dass sich ihre je entgegengesetzten Interessen ihrem Wesen nach eigentlich ergänzen und darin das Gemeinwohl erzeugen – politisch im Zusammenwirken, ökonomisch im Gegensatz der freien und gleichen Einzelwillen. Denn „[D]amit das Kapital großen Erwerb mache, muß es die Arbeit haben; damit die Arbeit die Mittel der Bildung und des Erwerbs finde, muß sie das Kapital durch tüchtige und willige Tätigkeit unterstützen. Arbeit und Kapital, ihrem innersten Wesen nach sich gegenseitig erzeugend und bedingend, haben daher ein solidarisches Interesse“ (Stein 1959c: 203; Betonung im Original). Anders als Marx und Engels schwebt Lorenz von Stein also gerade kein durch Enteignung erzeugter Zustand der Harmonie, sondern die Harmonisierung der in kapitalistischen Industriegesellschaften zwangsläufig auseinanderstrebenden Kräfte vor (Stein 1956: 76). Man sieht dieser Formulierung dann schon an, dass sich das aus Steins Sicht nicht von jetzt auf gleich einstellt, sondern eines langfristigen, friedlichen Wandlungsprozesses bedarf. Denn der demokratische Willensbildungsprozess argumentativen Abwägens verschiedener politischer Forderungen setzt einerseits ein gewisses Bildungsniveau voraus, das sich für gute Gründe ebenso zugänglich erweist wie es diese zu formulieren in der Lage ist. Oder wie Pankoke treffender formuliert: „Steins Begriff des ‚Proletariats’ markierte genau jene bewußtseinssoziologische Dimension eines durch Bildung vermittelbaren ‚Lernens’ sozialer Bedürfnisse und Ansprüche, welche die Klassenstruktur der industriellen Gesellschaft in Bewegung bringen mußten“ (Pankoke 1977: 158). Andererseits setzt das aber auch die grundlegende Möglichkeit einer Teilhabe am ökonomischen Prozess im Sinne von Besitz voraus, denn nur dem Träger steuerlicher Lasten kann ein wahres Interesse am Gemeinwesen unterstellt werden. Die Emanzipation des Proletariats braucht also aus dieser Sicht vor allen Dingen eines: Zeit (Stein 1959c: 202). Der aus dem krassen Gegensatz von Arbeiter und Kapital erwachsende gesellschaftliche und politische Druck zwingt jedoch zu sofortigen Maßnahmen, die für Lorenz von Stein allerdings zunächst keinesfalls verfassungs-, sondern verwaltungsrechtliche Ausmaße annehmen. Denn hat man erst einmal verstanden, dass es dem Proletariat bei seinen politischen Forderungen in erster Linie um ökonomische Anliegen geht, lässt sich die Situation zunächst durch einen sozialen Reformprozess entschärfen. Das in Staat und Gesellschaft tonangebende Bildungs- bzw. Besitzbürgertum muss dann dazu angehalten werden, die Verwaltungsangelegenheiten nicht mehr im eigenen Interesse, sondern in dem aller zu führen (Stein 1959c: 205-207; Böckenförde 1972: 541; Pankoke 1977: 121, 123). Das, so Steins Argument, nutzt nicht zuletzt der bürgerlichen Elite selbst, da kapitalistische Industriegesellschaften nun einmal ebenso auf politisch ruhige wie ökonomisch dynamische Verhältnisse angewiesen sind. Hat sich aus der Arbeiterschaft erst eine breite (Mittel-)Schicht eines aufgeklärten (Klein-)Bürgertums gebildet, tritt die Unerträglichkeit der Diskrepanz von gesellschaftlicher Realität und staatlicher Verfassungsordnung von selbst hervor und dann erst „(...) ist die Zeit gekommen, wo eine Umgestaltung des
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Rechts zur inneren und bald auch zur äußeren, unabweisbaren Notwendigkeit wird“ (Stein 1959a: 93). Die soziale Frage löst sich dann quasi von selbst im Modus des Politischen (Böckenförde 1972: 520, 525; Pankoke 1977: 105). Das hat noch einen weiteren Vorteil: Die Frage der konstitutionellen Version staatlicher Gewalt ist (zumindest vorerst) einerlei, denn „[D]ie volkswirtschaftliche Gesellschaft ist weder legitimistisch noch dynastisch, weder monarchisch noch aristokratisch, noch republikanisch; sie will nur in irgendeiner Form eine über dem einzelnen wie über den Sonderinteressen stehende Staatsgewalt“ (Stein 1959a: 471). An diesem Modell wird sich aus der Sicht Steins letztlich entscheiden, ob die europäischen Gesellschaften dazu in der Lage sind, nach der Errungenschaft von politischer und ökonomischer Freiheit, eine dritte Epoche einer beide übergreifenden Freiheit des gemeinsamen Interesses einzuläuten. Nur so und nur dann lässt sich das vorherrschende, auf ungleichen politischen Herrschaftsverhältnissen basierende Regierungssystem letztlich überwinden, denn erst „[D]ann ist seine Zeit erfüllt und die Geschichte wird zu seinen Toten begraben“ (Stein 1959c: 209). 4.1.3 Eigentum als individuelle Unfreiheit – Eigentum als individuelle Freiheit Sind sich die materialistische und die Stein’sche Weltsicht in kaum einem Punkt so einig wie in ihrem Verständnis einer durch Eigentumsbedingungen strukturierten gesellschaftlichen Ordnung, scheint sie nichts mehr voneinander zu trennen als die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Denn konstituiert die Exklusivität des Eigentums für Marx und Engels das grundlegende Problem der Freiheit von Gesellschaft und Individuum, liegt eben darin aus der Sicht Lorenz von Steins die eigentliche Lösung.100 Beide Ansätze beschreiben dabei gesellschaftliche Entwicklung als „Verfallsprozess“: Die eine Version, ausgehend von ursprünglich besitzlosen Verhältnissen, an der Existenz von Eigentum; die andere, ausgehend von einer grundsätzlich durch exklusive Verfügungsrechte bestimmten Welt, am Ausschluss vom Erwerbsrecht. Beide Denkansätze teilen dann wiederum die Vorstellung eines stufenweisen Fortschritts der Gesellschaft im Sinne der Überarbeitung der jeweiligen Besitz- und Herrschaftsverhältnisse, wenn auch aus verschiedenen Perspektiven. Bis hin zur vorletzten Stufe, in der die maximale Übersteigerung der Verhältnisse die eigentliche Chance auf Institutionalisierung von Freiheit und Gleichheit birgt: Auf der einen Seite, indem Eigentum im Akt der Enteignung die Exklusivität genommen, die diesem auf der anderen durch die Rekonstruktion eines allgemeinen Erwerbsrechts wiedergegeben werden soll. Böckenförde attestiert Marx vor diesem Hintergrund einen negativen Ausgangspunkt, da dieser „(...) die in der Emanzipati100 Ähnlich sieht dies auch Blasius: Im Gegensatz zu Marx und Engels, für die Eigentum immer nur Ausdruck einer historischen und also notorisch unvollendeten ökonomischen Struktur ist, konstituiert es im Verständnis Steins die eigentliche individuelle Freiheit (Blasius 1977: 39-40).
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onsbewegung zutage getretene Entzweiung bekämpft und die verlorene Identität von homme und citoyen im ‚neuen Menschen’ der klassenlosen Gesellschaft wieder einholen will – der Ausbruch aus der Geschichte in die Utopie (...)“ (Böckenförde 1972: 524). Im Gegensatz dazu sieht er in Steins Denken den überzeugten Vertreter der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution, der im Abbau alter Besitz- und Statusprivilegien den „Weg zur Wirklichkeit menschlicher Freiheit“ (Böckenförde 1972: 546) bereitet. Das hier in Kürze Dargelegte soll im Folgenden nochmals ausführlicher nachvollzogen werden. Geht der Marxismus von einem konstitutiven Zusammenhang zwischen Produktion, Herrschaft und individuellem Bewusstsein aus, tritt die Trennung derselben als Entfremdung des Menschen in seiner ureigensten Natur als menschliches, selbstbestimmtes und soziales Wesen zutage. Entfremdung konstituiert sich dann in dreifacher Dimension: als „Entfremdung der Sache“ (Marx 1962: 565; Betonung im Original), als Entfremdung vom Herstellungsprozess, als „Selbstentfremdung“ (Marx 1962: 565; Betonung im Original) und als Entfremdung vom Gattungsleben des Menschen (Lange 1995: 174-176; Fetscher 1999: 49-53). Dass das Verhältnis des Arbeiters zu seinem Produkt unter den Bedingungen des Privateigentums und der Lohnarbeit entfremdet ist, wurzelt darin, dass jener dieses weder um seiner selbst willen produziert noch behalten darf. Vielmehr tritt ihm das Produkt „(...) als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber“ (Marx 1962: 561; Betonung im Original). Schlimmer noch: Je mehr der Arbeiter arbeitet, desto mehr wird er selbst (nicht sein Produkt) zur eigentlichen Ware (Marx 1962: 561).101 In der Entfremdung vom Objekt der Arbeit findet das Ausbeutungsverhältnis mithin seine ausgeprägteste und reinste Form, da der Arbeiter, „Knecht seines Gegenstandes“ (Marx 1962: 563), nichts anderem mehr unterworfen ist als seiner eigenen Arbeit. Doch nicht nur das Verhältnis zum Produkt ist unter diesen Bedingungen gestört, auch das zum Produktionsprozess ist es. Denn der Arbeiter produziert nicht freiwillig, sondern unter Zwang das, was lediglich Mittel zum Zweck der Befriedigung von Bedürfnissen anderer ist (Marx/Engels 1946: 40; Marx 1962: 513, 564-565). Mit der schlimmsten aller denkbaren Konsequenzen: Der 101 Wie kaum ein anderer bringt auch Thomas Malthus in seinem „An Essay on the Principle of Population“ (1798) den Zusammenhang zwischen moralischer Perfektabilität des Menschen und der Abhängigkeit der menschlichen Existenz von ökonomischen Gesetzen zum Ausdruck. Wie der Titel bereits besagt, adressiert er eines der dringlichsten Probleme seiner Zeit: das enorme Bevölkerungswachstum. Angesichts von Mechanisierung, Optimierung der landwirtschaftlichen Produktion und stetiger Verbesserung der medizinischen Versorgung verlieren „natürliche“ Ausgleichsprozesse an Wirksamkeit. Unter der Bedingung knapper Nahrungsmittel wird der sprunghafte Anstieg in der Bevölkerung allerdings zum echten Problem, das vor allen Dingen schwerwiegende moralische Folgen für die Gesellschaft zeitigt. „This natural inequality of the two powers of population and of production in the earth, and that great law of our nature which must constantly keep their effects equal, form the great difficulty that to me appears insurmountable in the way to the perfectibility of society“ (Malthus 1999: 14). Man sieht, wie sehr die ökonomische Frage in diesem Denkzusammenhang zugleich eine moralische ist.
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Arbeiter verliert in der Entfremdung von der Produktion seine ureigenste Qualität als Mensch – die Möglichkeit, sich selbst zu reflektieren (Marx 1962: 511, 565). Damit nicht genug. Denn die ausbeuterische Arbeitsstruktur entfremdet nicht nur das Verhältnis zu Produkt (Sein) und Produktion (Werden), sondern gerade auch zum sozialen Leben (Bewusstsein). Entfremdung bleibt dann gerade kein auf die ökonomische Sphäre reduziertes Phänomen. Als Gattungswesen ist sich der Mensch ursprünglich Selbstzweck und Mittel zugleich. In diesem Zustand ist die Natur zugleich Wirklichkeit, Werk und Bewusstsein – sie ist identisch mit sich. Unter der Bedingung der Entfremdung jedoch dreht sich dieses Verhältnis um: Die Arbeit verliert ihren ursprünglichen Selbstzweck, da sie zum Mittel ökonomischer Interessen Anderer wird. Damit ist der Mensch in seiner eigentlichen Natur als soziales Wesen sich selbst und damit notwendigerweise auch allen anderen gegenüber entfremdet (Marx 1962: 566-569). Dies zu überwinden, kann nur durch revolutionäre Rückführung des Menschen zu seiner eigentlichen Natur erreicht werden: „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. (...) Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch (...) als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres’ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht“ (Marx 1981c: 370; Betonung im Original).
Der Mensch ist nur frei und emanzipiert, wenn er sich selbst wiederum Mittel und Zweck, Ursache und Wirkung ist (Marx 1962: 605, 606). Kurz: Wenn er sich als Mensch selbst bestimmt, was nur möglich ist, wenn das Individuum als Individuum unmittelbar über sich selbst bestimmt (Marx/Engels 1978: 75). Darin allein entspricht er seiner Natur, weil es die von ihm bewusst produzierte ist. Dass „(...) alle Menschen ihrem Begriffe nach gleich und frei oder sich selbstbestimmend sind (...)“ (Stein 1959a: 123), bildet auch für Lorenz von Stein Ausgangs- und Zielpunkt der sozialen Ordnung. Wenn allerdings Eigentum überhaupt erst den alles entscheidenden (sozialen und gesellschaftswissenschaftlichen) Unterschied macht, muss die materialistische Lösungsvorstellung ebenso unrealistisch wie prinzipiell widersprüchlich sein. Denn für Stein konstituieren sich Individualität des Menschen und Gestalt der Gesellschaft in der jeweils institutionalisierten Version des Erwerbs von Eigentum. Materielle Ungleichheit ist also grundsätzlich bereits vorprogrammiert. Der Bezugspunkt von Freiheit und Gleichheit muss dann aber ein anderer sein. Wie weiter oben bereits dargelegt, konstituiert der Staat das Prinzip politischer Freiheit (Stein 1959a: 66). Der Einzelne kann hier nicht unfrei sein, da er selbst Ursprung der gesetzlichen Verpflichtungen ist, denen er sich unterwirft (Stein 1959c: 47, 124-125; Böckenförde 1972: 527). Der Staat ist aber nur die eine Seite einer Unterscheidung, deren andere die Gesellschaft als der Ort von Einzelinteressen ist. Freiheit ist hier kein Fremdwort,
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realisiert sich allerdings nicht über Allgemeinheit, sondern gerade im Gegenteil über die Aneignung von Besitzrechten im Sinne des Ausschlusses aller anderen davon. Am Eigentum bestimmen sich also Bildung, Status und Glück der individuellen Persönlichkeit (Stein 1959a: 136; Stein 1971: 65). Angesichts dessen verbieten sich im Ökonomischen auf Gleichheit abstellende Bestandsgarantien, wie sie der Staat vorschreibt, von selbst. So wenig die Erwerbsgesellschaft die Arbeits- und Eigentumsverteilung verbindlich vorschreiben kann, so wenig darf sie dann jedoch auch das Prinzip der Gleichheit des Erwerbsrechts als der „(...) Möglichkeit für die Einzelnen, aus der niederen gesellschaftlichen Stufe, auf der sie stehen, durch ihre Arbeit zu einer höheren emporsteigen zu können“ (Stein 1956: 77) einschränken. Im Gegensatz zur staatlichen Sphäre kann eine kapitalistische Industriegesellschaft, und auf diese sind moderne Nationalstaaten nun einmal zunehmend angewiesen, ihr Entwicklungspotential nur unter der Bedingung voll ausschöpfen, dass sich ihr keine unerfüllbaren Gleichheitsansprüche in den Weg stellen, eben weil sie auf die durch die individuellen Bedürfnisse kontinuierlich veranlasste Reorganisation der Arbeits-, Erwerbs- und Eigentumsbedingungen angewiesen ist. Der jeweilige Grad individueller Freiheit in der Gesellschaft bestimmt sich also gerade am je wechselnden Bedingungsverhältnis von Arbeit und Güterverteilung, das zugleich das individuelle wie das gesellschaftliche Entwicklungs- und Freiheitspotential birgt (Stein 1956: 84-86; Stein 1959a: 135). Oder um es in abgewandelter Form nochmals zu formulieren: Wo Arbeit ist, da ist individuelle Entwicklung und andersherum. Das Bezugsproblem individueller Freiheit und Gleichheit liegt für Lorenz von Stein also gerade nicht in der Exklusivität des Eigentums, sondern im grundsätzlichen Ausschluss von der Möglichkeit, solches zu erwerben. Die daraus folgenden unnatürlichen, weil nicht mehr im freien Spiel der ökonomischen Kräfte revidierbaren Abhängigkeitsverhältnisse müssen das Individuum zwangsläufig an der freien Entwicklung seines Potentials hindern. Mehr noch: Sie schlagen unwillkürlich auf die politischen Herrschaftsverhältnisse durch und erzeugen so auch hier Unfreiheit und Ungleichheit. Enteignung aber bietet dann nicht nur keine Abhilfe, sondern wirkt sich geradezu fatal auf den eigentlichen Zweck der Persönlichkeitsbildung und der Gesellschaftsentwicklung aus. Das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Staat lässt sich aus dieser Sicht allein in einem beiden übergeordneten gemeinsamen Interesse auflösen. Darin liegt die eigentliche Garantie individueller Freiheit und Gleichheit, da es die immanente Variation und Dynamik selbsterarbeiteten Eigentums zum politisch schützenswerten Prinzip erhebt. 4.1.4 Geschichte der Praxis und Praxis der Geschichte „Es ist möglich, das Kommende vorherzusagen, nur daß man das einzelne nicht prophezeien wolle“ (Stein 1959c: 194). Ein Satz, den auch Machiavelli hätte prägen
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können. Das Bedingungsverhältnis von Vergangenheit und Zukunft stellt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings als ein ganz anderes dar als noch in der frühen Neuzeit (Koselleck 1989d: 87, 89). Denn ist es dieser vor dem Hintergrund der Wiederholbarkeit der Geschichte noch um die Beispielhaftigkeit vergangener Situationen zu tun, geht es jener um die Undurchsichtigkeit einer Zukunft, deren Voraussagbarkeit auf der Irreversibilität der Vergangenheit beruht (Pankoke 1977: 97, 99; Koselleck 1989a: 156). Dabei lässt sich sowohl im materialistischen wie auch im Stein’schen Denken ein wechselseitiger Zusammenhang von Deutbarkeit historischer Ereignisse im Kontext der Geschichte, Prognosefähigkeit der Wissenschaft und Fortschrittsdenken beobachten, wenn auch in je unterschiedlicher Ausformung. So geht es Marx und Engels im revolutionären Fortschreiten der Geschichte primär um die Vervollständigung derselben in einem letztlich nicht-geschichtlichen Zustand. Oder, um es mit Koselleck zu formulieren, um die „Permanenzerklärung der Revolution“ (Koselleck 1989e: 82). Für Stein hingegen steht die „systematische, aus Gründen entwickelte Prognose“ (Böckenförde 1972: 515; Betonung im Original) im Vordergrund, um daran die Realisierbarkeit von Alternativen gesellschaftlicher Entwicklung zu erarbeiten. Oder nochmals mit Koselleck: „Stein stellte rationale Bedingungsprognosen, die auf der umgrenzten Bahn des Müssens einen breiten Spielraum des Könnens freilegten. Seine Voraussagen enthielten also Lehren der Geschichte; aber Lehren, die nur mittelbar in die Praxis zurückwirkten, weil sie das Unabänderliche klarstellten, um die Freiheit des Handelns auszulösen“ (Koselleck 1989d: 95).102 In beiden Denkzusammenhängen erweist sich „die Geschichte“ als vom Menschen gemachte, diese aber zugleich transzendierende, objektive Triebfeder des Wandels. Eben weil sie mehr ist als die Summe ihrer Ereignisse, entzieht sie sich dem unmittelbaren Zugriff des Einzelnen. Denn dies würde bedeuten, Willkür und Zufall zu Ursachen zu machen. Dem wohnt allerdings nach diesem Verständnis ebenso wenig eine sinn- und handlungsstiftende Funktion inne wie der Behandlung von Geschichte als bloße Chronologie. Gerade weil sich Geschichte als eine über den Köpfen der Beteiligten entfesselnde Kraft darstellt, erweist sie sich letztlich als deut- und gestaltbar (Koselleck 1989d: 89). Allerdings eben immer nur im Bezug auf die je herrschende Gegenwart, die wiederum ihre Bedeutung durch Einordnung in das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft gewinnt. Im materialistischen Denken drückt sich dies im Verständnis der Geschichte als der wahren Naturgeschichte des Menschen aus (Marx 1962: 604). Gemeint ist 102 In diesem Sinne fällt die Einordnung der Übergangszeit zwischen gestern und morgen für Stein schon wesentlich positiver aus als noch für Fürst von Metternich: „Denn indem es [das aus der Prognose Abgeleitete – Anm. d. Verf.] die höhere Stufe der Entwicklung enthält, zeigt es uns das Ziel, nach welchem wir streben sollen. Es lehrt uns, mitten in den scheinbar verzweifelten Zuständen die endliche Lösung hoffen und den Mut im Kampfe für das Bessere durch den Glauben an seine Zukunft festhalten. Es zeigt uns endlich, welchen Weg auch wir schon jetzt einzuschlagen haben, und läßt uns unter den Trümmern der zusammenstürzenden Verhältnisse die schon emporsprossenden Keime besserer Dinge erkennen und begrüßen“ (Stein 1959c: 195).
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damit, dass Mensch und Geschichte in der (individuellen) Arbeit als ihrem gemeinsamen Ursprung ruhen. Oder kürzer: Wo Geschichte ist, ist Arbeit; wo Arbeit ist, ist Geschichte. Eben dieses Beziehungsverhältnis ist grundsätzlich nicht sozial bestimmt, wenn es sich auch immer nur in je herrschenden sozialen Bedingungen realisiert. Die erste geschichtliche Handlung ist dann nichts weniger als die Erzeugung des Lebens selbst (Marx/Engels 1978: 28). „Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen“ (Marx/Engels 1978: 21). Daran wird deutlich, dass das materialistische Verständnis mit einem doppelten Verständnis von Geschichte als Geschichte und Nichtgeschichte arbeitet. Denn historische Entwicklung ist erst dann denkbar, wenn es mehr als einen Produktionszustand gibt, wenn sich die Gesellschaft unterscheiden kann – von sich als einem anderen als dem ursprünglichen Produktionszustand. Das setzt andersherum voraus, dass in Arbeit zugleich die natürlichen Ausgangsbedingungen und die Modifikationsmöglichkeit derselben wurzeln. Erst Arbeit konstituiert die Unterscheidung von Zeit in der Zeit und übernimmt damit die Funktion einer ersten Asymmetrie der gesellschaftlichen Grundbedingungen. Die den Produktionsverhältnissen, denn nichts anderes bekommt man nach dem materialistischen Geschichtsverständnis ja in den Blick, innewohnende Dynamik sorgt mithin ganz von selbst für gesellschaftlichen Wandel, indem sie immer wieder – bildhaft gesprochen – den Bogen der Triebfeder der Geschichte spannt, der sich regelmäßig im revolutionären Umbruch der ökonomischen, politischen und ideologischen Verhältnisse entlädt. Geschichte konstituiert sich dann immer zugleich als Geschichte der Exploitation und als Geschichte der Emanzipation (Marx/Engels 1946: 33; Marx/Engels 1978: 45). Der Ausgangspunkt der verschiedenen historischen Stufen menschlicher Entwicklung liegt dabei in der ursprünglichen bzw. naturwüchsigen Gesellschaft. Deren Produktionsbedingungen stellen sich als noch weitgehendst unentwickelt dar, da sie allein auf die Selbstgenügsamkeit der Familie und des Stammes abzielen. Arbeitsteilung ist, wenn überhaupt, nur innerhalb derselben vorhanden. Ähnlich stellt es sich mit den Herrschaftsverhältnissen dar: Sie sind rein patriarchalisch strukturiert. Eigentum existiert ausschließlich in der Form von Grund- bzw. Stammeigentum. D.h. die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft stellt in diesem Stadium die einzige Bedingungsmöglichkeit von Eigentum dar. Dessen Zweck liegt denn auch nicht in der Wertschöpfung als Selbstzweck, sondern in der Erhaltung der Gemeinschaft. Auch der Reflexionsstatus ist hier noch ein ganz undifferenzierter: Er erschöpft sich in der Vorstellung des Gegebenen als von Natur oder Gott gewollt (Marx 1966: 130132, 147; Marx/Engels 1978: 22, 61, 63). In der auf egalitären Prinzipien aufruhenden ursprünglichen Gesellschaftsform ist mit der in der „Familie latente[n] Sklaverei“ (Marx/Engels 1978: 22) die Differenzierung von Produktion und Produkt allerdings bereits angelegt. Sie findet mit dem Sklaventum in der antiken Polis ihre gesellschaftliche Institutionalisierung. Ne-
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ben dem Gemeinde- und Staatseigentum entsteht damit erstmals privates Mobiliareigentum.103 Die Produktionsbedingungen sind durch Sklavenarbeit bestimmt, was bereits eine stärker entwickelte Form der Arbeitsteilung voraussetzt. Die Herrschaftsverhältnisse – die Bürger als freie und gleiche Privateigentümer gegenüber den Sklaven als Besitzlose und Beherrschte – erweisen sich als historisches Produkt, mag die Selbstbeschreibung auf dieser gesellschaftlichen Stufe auch noch über einen göttlichen bzw. naturgegebenen Ursprung laufen (Marx 1966: 133-134; Marx/Engels 1978: 22-23, 24, 61). Die Entwicklung des feudalen Eigentums als Grundeigentum auf dem Land und als korporatives Eigentum in der Stadt markiert im materialistischen Verständnis den Wechsel zur ständischen Gesellschaftsform. Parallel dazu markiert die Ablösung der Sklaverei durch die an die Scholle gebundenen, leibeigenen Kleinbauern und die feudale Organisation des Handwerks in Zünften einen grundlegenden Wandel der Produktionsbedingungen. Dabei ist es der Adel, der die aus der hierarchischen Gliederung des Grundbesitzes folgende Herrschaftsstruktur dominiert. Und auch hier bleibt es zunächst bei der Vorherrschaft transzendenter Weltdeutung (Marx/Engels 1978: 24-25, 50-53, 62). Das ändert sich fundamental in der bürgerlichen Gesellschaft, die dem materialistischen Verständnis als der „wahre Herd und Schauplatz aller Geschichte“ (Marx/Engels 1978: 36) gilt. Das bürgerlich-industrielle Zeitalter kennt keinerlei Bindung mehr an Boden oder Menschen, sondern nur mehr das auf ganz egoistische Ziele fixierte Individuum. In der vollständigen Unterwerfung des Produktionsprozesses unter sich selbst repräsentiert es die komplette Trennung von Arbeit und Eigentum gestützt durch metaphysische und utilitaristische Theorien (Marx/Engels 1946: 35; Marx 1966: 164; Marx/Engels 1978: 59). „Aller Reichtum ist zum industriellen Reichtum, zum Reichtum der Arbeit geworden, und die Industrie ist die vollendete Arbeit, wie das Fabrikwesen das ausgebildete Wesen der Industrie, d.h. der Arbeit ist und das industrielle Kapital die vollendete objektive Gestalt des Privateigentums ist. Wir sehen, wie auch nun erst das Privateigentum seine Herrschaft über den Menschen vollenden und in allgemeinster Form zur weltgeschichtlichen Macht werden kann“ (Marx 1962: 589; Betonung im Original).
Der bürgerliche Staat ist dann weit davon entfernt, die eigenen demokratischen Ansprüche zu erfüllen, gerade weil er selbst nur wieder der Ausdruck der Interessen der herrschenden Klasse über die beherrschte ist (Marx/Engels 1946: 35; Marx/Engels 1978: 62). Ihre Auf- bzw. Ablösung findet die bürgerliche Gesellschaft schließlich in der kommunistischen Gesellschaft als der in der Zukunft liegenden Aufhebung aller Unterschiede. Sie stellt in der Verallgemeinerung der Eigentums-, Produktions-, Herrschafts- und Bewusstseinsbedingungen den radikalsten Bruch mit allen vorhergehenden Epochen dar, begründet durch die vollständige Aufhe103 Eine Form, die erstmals auch Verluste zulässt. Mit der wesentlichen Konsequenz, dass in dieser Stufe der außerordentlichen Akkumulation von Eigentum der Verlust der Qualität als Gemeindemitglied des Besitzlosen gegenübersteht (Marx 1966: 148).
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bung des Privateigentums. Damit aber kommt die Geschichte zu ihrem Ende – sie wird zur Nichtgeschichte, eben weil die sozialen Bedingungen in der Identität mit sich selbst nicht mehr zeitimmanentes Ergebnis partikularer Voraussetzungen sind, sondern als allgemeine Bedingungen Bedingungen der Allgemeinheit und sich exakt dessen bewusst (Marx/Engels 1946: 46-48; Marx 1962: 594; Marx/Engels 1978: 33). Liegt der Fokus der Inanspruchnahme der Zukunft bei Marx und Engels in der Vervollständigung einer Geschichte, deren Teil sie selbst sind, geht es für Stein demgegenüber um das Problem, aus der Geschichte fundierte Prognosen zu gewinnen, deren Teil er als je gegenwärtiger Beobachter zwangsläufig sein muss. Ein Dilemma, das seine Lösung in der unhintergehbaren Natur der Gesellschaft als universalem Vergleichsgesichtspunkt findet. Sie ist sich in diesem Verständniszusammenhang Struktur und historische Entwicklung, statisch und dynamisch zugleich (Stein 1959a: 66). Oder anders gesagt: Gesellschaftlicher Wandel fordert immer wieder zum Handeln heraus und setzt so wiederum gesellschaftlichen Wandel frei. In diesem Sinne ist die Zukunft nicht bloß der verlängerte Arm der Vergangenheit, sondern jeden Moment wieder neu und anders – ein dauerndes Werden (Pankoke 1977: 100). Wissenschaftlich fundierte Aussagen über die Zukunft lassen sich demgemäß nur dann treffen, wenn sie beides zugleich berücksichtigen: Aus den Strukturaussagen leiten sich Bewegungsaussagen ab, die wiederum erst den Strukturaussagen ihren Platz im Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft zuweisen. Eine Vorstellung, die revolutionäre Veränderungen gerade mit Blick auf die zeitgenössische Situation in Deutschland nur als „Pathologie der Gesellschaft“ (Stein 1956: 91) deuten kann. Die Betonung liegt hier ganz auf der Langfristigkeit gesellschaftlichen Wandels (Stein 1959a: 62-63). Ähnlich wie im materialistischen Verständnis geht die geschichtliche Entwicklung auch hier von einer Art „Idealzustand“ aus, wie sie auf einen ebensolchen abzielt, allerdings nicht als Besitzlosigkeit, sondern als Erwerbsfreiheit.104 Der Durchlauf durch die verschiedenen geschichtlichen Stufen versteht sich dann auch hier als das kontinuierliche Scheitern verschiedener Gesellschaftsund Herrschaftsentwürfe, an denen sich die gesellschaftliche Entwicklung auf eine jeweils neue Version ihrer selbst hin vollzieht. Mit der Stammesordnung setzt Stein denn auch seinen historischen Ausgangspunkt (anders als Marx und Engels) in einer Gesellschaftsform, die im familiär orientierten Stammesbesitz bereits eine zumindest marginal differenzierte Eigentumsform kennt. Sie findet ihre weitere historische Ausarbeitung am Grundbesitz, 104 Der gesellschaftliche Zweck einer Wissenschaft der Gesellschaft muss sich entsprechend im Stein’schen Verständnis anders darstellen als im materialistischen. Denn „(...) die Wissenschaft der Gesellschaft zeigt, wie diese Verteilung der allgemeinen Aufgaben und Güter die Ordnung und Gestalt der menschlichen Gemeinschaft und damit das Maß der Verwirklichung der Idee der Persönlichkeit in dem einzelnen bedingt und erzeugt. Sie ist mithin die Wissenschaft der Entwicklung der einzelnen durch die Arbeit aller; und indem der einzelne selbständig mit dem Eigentum allen gegenübersteht und demnach die Bedingung der Wohlfahrt aller bildet, zeigt sie, wie der einzelne mit allen kämpft und wie demnach alle dem einzelnen helfen können und müssen“ (Stein 1971: 33; Betonung im Original).
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der die Familie von der Sippe zum Geschlecht aufsteigen lässt, und so die Geschlechterordnung als die „(...) ursprünglichste und einfachste Form der wirklichen menschlichen Gesellschaft“ (Stein 1956: 40) konstituiert. Sie geht in die Republiken des Altertums über, die in der Institution der Sklaverei eine erste Form der Unfreiheit der Arbeit kennen, denn mit dem Sklaven hat die Erwerbsarbeit ihren ursprünglichen Charakter verloren, kann dieser doch über keinen Besitz verfügen, wo er selbst ein solcher ist. Die darin nun willkürliche Verteilung des Eigentums begründet jedoch Auseinandersetzungen in Gesellschaft und Staat. Darin endet die den Gesellschaften innewohnende Harmonie von Arbeit, Erwerb und Eigentum und steuert ihrem Untergang entgegen (Stein 1959c: 148-155). Ablösung findet diese Ordnung in den mittelalterlichen Republiken des Lehnswesens bzw. der Ständeordnung, deren Eigentum sich als Grundbesitz und die Herrschaftsform als Grundherrlichkeit realisieren. Die Gesellschaft strukturiert sich in drei Stände – Grundherrn, Kirche und Gemeinden – und deren jeweiligen Besitzverhältnissen – Grundbesitz, geistiger Besitz, Erwerbsbesitz –, die sich gegenseitig ausschließen (Stein 1956: 41-42; Stein 1959c: 156-165). Und in eben dieser Undurchlässigkeit der Erwerbs- und Eigentumsordnung liegt wiederum der Keim des Untergangs und der Beginn der Republik der industriellen Gesellschaft. Diese zeichnet sich durch das Prinzip der absoluten Erwerbsfreiheit und des kapitalistischen Besitzes aus. Ähnlich wie im materialistischen Verständnis sieht auch Stein in dieser Stufe die Steigerung aller ökonomischen Gegensätze in eine letzte Unterscheidung zwischen Kapital und Arbeit. Eine Bedingung, die Staat und Gesellschaft in ein radikales Spannungsverhältnis bringt. Denn muss sich der politische Raum spätestens seit der Französischen Revolution am Prinzip der Volkssouveränität messen lassen, steht dem in der gesellschaftlichen Sphäre die extreme Ungleichheit der Interessen von Kapital und Arbeit entgegen. Das Prekäre der Situation liegt aus dieser Sicht in der zwingenden Plausibilität der Verschmelzung von Forderungen nach politischer und sozialer Gleichheit (Stein 1956: 42-44; Stein 1974a: 10). So wird auch hier die Gegenwart zum geschichtlichen Ort von „prinzipiellen und systematischen Kämpfe[n]“ (Stein 1959c: 190) schlechthin. Diese aber finden ihre Auflösung in einer in der Zukunft liegenden Gesellschaft des gegenseitigen Interesses. Denn erst diese vermag die Aufhebung aller politischen und gesellschaftlichen Widersprüche in einer beide transzendierenden Sphäre der menschlichen Gemeinschaft zu leisten (Stein 1959c: 195). 4.1.5 Zum Praxischarakter des Wissens: Wissenschaft zur Revolution und Wissenschaft zur Reform Dass sich weder Marx und Engels noch Lorenz von Stein mit den als krisenhaft beschriebenen gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Zuständen zufriedengeben wollen oder können, dürfte ersichtlich geworden sein. Zum Ausdruck
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kommt darin nicht zuletzt der Praxisaspekt einer Wissenschaft, die sich als wirklichkeitsverändernd in sich selbst vorsehen muss. Die Wissenschaft wird zur Praxis, denn sie gestaltet die Verhältnisse mit, denen sie sich dankt. Sie geht in diesem Sinne immer schon von den wirklichen, d.h. wahren Voraussetzungen aus, eben weil sie ihre eigenen sind. Bedeutung gewinnt dies in der materialistischen Sichtweise im emanzipatorischen Effekt einer Wissenschaft zur Revolution. Hier geht es darum, „(...) die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern“ (Marx/Engels 1978: 42). Die Gesellschaftswissenschaft Stein’scher Prägung findet ihre Funktion demgegenüber im umsichtigen, planvollen Abfangen der revolutionären Kräfte durch den prognostischen Ausblick auf eine Zukunft, die sowohl die Verschärfung als auch die Lösung der zeitgenössischen Krise bereithalten kann. Sie versteht sich insofern als Wissenschaft zur Reform (Blasius 1977: 12-13; Pankoke 1977: 86, 95-96, 98). Vor diesem Hintergrund verwundert es dann vermutlich kaum, dass beiden Perspektiven ausgerechnet die besonderen Verhältnisse im Deutschen Reich als Testfall und Beweis für die Aussagekraft ihrer Ansätze dienen. Denn soweit Anachronismen in beiden Beschreibungen eigentlich nicht vorgesehen sind, erfolgt die Überarbeitung einer Epoche doch immer vollständig und restlos, ist es gerade deren Hartnäckigkeit, die die Widersprüchlichkeiten der deutschen Lage umso deutlicher vor Augen führen. So ist im materialistischen Verständnis die Bewährung in und an der Praxis entscheidend für den Wahrheits- bzw. Praxisgehalt einer Wissenschaft (Marx 1990: 5). Das erweist sich letztlich als empirische Frage, die solange verneint werden muss, bis man verstanden hat, dass es sich hierbei um eine empirische Frage handelt. Denn Wissen, das rein theoretisch fundiert ist, ist und bleibt ideologischer Natur. Es dankt sich immer den gegebenen (materiellen) Umständen, ohne dies selbst reflektieren oder deutlich machen zu können, und ist so dazu verurteilt, mit diesen auch wiederum aus der Mode zu kommen. Die Ideologiehaftigkeit des Wissens muss sich aus materialistischer Sicht jedoch im Fortschreiten der Geschichte zwangsläufig selbst entzaubern: „Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden“ (Marx 1959, 143). Sie ist revolutionär, eben weil sie in der Einsicht in ihr realitätsveränderndes Potential dasselbe gewinnt. Die materialistische Theorie ist in diesem Sinne die einzige, die die Allgemeinheit der menschlichen Praxis, nicht die Partikularität der herrschenden Verhältnisse, in den Blick bekommt: Sie ist der einzig mögliche, da wirkliche Bezugspunkt, auf den hin sich alle Verhältnisse zwangsläufig auflösen müssen. Darin aber verwandelt sie sich letztlich selbst in eine Wissenschaft zur selbst-revolutionären Tätigkeit (Marx 1981c: 349; Marx 1981d: 385; Marx 1990: 5-6; Fetscher 1999: 72-73). Weit entfernt von derartigen Bedingungen der Emanzipation stellt sich allerdings aus materialistischer Sicht der Status Quo in Deutschland dar. Das an Theorie bzw. metaphysische Kritik, aber eben nicht an Praxis gewöhnte deutsche Volk ist
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gar nicht erst dazu in der Lage, die notwendigen Ausgangsbedingungen einer bürgerlichen Revolution zu erreichen (Fetscher 1999: 41). Oder in Marx’ eigenen Worten: „Selbst die Verneinung unserer politischen Gegenwart findet sich schon als bestaubte Tatsache in der historischen Rumpelkammer der modernen Völker. Wenn ich die gepuderten Zöpfe verneine, habe ich immer noch die ungepuderten Zöpfe. Wenn ich die deutschen Zustände von 1843 verneine, stehe ich, nach französischer Zeitrechnung, kaum im Jahre 1789, noch weniger im Brennpunkt der Gegenwart“ (Marx 1981d: 379). Aufheben lässt sich der deutsche „Sonderfall“ aus dieser Sicht allerdings kaum mehr über nachholende Umwälzungen, sondern nur mehr in der allgemeinsten, der menschlichen Revolution selbst (Marx 1981d: 390391). Es geht Marx und Engels also letztlich darum, eine radikale Klasse in Deutschland zu begründen, die im Bewusstsein ihrer Lage endlich fordert, das Sièyes’sche Alles zu sein (Fetscher 1999: 42). Im Gegensatz zum materialistischen Verständnis weist im Denken Steins das Deutbare noch keineswegs auf das Wünschbare hin (Blasius 1977: 39). Die praktische Bedeutung einer derartigen Perspektive liegt gegen all jene Ansichten, die „(...) in unheilbarer Verwechslung des abstrakt Richtigen und praktisch Möglichen (...)“ (Stein 1972: 135) gewalttätig oder utopistisch geraten, nicht in der Radikalisierung der sozialen Verhältnisse, sondern in der Prophylaxe durch exakte Analyse und der Entwicklung von Alternativen. Auch dies kommt in sich selbst wieder vor, denn Stein beobachtet als typisches Zeichen seiner Zeit, dass sich ein zunehmend allgemeines Bewusstsein für die fundamentalen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Gesellschaft regt, eben weil es die Aufgabe der wissenschaftlichen Epoche ist „(...) den Widerspruch und die Forderungen der Zeit den Völkern zum Bewußtsein zu bringen“ (Stein 1959b: 114; Betonung im Original).105 Gerade für die nach wie vor in zahlreiche Kleinstaaten geteilten deutschen Lande gewinnt dies Bedeutung, da es in Steins Verständnis allein die Gesellschaftswissenschaft ist, die „(...) unserm Volke den Charakter der Einheit, den es an die Einzelnen ständig verliert, beständig wiedergibt (...)“ (Stein 1974b, 18).106 Die einzelstaatlichen Verfassungsbestrebungen, 105 Der Praxisbezug der Stein’schen wissenschaftlichen Beschreibungen tritt übrigens auch schon daran zutage, dass er seine Leser mehrfach dazu auffordert, Beschriebenes durch die Beobachtung eigener Erfahrungen zu bestätigen (Stein 1959a: 44; Stein 1956: 12). Hat man das „(...) ein einziges Mal mit dem Bewußtsein der Sache (...)“ (Stein 1959a: 44) getan, so ist die Einsicht in das Wahre und Wirkliche nicht mehr rückgängig zu machen. 106 Den auseinanderstrebenden Momenten der deutschen Gesellschaft scheint aus dieser Sicht ein selbstverstärkender Zug innezuwohnen: „Der Mangel der Einheit wird zu einem Reichthume der Gestaltungen, die kein anderes Land aufzuweisen hat, und die Besonderheit der individuellen Anschauungen, die centrifugale Verkehrtheit subjectiver Illusionen und klügelnder Arbeiten wird um so fester gehalten, je mehr sie oft genug die einzige Form ist, in der der Einzelne am allgemeinen Leben theilnehmen kann“ (Stein 1974b: 18). Eine nicht ganz unähnliche Beobachtung macht bereits 1788 Adolph Freiherr von Knigge (1752-1796) in der Einleitung zu seinem „Über den Umgang mit Menschen“. Wenn auch vor einem ganz anderen Hintergrund, geht es ihm doch um ein einheitliches, statusunabhängiges Sittengemälde, dem der geteilte Zustand jedoch ganz offensichtlich entgegensteht. „In keinem Lande in Europa
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vorneweg Preußens, das nach Steins Urteil nicht einmal die notwendigen historischen, ökonomischen bzw. gesellschaftlichen Bedingungen erfüllt, um berechtigterweise von der Existenz eines preußischen Volks auszugehen, erweisen sich vor diesem Hintergrund nicht nur als vergeblich, sondern als geradezu kontraproduktiv. Deutschland krankt primär daran, dass sich die Nationalstaatsbildungsprozesse auf einzelstaatlicher und gesamtdeutscher Ebene durchkreuzen und so ganz zwangsläufig gegenseitig paralysieren müssen (Stein 1959c: 189; Stein 1972: 119-134; Koselleck 1989d: 96). Die Bildung eines gesamtdeutschen Staats voranzutreiben aber traut Stein allein seinen eigenen gesellschaftstheoretischen Betrachtungen zu, gerade weil sie den Deutschen eine einheitliche Perspektive auf sich selbst zu geben vermögen, die in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht bislang noch gar nicht denkbar ist. Noch nicht, da eben „(...) erst jetzt zum Bewußtsein des praktischen Lebens und der Wissenschaft (…)“ (Stein 1974a: 1) kommt, was durch die „Geschichtlichkeit des Bewußtseins“ (Stein 1972: 121) bestimmt ist. Man kann nun sehen, dass das Stein’sche Denkgebäude in sich selbst wieder auftaucht: Die zeitgenössische fehlende staatliche Einheit, bis heute mitunter als ein Manko – so etwa im Begriff der „verspäteten Nation“ (Plessner 2001) – der Nationalstaatsbildung Deutschlands gedeutet, weist für Stein dann grundlegend darauf hin, dass das deutsche Volk noch nicht verstanden hat, worüber aufzuklären das Stein’sche Denken eigentlich angetreten ist. Gesellschaftswissenschaft wird darin zur sozialen Reformkraft, die „(...) die Erziehung des Geistes im Einzelnen wie im Ganzen übernimmt, und so durch das Zusammenwirken der Gedanken die Wahrheit zur Herrschaft in jedem Einzelnen bringt. In diesem Sinne und in keinem andern ist die Erziehung des deutschen Volks eine wissenschaftliche. Wie dieselbe einerseits von dem Charakter dieses Volks erzeugt wird, so erzeugt sie andererseits wieder ihren eigenen Grund; und ohne diesen innern Drang aller Bewegungen in Deutschland zu kennen, wird man schwerlich den äußern seiner Geschichte verstehen“ (Stein 1974b: 19).
Gegen das revolutionäre Scheitern in Frankreich liegt also für Stein in der Langfristigkeit wissenschaftlicher Aufklärung der bewusst, frei und selbstbestimmt eingeschlagene Weg, der aus den Deutschen eine Nationalgesellschaft machen soll, indem sie den Einzelnen Bildung und Erziehung angedeihen lässt, die diesen als Anist es vielleicht so schwer, im Umgange mit Menschen aus allen Klassen, Gegenden und Ständen allgemeinen Beifall einzuernten (...) als in unserm deutschen Vaterlande; denn nirgends vielleicht herrscht zu gleicher Zeit eine so große Mannigfaltigkeit des Konversationstons, der Erziehungsart, der Religionsund andrer Meinungen, eine so große Verschiedenheit der Gegenstände, welche die Aufmerksamkeit der einzelnen Volksklassen in den einzelnen Provinzen beschäftigen. Dies rührt her von der Mannigfaltigkeit des Interesses der deutschen Staaten gegeneinander (...). Und das alles wird nicht durch gewisse, dem ganzen Volke merkbare allgemeine Nationalbedürfnisse, Volksangelegenheiten, Vaterlandsnutzen konzentriert, wie in England, wo Aufrechterhaltung der Konstitution, Freiheit und Glück der Nation, Flor des Vaterlandes, der Punkt ist, in welchem sich das Streben, Dichten und Trachten so mancher originellen Charaktere vereinigt, noch wie in fast allen übrigen europäischen Ländern, die entweder unter einem einzigen Oberhaupte stehen oder durch ein einziges, allen Gliedern wichtiges Interesse beherrscht werden (...)“ (Knigge 1977: 24-25).
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spruchs- und Zurechnungsadresse öffentlicher Angelegenheiten konstituiert (Pankoke 1977: 92). Bildung wird zur öffentlichen Angelegenheit und das im Sinne der Herstellung nationaler Einheit. Praktischer kann Gesellschaftswissenschaft nun wirklich nicht sein. 4.2 Von Eigentum zu Wissen: Die Vorherrschaft kognitiver Erwartungen in der post-industriellen Gesellschaft Gut 150 Jahre nach Veröffentlichung der ersten Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels und Lorenz von Stein sind es Autoren wie Daniel Bell oder Alain Touraine, die erstmals in den 1970er Jahren von einem grundlegenden Wandel der Industriegesellschaft zur post-industriellen bzw. post-kapitalistischen Gesellschaft sprechen. Eine Beobachtung, die bis in die Gegenwart nicht an Plausibilität verloren hat. Peter Drucker, Nico Stehr, Manuel Castells, Ulrich Beck – nur einige wenige Namen, die mit Bezeichnungen wie post-kapitalistische, Wissens-, Informations- oder Netzwerkgesellschaft bzw. einer Gesellschaft „Jenseits von Klasse und Stand“ (Beck 2003: 121) auf einen ganz ähnlichen Bezugspunkt hin für einen fundamentalen Strukturwandel des Sozialen plädieren. Was all diesen Perspektiven trotz ihrer offensichtlichen Differenzen gemeinsam ist, ist die Vorstellung, dass die Gegenwart von einem Umbau der grundlegenden Bedingungen sozialer Reproduktion von solchen materieller zu solchen wissensbasierter Art gekennzeichnet ist. Das scheint ob aktueller Entwicklungen durchaus plausibel: In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in den führenden Wirtschaftsnationen Unternehmen, Arbeitsplätze und Güter zunehmend aus dem Produktions- in den wissensbasierten (tertiären) Sektor verlagert (Willke 2001: 382-391). Die Kalkulierbarkeit ökonomischer Krisen und ökologischer Katastrophen spielt angesichts ihrer grundsätzlich weltweiten Auswirkungen eine immer größere Rolle. Exzellenzinitiativen nationaler Bildungssysteme sollen nicht nur Absolventen, sondern auch Forschungs- und Wissenschaftsstandorte wettbewerbsfähig für einen internationalen Forschungsmarkt machen.107 Das Wissen in Gentechnik und Medizin erlaubt inzwischen Eingriffe in die Natur des Menschen, die bis vor kurzem noch ganz und gar unantastbar schien. Das bringt nicht nur ethische Fragen mit sich, sondern zeitigt gerade auch erhebliche ökonomische Konsequenzen, nicht zu sprechen vom politischen und juristischen Konfliktpotential. Patentrechte gelten heute weniger als Indikatoren für das Wachstumspotential nationaler Ökonomien. Sie sind selbst zum handelbaren Gut geworden, die im Erwerb exklusiver Nutzungs- und Vermarktungsrechte etwa auf Nahrungsmittel und (Heil-)Pflanzen gerade für diejenigen Produzenten an Relevanz gewinnen, die 107 Zur Konstruktion akademischer Elite durch Exzellenzinitiativen in Deutschland siehe etwa die aktuelle Untersuchung von Richard Münch (Münch 2007a).
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davon systematisch ausgeschlossen sind.108 Im Folgenden sollen nun einige der oben genannten Perspektiven näher dargelegt werden. Dass die Untersuchung dabei den je spezifischen Darlegungen nicht den ihnen gebührenden Platz einräumen kann, schuldet sich dabei allein der Konzentration auf die für die Fragestellung ausschlaggebenden Argumente. 4.2.1 Zur soziostrukturellen Bedeutung von Wissen in der post-kapitalistischen Gesellschaft Wie bereits erwähnt, treffen sich die Ausführungen der genannten Autoren in der grundlegenden Beobachtung soziostruktureller Diskontinuität der gesamtgesellschaftlichen Grundbedingungen. Dabei besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die klassischen materiell-ökonomischen Faktoren, Arbeit und Eigentum, zunehmend von kulturellen bzw. symbolischen Produktionsbedingungen als strukturgebendes Prinzip und Motor der gesellschaftlichen Entwicklung abgelöst werden (Habermas 1970: 79-80; Touraine 1972: 30, 87; Bell 1975: 54, 366-367; Stehr 2001: 11-12; Drucker 1993: 4, 6-8).109 So schreibt etwa Manuel Castells: „Wegen der Konvergenz zwischen historischer Evolution und technologischem Wandel sind wir in ein rein kulturelles Muster sozialer Interaktion und gesellschaftlicher Organisation eingetreten. Dies ist der Grund, warum Information das Schlüsselelement unserer gesellschaftlichen Organisation ist und warum Ströme von Botschaften und Bildern zwischen Netzwerken den roten Faden unserer Gesellschaftsstruktur bilden“ (Castells 2001: 536).
Über ökonomischen Erfolg oder Misserfolg entscheidet heute also nicht mehr der Einsatz von Kapital und die Verfügbarkeit von Arbeit, sondern Wissen bzw. die durchrationalisierte Anwendung von Wissen auf Wissen. Wissen ist dann beides zugleich – Produktionsmittel und Produkt. Eine Entwicklung, die sich als ebenso irreversibel wie ungewollt erweist. Entgegen der marxistischen Ankündigung ist die post-kapitalistische Gesellschaft nicht das Ergebnis einer weltweiten, bewusst geführten revolutionären Umgestaltung, sondern ergibt sich quasi naturwüchsig aus der Industrialisierung selbst (Bell 1975: 115; Drucker 1992: 285). Dass es sich bei der Verselbständigung der industrialisierten Bedingungen und der Aufwertung sog. 108 So sprach etwa die US-Patentbehörde die Markenrechte für eine spezielle Sorte äthiopischen Kaffees zunächst der amerikanischen Kaffeekette Starbucks zu. Erst nach diversen Protesten der Regierung Äthiopiens und Umsatzeinbrüchen durch Protestaktionen zog Starbucks den Antrag zurück (o.V. 2007: o.A.). Ähnlich der Fall eines amerikanischen Saatgutunternehmens, das 1997 ein Patent auf indischen Basmati-Reis anmeldete (Schäfer 2001: 126). 109 Die grundlegenden ökonomischen Entwicklungen, die dazu geführt haben, werden dabei im Kern von allen hier genannten Autoren ähnlich beschrieben. Neben einem Bedeutungsrückgang der Primärgüter, den entsprechenden qualitativen Veränderungen von Produktionsprozess, Beschäftigungsverhältnis und Qualifikationsbedingungen sowie dem Übergang von der Arbeits- zur Konsumgesellschaft zählt dazu gerade auch die steigende Bedeutungslosigkeit von Zeit und Ort für Produktion und Handel von Waren bzw. Dienstleistungen (Beispiel Stehr 1994: 297-313, 326-338, 341-345).
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„’knowledge industries’“ (Drucker 1992: 263) um eine globale Entwicklung handelt, ist dabei – so Daniel Bell – weniger dem technologischen Fortschritt anzulasten als der neuartigen, an die Grenzen des Sozialen schlechthin stoßenden Reichweite und Sichtbarkeit von Kommunikation. „Der wirkliche Schrittmacher des Wandels aber waren nicht diese verschiedenen technologischen Errungenschaften, sondern die zunehmende Verdichtung des sozialen Systems, die zur Eingliederung bislang abgeschnittener Regionen und isolierter Volksklassen in die Gesellschaft und durch umwälzende Neuerungen im Kommunikations- und Transportwesen zu einer beträchtlichen Aktivierung der Kontakte und zwischenmenschlichen Beziehungen geführt hat“ (Bell 1975: 52).
Damit verlieren Arbeit und Kapital ebenso wenig ihre Bedeutung wie die Gesetze der Nationalökonomie, allerdings eben nicht mehr als primäre strukturbildende Elemente. Denn die Eigenheit der gegenwärtigen Gesellschaft liegt darin, vermehrt auf selbsterzeugte Problemlagen und Zwänge zu stoßen, die allerdings mit Hilfe der „(...) Lösungspotentiale herkömmlicher Organisationsformen und Wertvorstellungen (...)“ (Stehr 2001: 382) nicht mehr zu bewältigen sind (Bell 1975: 19; Stehr 1994: 522-523; Stehr 2000: 314). Denn so Nico Stehr: „Wissen ist anders“ (Stehr 2001: 375). Dessen Eigenheit liegt gerade darin, sich den Kontrollinstrumenten zu entziehen, die nach wie vor auf die Produktionsbedingungen der modernen Industriegesellschaft zugeschnitten sind. Dies zu heilen, denn dahin geht der Anspruch, setzt allerdings zunächst einmal die Einsicht in die grundlegend veränderten sozialen Bedingungen als Bedingungen des Wissens voraus. Es gilt, dessen fundamental soziale, nicht intellektuelle Qualität zu verstehen. Das Wissen der post-industriellen Gesellschaft ist mehr als nur wissenschaftliche Wahrheitssuche: Es ist die gestaltende Teilhabe an den kulturellen, d.h. maßgeblichen Strukturbedingungen der Gesellschaft. Nicht der Wahrheitsgehalt von Wissen ist dann ausschlaggebend, sondern dessen Lösungsfähigkeit gesellschaftlicher Problemlagen. Es konstituiert sich auf seine Art als pures Anwendungswissen, das nicht neutral ausfällt, sondern ideologisch unterfüttert ist.110 Es kann ebenso als wissenschaftliches, aber eben auch als Alltags-, vorläufiges, ja sogar als Nichtwissen gesellschaftliche Relevanz gewinnen (Touraine 1972: 16; Drucker 1992: 265-266; Stehr 2000: 78-79). Das bedeutet aber auch, dass postindustrielles Wissen niemals absolut sein kann. Es sichert sich selbst seine eigene Existenz zu und (re-)produziert darin zwangsläufig jene Risiken und Ängste, denen – sisyphosgleich – nur mit neuem Wissen zu begegnen ist, das wiederum neue Unsicherheiten produziert (Stehr 1994: 20). Ebenso findet das Wissen der postindustriellen Gesellschaft seine klassische Verortung nicht mehr in der Wissenschaft, sondern ist diffus verteilt und durchbricht damit die traditionelle Unterscheidung von privat und öffentlich. Gegenüber 110 Gerade das Verständnis von Wissen als rein kognitives Projekt kann – so etwa Nico Stehr – dieses nur als Anhängsel bereits bestehender ökonomischer bzw. politischer Machtverhältnisse verstehen und muss dessen gesamtgesellschaftliche Bedeutung als emanzipatorische Kraft grundsätzlich unterschätzen (Stehr 1994: 40; Stehr 2000: 78). Mehr dazu siehe Kapitel 4.2.2.
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der Eindeutigkeit und Zurechenbarkeit von Arbeit und Kapital – man kann schließlich sehen, wer Geld hat und wer arbeiten muss – weist es einen hohen Grad relativer Autonomie auf und produziert dadurch ein exponentiell wachsendes, zunehmend unkontrollierbares Volumen permanent wechselnder, ungleich verteilter Handlungszusammenhänge (Bell 1975: 52; Stehr 1994: 520-521; Stehr 2000: 143, 312). Schließlich erweist sich postindustrielles Wissen als im hohen Grade kontextabhängig: Es steht und fällt mit den Beteiligten und den jeweiligen Interpretations-, Verhandlungs- bzw. Argumentationskontexten (Touraine 1972: 9-10, 195; Stehr 2000: 143). Oder wie Peter Drucker den strukturellen Wandel des Wissens prägnanter auf den Punkt bringt: „We have moved from knowledge in the singular to knowledges in the plural“ (Drucker 1993: 45). Büßen Eigentum und Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft ihre strukturellen Gestaltungskräfte ein, so kann es andersherum den Institutionen einer Industriemoderne, vorneweg dem Nationalstaat und der Klassengesellschaft, nicht anders ergehen. Das konstituiert ebenso die Unkontrollierbarkeit der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse wie sie sie als Diskrepanz überhaupt erst sicht- und als Krise benennbar macht, eben weil sie sich nicht von selbst einregulieren. Oder wie Touraine formuliert. „Die Zugehörigkeit zu Primärgruppen und zu stark strukturierten Gemeinschaften war die Voraussetzung für eine schöpferische Mitbestimmung an den gesellschaftlichen und kulturellen Werten in einer Gesellschaft, in der die Kultur ein System von Bedeutungen war, die mit der beruflichen und unmittelbar erlebten gesellschaftlichen Erfahrung verbunden waren; in einer Massenzivilisation ist sie nur noch der Ausdruck für einen unvermeidbaren kulturellen Rückzug, für eine schwache Mitbestimmung an den Werten der Gesellschaft“ (Touraine 1972: 210; Betonung im Original).
Gerade die Gegebenheit eines kulturellen bzw. symbolischen Hintergrunds, wie sie die Industriemoderne mit Nationalstaat und Klassengesellschaft so erfolgreich zu simulieren verstand, lässt sich in der Gegenwart nicht mehr ohne weiteres rekonstruieren. Die Wissensgesellschaft stellt sich in einem bisher nicht gekannten Maß selbst zur Disposition, entzieht sich darin allerdings zugleich – so der allgemeine Tenor – der Möglichkeit weitreichender, unmittelbar gestaltender Zugriffe auf das Soziale. Denn „(...) je größer das Potential der Realisierung von Wissen auf der kollektiven Ebene, um so geringer ist die Fähigkeit selbst größerer sozialer Einheiten, schicksalhaften Einfluß nehmen zu können“ (Stehr 1994: 213; Betonung im Original). Die enorme Steigerung der Entscheid- und Gestaltbarkeit der sozialen Strukturen lässt die individuellen Handlungsfähigkeiten disproportional ansteigen. Das muss andererseits mit einer erneuten Reduzierung der Reichweite gesellschaftlichen Eingriffs bezahlt werden. Damit ist aber auch klar, dass sich das althergebrachte Vertrauen in Wissenschaft und Technik als Garant von Sicherheit, Planbarkeit und effizienter Beherrschung der gesellschaftlichen Verhältnisse zunehmend als frommes „(...) Wunschdenken der Kontrolleure (...), die davon überzeugt sind, alles fest im Griff zu haben (...)“ (Stehr 1994: 480), enthüllt. Denn Wissen trägt eben immer
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auch den Kern des Zweifels, der Gegenwehr, Verweigerung, Uminterpretation, Ablehnung oder Neubestimmung in sich. Kurz: Wissen produziert weniger Sicherheit als einen sich selbst verstärkenden Kreislauf der Unsicherheit (Stehr 2000: 143, 285). Die Umstellung auf symbolische und kulturelle Repräsentationssysteme erweist sich aus dieser Sicht also weniger als Katalysator von Konsens als von Dissens. Oder anders gesagt: Gerade Wissen als neue soziostrukturelle Grundbedingung muss alle Hoffnungen und Erwartungen an eine weitaus effektivere, weil rationalere Handhabung sozialer Probleme fundamental enttäuschen. Auch die post-industrielle Gesellschaft bekommt es also nach herrschender Meinung wiederum mit gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und sozialen Konfliktlagen zu tun, an denen sich nicht zuletzt neue Klassenstrukturen festigen. Mögen diese auch poröser und diffuser ausfallen als noch in der kapitalistischen Industriegesellschaft, da sie nicht mehr an materiellen Verteilungskonflikten, sondern an den weitaus komplexeren Kontrollbedingungen gesellschaftlicher Wissenslagen entbrennen. Auch die post-industrielle Gesellschaft sieht sich erneut mit Ungleichheitsverhältnissen konfrontiert, die sich inzwischen allerdings eher an Kriterien wie Erziehung, Bildung, Qualifikation und flexibler Anpassungsfähigkeit festmachen. Oder an konkreten Gegensätzen formuliert: An Wissenschaftlern und Fachkräften gegenüber Minderqualifizierten wie bei Alain Touraine, professionalisierten Berufen gegenüber ungelernten Kräften wie bei Daniel Bell, Wissens- und Managementarbeitern gegenüber Servicearbeitern wie bei Peter Drucker oder an Experten gegenüber Laien wie bei Ulrich Beck (Bell 1975: 52-53; Touraine 1972: 21-23, 87; Drucker 1993: 96; Castells 2001: 532). Gerade darin sieht sich auch die postindustrielle Wissensgesellschaft erneut mit gesellschaftlichen Anspruchslagen konfrontiert. Oder wie Peter Drucker formuliert: „The social challenge of the post-capitalist society will (…) be the dignity of the second class in post-capitalist society: the service workers“ (Drucker 1993: 8; Betonung im Original). Andererseits rechnet sie dem Individuum zugleich Emanzipationschancen zu wie sie von diesem das Erdulden erneuter Ungleichheiten erwartet. Treffender hat dies Ulrich Beck formuliert: „Dies [die reflexive Verwissenschaftlichung – Anm. d. Verf.] ist eine Entwicklung von hochgradiger Ambivalenz: Sie enthält die Chance der Emanzipation gesellschaftlicher Praxis von Wissenschaft durch Wissenschaft; andererseits immunisiert sie gesellschaftlich geltende Ideologien und Interessenstandpunkte gegen wissenschaftliche Aufklärungsansprüche und öffnet einer Feudalisierung wissenschaftlicher Erkenntnispraxis durch ökonomisch-politische Interessen und ‚neue Glaubensmächte’ Tor und Tür“ (Beck 2003: 257; Betonung im Original).
Gerade die Kontingenz des Wissens – so die herrschende Meinung – macht politisches Entscheiden in der Wissensgesellschaft dann allerdings nicht überflüssig, sondern geradezu unentbehrlicher. Fragen von Entstehungsbedingungen, Ziel, Interpretation, Anwendung, Plausibilität bzw. Folgenabschätzung des Wissens klären sich weder logisch noch faktisch von selbst, noch können sie Experten überlassen bleiben. Vielmehr bestimmen sich an diesen erneut Verteilungs- und Zu-
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gangsbedingungen zu gesellschaftlichen Gestaltungschancen, die eben darin zwangsläufig gesellschaftsweite Relevanz entwickeln (Touraine 1972: 23-24; Bell 1975: 112-113; Drucker 1992: 367). Das ist offensichtlich tautologisch: Weil Wissenslagen alle gleichermaßen betreffen und alle an der Klärung ein Interesse haben müssen, können sie nicht wertneutral sein. Sie haben gesellschaftsweite Folgen, weil es sich um ganz grundlegende Entscheidungen handelt „(...) of values, of visions, of beliefs, of all the things that hold society together and give meaning to our lives“ (Drucker 1993: 47). Das macht die politische Gemengelage zugleich spannungsreicher bzw. komplexer, die postindustrielle Gesellschaft allerdings auch sozialer als es die industrielle Gesellschaft jemals sein konnte. Komplexer, weil – so Daniel Bell – „(...) Entscheidungen bewußt getroffen werden müssen und die Entscheidungszentren sichtbarer geworden sind“ (Bell 1975: 240). Daraus zieht Bell die grundlegende Folgerung, dass nicht die Wirtschaft, sondern das Politische als Ausfechtungsarena zwischen verschiedenen Interessen den eigentlichen gesellschaftlichen Ort der postindustriellen Gesellschaft konstituiert. Mögen sich (individuelle) Motive nun auch als durchrationalisierte und wissenschaftlich fundierte Argumente modellieren, die für sich immer schon Geltung in Anspruch nehmen, und dies im Aufeinandertreffen ganz offensichtlich nicht aufrecht erhalten können (Bell 1975: 264-265, 276). „Sozialer“, weil die postindustrielle Gesellschaft „(...) in ihrer Struktur in stärkerem Maße als Produkt des gesellschaftlichen Handelns anzusehen ist“ (Stehr 1994: 218). Oder wie Touraine es noch nah am materialistischen Denken formuliert, „(...) liegt (...) die Einzigartigkeit der Wissenschaft gerade darin, daß es ihr (zumindest bis jetzt) als einzigem Unternehmen in der menschlichen Gesellschaft gelungen ist, eine ‚permanente Revolution’ zu institutionalisieren“ (Bell 1973: 15). Die Umstellung auf kulturelle Grundlagen soziostruktureller Reproduktion erweist sich dabei in den Augen der genannten Autoren als weiterer Schritt bei der Verabschiedung von askriptiven Kriterien, eben weil die Gegenwart nicht mehr auf die Simulation gegebener Identitäten nationaler oder klassenspezifischer Zugehörigkeiten angewiesen ist. Die postindustrielle Gesellschaft ist dann in einem höheren Maße, wie Stehr nah an Parsons formuliert, eine „gemeinschaftliche Gesellschaft“ (Stehr 1994: 314; Betonung im Original), weil sie erstmals auf den Menschen selbst, nicht auf materielle Produktionsbedingungen ausgerichtet ist (Bell 1975: 374-375). Oder in den Worten Peter Druckers: „Historically, community was fate. In the post-capitalist society and polity, community has to become commitment“ (Drucker 1993: 178). Der höhere Abstraktionsgrad sozialer Integration ist allerdings nur dann aushaltbar, wenn er auf der anderen Seite durch ein Netzwerk personennaher, sich autonom organisierender Gemeinschaftsorganisationen zwischen rein privaten Lebensformen und großen gesellschaftlichen Institutionen aufgefangen wird, die sichtbar machen, was ansonsten nur diffus spürbar wäre (Drucker 1993: 178; Stehr 2000: 287, 288). Sie stellen die eigentlichen emanzipativen Orte der Wissensgesell-
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schaft dar, weil hier ebenso um Erkenntnisse gestritten wird wie strittige Erkenntnisse den Status gesellschaftlicher Konflikte erhalten (Stehr 2000: 290). „In ihren organisierten Aktivitäten spielen die Wertvorstellungen der einzelnen Akteure, ihre intellektuellen Fähigkeiten (knowledgeability) und ihre politischen Fähigkeiten eine herausragende Rolle. Neue soziale Bewegungen umfassen nicht nur eine Vielfalt von Handlungszielen, Organisationsstrukturen und -karrieren, sondern sie sind auch Ort der Aneignung, Interpretation, Innovation, Diffusion und praktisch-politischen Verwertung von Erkenntnissen oder Wissensressourcen. Die Bedeutung und die politische Effizienz dieser neuen Form der politischen Öffentlichkeit wächst mit der Zahl der Personen, die diese Art der Partizipation den traditionellen Formen politischer Repräsentation vorziehen“ (Stehr 2000: 292-293; Betonung im Original).
Und als Fähigkeit beherrschen – ließe sich ergänzen. Denn entgegen der elitedominierten Herrschaft in politischen Repräsentationssystemen erweisen sich aus dieser Sicht Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit wissensbasierten Ressourcen als Voraussetzung für die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, das sich daran als „demokratischer“ und „legitimer“ ausweist als es der konstitutionell verfasste Nationalstaat der Industrialisierung je war (Stehr 2000: 290). 4.2.2 Emanzipation durch Wissen und Wissen durch Emanzipation Die Steigerung der Komplexität der sozialen Sphäre in der postindustriellen Gesellschaft rechnet dabei bereits mit einem Individuum, das mit den ungleich komplexeren Bedingungen einer Wissensgesellschaft umzugehen versteht. Der Einbau neuer Freiheitsgrade in das Individuum erzeugt jedoch im gleichen Zuge auch neue Zwänge (Drucker 1992: 272). Denn ist die durch Arbeit und Eigentum konstituierte industrielle Gesellschaft von einer strikten Hierarchie in Wirtschaft und Politik gekennzeichnet, die Besitzer von Besitzlosen und Herrschende von Beherrschten trennt, beobachtet die Wissensgesellschaft an sich selbst die Auflösung derartiger eindeutiger Zuschreibungen. Die Kontingenz des Wissens erweitert den Kreis von Produzenten und Konsumenten auf „alle Gesellschaftsmitglieder“ (Stehr 2000: 308). Denn Wissen ist eine Bedingung der Person, allerdings nicht mehr die eines humanistisch gebildeten Bildungsbürgers. Nicht das in gesellschaftlichen Bildungssystemen angeeignete Wissen – so Peter Drucker – weist eine Person als gebildet aus, sondern die Fähigkeit, andere symbolische Kulturen und Denktraditionen vor einem globalen Wissenshorizont trotz oder gerade aufgrund deren Differenz als ebenso legitim anzuerkennen (Drucker 1993: 210, 213, 214-215). Damit einher geht einerseits eine Optionssteigerung individueller Gestaltungsmöglichkeiten, die die Emanzipation von traditionellen Großinstitutionen und Kollektivitäten der industriellen Gesellschaft erlaubt. Die Wissensgesellschaft befreit nach diesem Verständnis den Einzelnen aus dem Dasein jenes gesetzeskonformen, passiven Herrschaftsobjekts und macht ihn zum aktiv gestaltenden Subjekt, das sich in der praktischen Aneignung und Anwendung von Wissen zum selbstbewussten Gestalter seiner
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sozialen (Wissens-)Umwelt macht. Andererseits bedeutet dies zugleich erneute Stratifikation, da die Verwirklichung individueller Lebensstile und das Ausüben politischen Einflusses durch Zugang zu und Verteilung von Wissen bedingt sind (Stehr 1994: 208-209, 521-522; Stehr 2000: 79, 165, 315). Am deutlichsten scheint dies von allen genannten Autoren Alain Touraine zu formulieren. Für ihn liegt das strukturgebende Problem der Gegenwart nicht mehr in der ökonomischen Ausbeutung des Arbeiters, sondern in der kulturellen Entfremdung eines in durchrationalisierten Prozessen gefangenen Individuums. Nach den politischen und ökonomischen Ausgleichsprozessen der vergangenen 200 Jahre ist es nun die kulturelle Stellung des Einzelnen, die nach wie vor von einer herrschenden Elite bestimmt wird. Daran tritt auch in der postindustriellen Gesellschaft die Entkoppelung der Herrschaftsstrukturen zutage, allerdings nicht mehr von den ökonomischen, sondern den kulturellen Reproduktionsbedingungen derselben (Touraine 1972: 13-14). Rühmte sich die moderne Konsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts noch eines von selbst eintretenden sozialen Ausgleichseffekts, entdeckt Touraine im privaten Konsum die kulturelle Emanzipationschance aus dem eisernen Käfig eines technizistisch-rationalen, unpersönlichen Herrschaftsapparats: „Weil unsere Gesellschaft vom Wissen und von der Entwicklung gelenkt wird, weil sie technizistisch ist, statt von einem Bild des Menschen, der Gesellschaft und der Welt beherrscht zu sein, bringt das Individuum, das durch seine Persönlichkeit außerhalb seiner beruflichen und gesellschaftlichen Rollen definiert wird, neue Ansprüche darin [im Konsum – Anm. d. Verf.] zum Ausdruck“ (Touraine 1972: 228).
Sichtbar wird daran der Anspruch an das Individuum, sich in der kulturellen Wiedereinholung entfremdeter, weil rationalisierter Herrschaftsstrukturen zu emanzipieren, indem es sich selbst durch die Gestaltung der sozialen Bedingungen zum Produkt seiner selbst macht und darin seine Identität als Mensch wiedergewinnt. 4.2.3 Die wechselseitige Verschlungenheit der Zukunft des Wissens und des Wissens der Zukunft Im Gegensatz zum Vertrauen in einen langfristigen weltgeschichtlichen Zusammenhang wie Marx, Engels und Lorenz von Stein ihn formulieren, erweist sich das gegenwärtige Bild der Zukunft im besten Sinne als ernüchternd. Die Aussichten auf die Aussichten stehen schlecht. Der Zusammenhang zwischen Vertrauen in die Machbarkeit der sozialen Verhältnisse und Erwartungshorizont in die Zukunft verschiebt sich zusehends vom Optimismus der Uneinholbarkeit einer auf Fortschritt ausgerichteten Geschichte zur Skepsis der riskanten Flüchtigkeit des nächsten Augenblicks. Paradoxerweise ist es dabei aus herrschender Sicht die der Gegenwart attestierte Ausweitung des „Gestaltungsbereichs menschlichen Handelns“ (Stehr 2000: 303), die die Zukunft von heute aus betrachtet so unsicher und unbe-
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stimmbar macht. Die steigende Entscheidungsabhängigkeit gesellschaftlicher Strukturen drängt dabei ebenso den Eindruck einer grundlegenden Beschleunigung der sozialen Beziehungen auf wie sie die Kontingenzerfahrung von Wissensentscheidungen grundsätzlich verstärkt (Touraine 1972: 64; Stehr 1994: 517; Stehr 2000: 303; Castells 2001: 489-490). Damit drängt sich zusehends die Erfahrung einer grundlegenden „Zerbrechlichkeit der Verhältnisse“ (Stehr 2000: 310) auf. Die Prognosefähigkeit in eine unbekannte Zukunft fällt ob der Beschleunigung der Zeit nicht nur immer geringer aus. Mit der Schnelllebigkeit des Wissens wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Erwartete ganz anders eintreten wird als vorhergesehen (Stehr 2000: 148, 308; Beck et al. 2004: 30). Gerade weil die sozialen Bedingungen nun grundsätzlich Bedingungen des Wissens sind, ist die Zukunft immer weniger antizipierbar: Genauigkeit und Gültigkeit von Prognosen scheinen sich angesichts dessen eher zu reduzieren als zu potenzieren (Stehr 1994: 470). Oder anders gesagt: Man weiß heute nur noch, dass das heutige Wissen morgen schon von gestern sein wird, ohne dass das Heute grundsätzlich auf Wissen verzichten könnte. Das Dilemma ist unumgehbar: Nichtantizipierte Entwicklungen und Nebenfolgen verwehren den zuverlässigen Blick in die Zukunft und machen ihn doch gleichzeitig umso notwendiger (Stehr 1994: 348-349, 517; Stehr 2000: 310). Und damit ist eigentlich nur mehr eine Prognose mit Sicherheit zu treffen: „Wir können uns darauf verlassen, daß wir uns nicht auf die Zukunft verlassen können“ (Stehr 2000: 317). Am radikalsten formuliert dies von den hier behandelten Autoren sicherlich Manuel Castells als Netzwerkgesellschaft. Dabei ist es für ihn die enorme Weiterentwicklung der Kommunikationstechnologien, die aufs Engste mit der Transformation zu einem neuen Zeitregime verbunden ist, das die in der industrialisierten, nationalstaatlichen Moderne vorherrschende, auf ein konkretes Territorium bezogene Verständnis der Sequenz bzw. „Uhrenzeit“ (Castells 2001: 488) ablöst. „Diese lineare, irreversible, messbare, vorhersagbare Zeit [der modernen Gesellschaft – Anm. d. Verf.] wird in der Netzwerkgesellschaft in einem Vorgang von außerordentlicher historischer Bedeutung zerschlagen. Wir erleben jedoch nicht nur die Relativierung der Zeit den sozialen Zusammenhängen entsprechend oder als Alternative eine Rückkehr zur Reversibilität der Zeit, als ließe die Wirklichkeit sich vollständig in zyklische Mythen einfangen. Die Transformation geht tiefer: Es ist die Vermischung der Zeitebenen, in der ein Universum des Für Immer geschaffen wird, das sich nicht selbst ausdehnt, sondern sich selbst erhält, das nicht zyklisch ist, sondern willkürlich, nicht rekursiv, sondern inkursiv: zeitlose Zeit, die Technologie einsetzt, um den Kontexten ihrer Existenz zu entfliehen und um sich selektiv jeglichen Wert anzueignen, den der einzelne Kontext dem ständig Gegenwärtigen zu bieten hat. (...) Die Komprimierung der Zeit bis zum Äußersten ist gleichbedeutend damit, Zeitabfolge und damit Zeit verschwinden zu machen“ (Castells 2001: 489). Zu ein und derselben Zeit herrschen dann zwei ganz unterschiedliche Taktungen des Sozialen: Während die Verdichtung von Raum und Zeit auf globaler Ebene zu einem einzigen Zeithorizont des Zeitlosen zu führen scheint, lassen sich Raum-Zeit-Verhältnisse nur mehr in Echtzeit an konkreten, kleinteiligen, alltäglichen Momenten erfahren (Castells 2001: 485, 525).
Das Ende der Geschichte trifft auf das Aufflackern von Augenblicken in Echtzeit, wenn man so will. Aus den je herrschenden Gegenwarten lässt sich nach diesem
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Verständnis allerdings weder eine übergeordnete Geschichte abstrahieren noch könnte diese jene in einen übergreifenden Prozess einordnen. Ein Verständnis, das Karl Marx, Friedrich Engels und Lorenz von Stein sicherlich als außerordentlich befremdlich, wenn nicht sogar als entfremdend, empfunden hätten. 4.2.4 Eine Soziologie der post-industriellen Gesellschaft: Das Ende gesellschaftswissenschaftlicher Großentwürfe Sprechen die Schriften von Marx, Engels und Stein noch vom tiefen Vertrauen in die wissenschaftliche Erreichbarkeit und praktische Erneuerbarkeit der Gesellschaft, erfährt sich die gegenwärtige gesellschaftliche Selbstbeschreibung in der Infragestellung der traditionellen Produktionsfaktoren auch in dieser Hinsicht als zutiefst verunsichert. Es verwundert daher kaum, dass ob der post-industriellen Konstellation gemeinhin für eine Erneuerung der grundlegenden sozialwissenschaftlichen Kategorien und Methoden plädiert wird. Nicht eine durch ökonomische Bedingungen strukturierte Gesellschaft erweist sich hier noch als Gegenstand soziologischer Untersuchung, sondern kulturelle Bedeutungsmuster. Mit weitreichenden Konsequenzen für die wissenschaftliche Beschreibung: Denn im Gegensatz zu einem Verständnis, das davon ausgeht, dass die geistige Produktion von Wissen die materiellen Bedingungen unmittelbar abbildet, muss die Wissensgesellschaft damit leben, dass sich das Wissen über ihr eigenes Produkt nicht mehr unproblematisch von diesem unterscheiden lässt. Mit Wissen – so etwa Stehr – als dem eigentlichen Bezugspunkt sozialer Reproduktion scheint die Sozialwissenschaft ihre konstitutive Unterscheidung von Objekt und Subjekt zu verlieren (Stehr 1994: 25, 26). Eben darin gründet zugleich das Vertrauen in die Anpassbarkeit und Veränderungsfähigkeit von Wissenschaft wie das Misstrauen in dessen Objektivität: Wissen muss sich heute grundsätzlich einem Ideologieverdacht aussetzen, denn es versteht sich nicht allein als Dechiffrierung der Welt unter rein kognitiven Bedingungen, sondern immer auch als Idealvorstellung einer anderen solchen (Stehr 1994: 41, 221-222, 519). Damit endet nach Ansicht der genannten Autoren Soziologie allerdings nicht – hier beginnt sie. Die Rekonstruktion eines adäquaten Gegenstands soziologischer Beobachtung lässt sich aus dieser Sicht allerdings nur dann bewerkstelligen, wenn es gelingt, die bislang selbstverständliche Vorherrschaft wissenschaftlichen Wissens zu brechen. Es bedarf also einer grundsätzlich kritischen Haltung zu den althergebrachten Methoden, Kategorien und Aussagen, deren Mangel an Selbstreflexion sich wiederum als ideologischer Ausdruck einer veralteten Epoche dechiffrieren lässt. Solange wissenschaftliches Wissen als Erkenntnisprojekt einer immer exakter abzubildenden objektiven Realität gedeutet wird, der Wissensbeschaffungs- bzw. Herstellungsprozess unausgeleuchtet und also eine „black box“ (Stehr 1994: 296; Betonung im Original) bleibt, werden längst veraltete Herrschaftsansprüche eher
4.3 Fazit: Die Allgemeineit der materiellen und symbolischen Bedingungen
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zementiert, als sie zu hinterfragen. Gerade das aber muss den Praxisaspekt von Wissen bei der Herstellung sozialer Ordnung systematisch unterschätzen (Stehr 2000: 167-168, 282-284). Ein neuer, valider Beobachtungsstandpunkt lässt sich dann allerdings nur als explizit soziologischer rekonstruieren: Eben weil Wissen nicht mehr den unhinterfragten Bedingungen partikularer ökonomischer und politischer Interessen dient, sondern den emanzipativen Motiven neuer gesellschaftlicher Kräfte, gewinnt es als Bezugspunkt der Rekonfiguration des Sozialen ganz praktische Bedeutung (Stehr 1994: 41, 45; Stehr 2000: 78, 331; Stehr 2001: 26, 27, 381). Mit der Verabschiedung vom prästabilisierten Gegenstand der Moderne (dem Nationalstaat) geht nach herrschender Meinung dann zwangsläufig für die Soziologie die Abkehr von gesellschaftstheoretischen Großprojekten einher.111 So formuliert etwa Daniel Bell: „In der Vergangenheit war es der Sozialwissenschaft in erster Linie um möglichst umfassende Aussagen über die Gesellschaft zu tun (…). Doch diese Art theoretischer ‚Größe’ (…) droht doch, so eindrucksvoll sie auch als Stil ist, bei der zunehmenden Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Ordnungen mehr zu verdunkeln als aufzuhellen“ (Bell 1975: 18). Noch prägnanter stellt Nico Stehr fest: „Unsere Zeit ist ein unerbittlicher Feind von Entwürfen dieser Art“ (Stehr 1994: 12). Zeichneten sich Gesellschaftstheorien bis vor kurzem noch durch ihr Vertrauen in das prognostische Potential sozialwissenschaftlicher Beschreibung aus, lässt sich aus dieser Sicht die Kontingenz der gesellschaftlichen Verhältnisse heute kaum mehr in theoretische Form gießen, eben weil sich eine Gesellschaft, in der eine Vielfalt an Wissensformen, -konstellationen und -akteuren gleichzeitig vorkommen, ebenso unüberblickbar erweist wie sie sich im nächsten Moment, wie Beck und Stehr betonen, auch schon wieder ganz anders darstellt (Stehr 1994: 43; Beck 2003: 72). Am Gegenstandswandel gewinnt die Soziologie dann die eigentliche Daseinsberechtigung ihrer selbst zurück: In der Rekonstruktion ihres Gegenstands als Auseinandersetzung mit der Rigidität einer veralteten, selbst ideologisch gewordenen sozialen Ordnung und deren soziologischen Kategorien rekonstruiert sie sich als praktische, weil kritische Kraft gesellschaftlicher Auseinandersetzung und macht darin den Weg frei für die Wiedergewinnung der gesellschaftlichen, d.h. nun symbolischen bzw. kulturellen Bedingungen als Bedingungen der Gesellschaft. 4.3 Fazit: Die Allgemeinheit der materiellen und symbolischen Bedingungen Der Problembezug gesellschaftstheoretischer Beschreibung im frühen 19. Jahrhundert, das sollte in diesem Kapitel verdeutlicht werden, macht sich im Gegensatz zu 111 Als kritischer Kommentar dazu lässt sich wohl die von Nassehi getroffene Unterscheidung von Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose lesen (Nassehi 2001; Nassehi 2003b: 325).
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den revolutionären Zeiten des späten 18. Jahrhunderts weniger an Statusproblemen als an sozialen Fragestellungen fest. Die einsetzende Industrialisierung offenbart, dass politische Forderungen nach individueller Freiheit und Gleichheit im Rahmen von Volkssouveränität und demokratischer Willensbildung offensichtlich nicht genügen. Die Diskrepanzen in den Besitzverhältnissen, sichtbar gemacht und nochmals gesteigert am krassen Gegensatz von Bürgertum und Proletariat, verweigern den ungebildeten und verarmten Schichten ebenso hartnäckig die Teilhabe an den politischen, ökonomischen und kulturellen Belangen wie sie andersherum das Besitz-, Bildungs- und Beamtenbürgertum deutlich bevorzugen. Das widerspricht offensichtlich dem Prinzip der Volkssouveränität, das die Gestaltung von inzwischen öffentlichen Angelegenheiten im Interesse aller Betroffenen durch alle Betroffenen verlangt. Soziale Lagen determinieren ganz offensichtlich die politische Verfassung und lassen diese zu ungleichen Herrschaftsverhältnissen „verkommen“, die doch eigentlich mit dem Ende des Absolutismus in der Französischen Revolution und dem Einzug des Konstitutionalismus längst geklärt sein sollten. Der grundlegende Spannungsbogen zu Beginn des 19. Jahrhunderts manifestiert sich also einerseits an der bürgerlichen Emanzipation von veralteten Status- und Privilegienstrukturen und andererseits an der Radikalisierung politischer Gleichheitsforderungen verelendender Arbeiterschichten. Zeitgenossen erkennen in dieser Lage vor allen Dingen eins: Das enorme revolutionäre Potential und die Frage, wie damit gerade politisch-konstitutionell umzugehen ist. Angeboten werden darauf drei Varianten, die im Folgenden an den hier bereits dargelegten Standpunkten des historischen Materialismus’ und der historischen Schule sowie an einigen wenigen Worten zum Denken von Georg Friedrich Wilhelm Hegel angerissen werden sollen. Wie bereits dargelegt, liegt der gemeinsame Problembezugspunkt der Perspektiven von Karl Marx, Friedrich Engels und Lorenz von Stein in der Beobachtung, dass sich konstitutionelle Bedingungen nicht von Fragen der Eigentumsverteilung isolieren lassen. In der Auseinandersetzung mit irreführenden zeitgenössischen Ideologien – Metaphysik einerseits, Kommunismus und Sozialismus andererseits – entfalten sie ihre jeweils „wahreren“ Gegenprogramme zur Überwindung der gesellschaftlichen Krise, die diese zugleich erst als Objekt wissenschaftlicher Untersuchung und gestaltenden Eingriffs konstituieren. Die Folgerungen der genannten Perspektiven könnten dabei diametraler nicht sein. Liegt für das materialistische Verständnis im Eigentum der eigentliche Ursprung von ökonomischer Ausbeutung, politischer Unterdrückung und individueller Entfremdung, konstituiert es für Stein die ebenso grundlegende wie unverzichtbare Entwicklungsbedingung von Individuum und Gesellschaft und darin chronisch auf die konstitutionellen Bedingungen des Staats ausgreift. Gerade das zwingt in der materialistischen wie in der Stein’schen Perspektive dazu, die politische Ordnung von der unmittelbaren Einwirkung der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Eigentumslagen auf unterschiedliche Arten zu exilieren. Ausgehend von einer auf divergente Eigentumsver-
4.3 Fazit: Die Allgemeineit der materiellen und symbolischen Bedingungen
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hältnisse angewiesene ökonomische Marktordnung und einer auf die Gleichheit politischer Teilhaberechte abstellende staatliche Ordnung, die sich beide gleichermaßen als konstitutiv für das menschliche Zusammenleben erweisen, liegt die Lösung in Steins Verständnis in der Versöhnung der gegensätzlichen Sphären des Sozialen in einem Staat und Gesellschaft übergreifenden gemeinsamen Interesse, das alle Divergenzen im Bezug auf sich selbst zu suspendieren versteht, eben weil es allen zugleich nützt. Dieses allgemeine Interesse fundiert in der allen gleichermaßen zukommenden Freiheit, Eigentum zu erwerben. Nun können allerdings weder die dem Bürgertum zugutekommenden Eigentumsverhältnisse von jetzt auf gleich geändert werden noch kann ein ungebildetes Proletariat augenblicklich mit den Anforderungen einer demokratischen Ordnung zurechtkommen. Beides braucht Zeit in einer Phase, in der jedoch die sozialen Probleme und die Gefahr revolutionärer Ausbrüche auf den Nägeln brennen. Die Lösung für dieses Dilemma sieht Stein in sozialen Reformen, die einerseits dem Bürgertum vor Augen führen, dass es in der ökonomischen Entwicklung ebenso auf die Arbeiterschaft angewiesen ist, wie diese andersherum durch administrative Maßnahmen die Erleichterung ihrer sozialen Lage erfährt und einen graduellen Lernprozess beschreiten kann, der sie an die Artikulation von Bedürfnissen und das Aushalten des Gewichts von politischen Entscheidungen in einem öffentlichen Raum gewöhnt. Nur so lässt sich aus der Sicht Steins das notwendige Maß an öffentlicher Ruhe und Ordnung einerseits und individueller Freiheit andererseits herstellen, auf das die aufstrebenden kapitalistischen Nationalökonomien so grundlegend angewiesen sind. Zum Ausdruck kommt darin nicht weniger als die Lenkung eines übergreifenden historischen Entwicklungsprozesses auf einen Zielpunkt hin, in dessen Verlauf sich quasi von selbst und unter zunehmend allgemeinen Bedingungen die Bedingungen der Allgemeinheit einstellen. Konstituiert sich der Problembezug Stein’scher Prägung an der unumgänglichen Gegensätzlichkeit von staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung, die nur durch den Einbau eines übergreifenden Bezugspunkts aufzulösen ist, muss sich das Politische im materialistischen Verständnis den gesellschaftlichen als den materiellen, d.h. wirklichen Bedingungen unterordnen. Denn wenn der im Eigentum wurzelnde Gegensatz der gesellschaftlichen Interessen das grundlegende Problem für die Uneinlösbarkeit politischer Gleichheitsrechte darstellt, so kann Abhilfe nur in der Abschaffung exklusiver Rechte als solcher liegen. Das Potential zur Vervollständigung der Geschichte zur Nichtgeschichte liegt aus dieser Sicht in jenem letzten revolutionären Aufbegehren gegen die ultimativen Gegensätze von Kapital und Arbeit der bürgerlichen Gesellschaft. Das eigentliche Mittel ist dann die Enteignung, denn gibt man Eigentum allen, so gibt man es letztlich niemandem. Die historischen Bewegungsgesetze der Gesellschaft verschwinden damit ebenso sang- und klanglos wie das kapitalistische Bürgertum als Gegenüber der verelendeten Masse. Damit endet auch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Die verselbstän-
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digten, weil partikularisierten Verhältnisse von Produktion, Herrschaft und Bewusstsein lassen sich nach diesem Verständnis also nur in Bezug auf die Gesellschaft wieder in die Identität mit sich selbst zurückführen. Das übergeordnete Gemeinwohl setzt die Gleichheit der Besitzverhältnisse voraus, die wiederum nur durch die Abschaffung aller Besitzverhältnisse garantiert werden kann. Das ist allerdings ob einer die Einzelnen transzendierenden Geschichte nicht von jetzt auf gleich zu haben. Es bedarf eines graduellen Prozesses der Verallgemeinerung der Bedingungen, dessen Triebkraft im revolutionären Fortschreiten des Bürgertums liegt, das in der allgemeinsten aller Revolutionen – der menschlichen – in der allgemeinsten aller degenerierten historischen Stufen – der bürgerlichen Epoche – ihren Abschluss findet. In der Umkehrung der Verhältnisse aber findet die Geschichte ihre Vollendung in den bewusst hergestellten Bedingungen der Gesellschaft. Um Selbstwiderspruch zu vermeiden, müssen die Bedingungen der Allgemeinheit allerdings unter eben diesen Bedingungen entstehen, die doch eigentlich erst ihr Ergebnis sein können. Denn Partikularität, d.h. Zwang kann nicht Ursprung einer allgemeinen, d.h. freien Ordnung sein. Beide Perspektiven setzen vielmehr auf Bewusstwerdung bzw. Einsicht, die dann gar nicht anders kann, als augenblicklich auf Allgemeinheit umzustellen. Das setzt ebenso das Verständnis der gegebenen Bedingungen als Resultat einer universalen historischen Entwicklung voraus, wie sich darin die Gegenwart, geprägt von maximalen Gegensätzen, als ausschlaggebender, da eben geschichtsentscheidender Zeitpunkt enthüllt. Verstehen aber kann man nicht durch Zwang, sondern nur durch Aufklärung. So kommt die Notwendigkeit (gesellschafts-)wissenschaftlicher Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich selbst wieder vor, indem sie (unter Hinweis auf die eigene, historisch bedingte Funktion der Enthüllung der wahren als den wirklichen Bedingungen) Wege in eine andere Zukunft weisen kann. Andersherum setzt dies die Möglichkeit wissenschaftlichen Beobachtens voraus, das allein jene Elemente als sinnkonstitutiv deuten und in ein kausales Verhältnis bringen kann, die sich als autonom, d.h. allgemein ausweisen. Allgemeinheit und Wirklichkeitsstatus stabilisieren sich in diesem Sinne gegenseitig und es kann gar nicht anders sein, konstituiert das Einzelne doch immer nur das Willkürliche, dem keine Gesetzmäßigkeit abzuringen ist. Auch das verweist wiederum auf die historische Bedingtheit seiner selbst, denn alle vorhergehenden Epochen sind in der Vorläufigkeit und Partikularität ihrer selbst dazu verurteilt, sich lediglich ein ebensolches, d.h. metaphysisches Bild von sich selbst machen zu können. Erst der in der Zukunft liegende Abschluss der Geschichte wird dies endgültig überwinden. Es ist in Bezug auf das bislang Dargelegte nicht schwer zu erraten, dass im angekündigten Streifen Hegel’schen Denkens ein darstellungsästhetischer Grund liegt, hebt dieser die Allgemeinheit eines gemeinsamen Interesses doch in der Institution des Staats auf. Dieser aber ist nichts weniger als „(...) die Wirklichkeit der sittlichen Idee, – der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille,
4.3 Fazit: Die Allgemeineit der materiellen und symbolischen Bedingungen
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der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt“ (Hegel 1955: § 257; Betonung im Original). Im Selbstbewusstsein seiner selbst als dem allgemeinen Willen findet der Staat seinen Selbstzweck, der notwendigerweise ebenso vernünftig wie konstant, abstrakt, unmittelbar und notwendig ist. Es gibt dahinter kein Zurück bzw. kein Außerhalb des Denkens, eben weil dies wirklichkeits-, weil sinnkonstituierend ist (Hegel 1955: § 258, § 270). Komplementär dazu gewinnt das Individuum seine Individualität aus der fundamentalen Auslegung auf ein Leben in der Gesellschaft. Konstituiert sich diese aus der unauflösbaren Vielheit verschiedener individueller Interessen, erweist sich der Staat als sittlich Höheres, eben weil die Beziehung zum Anderen hier immer schon durch Allgemeinheit vermittelt ist (Hegel 1955: §182). Das gewinnt wiederum objektive Wirkung in den Individuen, deren „(...) höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein“ (Hegel 1955: § 258; Betonung im Original). In dieser Notwendigkeit verwirklicht sich letztlich deren Freiheit. Oder um es nochmals mit Hegel zu formulieren: „Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen, ein allgemeines Leben zu führen (...). – Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit, und hier konkret dem Inhalte nach in der Einheit der objektiven Freiheit, d.i. des allgemeinen substantiellen Willens, und der subjektiven Freiheit als des individuellen Wissens und seines besondere Zwecke suchenden Willens – und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d.h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln“ (Hegel 1955: § 258; Betonung im Original).
Demgegenüber zeichnet sich die postindustrielle bzw. postkapitalistische Gesellschaft der Gegenwart – so die hier behandelten Autoren von Daniel Bell und Alain Touraine über Peter Drucker, Nico Stehr und Manuel Castells bis zu Ulrich Beck – in der Ablösung von Eigentum und Arbeit durch Wissen als grundlegender Strukturbedingung des Sozialen durch einen erneuten Rationalisierungsschub aus. Dem Wissen der Wissensgesellschaft eignet jedoch weder soziostrukturelle Eindeutigkeit noch sind die Chancen, es zu erlangen, gewinnbringend einzusetzen, zu manipulieren oder zu ignorieren, gleich verteilt. Daran aber manifestieren sich aus herrschender Sicht erneut die Politisierung ökonomischer Lagen und die Radikalisierung von Gleichheitsansprüchen, die sich in gesellschaftlichen Konfliktlagen entladen. Es ist dann die in der immanenten Ungleichheit des Wissens und in dessen Ideologieanfälligkeit fundierende Rekonfiguration von Klasseninteressen und -lagen, die im entfremdenden Potential der symbolischen Grundlagen der Gesellschaft zugleich deren emanzipativen Effekt entdeckt. Und auch dies trifft wiederum auf den Anspruch institutioneller Wiedereinholung einer verselbständigten gesellschaftlichen Entwicklung, die sich eben nicht von selbst einstellt, sondern nach wie vor mit Hilfe des Politischen als einem die Wissensdifferenzen übergreifenden, allgemeinen Fokus hergestellt werden muss. Anders als das Verständnis des Materialismus und des Historismus kann die Erzeugung allgemeiner Bedingungen in der gegenwärtigen Gesellschaft allerdings nicht mehr in der Obhut der Geschichte als allgemeiner
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4 Die Perspektive von Materialismus und historischer Schule
Wirkungsmacht liegen. Die Unterwerfung der gesellschaftlichen Bedingungen unter die Bedingungen der Gesellschaft ist den sozialen Gegebenheiten als Bedingungsund Steigerungsverhältnis von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität bereits immanent. Gemeint ist damit, dass die genannten Autoren in der Umstellung von der materiellen zur symbolischen Reproduktion des Sozialen einen Steigerungszusammenhang beobachten, der das Soziale ein weiteres Mal zum Ergebnis bewusster Entscheidung der Individuen macht, das mit den abstrakter werdenden Umweltbedingungen zugleich ein Mehr an Freiheiten gewinnt und auf neue Abhängigkeiten stößt. Der Eindruck, dass Ausmaß, Dauer und Nähe der sozialen Beziehungen überproportional abnehmen und sich zunehmend am Menschen und dessen unmittelbarer familiärer oder beruflicher Umwelt orientieren, steht dann insofern in der Tradition materialistischen und Stein’schen Denkens, als diese einer zunehmend abstrakten, überkomplexen, in ihrer Gänze nicht mehr fassbaren Gesellschaft die Unmittelbarkeit interaktiver Begegnung als Orte der Formierung, Auseinandersetzung und Bewährung von Sonderinteressen entgegensetzen, die in einen übergreifenden Gesamtprozess eingehen (siehe hierzu etwa die Bedeutung des Vereinswesens bei Lorenz von Stein). Das gilt es nach wie vor mit Hilfe gesellschaftstheoretischer Beschreibung zu verstehen, die zugleich voraussetzt, was sie ankündigt, und darin wiederum in sich selbst vorkommt. Denn nur mit deren Hilfe ist erst zu verstehen, dass im Verstehen bereits der erste Schritt zur Herstellung der Allgemeinheit der Wissensbedingungen als den sozialen Bedingungen liegt. Daran aber macht sich einmal mehr die Kontinuität konstativer und normativer Beschreibung fest: Was im Blick auf die Perspektive einer postindustriellen Gesellschaft zum Ausdruck kommt, ist eine Verunsicherungserfahrung, die erneut auf zentrifugale und zentripetale Kräfte des Sozialen trifft und damit zurecht kommen muss.
5 Die Perspektive des soziologischen Positivismus’
5.1 Von Eigentum zu Moral: Zur Bedingungsmöglichkeit differenzierter Gesellschaften an der Schwelle zum modernen Wohlfahrtsstaat Sieht sich die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie weiter oben thematisiert, noch mit der unmittelbaren Gefahr revolutionären Aufbegehrens der Massen gegen politische und soziale Ungleichheitsverhältnisse konfrontiert, ist dessen zweite Hälfte von einer gewissen „Sättigungserfahrung“ in beiden Feldern geprägt. Der eng mit dem Fortschrittsglauben des ökonomischen Liberalismus verbundene Siegeszug des modernen Nationalstaats hat seinen Höhepunkt erreicht. Das bedeutet nicht, dass Revolutionen, kriegerische Auseinandersetzungen und nationale Krisen nicht nach wie vor zum politischen Alltag auf dem europäischen Kontinent gehören. Diese reihen sich jedoch zunehmend neben ökonomischen und sozialpolitischen Problemlagen ein, ja gewinnen mitunter erst in Bezug auf diese an Relevanz. So sehen sich zwar multinationale Monarchien weiterhin mit der Sprengkraft nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen konfrontiert. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 haben sich jedoch die Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung für die meisten der mittel- und westeuropäischen Staaten weitgehendst erfüllt. Die Konstitutionalisierung politischer Autorität, das Prinzip der Volkssouveränität und die Festschreibung individueller Freiheits- bzw. Bürgerrechte sind flächendeckend eingeführt oder doch zumindest in greifbare Nähe gerückt. Auch ökonomisch gesehen beruhigt sich die Lage zusehends. Der eng mit Bürokratisierung und Rationalisierung politischer Autorität zusammenhängende Erfolgskurs des liberalen Kapitalismus hat seinen Höhepunkt erreicht. Die Folgeerscheinungen der Industrialisierung, die zunächst ganz spür- und sichtbare soziale Härten schafft, finden Linderung in umfangreichen Sozialgesetzgebungsprozessen wie sie beispielsweise im Deutschen Kaiserreich seit 1883 von Reichskanzler Otto von Bismarck gegen eine erstarkende Sozialdemokratie betrieben werden.112 Die 112 Um Otto von Bismarck nochmals das Wort aus einer Reichstagsrede vom 20. März 1884 zu geben: „Der eigentliche Beschwerdepunkt des Arbeiters ist die Unsicherheit seiner Existenz; er ist nicht sicher, daß er immer Arbeit haben wird, er ist nicht sicher, daß er immer gesund ist, und er sieht voraus, daß er einmal alt und arbeitsunfähig sein wird. Verfällt er aber der Armut auch nur durch eine längere Krankheit, so ist er darin nach seinen eigenen Kräften vollständig hilflos, und die Gesellschaft erkennt ihm gegenüber bisher eine eigentliche Verpflichtung außer der ordinären Armenpflege nicht an, auch wenn er noch so treu und fleißig die Zeit vorher gearbeitet hat. (...) Indessen für den Arbeiter ist das immer eine
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neuen Vorsorge- und Versorgungseinrichtungen interessieren sich dabei nicht nur erstmals für die statistische Erhebung und Auswertung von Lebenslagen, sondern machen soziale Absicherung zu einer generalisierten, von Einzelpersonen absehenden Leistung bürokratisierter Apparate – das Charakteristikum des modernen Wohlfahrtsstaats schlechthin. Fortschritte gibt es aber auch in Medizin, Technik, Naturwissenschaft und Landwirtschaft. Es zeigt sich erstmals auch das andere Gesicht der Industrialisierung: Das Leben kann verlängert, Krankheiten können vorgebeugt oder geheilt, Neugeborene gerettet, Geburten kontrolliert, der Tod erleichtert bzw. hinausgezögert, die Ernährung optimiert und das alltägliche Leben durch Technik und Infrastruktur erleichtert werden. Eine Erfolgsgeschichte, an die der Liberalismus in den kommenden Jahrzehnten allerdings nicht mehr ohne weiteres anknüpfen kann, gerät er doch mehr und mehr unter Plausibilitätsdruck. Einerseits sind es die eigenen Erfolge, die ihn zusehends an Dynamik verlieren lassen. Andererseits tritt mit der neuartigen Erfahrung ökonomischer Abhängigkeiten von weltwirtschaftlichen Konjunkturschwankungen eine gewisse Ernüchterung ein. Das sich herauskristallisierende Welthandelssystem ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits Bedingung für eine beispiellose Steigerung von Investition, Produktion und Handel stürzt es die Industrienationen andererseits ebenso unerbittlich in tiefgreifende ökonomische Wachstumskrisen. Diese Erfahrung entzieht den nationalen Gesellschaften erstmals jenen Gestaltungsoptimismus, mit dem Liberalismus und Bürgertum noch zu Beginn des Jahrhunderts angetreten waren (Mommsen 1969: 46). Eine Erfahrung, die sich wohl am deutlichsten an jener Phase der Verlangsamung der Wachstumsraten zwischen 1873 bis 1896 festmachen lässt, die unter der Bezeichnung der „Großen Depression“ in die Geschichte eingehen wird (Mommsen 1969: 47). Das zeichnet sich nicht zuletzt auch an der Trägerschicht politischer und ökonomischer Erneuerung selbst ab – dem Bürgertum. Beginnt das Jahrhundert noch mit dem unverbrüchlichen Herrschaftsanspruch desselben, das sich mit Konstitutionalismus und Kapitalismus erfolgreich von einer traditionellen Besitz- und Statusordnung emanzipierte, verliert dessen Führungsanspruch gegen Ende des Jahrhunderts zusehends an Boden. So notiert etwa der Historiker Wolfgang Mommsen: „Jener Typus des Bourgeois, welcher in der ersten Welle der Industriellen Revolution die führende Rolle gespielt hatte, die selbständige, höchst individualistisch eingestellte Unternehmerpersönlichkeit, trat allmählich hinter die großen anonymen Kollektive zurück, die [sic – Anm. d. Verf.] sie sich unter der Verwendung der neuen Rechtsform der Aktiengesellschaft (...) in Industrie, Handel und Bankwesen sprunghaft entwickelten“ (Mommsen 1969: 78).
Bürgertum, Mittelstand, Beamte, Angestellte, Arbeiterschaft und Bauern einerseits, Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Kultur, Kunst und Religion Tatsache, daß der Armut und der Armenpflege in einer großen Stadt zu verfallen gleichbedeutend ist mit Elend, und diese Unsicherheit macht ihn feindlich und mißtrauisch gegen die Gesellschaft“ (Rothfels 1953: 375, 376).
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andererseits: Die nationalstaatlich verfasste Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sieht sich mit verschiedensten funktionalen Teilbereichen konfrontiert, auf die sie ebenso angewiesen ist, die sie aber auch nicht mehr eindeutig gegeneinander diskriminieren kann. In eben diese Phase, in der nicht mehr der Herrscherwille kategorisch entscheidet, sondern die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessen einen erst zu gestaltenden öffentlichen Raum erzeugen, fallen die Gründungstexte der Soziologie als einer neuen, autonomen wissenschaftlichen Disziplin. Als die ersten Reformulierungen gesellschaftlicher Probleme aus explizit soziologischer Sicht gelten dabei gemeinhin die Schriften von Auguste Comte (1798-1857), Émile Durkheim (1858-1917) und Herbert Spencer (1820-1903).113 Als „Gründerväter“ der Disziplin können sie auf dieselbe allerdings nicht mit der Selbstverständlichkeit einer institutionalisierten Wissenschaft zurückgreifen, sehen sich also mit einer dreifachen Herausforderung konfrontiert: der Konstitution von Feld, Theorie und Methodenapparat (Luhmann 1977: 17; König 1984: 22). Nehmen Materialismus und historische Schule einen eher sozioökonomisch bzw. ökonomischstaatsrechtlich motivierten Blick auf Gesellschaft und Staat ein, zeichnet sich die folgende Generation gesellschaftswissenschaftlicher Beobachtungen durch eine ganz andere Perspektive aus. Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Selbstbeschreibung ist nun nicht mehr eine einzige, die Sozialstruktur als solche bestimmende Unterscheidung (orientiert an Status oder Eigentum), sondern die Vielheit, Inkommensurabilität und Irreduzibilität derselben – mag dies nun unter dem Begriff der Arbeitsteilung, der Wertsphären oder der sozialen Kreise laufen. Eben daraus scheint die erste Generation von Soziologen, zu der neben Émile Durkheim u.a. auch Ferdinand Tönnies (1855-1936), Georg Simmel (1858-1918), Vilfredo Pareto (1848-1923) und Max Weber (1864-1920) zählen, ihren disziplinbegründenden Problembezug von Differenz und Integration zu beziehen. Das zwingt erstmals zu gesellschaftlichen Übergangsvorstellungen, wie sie etwa in der Bewegung von mechanischer zu organischer Solidarität bei Durkheim, von Gemeinschaft zu Gesellschaft bei Tönnies, vom Status zum Vertrag bei Maine oder in Simmels Formen der Vergesellschaftung ihren Ausdruck finden. Auch das Weber’sche Stichwort vom „stahlharten Gehäuse“ (Weber 1947: 203) lebt letztlich aus der Vorstellung, dass mit Gesellschaft immer auch integrative Fragen gestellt
113 Émile Durkheim kann sich dabei einer gewissen Ironie kaum erwehren: „Seit einiger Zeit ist die Soziologie in Mode. Vor einem Jahrzehnt noch kaum bekannt und fast verrufen, ist das Wort heute in aller Munde“ (Durkheim 1973: 17). Das ruft andersherum Reaktionen hervor, wie die des Staatsrechtlers Georg Jellinek. Er bedauert im Vorwort zu seiner „Allgemeinen Staatslehre“ das Zurücktreten des Staats als Untersuchungsgegenstand gegenüber sozialen Fragestellungen und stellt dem eine Abhandlung entgegen, die bis heute von sich behaupten kann, ein Standardwerk der Staatswissenschaften zu sein (Jellinek 1914).
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und zugleich beantwortet werden.114 Bei aller Verschiedenheit der Ansätze ist den genannten wissenschaftlichen Beschreibungen doch die Verschiebung der Leitfrage gemein – von den Konstitutionsbedingungen einer freien und gleichen Sozialordnung gegen dem entgegenstehende Bedingungen zu der nach der Möglichkeitsbedingung von Gesellschaft ob der Dominanz auseinanderstrebender Kräfte. Und die einhellige Antwort darauf lautet, dass in der Differenzierung sozialer Funktionen in der modernen Gesellschaft weniger der Verlust von Sozialität als die eigentliche Steigerungsbedingung derselben wurzelt. Die „frühe“ Soziologie rechnet in diesem Sinne mit ganz anderen Selbstverständlichkeiten als Materialismus und historische Schule noch wenige Jahrzehnte zuvor: Die Vorstellung einer vertikalen Gesellschaftsstruktur hat endgültig gegenüber der horizontalen Beschreibung differenzierter, nebeneinanderstehender Logiken an Glaubwürdigkeit verloren. Nicht, dass soziale Ordnung möglich ist, ist jetzt Gegenstand der Reflexion, sondern wie.115 Parallel dazu kann eine Wissenschaft der Gesellschaft nicht mehr als ideologisches Minenfeld aufgefasst und betrieben werden. Die neue Methodik verlangt eine an naturwissenschaftliches Beobachten angelehnte Distanz zwischen Subjekt und Objekt. Durkheims Forderung, gesellschaftliche Bedingungen wie Dinge bzw. Fakten zu behandeln oder Webers Vorschlag durch Idealtypisierung einen möglichst wertfreien und objektiven, ja geradezu leidenschaftslos-bürokratischen Blick auf das Soziale zu gewinnen, sind nur zwei Beispiele soziologiebegründender methodischer Überlegungen. Und noch etwas ist neu: Die Generation von Soziologen, von der hier die Rede ist, versteht sich erstmals selbst als „Berufsmenschen“ (König 1976: 318), als Experten des in Gesetzmäßigkeiten gegossenen Sozialen wie es der Naturwissenschaftler für die Kräfte der unbelebten Natur ist. Stellvertretend für diese erste Generation von soziologischen Denkern, die in der Beobachtung des Sozialen als Bedingung seiner selbst zugleich die soziologische Disziplin konstituieren, konzentriert sich die Arbeit im Folgenden auf die Schriften Émile Durkheims. Wie kaum ein anderer scheint er in seiner Rolle als „(...) Diagnostiker der tiefgreifenden ‚moralischen Krise’ der Moderne (...)“ (Tyrell 1985: 182) für die „(...) Begründung der Soziologie als Instrument der Krisenbändigung und Krisenüberwindung (...)“ (König 1976: 320) zu stehen. Der Kern Durkheim’schen Denkens liegt dabei in der Interpretation zeitgenössischer Wirtschaftsund Sozialkrisen nicht als vorübergehende Anpassungserscheinungen einer kapitalistischen Industriegesellschaft, denen mit ökonomischen Mitteln beizukommen wäre, sondern als zutiefst moralische Phänomene. An ihnen manifestiert sich der 114 Dabei scheint das „Kafkaeske“ seinen spezifischen Reiz der Beschreibung aus einer ganz ähnlichen wie der Weber’schen Perspektive zu beziehen: Im menschlichen Handeln und Entscheiden tritt immer nur deren Vergeblichkeit gegen die Übermacht der gesellschaftlichen Verhältnisse zutage. Nachlesen lässt sich das etwa in der berühmten Parabel „Vor dem Gesetz“ aus dem Romanfragment „Der Prozess“ (Kafka 1960). 115 Zur soziologiekonstituierenden Wirkung dieser Problembeschreibung siehe Luhmann 1977: 19-20.
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tiefgreifende soziale Wandel von der segmentären zur arbeitsteiligen Gesellschaftsstruktur, in dessen Verlauf traditionelle Moralvorstellungen und neue gesellschaftliche Bedingungen zwangsläufig in Konflikt miteinander geraten müssen (König 1976: 320; Tyrell 1985: 182). Denn freigesetzt aus den einstigen Sphären sozialer Solidarität, erfährt sich das Individuum nun als isoliert und orientierungslos und folgt nur mehr den je eigenen Nutzenkalkülen. Eben dieser Egoismus kann jedoch keinesfalls eine Gesellschaft konstituieren, sondern gleicht vielmehr einem Kriegszustand à la Hobbes.116 Es gilt also, sich mit den anomischen Bedingungen des krisengeschüttelten 19. Jahrhunderts nicht zufriedenzugeben, sondern diese als Hinweis darauf zu lesen, dass Solidarität und gesellschaftliche Moral mit der Geschwindigkeit der strukturellen Veränderungen nicht Schritt zu halten vermochten und so ganz Unverzichtbares verlorengegangen ist. Das eigentliche Problem liegt also in jenem Epochenbruch, der das traditionelle moralische Fundament vorangegangener Gesellschaften aus der Geschichte fegte, ohne ein funktionales Äquivalent an dessen Stelle zu setzen. Es fehlt der modernen Gesellschaft an einem integrierenden Wertesystem und eben daran manifestiert sich aus Durkheims Sicht der zutiefst anomische Charakter seiner Gegenwart. Das aber verweist auf eine Umkehrung des Bezugsproblems bisheriger gesellschaftstheoretischer Beschreibungen: Nicht die Entstehungsbedingungen des Sozialen erweisen sich als erklärungsbedürftig, sondern die Amoralität grundlegend moralischer (Normal-)Zustände des Sozialen. Eine derartige Gesellschaftstheorie zeichnet sich dann insofern durch einen negativen Beschreibungszug aus, als sie grundsätzlich mit Solidarität bzw. Moral rechnet und Einblicke in das Soziale nur über Verlust und Krise gewinnen kann. An eben dieser unhintergehbaren Einwertigkeit der Zweiwertigkeit von mechanischer und organischer Solidarität gewinnt dann ebenso die Durkheim’sche Lesart des Sozialen ihre charakteristische Form wie die Soziologie ihre Expertise und Daseinsberechtigung (Luhmann 1977: 22).117 Das Moralische verschmilzt gleichermaßen mit dem Sozialen und macht es so zu einer explizit soziologischen und eben nicht religiösen, philosophischen oder psychologi116 Oder wie Durkheim die Unerträglichkeit dessen formuliert: „Die tadelnswertesten Handlungen werden so oft wegen ihres Erfolges geduldet, daß die Grenze zwischen dem, was erlaubt, und dem, was verboten ist, was Recht und was nicht Recht ist, nicht mehr festliegt, sondern scheinbar fast willkürlich von den Individuen verschoben werden kann. Eine so ungenaue und inkonsistente Moral kann keine Disziplin ergeben. Daraus folgt, daß die ganze Sphäre des kollektiven Lebens zum großen Teil der zügelnden Wirkung einer Regel entzogen ist“ (Durkheim 1992: 42). 117 Siehe hierzu etwa die Selbstmordstudie Durkheims, deren erster Teil allein der Abgrenzung einer soziologischen Herangehensweise an das Phänomen gegenüber neurologischen, genetischen, umweltbedingten bzw. als Imitationsverhalten gedeuteten Erklärungsversuchen dient (Durkheim 1973: 1. Buch, Kapitel I-IV). Es ist dann wenig verwunderlich, dass Durkheim zwischen diesen Faktoren und dem Auftreten von Suiziden keinerlei kausalen Zusammenhang sehen kann. Erst die Fassung als soziales Problem, das im Verhältnis zum Integrationsgrad der jeweils dominanten Moralgruppe (Familie, Kirche, Staat) steht, macht Auftreten und Variation von Selbstmorden zur soziologisch deutbaren Fragestellung und liefert die Antwort gleich mit (Durkheim 1973: 231-232, 346).
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schen Aufgabenstellung. Oder anders gesagt: Die Soziologie gewinnt an der Moral die rein soziologische Begründung ihrer selbst. 5.1.1 „Der Soziologe als Moralist“118 „Unsere erste Pflicht besteht heute darin, uns eine neue Moral zu bilden. Ein derartiges Werk kann nicht in der Stille der Studierstube ersonnen werden; es muß aus sich selbst entstehen, nach und nach, unter dem Druck innerer und notwendiger Ursachen. Die Reflexion allenfalls kann und muß dazu dienen, das Ziel, das erreicht werden muß, zu verdeutlichen“ (Durkheim 1992: 480). Der Passus, der sich gegen Ende der bekannten Abhandlung „Über die soziale Arbeitsteilung“ findet, weist der Soziologie mit der Aufgabe der Deutung moralischer Zielvorgaben einen prominenten Platz im Leben der Gesellschaft zu. Damit sind aus Durkheims Sicht ebenso die Grenzen wie die Möglichkeiten derselben benannt: Es obliegt ihr nicht, Ursprung von Moralvorgaben zu sein, wohl aber diese als empirische Fakten „sui generis“ (Durkheim 1975a: 23; Betonung im Original) der sozialen Realität zu beobachten und in kausalen Gesetzmäßigkeiten auszuformulieren. Der Berührungspunkt von Moral und Wissenschaft liegt also in diesem Sinne genau dort, wo Wirklichkeit und Ideal, Wissenschaft der Moral und moralische Wissenschaft strikt voneinander zu scheiden sind, um aus dem sicheren Abstand eines objektiven Standpunkts das Soziale als eigentlichen Gegenstand in den Blick zu bekommen (Durkheim 1992: 77-78, 80). Durkheim bringt darin einerseits das Moralische als eigentlichen Ursprung des Sozialen gegen die individualistischen Annahmen des Kontraktualismus’ und der klassischen Nationalökonomie in Stellung wie er andererseits das Gesellschaftliche zum exklusiven Feld soziologischer Expertise macht. Denn die vertragliche Begründung des Sozialen, wie sie von Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau über August Comte bis hin zu Herbert Spencer ihren Ausdruck findet, läuft für Durkheim immer auf das ganz grundlegende Problem auf, voraussetzen zu müssen, was eigentlich erklärt werden soll – also tautologisch zu geraten. Gerade die Grundannahme eines utilitaristischen Individualismus’ zwingt aus dessen Sicht dazu, immer schon Nutzenmotive unterstellen zu müssen, um überhaupt von Gesellschaft sprechen zu können. Derartige Ansätze müssen dann allerdings jegliche Objektivität, d.h. Wissenschaftlichkeit, vermissen lassen, markieren diese doch nichts mehr als „(...) eine bestimmte Art, die soziale Wirklichkeit zu betrachten, die sich an die Stelle der Wirklichkeit selbst setzt“ (Durkheim 1961: 120). Das Soziale aber muss daran seine Qualität als objektiver Untersuchungsgegenstand der Soziologie einbü118 So der Untertitel einer Werkseinführung zu Émile Durkheim von René König (König 1976: 312.) Auch Niklas Luhmann kommt in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe von Durkheims „Über die Teilung der sozialen Arbeit“ auf die unweigerlich ins Moralische kippende Modellierung des Sozialen zu sprechen, auf die im Folgenden näher einzugehen ist (Luhmann 1977: 25).
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ßen, kommt diesem doch lediglich abgeleitete Realität zu, eben weil es nicht mehr ist als die Summe der ihm vorgeordneten Individualinteressen. Und die Schlussfolgerung ist dann ganz klar: „Man sieht nicht, daß es keine Soziologie geben kann, wenn es keine Gesellschaften gibt, und daß es keine Gesellschaften gibt, wenn es nur Individuen gäbe“ (Durkheim 1973: 21; Betonung im Original). Das Problem zeitgenössischen Denkens liegt in Durkheims Verständnis also zuvorderst darin, dass es diesem an einem adäquaten Begriff des Sozialen mangelt. Dieser gerät grundsätzlich entweder zu eng, d.h. metaphysisch, oder zu weit, so dass unweigerlich nahezu alles zum Objekt der Beobachtung des Sozialen wird, was in der Gesellschaft geschieht (Durkheim 1961: 105; Durkheim 1975a: 14). Die primäre Frage ist also, wie die Soziologie zu einem adäquaten Gegenstandsbegriff kommen kann. Und die Antwort Durkheims darauf lautet, die „(...) Tatsachen des moralischen Lebens entsprechend der Methode der positiven Wissenschaften zu behandeln“ (Durkheim 1992: 76). Das soziologische Feld hat es also zunächst und zuvorderst mit genuin sozialen Fakten zu tun, nicht mit (mehr oder weniger arbiträren) Motivunterstellungen. An ihrem Gegenstand als ganz und gar beobachterunabhängiger Tatsache gewinnt die soziologische Betrachtung ihren Status als Wissenschaft. Wie die Naturwissenschaft die physikalischen Kräfte objektiv beobachtet, analysiert und in kausale Gesetzmäßigkeiten bringt, so gilt es auch für die Gesellschaftswissenschaft, Gesetze der moralischen Mechanik herauszuarbeiten und darin eine im wahrsten Sinne des Wortes „positive und induktive Wissenschaft“ (Durkheim 1986b: 47; Betonung im Original) zu begründen.119 Oder nochmals in Durkheims eigenen Worten: „Ces normes impersonnelles de la pensée et de l’action sont celles qui constituent le phénomène sociologique par excellence et il existe entre elles et la société le même rapport qu’entre les fonctions vitales et l’organisme: elles dépendent de l’intelligence et de la volonté collective. Elles constituent donc la matière propre de la physiologie sociale“ (Durkheim 1975a: 30). Damit stößt Durkheim auf den eigentlichen Problem- und Lösungskomplex von Wissenschaft, denn „(...) pour qu’une véritable sociologie puisse exister, il est nécessaire que se produisent dans chaque société des phénomènes dont cette société soit la cause spécifique et qui n’existeraient pas si elle n’existait pas, et qui ne sont ce qu’ils sont que parce qu’elle est constituée comme elle l’est“ (Durkheim 1975a: 23; Betonung im Original).120 Wissenschaftliches 119 Explizit darauf verweist beispielsweise auch der Titel der Publikation „Physik der Sitten und des Rechts“ (Durkheim 1991). 120 Worauf Durkheim mit diesem Hinweis abzielt, ist offensichtlich: Die soziale Realität spricht nicht für sich selbst, denn sonst bedürfte es ja keiner wissenschaftlichen Beschreibung derselben und noch weniger der Soziologie. Das Gegenteil aber ist der Fall: „Für den Wissenschaftler gibt es keine Wirklichkeit, die aus sich selbst heraus evident wäre, die am Anfang der Untersuchung nicht behandelt würde und behandelt werden müßte wie ein x, als vollständig unbekannt. Um die Wirklichkeit zu erfassen, bedient man sich zunächst der äußeren Zeichen, in denen sie sich am offenkundigsten manifestiert. Dann ersetzt man diese äußeren, sichtbaren Zeichen durch andere, entsprechend dem jeweiligen Stand der Untersuchung. Aber erst wenn man den Kreis der sichtbaren Erscheinungen verlassen hat, ist es möglich, die
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Beobachten setzt Variation voraus, die doch eigentlich erst Ergebnis der Beobachtung sein kann, denn, das ist tautologisch, erst die (temporale oder strukturelle) Unterscheidbarkeit von mindestens zwei Gesellschaften macht diese als je verschiedene auf einen gemeinsamen Bezugspunkt des Ähnlichen hin sichtbar. Die Lösung liegt für Durkheim in einem universalen Vergleichsgesichtspunkt, auf den hin soziale Fakten erst wissenschaftlichen, d.h. objektivierten, d.h. sinnkonstituierenden Status gewinnen, woran wiederum die Allgemeinheit des Gesichtspunkts bestätigt werden kann (Durkheim 1992: 81, 91). Es ist wenig überraschend, dass dieser in der Durkheim’schen Denkungsart in der „Faktizität von Moral oder Kollektivbewußtsein“ (Luhmann 1977: 28) zu finden ist. Dass es hinter diese kein Zurück geben kann, begründet sich rekursiv: Denn ist davon auszugehen, dass jedes soziale Faktum einer je spezifischen Funktion dient (sonst hätte es gar nicht erst den Rang eines solchen), lässt sich mit Hilfe des Vergleichs auf funktionale Äquivalenz schließen. Das ist bei Durkheim freilich bereits im Vorhinein eingeschränkt, geht es ihm doch immer schon um die an der funktionalen Analogie von mechanischer und organischer Solidarität orientierten Behauptung, dass auch arbeitsteilige Gesellschaften über eine ihnen je spezifische Moral verfügen. Im Umkehrschluss ist es dann die grundlegende Unverzichtbarkeit von Moral, die diese zum universalen Vergleichsgesichtspunkt aller soziologischen Betrachtung macht (Durkheim 1961: 205; Durkheim 1992: 89-90, 277). Mit anderen Worten: Um Moral als strukturgebenden und strukturvariierenden Bezugspunkt des Sozialen gibt es bei Durkheim kein Herum, ist es doch sie allein, die den gesellschaftlichen Vorkommnissen durch Einordnung in allgemeine Gesetzmäßigkeiten erst Wissenschaftlichkeit verleiht. Die Objektivität ihrer Perspektive gewinnt die Soziologie also an ihrem Gegenstand, auch und gerade weil sie sich diesem immer nur von einem je spezifischen Standpunkt her nähern kann (Durkheim 1961: 110, 119, 166; Durkheim 1992: 114). Dass Durkheim hier bereits von einer Verdoppelung der Welt durch Wissenschaft in „reale“ Realität und Beschreibung derselben ausgeht, zeigt sich nicht zuletzt an dem Hinweis, dass sich wissenschaftliche Beobachtung einer als uneinholbar komplex verstandenen Welt immer schon komplexitätsreduziert und komplexitätsreduzierend nähert (Durkheim 1961: 200-201).121 Denn das Problem einer Wissenschaft, die sich noch in ihren Kinderschuhen befindet, liegt ja gerade darin, noch gar nicht über die entsprechenden Abstraktionen zu verfügen, um daran Vergleichsbeobachtungen anzuknüpfen (Durkheim 1961: 168; Durkheim 1973: 18). Ein derartiges Wissenschaftsverständnis muss zwangsläufig Komplexitätsreduktion voraussetzen,
eigentlichen Merkmale der Sache zu erfassen, diejenigen nämlich, die zu ihrem Wesen gehören (...)“ (Durkheim 1986b: 43-44). 121 So muss etwa, was in der Realität untrennbar miteinander verschlungen ist, zunächst auseinanderdividiert werden, um es später wieder als wissenschaftliche Aussage zusammenzufügen (Durkheim 1984b: 46).
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wo sie zu erreichen ist. Gerade das ist aus Durkheims Sicht nicht das Problem, sondern die Lösung, denn „[E]s gibt nämlich nur ein Mittel, um eine Wissenschaft zu etablieren, sie nämlich, allerdings mit Methode, zu wagen. Zweifellos ist es unmöglich, dies zu tun, wenn jede materielle Grundlage fehlt. Andererseits aber täuscht man sich, wenn man glaubt, daß die beste Art, ihr Erscheinen vorzubereiten, die wäre, zuerst mit Geduld alle Materialien aufzuhäufen, denn man kann erst wissen, welche davon sie benötigt, wenn sie sich schon ihrer selbst und ihrer Bedürfnisse bewußt ist, d.h. wenn sie bereits existiert“ (Durkheim 1992: 82).
Mit anderen Worten: Die Soziologie kann ihre eigenen Entstehungsbedingungen nicht leugnen, muss sich also die Frage nach der ihr kontingenten Funktion gefallen lassen, gerade weil sich Beobachtungsgegenstand und Perspektive im selben Prozess ausdifferenzieren wie sie selbst (Durkheim 1973: 360; Durkheim 1992: 77). Der gesellschaftliche Differenzierungsprozess selbst bringt die Notwendigkeit von Wissenschaft als Lösung für das Problem einer Leerstelle hervor, die die unhinterfragbare Weltdeutungsfunktion der Religion hinterlassen hat. Aufgrund der starken Traditionsverhaftung einfacher Gesellschaften, die Reflexion weder möglich noch wünschbar erscheinen lässt, besteht in diesem Stadium schlicht kein Bedarf für Wissenschaft. Das ändert sich erst in dem Moment, in dem die religiöse Weltinterpretation endgültig an Plausibilität verliert und die Wissenschaft als funktionales Äquivalent an ihre Stelle rückt. Deren spezifische Aufgabe liegt nun darin, die bislang mit dem Religiösen verschlungene, nun säkularisierte Moral herauszukristallisieren und als (idealtypische) Vergleichsfolie für eine Wirklichkeit bereitzustellen, deren Unvollkommenheit so erst erkannt werden kann, um einen Raum zukunftsoffener Bearbeitung zu entfalten. Die Soziologie tut dies nicht nur in und vor dem je herrschenden gesellschaftlichen Hintergrund, sondern muss dabei auch zwangsläufig mit demselben gehen (Durkheim 1984b: 49, 64, 66; Durkheim 1992: 78-79, 80). Mehr noch: Sie kann und muss dabei gar nicht darauf zählen, sich jemals in dem Sinne zu vollenden, dass sie die soziale Wirklichkeit in Gänze abzubilden vermag. Denn dagegen spricht ebenso Umfang und Komplexität ihres Gegenstands wie die immanente Unruhe der gesellschaftlichen Zustände überhaupt. Oder in den Worten René Königs: Das soziale Feld sorgt selbst dafür, dass „(...) die Probleme zahlreicher als die Lösungen“ (König 1976: 364) bleiben. Für Durkheim zeichnet sich die Soziologie also letztlich gegenüber allen anderen Disziplinen des sozialwissenschaftlichen Kanons – von Ökonomie und Politik über Geschichte bis hin zu Philosophie und Recht – durch die Allgemeinheit ihres Gegenstands und ihrer Perspektive aus. Sie fungiert eben darin nicht als bloße Ergänzung, sondern bündelt die genannten Einzelwissenschaften auf einen gemeinsamen Bezugspunkt hin, eben weil sie diese auch noch in sich selbst vorsieht (Durkheim 1975a: 33-36). Dieser Hinweis aber führt zurück zur anfänglichen Beobachtung einer moralischen Überformung der Durkheim’schen Gesellschaftstheorie. Es ist letztlich deren eigentümliches Bedingungsverhältnis zwischen Konstitution des Sozialen, Theorie-
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anlage und Methodik, die die soziologische Beschreibung so nah an Moral bringt und andersherum. Oder wie René König dies deutet, will Durkheim „(...) nicht Rezepte aus der Wissenschaft entnehmen, um die Krise zu überwinden, sondern Soziologie als eine Moralwissenschaft begründen, womit gleichzeitig die Grundlagen einer neuen Gesellschaft sichtbar werden (...)“ (König 1976: 320). Es ist der eigentliche Wesenszug einer derartigen Soziologie, es nur mehr mit der normativen Integration von Gesellschaften zu tun zu bekommen, ja eine solche voraussetzen zu müssen, eben weil sich daran überhaupt erst Gegenstand und Perspektive konstituieren. Mehr noch: Die Soziologie wird in der modernen Gesellschaft zum zentralen Ort der Identifizierung von und der Identifikation mit Moral. Eine Art säkularisierte Religion, wenn man so will. Oder wie Durkheim es formuliert: „Die Soziologie kann uns nicht fertige Verfahren reichen, deren wir uns nur zu bedienen hätten. Gibt es diese überhaupt? Aber sie kann mehr und sie kann es besser: Sie kann uns das geben, was wir am dringendsten brauchen, d.h. ein Bündel richtungsweisender Ideen, die die Seele unserer Praxis sind und die sie stützen, die unserem Tun einen Sinn geben und uns an sie binden“ (Durkheim 1984b: 54-55).
5.1.2 Die selbststabilisierende Wirkung moralisch integrierter Gesellschaften 5.1.2.1
Individuum und Gesellschaft als gegenseitiger Bedingungs- und Steigerungszusammenhang
Wie bereits erwähnt, gewinnt Durkheim am Krisenmoment Ausgangspunkt und Dynamik seiner Betrachtungen. Dieses interpretiert er allerdings nicht als ein bloß ökonomisches Verteilungsproblem. Dauer und Schwere der Krise sprechen von einem tieferliegenden, strukturellen Umbruch, dessen Begleiterscheinungen sich als Vorherrschaft einer rein ökonomisierten Logik äußern. Denn die aus den traditionalen Bindungen freigesetzten Menschen handeln jetzt ganz selbstsüchtig und rücksichtslos nur noch für die eigene Nutzenmaximierung (Durkheim 1991: 20-23; Durkheim 1973: 290-292). Es ist eben diese „(...) Entfesselung der ökonomischen Interessen“, so Durkheim, die „zu einem Niedergang der öffentlichen Moral geführt hat“ (Durkheim 1991: 24-25) und darin jegliche gesellschaftsintegrierende Wirkung entbehren muss. Just in dem Moment also, in dem der Bedarf an einer handlungsleitenden bzw. disziplinierenden Autorität am größten ist, erweist sich deren Durchsetzungsfähigkeit als am geringsten, eben weil nicht den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen entsprechend. Das zu heilen, denn darum geht es Durkheim letztlich, ist keine bloß organisatorische Aufgabe, sondern eine zutiefst moralische (Durkheim 1973: 289; Durkheim 1984b: 132). Dazu gilt es jedoch, die strukturellen Bedingungen moderner Gesellschaften genauestens im Auge zu behalten: Deren hoher Individualisierungsgrad ist ebenso
5.1 Von Eigentum zu Moral
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wenig von der Hand zu weisen wie die gesteigerten Abhängigkeitsverhältnisse, die die Arbeitsteilung hervorgebracht hat. Dies spitzt sich zum grundlegenden Problemzusammenhang Durkheim’schen Denkens zu: „Wie geht es zu, daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein?“ (Durkheim 1992: 82). Die Freisetzung aus traditionellen moralischen Milieus, wie sie bis Ende des 18. Jahrhunderts noch in Familie, Religion und politischen Gemeinschaften aufgehoben waren, darf aus der Sicht Durkheims jedoch weder als Freifahrtschein egoistischen Handelns missgedeutet werden noch kann ob des hohen Komplexitätsgrads arbeitsteiliger Gesellschaften von einer willentlichen Übereinkunft vernunftbegabter Individuen als gesellschaftsbegründenden Akt ausgegangen werden.122 Deren strukturelle Grundbedingungen sprechen schlicht gegen den Kontraktualismus, eben weil der hohe Spezialisierungsgrad die Unmittelbarkeit von Punkt-für-Punkt-Beziehungen grundsätzlich ausschließt. Benannt sind damit die berühmten „nichtkontraktuellen Bedingungen des Vertrags“: „(...) [d]enn nicht alles ist vertraglich beim Vertrag. Die einzigen Verpflichtungen, die diesen Namen verdienen, sind jene, die von den Individuen gewollt sind und keinen anderen Ursprung haben als diesen freien Willen. Umgekehrt hat keine Verpflichtung, die nicht gegenseitig zugestanden ist, etwas Vertragliches an sich. Nun ist aber der Vertrag überall dort, wo er existiert, einer Regelung unterworfen, die das Werk der Gesellschaft und nicht das der Einzelperson, und diese Reglementierung wird immer umfangreicher und immer komplizierter“ (Durkheim 1992: 267-268).
Das Anomische bzw. Pathologische der zeitgenössischen Bedingungen, das steht für Durkheim fest, darf jedoch gerade nicht als unumstößliche Eigenheit moderner Zeiten gedeutet werden. Das Krisenhafte der Gegenwart erklärt sich aus der Abwesenheit notwendig vorausgesetzter Bedingungen (Durkheim 1992: 433). Und es ist nicht schwer zu sehen, dass damit die gesellschaftliche Moral gemeint ist: Es gilt aus Durkheims Sicht grundsätzlich zu verstehen, dass soziostrukturelle Komplexitätssteigerungen nicht einen Verfalls-, sondern einen Ablösungsprozess dominanter Moralvorstellungen in Gang setzen, die sich als „soziale Desorganisationserscheinungen“ (König 1976: 325) äußern und die Möglichkeit eröffnen, dies zu heilen.123 Dreh- und Angelpunkt Durkheim’scher Beschreibung ist also der grundsätzlich positiv gehaltene Zusammenhang von Arbeitsteilung und Moral, den Parsons später im expliziten Verweis auf Durkheim in den von Differenzierung und Integration 122 Ein Einwand, den Durkheim gerade auch gegen Kant formuliert, der – so der Vorwurf – Vernunft und darin Moral zur transzendentalen Eigenschaft des Individuums macht. Der Einzelne und dessen Motive aber müssen der Soziologie aus dieser Sicht grundsätzlich verborgen bleiben. Die das Individuum transzendierende Qualität der Moral aber ist nicht willkürlich, weil sie allgemein ist, und also wissenschaftlich deutbar (Durkheim 1984b: 156-160; Durkheim 1986a: 59). 123 Und es wird noch zu zeigen sein, dass dies in sich selbst aufgehoben ist. Bringt der evolutionäre Prozess mit der Arbeitsteilung doch erst diejenigen gesellschaftlichen Bedingungen hervor, in denen man erst verstehen können muss, dass man verstehen können muss, dass sie als Bedingungen der Gesellschaft gegen die Krise herzustellen sind.
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überführen wird (Luhmann 1977: 18-19; Tyrell 1985: 181-182).124 In beiden Unterscheidungen schwingt unweigerlich die Frage nach der „Zerreißfestigkeit“ (Luhmann 1977: 22) des sozialen Bandes mit, das die Einzelnen aneinander und an die Gesellschaft bindet. Und an der Frage nach der Dehnbarkeit desselben konstituiert sich entsprechend die Soziologie als eigenständige Disziplin. Der Weg, den Durkheim dafür beschreitet, liegt, darauf hat Luhmann hingewiesen, nicht in Abgrenzung, sondern im Anschluss an die Theorie der Arbeitsteilung, wie sie ursprünglich vom schottischen Aufklärer Adam Smith geprägt wurde (Luhmann 1977: 20). Durch die Herauslösung aus dem ursprünglich ökonomischen Sinnzusammenhang und die Zuweisung gesamtgesellschaftlicher Relevanz als strukturelles Charakteristikum und Bestandsgarantie moderner Gesellschaften gewinnt der Begriff der Arbeitsteilung Bedeutung für explizit soziologische Betrachtungen (Tyrell 1985: 186).125 Mit einer Einschränkung: „Nichtverzichtbar erscheint ihm [Durkheim – Anm. d. Verf.] am Begriff der Arbeitsteilung (...) nur der Rahmen solidaritätskonformen Handelns, der Bezug auf einen anerkannten gesellschaftlichen (nicht notwendig ökonomischen) Nutzen. Daran wird deutlich, daß der Begriff der Arbeitsteilung vorweg koordiniert ist mit den Begriffen Solidarität und Moral“ (Luhmann 1977: 21). Es geht also nicht darum, Arbeitsteilung als Koordinationsproblem zu deuten, sondern als genuin „moralischen Sachverhalt“ (Tyrell 1985: 189; Betonung im Original). Das ist offensichtlich tautologisch: Während Solidarität und Harmonie sich durch ihre zutiefst moralische Qualität auszeichnen, manifestiert sich für Durkheim der zentrale Wesenszug der Arbeitsteilung daran, „(...) zwischen zwei oder mehreren Personen ein Gefühl der Solidarität herzustellen“ (Durkheim 1992: 102). Arbeitsteilung ist letztlich aufs engste mit der „Errichtung einer Sozialund Moralordnung sui generis“ (Durkheim 1992: 108; Betonung im Original) koordiniert.126 Daran gewinnt sie aus Durkheims Sicht eine wesentlich bedeutendere, weil gesamtgesellschaftliche Funktion als die Ökonomie ihr jemals beimessen konnte. „Das ‚vinculum sociale’ ist eben deshalb ein moralischer Sachverhalt, weil es mit Notwendigkeit die Individuen ‚in die Pflicht nimmt’, ihnen Normen auferlegt und ihre Egoismen zügelt. Das aber verfehlt die utilitaristische Tradition, die die indivi124 Die Wahl des Begriffs der Arbeitsteilung im Gegensatz zu dem der Differenzierung ist von verschiedenen Seiten kommentiert worden. So teilen Luhmann, König und Tyrell die Ansicht, dass sich an der engen Verquickung zum Moralbegriff mehr abzeichnet, als der bloße Hinweis auf (ökonomische) Abhängigkeiten (siehe König 1976: 322; Luhmann 1977: 20-21; Tyrell 1985: 183-186). 125 Bis hin zur sexuellen Arbeitsteilung, der die Familie als soziale, nicht naturgegebene Institution entspricht (Durkheim 1992: 103, 175). 126 In diesem Sinne ist Arbeitsteilung weder Ursprung von Zivilisation noch der vorherrschenden Anomie der europäischen Gegenwart (Durkheim 1992: 45, 96, 100). Ersteres nicht, weil dem zivilisatorischen Effekt im Durkheim’schen Verständnis kein Eigenwert innewohnt: Gesellschaften kennen sich im Normalzustand immer als moralische, seien sie nun primitiv oder fortgeschritten. Zweites nicht, weil Arbeitsteilung eine moralische Ordnung hervorzubringen vermag. Das grundlegende Problem muss also woanders liegen.
5.1 Von Eigentum zu Moral
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duellen Bedürfnisse und egoistischen Nutzenkalküle ja gerade positiv nimmt“ (Tyrell 1985: 190-191). Arbeitsteilung markiert in diesem Sinne eine nicht zu unterschätzende Doppelfunktion, an der sich einerseits die Diagnose einer tiefgreifenden moralischen Krise moderner Gesellschaften festmacht: Der soziale Wandel von segmentären zu modernen Gesellschaften vollzieht sich nicht harmonisch, sondern hat soziale Zersplitterung und normative Desintegration zur Folge. Andererseits steht der Begriff für eine den modernen Gesellschaften eigene, gesteigerte Form von Moral und Solidarität. Mit anderen Worten: An der Ambiguität der Arbeitsteilung als Problembezug und sozialer Steigerungsbedingung gewinnt die Durkheim’sche Beschreibung den ihr eigenen Spannungsbogen und die Soziologie ihr autonomes wissenschaftliches Betätigungsfeld. Womöglich könnte man an dieser Stelle auch so weit gehen, im Doppelbezug des Begriffs eine Art Katalysatorfunktion ähnlich dem Naturzustand im Kontraktualismus zu vermuten. Die Aufhebung der moralischen Differenzbeschreibung in der Arbeitsteilung leistet gewissermaßen Starthilfe für die Entfaltung des Durkheim’schen Denkgebäudes, ist theorietechnisch damit doch sichergestellt, dass Sozialität ihre eigenen Bedingungen je selbst entfaltet. Eine Eigenart, die aufs engste mit der Komplementarität von positivistischer Methode und quasi unterstellten Pauschalbegriffen (Gesellschaft, Kollektivbewusstsein, Solidarität, Moral, Recht) koordiniert scheint, deren Funktion offensichtlich darin besteht, sich gegenseitig eine Art soziologisches Alibi zu verschaffen (Luhmann 1977: 33; Tyrell 1985: 191). Gesellschaft ist dann als Realität sui generis immer schon gegeben, weil sie mehr ist als die Summe ihrer Teile, deren Leben und Denken sie erst prägt und denen sie also nicht äußerlich sein kann: Sie ist „(...) ein Zustand der Gruppe, der sich bei den Einzelnen wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt. Er ist in jedem Teil, weil er im Ganzen ist, und er ist nicht im Ganzen, weil er in den Teilen ist“ (Durkheim 1961: 111). Der Einzelne kann sich dann gar nicht als ein vor- oder nebensoziales Wesen kennen, weil er sich nicht von der kulturellen Lebenswelt – Wertvorstellungen, geteilte Symboliken, normative Erwartungen, Vorgaben des zwischenmenschlichen Umgangs, herrschende Meinungen – isolieren kann, in der er lebt (Durkheim 1967: 108; Durkheim 1973: 236; Durkheim 1975a: 25). Mehr noch: Aus Durkheims Sicht trifft das Soziale im Individuum immer schon auf einen „Zustande des Dafürhaltens“ (Durkheim 1992: 45). Abweichendes Verhalten und Denken gewinnen hier keinerlei theoretischen Eigenwert, da sie lediglich temporäre Störungen der Normalsituation darstellen (Luhmann 1977: 25). Die „Wahrheitsbedingung“ gesellschaftlicher Vorstellungen scheint in diesem Sinne immer schon angelegt. Während dies für religiös integrierte Gesellschaften durchaus einsehbar ja geradezu charakteristisch scheint, verliert sich dies für Durkheim auch im Verlauf des Modernisierungsprozesses nicht. Auch moderne Gesellschaften produzieren weiterhin quasi-mythologisch anmutende Beschreibungen ihrer selbst (Durkheim 1993: 149). Das ist nicht das Problem und schon gar kein Defekt, sondern Hinweis
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5 Die Perspektive des soziologischen Positivismus’
auf eine für die Gesellschaft nach wie vor unverzichtbare Funktion: Die je spezifische Klärung der Frage, warum das Individuum will, was es soll und soll, was es will. Und die Antwort lautet: Weil der Mensch nur in der Gesellschaft die Erfüllung der je verschiedenen „ideale[n] Humanität“ (Durkheim 1973: 395) findet. In diesem Sinne zeichnen sich auch schon die einfachsten Gesellschaften durch einen, wenn auch ganz unreflektierten Grad an Selbstreflexion aus, insofern sie sich in der religiösen Selbstbeschreibung bereits von sich selbst unterscheiden.127 In ihrer unpersönlichen Qualität ist die Gesellschaft Quelle der moralischen Vorschriften, an denen sie wiederum ihre je spezifische (hier: mechanische oder organische) Solidaritätsform gewinnt.128 Moral und Recht konstituieren die Sozialordnung, die sie gleichzeitig ganz unverfälscht abbilden, und fallen daher in dieser Theorieanlage mehr oder weniger ununterscheidbar in eins: „Recht und Moral sind die Gesamtheit der Bande, die uns untereinander und mit der Gesellschaft verbinden, die aus einer Masse von Individuen ein kohärentes Aggregat werden lassen. Moralisch ist, könnte man sagen, alles, was Quelle der Solidarität ist, alles, was den Menschen zwingt, mit dem anderen zu rechnen, seine Bewegungen durch etwas anderes zu regulieren als durch die Triebe seines Egoismus, und die Moralität ist um so fester, je zahlreicher und stärker diese Bande sind“ (Durkheim 1992: 468).
Persönliche Ziele, einzeln oder summiert, erweisen sich in diesem Sinne als moralisch neutral. Dass das Denkgebäude dabei selbst früher oder später auf die Frage aufläuft, was denn letztlich die Moral von Moral ist, bleibt auch Durkheim nicht verborgen, der die Unbeantwortbarkeit dieses Problems kurzerhand in sich selbst zurückverweist: Dass Moral (bzw. Solidarität) den letzten Bezugspunkt des Sozialen bezeichnet, weist sich daran aus, dass sich diese als spezifische Funktion im Prozess evolutionären Fortschreitens selbst nicht ausdifferenziert. In ihr ist die Sozialität des Sozialen nicht weiter steigerbar: „Eine Gesellschaft bleibt in einem gewissen Maß in der ganzen Dauer ihrer Existenz sich selbst gleich. Unter den Veränderungen, die sie durchmacht, ist ein Dauerelement, das immer das gleiche 127 Das bedeutet nicht unbedingt, dass Durkheim davon ausgeht, dass religiöse Gesellschaften einfach „gestrickt“ sind. Wie komplex und vielschichtig sich das jeweilige Glaubenssystem darstellt, ist eine empirische Frage und bestimmt nicht über den zivilisatorischen Status, sondern lediglich über die Einordnung im Hinblick auf das moralische Strukturprinzip. Dennoch lassen sich die Hinweise von Hartmann Tyrell nicht von der Hand weisen, dass eine derartige Theorieanlage dazu tendiert, religiös fundierte Gesellschaften als unterkomplex zu deuten (Tyrell 1998). Gehört es doch, wie die Arbeit zu zeigen versucht, zu den Eigenheiten des bürgerlichen Zeitalters, Modernisierung als Säkularisationsprozess zu deuten, der die gesellschaftlichen Bedingungen zu Bedingungen der Gesellschaft macht. 128 Moral ist dann immer praktisch und theoretisch zugleich. Das gilt es allerdings zu unterscheiden: „Das Wort Moral hat landläufig zwei verschiedene Bedeutungen. Man versteht darunter eine Gesamtheit von Urteilen, die die Menschen individuell oder kollektiv über ihre eigenen Handlungen sowie über die ihresgleichen fällen in der Absicht, ihnen einen ganz besonderen Wert beizumessen, der ihnen mit anderen menschlichen Werten nicht vergleichbar erscheint. Das ist der moralische Wert. (...) Man versteht unter Moral aber auch jede methodische und systematische Spekulation über die Gegenstände der Moral“ (Durkheim 1986b: 33-34; Betonung im Original).
5.1 Von Eigentum zu Moral
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bleibt. Das Moralsystem, das sie praktiziert, weist also den gleichen Grad der Identität und Dauer aus. (...) Andrerseits aber verändert sich die Moralität parallel mit der Gesellschaft, die sich, obwohl sie sie selbst bleibt, ständig weiterentwickelt. In dem Maß, wie die Gesellschaften komplizierter und biegsamer werden, werden diese Veränderungen rascher und deutlicher. Darum haben wir sagen können, daß es heute unsere wichtigste Pflicht ist, uns eine Moral zu schaffen. Wenn also das Moralleben vor allem die ganze soziale Natur ausdrückt, ohne so flüssig zu sein, daß sie sich nicht festigen könnte, so ist sie doch fähig, sich unendlich zu entwickeln“ (Durkheim 1984b: 152153).
5.1.2.2
Von mechanischer zu organischer Solidarität
Das bislang Dargelegte sollte deutlich machen, dass die Durkheim’sche Theorieanlage Individuum und Gesellschaft in ein gegenseitiges Bedingungs- und Steigerungsverhältnis bringt – orientiert an Moral. Die Möglichkeit moralischer Zustandsund evolutionärer Bewegungsaussagen muss dann allerdings mit einer strikt zweiwertigen Logik erkauft werden, die von der Gegenüberstellung gegensätzlicher Gesellschaftsstrukturen lebt. Gemeint ist die bekannte Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität, die auf die je herrschenden gesellschaftlichen Strukturbedingungen von kultureller Ähnlichkeit und struktureller Verschiedenheit zugeschnitten sind, darin aber funktional äquivalent wirken. Mit anderen Worten: Sie sind moralisch gleichrangig, aber nicht strukturell gleichartig. Dabei liegt der evolutionäre Auftakt in den auf dem Prinzip der Ähnlichkeit aufruhenden segmentären Gesellschaften, aus denen sich die durch Verschiedenheit charakterisierten arbeitsteiligen Gesellschaften entwickeln. Zeichnen sich die einfachen Gesellschaften dadurch aus, Gleichartiges in einem diffusen Ganzen aufzuheben, sind funktional differenzierte, komplexe Gesellschaften dadurch charakterisiert, Divergentes auf einen gemeinsamen Punkt hin zu beziehen. Die Gegenüberstellung drängt dabei bereits den Eindruck auf, dass Durkheim jene als ganz unbewusst integriert deutet, während sich diese durch das genaue Gegenteil auszeichnen.129 Auffällig ist dabei, dass sich Durkheim bei der Grundsteinlegung des sozialen Lebens ganz auf Religion verlässt. Sie bietet ihm das unhinterfragbare Fundament, die ursprünglich zwingende Kraft, die aus einer Horde von Individuen eine soziale Einheit macht. „Am Anfang erstreckt sie [die Religion – Anm. d. Verf.] sich auf alles; alles, was sozial ist, ist religiös; die beiden Wörter sind Synonyme“ (Durkheim 1992: 224). Es ist die „religiöse ‚Urstiftung’ des sozialen Lebens“ (Tyrell 1985: 202), die, weil sie ausnahmslos alle an die Rechtsgrundsätze einer höheren Gewalt bindet, ein festes soziales Band zwischen diesen knüpft. Je enger, umfassender und solider 129 Die unglückliche Ambiguität des Begriffs des Kollektivbewusstseins, wie sie auch König und Tyrell beobachten, macht es Durkheim dabei schwer, die Differenz, Autonomie und Gleichwertigkeit beider Solidaritätsformen zu plausibilisieren (König 1976: 342; Tyrell 1985: 194-195). Die Waagschale scheint sich immer eher auf Seiten der mechanischen Solidarität zu senken.
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dieses ist, desto stärker ist die gemeinschaftliche Kraft an sich und im Einzelnen. Andersherum bedeutet das, dass individuelle Persönlichkeit und Interessen hier deutlich gen null tendieren, denn „[I]m Anfang ist die Gesellschaft alles, das Individuum nichts. Demzufolge sind die intensivsten sozialen Gefühle die, die das Individuum an die Kollektivität binden; sie ist Selbstzweck. Der Mensch wird zum bloßen Werkzeug in ihren Händen. Allein durch sie scheint er alle seine Rechte zu haben, er hat kein Vorrecht ihr gegenüber, weil es über sie hinaus nichts gibt“ (Durkheim 1973: 394).
Die Struktur primitiver Gesellschaften ist dabei aufs engste mit der Rechtsform des repressiven Rechts verbunden. In einem religiös fundierten Rechtssystem obliegt es dem Strafrecht, die integrative Wirkung der kollektiv geteilten religiösen Vorschriften aufrechtzuerhalten (Durkheim 1961: 113; Durkheim 1992: 137-139, 151-153). Die nach außen hin gleichartig strukturierten segmentären Gesellschaften, seien es nun Familien, Sippen oder Stämme, sind nach innen strikt hierarchisch um eine zentrale, sanktionierende Gewalt organisiert (Durkheim 1992: 133-134, 154). In der Religion wurzeln jedoch nicht nur die Rechtsvorschriften einfacher Gesellschaften, sondern auch deren Alltagskultur. In den gemeinsamen Vorstellungen, Glaubenssätzen, Mythen, Empfindungen, Ritualen und Normen – kurz: der „Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle“ (Durkheim 1992: 128) – versorgen sich diese mit einem Deutungssystem, das Alternativbeschreibungen ebenso autoritär ausschließt wie grundsätzlich undenkbar macht. Das Kollektivbewusstsein stellt die Gleichartigkeit individuellen Denkens und Fühlens sicher. Kurzum: In Gesellschaften mechanischer Solidarität sichert der Zwang zur Homogenität die Bindung an eine gemeinsame Autorität, die ein Interesse an der Kontinuität des Ähnlichen haben muss, um ihre Existenzbedingungen sichern zu können (Durkheim 1975a: 27; Durkheim 1961: 203; Durkheim 1993: 141, 143). Demgegenüber stellt Durkheim die auf Verschiedenheit abstellenden arbeitsteiligen Gesellschaften. Nach und nach lösen sich gesellschaftliche Funktionalitäten – Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Recht, Kunst etc. – aus dem unmittelbaren Zugriff des Religiösen und gewinnen in der arbeitsteiligen Gesellschaft ebenso an Eigenleben wie die Individuen, die sich vor dem Hintergrund dieser Entwicklung zunehmend als Quelle ihrer eigenen Lebensbedingungen begreifen. Sicht- und messbar wird dies an der Abnahme des repressiven Rechts gegenüber einem neuartigen restitutiven Privatrecht.130 Im gleichen Maße verliert die politische Autorität ihre vorherrschende, religiös unterlegte Vormachtstellung über vormals gleichartige Segmente und reduziert sich (wie andere Funktionen auch) auf einen spezifischen Bereich, der sich durch die Professionalisierung politischer Entscheidung in zu130 Durkheim ist sich natürlich sehr wohl bewusst, dass grundlegende strafrechtliche Vorgaben nicht an Gültigkeit verloren haben. Sie gewinnen allerdings keine gesellschaftsdifferenzierende Funktion mehr, da sie im Zuge des primär ökonomisch betriebenen Veränderungsprozesses zugunsten des Privatrechts in den Hintergrund treten.
5.1 Von Eigentum zu Moral
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nehmend bürokratisch organisierten Strukturen auszeichnet (Durkheim 1961: 113; Durkheim 1991: 64; Durkheim 1992: 241-243). Die traditionell integrative Kraft der mechanischen Solidarität schwächt sich im Laufe des strukturellen Wandels zunehmend ab. Damit muss konsequenterweise auch das die einfachen Gesellschaften auszeichnende Kollektivbewusstsein zunehmend hinter die Individualisierung des individuellen Bewusstseins zurücktreten. Gesellschaft und Individuum gewinnen darin gleichermaßen an enormen Freiheitsgraden: „Die Gesellschaft wird fähiger, sich als Ganzes zu bewegen, während zugleich jedes ihrer Elemente mehr Eigenbewegungen hat“ (Durkheim 1992: 183). Gerade das darf jedoch nicht als Auflösung moralischer Gesichtspunkte missgedeutet werden, sondern muss als Säkularisationsprozess in einem ganz spezifischen Sinne verstanden werden: „Eben hierin besteht der moralische Wert der Arbeitsteilung. Durch sie wird sich der Mensch seiner Abhängigkeit gegenüber der Gesellschaft bewußt; ihr entstammen die Kräfte, die ihn zurückweisen und in Schranken halten. Mit einem Wort: Dadurch, daß die Arbeitsteilung zur Hauptquelle der sozialen Solidarität wird, wird sie gleichzeitig zur Basis der moralischen Ordnung“ (Durkheim 1992: 471).
Organische Solidarität zeichnet sich aus der Sicht Durkheims also dadurch aus, dass sie die durch Verschiedenheit gekennzeichneten Elemente arbeitsteiliger Gesellschaften nicht durch Zwang, sondern durch Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit derselben auf einen gemeinsamen Punkt hin bezieht. Politik, Recht, Ökonomie, Erziehung, Bürokratie, Religion – die arbeitsteilige Industriegesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass die je funktionalen Bereiche in sich und im Bezug aufeinander strittig sind. Die sich daraus ergebenden Konflikte in geeignete soziale Bahnen zu lenken, darin liegt aus Durkheims Sicht die eigentliche Leistung der modernen Gesellschaft. Durkheim rechnet also durchaus nicht mit grundsätzlich harmonischen Gesellschaftszuständen, wohl aber damit, die widerstreitenden Kräfte in ein harmonisiertes Gleichgewicht bringen zu können – wenn dieses auch nie endgültig sein kann. Oder wie René König es formuliert: „Die Form ist (...) nicht von selbst da, sondern muß dem Leben in immer neuen Anläufen abgerungen werden; das ist ihr dynamisch-kreativer Kern“ (König 1976: 319). Das grundlegende Problem weist sich für Durkheim an ganz anderer Stelle aus und zwar dort, wo es um das Zusammenwirken der Matrix von aktuellem gesellschaftlichem Moral- bzw. Solidaritätszustand, Recht und Kollektivbewusstsein geht (Durkheim 1992: 436). Dass auch der arbeitsteiligen Gesellschaft eine ganz eigene Solidarität eignet, steht für Durkheim fest. Dass sich diese allerdings nicht von selbst einstellt, daran ist die Diskrepanz zwischen faktischem gesellschaftlichem Leben einerseits und den Normen, Regeln und Erwartungen der Lebenswelt andererseits schuld (Tyrell 1985: 198). Daran manifestiert sich das Krisenhafte der Situation und eben das gilt es nun überhaupt erst zu verstehen. Traditionelle Solidaritäten, Regeln und Normen können für die neu freigesetzten sozialen Kräfte der mo-
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dernen arbeitsteiligen Gesellschaft keine handlungsorientierende Funktion mehr gewinnen (Durkheim 1973: 288). Ein gemeinsam geteilter Moralhintergrund ist unverzichtbar, lässt sich allerdings nicht gegen, sondern nur mit den neuen Gegebenheiten rekonstruieren: „In demselben Maße wie die Gesellschaften umfangreicher werden, werden sie komplexer, es entsteht Arbeitsteilung, die Verschiedenheiten unter den einzelnen vervielfältigen sich und es kommt der Augenblick, in dem es zwischen den Gliedern einer menschlichen Gruppe nichts Gemeinsames mehr gibt, bis auf die Tatsache vielleicht, daß sie eben alle Menschen sind. Unter diesen Umständen kommt es natürlich dazu, daß sich die kollektive Empfindungsfähigkeit mit aller Kraft an dieses einzige und letzte Objekt klammert und ihm dadurch einen unvergleichlichen Wert vermittelt“ (Durkheim 1973: 395).
Mit anderen Worten: Für Durkheim erweist sich das Individuum als die eigentliche „gesellschaftliche Institution“ (Durkheim 1986a: 66) der Moderne. Dahinter gibt es kein Zurück, zumindest nicht, wenn die Gesellschaft nicht ihre eigenen Errungenschaften und damit sich selbst in Frage stellen will. Gerade der moderne Individualismus eröffnet jedoch dem „egoistischen Kult des Ichs“ (Durkheim 1986a: 56), das das eigene Wohl über das der Gemeinschaft stellt, Tür und Tor und erweist sich (anders als von der schottischen Aufklärung unterstellt) als ganz und gar unsolidarisch (Durkheim 1992: 227-228). Den gesellschaftlichen Kräften der Moderne wohnt, anders als denen der segmentären Gesellschaften, die integrative Kraft ihrer selbst also nicht bereits inne. Der theorietechnische Trick, zu dem Durkheim an dieser Stelle greift, ist dann ebenso einfach wie effektiv. Der evolutionäre Prozess bringt die gesellschaftlichen Bedingungen als Bedingungen hervor, die sich selbst hervorbringen müssen. Mit anderen Worten: Die moderne Gesellschaft muss sich ab jetzt zugleich „in sich und für sich wollen“ (Durkheim 1984b: 117). Das setzt andersherum voraus, dass diese in ganz besonderem Maße über „ein tiefes Gefühl ihrer selbst und ihrer Einheit“ (Durkheim 1992: 228) verfügt. Zu erreichen ist das aber nicht mehr mit Hilfe von Religion, sondern durch die Wissenschaft – genauer: der Soziologie, die, wie bereits in Kapitel 5.1.1 dargelegt, aufs engste mit der gesellschaftlichen Moral koordiniert ist (Durkheim 1975a: 25-26).131 Sie ermöglicht erst Einsicht und Erkenntnis in die gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart und macht so gestaltbar, was bislang durch unreflektierte Setzung entzogen war. Das aber verändert die sozialen Bedingungen grundlegend, denn jetzt gilt: „Wir sind die Herren der Moralwelt. Sie hat aufgehört, außerhalb unser zu existieren, da sie hiermit in uns durch ein System von klaren und deutlichen Ideen dargestellt ist, deren gesamte Beziehungen wir kennen. Dann sind wir in der Lage, uns zu versichern, in 131 Der Wissenschaft kommt dabei im Durkheim’schen Verständnis ein „objektiverer“ und darin „sozialerer“ Status zu als der Religion, da jene die soziale Realität vernunftgemäß begründet, die diese lediglich postuliert: „Das Band, das ursprünglich die beiden Systeme vereinte und verschmolz, hat sich immer mehr entspannt. Der Tag ist also gewiß, an dem wir es ganz lösen, weil wir geschichtsmäßig handeln. Wenn jemals eine Revolution von langer Hand vorbereitet worden ist, so ist es gerade diese“ (Durkheim 1984b: 63).
5.1 Von Eigentum zu Moral
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welchem Maß sie in der Natur der Dinge liegt, d.h. in der Gesellschaft; d.h. in welchem Maß sie ist, was sie zu sein hat. Und in dem Maß, in dem wir sie als solche erkennen, können wir ihr freiwillig zustimmen“ (Durkheim 1984b: 162). In Variation des oben Gesagten bedeutet das, dass man will, was man soll und soll, was man will, nicht aufgrund externen Zwangs, sondern eines verinnerlichten Zwangs der Vernunft.132 „Die Wissenschaft ist die Quelle unserer Autonomie“ (Durkheim 1984b: 161) und genau darin liegt ihre eigentliche Funktion.133 Die Individuen bestimmen den Grad ihrer Autonomie und Solidarität gewissermaßen selbst und zwar in dem Maße, in dem sie sich über die Individualisierung als Produkt eines sozialen Prozesses und deren Bedeutung für sie als der Notwendigkeit freiwilliger Zustimmung bewusst werden (Durkheim 1984b: 162, 164; Durkheim 1991: 94). Darin liegt die Lösung jenes Ausgangsproblems einer „geheimnisvollen Koinzidenz“, nach der die Gesellschaft mit fortschreitender Entwicklung zugleich sozialer und individueller wird, und zwar „(...) durch den Dualismus unserer Natur selbst: die Autonomie ist das Werk des vernünftigen Willens, die Heteronomie das Werk der Sensibilität“ (Durkheim 1984b: 155-156).134 Daran bestimmt sich ebenso die je mögliche Dehnbarkeit des sozialen Bandes wie der erträgliche Grad individueller Freiheit. Oder nochmals anders ausgedrückt: In der arbeitsteiligen Gesellschaft bemisst sich die Freiheit des Einzelnen an der Einsichtsfähigkeit in die Notwendigkeit, sich in die Gesellschaft zu fügen.135 Normen bzw. Regeln verlieren darin nicht ihren bindenden Charakter, sie gewinnen jedoch an sozialer Qualität, „(...) weil sie eher für uns und in einem gewissen Sinn von uns gemacht sind“ (Durkheim 1992: 478). Andersherum kann die bürgerliche Gesellschaft Einhaltung nicht mehr mit Gewalt erzwingen, sondern muss – hier spricht der Pädagogikprofessor Émile Durkheim – 132 Wie er vermutlich noch heute in Habermas’ Vertrauen in die intersubjektive Verständigungsfähigkeit der Sprache im öffentlichen Diskurs zum Ausdruck kommt (siehe Habermas 1981). 133 Die Wissenschaft allerdings kann niemandem befehlen, zu verstehen, was er nicht versteht. Ähnlich wie die Kunst besteht sie quasi um ihrer selbst willen und läuft darin letztlich auf die nur durch Postulat beantwortbare Frage auf, ob der Mensch leben wollen soll (Durkheim 1967: 88; Durkheim 1992: 79). 134 Allerdings gerade nicht im Sinne komplementärer Eins-zu-eins-Übereinstimmung wie im Kontraktualismus, denn „[W]enn einmal indessen unsere Entschlüsse aufgehört haben, innerlich zu sein und durch soziale Konsequenzen nach außen gedrungen sind, sind wir zweifellos gebunden: Pflichten zwingen sich uns auf, die wir nicht ausdrücklich gewollt haben. Trotzdem haben sie ihren Ursprung in einem freien Willensakt“ (Durkheim 1992: 286). 135 Das hört sich so paradox an, wie Durkheim es meint: „So verteidigt der Individualist, der die Interessen des Individuums verteidigt, zugleich die vitalen Interessen der Gesellschaft; denn er verhindert, daß man sträflich diese letzte Reserve von Ideen und Gefühlen verarmen läßt, die die eigentliche Seele der Nation sind“ (Durkheim 1986a: 65). Man könnte angesichts dessen vermutlich so weit gehen, zu behaupten, dass das utilitaristische und das moralische Individuum der Moderne gar nicht so verschieden sind. Der Unterschied könnte einzig in den Motiven liegen: Jenem geht es um ganz egoistische Belange, diesem um die Verwirklichung einer allgemeinen Freiheit. Das trägt den gesellschaftlichen Tatsachen insofern Rechnung, als wohl auch Durkheim einsehen muss, dass der Einzelne in einer arbeitsteiligen Gesellschaft zuerst sich selbst vor Augen hat, schlicht weil das Ganze schon zu abstrakt ist. Das kann er nicht ändern – die Ausrichtung individueller Intentionen hingegen schon.
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5 Die Perspektive des soziologischen Positivismus’
auf Erziehung als dem Mittel zur Einsicht in die Notwendigkeit setzen (Durkheim 1984b: 46, 62; Durkheim 1973: 363). 5.1.2.3
Solidarität durch Interaktion: Die integrative Wirkung professionalisierter Milieus
Der enorme Komplexitätsanstieg moderner Gesellschaften stellt ungleich höhere Anforderungen an die Integrationsfähigkeit derselben – das ist Ausgangspunkt des Durkheim’schen Denkens. Hoher Differenzierungsgrad und Unüberschaubarkeit machen die Vermittlung geteilter Moral- und Normvorstellungen für den Alltag ebenso notwendig wie diese dabei immer abstrakteren Formen annehmen müssen. Dienten in den einfachen Gesellschaften noch segmentäre Institutionen wie Familie, Religion und politische Gemeinschaft der Integration, können diese in einer arbeitsteiligen Gesellschaft kaum mehr Wirksamkeit entfalten. „Die gesellschaftlichen Formen, die einst den einzelnen umgaben und gleichsam als Stützskelett für die Gesellschaft dienten, sind entweder verschwunden, oder sie sind im Begriffe, sich aufzulösen, ohne daß neue Formen an ihre Stelle träten. Geblieben ist nur die unstete Masse der Individuen“ (Durkheim 1991: 151). Die Wiederherstellung einer übergeordneten Moral kann sich ganz offensichtlich nicht mehr an traditionalen Institutionen orientieren (Durkheim 1973: 443-448; Durkheim 1992: 242 (FN)).136 Der Familie, ursprünglichste und fundamentalste soziale Einheit, kommt dabei bei weitem nicht mehr die lebensumfassende gemeinschaftliche, ökonomische und sinnstiftende Funktion zu, die ihr in einfachen Gesellschaften eignet. Sie befindet sich als moralische Instanz in einem Auf- bzw. Ablösungsprozess. Religiöse Bindungen scheiden ebenfalls aus, muss die sozialdisziplinierende Kraft letztgültiger Weltinterpretation mit jedem Individualisierungsschub doch zugleich an Plausibilität verlieren. Ebenso überlebt hat sich aus dieser Sicht allerdings auch die integrierende Kraft traditioneller politischer Gemeinschaften. Diese erweisen sich als viel zu unterkomplex für die Ansprüche arbeitsteiliger Gesellschaften, ist es doch gerade die „Vervielfältigung lebensnotwendiger Kontakte“ (Luhmann 1977: 31), die mit den 136 Das bedeutet in Durkheims Verständnis zugleich nicht, dass diese Institutionen keinerlei Relevanz mehr in Bezug auf die gesellschaftliche Moral entwickeln. Sie sind nur nicht mehr primäre Funktionsträger derselben. Denn moderne arbeitsteilige Industriegesellschaften können aus dieser Sicht kaum mehr durch exklusive Mitgliedschaften strukturiert sein. Deren solidarische Strukturen gehen in der modernen Gesellschaft zwar nicht unbedingt verloren, sie gewinnen allerdings ganz andere Ausprägung. Beginnend mit der Familie (nicht dem Individuum!) steigt die Solidaritätsstärke aus Durkheims Sicht mit den Berufsgruppen und dem Staat konzentrisch an, um sich in der Menschheit schließlich wieder abzuschwächen. Patriotismus und Kosmopolitismus konstituieren also keine Antinomie, sondern eine Kontinuität, die sich nicht an der Universalität des moralischen Anspruchs, sondern an deren Durchsetzungsfähigkeit bemisst. In dieser Hinsicht hat freilich der Staat mit seinem Monopol legitimer Sanktionsgewalt die Nase vorn (Durkheim 1984b: 124-130; Durkheim 1991: 15, 108, 109; Durkheim 1992: 476).
5.1 Von Eigentum zu Moral
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unmittelbaren Punkt-für-Punkt-Beziehungen einfacher Gesellschaften nicht mehr vereinbar sind. Liegt der Zweck politischer Autorität ursprünglich in der (gewaltsamen) Abwehr aller inneren und äußeren Bedrohungen einer traditionellen Lebensweise, treten mit der steigenden Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse zunehmend Koordinationsaufgaben in den Vordergrund, also Prozesse der Rationalisierung, Professionalisierung und Bürokratisierung, die sich ob des hohen Reflexionsgrads nun in erster Linie mit einsehbaren Gründen versorgen müssen (Durkheim 1961: 113; Durkheim 1975b: 174, 175, 178; Durkheim 1991: 82-83, 104-105, 115-116). Der Staat kann vor diesem Hintergrund gar kein Hobbes’scher Zwangsapparat sein, denn „[A]ssurément l’Etat ne crée pas la vie collective (…) et n’est la cause première de la solidarité qui y unit les fonctions diverses“ (Durkheim 1975b: 173). Ebenso wenig ist er aber in seiner spezifischen Funktion dazu in der Lage, die Sichtbarkeit von Integration herzustellen, auf die arbeitsteilige Gesellschaften in besonderem Maße angewiesen sind. Staat und Bürger haben sich bereits viel zu weit voneinander entfernt, so dass unmittelbare Kontakte viel zu sporadisch und gering ausfallen, als dass sie noch solidarisierenden Charakter entwickeln könnten. Das ist kein Defekt, sondern Teil des Säkularisations- und Rationalisierungsprozesses, dem sich die moderne Gesellschaft erst verdankt.137 Das funktionale Äquivalent normativer Integration in arbeitsteiligen Gesellschaften muss also an anderer Stelle gefunden werden und zwar dort, wo sich intermediäre Instanzen zwischen Staat und Bürger schieben (Durkheim 1992: 71). Gemeint ist damit die Wiederbelebung eines uralten Korporatismus, der aus Durkheims Sicht mit dem Gestaltwandel der Gesellschaft verloren gegangen ist. Das fügt sich dann ebenso der Erfahrung von Industrienationen, die an sich die Professionalisierung ihrer divergenten Funktionen beobachten wie sich daran andersherum dem Einzelnen eine Fülle von Laufbahnen und Karrieren eröffnet, die in einem bislang ungekannten Maß individuelle Biographien und Lebenschancen bestimmen. Professionelle Vereinigungen erweisen sich dabei als flexible institutionelle Anknüpfungspunkte, die die für arbeitsteilige Gesellschaften konstitutive Autonomie freier Staats- und Wirtschaftssubjekte auf einen gemeinsamen Punkt hin beziehen. Die Bildung diversifizierter Subkollektive mit je eigenen moralischen Milieus ermöglicht so die Verregelung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die am eigenen Funkti137 Andersherum bedeutet das allerdings auch: Je stärker die rein regulierende Funktion des Staats, desto größer die Freiheit des Individuums von der Unmittelbarkeit traditionaler Rollenbeziehungen in fixierten Kollektiven (Durkheim 1991: 92). Für Durkheim stehen Umfang, Komplexität, Reflexionsgrad der Gesellschaft und Maß der Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse in einem gegenseitigen Steigerungszusammenhang – bis hin zur Demokratie. „Aus dieser Perspektive erscheint uns die Demokratie als jene politische Verfassung, in der die Gesellschaft das reinste Bewußtsein ihrer selbst erlangt. Ein Volk ist um so demokratischer, je größer die Rolle des Räsonnements, der Reflexion und des kritischen Geistes in der Regelung seiner öffentlichen Angelegenheiten ausfällt. Und umgekehrt ist es um so weniger demokratisch, je größer das Gewicht des Unbewußten, der uneingestandenen Gewohnheiten, kurz: der jeder Überprüfung entzogenen Vorurteile ist“ (Durkheim 1991: 128).
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onieren ein Interesse haben (Durkheim 1973: 465; Durkheim 1991: 17, 42; Durkheim 1992: 47-51, 67). Das setzt auf der anderen Seite ein Individuum voraus, das mit den Ansprüchen hochkomplexer Gesellschaften zurechtzukommen versteht. Was damit gemeint ist, soll im folgenden Kapitel geklärt werden. 5.1.3 Sozialisation des Individuums und Internalisierung gesellschaftlicher Moralvorstellungen Am Durkheim’schen Programm, darauf wurde bereits hingewiesen, verlagert sich der Problemfokus des Sozialen von außen nach innen: Differenzierung verläuft nicht mehr vertikal an Status- bzw. Eigentumsunterscheidungen, sondern horizontal als funktionale Arbeitsteilung. Damit einher geht eine Verlagerung des Problemfokus von der Herstellung allgemeiner Verhältnisse gegen anderslautende Bedingungen zur Frage nach der grundlegenden Integrationsfähigkeit differenzierter Gesellschaften. Für das Durkheim’sche Individuum bedeutet das andersherum, dass es nicht mehr an die Einsicht in die Notwendigkeit revolutionärer Emanzipation gegen die Entfremdung einer verdinglichten Welt gewöhnt werden muss. Eben weil jede Gesellschaft ihre je eigenen moralischen Vorstellungen und normativen Vorgaben hat, in die der Mensch hineingeboren wird, kann es aus der Sicht Durkheims gerade nicht darum gehen, gegen die gesellschaftlichen Bedingungen anzukämpfen, sondern vielmehr diese durch Aktivierung im Einzelnen zu vervollkommnen. Das wiederum setzt Sozialität, nicht Individualität, als grundlegende Bedingung des Sozialen voraus und macht evolutionäres Fortschreiten nicht nur zu einem Prozess der Rationalisierung, sondern gerade auch der Individualisierung. Mit anderen Worten: Das Individuum und dessen Freiheitsgrade sind Ergebnis, nicht Voraussetzung des Sozialen. Das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum kann dann allerdings weder als purer Konformitätszwang noch als die von Utilitarismus und Kontraktualismus beworbene grenz- und regellose Freiheit, die vermeintlich alles erlaubt und nichts verweigert, solange es nur dem eigenen Nutzen dient, gedeutet werden. Die Annahme der Stiftung des Sozialen aus den Individualwillen lässt Gesellschaft aus Durkheims Sicht dann ebenso illusorisch erscheinen wie die eines vollständig sozial determinierten Individuums sie überflüssig macht. Beide Versionen sind aus dieser Sicht also nicht dazu in der Lage, eine genuine Version gesellschaftlicher Solidarität und individueller Freiheit zu konstituieren, eben weil sich die Waagschale immer nur auf der einen oder anderen Seite senkt. Für Durkheim geht es jedoch letztlich darum, eine ausgewogene Balance zwischen so viel Solidarität und so viel Freiheit wie möglich und nötig zu finden. Die Lösung liegt dann klar auf der Hand: Es gilt, Individuum und Gesellschaft nicht als Gegensatz, sondern als gegenseitiges Bedingungs- und Steigerungsverhältnis zu verstehen. Oder in Durkheims Worten: „Nichts ist falscher, als zwischen der Autorität der Regel und der Freiheit des Individuums einen Widerspruch herstellen zu wollen. Im Gegenteil: die Freiheit – wir verstehen darunter die gerechte
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Freiheit, deren Beachtung zu erzwingen die Gesellschaft verpflichtet ist – ist nachgerade das Ergebnis von Regulationen. Ich kann nur in dem Maß frei sein, in dem ein anderer daran gehindert wird, seine physische, ökonomische oder andere Überlegenheit, die er besitzt, auszunützen, um meine Freiheit zu unterdrücken; nur soziale Regeln können einen Mißbrauch der Macht verhindern“ (Durkheim 1992: 43).
Gerade dem steht jedoch unter den herrschenden Bedingungen des liberalen Kapitalismus’ die enorme Plausibilität eines utilitaristischen Individuums entgegen, wie es insbesondere durch die zeitgenössische Soziologie und die Wirtschaftswissenschaften (sehr zum Missfallen Durkheims) beworben wird. Und damit einer Version von Gesellschaft das Wort reden, die das mit Motivunterstellungen versorgte Individuum zum Ursprung des Sozialen schlechthin macht. Das aber kann nur Zwang (als Sanktionsgewalt) und nicht Freiheit hervorbringen, eben weil sie das letztlich konstitutive Wesensmerkmal menschlichen Handelns und sozialer Ordnung grundlegend ignorieren muss – die Moral der Gesellschaft. Individuelle Freiheit aber bleibt hier ebenso nur eine „unerfüllbare Abstraktion“ (Durkheim 1984b: 121) wie das Zusammenleben ganz instinkthaft, unmittelbar und unbewusst (Durkheim 1991: 130-131). Während die Einhaltung normativer Vorgaben dann lediglich das Ergebnis von Zwang (und Freiheit entsprechend die Abwesenheit desselben) ist, geht es Durkheim doch gerade darum, dies als Normalzustand des Sozialen zu deuten, um daran Pathologisches sicht- und heilbar zu machen (Durkheim 1961: 201-202; Durkheim 1973: 234, 287).138 Die Lösung des Dilemmas liegt dann andersherum in der Kombination von beidem: Individuum und Gesellschaft stehen in einem gegenseitigen Bedingungsund Steigerungsverhältnis, das an Moral orientiert ist und daran variiert. Es ist also grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gesellschaft die Einzelnen transzendiert, ohne diesen jedoch äußerlich zu sein. Oder wie Durkheim selbst formuliert: „Zweifellos überragt und überfordert sie [die Gesellschaft – Anm. d. Verf.] uns, denn sie ist unendlich viel gewaltiger als unser individuelles Sein, zu gleicher Zeit durchdringt sie uns aber von allen Seiten. Sie ist außer uns und hüllt uns ein; sie ist aber auch in uns, und ein ganzer Teil unserer Natur ist mit ihr identisch. (...) Von ihr haben wir den größten Teil unser selbst. (...) In der Tat können wir uns nicht von ihr trennen, ohne uns von uns selbst zu trennen. Zwischen ihr und uns 138 Die gesellschaftsspaltende Wirkung einer sich über die geltenden Normen hinwegsetzenden Praxis sieht Durkheim ganz virulent im Frankreich seiner Zeit in der Dreyfus-Affäre am Werk. Diese gilt ihm als Beweis, dass das Ursprungsland bürgerlicher und politischer Freiheit selbst ganz dringend auf die Anpassung des normativen Integrationshintergrunds an die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten angewiesen ist (Durkheim 1986a: 66-67). Denn „[A]llemal wäre es weit gefehlt, wenn wir die Formel, die das 18. Jahrhundert dem Individualismus gegeben hat, für vollkommen und endgültig hielten und den Irrtum begingen, sie fast ohne Veränderungen zu übernehmen. Reichte sie vor einem Jahrhundert aus, so muß sie heute ausgeweitet und vervollständigt werden. Sie stellt den Individualismus nur von seiner negativsten Seite dar. Unsere Väter hatten sich ausschließlich zur Aufgabe gemacht, das Individuum von den politischen Fesseln zu befreien, die seine Entwicklung behinderten“ (Durkheim 1986a: 66-67). Darin aber liegt der besondere Anspruch an die zeitgenössische französische Gesellschaft, denn gerade „[W]ir können diese Ideen (...) heute nicht verleugnen, ohne uns in den Augen der Welt herabzusetzen, ohne echten moralischen Selbstmord zu begehen“ (Durkheim 1986a: 66).
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5 Die Perspektive des soziologischen Positivismus’ existieren die engsten und die festesten Bindungen, da sie ein Teil unserer eigenen Substanz ist, da sie in einem Sinn der beste Teil von uns selbst ist“ (Durkheim 1984b: 121).
Das wiederum ist aufgehoben in der Komplementarität von gesellschaftlicher Sozialisation und individueller Internalisierung: Der Mensch ist immer schon in eine je spezifische Gesellschaft hineingeboren, die diesen durch Gewöhnung und Lernen in die je herrschenden moralischen und normativen Vorgaben, Denkkategorien und Symbole sozialisiert, die das Individuum wiederum internalisiert, um daran Bedeutung und Zweck seines eigenen Erlebens und Handelns zu gewinnen (Durkheim 1992: 71). Mit anderen Worten: Was die Einzelnen ganz unbeabsichtigt aneinander gewöhnt, bremst von sich aus den individuellen Egoismus wie andersherum die Gesellschaft auf ihre je spezifische Weise auf die Individuen einwirkt, Solidarität als die individuell beste Option anzusehen (Durkheim 1992: 172). Dass es dahinter bei Durkheim letztlich kein Zurück geben kann, begründet sich wiederum zirkulär, denn „[I]ndem die Moral uns begrenzt und umschließt, entsprach sie den Notwendigkeiten unserer Natur und schrieb uns vor, uns einer Gruppe anzuschließen und unterzuordnen; das war die Aufforderung, unser Wesen zu entfalten. Sie befiehlt uns, das zu tun, was durch die Natur der Dinge verlangt wird“ (Durkheim 1984b: 122). Mit anderen Worten: Moral und Solidarität entsprechen der Natur des Menschen, weil sie diese überhaupt erst bestimmen und verwirklichen. Die Steigerung dessen findet sich in der modernen Gesellschaft, denn diese zeichnet sich gerade dadurch aus, Solidarität um ihrer selbst willen zu wollen und exakt darin den maximal möglichen Grad individueller Freiheit zu erringen. Nicht Gott schafft also den Menschen nach seinem Abbild, sondern die Gesellschaft nach dem ihren (Durkheim 1967: 110): „Wenn der einzelne erst einmal von der Gemeinschaft in dieser Weise erzogen worden ist, will er von sich aus, was sie will, und akzeptiert mühelos die Unterwerfung, die sie von ihm verlangt. Wenn ein Bewußtsein davon und Widerstand dagegen entstehen sollen, müssen erst einmal individualistische Wünsche entstehen, und das wiederum kann nur unter den gegebenen Bedingungen geschehen“ (Durkheim 1991: 90). Das schließt abweichendes Verhalten grundsätzlich nicht aus, das jedoch nur insofern gesellschaftliche und gesellschaftstheoretische Bedeutung gewinnt, als es als Pathologie sichtbar wird (also negativ bestimmt ist) und dann als Zwangsmaßnahme gegen den Einzelnen oder als soziale Aufgabe der Steigerung des gesellschaftlichen Integrationshintergrunds behoben werden muss (Durkheim 1961: 186). Freiheit ist für Durkheim also gerade keine Eigenschaft von Individuen in einem ursprünglichen, vorsozialen Zustand, sondern „(...) im Gegenteil eine Errungenschaft der Gesellschaft gegenüber der Natur“ (Durkheim 1992: 456). Sie ist von allem Anfang an sozial konnotiert. Das geht für Durkheim letztlich so weit, dass die soziale Regel als solche es „(...) verdient [hat], daß man sie liebt“ (Durkheim 1984b: 106). Den geringsten Grad individueller Freiheit weisen entsprechend einfache, religiös integrierte Gesellschaften auf. Das Kollektivbewusstsein sorgt für Homoge-
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nität in den Köpfen und lässt für alternative (Denk-)Möglichkeiten schlichtweg keinen Raum. Hier ist alles noch bestimmt vom Zwang des Gegebenen (Durkheim 1991: 83; Durkheim 1992: 102, 244). Abweichungen sind jedoch schon vorprogrammiert und verselbständigen sich zusehends, weil die soziale Welt mit dem Reproduktionsmedium der Erziehung Identität nicht auf Dauer sicherstellen kann (Durkheim 1984b: 47). In dem Maße jedoch, in dem die gesellschaftlichen Bedingungen sich dem religiösen Zugriff entwinden, d.h. Arbeitsteilung einsetzt, ändern sich die Integrationsbedingungen der Gesellschaft: Die Abhängigkeit zwischen den Einzelnen gründet nicht mehr auf Ähnlichkeit, sondern auf Verschiedenheit. Mit jeder Steigerung von Volumen und Dichte der gesellschaftlichen Beziehungen verengen und erweitern sich die Möglichkeiten des Individuums. Sie reduzieren sich, weil sich der Einzelne immer extremer spezialisieren muss und darin umso mehr auf alle anderen angewiesen ist. Sie vergrößern sich, weil sich daran ein neues gesellschaftliches Leben sui generis entwickelt, das immer weniger sozial prädestiniert ist und immer stärker individuell selbstbestimmte Züge trägt. Der Mensch wird also umso persönlicher je unabhängiger er von seiner sozialen Umwelt ist (Durkheim 1992: 108, 411-413, 474). Das Soziale verliert darin zwangsläufig seinen zwingenden, nicht aber seinen bindenden Charakter, gewinnt es doch nun die Autonomie des um seiner selbst willen Gewollten. Denn „[A]utonom sein heißt für den Menschen, die Notwendigkeiten zu erkennen, denen er sich beugen muß, und sie in Kenntnis der Gründe zu akzeptieren. Wir können die Gesetze der Dinge nicht anders machen, als sie sind; aber wir befreien uns von ihnen, indem wir sie denken, das heißt, indem wir sie uns durch das Denken aneignen“ (Durkheim 1991: 131). Oder nochmals anders ausgedrückt: Solidarität konstituiert sich in der modernen Gesellschaft nicht mehr aus dem kollektiven Zwang zur Homogenität, sondern aus der individuellen Einsicht in die grundlegend soziale Natur des Menschen. Damit gilt es im folgenden Kapitel auf die Frage nach dem Ursprung sozialen Wandels zu kommen, die bislang nur latent eine Rolle spielte. 5.1.4 Zur evolutionären Steigerungsfähigkeit von Solidarität Die dichotome Logik von einfacher und arbeitsteiliger Gesellschaft kommt auch zeitdimensional in sich wieder vor. Dabei steigert Durkheim nochmals deutlich das Verständnis von Zeit gegenüber Materialismus und historischer Schule als einen sich selbst initiierenden und autonom vorantreibenden Prozess. Denn eine Vorstellung, die im revolutionären bzw. reformatorischen Durchschreiten verschiedener historischer Stufen in sich bereits anlegen muss, was sie als abschließenden, perfektionierten Zustand in einer mehr oder weniger nahen Zukunft zu erreichen anstrebt, entlastet sich an einem Verständnis von Zeit als Geschichte im Sinne einer objektiv treibenden Kraft. Bei Durkheim hingegen gewinnt Zeit ihre Zeitlichkeit an der
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inkrementalen Qualität sozialen Wandels: Soweit und sofern sich Soziales nur auf Soziales zurückrechnen lässt, müssen Veränderungen aus sich selbst heraus erfolgen – als Evolution. Das setzt voraus, dass Zeit und Moral aufs engste miteinander korrelieren, um nicht zu sagen, dass sie sich aneinander entfalten: „Wie auch immer sie aussehen mag, jede Moral hat ihr Ideal: die Moral, die die Menschen in jedem Augenblick ihrer Geschichte be folgen [sic – Anm. d. Verf.], hat somit eines, das sich in den Institutionen, in den Traditionen und in den Vorschriften verkörpert, die üblicherweise das Verhalten regeln. Aber über dieses Ideal hinaus gibt es immer andere, die dabei sind, sich neu zu bilden. Denn das moralische Ideal ist nicht unveränderbar; es lebt, entwickelt und wandelt sich unaufhörlich, trotz der Achtung, von der es umgeben ist. Das Ideal von morgen wird nicht das von heute sein“ (Durkheim 1986b: 35).139
Moral fungiert hier, das verdeutlicht das Zitat, als universaler, unhintergehbarer Vergleichsgesichtspunkt des Sozialen und ist doch zugleich immer nur in je partikularer Ausformung anzutreffen. An der je herrschenden Moral, von Durkheim bereits in der dualen Struktur von mechanischer und organischer Solidarität festgeschrieben, gewinnt ebenso die jeweilige Gesellschaftsstruktur ihren spezifischen Charakter wie die Zeit ihren differenzierenden. Und es ist diese Variation, an der die Soziologie ihre vergleichenden Perspektive auf per se unterschiedliche gesellschaftlichen Bedingungen findet (Durkheim 1961: 119; Durkheim 1986b: 38, 41-42). Dass es überhaupt zu Veränderungen kommt, erfolgt also aus sich selbst heraus und zwar weil das Soziale nicht nur zu Wandel tendiert, sondern da es sich als Unruhepol schlechthin auszeichnet, eben weil sich Volumen und Dichte permanent und unkontrollierbar aneinander steigern. Daran zeichnet sich bereits eine Vorstellung ab, die bei Parsons ihre Vervollständigung finden wird: Das Soziale muss sich an seiner eigenen Komplexität im Sinne von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bewähren, konstituiert also Problem und Lösung in einem. Oder wie Durkheim es formuliert: „Wenn sich Gesellschaften ändern und wenn das Individuum sich ändert, so darum, weil sich das Milieu ändert. (...) Die Variationen, die dort entstehen, erzeugen die Veränderungen, durch die die Gesellschaften und die Individuen gehen“ (Durkheim 1992: 308). Mutationen lassen sich also nicht im Vorhinein verorten, wohl aber als gesellschaftsstrukturelle Differenzierungen erkennen. Dabei gilt Durkheim die herrschaftspolitische Trennung von Staat und Kirche als der erste arbeitsteilige Schritt, der allerdings erst im Bewusstsein der Selbsthervorbringung des Sozialen aus sich selbst heraus, die moderne Gesellschaft einleitet (Durkheim 1992: 235-237, 249-255). Damit ist auch die Bewegungsrichtung evolutionärer Entwicklung von einfachen zu komplexen sozialen Bedingungen bereits vorgegeben. 139 Eine Einsicht, die in Durkheims Verständnis jedoch erst in der modernen Gesellschaft formuliert werden kann, denn erst die Abnahme der integrativen Kraft von Religion und die steigende Reflexion der arbeitsteiligen Gesellschaft machen sichtbar, was bislang verborgen war. Und nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass der moderne Mensch „(...) nicht länger damit zufrieden, die Vergangenheit festzuhalten, immer mehr in die Zukunft drängt (...)“ (Durkheim 1992: 414).
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Denn ein Verständnis, das Evolution als Differenzierungsprozess modelliert, muss von einer einfachen Gesellschaftsstruktur ausgehen. Je differenzierter die Gesellschaft, desto dynamischer die sozialen Beziehungen, sinkt doch darin die Unmittelbarkeit von Gesellschaft und Individuum und erlaubt so beiden ein steigendes Maß an Bewegungsfreiheit. Die Emanzipation von traditionellen Lebensverhältnissen ist für Durkheim also gerade keine Frage von Nutzenkalkülen, eben weil diese immer schon spezifische normative Grundlagen voraussetzen, sondern ganz unbeeinflussbares Produkt evolutionärer Ursachen (Durkheim 1992: 365).140 Für die arbeitsteilige Gesellschaft und ihre organische Solidarität bedeutet das andersherum, dass sie aus dieser Sicht das Ergebnis eines ganz mechanischen Differenzierungsprozesses sich selbst hervorbringender Komplexitätssteigerungen des Sozialen sind, darin gerade aber die moralische Grundstruktur ihrer selbst grundsätzlich nicht einbüßt (Durkheim 1991: 106; Durkheim 1992: 289, 401). Oder erneut mit Durkheim: „So bringt uns eine mechanistische Theorie des Fortschritts nicht etwa um ein Ideal, sondern erlaubt uns zu glauben, daß es uns daran nie fehlen wird. Denn genau weil das Ideal vom sozialen Milieu abhängt, das ja wesentlich veränderlich ist, verschiebt es sich ständig“ (Durkheim 1992: 410). Dahinter verbergen sich allerdings nicht nur keine Abstriche bei der Frage der Moral, sondern die eigentliche Begründung der moralischen Natur der Moral, denn „[D]ieses Ergebnis entsteht aus sich selbst und aus der Macht der Verhältnisse heraus und ist doch gleichzeitig nützlich“ (Durkheim 1992: 56). Darin findet sich erneut Durkheims Kritik am Utilitarismus, der in Verkehrung der eigentlichen Fakten das Soziale aus dem Nutzen und nicht aus der Moral zu erklären sucht. Gerade die Tatsache jedoch, dass jede Gesellschaftsstufe auf Moralvorstellungen angewiesen ist, weist diese als unverzichtbares, konstantes und mithin nützliches Strukturelement des Sozialen aus. Die Zirkularität dieser Argumentation lässt sich kaum ausblenden: Moral ist universaler Vergleichsgesichtspunkt, an dem sich die Partikularität der je herrschenden gesellschaftsstrukturellen Bedingungen ablesen lässt, wobei es wiederum die funktional äquivalente Bedeutung von Moral ist, die diese als Konstante des Sozialen schlechthin auszeichnet. Die Unhintergehbarkeit dieses Zirkels sichert Durkheim wiederum mit dem letzten aller Postulate ab – der Frage, ob der Mensch überhaupt leben wollen soll. Das aber lässt sich nur positiv beantworten (Durkheim 1992: 56-57, 79). 140 Interessant an dieser Stelle ist die Parallelität zu vertragstheoretischen Argumenten. Aus Durkheims Sicht kann sich die Gesellschaft gerade nicht auf Einzelwillen zurückführen, denn „[W]as ich durch meinen Willen geschaffen habe, das kann ich auch durch meinen Willen wieder auflösen. Da der Wille seinem Wesen nach schwankend ist, kann er unmöglich als Grundlage für irgend etwas Stabiles dienen“ (Durkheim 1991: 152-153). Das spricht einerseits von der Erfahrung, dass das Individuum eben immer schon in spezifische gesellschaftliche Bedingungen hineingeboren ist, und andererseits davon, dass der Einzelwille ob hinreichend widerspenstiger gesellschaftlicher Strukturen nur allzu oft scheitern muss. Was Durkheim hier also eigentlich zu bedenken gibt, ist, dass die Idee eines gesellschaftsbegründenden Einzelwillens selbst eine ganz junge „Erfindung“ ist und nicht zu falschen Annahmen verführen sollte.
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5.2 Von Moral zu Kultur: Ethisierung der Ästhetik in der postmodernen Gesellschaft Gut 120 Jahre nach dem Erscheinen der Schriften Émile Durkheims scheint sich die Erfahrung zentrifugaler Kräfte, wie sie sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts an arbeitsteiligen Strukturen manifestierte, grundlegend verändert zu haben. Die auseinanderstrebenden Momente machen offensichtlich nicht mehr an nationalen Grenzen halt und verändern darüber hinaus maßgeblich ihre Natur. Das scheint ob neuer Kommunikationstechnologien nicht abwegig. Erreichbarkeit über Zeit und Ort hinweg, sei dies nun aus ökonomischen, politischen, kulturellen oder künstlerischen Erwägungen oder auch einfach nur, um mehr oder weniger Persönliches mit mehr oder weniger Fremden zu teilen, scheint andere Lebens- und Denkweisen auf eine ganz neue Art und Weise sicht- und spürbar zu machen. Derartige, sich inzwischen weltweit ausnehmende Kontakte fügen sich immer weniger der Vorstellung arbeitsteiliger Nationalgesellschaften, die ebenso auf Divergenzen wie auf Abhängigkeiten zwischen funktional Verschiedenem stoßen. Neuere gesellschaftstheoretische Beobachtungen bringen nun allerdings eine ganz andere Verschiedenheit ins Spiel: die des Anderen als Anderen. Dies lässt sich stellvertretend für ähnliche Ansätze an den Positionen der Soziologen bzw. Philosophen Michel Maffesoli und Zygmunt Bauman beobachten.141 So unterschiedlich die beiden Beschreibungen auf den ersten Blick auch scheinen mögen, so lassen sie sich doch auf einen gemeinsamen Bezugspunkt hin analysieren: Die Behauptung, dass Individualisierung angesichts der anomischen Gegenwart globalisierter Verhältnisse nicht die Grundlage sozialer Ordnungsbildung sein kann. Dahinter verbirgt sich in erster Linie die Absage an einen erneut aufkommenden Laissez-faire-Liberalismus. Für Michel Maffesoli und Zygmunt Bauman liegt denn auch der einzig denkbare Ausweg im Bruch mit der Rationalitätskonzeption als dem kulturellen Erbe der Moderne und der Ablösung durch symbolische bzw. ästhetische Formen postmoderner Solidarität. Mögen beide dabei auch von ganz unterschiedlichen Perspektiven ausgehen, gleichen sie sich doch in der Modellierung des Sozialen als der Bedingung der Anerkennung des Anderen als Anderen auf erstaunliche Weise. Geht es Michel Maffesoli dabei um die Wiedergewinnung individueller Freiheit durch deren Aufgabe im Gesellschaftlichen nähert sich Zygmunt Bauman dem Problem von exakt der entgegengesetzten Seite. Ihm geht es um die Rettung des Individuums durch die Rekonstruktion eines erträglichen Grads an Sozialität. Mit der Wiedergeburt des Sozialen aber gewinnt auch die Soziologie in 141 Denkbar wäre an dieser Stelle etwa auch eine Gegenüberstellung der Positionen von Axel Honneth (Honneth 1992) und des Kommunitaristen Charles Taylor (Taylor 1995). Ganz ähnlich wie Maffesoli und Bauman stünde dann auf der einen Seite eine außer Rand und Band geratene Individualisierung, die nur durch die Stärkung sozialer Perspektiven wieder eingeholt werden kann und auf der anderen die Suche nach einer mit dem Individualismus des Individuums verträgliche Version sozialer Ordnung.
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der Überwindung der veralteten Kategorien, Theorien und Methoden ihre Aussagekraft zurück. Mehr noch: Als Ergebnis und Ausdruck eines evolutionären Stadiums, das erstmals in der Anerkennung der Andersheit des Anderen den Menschen als genuinen Gestalter seiner sozialen Umwelt in den Mittelpunkt stellt, wird sie selbst zum kritischen Akteur einer postmodernen Solidarität, über die aufzuklären, die Gesellschaftstheorie angetreten ist. Damit ändert sich auch der Fokus der Soziologie vom wissenschaftlichen Absichern moderner Großprojekte mit Hilfe übergreifender Theoriegebilde zur (ethischen) Verantwortung, auf die vielseitige, irreduzible, prozesshafte Natur des Sozialen aufmerksam zu machen und sie an sich selbst zur Geltung zu bringen (Maffesoli 1992: 219, 222, 238; Bauman 2000: 15). 5.2.1 Ethisierung von Anerkennung als Chance institutioneller Wiedereinholung entpolitisierter Verhältnisse Die Erhöhung von Volumen und Dichte der sozialen Beziehungen, die für Émile Durkheim ausschlaggebende Kondition war, um von einer Veränderung der grundlegenden sozialen Bedingungen auszugehen, findet auch Michel Maffesoli in den gegenwärtigen Entwicklungen einer sich globalisierenden Welt am Werk. Neue Kommunikationstechnologien bringen eine Multiplikation menschlicher Interaktionen unabhängig von Ort und Zeit hervor. Daran treten ebenso die Potenzierung individueller Möglichkeiten und Freiheitsgrade zutage wie Auflösungserscheinungen des Nationalstaats als dem klassischen Ort der Moderne. Die weltweite Ausbreitung von Massengesellschaften konfrontiert diesen mit Ansprüchen und Leistungserwartungen bei der Regulierung des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens, mit denen er sich zunehmend überfordert sieht (Maffesoli 1992: 233-234, 255, 275). Die Anomie einer krisengeschüttelten Gegenwart darf jedoch in diesem Sinnzusammenhang nicht als Verlust von sozialer Ordnung schlechthin missgedeutet werden, sondern als Überarbeitung der fundamentalen gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne hin zur Postmoderne (Maffesoli 1992: 279). Das eröffnet aus Maffesolis Sicht die Chance, in der Rekonstruktion des Sozialen eine ganz neue Qualität desselben zu entdecken (Maffesoli 1992: 275).142 Dazu bedarf es allerdings zunächst der Einsicht in das Hauptproblem der Moderne: Die Vorgängigkeit bzw. Vorherrschaft des vernünftigen Individuums als 142 Maffesoli geht dabei von einer wellenartigen Bewegung zwischen mehr und weniger sozialen Versionen der Gesellschaft aus, die immer dann sichtbar wird, wenn die Talsohle – in diesem Fall die Moderne – durchschritten ist. Dass es überhaupt dazu kommt, erklärt Maffesoli also mit einer vorübergehenden Schwäche des sozialen Klebstoffs: „Cette liaison entre vie morale, c’est-à-dire vie sociale, et sympathie participative peut parfois être minorisée, ce fut le cas durant toute la modernité, elle n’en reste pas moins le référent auquel on revient régulièrement, ce qui semble être le cas de nos jours où, peut-être par saturation de l’attitude principalement abstractive qui a marqué les deux siècles qui viennent de s’écouler, on voit s’affirmer avec force la primauté de la vie des sens“ (Maffesoli 1992: 273).
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ganz isolierter, autonomer Identität, die dem Sozialen als vertragliches Konstrukt lediglich abgeleitete Realität zugestehen kann. Individuum und Gesellschaft, so der Kernvorwurf Maffesolis an die Moderne, konstituieren dann lediglich zwei sich gegenseitig ausschließende Sphären (Maffesoli 1992: 205-207, 215-216, 235). Die wissenschaftlich abgesicherten, transzendenten Vorgaben der Moderne können sich jedoch angesichts der Fragilität der nationalen Identität des Individuums, das es ob der Multiplikation von Interaktionskontexten mit einer Vervielfältigung von Identifizierungskontexten zu tun bekommt, nicht mehr länger halten. Darin aber verliert sich der Anspruch der Moderne an den Einzelnen, ein von seinen sozialen Beziehungen ebenso unabhängiges wie vorgängiges und beständiges Subjekt seiner selbst zu sein. Die Vielheit der sozialen Kontexte macht dieses zum quasi-objektivierten Objekt unter anderen, das ebenso austauschbar wie permanent anders ist. Darin aber liegt für Maffesoli letztlich die Chance auf Rückgewinnung der selbstbestimmten Gestaltung des Sozialen.143 Andersherum ist es die mangelnde Reflexivität der Moderne, die es ihr verbietet, das zu sehen, geschweige denn zu beheben. Sie kann an sich nur die Umkehrung ihrer essentiellen Werte als unüberwindbare Krise beobachten (Maffesoli 1988: 151; Maffesoli 1992: 205, 207). Möglich wird die Rekonstruktion der allgemeinen Bedingungen unter der Bedingung der Allgemeinheit allerdings nur durch Rückbesinnung auf eine „anthropologische Konstante“, nach der die Gesellschaft dem Einzelnen vorgeordnet ist (Maffesoli 1992: 265). Das Soziale ist menschlich, weil (Mit-)Gefühl eine genuin menschliche Eigenschaft ist. Es konstituiert den ganz unmittelbaren und unverfälschten Ausdruck des Selbst des Menschen und ist darin ebenso eindeutig wie unabweisbar und irreduzibel. Es ist der „caractère social à l’emotion esthétique“ (Maffesoli 1992: 222), den es in Maffesolis Verständnis zu begreifen gilt. Einfühlungsvermögen, Emotion, Fantasie, Stimmungslagen verlieren darin ihre auf Kunst reduzierte Funktion der Moderne und entwickeln jene unbewusste, mysteriöse und quasi-archaische Anziehungskraft eines sozialen Klebstoffs, die die postmoderne Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhält (Maffesoli 1991: 10, 19; Maffesoli 1992: 214, 222, 255). Oder wie Maffesoli es formuliert: „From where we now stand, we are able to understand that there is a sliding from a logic of identity to a logic of identification. The former was essentially individualist, but the latter is much more collective. The culture of sensation is therefore the consequence of attraction. Collectivities form accor143 Sichtbar wird dies für Maffesoli an der Auflösung der für die Moderne konstitutiven Unterscheidung von (hergestellter) Kultur und (unabänderlicher) Natur. In der Teilhabe an der Natur bzw. dem Objektstatus kommt der Einzelne unwillkürlich mit allen anderen Objekten in Berührungen, eben weil diese dadurch konstitutiv für das Selbst sind. Damit ist die Unterscheidung von Subjekt und Objekt kaum mehr haltbar: Die Beziehungen zur sozialen Umwelt sind untrennbar mit denen der Natur verbunden, da Subjektstatus und Künstlichkeit der sozialen Gebilde in deren Umkehrung aufgehoben sind (Maffesoli 1988: 145; Maffesoli 1991: 14; Maffesoli 1992: 208-209). Oder in Maffesolis eigenen Worten erlebt die Gegenwart eine Bewegung „(...) from the culturization of nature to the naturalization of culture“ (Maffesoli 1988: 142).
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ding to circumstances or desires. A kind of objective chance comes to prevail. But the value, the taste, the admiration, the ‘hobby’ which is held in common and which cements the collectivity constitute ethical vectors. To be more precise, I would specify the ethical as a morality ‘with neither obligation nor sanction’, with no obligation other than coming together and being a member of a collective body, with no sanction other than being excluded should the interest (inter-esse) which brought me into the group come to an end. This is precisely the ethics of the aesthetic: experiencing something together is a factor of socialization“ (Maffesoli 1991: 16; Betonung im Original).
Das Alltägliche, ja fast Banale, wird zur Kunstform erhoben, konstituiert es doch nichts weniger als die „[F]orme formante“ (Maffesoli 1992: 213) des Sozialen schlechthin: Die Gemeinschaft stiftende Kraft zwischen heterogenen Elementen durch das Beibehalten bzw. Verstärken (nicht der Synthese) von Diversität. Darin liegt das Ursprungsparadox des Sozialen schlechthin verborgen: „(…) en imitant l’autre, je communie à cette entité collective à laquelle je participe, et à l’uniers dont, ensemble, on rejoue mimétiquement la création“ (Maffesoli 1992: 221). Anders ausgedrückt: Die postmoderne Gesellschaft bezieht ihre Solidarität aus dem immer wieder vollzogenen Akt des Verlierens und Wiederfindens des Selbst im Anderen, der die Unterscheidung ego/alter zugleich voraussetzen und untergraben muss (Maffesoli 1988: 145; Maffesoli 1992: 237, 269). In diesem Sinne ist postmoderne Solidarität weniger (rigide) Moralvorstellung als ganz praktische „(…) éthique, éthos spécifique, qui faisant ciment, partant du bas, croît à partir du choc des contrastes et de l’interaction que ce choc ne manque pas de susciter“ (Maffesoli 1992: 229). Das ist grundsätzlich unabhängig von Motivlagen, denn ausschlaggebend ist einzig und allein jene un(be)greifbare affektuelle Stimmung, an der der Einzelne ganz unmittelbar teilhat. Es ist dessen unterschwellige „(…) énergie créatrice, prenant sa source dans une force vitale indifférenciée (…)“ (Maffesoli 1992: 221), die die Begründung des Sozialen nicht mehr in transzendenten Annahmen – Natur, Gott, Staat, Geschichte, Fortschritt – externalisieren muss, sondern in den inneren „’genius’ collectif“ (Maffesoli 1992: 266) des sozialen Körpers verlegt. Das Soziale kehrt so in sich selbst zurück, da nicht mehr in einer auf transzendenten Annahmen aufruhenden Beziehung von Gesellschaft und Individuum externalisiert, sondern in einer ganz alltäglichen, konkreten, relationalen Beziehung zwischen selbst und anderen internalisiert (Maffesoli 1992: 228). Die Kollektivität gewinnt darin selbst quasi-religiösen Charakter: Sie wird zum Durkheim’schen „‚divin social’“ (Maffesoli 1992: 239), das die Koexistenz aller Partikularitäten zugleich konstituiert und transzendiert. Oder anders ausgedrückt: Sie ist die in ihrer Schöpfung sich selbst schöpfende Kraft und existiert nur in Bezug auf diese wie diese nur in Bezug auf jene. Dass die Frage nach der sozialen Qualität dieser Sozialität gar nicht erst aufkommen kann, sichert dann
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auch Maffesoli in jenem „irrépressible vouloir vivre social“ (Maffesoli 1992: 260) des Menschen ab, das immer nur positiv ausfallen kann.144 Vermittelt ist diese Art des Sozialen dann nicht mehr über die Anverwandlung an eine bereits prädeterminierte Identität, sondern über das (Selbst-)Bild, das sich jede Gesellschaft und jedes Individuum je selbst gibt (Maffesoli 1992: 210, 235). Daran macht sich der symbolische Charakter des Politischen der Postmoderne fest, die im Gegensatz zur identitätsstiftenden, im Nationalstaat kasernierten Moderne keinerlei Begrenzung ihrer kollektivitäts- und moralstiftenden Emotionen ertragen kann (Maffesoli 1988: 142, 145; Maffesoli 1991: 14; Maffesoli 1992: 265, 279). „En effet, en insistant sur la globalité, en intégrant tous les éléments du donné mondain, en focalisant sur le corps social, le thématique de la communauté met l’accent sur la réalité symbolique du politique: il permet la reconnaissance. Cela se fait, bien sûr, à travers le choix d’images ou d’emblèmes qui joue un rôle important dans toute vie politique, mais également en dépassant la séparation privé/public. Le barrage de l’intimité ou de la carapace individuelle saute, et l’émotion ou les passions deviennent des expressions, en condensé, du monde social“ (Maffesoli 1992: 247).
Nicht die askriptive Zuordnung zu einer einzigen, nationalen Kollektivität bzw. Wertgemeinschaft bietet dem Einzelnen also seine Identität an, sondern eine unstrukturierte Masse von Körpern untergliedert sich ad infinitum in verschiedenste, sich teils überlappende, teils konkurrierende Mikrogruppen vor dem gemeinsam geteilten Hintergrund emotionaler Sozialität. Entsprechend bezeichnet Maffesoli das gegenwärtige Zeitalter als das des „neo-tribalism“ (Maffesoli 1988: 148). In der Permanenz fließender Übergänge, dem auf Gefühl aufruhenden Gemeinsinn und der Veralltaglichung von Routinen in Netzwerkstrukturen erweist es sich als grundlegend unvereinbar mit dem Projekt der Moderne, einem zeitkonstanten Gemeinwohl oder einer nationalstaatlichen Organisationsstruktur (Maffesoli 1988: 146; Maffesoli 1991: 12; Maffesoli 1992: 250-251). Daran manifestiert sich für Maffesoli der ganz mechanische Wandel von der mechanistisch erscheinenden Sozialordnung der Moderne zu einer der Postmoderne, die sich als zutiefst komplex, organisch und „confusionel“ (Maffesoli 1992: 211) ausweist. Oder in den Worten Maffesolis selbst: „(...) one can say that one is participating in the replacement of a rationalized society by a basically empathetic sociality“ (Maffesoli 1988: 145; Betonung im Original). Die postmoderne Gesellschaft steht dabei evolutionär höher, weil sie nicht nur mit ihren eigenen Unvollständigkeiten, Doppeldeutigkeiten, Illusionierungen und Relationierungen leben kann, sondern daraus gleichsam überhaupt erst Form und Existenz gewinnt. Weder der Prozess zur postmodernen Gesellschaft noch diese selbst ist konfliktfrei, liegt ihre Eigenheit doch in der ihr innewohnenden „harmonie conflictuelle“ (Maffesoli 1992: 230). Gleichzeitig erweist sie sich als sozialer, da das geteilte Leiden an und das Spielen mit ihren unheilbar widersprüchlichen Bedingun144 Dass auch dies wiederum ein allzu konformistisches Bild von Gemeinschaftlichkeit zeichnet, liegt an einer Vorstellung des Sozialen, das an seiner Existenz bereits sicherstellt, dass der Einzelne an Kollektivität teilhat, eben weil sie für diesen konstitutiv ist.
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gen eine ganz neue Wiedergewinnung des Sozialen erlaubt (Maffesoli 1988: 150; Maffesoli 1992: 265, 270, 272). Ganz ähnlich wie Maffesoli geht auch Zygmunt Bauman zunächst vom Problemzusammenhang der Gleichzeitigkeit des Anwachsens individueller Freiheitsgrade und kollektiver Ohnmacht aus. Hintergrund dessen ist die in der Globalisierung wurzelnde, irreversible und unkontrollierbare Diskrepanz zwischen Macht und Politik, die die sinnstiftende Funktion des demokratischen Nationalstaats unterwandert, eben weil darin kein die Einzelnen transzendierender Raum des Ausgleichs zwischen verschiedenen Interessen und Motiven in einem zeitkonstanten Gemeinwohl mehr gegeben ist: „Der Wille zur Gesellschaftlichkeit ist gewissermaßen freischwebend, er sucht vergeblich festen Ankergrund, ein für alle erkennbares Ziel, auf das man sich einigen, Gefährten, mit denen man sich zusammentun kann“ (Bauman 2000: 9-10). Dass man sich mit derartigen Solidaritätsproblemen überhaupt konfrontiert sieht, wurzelt in der Sichtbarkeit der ungewollten Konsequenzen der Moderne. Am deutlichsten tritt dies für Bauman an der Erfahrung des Holocausts zutage, die ebenso den Weg in eine nationalistisch überhöhte Vergangenheit verbietet wie sie keinesfalls einem moralischen Laissez-faire Vorschub leisten darf (Bauman 1997: 1). Die eigentlichen Grundlagen des Sozialen liegen allerdings woanders und zwar dort, wo die postmoderne Gesellschaft sich in der Anerkennung ihrer Kontingenz bewusst wird, dass sie die Entartungen ihrer Moral nicht mehr externalisieren, wohl aber erstmals wirklich unter Kontrolle bringen kann (Bauman 1997: 51). Gegen die Euphorie des Liberalismus kann Bauman gerade in der Ökonomisierung der Politik keine tragfähige Version von individueller Freiheit und Solidarität entdecken. Denn beides setzt ein auf freiwillige Selbstbeschränkung zurückgehendes übergeordnetes Ganzes voraus, das zugleich begrenzt, was es erzeugt – individuelle Freiheit und kollektive Solidarität nämlich. Ohne Gemeinschaft keine durch den Willen der Einzelnen erzeugten normativen Grenzen des Handelns und also keine Freiheit, sondern geradezu Unfreiheit. Man kann unter diesen Umständen gar nicht frei sein, weil man nicht (überpersönlich) gebunden ist. Andersherum ausgedrückt: Freiheit bedarf politischer Durchsetzungsmechanismen, die in Konsens abgesichert sein müssen (Bauman 1991: 278; Bauman 2000: 96, 100, 107, 117). Eine solche Gemeinschaftlichkeit aber lässt sich in der anomischen Gegenwart nur kurzfristig, episodenhaft und punktuell erfahren, d.h. eigentlich gar nicht.145 Oder gesagt: Die Gesellschaft ist heute wirklich nur noch die Summe ihrer Teile. „Diese Wiederholung/Abbildung fügt jedoch der Gemeinschaft gemeinsamer Wünsche keine Qualität hinzu, die sich von den Eigenschaften der Individuen, die diese Gemeinschaft ausma145 Noch nicht einmal aus dem geteilten Leid am Dissens lässt sich aus Baumans Sicht dann Konsens erzielen: „Unsere Art von Unsicherheit ist nicht der Stoff, aus dem einende Anliegen, gemeinsame Standpunkte und solidarisch geschlossene Reihen geschmiedet werden“ (Bauman 2000: 40). Solidarität entsteht also auch in der Postmoderne nicht von selbst, sondern ist auf die Herstellung entsprechender Bedingungen angewiesen – sonst wäre es ja nicht das Soziale und die Soziologie ohne Gegenstand.
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5 Die Perspektive des soziologischen Positivismus’ chen, unterscheidet (geschweige denn ihnen überlegen ist). (...) Der daraus resultierende Zerfall der Gemeinschaft findet sein Korrelat in der Zersplitterung des Lebens aller sie konstituierenden Einheiten“ (Bauman 2000: 114).
Daran implodiert die bislang grundlegende Unterscheidung privat/öffentlich und drängt die Aufgabe der Sinngebung zunehmend dem Individuum (bzw. dem Bereich des Privaten) auf, das damit grundsätzlich überfordert sein muss (Bauman 2000: 103, 104). Es ist diese Entwicklung, die aus Baumans Sicht den entscheidenden Wesenszug der Postmoderne produziert – ihre Ambivalenz. „Kaum etwas erscheint uns heute gewisser als diese zwei Dinge: daß wenig Grund zu der Hoffnung besteht, die Leiden unserer derzeitigen Ungewißheiten würden gelindert werden; und daß wir darüber hinaus noch mehr an Ungewißheit zu erwarten haben“ (Bauman 2000: 41). Der selbstverstärkende Effekt der Unsicherheit tendiert zwangsläufig dazu, jede auf Sicherheit ausgelegte Gegenmaßnahme mit noch größerer Verunsicherung auszustatten, die einmal mehr vom Einzelnen ausgehalten werden muss und doch nicht kann (Bauman 2000: 13, 39). Die Postmoderne ist nach diesem Verständnis erneut mit Sinn- und Identitätsfragen konfrontiert, die sie allerdings (anders als die Moderne) nicht mehr askriptiv mit Hilfe der Institution des Nationalstaats lösen kann (Bauman 1997: 192; Bauman 2000: 16, 39). Sie muss eine neue Lösung für das Problem der steigenden Entpolitisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums finden, die jedoch zugleich mit einem größtmöglichen Maß an individueller Freiheit vereinbar ist. Eben das stellt sich nicht von selbst ein, sondern muss zugleich mit den herrschenden Verhältnissen und gegen sie hergestellt werden. „One thing which the postmodern condition is unlikely to produce on its own – not without a political intervention, that is – is solidarity; but without solidarity, as we have argued before, no freedom is secure (…)“ (Bauman 1997: 207-208). Darin kommt die eigentliche Herausforderung der Gegenwart zum Ausdruck.146 Was dieses Unterfangen allerdings grundsätzlich so schwierig macht, ist die augenscheinliche Passgenauigkeit der Vorherrschaft einer globalisierten Marktlogik mit der eines „’krassen Individualismus’“ (Bauman 2000: 50), die gemeinhin im Vertrauen auf die ordnungsbildenden Kräfte der unsichtbaren Hand eher auf Zustimmung als Ablehnung treffen. Diese Haltung eines neoliberalen Laissez-faire richtet jedoch in Baumans Verständnis den größten Schaden an. Denn „Solidarität (...) diente (...) in allen Gesellschaften als Schutz und Garantie für die Gewißheit und damit für das Vertrauen, das Selbstvertrauen und den Mut, ohne die eine Ausübung der Freiheit und die Bereitschaft zu experimentieren undenkbar sind. Gerade diese Solidarität ist jedoch das größte Opfer neoliberaler Theorie und Praxis geworden“ (Bauman 2000: 49). Auf der anderen Seite erteilt Bauman jedoch auch allen kommunitaristischen Hoffnungen auf Wiederbelebung nationaler Gemeinschaften eine 146 Die Frage, warum ausgerechnet die Freiheit der Freiheit erstrebenswert sein sollte, schneidet Bauman durch den Hinweis ab, dass dies selbst keine Frage freiwilliger Wahl darstellt, sondern eine des Schicksals ist (Bauman 1997: 203).
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deutliche Absage. Angesichts der fatalen Erfahrungen der Moderne, gipfelnd im Holocaust, kann der Vorzug der Gemeinschaftswerte vor der individuellen Freiheit kein adäquater Lösungsweg sein.147 Die Gefahren eines „‘nationalism mark two’“ (Bauman 1997: 193) gilt es dann ebenso zu umgehen wie die neoliberale Vernachlässigung jeglicher übergreifender Solidarität. Die Bewältigung der krisenhaften Verhältnisse kann allerdings aus Sicht Baumans nur dann gelingen, wenn man sich dessen bewusst wird, dass es sich dabei nicht um bloße Folgen ökonomischer Entwicklungen handelt, sondern um ein strukturelles Problem kulturell-symbolischer Art, das tief im Selbstverständnis der Moderne wurzelt. Die Postmoderne konstituiert sich dann gerade nicht als die Rückkehr zu alten Sicherheiten der Moderne, sondern als die auf Dauer gestellte, kritische Reflexion der Bedingungen derselben – und gewinnt darin den Status als Design (Bauman 2000: 33, 119, 158). Was die Moderne auszeichnet, ist, dass sie sich aus einer ganz spezifischen Unterscheidung konstituiert – von Ordnung, Sicherheit, Harmonie, Wahrheit im Gegensatz zu Chaos, Ambivalenz, Uneindeutigkeit als dem ganz anderen ihrer selbst (Bauman 1991: 1, 4-7, 10; Bauman 1997: 13). Aufgehoben ist dies in der Eindeutigkeit herstellenden Funktion der Sprache, die in der Benennbarkeit der Welt kontinuierlich Wahrheit und Reinheit gegen Kontingenz und Ambivalenz herstellt. Das bedeutet aber auch, dass sich die Moderne grundsätzlich aus dem Ausschluss konstituiert, aus dem was fremd und anders ist. Die Unterscheidung von „wir“ und „sie“ ist im wahrsten Sinne des Wortes konstitutiv für die Moderne, weil sie für die Möglichkeit sozialer Ordnung schlechthin steht (Bauman 1991: 1-2, 8-9). Vor diesem Hintergrund, so Baumans wohl bekannteste These, kann der Holocaust nicht als einmaliges Ereignis interpretiert werden, sondern ist in der Verschmelzung von Wahrheit, Ordnung und politischer Einheit zutiefst in die Struktur der Moderne eingelassen.148 In der kritischen Distanzierung von eben diesen bislang unreflektierten Grundannahmen aber vermag die Postmoderne endgültig das Versprechen einzulösen, das die Moderne schon vor 200 Jahren gegeben hatte: Die Herstellung von Freiheit im Sinne der selbstbestimmten Schöpfung des gemeinschaftlichen Lebens unter den Bedingungen der Freiheit selbst. Sie kommt darin einer auf Permanenz gestellten, zweiten Reformation nah, nur dieses Mal unter vollständig säkularisierten Bedingungen (Bauman 1991: 272; Bauman 1997: 80; Bauman 2000: 223). In der selbstkritischen Reflexion als Einsicht in die Kontingenz der sozialen Gegebenheiten ist in Baumans Verständnis die Bedingung maximaler individueller Autonomie einerseits und eines Mindestmaßes an Solidarität und sozialer Ordnung andererseits 147 Abgrenzungsprozesse durch erneute Wellen von Nationalismus, Rassismus, Ethnizität oder schlichtweg Borniertheit konstituieren dann vielmehr die erwartbare Reaktion auf den Verlust von Kontrollfähigkeit der sozialen Umwelt, die diese allerdings durch die Verstärkung von Fragmentierung nur noch prekärer werden lassen (Bauman 1997: 28; Bauman 2000: 274). 148 Siehe hierzu ausführlich die Argumentation in „Modernity and the Holocaust“ (Bauman 1989).
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zugleich erfüllt (Bauman 1991: 231-232). „No wonder that postmodernity, the age of contingency für sich, of self-conscious contingency, is also the age of community: of the lust for community, search for community, invention of community, imagining community“ (Bauman 1991: 246; Betonung im Original). Individuelle Freiheit ist also gerade keine Frage der Philosophie oder der Vernunft, denn dies muss, weil eben auf transzendente Annahmen angewiesen, notwendigerweise partikular bleiben. Sie ist eine genuine Angelegenheit der Politik, weil sie nur in der Herstellung einer die Einzelnen transzendierenden, unpersönlichen Einheit denkbar ist, denn „Individuen können nicht frei sein, wenn sie nicht die Freiheit haben, eine Gesellschaft einzurichten, die ihre Freiheit unterstützt und beschützt; wenn sie nicht gemeinsam eine politische Instanz einrichten, die genau dies zu leisten vermag“ (Bauman 2000: 157). Mit anderen Worten: Die Postmoderne internalisiert, was die Moderne nur aushalten konnte, weil sie es in nationalstaatlicher Fragmentierung externalisierte. Sie schöpft ihr Konsenspotential nicht aus dem naiven Optimismus eines „happiness-by-design“ (Bauman 1997: 207), sondern aus dem „courage of despair“ (Bauman 1991: 250) einer grundsätzlich verunsicherten Lage. Gegen die Reinheit-Einheit-Ordnung-Prätention der Moderne emanzipiert sie sich durch die Schönheit von Ambivalenz und Differenz, der Vorläufigkeit allen Wissens149 und der Ästhetik des Fremden, den es als Differenzmerkmal eigentlich schon gar nicht mehr geben kann (Bauman 1991: 242-244, 255; Bauman 1997: 34). Gerade Kontingenz und Ambivalenz machen politisches Entscheiden also nicht weniger möglich, sondern umso notwendiger, denn nur dieses vermag letztlich aus dem Disparaten ein übergeordnetes Ganzes zu machen. „Whatever value or means championed by postmodernity we consider, they all point (...) to politics, democracy, full-blown citizenship as the sole vehicles of their implementation. With politics those values and means look like a chance of a better society; without politics, abandoned fully to the care of the market, they look more like deceitful slogans at best, sources of new and yet unfathomed dangers at worst. Postmodernity is not the end of politics, as it is not an end of history“ (Bauman 1991: 276).
Die Akzeptanz des Anderen als Anderen bleibt in diesem Verständniszusammenhang keine bloße Interessenbeziehung, sondern konstituiert als Anerkennungszirkel postmoderne Solidarität und Freiheit überhaupt. Denn „[T]he right of the Other to his strangerhood is the only way in which my own right may express, establish and defend itself. It is from the right of the Other that my right is put together. The ‘I am responsible for the Other’ and ‘I am responsible for myself’, come to mean the same thing“ (Bauman 1991: 236). Der Vorteil dessen liegt dann gerade auch darin, dass dies im Gegensatz zur Moderne, die mit Kommunikation immer auch Exklusi149 An diesem Punkt macht sich insbesondere Baumans Kritik an Habermas’ Vertrauen in einen intersubjektiven und vernünftigen Wahrheits-Konsens fest, der vor dem Hintergrund einer auf Verstehbarkeit ausgelegten Sprache wirklich gefunden werden kann, wenn man es nur lange genug versucht (Bauman 1991: 251).
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on produziert, nicht mehr explizit ausbuchstabiert werden muss, sondern sich quasi von selbst versteht (Bauman 1991: 236).150 Die Postmoderne erweist sich darin als umso sozialer als es die Moderne jemals sein konnte. Als Institution endgültig überlebt hat sich damit allerdings der moderne Nationalstaat. Er wird abgelöst durch die „agora“ (Bauman 2000: 157; Betonung im Original) als Sphäre, in der zwischen privaten Ansprüchen und öffentlichem Wohl vermittelt werden kann. 5.2.2 Die selbstvergessenen Protagonisten der Postmoderne: Der Tod des Selbst als Wiedergeburt im Anderen Bei aller Unterschiedlichkeit zwischen den theoretischen Positionen von Bauman und Maffesoli, auf die bereits weiter oben hingewiesen wurde, fällt doch auch beim Blick auf die Behandlung des Individuums wiederum eine erstaunliche Ähnlichkeit ins Auge. Beide bezweifeln die Rekonstruktionsfähigkeit eines modernen „stahlharten Gehäuse[s]“ (Bauman 2000: 223) individueller Identität und stellen dem die Person als Einheit entgegen, die ihr je verschiedenes Selbst nur in der Anerkennung des Anderen als Anderen finden kann. Dabei erweist sich für Zygmunt Bauman die krisenhafte Gegenwart als ebenso prekär wie paradox, ist es doch gerade eine außer Rand und Band geratene soziale Ordnung, die eine starke eigenständige Identität erfordert, die sie zugleich gnadenlos untergräbt. „Trying to grasp the infuriatingly evasive identity, demanded with the same superhuman power as it is denied, individuals fight a losing battle“ (Bauman 1997: 193). Das Dilemma ist offensichtlich: Eine stabile Identität ist notwendiger denn je, die Möglichkeit, eine solche auf Dauer zu haben allerdings umso unerfüllbarer (Bauman 1997: 26). Das Individuum ist ebenso maßlos überfordert wie das Soziale unterfordert. Das eine, da sich individuelle Identität nicht mehr unproblematisch in ein übergeordnetes Ganzes einhängen lässt. Das andere, weil normativen Vorgaben in der falsch verstandenen neoliberalen Version der Freiheit sowieso als überflüssig, wenn nicht sogar als hinderlich für das selbstregulierende Wirken des Marktes interpretiert werden. Damit muss aber vor allen Dingen eines aus dem Blickfeld geraten: „Das ‚Autonomieprojekt’ ist zweischneidig, und zwar zwangsläufig: Um autonom zu sein, bedarf die Gesellschaft autonomer Individuen, und umgekehrt können Individuen nur in einer autonomen Gesellschaft autonom sein“ (Bauman 2000: 128). Für den Einzelnen verbirgt sich dahinter in einer zunehmend multidimensionalen Gesellschaft der Anspruch, gegen die moderne Prätention von Einheit, Reinheit und Ordnung wählen zu müssen: „It is solely in the struggle against such one-and-onliness that the human individual, and the human individual as a moral subject, a responsible subject and a subject 150 Allerdings, das gesteht Bauman zu, immer unter der Gefahr in Entfremdung oder Gleichgültigkeit zu kippen (Bauman 1991: 237, 259, 273-274). Man muss das eben immer wieder erarbeiten, weil es sich nicht von selbst einstellt.
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taking responsibility for his responsibility, may be born“ (Bauman 1997: 201). Andersherum konstituiert sich darin die Verantwortung jedes Einzelnen für seine Entscheidungen und deren Konsequenzen, die sich nicht mehr externalisieren lassen. Gerade das rekonstruiert den Einzelnen als wirklich frei, weil nicht mehr aus einem (traditionellen, unselbständigen und unbewussten) Guss, sondern weil sich selbst modellierendes Subjekt, das mit Unsicherheit, Nichtverstehen und Diskrepanz umzugehen versteht (Bauman 1997: 196; Bauman 2000: 224-225, 286-287). Gerade das ist also nicht willkürlich, denn „[T]o be free does not mean believing in nothing; what it does mean is believing in too many things – too many for the spiritual comfort of blind obedience; it means being aware that there are too many equally important or convincing beliefs for the assumption of a careless or nihilistic attitude to the task of responsible choice between them; and to know that no choice would save the chooser from the responsibility for its consequences – and that therefore having chosen does not mean having settled the matter of choice once and for all, nor the right to put one’s conscience to rest“ (Bauman 1997: 201-202).
Darin liegt in Baumans Denken das Unbehagen an der Postmoderne: Sie muss mit ihrer selbsterzeugten Unsicherheit leben, die sie sich mit der Steigerung ihrer Freiheitsgrade unfreiwillig „erkauft“ hat, ohne dass es einen Weg zurück in eine Sicherheit versprechende Moderne reduzierter Freiheit geben könnte (Bauman 1997: 3). Auch Maffesolis Beschreibung gewinnt aus der Unterscheidung von modernem und postmodernem Individuum ihre Aussagekraft. Rechnete die Moderne in Maffesolis Verständnis noch mit einem in sich abgeschlossenen, selbstgenügsamen, autonomen, rationalen Individuum mit festen Funktionszuschreibungen, kaserniert in Geschlechterunterscheidungen, Familien, Klassen, Professionen oder Nationen, weist die globalisierte Gegenwart einen ganz anderen Weg (Maffesoli 1992: 209, 219, 257, 263). Die Vervielfältigung der sozialen Beziehungen widerspricht einer einzigen, dauerhaften Identität, leitet vielmehr einen Prozess der DeIndividualisierung ein (Maffesoli 1988: 141). Die aus der Multiplizierung der Kontexte folgende Verunsicherung individueller Identität ist jedoch keineswegs gleichbedeutend mit dem Ende derselben. „Bien au contraire cela élargit le champ d’action, démultiplie les possibilités, et permet à la personne, d’atteindre les dimensions de l’univers“ (Maffesoli 1992: 224). Die maximale Ausdehnung des Sozialen findet ihr Pendant in der Wiedergeburt des Einzelnen als Person, die ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihr Äußerliches richten muss, sondern sich ganz auf sich selbst konzentriert. Narzissmus, wie Maffesoli es nennt, steht dann der sozialen Ordnung nicht entgegen, sondern ist überhaupt erst deren Grundbedingung. Das Individuum gewinnt darin quasi-göttliche Qualität, weil es sich in der Sorge um sich selbst, zum Ursprung und Ergebnis eines alles erzeugenden, kreativen Aktes macht, schöpft es doch nicht weniger als sich selbst durch den Anderen als Anderen und darin letztlich das Soziale mit allen grundlegenden Bedeutungen und Kategorien. In diesem Sinne muss wohl der Hinweis von Maffesoli gelesen werden, dass sich der
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Einzelne zugleich im Geschaffenen verliert und wiederfindet. Das Individuum ist gegen den grundlegenden Irrtum der Moderne eben nicht alles. Es ist „animal politique“ (Maffesoli 1992: 216), weil es das Selbst des Individuums nur in Anerkennung des Anderen als Teil der Andersheit geben kann: „(...) je n’existe que par rapport à l’autre, qu’en relation avec l’autre, que sous le regard de l’autre“ (Maffesoli 1992: 256). Darin gewinnt der Einzelne überhaupt erst seine Qualität als Mensch, als homo aestheticus (Maffesoli 1991: 19). Sichtbar werden dann nicht mehr abgeschlossene Aggregate von Individuen, sondern eine formlos-bewegliche Masse von Personen, die sich als ebenso vielseitig erweisen wie die verschiedenen Rollen bzw. Masken, die sie im „globalen Welttheater“ spielen (Maffesoli 1988: 141, 148, 150). Der Druck der Anpassung an das Ideal eines aufgeklärten Bürgers schwindet zugunsten der Imitation von Helden, Heiligen und Idolen als leere, idealtypische Bezugspunkte in beliebigen Kontexten (Maffesoli 1988: 144). 5.2.3 Die Zeit der Postmoderne: Zur emotionalen Wiedergewinnung einer verunsicherten Zukunft Dass sich die Überarbeitung der grundlegenden sozialen Bedingungen im Verständnis von Maffesoli und Bauman auch und gerade an einer gesteigerten Verunsicherung des Künftigen festmacht, lässt sich nach dem bislang Dargelegten nur allzu leicht nachvollziehen. Konnte die Moderne aus Baumans Sicht in der Sequenz ihrer Ereignisse noch eine, wenn auch nur scheinbare, Sicherheit simulieren, muss der Postmoderne ein derartiges Verständnis grundsätzlich verwehrt bleiben (Bauman 1991: 255). Das die Postmoderne auszeichnende Bewusstsein für die selbsterzeugten Konsequenzen menschlichen Handelns, dessen Auswirkungen sich als kaum mehr absehbar und kalkulierbar erweisen, unterwerfen die Gegenwart in einem bislang ungekannten Maße einer sich selbst verstärkenden Verunsicherung (Bauman 1997: 25, 55-56). Die Gegenwart wird, wenn man so will, mit dem Gewicht einer Zukunft belastet, das sie eigentlich gar nicht bewältigen kann: Sie muss schon heute bedenken, was erst morgen sein wird und kann doch gerade das nicht. „The torments are many, but they all boil down to the noxious, painful and sickening feeling of perpetual uncertainty in everything regarding the future. The fast and continuously accelerating pace of change makes one thing certain: that the future will not be like the present. But the quick succession of futures dissolving into a succession of presents also teaches as well – beyond reasonable doubt – that today’s present (…) does not bind the future, that tomorrow’s present – and so there is little the individual can do today to make sure that the results he or she wishes to hold tomorrow will be achieved“ (Bauman 1997: 192; Betonung im Original).
Ähnlich formuliert auch Maffesoli den Eindruck einer verunsicherten Zukunft, wenn er von der Vorherrschaft des Hier und Jetzt, der Gleichzeitigkeit eines Alltags der Emotionen an verschiedenen (globalen) Orten spricht (Maffesoli 1988: 142;
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5 Die Perspektive des soziologischen Positivismus’
Maffesoli 1992: 228, 255). Gefühle aber fügen sich nicht rationaler Kalkulation oder vorausschauender Planung. Sie brechen ganz impulshaft und spontan hervor, lassen sich also gerade nicht in das mechanische Projekt der Moderne kasernieren. Damit einher geht die Vorherrschaft des Augenblicks, die Permanenz von ganz organischem Entstehen und Vergehen (Maffesoli 1988: 146-148; Maffesoli 1991: 15; Maffesoli 1992: 260, 262). Eben darin gründet die Notwendigkeit der Überwindung des modernen Fetischs nationalstaatlicher Sequenzierung (Maffesoli 1991: 15). „Thus the marginalization of the aesthetic within the finished perspective of history may be replaced by the centralization of the aesthetic within the post-historical perspective of destiny. In the former, things are only valued to the extent that they conform to the working of an evolutionary mechanism: drama in its etymological sense (dramein); in the latter, each thing is valued for itself, since it is a signifying element of an organicity, an organic whole: hence the tragic, which is the mode in which we are living today“ (Maffesoli 1991: 18; Betonung im Original).
5.3 Fazit: Die Moralisierung des Sozialen und die Ethisierung der Kultur Sieht sich die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts noch mit den ungewollten politischen und sozialen Konsequenzen einer euphorisch beginnenden Demokratisierung und Industrialisierung westeuropäischer Staaten konfrontiert, ist dessen zweite Hälfte bis hinein in die Anfänge des 20. Jahrhunderts bereits durch Prozesse der politischen Beschwichtigung, (verfassungs-)rechtlichen Anpassung, ökonomischen Umverteilung und administrativen Routinisierung derartiger Lagen gekennzeichnet. Damit einher geht eine Verlagerung zentraler Problemkomplexe gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Denn die europäischen Gesellschaften beobachten nun an sich selbst einen Grad an Interdependenz und Komplexität ihrer Leistungen, die sie für gesamtgesellschaftliche Krisen besonders empfänglich macht. In besonderem Maße scheint dies für die Ökonomie zu gelten, deren ungestörter Wachstumskurs sich nicht zuletzt als Garant staatlicher Leistungsfähigkeit im Hinblick auf Wohlfahrt, Bürokratie oder Bildung ausweist. Vor diesem Hintergrund lassen sich gesellschaftstheoretische Beschreibungen zunehmend weniger von der Hoffnung auf unmittelbare, vollständige und augenblickliche Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen leiten, von der das materialistische Verständnis einer über revolutionäre Akte fortschreitenden Geschichte noch ausgeht. In den Fokus rückt vielmehr die Frage, wie die moderne Gesellschaft mit den sie konstituierenden auseinanderstrebenden Momenten umgehen soll, auf die sie ganz offensichtlich als Bestandsgarantie ihrer selbst angewiesen ist. Auf der anderen Seite ist es allerdings eben dieser Wesenszug, der gesellschaftsweite regulierende Eingriffe ebenso aussichtslos wie grundlegend notwendig macht. Mit anderen Worten: An dieser Matrix konstituiert sich der eigentliche Problembezug gesellschaftstheoretischen Denkens des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die moderne Gesell-
5.3 Fazit: Die Moralisierung des Sozialen und die Ethisierung der Kultur
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schaft wird in diesem Moment der horizontalen (nicht vertikalen) Differenzierung ihrer selbst ansichtig und kann gerade angesichts dessen die Hoffnung, sich auf einen gemeinsamen Bezugspunkt hin ordnen zu lassen, nicht aufgeben. Die Antwort auf Differenzierung lautet dann – Integration. Daran aber manifestiert sich die Verlagerung der Grundfrage, wie individuelle Freiheit, d.h. die Tatsache, dass der Mensch allein den selbstgegebenen Bedingungen unterworfen sein kann, und soziale Ordnung, d.h. wie sich Individuen auch gegen ihren Willen zwingen lassen, miteinander vereinbar sein können. Während sich zwar der Eindruck verstärkt, dass gesellschaftsweite und unmittelbare Zugriffe auf die sozialen Bedingungen kaum mehr möglich sind, kann das Bestehende zugleich doch immer nur als Ergebnis menschlichen Handelns gedacht werden. Denkansätze wie die von Utilitarismus und Kontraktualismus, nach denen die Bedingungsmöglichkeit von Gesellschaft in einer Hobbes’schen Zwangsgewalt und die individueller Freiheit entsprechend in der Abwesenheit von Zwang wurzeln, erweisen sich angesichts dessen als hoffnungslos unterkomplex, gerade weil moderne, arbeitsteilige Gesellschaften an sich selbst zuvorderst die Existenz und Bedingungsnotwendigkeit gesellschaftlicher Auseinandersetzungen beobachten. Für Émile Durkheim als einem der Protagonisten der ersten soziologischen Stunde kann die Antwort auf dieses Problem allerdings nur in der Umkehrung der konventionellen Argumente liegen: Zwischen Individuum (Freiheit) und Gesellschaft (Solidarität) besteht nicht nur kein Widerspruch, sie stehen nachgerade in einem gegenseitigen Bedingungs- und Steigerungszusammenhang, der jederzeit und überall die Moral der sozialen und individuellen Verhältnisse garantiert. Eine derartige Vorstellung muss dem Sozialen den Vorrang geben und macht Individualisierung und individuelle Freiheitsgrade zum Ergebnis eines evolutionären Prozesses der Differenzierung. Andersherum gewinnt die Gesellschaft die Gesellschaftlichkeit ihrer selbst zunächst an der ursprünglich unhinterfragbaren, weil religiös abgesicherten, Natur ihrer selbst, um diese im Folgenden aus der Einsicht in die Notwendigkeit des erst herzustellenden Ähnlichen im Divergenten zu beziehen. Das muss bei Durkheim freilich durch die Wiedereinholung der moralischen Verhältnisse im Übergang von traditionellen, segmentären zu modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften erst noch geleistet werden. Ausgangspunkt ist dann nicht mehr (wie noch bei Rousseau) ein unmoralischer Naturzustand, der in einen moralischen überführt werden muss, sondern die Verschiedenheit unterschiedlicher moralischer Grundordnungen und deren nach innen verlegter Übergang als Krise. Der ursprüngliche Funke der Veränderung, der zur Überarbeitung zwingt, liegt dann allerdings nicht mehr in freiwilliger Zustimmung oder der Zielgerichtetheit der Geschichte. Vielmehr ist der auslösende Moment in einem Veränderungen selbst hervorbringenden, evolutionären Prozess aufgehoben. Schuld am anomischen Zustand der zeitgenössischen europäischen Gesellschaften Durkheims haben aus dessen Sicht dann ebenso der tiefgreifende Wandel von der feudalen zur modernen Ordnung, der das Indivi-
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duum aus alten Bindungen freisetzt, wie die scheinbare Passgenauigkeit utilitaristischen Gedankenguts, das Egoismus und Laissez-faire-Sozialität predigt. Dabei gesteht Durkheim den konfliktuellen Bedingungen der Übergangssituation durchaus positiven Charakter zu, sind sie doch Hinweis und Chance kreativer Erneuerung des Sozialen zugleich. Die veraltete, mit Ähnlichkeit der sozialen Elemente rechnende mechanische Solidarität lässt sich als neue, mit Abhängigkeit zwischen grundsätzlich Verschiedenem rechnende organische Solidarität rekonstruieren. Der Durkheim’sche Trick liegt also darin, in der funktionalen Arbeitsteilung nicht einen Widerspruch zur Möglichkeit von Moral in modernen Gesellschaften zu sehen, sondern deren eigentliche Steigerungsmöglichkeit. Sie erweist sich letztlich als sozialer als ihre Vorgänger, weil sie sich im evolutionären Prozess als diejenige Version ausdifferenziert, die die gesellschaftlichen Bedingungen zu originären Bedingungen der Gesellschaft macht. Das setzt voraus, dass sich Moral und Solidarität nicht mehr unter Zwang vollziehen, sondern getragen sind von der Einsicht des Einzelnen in das Notwendige. Mit anderen Worten: Nicht Konsens aus Zwang, sondern Konsens zum Konsens bildet das Fundament der modernen Gesellschaft. Das bringt sich im Prozess der Säkularisation selbst hervor und versetzt die dem Reflexionsgrad moderner Gesellschaft angepasste Wissenschaft, genauer: die auf Selbstbeschreibung der Gesellschaft spezialisierte Soziologie, in die aufklärende Position. So ist es auch hier wiederum die Gesellschaftstheorie, die sich in sich selbst als bildendes und erziehendes Instrument vorsieht, auf das sie in ihrer Argumentation zugleich angewiesen ist. Oder anders gesagt: Die Soziologie hilft dabei zu verstehen, dass die Möglichkeitsbedingung von Gesellschaft in der Moderne in der Ergänzungsbedürftigkeit ihrer selbst liegt. Die Idee einer postmoderne Gesellschaft hingegen, wie sie Michel Maffesoli und Zygmunt Bauman vorschwebt, zeichnet sich durch einen erneuten Abstraktionsschub der gesellschaftsstrukturellen Bedingungen aus, der das SolidaritätFreiheit-Problem erneut zur Debatte stellt. Das manifestiert sich einerseits daran, dass sich die inzwischen globalen auseinanderstrebenden sozialen Beziehungen nicht mehr mit Hilfe einer nationalstaatlichen Moral integrieren lassen, die bis vor kurzem noch die Grundlage moderner arbeitsteiliger Industriegesellschaften war. Andererseits ist es für Bauman und Maffesoli das erneute Aufflammen neoliberalen Denkens, dem sie eine klare Absage erteilen. Demgegenüber geht es beiden um eine postmoderne Rekonstruktion von Solidarität und individueller Freiheit. Das Maß des Erträglichen aber liegt für Bauman in einem ausreichenden Grad an Sozialität für maximale Individualität, während andersherum Maffesoli in maximaler Solidarität die Bedingung ausreichender Individualität sieht. Verwirklichen lässt sich das für beide jeweils nur über die Anerkennung der Andersheit des Anderen als Rekonstruktion eines allgemein geteilten Hintergrunds. Darin wurzelt die Solidarität moderner Gesellschaften wie die Individualität des Individuums und steigert sich zugleich mit dem Grad der Diversität, auf den sie treffen. Und auch hier ist es wie-
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derum der soziologische als übergreifender Standpunkt, der in der Bereitstellung von Erklärungen die Krise überhaupt erst sicht- und benennbar macht und daran die Aufklärung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit betreibt, die den Weg in eine bessere, weil sozialere Zukunft weist.
6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
6.1 Von Moral zu Funktion: Zur Stabilität hochkomplexer Gesellschaften im 20. Jahrhundert Endete das vorhergehende Kapitel mit der endgültigen Etablierung des modernen industrialisierten Wohlfahrtsstaats, behandelt das folgende, wenn man so will, dessen eigentliche Blütezeit. Nach den Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs sind es gerade die europäischen und die nordamerikanischen Gesellschaften, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine beispiellose Phase des Aufschwungs und der Prosperität erleben. Die Rede ist von einem Zeitraum, der ebenso von ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Blockkonfrontation und sog. Stellvertreterkriegen geprägt ist wie von nationalen Unabhängigkeitsprozessen im Kontext der Entkolonialisierung, der Institutionalisierung der Europäischen Gemeinschaft, der Gründung internationaler Organisationen wie etwa UNO, WTO oder Weltbank, der Entwicklung der Menschenrechte, der Schaffung von zunehmend regionalen Wirtschaftsräumen und der im Kontext von Bevölkerungsexplosion und Hunger stehenden Entwicklungspolitik bzw. -hilfe für die „Dritte Welt“. Obwohl nicht frei von tiefgreifenden Konflikten und Krisen bringt die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere für die westliche Welt ein bislang ungekanntes Maß an bürgerlicher und politischer Freiheit, Wohlstand, sozialer Sicherheit und eine in atemraubendem Tempo fortschreitende Entwicklung in Technik, Telekommunikation, Medizin und Wissenschaft hervor. Bedingungen, die gemeinhin mit dem Staat als zentraler Regelungsinstanz in allen Bereichen des sozialen und individuellen Lebens, als Garant stabiler (Versorgungs-)Verhältnisse, als Koordinationszentrum von Politik, Recht, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Kultur in Zusammenhang gebracht werden, ja ohne diesen gar nicht denkbar scheinen. Zuvorderst steht dabei, darauf weist bereits die Bezeichnung hin, der Aspekt der allgemeinen Wohlfahrt. Die Komplementarität von Staatsbürgerschaft und freiem Wirtschaftssubjekt (Erbe des Liberalismus des 19. Jahrhunderts) auf der Seite des Individuums findet dabei ihre Entsprechung in der verfassungsrechtlichen Garantie von Abwehr-, Schutz- und Freiheitsrechten und einer umfangreichen ergänzenden Sozialgesetzgebung einer ansonsten freien Marktwirtschaft auf der Seite des Staats. In Anerkennung der sich selbst regulierenden Kräfte des Marktes
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
sorgen die staatlichen Rechtsvorgaben für Chancengleichheit zwischen nur je individuell bestimmbaren Nutzenerwägungen.151 Mit anderen Worten: Der Staat ist zugleich Schutz- und Sicherungsinstanz dessen, was er durch seine eigene Existenz am meisten bedroht: Die individuelle Freiheit als einem selbstbestimmten Gestaltungsbereich, die doch zugleich für ihre Verwirklichung auf ein allgemeingültiges Sanktionsinstrument angewiesen ist. Das ist nicht neu, findet aber in der Ergänzung der verfassungsrechtlich festgeschriebenen Staatszielbestimmung eines demokratischen Rechtsstaats durch das Sozialstaatsprinzip eine ganz wesentliche Erweiterung, die die staatliche Organisation in ihren Konstitutionsbedingungen auf das Wohlergehen seiner Bürger einschwört.152 Garant dessen ist dann nicht zuletzt eine durchrationalisierte Leistungsbürokratie, die abstrakt und allgemein fördert, was dem Einzelnen zugute kommt (Hesse 1995: 91-95). Gleichzeitig sieht sich der Staat auch für die Herstellung wachstumsorientierter Wirtschaftsbedingungen verantwortlich: Nationale Wirtschaftspolitiken, egal welcher Couleur, setzen auf die Steuerungsfähigkeit des Marktes durch den Staat – sei dies nun mit Hilfe von Steuern oder antizyklischen Konjunkturmaßnahmen nach innen oder der Schaffung von Freihandelszonen und regionalen Wirtschaftsräumen nach außen. Aber nicht nur wirtschaftliche Belange fallen in den Zuständigkeitsbereich staatlicher Regulierung. Die Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts zeichnen sich gerade auch durch flächendeckende und schichtübergreifende Bildungssysteme aus. Die Verantwortung für Schulwesen und Erziehung liegt dabei, egal ob zentralistisch oder föderal geregelt, prinzipiell beim Staat.153 Bildung, Erziehung, Kultur – der Staat ist exklusive Regelungsinstanz, wenn es um Lehrpläne, Kontrolle der elterlichen Pflichten und kulturelle Förderung geht. Andersherum erweisen sich individuelle Bildungs- und Karriereaussichten mit den üblichen Stufen von Einschulung, Ausbildung, Berufsleben und Pensionierung weitestgehend vorgezeichnet. Das ist insofern beachtenswerter, als es sich liest, da dies erstmals für nahezu alle Bürger unabhängig von ökonomischem oder gesellschaftlichem Status gilt. Bildung ist grundsätzlich kein Privileg mehr einer finanziellen oder kulturellen Elite und schon gar nicht mehr Frage des Geschlechts. Und falls doch, so bedarf dies zumindest der Rechtfertigung. Noch deutlicher wird das Gesagte vermutlich, führt man sich vor Augen, wer von der klassischen bürgerlichen Biographie ausgenommen 151 In Deutschland findet 1949 Ludwig Erhard dafür den Begriff der „’Sozialen Marktwirtschaft’“ (Benz 1983: 138). 152 So deutet etwa der Verfassungsrechtler Konrad Hesse das Sozialstaatsprinzip im deutschen Grundgesetz dahin gehend, „(...) daß die Aufgaben des Staates sich nicht mehr im Schützenden, Bewahrenden, nur gelegentlich Intervenierenden erschöpfen. Der Staat des Grundgesetzes ist planender, lenkender, leistender, verteilender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender Staat, und dies ist ihm durch die Formel vom sozialen Rechtsstaat von Verfassungs wegen als Aufgabe gestellt“ (Hesse 1995: 94; Betonung im Original). 153 So schreibt etwa das Deutsche Grundgesetz an prominenter Stelle in Art. 7 Abs. 1 GG fest, dass das Schulsystem unter der Aufsicht des Staats steht.
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bleibt: Psychisch Kranke und Kriminelle. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die moderne Gesellschaft mit Kliniken und Gefängnissen nicht gerade auch für ihre „Außenseiter“ ganz innen liegende Orte schafft. Das Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit des Staats macht sich allerdings nicht nur an den sog. inneren Angelegenheiten fest. Kaum ein Zeitraum kennt ein vergleichbares Maß an internationalen Absprachen, verbindlicher Regelung und neu gegründeten Institutionen wie die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Empfand man bereits nach dem Ersten Weltkrieg das Erfordernis der Kodifizierung und Institutionalisierung zwischenstaatlicher Beziehungen, wie sie sich etwa im Völkerbund niederschlugen, gewinnt diese Einsicht nach dem Zweiten Weltkrieg an enormer Schubkraft (Kennedy 1987). Internationale Verträge werden zum unverzichtbaren Mittel der Verregelung staatlichen Handelns zunächst nur nach außen, seit einigen Jahrzehnten aber auch zunehmend nach innen. Am prominentesten hier sicherlich die am 29. April 1945 von 50 Gründungsstaaten in San Francisco unterzeichnete UN-Charta. Bis heute konzentrieren sich an den Vereinten Nationen die Kodifikationsbemühungen für internationale (entwicklungs-)politische, ökonomische, soziale und menschenrechtliche Regelungsgegenstände. Schließlich ist es auch die Phase der Entkolonialisierung und der folgenden Entwicklungspolitik, die auf den Staat als zentrale Institution des 20. Jahrhunderts hinweist. Die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit der Menschen und Völker, wie sie nun international kodifiziert sind, macht die einstigen Kolonialmächte zu Unterdrückern eigentlich freier Völker und stößt ab den 1950er Jahren eine Welle von nationalen Unabhängigkeitsprozessen und Befreiungskriegen an. Damit einher geht erstmals die Unterscheidung von Staaten anhand ökonomischer Gesichtspunkte in „Erste“, „Zweite“ und „Dritte“ Welt und macht das enorme Gefälle zwischen westlichen Industrienationen und unterentwickelten Regionen der Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem der bestimmenden Themen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Steuerungstheorien aller Art gewinnen dabei die Oberhand und sehen das eigentliche Problem mal in endogenen (z. B. archaischen bzw. korrupten staatlichen Institutionen) mal in exogenen (z.B. den auf Ausbeutung ausgelegten weltwirtschaftlichen Strukturen) Gründen. In eben diesen Kontext fällt der Großteil der Schriften des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (1902-1979). Dessen Theorie steht in dieser Untersuchung exemplarisch für all jene zeitgenössischen gesellschaftstheoretischen Beschreibungen, die dem Bezugsproblem höchst differenzierter, auseinanderstrebender gesellschaftlicher Strukturen mit dem Vertrauen in die effektive Steuerungs- und Inklusionsfähigkeit moderner Nationalstaaten begegnen. Das Werk Parsons’ erweist sich dabei gerade in dieser Hinsicht als außerordentlich prägend für die soziologische Disziplin, gelingt ihm doch ein doppelter, nämlich transatlantischer und historischer, Brückenschlag. Parsons schließt unmittelbar an zentrale europäische Vertreter soziologischen Denkens des 19. Jahrhunderts – zuvorderst Alfred Marshall, Max
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Weber, Émile Durkheim und Vilfredo Pareto – an. Er trägt damit nicht nur wesentlich zur „Kanonbildung“ (Joas/Knöbl 2004: 40) der Disziplin bei, sondern entwickelt diese auch maßgeblich weiter und macht ihn – so Joas – „(...) zum angesehensten und zweifelsohne auch bedeutendsten Soziologen der 1950er und 1960er Jahre, und zwar nicht nur in den USA, sondern weltweit, mit Einfluß sogar in der Sowjetunion“ (Joas/Knöbl 2004: 42). Parsons’ Denken zeichnet sich dabei durch unmittelbaren Anschluss an die und einem mindestens ebenso deutlichen Bruch mit der Soziologie des 19. Jahrhunderts aus. Wie diese, sieht sich auch Parsons mit einer hochkomplexen Gesellschaft konfrontiert, die gerade aufgrund der ihr immanenten auseinanderstrebenden Momente nicht auf einen gemeinsamen Integrationshintergrund verzichten kann. Was bleibt, ist also das Bezugsproblem gesellschaftstheoretischen Denkens der Vereinbarkeit von Divergenz und Integration. Moderne Gesellschaften treffen nach wie vor auf die funktionale Spezialisierung ihrer selbst, auf die sie ebenso angewiesen sind wie sich daran kontinuierlich gesellschaftliche Auseinandersetzungen festmachen. Andererseits hat die moderne Gesellschaft aus Parsons’ Sicht allerdings inzwischen einen derartigen Komplexitätsgrad erreicht, die soziale Konfliktlagen nicht mehr zu gesamtgesellschaftlichen Krisen werden lässt, die wiederum nur durch vollständige Überarbeitung der sozialen Bedingungen geheilt werden könnten. Vielmehr erweisen sich gesellschaftliche Spannungen für ihn nun als Bewährungshorizont und Entwicklungsbedingung des Sozialen schlechthin: An diesen scheidet sich, ob und inwiefern soziale Praxen dazu in der Lage sind, sich an sich selbst zu problematisieren und zu lösen, d.h. sich an sich selbst zu steigern. Sehen lässt sich daran, dass moderne Wohlfahrtsgesellschaften an sich selbst primär die Erfahrung kontinuierlichen Wandels machen, der weniger von gesellschaftlichen Übergangs- bzw. Umbauphasen geprägt ist, als Koordinationsfähigkeit im Umgang mit einem hochdifferenzierten Alltag verschiedenster Eigenlogiken verlangt. Andersherum verliert daran der Krisenbegriff seinen gesellschaftstheoretischen Beschreibungswert. Evolutionäre Übergänge verstehen sich jetzt endgültig nicht mehr als Phasen der Überarbeitung veralteter Strukturen, sondern konstituieren sich als Ablösungspunkte einer sich als unterkomplex erweisenden Form gesellschaftlicher Integration. Derartigen Beschreibungen hängt dabei ebenso die Irreversibilität eines sich selbst hervorbringenden Gangs des Sozialen an wie eine gewisse evolutionäre Nüchternheit, die sich nicht mehr an Status- und Eigentumsdifferenzen oder Fragen moralischer Erneuerung abarbeiten muss. Die Beschreibung Parsons’ entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie: Der Strukturfunktionalismus – der Name weist bereits den interpretativen und theorieästhetischen Weg – scheint die Theorie zum Bild der in einmütiger Regelmäßigkeit gebauten amerikanischen Vorstädte der Nachkriegszeit mit ihren identischen Straßenzügen, Vorgärten und Familienwagen, die in der ihnen eigenen stabilitätsversprechenden Monotonie für ein neues Maß individueller Freiheitsgrade stehen. Dass
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dies vor dem Hintergrund aktueller historischer Ereignisse, dem Zweiten Weltkrieg und mehr noch der Blockkonfrontation, gerade auch (ideen-)politisch konnotiert ist, mutet dem heutigen Leser fast nostalgisch an. Es erstaunt dann wenig, dass Parsons das amerikanische Gesellschaftsmodell als das evolutionär am weitest fortgeschrittene herausstellt, ja dieses geradezu zum Ort einer „klassischen Modernisierung“ überhaupt macht. Überraschend ist vielleicht nur, dass die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Gesellschaftsmodell dabei weniger mit ideologischen Mitteln geführt wird, als schlicht auf die gesteigerte Adaptionsfähigkeit einer freiheitlich-demokratischen, bürokratisierten und marktwirtschaftlichen Grundordnung an die Ansprüche einer hochkomplexen modernen Gesellschaft verweist. Andersherum ist es für Parsons die Ineffizienz einer ideologisch überformten, zentralistisch geprägten und planwirtschaftlich geführten kommunistischen Gesellschaft, die diese als evolutionäre Sackgasse früher oder später aus der menschlichen Geschichte aussortieren muss. Und ohne nun in ein allzu durchsichtiges Lob an die visionäre Kraft derartiger Aussagen zu verfallen, so erscheint deren Treffgenauigkeit aus heutiger Sicht, ob des Zusammenbruchs des kommunistischen Regimes Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre, doch durchaus bemerkenswert. 6.1.1 Eine voluntaristische Handlungstheorie: Zur rekursiven Stabilität von Normen, Sinn und Handlung Wendet man nun den Blick zunächst auf das Wissenschaftsverständnis Parsons’, so fällt auf, dass auch er ähnlich wie Émile Durkheim zunächst auf die ganz eigenlogischen Bedingungen soziologischer Beobachtung trifft. Mit andern Worten: Wissenschaft versteht sich nicht von selbst – sie ist Ergebnis gesellschaftlicher Differenzierung aus den religiösen Grundlagen ursprünglicher Gesellschaften. In diesem Sinne weist die Wissenschaft im Allgemeinen und die Soziologie im Besonderen an ihren Entstehungsbedingungen immer schon auf ihre je eigene Funktion hin.154 An letzterer aber versorgt sich die moderne Gesellschaft aus Parsons’ Sicht mit einer Perspektive auf sich selbst, die auf die grundlegendste aller Fragen spezialisiert ist: Was ist es, das die Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhält? Daran manifestiert sich zugleich die Unmöglichkeit und die Möglichkeit aller soziologischen Beobachtung. Das erste, da sich die Soziologie grundsätzlich einem überkomplexen Gegenstand – der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit – gegenübersieht, der sie sich nicht 154 Parsons weist dabei ähnlich wie Durkheim und nicht ohne eine gewisse Süffisanz darauf hin, dass sich die Soziologie, als Beschäftigung der modernen Gesellschaft mit sich selbst, vermutlich weniger rein wissenschaftlichen Bedingungen schuldet also vielmehr eine Modeerscheinung ist: „In other words, the growth of sociology is a function not only of the sheer scientific merits of the contributions of its practitioners, but also of larger intellectual currents of the time, which have been in part ‘existentially’ determined“ (Parsons 1968a: vi).
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punktgenau nähern kann (Parsons 1966a: 1; Parsons 1969b: 352, 353). Das zweite, da sie gerade aus der Unmöglichkeit unmittelbarer Erfahrung der sozialen Realität erst die Möglichkeit gewinnt, wissenschaftliche Wahrheiten zu formulieren. Wissenschaft kann dann allerdings nicht als bloße Akkumulation von Fakten betrieben werden, mit dem Ziel, immer mehr Wissen zu erringen. Gerade weil wissenschaftliches Beobachten selbst Sinn konstituiert, muss es aus dieser Sicht immer schon theoriegeleitet sein: „It is fundamental that there is no empirical knowledge which is not in some sense and to some degree conceptually formed“ (Parsons 1968a: 28). Das setzt Komplexitätsreduktion voraus, wo sie erst erzeugt werden soll. Eine Erkenntnistheorie muss in Parsons’ Verständnis also zweierlei leisten: Sie muss Konkretes bereits (auf einen Vergleichsgesichtspunkt hin) abstrahiert haben und gleichzeitig voraussetzungslos genug sein, um den Blick auf Empirisches freizugeben. Mit anderen Worten: Gesellschaftstheorie ist für Parsons normativ und deskriptiv zugleich. Denn soziologisches Beobachten setzt einerseits ebenso ein „integrated ‚system’“ (Parsons 1968a: 7), d.h. bereits getroffene Annahmen über die Welt, voraus wie der Gegenstand Gesellschaft als „empirical problem“ (Parsons 1966a: 3) niemals als „totale konkrete Entität“ (Parsons 1976: 275) in den Blick zu bekommen ist. In diesem Sinne können Theorien selbst nie zeitlose Konstrukte sein, sondern danken sich immer einer „historical-interpretive perspective“ (Parsons 1966a: 4), mit der sie sich ihrem Gegenstand nähern. Anders gesagt: Perspektive und Gegenstand sind aus dieser Sicht zirkulär aneinander gebunden, insofern sie sich nicht voneinander abstrahieren lassen. Und wiederum: Auch für Parsons endet Soziologie an dieser Stelle nicht, hier beginnt sie. Dabei bezieht Parsons’ Theorie Gestalt und Aussagekraft am Begriff der Handlung. An diesem als dem sog. „‘unit act’“ (Parsons 1968a: 43) macht er den spezifischen Ausgangspunkt der Analyse sozialer Strukturen fest und entwickelt eine voluntaristische Handlungstheorie. Diese versteht sich in erster Linie als Gegenentwurf zu positivistisch-utilitaristischen und zu idealistischen Denktraditionen. Denn diese erweisen sich aus Parsons’ Sicht in ihren Grundannahmen – Linearität der gesellschaftlichen Entwicklung, extremer Individualismus und systematische Unter- bzw. Überschätzung der Bedeutung von Wertesystemen für individuelles Handeln – als zu unterkomplex für die wissenschaftliche Beschreibung und Deutung moderner Gesellschaften. Sie sind schlicht nicht dazu in der Lage, die Kreativität individuellen Handelns und die Relevanz von Normen als eigentliche Gegenstände soziologischer Untersuchung sinnvoll zu erfassen, gerade weil sie in ihren Denkvoraussetzungen immer nicht-subjektivistisch und metaphysisch geraten. Es bedarf also eines neuen wissenschaftlichen Ansatzes, der sich durch eine zyklische Theorieanlage, Zweifel an rein individualistischen Erklärungsversuchen des Sozialen und der Aussagekraft eines schlichten Empirismus’ auszeichnet. So setzt Parsons der kontraktualistischen Vorstellung einer linearen Entstehung von Gesellschaft aus dem Willen der Einzelnen die gegenseitige Bedingtheit
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von Struktur und Prozess entgegen, die immer schon vom Sozialen ausgeht. Gegen den extremen Individualismus der utilitaristischen Perspektive spricht in Parsons’ Verständnis zunächst und vor allen Dingen, dass Wissenschaft eigentlich gar keinen Einblick in die Ziele und Interessen eines in sich geschlossenen Individuums haben kann. Kritisch erscheint dann nicht nur die Grundannahme einer fundamentalen Gegensätzlichkeit von Individuum und Gesellschaft, sondern gerade auch die Frage, auf welchen Bezugspunkt hin die irreduzible Pluralität individueller Ziele überhaupt integrierbar sein könnte. Worauf Parsons an dieser Stelle also trifft, ist jenes Problem, das schon Durkheim als die nicht-kontraktuellen Grundlagen des Kontraktualismus bezeichnet hat: Es bleibt grundsätzlich ungeklärt, was vorausgesetzt werden muss, damit sich aus dem egoistischen Handeln von Individuen die allgemeinen Bedingungen des Sozialen ergeben (Parsons 1968a: 56, 72, 74). Darüber hinaus bekommt eine utilitaristische Handlungstheorie grundsätzlich nur jene Handlungen in den Blick, die sich als rational ausweisen. Der Utilitarismus kann sich so von allem Anfang an nicht für die handlungsorientierende Rolle von Werten interessieren und muss daran zwangsläufig an Erklärungskraft einbüßen (Parsons 1968a: 59-60). Schließlich ist es die damit einhergehende Überbewertung eines methodologischen Empirismus’, der missachtet, dass es sich bei Handlungen immer schon um Aggregate normativ bedingter Zweck-, Situations- und Mittelerwägungen handelt (Parsons 1968a: 59, 70, 71, 452). Die analytische Aussagekraft utilitaristischer Handlungstheorien muss dann allerdings aus Parsons’ Sicht teuer durch den Bruch mit den eigenen Voraussetzungen erkauft werden. Die Krux liegt für ihn dabei ausgerechnet in deren eigentlichem Kern: Der Subjektivitätsannahme. Gerade diese kann jedoch aus Konsistenzgründen weder hinsichtlich der angenommenen Indeterminiertheit individueller Ziele noch der Rationalitätsunterstellung aufrechterhalten werden. Denn beruht die Subjektivität von Handlungszielen auf der Annahme, dass diese in Abhängigkeit vom Wissen der Zweck-Mittel-Relation einer konkreten Situation variieren, so ist Handlung nicht mehr als die rationale Anpassung an eben diese externen Bedingungen und muss darin jegliche individuelle Natur einbüßen. Darin wurzelt für Parsons der erste Teil des „‘utilitarian dilemma’“ (Parsons 1968a: 64): „That is, either the active agency of the actor in the choice of ends is an independent factor in action, and the end element must be random; or the objectionable implication of the randomness of ends is denied, but then their independence disappears and they are assimilated to the conditions of the situation, that is to elements analyzable in terms of nonsubjective categories, principally heredity and environment, in the analytical sense of biological theory“ (Parsons 1968a: 64).
Auf der anderen Seite steht die Rationalitätsannahme, die voraussetzt, dass der individuelle Akteur über ein Minimum an Wissen verfügt, seine Situation, Ziele und Mittel einschätzen zu können. „But the fact that there is no alternative selective standard, in the choice either of ends or of means, throws the system, with its tendency to become logically closed, into the negative concept of ran-
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie domness. Then, from the point of view of the actor, scientifically verifiable knowledge of the situation in which he acts becomes the only significant orienting medium in the action system“ (Parsons 1968a: 61; Betonung im Original).
Wenn Rationalität die universale Regel ist, so kann sich alles andere Handeln nur als deren Gegenteil bestimmen – als irrational. Handlung lässt sich dann nur mehr nach der Unterscheidung Erfolg/Misserfolg bemessen, wobei letzterer wiederum nur durch Unwissenheit oder Irrtum erklärt werden kann. Denn wüsste man es besser bzw. irrte man nicht, würde man sich zur gegebenen Situation ohne Zweifel vollständig rational, d.h. letztlich objektiv, verhalten. Darin aber tritt der zweite Teil des utilitaristischen Dilemmas zutage: Auch mit der Rationalitätsunterstellung kippen die subjektivistischen Grundannahmen wiederum in ihr Gegenteil (Parsons 1968a: 67). Wie man es auch dreht und wendet, weder eine radikal positivistische noch eine strikt nutzenmaximierende Position vermag die utilitaristische Handlungstheorie in Parsons’ Augen auf überzeugende Weise zu retten. Kurz: Beide taugen nicht für eine soziologische Untersuchung, die sich für individuelles Handeln als eine Praxis interessiert, die hervorbringt und verändert, worauf sie zugleich angewiesen ist – einen normativen Werthintergrund, in den der Einzelne immer schon gestellt ist. Utilitaristische und idealistische Theorien verstellen also aus Parsons’ Sicht eher den Blick auf einen adäquaten Handlungsbegriff als einen solchen anzubieten. Nicht nur, dass grundsätzlich davon ausgehen ist, dass individuelle Motive der soziologischen Untersuchung grundsätzlich unzugänglich bleiben müssen (Parsons 1966a: 6). Zwischen der Unterstellung egoistischer Motive auf der einen und altruistischer auf der anderen Seite muss die Kreativität individuellen Handelns letztlich auf der Strecke bleiben. Gleichzeitig kann und will Parsons das Potential der bereits getroffenen theoretischen Erkenntnisse nicht ungenutzt lassen. Ganz zweifellos ist davon auszugehen, dass Handeln durch Zweck-Mittel-Relationen bestimmt ist. Mindestens ebenso richtig ist jedoch auch die handlungsorientierende Wirkung ideeller Faktoren. Die zentrale Frage lautet also, wie eine qualitativ neue Handlungstheorie aussehen kann, die beide Motivationen gleichermaßen berücksichtigt. Oder wie Münch formuliert: „Es kommt (...) auf die Verknüpfung der ‚idealen’ Welt kultureller Werte und Normen mit der ‚realen’ Welt kultureller Traditionen, Interessens- und Machtkonstellationen an“ (Münch 2007b: 30). Eine aussagekräftige wissenschaftliche Methode muss also an anderer Stelle ansetzen und zwar dort, wo Handlung bereits in einem sinnvollen, d.h. normativen, Kontext gestellt ist. Denn „[A]ction consists of the structures and processes by which human beings form meaningful intentions and, more or less successfully, implement them in concrete situations. The word ‘meaningful’ implies the symbolic or cultural level of representation and reference. Intentions and implementation taken together imply a disposition of the action system – individual or collective – to modify its relation to its situation or environment in an intended direction“ (Parsons 1969d: 5-6).
Andersherum formuliert: Dass Menschen in einem bedeutungs- und orientierungsleeren Raum mit welchen Mitteln auch immer, was auch immer zu erreichen su-
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chen, lässt sich schlicht nicht als Handlung und darin wiederum nicht als soziologisch aussagekräftiges Faktum deuten.155 Handlung muss in einem derartigen „Naturzustand“ genau das abgehen, was für sie konstitutiv ist: eine bereits komplexitätsreduzierende und darin sinnkonstituierende Ordnung. Oder anders formuliert: Es fehlt die Referenz auf eine allgemeine Symbolstruktur, die, ausformuliert als normative Vorgaben von der individuellen Persönlichkeit in Erfahrungs- und Lernkontexten verinnerlicht, erst die Deutung einer konkreten Situation auf ihre (legitimen/illegitimen) Handlungsziele bzw. -mittel hin erlaubt. Struktur und Prozess setzen sich in diesem Sinne gegenseitig voraus, da jene diesen erst mit handlungsorientierender Bedeutung versorgt, wodurch dieser wiederum jene reproduziert bzw. ändert. Handlung, normativer Hintergrund und Sinn bilden in Parsons’ Verständnis also einen untrennbaren Zusammenhang. „As process, action is, in fact, the process of alteration of the conditional elements in the direction of conformity with norms. Elimination of the normative aspect altogether eliminates the concept of action itself and leads to the radical positivistic position. Elimination of conditions, of the tension from that side, equally eliminates action and results in idealistic emanationism. Thus conditions may be conceived at one pole, ends and normative rules at the other, means and effort as the connecting links between them“ (Parsons 1968b: 732).
Das erklärt, warum Parsons methodisch von einem „action frame of reference“ (Parsons 1968b: 731) ausgeht, in dem Handlungsziel, -mittel und die Bedingungen der Situation ebenso Berücksichtigung finden wie Normen und der (subjektive) Akteur (Parsons 1968b: 738). Im Gegensatz zur utilitaristischen Herangehensweise erlaubt dieser, die deskriptive und analytische Ebene des „unit act“ als Minimaleinheit der voluntaristischen Handlungstheorie strikt zu unterscheiden und dadurch überhaupt erst aufeinander beziehen zu können. Interessiert sich die empirische Beschreibung dann mehr für Ziel, Mittel, Bedingungen und handlungsorientierende Normen im konkreten Handlungsfall, arbeitet die wissenschaftliche Analyse mit einem bereits abstrahierten Verständnis derselben (Parsons 1968b: 731-732). Eine derartige Herangehensweise gestattet, in der Realität untrennbar Verbundenes analytisch zu separieren und durch Interpenetrationsbeschreibungen wieder zusammenzufügen, um zu einem soziologisch aussagekräftigen Handlungsbegriff zu gelangen. Denn erst und nur darin gewinnt menschliches Handeln eigenständigen analytischen Status und die soziologische Theorie den Vorteil, nur das vorwegnehmen zu müssen, was sich letztlich als Ergebnis – als „patterned meaningful products“ (Parsons 1966a: 5) – bereits erfolgten Handelns ausweist. Sie ist darin, wie bereits gesagt, normativ und konstativ zugleich. Das ist allerdings kein Defekt, sondern Eigenheit einer sozialen Praxis, deren Teil sie ist. Die vermittelnde Funktion des Handlungsbegriffs Parsons’ zwischen Struktur und Prozess wiederholt sich 155 Und die „Sinnlosigkeit“ und „Unvorstellbarkeit“ dessen deutet andersherum bereits darauf hin, wie sehr soziologische Begriffe immer schon (individualisierte) Handlungsbegriffe sind, denen Sinn im Sinne von Motiven unterstellt werden kann.
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entsprechend an der Unterscheidung von Theorie und Empirie: Erst die an der Empirie entfaltete Abstraktion verschafft der Theorie die notwendige bedeutungsvolle Leere, die eine der Komplexität der konkreten Situation angemessene soziologische Beobachtung und Beschreibung des Sozialen erlaubt. Dass soziologische Theorie also selbst als Praxis zu deuten ist, die auf einen normativen Hintergrund angewiesen ist, erweist sich letztlich als deren eigentliche Konstitutionsbedingung. 6.1.2 Zum Praxisaspekt normativer Integration als Konstitutionsbedingung hochdifferenzierter Gesellschaften 6.1.2.1
Gesellschaftliche Auseinandersetzungen als Bewährungs- und Steigerungshorizont sozialer Integration
Das bislang Dargelegte verdeutlicht bereits, dass der Komplexität des Systems moderner Gesellschaften in Parsons’ Verständnis weder durch die Konformität individuellen Handelns dank einer Hobbes’schen Zwangsgewalt noch durch moralische Überformung Durkheim’scher Art beizukommen ist.156 Damit bleibt die grundlegende Fragestellung, wie gesellschaftliche Ordnung überhaupt möglich ist, weiterhin offen. Die bis heute gültige Fassung dessen findet Parsons allerdings nach wie vor in der Problemformel Hobbes’, nach der die Interessendifferenz der Individuen zwangsläufig zu sozialen Konflikten führen muss (Parsons 1966a: 7; Parsons 1969d: 7-8; Parsons 1993: 448). Das gewinnt insofern doppelte Bedeutung, da sich daran einerseits der kontinuierte Problembezug einer soziologischen, nicht mehr nur politischen Perspektive ausmachen lässt. Andererseits manifestiert sich daran weiterhin die Frage nach dem „Wie“ sozialer Ordnung. Kann sich das utilitaristische Programm nur für die erste Version interessieren und muss zu deren Beantwortung auf nicht-utilitaristische Unterstellungen zurückgreifen, liegt in Parsons’ Verständnis in der zweiten Version und der Klärung der bereits von Durkheim beobachteten nichtvertraglichen Elemente des Vertrags die eigentliche Lösung des Problems. Denn aus Parsons’ Sicht sind es eben Konflikte, von denen Hobbes als Charakteristikum eines Naturzustands spricht, die moderne Wohlfahrtsgesellschaften als innewohnende Bedingung einer hochdifferenzierten funktionalen Grundstruktur an sich selbst beobachten. In Anbetracht der Vielzahl funktionaler Interessen sind Auseinandersetzungen unvermeidbar. Diese konstituieren aus Parsons’ Sicht also keineswegs eine grundlegende Bedrohung des sozialen Zusammenlebens, sondern weisen 156 Die Vorstellung von Anarchie bzw. Zusammenbruch gesellschaftlicher Ordnung als nichtgesellschaftlicher, äußerlicher Zustand kommt ob des Komplexitätsgrads und der Stabilitätserfahrung moderner Gesellschaften im Denken Parsons’ keine Bedeutung mehr zu. Daran zeigt sich bereits der Vorrang des Problems gesellschaftlicher Funktionskoordination, die sich primär für den Adaptionsgrad an komplexer werdende Handlungsbedingungen interessiert.
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sich vielmehr als alltägliche Grund- und evolutionäre Entwicklungsbedingung der Gesellschaft schlechthin aus. Sozial bedingte Konflikte, das ist und bleibt auch in Parsons’ Denken die eigentliche Krux, lösen sich allerdings nicht von selbst – sie sind darauf angewiesen, sozial gezähmt zu werden. Darin liegt die zeitkonstante Funktion von Gesellschaft, an der sie sich wiederum je spezifisch institutionalisiert. Wenn aber die auseinanderstrebenden Momente, gegen die eine Einheitsperspektive immer wieder hergestellt werden muss, in die Gesellschaft selbst hineingenommen sind, so müssen es auch die Mittel zu deren Lösung sein. Das aber verweist in Parsons’ Verständnis auf eine in der soziologischen Beschreibung bislang systematisch vernachlässigte Stelle: die Angewiesenheit von Gesellschaft auf einen normativen Integrationshintergrund. „Societal order requires definiteness and clarity of integration in the sense, on the one hand, of normative coherence and, on the other hand, of societal ‘harmony’ and ‘coordination’. Moreover, normatively-defined obligations must on the whole be accepted while conversely collectivities must have normative sanction in performing their functions and promoting their legitimate interests. Thus, normative order at the societal level contains a ‘solution’ of the problem posed by Hobbes, of how human relations can be prevented from degenerating into a ‘war of all against all’“ (Parsons 1969e: 40-41).157
Parsons sichert dies in einem Begriff von Handlung ab, der einerseits, da auf einen sinnvollen Kontext angewiesen, bereits von normativ Gegebenem ausgehen muss, dieses aber zugleich als Ergebnis von Handlung verstehen kann. Andererseits kann Handlung darin nicht vollständig determiniert sein, was wiederum Konsequenzen für den normativen Hintergrund haben muss. Handlung, normative Ordnung und Sinn, das wird deutlich, stehen hier in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis, stellt die Gesellschaft an diesen doch die Allgemeinheit ihrer selbst als die Reproduktion ihrer Integrationsbedingungen sicher. Für Parsons erweist sich also die Effektivität hochdifferenzierter Gesellschaftssysteme, ob des Anpassungsdrucks steigender Komplexität, an der normativen Integrationsfähigkeit der eigenen konfliktuellen Strukturbedingungen. Oder nochmals anders: Die Gesellschaft muss sich durch Adaption ihres normativen Integrationshintergrunds an ihrer je eigenen Komplexität bewähren, die sie eigentlich nie vollständig einholen kann. Gesellschaftliche Integration, das steht für Parsons fest, ist dann nicht mehr Herstellungs-, sondern immer schon geklärte Konstitutionsbedingung der modernen Gesellschaft. Damit schließt Parsons unmittelbar an Durkheim an, allerdings ohne dessen „Fehler“ zu begehen, dem Individuum jegliche gegenüber der Gesellschaft eigenständige 157 Damit ist in Parsons’ Verständnis zugleich auch der universale Vergleichsgesichtspunkt benannt, auf den hin die Soziologie Struktur- und Prozessanalysen vornehmen kann, denn „[D]ie Struktur institutionalisierter Normen ist der Hauptschnittpunkt dieser gesellschaftlichen Strukturen und der funktionalen Erfordernisse des Systems“ (Parsons 1993: 452). Diese Beobachtung gerät zirkulär: Dass sich die Funktion normativer, d.h. integrativer, Muster im evolutionären Differenzierungsprozess selbst nicht ausdifferenziert, lässt sich erst im Nachhinein beobachten und muss doch zugleich als Gesichtspunkt, auf den hin verschiedene Gesellschaftsstrukturen verglichen werden, schon vorweggenommen sein.
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Existenz abzusprechen und darin individuelles Handeln schlichtweg überflüssig zu machen. Gerade darum kann es Parsons ja nicht gehen. Das Gesagte bedeutet andersherum auch, dass Parsons von immer schon vergesellschafteten Subjekten ausgeht. Individuen können überhaupt erst auf der Grundlage bereits vorhandener Werte und Normen nutzenmaximierend handeln (Parsons 1960: 173). Andersherum gesagt: Wenn alles möglich ist, ist eigentlich nichts möglich. Erst die Begrenzung des Entscheidungs- und Handlungshorizonts macht in diesem Sinnzusammenhang eine echte Wahl möglich. „Werte und Normen“, so Joas, „können deshalb nicht selbst Nutzenkalkulationen unterworfen werden, weil sie konstitutiv sind für jeden Maßstab, der solchen Nutzenkalkulationen zugrunde liegt“ (Joas/Knöbl 2004: 64). Menschliches Handeln ist in diesem Sinne in seinen Mitteln und Zielen ganz wesentlich normativ bestimmt – egal, wie man sich in der konkreten Situation auch entscheiden mag. Die utilitaristischen Prämissen individuellen Handelns sind dann allein schon aus dem Grund irreführend, da schlicht keine von der Gesellschaft unabhängigen Motive denkbar sind (siehe Kapitel 6.1.3).158 Individualistische Theorien übertreiben folglich bei weitem die Wirkung egoistischen Handelns als psychologisches Hindernis für die Integration sozialer Systeme. Ist es doch die Vielzahl der Mitgliedschaften und Loyalitäten moderner Individuen, die egoistische Motive zwangsläufig in soziale Bahnen lenken. Die dominante Alltagserfahrung moderner Gesellschaften ist also weit weniger vom Konformitätszwang egoistischer Wünsche bzw. der metaphysischen Überformung derselben geprägt als von der Koordination differenzierter Eigenlogiken und Loyalitäten (Parsons 1969e: 42; Parsons 2003: 23). Sichtbar wird daran das gegenseitige Bedingungs- und Steigerungsverhältnis von Gesellschaft und Individuum: Je fortgeschrittener (d.h. komplexer) die Gesellschaft, desto integrativer (d.h. effektiver) ist sie in der Koordination ihrer selbst und desto höher die Freiheitsgrade eines Individuums, das gelernt hat, damit umzugehen. Am normativen Integrationshintergrund gewinnen also Gesellschaft und Individuum gleichermaßen ihre Gestalt und Bewegungsmöglichkeit wie der soziologische Blick seinen vergleichenden Bezugspunkt. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden am „AGIL-Schema“ als dem Inbegriff des strukturfunktionalistischen Denkens Parsons’ näher dargelegt werden. 6.1.2.2
Zur Schematisierung von Gesellschaften als selbstgenügsame Funktionskomplexe
Im Gegensatz zu seinen soziologischen Vorgängern verabschiedet sich Parsons von einem aus konkreten Menschen bestehenden Gesellschaftsbegriff zugunsten eines 158 Nur Instinkte können als gesellschaftsunabhängig gedeutet werden, entwickeln aber auch keine soziologische Relevanz. Denn was ließe sich schon aus unbewusstem Zwang erklären?
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Verständnisses als soziales System, das sich von einer überkomplexen Umwelt abgrenzt (Parsons 1966a: 8, 9).159 Die Gesellschaft erweist sich darin als paradox, konstituiert sie sich doch als eines von vielen sozialen Systemen und als das alle Umfassende zugleich. Letztlich ausschlaggebend für dessen Existenz ist, so Parsons im Anschluss an Aristoteles, dessen Selbstgenügsamkeit im Sinne der „(…) stability of interchange relationships and capacity to control interchanges in the interest of societal functioning“ (Parsons 1969e: 38). Dazu verfügt jedes System grundsätzlich über vier auf den eigenen Erhalt ausgerichtete Funktionen – zusammengefasst bekannt als das sog. „AGIL-Schema“. Dazu gehören Aufrechterhaltung der Wertbindung (Latency/Pattern Maintenance), Inklusion (Integration), Zielerreichung (Goal Attainment) und Anpassung an systemäußere Bedingungen (Adaption). Jedes (Sub-)System erfüllt für die jeweilige Ebene eine der vier Funktionen und ist dabei selbst nach innen auf die Bereitstellung aller vier Funktionen angewiesen (Parsons 2003: 20). Die unterstellte Funktionalität jedes Systems bemisst sich dabei an der möglichst optimalen Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen, die sich als höchst dynamisch erweisen, steigert doch jede funktionale Differenzierung in einem System zwangsläufig die Komplexität der Umwelt für alle anderen Systeme (Parsons 1976: 279-281). Die schablonenartige Beobachtungsmatrix Parsons’ erweist sich in diesem Sinne als ebenso simpel wie genial, ist sie doch für komparative Strukturund evolutionäre Prozessanalysen auf allen systemischen Ebenen und gesellschaftlichen Stufen gleichermaßen geeignet. Denn trotz oder gerade aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrads ist ihre Beobachtung strikt empirisch orientiert (Joas/Knöbl 2004: 89, 100). Oder in der Einschätzung von Richard Münch: „Es ist ein kategorialer Apparat, der den Bezugsrahmen der Analyse absteckt und eine ähnliche erkenntnisordnende Funktion erfüllen soll wie die Kantischen Verstandeskategorien für die Naturwissenschaften. Die ineinander verschachtelten Systemdifferenzierungen sind beliebig wiederholbar, so daß durch die mehrfache Differenzierung eine immer feinere Bestimmung eines Aspektes der Realität möglich wird“ (Münch 2000: 39).
Das AGIL-Schema hat dann gerade auch den Vorteil, sich an den Komplexitätsgrad seines Gegenstands je anpassen zu können. Dabei interessiert sich Parsons primär für das Sozialsystem (Integrationsfunktion), das neben Kultur- (Werterhaltfunktion), Persönlichkeits- (Zielerreichungsfunktion) und Verhaltenssystem (Anpassungsfunktion) eines der vier Subsysteme des allgemeinen Handlungssystems konstituiert (Parsons 1969e: 35, 40; Parsons 2003: 12-13). Soziales als integrierendes Handeln unterscheidet sich in diesem Sinne von demjenigen werterhaltender, zielerreichender oder adaptiver Art. Dabei fügt sich auch das allgemeine Handlungssystem selbst wiederum in eine nächsthöhere Systemebene ein, in der es die Funktion der Integration übernimmt, wohingegen die 159 Darin kommt die Einsicht zum Ausdruck, dass modernen Wohlfahrtsgesellschaften eben nicht mehr durch Begriffe beizukommen ist, die in ihrem auf Konkretheit abstellenden Sinn viel zu unterkomplex gebaut sind.
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Aufrechterhaltung der Wertvorgaben durch eine „ultimate reality“ (Parsons 1969d: 12) garantiert ist, die Biosphäre der Zielerreichung dient und die Anpassungsfunktion durch die physikalisch-chemische Umwelt erfüllt wird. Als grundlegendes Wissens-, Symbol- und Werterepertoire bildet das Kultur- bzw. Treuhandsystem (L) die höchste Ebene der vier Handlungssubsysteme und dient der Bereitstellung eines allgemein geteilten Werthintergrunds, der weder mit dem Sozial- noch mit dem Persönlichkeitssystem deckungsgleich gerät und als Vermittlungsinstanz zu dem dient, was Parsons als „letzte Realität“ bezeichnet (Parsons 1966a: 6; Parsons 1969d: 6-7). Mit dem Sozialsystem (I) ist das für Parsons zentrale, integrative Handlungssubsystem benannt (Parsons 1966a: 5; Parsons 1969d: 9). Das Persönlichkeitssystem (G) als Träger der Zielerreichungsfunktion erweist sich als die Hauptantriebskraft individuellen Handelns (Parsons 2003: 13). Im Gegensatz zu utilitaristischen und idealistischen Vorstellungen konstituiert es sich als autonomes System, ist also weder auf Kultur, Gesellschaft oder Organismus reduzierbar (Parsons 1966a: 7). Schließlich bildet das mit der Funktion der Anpassung an eine physisch-chemische Umwelt ausgestattete Verhaltenssystem (A) das vierte Handlungssubsystem (Parsons 1976: 296; Parsons 2003: 17). Der hier genannten Abfolge der Subsysteme und Funktionen kommt dabei keine willkürliche Ordnung zu. Sie fügt sich dem, was Parsons als „Hierarchie kybernetischer Kontrolle“ bezeichnet. Gemeint ist damit eine interne Referenzstruktur steigender Abstraktion: Je höher das jeweilige System steht, desto weniger ist es durch konkrete Gegebenheiten bestimmt. Andererseits wird daran der steigende Abstraktionsgrad des Sozialen sichtbar: Je weiter evolutionäre Entwicklung fortschreitet, desto anpassungsfähiger die soziale Organisation, da sie sich mehr und mehr vom Diktat physischer Zustände und an Personen orientierter, konkreter Verhaltensvorgaben frei zu machen versteht und so den Blick auf übergeordnete gesellschaftliche Bedingungen als die Bedingungen ihrer selbst wenden kann (Parsons 1966a: 10). Wenn man so will, der „aufrechte Gang“ des sozialen Systems, der die Hände für neue und andere Aufgaben freimacht. Wie schon für Durkheim weist sich auch für Parsons die Gesellschaft als „Realität sui generis“ (Parsons 2003: 16; Betonung im Original) aus und bemisst sich dabei am Kriterium der Selbstgenügsamkeit im Sinne von Anpassungsfähigkeit an eine überkomplexe Umwelt, die durch die Bereitstellung der bereits genannten Funktionen sichergestellt ist. An dieser Stelle aber ist der Kern im Denken Parsons’ erreicht. Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass dessen Problem- und Lösungsbeschreibung dem Sozialsystem, d.h. der Gesellschaft, als der integrativen Funktion des allgemeinen Handlungssystems gegenüber allen anderen Vorrang beimisst (Parsons 1969e: 34-35; Parsons 2003: 12). Dass dem so ist, erklärt sich aus dem primären Erkenntnisinteresse an der Emergenz verschiedener Gesellschaftsstrukturen, die sich nur inkremental aus der Steigerung der Komplexität von Umweltbedingungen und der Anpassung im System durch interne Differenzierung ergeben kann. Das setzt andersherum einen invariablen Bezugspunkt voraus, an dem sich Gesell-
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schaftsstruktur und soziologische Beobachtung orientieren und von dem aus Variation sicht- und deutbar wird. Eben diesen findet Parsons in den normativen Integrationsbedingungen, die allen sozialen Systemen eignet. Damit ist aber nichts weniger als die Funktion von Gesellschaft an und für sich benannt. An sich, da sie darin ihren eigentlichen Zweck findet: Als Funktionsträger normativer Integration erweist sie sich als das zentrale Bindeglied zwischen Kultur einerseits und Individuum andererseits, die sie, eben weil nicht unmittelbar verbunden, aneinander orientiert und steigert.160 Für sich, da sie sich mit interner Differenzierung selbst mit dem notwendigen Mittel für die Anpassung an steigende Umweltkomplexität versorgt (Parsons 1966a: 17-18; Parsons 1969d: 11-12; 19-20; Parsons 1976: 277). Mit anderen Worten: Die Gesellschaft garantiert sich quasi aus sich selbst heraus, dass sie mit sich Schritt zu halten imstande ist. Der jeweilige Differenzierungsgrad der Gesellschaft ist in diesem Verständnis aufs engste mit dem anderer Handlungssubsysteme koordiniert. Das setzt Offenheit derselben voraus und konstituiert einen Bereich gegenseitiger Interpenetration, eine strukturierte Grenzzone, die zwei Systeme gleichermaßen teilen, ohne dabei identisch zu geraten (Parsons 1969d: 8; Parsons 1969e: 36; Parsons 1976: 278, 279; Parsons 2003: 14, 15). Soweit Gesellschaft das Ergebnis von Differenzierung ist, eignet der jeweiligen Ausformung die je spezifische Kombination von vier aneinander orientierten Strukturmerkmalen: Werte, Normen, Kollektivitäten und Rollen. Sie stehen in unmittelbarer Beziehung zur Ausdifferenzierung der Handlungs- und Sozialsysteme und bedingen sich dabei zugleich gegenseitig. Denn „[T]o be institutionalized in a stable fashion, collectivities and roles must be ‚governed’ by specific values and norms, whereas values and norms are themselves institutionalized only insofar as they are ‚implemented’ by particular collectivities and roles“ (Parsons 1969e: 37). Primärer, weil allgemeinster Bezugspunkt der Analyse von Gesellschaft bildet dessen Wertsystem als einer der Hauptreferenzpunkte soziologischer Prozess- und Strukturanalyse (Parsons 1960: 171, 172; Parsons 1993: 450). „(...) I use the term ‚value’ in a technical sense for the most general directional commitment of persons to action in a social system. Its content and level of generality are technically defined relative to the system of reference. (…) Adaptive or equilibrating processes in general do not involve change of values, nor does the process of structural differentiation (…). If the value system in our technical sense changes it means a profound change in type of system“ (Parsons 1960: 174; Betonung im Original).
Das Wertsystem als Vermittlungsinstanz zwischen Kultur- und Sozialsystem versorgt die Gesellschaft mit einem für sie unverzichtbaren gemeinsamen Legitimationshintergrund. Auf der allgemeinsten Ebene stellt es ein auf letzte religiöse oder
160 Daran zeigt sich einmal mehr der Bruch Parsons’ mit einer Vorstellung von Gesellschaft als konkreter Einheit, die aus konkreten Menschen besteht. Gerade das kann den modernen Bedingungen nicht mehr entsprechen und muss überdies das Soziale zur bloßen Begleiterscheinung individuellen Handelns machen (Parsons 1966a: 9; Parsons 1969d: 10; Parsons 1969e: 34-35; Parsons 2003: 12, 15).
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philosophische Wirklichkeiten referierendes, unhinterfragtes kulturelles Symbolsystem der jeweiligen gesellschaftlichen Lebensweise zur Verfügung. „Im Kontext kultureller Legitimation ist eine Gesellschaft (...) nur in dem Ausmaß selbstgenügsam, in dem ihre Institutionen durch Werte legitimiert werden, die von den Mitgliedern der Gesellschaft mit relativem Konsens gebilligt werden und die ihrerseits durch die Übereinstimmung mit anderen Komponenten des kulturellen Systems, besonders seiner konstitutiven Symbolik, legitimiert sind“ (Parsons 2003: 18; Betonung im Original).
Sind alle gesellschaftsstrukturellen Variationen grundsätzlich auf Legitimation angewiesen, variiert deren Gestalt und Differenzierungsgrad mit der Plausibilität eines höheren Kultursystems, dessen je spezifische Institutionalisierung, Sozialisation der Persönlichkeit und Kontrollversion der Umweltbedingungen (Parsons 1960: 173, 175-176; Parsons/White 1964: 196; Parsons 1969d: 12; Parsons 1969e: 42). Als älteste und am wenigsten differenzierte Formen normkonservativ wirkender Wertesysteme erweisen sich religiös integrierte Gesellschaften, wobei diese lediglich eine spezielle Variante der Durchdringung von Kultur- und Sozialsystem darstellen, wenn sie auch den Ausgangspunkt aller evolutionären Entwicklung markieren. Ausgehend davon differenzieren sich Kultur- und Sozialsystem zunehmend voneinander, bleiben allerdings nach wie vor grundsätzlich aufeinander angewiesen. Je weiter der Prozess fortschreitet, desto mehr löst sich das Wertsystem von konkreten Situationsvorschriften ab und gewinnt an Abstraktionsgrad (Parsons 1969e: 44; Parsons 1969d: 12, 13; Parsons 1976: 284, 296-297; Parsons 2003: 18, 25-26). Der letztlich ausschlaggebende Schritt aber liegt im Übergang von transzendenten Wertvorstellungen zu solchen, die das Soziale aus sich selbst hervorbringen muss. Das aber kennzeichnet aus Parsons’ Sicht die moderne Gesellschaft. Denn nur hier ist „(...) das Wertsystem so organisiert (...), daß es die positive Bewertung sozialer Verbindungen um ihrer selbst willen einschließt und sie nicht nur unter dem Aspekt bloßer Instrumentalität für spezifische Wertmuster sieht“ (Parsons 1976: 285).161 Werte fallen in Parsons’ Verständnis jedoch viel zu allgemein aus, als dass sie handlungsorientierende Bedeutung für konkrete Situationen gewinnen könnten. Das ist kein Defekt, sondern liegt in ihrer Funktion begründet, unmittelbare Handlungskontingenzen wie Solidaritäten, Interessen und Ressourcen grundsätzlich zu vernachlässigen. Sie bedürfen daher der Konkretisierung durch Normen bzw. Institutionen (Parsons 1960: 171, 172, 178; Parsons 1969e: 43; Parsons 1993: 450; Par-
161 Dass dies aus Parsons’ Sicht der amerikanischen Gesellschaft am besten gelingt, kann kaum verwundern. Mit ihrer Verfassung verfügen die Vereinigten Staaten über einen Werthintergrund, der sich durch einen höchstmöglichen Grad an Allgemeinheit und Kontinuität auszeichnet. Die Unterfütterung dieser durch ein hochdifferenziertes Normen- und Institutionengefüge sichert überdies die Chancengleichheit der Bürger und lässt zugleich ein hohes Maß an Pluralismus zu. Dies wird schließlich komplementiert durch eine unpersönliche Einstellung zur politischen Entscheidungsgewalt, die nur auf Zeit vergeben ist, und deren bürokratisch organisierten Durchsetzungsmechanismen (Parsons 1960: 172-173).
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sons 2003: 24).162 Diese dienen der Integration der Gesellschaft und finden ihren eigentlichen Ort in der gesellschaftlichen Gemeinschaft. „The core of a society, as a system, is the patterned normative order through which the life of a population is collectively organized. As an order, it contains values and differentiated and particularized norms and rules, all of which require cultural references in order to be meaningful and legitimate. As a collectivity, it displays a patterned conception of membership which distinguishes between those individuals who do and do not belong“ (Parsons 1966a: 10).
Normen gewinnen jedoch ganz andere Handlungsrelevanz, da sie eben nicht an Ehre, Gewissen oder gesunden Menschenverstand appellieren (Parsons 1966a: 18). Während die Diskrepanz von allgemeinem Wertekanon und konkretem gesellschaftlichen Normengefüge auf Dauer nicht aushaltbar wäre, gründen Normen nicht in metaphysischen Begründungen, sondern im Konsens der Mitglieder einer Gemeinschaft. Das setzt Solidarität voraus und definiert sich in Parsons’ Verständnis als „(...) die Bereitschaft auf angemessen ‚gerechtfertigte’ Appelle im Namen des Kollektivs oder des ‚öffentlichen’ Interesses oder Bedarfs zu reagieren. Das normative Problem ist die Definition von Fällen, in denen eine derartige Reaktion Pflicht ist“ (Parsons 2003: 22). Solidarität variiert dann zwar grundsätzlich mit der jeweiligen Gesellschaftsstruktur, bleibt aber darin letztlich universales Strukturelement des Sozialen überhaupt (Parsons 1966a: 10-11). Dass mit der gesellschaftlichen Gemeinschaft in Parsons’ Verständnis also die Kernfunktion des sozialen Systems schlechthin benannt ist, weist sich an deren vermittelnder bzw. integrierender Leistung zwischen Kultur- und Persönlichkeitssystem aus: „To survive and develop, the social community must maintain the integrity of a common cultural orientation, broadly (though not necessarily uniformly or unanimously) shared by its membership, as the basis of its societal identity. This problem concerns its connection with the superordinate cultural system. However, it must also meet systematically the conditional exigencies regarding the integration of members’ organisms (and their relations to the physical environment) and personalities. All these factors are complexly interdependent, yet each is a focus for the crystallization of a distinctive type of social mechanism“ (Parsons 1969d: 11-12).
Ausgehend von einfachen Gesellschaften, ganz mit der Gegebenheit und Unhinterfragbarkeit religiöser Mythen, Vorschriften und Rituale verschmolzen und in einer askriptiven Statusordnung abgesichert, gewinnen die Integrationsbedingungen im Verlauf des evolutionären Prozesses an Unabhängigkeit von konkret gegebenen Bedingungen des Kultur- und Persönlichkeitssystems. In dem Maß aber, in dem sich die Gesellschaft aus dem festen Griff transzendenter Weltdeutung zu befreien vermag, ist sie zunehmend auf sich selbst, d.h. auf herstellbare Mechanismen der 162 Gemeint sind mit Institutionen „(...) generalized patterns of norms which define categories of prescribed, permitted and prohibited behavior in social relationships, for people in interaction with each other as members of their society and its various subsystems and groups“ (Parsons 1960: 177). Sie bieten in diesem Sinne die organisatorische Basis der funktionalen Kontexte eines sozialen Systems in ökonomischer, politischer, erzieherischer, integrativer und kultureller Hinsicht (Parsons 1960: 178).
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Integration, angewiesen. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich entsprechend durch eine gesellschaftliche Gemeinschaft aus, die mit der normativen Institution eines universalen Rechtssystems und der Nation als Konsenselement auf weitgehendst ausdifferenzierten „säkularen“ Bedingungen aufruht. Während das Rechtssystem, jener allgemeinverbindliche normative Code, der die Handlungen der Mitglieder einer Gesellschaft regelt und sie mit Situationsdefinitionen in einer überkomplexen Umwelt versorgt, in einfachen Gesellschaften noch ganz unmittelbar mit religiösen Vorschriften und ganz grundlegenden moralischen Vorgaben verbunden ist, an denen sich die besondere Schwere einer Normverletzung als Sakrileg konstituiert, ist es für Parsons die Dissoziierung von derartigen Grundlagen, die den eigentlichen Unterschied von vormodernem und modernem Recht ausmacht. Dieses kennt sich dann nur mehr als positives Recht, das den eigenen Bestand aus sich selbst heraus sichert, indem es sich auf die Verfassung als höheres, weil vorgeordnetes Recht zurückführt. Diese regelt ebenso Ausmaß und Grenzen der politischen Autorität und versorgt diese mit Legitimität wie sie den normativen Rahmen für ihre eigenen Anwendungsbedingungen und die Wandelbarkeit des Rechts liefert (Parsons 1960: 191; Parsons 1969e: 47-48; Parsons 2003: 30-31). Im Verlauf gesellschaftlicher Differenzierung wandelt sich jedoch gerade auch der Charakter des Konsenselements. Leben primitive Gesellschaften in ihrer Orientierung auf Religion, Ethnizität und Territorialität noch aus ganz zwingenden Solidaritätsunterstellungen, sichert die moderne Gesellschaft – ökonomisch durch Vertrag, Eigentum und Markt, politisch durch Staatsbürgerschaft, persönlichen Rechten, freier Wahl, Bürokratie und Beamtentum, sozial durch Wohlfahrtsprinzip, Bildung und Berufswelt – die Integration ihrer selbst in der Nation als entgegenkommendem Konsenshintergrund ab (Parsons 1969e: 42-43, 51-53; Parsons 2003: 24). An dieser Stelle kommt wiederum ein Steigerungszusammenhang zum Tragen: Sichern einfache Gesellschaften die Integration ihrer selbst mit Hilfe institutionalisierter Undenkbarkeit von Alternativen, also gewissermaßen durch Zwang zum Konsens, ab, rechnen moderne Gesellschaften immer schon mit Abweichung als konstitutiver Bedingung und fangen dies mit Hilfe von Konsens zum Konsens auf. Das spricht von einer ganz anderen Qualität des Sozialen, denn die Bindung an das gesellschaftliche Gemeinwesen ist dann „(...) nicht mehr einfach ‚gegeben’ (ascriptive), sondern hängt ab von dem Bedürfnis nach einer solchen Bindung sowie von der Beurteilung ihrer Kompatibilität mit tieferen moralischen Bindungen auf der Kultur-Ebene“ (Parsons 1976: 285). Es ist dann kaum verwunderlich, dass sich für Parsons an der Integrationsfähigkeit einer Pluralität von Bürgern mit unterschiedlichsten ethnischen und nationalen Hintergründen einmal mehr der Vorbildcharakter der US-Gesellschaft ausweist. Das Geheimnis ihres Erfolgs aber wurzelt in ihren Konstitutionsbedingungen. Denn diese sind von allem Anfang an auf einen möglichst allgemeinen kulturellen Integrationshintergrund ausgelegt und vor diesem Hintergrund sind die Vereinigten
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Staaten aus sich selbst heraus bereits dazu in der Lage, sich von primordialen Vorstellungen wesentlich effektiver zu lösen als die europäischen Staaten (Parsons 1967a: 428). Vor diesem Hintergrund kommt der zeitgenössischen Frage nach dem Status der schwarzamerikanischen Bevölkerung besondere Bedeutung zu, erweist sich diese doch als Testfall der Inklusionsfähigkeit des westlichen Gesellschaftskonzepts und darin als Beleg für die Überlegenheit desselben gegenüber der kommunistischen Lebensweise. Parsons’ Artikel „Full Citizenship for the Negro American?“ dient dann einerseits als eindrucksvoller Nachweis der Aussagekraft einer hochabstrakten Gesellschaftstheorie, wenn sie mit konkreten sozialen Praxen konfrontiert ist, und andererseits als Aufklärungstext über die Lösung gesellschaftlicher Integrationsfragen. Das Pochen auf gleiche Rechte durch die schwarze Bevölkerung verweist für Parsons dabei weniger auf konkrete politische oder ökonomische Statusprobleme, sondern auf die grundlegenden normativen Integrationsbedingungen der amerikanischen Gesellschaft. Die Inklusion der Schwarzamerikaner als der damals größten Minderheit in den Vereinigten Staaten, stellt sich für Parsons als ebenso unausweichlich wie fundamental für die gesellschaftliche Entwicklung dar, schlicht weil sie den in der amerikanischen Kultur wurzelnden Wertvorstellungen entspricht, eine Gemeinschaft zu bilden, „(...) die ihre Solidarität vom einzelnen Individuum auf der Basis der gegenseitigen Respektierung individueller Rechte, unabhängig von der Herkunft und Zugehörigkeit zu partikulären Gruppen, gewährt“ (Münch 2007b: 41). Dass dies nicht ohne Konflikte und Widerstände abgeht, ist dann nicht als grundsätzliches Hindernis zu lesen, sondern als Teil eines gesellschaftlichen Prozesses normativer, institutioneller, intentionaler und materieller Anpassungen. Als vorübergehende Konflikte sind sie unter allen Umständen den enormen Spannungen, die eine Gesellschaft ob der Exklusion eines Bevölkerungsteils auszuhalten hätte, vorzuziehen (Parsons 1967a: 454-455, 462-464; Parsons 2003: 155). Nun kann man in Parsons’ Verständnis allerdings nicht Mitglied einer Institution sein, sondern nur einer Kollektivität im Sinne eines „(...) concrete system of interacting human individuals, of persons in roles“ (Parsons 1960: 171). Diese erweisen sich mithin als die wesentlichen operativen Einheiten der Gesellschaft und sind aufs engste mit der Funktion des Politischen als der Herstellung und Implementierung kollektiv relevanter Ziele koordiniert (Parsons 1969c: 474, 493).163 Binden aber lassen sich Kollektivitäten nur auf zwei Weisen – durch Zwang oder Konsens. „Bindung des Gemeinwesens impliziert, daß eine Lösung des Problems gefunden wird, das Gemeinwesen in Bezug auf die erforderlichen politischen Maß163 Das bedeutet andersherum, dass alles was „(...) die Organisation und Mobilisierung von Hilfsmitteln zur Verwirklichung der Ziele einer besonderen Gesamtheit betrifft“ (Parsons 2003: 27) zuerst und zuvorderst als politisches Phänomen aufzufassen ist. Allerdings, das gibt Parsons zu, fallen unter diese Definition gerade auch andere Institutionen, wie etwa Universitäten oder Kirchen. Siehe zur Unterscheidung von gesellschaftlicher und politischer Macht dann auch Niklas Luhmanns Ausführungen in Kapitel 6.2.3.
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nahmen (‚polity’) zu integrieren, sei es durch Gewinnung eines breiten Konsensus oder durch rücksichtsloses Unterdrücken der Minoritäts- (oder selbst Majoritäts-) meinungen“ (Parsons 1976: 286). Dazu ist Politik allerdings auf das Medium der Macht als „(...) generalized capacity of a social system to get things done in the interest of collective goals“ (Parsons 1960: 181; Betonung im Original) angewiesen. Anders als imm Verständnis Hobbes’ kommt Macht im Denken Parsons’ also keinesfalls die Funktion eines grundlegenden Bedingungsfaktors gesellschaftlicher Ordnung zu. Damit ließe sich weder der hohe Komplexitätsgrad moderner Wohlfahrtsgesellschaften deuten noch dieser auf Dauer effektiv aufrechterhalten. Oder wie Parsons technischer formuliert: Macht zählt nicht zu den kybernetischen Kontrollinstrumenten der Gesellschaft, sondern ist eines von vier symbolisch generalisierten Austauschmedien neben Verpflichtungen (Wertehintergrund), Einfluss (gesellschaftliche Gemeinschaft) und Geld (Wirtschaft).164 Dass dem so ist, liegt daran, dass Macht immer schon auf die Existenz einer normativen Ordnung angewiesen ist, die diese zugleich konstituiert, mit einem bestimmten Ziel versieht und darin wiederum begrenzt (Parsons 1969b: 396; Parsons 1969c: 517).165 In ihrer abgeleiteten Funktion dient sie einzig der Erringung derjenigen Faktoren, die der Gesellschaft die effektive Erreichung ihrer Ziele ermöglicht, darf allerdings keinesfalls mit diesen verwechselt werden (Joas/Knöbl 2004: 123). Macht ist also, um effektiv zu sein, grundsätzlich auf Legitimation durch Konsistenz mit einem allgemeinen Wertehintergrund einerseits und Konsens der Mitglieder andererseits angewiesen. „This justification inherently rests on some sort of consensus among the members of the collectivity of reference, if not more broadly, with respect to a system of norms under which authority and power are legitimized on a basis wider than this particular collectivity by the values of the system. More specifically, authority is the institutionalized code within which the ‘language of power’ is meaningful and, therefore, its use will be accepted in the requisite community, which is in the first instance the community of collective organization in our sense“ (Parsons 1969b: 382).
Konsens und Zwang stehen also gerade nicht an entgegengesetzten Enden eines Kontinuums, sondern konstituieren sich als gegenseitiges Bedingungs- und Steige164 Macht ist symbolischer Natur, da sich deren Effektivität in diesem Verständniszusammenhang nicht am Einsatz ihrer ultimativen Form – physischer Gewalt – abzeichnet, sondern in der erfolgreichen Androhung derselben. Das Dilemma liegt allerdings darin, dass auch die symbolische Struktur der Macht aus Gründen der Glaubwürdigkeit darauf angewiesen ist, von Zeit zu Zeit sichtbar gemacht zu werden. Das bedeutet andersherum, dass je geringer die Legitimität von Macht ausfällt, sie umso mehr in Erscheinung treten muss, d.h. desto genauer muss sie auf konkrete Situationen zugeschnitten sein, d.h. desto mehr büßt sie wiederum an Legitimität ein (Parsons 1969b: 362). 165 Das bedeutet andersherum, dass nicht-institutionalisierte soziale Beziehungen – und hier bleiben dann nur die zwischenstaatlichen – umso wahrscheinlicher von Gewalt und Krieg geprägt sind. An diesem, die Unterscheidung zwischen innen und außen konstituierenden Link zwischen Territorialität und Gewalt finden die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen „Internationalen Beziehungen“ in der Politikwissenschaft ihre disziplinkonstituierende Problemstellung, an der sie sich nach wie vor abarbeiten.
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rungsverhältnis (Parsons 1969b: 352). Oder anders gesagt: Jede Gesellschaft ist sowohl auf Konsens als entgegenkommendem normativem Hintergrund wie auch auf Zwang als Durchsetzungsfähigkeit angewiesen. Gesellschaftliche Strukturen lassen sich dann gerade nicht als exogene Konsequenz von Macht lesen, sondern als endogene Eigenschaft von Kollektivität, die die bindende Qualität ihrer Entscheidungen sicherstellen muss, weil sie gerade auch daran die Integration ihrer selbst garantiert. Gesellschaften sind also zur Aufrechterhaltung ihrer selbst nicht primär auf den Durchsetzungsapparat von Macht angewiesen, sondern auf den Konsensaspekt in Bezug auf einen gemeinsamen normativen Hintergrund, der wiederum in einen allgemeinen Wertkontext eingehängt ist (Parsons 1969b: 376-377). Allein der Einhaltung dieser grundlegenden Solidaritätsbedingung, die Institutionalisierung immer schon voraussetzt, dient dann der auf Macht angewiesene Durchsetzungsaspekt der Politik, eben weil der Gesellschaft die Einhaltung ihrer Verpflichtungen nicht egal sein kann (Parsons 1966a: 13-14; Parsons 1967b: 268, 273; Parsons 1969a: 63; Parsons 1969b: 74-75, 366, 376-377; Parsons 1969e: 4445).166 Während diese Durchsetzungsfunktion bereits den einfachsten Gesellschaften eignet, weisen Machtverhältnisse in demokratisch legitimierten und bürokratisch organisierten Rechtsstaaten eine komplexe Struktur nicht-linearer, zirkulärer Inputund Outputbeziehungen auf (Parsons 1969b: 396; Parsons 1969c: 518). So dominiert auf der höchsten Ebene das Austauschmedium der Verpflichtung: Das politische System stellt dem Pattern-Maintenance-System die notwendigen Kanäle und Instrumentarien zur Lösung von Interessenkonflikten zur Verfügung, während dieses andersherum die politischen Gewalten und deren Entscheidungen mit Legitimität bzw. Legalität versorgt (Parsons 1969c: 487, 489). Die gesellschaftliche Gemeinschaft wiederum mobilisiert im Medium von Einfluss bzw. Überzeugung politische Unterstützung für alternative Programmatiken und gewinnt im Ausgleich die Zurechenbarkeit bzw. Verantwortlichkeit politischer Entscheidungen. Die Ökonomie mobilisiert (finanzielle) Ressourcen bzw. Leistungen für die Implementation politischer Entscheidungen und erwirbt daran die Effektivität wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Maßnahmen (Parsons 1966b: 83; Parsons 1969b: 358; Parsons 1969c: 486). Plakativer gesagt: Das komplexe Zusammenspiel von Legitimität und Verpflichtung, politischer Unterstützung und Einfluss, Durchsetzung und finanziellen Ressourcen muss die Hoffnung auf eine simple Änderung der Machtbeziehungen zur Erhöhung eigener Machtpotentiale, wie sie sich utilitaristische Ansätze erhoffen, unweigerlich zunichtemachen. Damit verliert die Vorstellung von Macht als Nullsummenverhältnis zwangsläufig an Plausibilität. Insgesamt lässt sich nun feststellen, dass das Politische in Parsons’ Denken eine ebenso zentrale wie unersetzbare Funktion für die Gesamtgesellschaft erfüllt, allerdings erst an nachgeordne166 In Variation des weiter oben Formulierten ließe sich formulieren, dass einfache Gesellschaften durch Zwang zum Konsens aus Zwang und moderne Gesellschaften durch Zwang zum Konsens aus Konsens gekennzeichnet sind.
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ter Stelle – nach allgemeinem Werthintergrund und gesellschaftlicher Gemeinschaft. Dass Parsons die Funktionalität des Politischen in strikter Parallelität zur Ökonomie entwickelt, kann als weiterer Hinweis darauf gelesen werden, dass das politische System und mit ihm der Staat als Zentralorganisation die unabdingbare Funktion der Durchsetzung übernimmt, darin aber eben immer nur nachgeordnet ist. Nun zeichnet sich für Parsons allerdings ab, dass Kollektivitäten nicht die Vollinklusion konkreter Personen erledigen, sondern Individuen in je spezifischen Rollenkonstellationen integrieren (Parsons 1993: 451). „Roles (...) are the complexes of organized participation of individuals or categories of individuals in the functioning of collectivities“ (Parsons 1960: 171). Das hat den Vorteil, moderne Gesellschaften, die sich durch eine Potenzierung von Mitgliedschaften in diversen SubEinheiten mit je unterschiedlichen Wertansprüchen, Solidaritäten, Zielen und Ressourcen auszeichnen, nicht als Verlust von Gesellschaftlichkeit deuten zu müssen, sondern als deren Steigerung, und darin zugleich eine Erhöhung individueller Handlungsmöglichkeiten zu sehen. Damit steht die Gestalt von Rollenbeziehungen im engen Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung des ökonomischen Subsystems, das technologische Beherrschung und Allokationsprozesse in das Sozialsystem einfügt und sich dabei des Geldes als generellem Austauschmedium bedient. Je primitiver die jeweilige Gesellschaftsstufe, desto enger sind ganz existentielle Probleme der Unterkunft und der Ernährung an die diffusen Strukturen von Familie, Religion bzw. politischer Gemeinschaft geknüpft. Erst im Verlauf der Evolution erfolgt die Differenzierung im Sinne der Freisetzung ökonomischer und technologischer Aspekte von traditionell vorentschiedenen Strukturen, die mehr und mehr zur Disposition des Individuums stehen. Das aber ist aufs engste mit der Ausdifferenzierung übergeordneter gesellschaftlicher Subsysteme koordiniert: Technologie- und Allokationsprozesse stehen ebenso in einem allgemeinen Legitimationshintergrund wie sie durch normative Ausgestaltung und Institutionalisierung erst Form gewinnen und darin der Durchsetzung bedürfen (Parsons 1966a: 15; Parsons 1969d: 1718, 47; Parsons 1976: 288).167 Damit kommt man bereits sehr nah an das Persönlichkeitssystem, auf das im folgenden Kapitel näher einzugehen ist. 6.1.3 Sozialisation des Persönlichkeitssystems durch Internalisierung institutionalisierter Normhintergründe Wie im vorangegangenen Kapitel aus dem Blickwinkel des sozialen Systems gezeigt, schlägt der Gesellschaftsbegriff Parsons’ sein Analysekapital aus dem Verständnis von Kultur-, Sozial- und Persönlichkeitssystem als getrennten, aber strukturell ge167 Man denke an dieser Stelle kurz an aktuelle Debatten etwa der Gentechnik, die sich stets in der Form von wissenschaftlich Möglichem und rechtlich, ethisch, moralisch, religiös Erlaubtem modellieren.
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koppelten Handlungssubsystemen. Was dabei sichtbar wird, ist das sich selbst stabilisierende Verhältnis von (normativer) Institutionalisierung, (gesellschaftlicher) Sozialisation und (individueller) Internalisierung. Wie schon zuvor Émile Durkheim geht auch Parsons ob des Komplexitätsgrads der modernen Gesellschaft von einem grundsätzlich vergesellschafteten Individuum aus. Was das Subjekt dann ist, ist nicht Frage seines eigenen Willens wie bei Hobbes, sondern Ergebnis sozialer Konvention. Oder wie Parsons es formuliert: „(...) what persons are can only be understood in terms of a set of beliefs and sentiments which define what they ought to be“ (Parsons 1964b: 22; Betonung im Original). Als „‚socially constructed’“ (Parsons 1964a: 108) aber kann das Individuum nicht Ausgangspunkt des Sozialen sein, sondern ist dessen Ergebnis. In den Blick kommt damit ein evolutionärer Prozess der Individualisierung, der das soziale Band zwischen Einzelnem und Gesellschaft nicht durchschneidet, sondern gerade in der Entspannung desselben soziale Abhängigkeiten steigert. „The development of individualism and the intensification of the faculties of individuals (…) are dependent on the development of society. Further, such development does not reach the point where the individual must (or can) proceed entirely on his own. The link between character and society does not break“ (Parsons/White 1964: 233). Die Nähe zum Durkheim’schen Denken ist hier ganz offensichtlich. Parsons steht allerdings ebenso deutlich das Problem der Beschreibung des französischen Soziologen vor Augen, der in der moralischen Überformung der Einzelperson durch die Gesellschaft dem individuellen Handeln keinen unabhängigen Erklärungsstatus zukommen lassen kann. Die Komplexität der modernen Gesellschaft verbietet jedoch ebenso von einer vollständigen sozialen Überwölbung des Einzelnen auszugehen wie sie verbietet, diesem einen Freifahrtschein in einen ungebremsten Egoismus auszustellen. Die gesellschaftliche Gegenwart zeichnet aus Parsons’ Sicht ein wesentlich komplexeres Bild: Individuen sehen sich in ihrem Handeln weniger durch das Entweder-oder von vollständiger Freiheit einerseits und gesellschaftlichem Zwang andererseits „beschränkt“ als dass sie aus den jeweils geltenden normativen Wertvorstellungen erst Sinnhaftigkeit und Freiheitsgrade ihres Handelns gewinnen, von denen sie sich dann allerdings auch nicht loslösen können (Parsons 1964b: 19). Andersherum ist es individuelles Handeln, in dem die Steigerung der Komplexität des Sozialen immer schon angelegt ist, die wiederum nur durch soziale Differenzierung bewältigt werden kann. Die Lösung liegt dann in eben jenem Denkmodell, nach dem Kultur-, Sozial- und Persönlichkeitssystem als grundsätzlich autonom angelegte Handlungssubsysteme unter je herrschenden Bedingungen aufeinander ausgreifen, mit dessen Hilfe Parsons letztlich soziale Integration als ureigensten Gegenstand der Soziologie zu retten sucht. Wenn aber Individuum und Gesellschaft immer schon aufeinander verwiesen sind, melden sich aus Parsons’ Sicht zwangsläufig Zweifel an der disziplinären Trennung von Psychologie und Soziologie an (Parsons/White 1964: 193). Die wis-
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senschaftliche Aussagekraft der einen wie der anderen Fachrichtung muss mit systematischen Schwächen behaftet sein, tendiert doch jede Disziplin zur Überbetonung der eigenen Perspektive und der Vernachlässigung der jeweils anderen. „Psychoanalysis, in common with other traditions of psychological thought, has naturally concentrated on the study of the personality of the individual as the focus of its frame of reference. Sociology, on the other hand, has equally naturally been primarily concerned with the patterning of the behavior of a plurality of individuals as constituting what, increasingly, we tend to call a social system“ (Parsons 1964b: 17-18).
Parsons erklärte Absicht ist also, ein gesellschaftstheoretisches Modell zu entwickeln, das das gegenseitige Bedingungs- und Steigerungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft sichtbar macht, das bislang ob der Trennung in verschiedene Einzeldisziplinen verdeckt bleiben musste. Der Bruch mit dem Gegebenen disqualifiziert dabei allerdings nicht den jeweiligen Forschungsstand, den Parsons für das Soziologische im Denken Émile Durkheims und für das Psychologische in der Psychoanalyse Siegmund Freuds findet. So teilt er mit jenem die grundlegende Annahme der Internalisierung sozialer Werte durch das Individuum, grenzt sich jedoch kategorisch von der Gleichsetzung von Moral, Gesellschaft und Einzelnem ab, eben weil individuelles Handeln darin keinen autonomen Status gewinnt (Parsons 1964b: 18-21). Eine Schwäche, die sich auf der anderen Seite mit Freuds Vorstellung der Persönlichkeit als einem autonomen Handlungssubsystem neben dem Kulturellen, Sozialen und Organischen ausgleichen lässt (Parsons/White 1964: 194). Allerdings wiederum ohne dessen Fehler zu begehen, von der Unterscheidung in Über-Ich, Ich und Es auszugehen (Parsons 1964b: 20, 30-31; Parsons 1964a: 109-110). Denn für Parsons ist es schlichtweg undenkbar, dass Werte, Moral, Ehre, Normen getrennt von Sprache, Kognition, Emotion und Handeln allein vom Über-Ich internalisiert werden, an die das Es dann erst durch gesellschaftlichen Druck bzw. Gewalt gewöhnt werden muss. Als integriertes Gesamtsystem kann das Persönlichkeitssystem Wissen und Erleben nicht getrennt von sozial gegebenen normativen Vorstellungen und Wertungen internalisieren. Oder anders gesagt: Die Persönlichkeit verinnerlicht nicht moralische Werte allein, sondern die Kultur mit all ihren symbolischen, kognitiven und emotionalen Komponenten (Parsons 1964a: 80, 108; Parsons 1964b: 23-24, 28-31).168 So wenig es also dem Durkheim’schen Ansatz gelingt, Sozialisation zu theoretisieren, da dieser bedingt durch die Theorieanlage nicht mit dem autonomen Status 168 Das zeigt sich vor allen Dingen an der in allen Gesellschaftsformen durchgängig existenten, wenn auch unterschiedlich relevanten Institution der Erziehung: „The intrinsic difficulty of creation of cultural patterns is so great that the child can only acquire complex cultural generalization through interaction with others who already possess it“ (Parsons 1964b: 29). Sozialisation als der Verinnerlichung von normativen Vorgaben kann nicht zwischen der Entwicklung von emotionaler Bindung, Kommunikation und kognitiver Kategorisierung unterscheiden. Oder kürzer ausgedrückt: Man lernt, wie man handeln soll, indem man lernt, zu kommunizieren.
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des Individuums rechnen kann, ist das Freud’sche Konstrukt nicht dazu in der Lage, den Prozess der Internalisierung entsprechend zu erfassen. Beide laufen immer wieder auf Zwang auf – als gesellschaftliche Überformung oder als Diktat egoistischer Bedürfnisse und Leidenschaften. Beides aber gilt es in Parsons’ Denken zu integrieren, denn es ist ebenso wahr, dass menschliches Handeln erst an normativen Gegebenheiten Orientierung findet wie es von diesen immer auch abweichen kann. Auszugehen ist dann aber von einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis von Sozialisation und Internalisierung, das letztlich darauf angewiesen ist, dass Kultur-, Sozial-, Persönlichkeitssystem und Organismus je analytisch getrennte Systeme darstellen. Anders gesagt: Es sind die von Kindesbeinen an erfolgenden Gewöhnungs-, Erfahrungs- und Lernprozesse an das herrschende sozial institutionalisierte Normengefüge, die die Persönlichkeit des Individuums verinnerlicht und darin zur je einzigartigen Variante desselben wird (Parsons 1969d: 7). Oder mit Parsons: „(…) [w]hile the main content of the structure of the personality is derived from social systems and culture through socialization, the personality becomes an independent system through its relations to its own organism and through the uniqueness of its own life experience; it is not a mere epiphenomenon of the structure of the society. There is, however, not merely interdependence between the two, but what I call interpenetration“ (Parsons 1964a: 82; Betonung im Original).
Daran manifestiert sich für Parsons das gegenseitige Bedingungs- und Steigerungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft. Der Grad individueller Freiheiten, der die modernen Gesellschaften auszeichnet, ist dann Ergebnis eines langwierigen Prozesses, an dem sich ein tiefgreifender Wandel der kulturellen Legitimationsgrundlagen, der normativen Strukturen und der Mobilitätsbedingungen des sozialen Lebens niederschlägt, der zugleich die gesellschaftlichen Bedingungen zu Bedingungen der Gesellschaft macht (Parsons/White 1964: 233; Parsons 2003: 151-152). An der Bewegungsrichtung des evolutionären Prozesses der Gesellschaft von askriptiv zu funktional differenziert bestimmt sich dann zwangsläufig der jeweilige Individualisierungsgrad. Lassen die an den Institutionen Religion und Familie festgemachten Statuszuschreibungen einfacher Gesellschaften nur ein geringes Maß an individueller Mobilität zu, ändert sich das mit der schrittweisen Herauslösung des Sozialsystems aus religiösen Bindungen, die sich institutionell in der Trennung von Kirche und Staat niederschlägt. Im Laufe dessen aber verlieren über familiäre Bindungen laufende askriptive Herrschafts- und Besitzverhältnisse an Plausibilität. Das erzeugt insofern neue individuelle Freiheitsgrade, da politische Herrschaft ab jetzt der Legitimation und später der Konstitution durch ein universelles Rechtssystem bedarf, wobei sich diese mit der institutionellen Trennung von Legislative und Exekutive, dem Ausbau einer verfahrenslastigen Bürokratie und der Differenzierung der Ökonomie bis in die Gegenwart rationalisierter Marktallokation weiter steigern (Parsons/White 1964: 200, 233). Das Band zwischen Gesellschaft und Individuum schwächt sich dabei, das ist der Kern der Argumentation Parsons’, im Prozess steigender Individualisierung gerade nicht ab, sondern verstärkt sich geradezu, weil
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beide Seiten mehr und mehr aufeinander angewiesen sind. Dass Gesellschaften auf einen allgemein oder doch zumindest möglichst weitgehend geteilten Norm- und Solidaritätshintergrund angewiesen sind und bleiben, ist im Denken Parsons’ ganz unhinterfragbare soziale Bedingung und soziologische Beobachtungsgrundlage. Das ist umso wahrer, je weiter die Gesellschaft sich der modernen Bedingung nähert, in der sie ganz fundamental vom Konsens zum Konsens angewiesen ist. Auf der anderen Seite ist und bleibt das Individuum auf einen allgemeinen Normhintergrund angewiesen, der es mit Handlungsorientierung hinsichtlich Zielen, Mitteln und Situationsdefinition in einer komplexer werdenden Welt versorgt, an dem es nicht zuletzt die Individualität seiner selbst gewinnt. Gerade vor diesem Hintergrund aber muss der utilitaristische Irrtum über die Freiheit des Individuums als Egoismus in seiner ganzen Deutlichkeit hervortreten, eben weil darin die Kreativitäts- und Freiheitsgrade individuellen Handelns bei der Bewältigung eines hochdifferenzierten Alltags maßgeblich unterschätzt werden müssen. Plakativer formuliert: Die moderne Gesellschaft zeichnet sich aus Parsons’ Sicht gerade dadurch aus, dass sie keinen Ort mehr kennt, von dem aus sie individuelle Rollen zuweisen oder kontrollieren könnte. Der simplifizierenden Version des nutzenmaximierenden Individualismus’ stellt Parsons dann einen „instrumental or institutionalized individualism“ (Parsons/White 1964: 197) gegenüber, den er wie folgt umschreibt: „His goal [des Individuums – Anm. d. Verf.] cannot be self-indulgence or the maximization of the gratification of his personal wishes, but must be achievement in the interest of the good society. The society itself does not, however, tend toward a specific goal, but rather to a prospect of progressive improvement of the level of realization of its values“ (Parsons/White 1964: 197; Betonung im Original).
Normatives und instrumentelles Handeln konstituieren in diesem Sinne keinen Gegensatz, sondern ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis, gibt doch die moderne Gesellschaft überhaupt erst den Möglichkeitsrahmen individuellen Entscheidens und Handelns vor. Andererseits sind moderne Gesellschaften auf ein Individuum angewiesen, das sich in einer hochkomplexen, funktional differenzierten Umwelt zurechtzufinden vermag und in dieser zu handeln versteht (Parsons/White 1964: 235). Angesichts von Rationalisierung und Verfahrenslastigkeit einer durch die Mobilität ihrer Entscheidungs- und Marktressourcen geprägten Gesellschaft steht der Einzelne in einem komplexen, ja einzigartigen Geflecht von Rollenverhältnissen. Familie, Freundeskreis, Bildungssysteme, Beruf und professionelles Umfeld, politisches Engagement, Kaufentscheidungen, Freizeitgestaltung etc. – das moderne Individuum scheint in vielen normativ integrierten Kollektivitäten gleichzeitig zu Hause zu sein, überwölbt vom Nationalstaat als der allgemeinsten.169 Ein exogener 169 Es erstaunt dann wiederum wenig, dass Parsons in der amerikanischen Gesellschaft die ausgeprägteste Variante einer zugleich weitgehend integrierten und individualisierten Gesellschaft sieht (Parsons/White 1964: 195). Dies gerade in Gegenüberstellung zum kommunistischen Gesellschaftskonzept,
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Zwangsapparat kann hier ebenso wenig handlungsorientierende Wirkung entfalten wie die moralische Vereinnahmung des Individuums, muss dieses doch dazu in der Lage sein, ganz konkrete kulturelle, soziale, politische und ökonomische Situationen selbständig zu bewältigen. Die moderne Gesellschaft versichert sich dessen einerseits durch einen auf immer allgemeineren Wertgrundlagen aufruhenden und durch Konsens abgestützten Integrationshintergrund, der im Notfall auch gegen anderslautende Meinungen durchgesetzt werden kann und andererseits durch persönliche Motivationen, die sich nicht jenseits der herrschenden normativen Grundlagen formulieren, verfolgen, beurteilen lassen (Parsons 1960: 174; Parsons 2003: 18). 6.1.4 Die evolutionäre Selbsthervorbringung funktionaler Adaption an gesteigerte Komplexitätsbedingungen Mit der gesellschaftstheoretischen Hereinnahme gesellschaftlicher Auseinandersetzungen als Existenzbedingung marktwirtschaftlich organisierter und demokratisch legitimierter Gesellschaften des 20. Jahrhunderts wird die Vorstellung eines Gründungsakts des Sozialen, wie er im Kontraktualismus noch mit Hilfe eines ursprünglichen Naturzustands simuliert werden musste, ebenso unerträglich wie sich sozialer Wandel nicht mehr als Krise quasi a-sozialer Verhältnisse manifestieren kann (Parsons 1966a: 4). Ein adäquates Verständnis für die Entstehungs- und Strukturbedingungen eines hochdifferenzierten Gesellschaftssystems wie dem modernen lässt sich dann allerdings nur dadurch gewinnen, dass diese nicht als Ausgangspunkt, sondern als Ergebnis eines einzigartigen evolutionären Prozesses gedeutet werden. Das setzt zweierlei voraus: Einerseits einen bereits bestehenden, einheitlichen Gesellschaftszustand, von dem ausgehend sich die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen ausdifferenzieren (Parsons 1969d: 23-24). Andererseits einen überpersönlich ablaufenden Evolutionsprozess. Denn rein willkürliche Abfolgen lassen sich weder sinnvoll verwerten noch geben sie den gesellschaftlichen Akteuren Orientierungshilfe in ihrem alltäglichen Handeln (Parsons 1966a: 3). Nun können aber die Voraussetzungen sozialer Evolution nicht in der genetischen Veranlagung des Menschen und der Vererbung derselben an die kommenden Generationen liegen. Die Evolution einer hochkomplexen Gegenwart ließe sich daraus ebenso wenig erklären wie daran jegliche soziologische Untersuchung endete.170 Gesellschaftliche Evolutidas den Individuen bei weitem nicht das Maß an Freiheit und (Rechts-)Gleichheit einräumt, eben weil es sich an konkreten Zielvorgaben ideologischer Art orientiert. Das aber muss in diesem Verständnis ganz „unzeitgemäß“ sein. 170 Schon die Formulierung löst ein gewisses soziologisches „Unwohlsein“ aus. Nicht nur, dass sich in einer Welt, die nur Zufälle kennt, Zustandsaussagen als vollkommen überflüssig erweisen. Dem Sozialen die Unterstellung von Motiven und Handlung zu nehmen, scheint aus der Sicht eines Soziologen wie Parsons dieses ganz grundsätzlich seiner wesentlichsten Eigenheit zu entkleiden – des Sozialen eben.
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on bedarf also eines anderen Funktionsträgers der Weitergabe sozialrelevanter Informationen. Parsons macht diesen in der Sprache als grundlegendem kulturellem Muster aus. Eben darin unterscheidet sich der Mensch vom Tier: In seiner Fähigkeit, durch das Erlernen eines allgemeinverbindlichen Symbolsystems den normativen Integrationshintergrund ebenso zu verinnerlichen, diesen im eigenen Handeln zu (re-)produzieren bzw. darin (wenn auch nicht zur Gänze, so doch in Teilen) kreativ eingreifen zu können. Insofern sind alle menschlichen Gesellschaften ihrem Wesen nach kulturell bestimmt (Parsons 2003: 10). Das macht Sprache einerseits zum letztlich unhintergehbarsten aller normativen Standards gesellschaftlicher Integration, der auf die Einhaltung seiner Regeln angewiesen ist, um effektiv zu sein (Parsons 1964b: 21). Andererseits konstituieren dann die normativen Muster, die an und durch Sprache kommuniziert werden, gewissermaßen das „genetische Material“ des Sozialen. Auch hier ist also das Sozialsystem als Austragungsort evolutionärer Entwicklung wiederum Intermediär zwischen den Handlungssubsystemen. Will man also aus Parsons’ Sicht gesellschaftliche Evolution beobachten, muss man dies im Hinblick auf normative Integrationsmuster tun (Parsons 1976: 277). Diese konstituieren von allem Anfang den überevolutionären Vergleichsgesichtspunkt, der als Ergebnis komparativen Vorgehens vorweggenommen sein muss. Differenzierung kann in diesem Sinne (und gegen die utilitaristische Annahme gewendet) keinesfalls mit dem Wegarbeiten von normativen bzw. solidarischen Bedingungen einhergehen. Ganz im Gegenteil: An der Beobachtung der variierenden normativen Integrationsmuster enthüllt sich erst das normative Muster des evolutionären Prozesses. Denn evolutionäres Fortschreiten bedeutet nichts weniger, als die Herauslösung der normativen Grundlagen der Gesellschaften aus askriptiven Kriterien und die Umstellung der gesellschaftlichen Bedingungen auf Bedingungen der Gesellschaft.171 Der Bedarf normativer Integration wird mit steigender Differenzierung also gerade nicht weniger, sondern verstärkt sich: „Differenzierung erfordert Solidarität und Integrität des Systems als ganzes sowie Loyalitäten und normative Definitionen der Situation, die allen Gesellschaftsmitgliedern gemeinsam sind“ (Parsons 1969a: 62). Die sozialen Integrationsbedingungen mögen sich ändern, ihre grundlegende Funktionalität bleibt für alle Gesellschaftsformen, einerlei welcher Struktur und historischer Stufe, von Variation ausgenommen. Damit ist ebenso ein grundlegendes Interesse an der Erhaltung des sozialen Systems wie die Fähigkeit zur Kontrolle der Umwelt desselben vorweggenommen (Parsons 1969a: 56). Das soziale System kann aber nicht selbst Quelle von Evolution sein. Diese liegt in Parsons’ Verständnis an anderer Stelle: „(…) [w]e must focus on the cybernetically higher-order structures – the cultural system among the environments of 171 Und das auf derart komplexe Weise, dass moderne Gesellschaften im Gegensatz zu ihren Vorgängern der primitiven und Zwischengesellschaften in ihrem Ausmaß weder institutionell noch bewusst – und damit wissenschaftlich – einholbar erscheinen. Die wissenschaftliche Beschreibung der empirischen Welt muss sich darin selbst gewissermaßen als normativ erweisen.
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the society – in order to examine the major sources of large-scale change“ (Parsons 1969d: 11). Das funktional gleichbleibende symbolische System aber, das wurde bereits erwähnt, ist die Sprache. Der Trick der Konstruktion liegt dann darin, dass sich Sprache zugleich als hinreichend stabil für die Reproduktion der gesellschaftlichen Bedingungen erweist, aber auch als hinreichend unzuverlässig, denn sie variiert aus sich selbst heraus und zwar ganz zufällig. Daraus erklärt sich, dass evolutionäre Prozesse nicht linear verlaufen, sondern von strukturellen Diskontinuitäten geprägt sind (Parsons 1969d: 30; Parsons 2003: 10-11). Theorietechnisch hat das den Vorteil, dass erstens nicht jede noch so kleine Veränderung gerade in einer hochdynamischen, funktional differenzierten Gesellschaft unter die Sorte strukturverändernd fällt. Zweitens versorgt sich das Handlungssystem in der Anpassung an kontinuierlich steigende Umweltkomplexität quasi von selbst mit der notwendigen Dynamik evolutionären Fortschreitens: Differenzierung führt zwangsläufig zu Komplexitätssteigerungen der Umweltbedingungen, was wiederum erneut Differenzierung herausfordert und so weiter. Ein Ende dessen ist nicht absehbar und ergibt sich doch immer nur aus sich selbst heraus. Evolutionärer Wandel ist darin zugleich auch ein genuin multidimensionales Phänomen, da strukturelle Diskrepanzen zwischen Kultur-, Sozial- und Persönlichkeitssystem schlicht nicht aushaltbar sind. Oder am konkreten Beispiel formuliert: Die bürgerliche Gesellschaft, geprägt durch ein allgemeines Rechtssystem, demokratisch legitimierte bürokratisierte Herrschaftsstrukturen und einen durch Vertrag, Eigentum und Geld strukturierten Markt, lässt sich ebenso wenig mit Hilfe religiöser Wertvorstellungen legitimieren wie sie ihre Bürger durch Statuszuschreibungen integrieren könnte. Ausgelöst durch symbolische Mutationen sieht sich das soziale System also mit der Notwendigkeit einer Steigerung seiner adaptiven Kapazität an eine komplexer werdende Umwelt konfrontiert, die es durch Verallgemeinerung des Werthintergrunds, Verbreiterung der normativen Integrationsbedingungen, Internalisierung durch die Persönlichkeit und Anpassungen in den materiellen Bedingungen aufzufangen sucht. Der Unterschied zwischen vorher und nachher ist dann qualitativer Art: Die Gesellschaft ist den Umweltbedingungen danach besser angepasst als zuvor, weil sie sich zunehmend von konkreten Zwängen kultureller, personeller und materieller Art unabhängig zu machen versteht (Parsons 2003: 40-41). „Because they develop over long periods and under widely varying circumstances, forms of social organization emerge which have increasingly broad adaptive capacities. In their broad characteristics, they tend to become decreasingly subject to major change from narrow, particularized, conditional causes operating through specific physical circumstances or individual organic or personality differences. In the more advanced societies, the range of individual personalities may even broaden whereas the structures and processes of the society become less dependent on individual idiosyncracies“ (Parsons 1969d: 11).
Evolutionäres Fortschreiten folgt selbst einem normativen Muster, das sich an sog. evolutionären Universalien festmacht, die als allgemeingültiger Modernisierungs-
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
prozess von allen Gesellschaften gleichermaßen durchlaufen wird, geprägt von steigender Rationalisierung (Kultursystem), Differenzierung (Sozialsystem), Individualisierung (Persönlichkeitssystem) und Technologisierung (Organismus).172 Alle anderen Entwicklungen erweisen sich als rein empirischer Art, lassen also grundsätzlich Variation zu. Sichtbar wird daran, dass alle Evolution mit der Säkularisierung der ursprünglich religiös fundierten kulturellen Legitimationsgrundlagen steht und fällt, wobei die Bewegungsrichtung laut Parsons’ bereits vorgegeben ist von einer Pluralität segmentärer Gesellschaften zu einem einzigen „System von Gesellschaften“ (Parsons 2003: 9; Betonung im Original). Als die ursprünglichste, weil ganz durch den undifferenzierten Zustand von Kultur- und Sozialsystem bestimmt, gilt Parsons dabei die primitive Gesellschaft (Parsons 1966a: 24; Parsons 1969d: 28). Kultur und Soziales sind in diesem Status vollständig synonym mit Religion. Sie bestimmt ebenso den allgemeinen Werthintergrund wie die normativen Vorgaben, auf die die Mitglieder bereits ab frühester Kindheit im familiären bzw. gemeinschaftlichen Kontext geprägt werden, und den individuellen Handlungsspielraum auf null reduzieren (Parsons 1969a: 57-58, 71). Einfache Gesellschaften zeichnen sich in diesem Verständnis dadurch aus, dass religiöse Traditionen und Solidaritätsbedingungen quasi identisch gebaut sind. Sie weisen stark zentralisierte Strukturen auf, die Abweichungen als Gefährdungen ihrer Existenz betrachten müssen und daher zu segmentärer Spaltung tendieren. Ebenso sind mit Politik und Ökonomie, Zielerreichung und Adaption in primitiven Gesellschaften hochgradig durch an verwandtschaftliche Beziehungen geknüpfte Prestigeund Allokationsdifferenzierungen bestimmt (Parsons 1969a: 59-61). Ursprüngliche Gesellschaften verfügen also grundsätzlich bereits über alle vier gesellschaftlichen Funktionsbereiche. Ihre strukturelle Differenz liegt im undifferenzierten Zustand. Das ändert sich in dem Moment, in dem erstmals die Unabhängigkeit der menschlichen Bedingungen von den göttlichen behauptet wird. Möglich wird dies – so Parsons – durch die Verschriftlichung der Sprache. Sie beendet das Monopol der mündlichen Weitergabe und Deutung gesellschaftsrelevanter Mythen und Regeln und damit auch die exponierte Stellung einer über Prestige definierten, religiösen Trägerschicht, die sich durch eben jenes quasi exklusive Herrschaftswissen zu etablieren wusste (Parsons 1966a: 26-27). Bemerkbar macht sich die Differenzierung von Kultur- und Sozialsystem an der institutionellen Trennung von Kirche und Staat und der Autonomie politischen Entscheidens (Parsons 1966a: 25; Parsons 1969d: 28). Herrschaft ist dann nicht mehr qua Geburt gegeben, sondern ist ab jetzt dazu verur172 Diese Abstraktionsprozesse müssen sich natürlich an allen weiteren Subsystemen – einerlei auf welcher Ebene – ebenso beobachten lassen. Beispielhaft lässt sich das am Sozialsystem zeigen, das im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte die Säkularisierung und Konstitutionalisierung seines Werthintergrunds, die Pluralisierung und Nationalisierung der gesellschaftlichen Gemeinschaften, die Routinisierung, Bürokratisierung bzw. Autorisierung ihrer politischen Funktionen und die Ökonomisierung bzw. Monetarisierung der Wirtschaft erfährt.
6.2 Die systemtheoretische Verabschiedung vom integrativen Fokus soziologischer Beschreibung
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teilt, sich legitimieren zu müssen. Dass dies zunächst weiterhin im Verweis auf eine externe (göttliche) Gewalt geschieht, wird erst in der Moderne zum Problem (Parsons 1969a: 60-62). Gleichzeitig differenzieren sich an diesem ersten Säkularisierungsschritt mit der Umstellung auf das Prinzip sozialer Schichtung erstmals auch die Freiheitsgrade der Person und die ökonomischen Produktions- und Allokationsbedingungen aus (Parsons 1969a: 58, 60; Parsons 1969d: 28). In der Überwindung der absolutistischen Herrschaftsordnung durch Demokratie und universalistisches Rechtssystem liegt in Parsons’ Verständnis der nächste universale Evolutionsschritt, bringt dieser doch mit der Nation einen Integrationshintergrund ins Spiel, den das soziale System als die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Gemeinschaft selbst hervorbringt. Das aber erzwingt die Trennung von Legislative und Exekutive. Während sich die gesetzgebende Gewalt grundsätzlich auf Volk bzw. Nation zurückrechnen muss, differenziert sich das politische System durch Professionalisierung und Bürokratisierung politischen Entscheidens weiter aus (Parsons 1966a: 25-27; Parsons 1969d: 28). Unmittelbar damit zusammen hängt die Ausdifferenzierung der Wirtschaft als eine durch Nutzenerwägungen geleitete und in Eigentum, Geld und Vertrag institutionalisierte Marktökonomie sowie die weitere Ausdifferenzierung der Kultur in Recht, Ethik, Kunst und Wissenschaft (Parsons 1966a: 25; Parsons 1969d: 29; Parsons 1976: 306). Während dies parallel zu einer enormen Pluralisierung der Schichtungs- und Eigentumsskala führt, ist es in Parsons’ Verständnis gerade das universalistische Rechtssystem, das ein in der Geschichte beispielloses Maß an individuellen Freiheitsgraden erlaubt (Parsons 1969a: 68). Gerade daran erweisen sich hochdifferenzierte Gesellschaften, vorneweg die Vereinigten Staaten, als anpassungsfähiger, routinierter, innovativer, inklusiver und wertallgemeiner als alle ihr vorhergehenden und konkurrierenden gesellschaftlichen Lebensformen (Parsons 1969a: 63-66; Parsons 2003: 42). 6.2 Die systemtheoretische Verabschiedung vom integrativen Fokus soziologischer Beschreibung Im folgenden Kapitel geht die Untersuchung näher auf eine gesellschaftstheoretische Beschreibung ein, die sich primär durch den radikalen Bruch mit einer soziologischen „Orthodoxie“ auszeichnet, wie sie im Denken Parsons’ offensichtlich ihren Höhepunkt gefunden hat. Gemeint ist die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Die Arbeit konzentriert sich dabei primär auf drei Hauptstränge des systemtheoretischen Gegenentwurfs, nach dem Luhmann der Konsensforderung gesellschaftlicher Integration funktionale Differenzierung, dem Prinzip der Kausalität die funktionale Methode und dem Primat des Politischen als Konstitutionsbedingung des Sozialen dessen Reduzierung auf ein funktionales Teilsystem entgegensetzt. Diese Auswahl rechtfertigt sich dabei primär am sozialen und gesellschaftstheoretischen Ort, den
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derartige Überlegungen der Funktion von Kollektivität einräumen, an der sich bislang Fragen sozialer Ordnung schlechthin festmachten. 6.2.1 Der Bruch mit der soziologischen Tradition I: Die Gesellschaft als soziales System „Die folgenden Untersuchungen betreffen das Sozialsystem der modernen Gesellschaft. Ein solches Vorhaben, und darüber muß man sich als erstes Rechenschaft geben, aktualisiert eine zirkuläre Beziehung zu seinem Gegenstand“ (Luhmann 1999a: 16). So die ersten Zeilen aus Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“. Bemerkenswert an diesen ist zunächst die offensichtliche Diskontinuität zu einer soziologischen Praxis, die dazu tendiert, Gesellschaftlichkeit quasi unproblematisch vorauszusetzen. Gerade darin lag gewissermaßen das Erfolgsgeheimnis der Geburtsstunde der Disziplin: Die Behandlung ihres Gegenstands als (soziales) Faktum verdeckte ebenso die Frage nach der Beziehung der Soziologie zu demselben wie sie dazu tendierte, das eigene Objekt in der „Nachfolge der alteuropäischen Tradition“ (Luhmann 1984c: 141) unhinterfragt zu stabilisieren. „Solche Erkenntnisblockierungen finden sich im heute vorherrschenden Verständnis von Gesellschaft in der Form von vier miteinander verbundenen, sich wechselseitig stützenden Annahmen, nämlich in der Voraussetzung: (1) daß eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen bestehe; (2) daß Gesellschaft folglich durch Konsens der Menschen, durch Übereinstimmung ihrer Meinungen und Komplementarität ihrer Zwecksetzungen konstituiert oder doch integriert werde; (3) daß Gesellschaften regionale, territorial begrenzte Einheiten seien (...); (4) und daß deshalb Gesellschaften wie Gruppen von Menschen oder wie Territorien von außen beobachtet werden können“ (Luhmann 1999a: 24-25).
Von einer derart voraussetzungsreichen Natur soziologischer Erkenntnis distanziert sich die Luhmann’sche Systemtheorie ausdrücklich. Entsprechend weist sich die Systemtheorie nach eigenem Bekunden an „(...) einem radikal antihumanistischen, einem radikal antiregionalistischen und einem radikal konstruktivistischen Gesellschaftsbegriff“ (Luhmann 1999a: 35) aus, weil sie auf die Unterscheidung von System und Umwelt umstellt. Das System grenzt sich von einer überkomplexen Umwelt komplexitätsreduzierend, d.h. sinnkonstituierend ab (Luhmann 1984d: 35, 47; Luhmann 1999a: 63). Es ist daher in seiner Existenz auf die Umwelt angewiesen, nicht obwohl, sondern weil es sich in den systemeigenen Operationen von dieser unterscheidet. Beide bleiben darin jedoch strikt voneinander getrennt: Weder die Umwelt kann auf das System ausgreifen noch andersherum. Die Unterscheidung verweist dabei immer auf die Innenseite ihrer Form. Oder anders gesagt: Systeme erhalten sich selbst, indem sie die Grenzen zu ihrer Umwelt aufrecht erhalten. Das systemtheoretische Vokabular spricht daher von operativ geschlossenen, selbstreferentiellen, autopoietischen Systemen, d.h. von Systemen, die ihre eigenen Strukturen und Elemente im Rekurs auf sich selbst dank systemeigener Operationen in Echtzeit selbst erzeugen (Luhmann 1984d: 58, 59, 86; Luhmann 1999a: 63, 65, 92). Nur
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so ist es dem System möglich, nach innen Eigenkomplexität gegen eine unspezifisch bleibende, überkomplexe Umwelt aufzubauen (Luhmann 1984d: 36-37, 41; Luhmann 1999a: 67). Auch dahinter verbirgt sich ähnlich wie schon bei Parsons ein irreversibler evolutionärer Steigerungszusammenhang: Das System reagiert auf eine komplexer werdende Umwelt mit Komplexitätsaufbau, d.h. mit Ausdifferenzierung nach innen. Oder in eine kürzere Formel gebracht: Je höher die Komplexität der systemeigenen Umwelt, desto höher die Selektivität des Systems (Luhmann 1984d: 37, 41, 48, 70). Das ergibt sich aus sich selbst heraus, denn jede Systemdifferenzierung steigert unwillkürlich die Komplexität der Umwelt für alle anderen Systeme, auf die diese wiederum durch systeminterne Differenzierung reagieren usw. (Luhmann 1984c: 151). Das System ist jedoch noch auf eine andere Art auf die Umwelt angewiesen: Es ist nicht dazu in der Lage, sich aus sich selbst heraus logisch widerspruchsfrei zu schließen und muss dazu auf andere Teilsysteme ausgreifen. Allerdings, das gilt es zu betonen, erfolgen derartige Ausgriffe immer und ausschließlich unter je eigener Systemlogik. Veranschaulichen lässt sich dies etwa an den Teilsystemen des Rechts und der Politik. So ist der Einsatz von Macht in der modernen Gesellschaft auf Legitimation angewiesen, die sich allein aus der politischen Verfassung beziehen lässt, die die Staatsgewalt zugleich (rechtlich) konstituiert und begrenzt. Andersherum rechnet sich die Verfassung dabei auf eine ihr vorausgehende Instanz zurück, die sie schöpft: das politische Volk (Luhmann 1999a: 68). Derartige strukturelle Kopplungen lassen sich ebenso zwischen Politik und Wirtschaft, Recht und Wirtschaft, Wissenschaft und Erziehung, Politik und Wissenschaft oder Erziehung und Wirtschaft u.a. ausmachen (Luhmann 1999b: 781-787). Wie schon Parsons versteht auch Luhmann die Gesellschaft als umfassendes soziales System, das alle anderen sozialen Subsysteme in sich einschließt, und darin zugleich nur eines unter vielen ist (Luhmann 1999a: 78, 79). Deren Umwelt konstituiert sich aus den physischen und organischen Bedingungen einerseits und den sozialen Subsystemen andererseits, die sie je nach evolutionärem Differenzierungsgrad nach innen aufweist. Die Funktion der Gesellschaft kann dann allerdings, anders als bei Parsons bzw. der „alteuropäischen“ Tradition, schon nicht mehr in einem bestimmten Zweck oder letzten Grund liegen, und sei es nur der der Bestandserhaltung, sondern nur mehr in jenem spezifischen Verhältnis von Umweltkomplexität und Systemselektivität. „Das Gesellschaftssystem wird demnach nicht durch ein bestimmtes ‚Wesen’, geschweige denn durch eine bestimmte Moral (Verbreitung von Glück, Solidarität, Angleichung von Lebensverhältnissen, vernünftig-konsensuelle Integration usw.) charakterisiert, sondern allein durch die Operation, die Gesellschaft produziert und reproduziert. Das ist Kommunikation“ (Luhmann 1999a: 70). Gesellschaft besteht also nicht aus Menschen und auch nicht aus deren Handlungen. Kommunikation ist die einzig genuin soziale Operation, die entsprechend nur innerhalb der Gesellschaft vorkommen kann (Luhmann 1999a: 81, 86). In ihrem Kern verabschiedet die Systemtheorie darin nichts weniger als das
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„klassische Subjekt“ der Moderne als grundlegende Einheit des Sozialen. Das zeichnet sich schon bei Parsons ab, der das Individuum als Persönlichkeitssystem neben dem kulturellen, dem sozialen und dem organischen System fasst. Die Konstruktion einer normativen Integrationsbedingung scheint hier jedoch durch die Hintertür wieder in die Gesellschaft zu holen, was zuvor theorietechnisch getrennt wurde. Luhmann hingegen geht noch einen Schritt weiter: Er verlegt das Individuum als psychisches System in die Umwelt des sozialen Systems (Luhmann 1999a: 30). Und begründet dies folgendermaßen: „Gewonnen wird mit der Unterscheidung von System und Umwelt (...) die Möglichkeit, den Menschen als Teil der gesellschaftlichen Umwelt zugleich komplexer und ungebundener zu begreifen, als dies möglich wäre, wenn er als Teil der Gesellschaft aufgefaßt werden müßte; denn Umwelt ist im Vergleich zum System eben derjenige Bereich der Unterscheidung, der höhere Komplexität und geringeres Geordnetsein aufweist. Dem Menschen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner Umwelt konzediert, insbesondere Freiheiten zu unvernünftigem und unmoralischem Verhalten“ (Luhmann 1984d: 289; Betonung im Original).
Die Person kann in diesem Sinne, und anders als in den klassischen gesellschaftstheoretischen Perspektiven, nicht sozial überformt sein. Denn soziale und psychische Systeme operieren nach strikt getrennten Logiken: Kommunikation einerseits und Bewusstsein andererseits. Mögen diese auch strukturell gekoppelt sein, stellt Luhmann doch fest, „(...) daß Kommunikation sich nur durch Bewußtsein reizen läßt, und nicht durch physikalische, chemische, biochemische, neurophysiologische Operationen als solche“ (Luhmann 1995: 45; Betonung im Original). Gerade im Verzicht auf Charakter- oder Motivunterstellungen, wie sie die soziologische Orthodoxie praktiziert, sieht Luhmann mithin die eigentliche Chance für eine „radikalindividualistische“ (Luhmann 1995: 165) Theorie. Gesellschaft, das wird aus dem Dargelegten klar deutlich, kann vor diesem Verständnishintergrund nicht als einheitlicher Gestaltungs- und noch weniger als Integrationszusammenhang gedeutet werden. „Gesellschaft ist das Ergebnis von Evolution“ (Luhmann 1999: 413) und in diesem Sinne das hochunwahrscheinliche Resultat kontingenter Bedingungen. Das setzt das Soziale voraus und interessiert sich dann für verschiedene Differenzierungsformen desselben, die Luhmann anhand von segmentärer, Peripherie-Zentrum, stratifikatorischer und funktional differenzierter Gesellschaftsstruktur unterscheidet. So dominiert in der segmentären Differenzierung das Prinzip der Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Teilsysteme, die sich an gemeinsamer Abstammung oder am gemeinsam geteilten Lebensraum ergeben. Gemeint sind damit klassischerweise Familien bzw. Sippen, die sich gegenseitig gleichartige Umwelten sind. Die Individuen, das ist in der segmentären Gesellschaftsstruktur vorausgesetzt, finden sich in fixierten hierarchischen Statuszuschreibungen, die sie nicht überwinden können. Der Bereich des Vertrauten ist stark beschränkt, erstreckt er sich doch lediglich auf die unmittelbare Umgebung des familiären Verbandes und die umgebende Natur. Das Unbekannte wird in den
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Bereich der Magie, der Geister oder des Göttlichen verschoben, darüber zugleich erfahrbar gemacht und über Riten, Mythen und Opferpraxen kontrollierbar gehalten (Luhmann 1999b: 613, 634, 643, 646, 649). Die Differenzierung nach Zentrum und Peripherie ist dann bereits durch eine Form der Ungleichheit charakterisiert, die die segmentäre Struktur zugleich transzendiert, diese jedoch weiterhin in sich vorsieht. Dabei liegt die Asymmetrie auf der Seite des Zentrums: Dieses ist stark auf die eigenen Errungenschaften (des Handels, der Macht, der Kultur oder der Religion) angewiesen, während die Peripherie durchaus auch ohne Zentrum bestehen kann. Charakteristisch für eine derartige Struktur sind etwa die römischen bzw. chinesischen Großreiche (Luhmann 1999b: 613, 663, 667, 669, 954). Auch in der stratifikatorischen Gesellschaftsform lebt das Prinzip der Ungleichheit am festgeschriebenen persönlichen Status fort. Eine derartige hierarchische Struktur findet Luhmann etwa in der mittelalterlichen Ordnung oder dem indischen Kastenwesen vor. Als charakteristisch erweist sich hier eine rigide Rangordnung, in der eine durch Abstammung bestimmte Oberschicht in allen funktionalen Bereichen exklusive Vorrechte für sich beanspruchen kann und durch systematische Heiratspolitik gegenüber niederen Schichten reproduziert. Dies setzt bereits wesentlich differenziertere und abstraktere Versionen religiöser Begründung und politischer Herrschaft voraus als sie vorhergehende Gesellschaften aufweisen (Luhmann 1999b: 613, 679, 680). Schließlich zeichnet sich die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft durch die Gleichzeitigkeit ihrer ungleichzeitigen Teilsysteme aus. Das setzt aus der Sicht Luhmanns den Verzicht auf eine wie auch immer geartete gesamtgesellschaftliche Vorgabe der Anordnung ihrer Funktionen voraus, reduziert allerdings keineswegs die Erfahrung von Abhängigkeiten. Das bedeutet zugleich auch, dass Individuen nicht restlos in eines oder mehrere der Teilsysteme aufgeteilt werden. Die Systeme entscheiden selbst über Inklusion bzw. Exklusion, allerdings eben nicht mehr von Personen als Gesamteinheiten, sondern nur mehr in Bezug auf politische, wissenschaftliche, ökonomische, rechtliche, künstlerische oder andere Gesichtspunkte (Luhmann 1999b: 613, 744-745, 747). Eine derartig funktional differenzierte Gesellschaft kann sich in Luhmanns Verständnis und gegen die Vorstellung der soziologischen Orthodoxie dann gerade nicht als Pluralität von Nationalgesellschaften konstituieren, sondern muss als ein einziges Gesellschaftssystem mit globalem Ausmaß gedacht werden (Luhmann 1999a: 145). In diesem Sinne erweist sich das in Luhmanns Augen fast schon störrische Festhalten der Soziologie am althergebrachten, essentialistischen Identitätsdenken von Gesellschaft und Nationalstaat als fundamentales Erkenntnishindernis für eine soziale Realität, die sich
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längst als weltgesellschaftlicher Zusammenhang ausnimmt (Luhmann 1971: 4; Luhmann 1997: 69, 77-78; Luhmann 2002: 220-221).173 Daran zeichnet sich bereits ab, dass Luhmann den an normativen Erwartungen orientierten, territorial organisierten Teilsystemen Politik und Recht gegenüber den funktional orientierten, lernbereiten Logiken von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, eine wesentlich schlechtere Prognose für die Zukunft ausstellt (Luhmann 1971: 15-16). Jene werden ihm zum anachronistischen Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche und entsprechend harsch fällt das Urteil aus, wenn er betont, „(...) daß diese eigentümliche Kombination von Recht und Politik gerade in ihrer besonderen Leistungsfähigkeit eine Fehlspezialisierung der Menschheitsentwicklung war, die sich, vorläufig jedenfalls, nicht auf das System der Weltgesellschaft übertragen läßt“ (Luhmann 1971: 14; Betonung im Original). In der Folge plädiert Luhmann für die Umstellung soziologischen Denkens von einer auf Einheit abstellenden Vorstellung abgeschlossener, zweckbestimmter und integrierter Gesellschaften auf die Differenz und Emergenz einer polyzentrischen bzw. polykontexturalen Weltgesellschaft (Luhmann 1997: 75). 6.2.2 Der Bruch mit der soziologischen Tradition II: Funktionale Methode Der Bruch der systemtheoretischen Perspektive mit dem integrationsorientierten Aspekt traditioneller soziologischer Theorien findet seine konsequente Entsprechung in einem alternativen methodischen Ansatz. Dabei stößt auch die Systemtheorie auf die sich selbst stabilisierende Zirkularität von Gegenstand und Beobachtung. Mit der Gesellschaft hat es die Soziologie mit einem überkomplexen Feld zu tun, dem sie sich nur komplexitätsreduzierend nähern kann, wenn sie bereits im Vorhinein Komplexität reduziert hat. Alle Beobachtung ist dann immer schon theoriegeleitet. Die Frage ist nur, welche Ansprüche an eine derartige Theorie formuliert werden können und was entsprechend von ihr zu erwarten ist. Wie seine Vorgänger beantwortet auch Luhmann diese Frage (doppelt) evolutionär. Einerseits hinsichtlich ihres Gegenstands: Gesellschaftstheorie kann nur die Gesellschaft erfassen, die ihr je gegeben ist und aus der heraus sie zugleich beobachtet. Andererseits hinsichtlich des Grads der Ausdifferenzierung von Wissenschaft, erweist sich diese doch selbst als Ergebnis von Differenzierung (Luhmann 1984c: 152-153). Eine Theorie der modernen Gesellschaft muss dann in Luhmanns Verständnis selbst ausreichende Komplexität aufweisen, um diese beschreiben zu können (Luhmann 1984c: 145; Luhmann 1987c: 74; Luhmann 1999a: 42). Eben dies vermag die Systemtheorie in der Umstellung auf ein operatives Vorgehen, das sich nicht für Motivunterstellun-
173 Daraus speisen sich auch Luhmanns Einwände gegen den Begriff der Globalisierung. Siehe hierzu etwa Luhmann 1999a: 159.
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gen, sondern für die in Echtzeit entstehenden und vergehenden Operationen des sozialen Systems interessiert (Luhmann 1984d: 79; Luhmann 1999a: 39). Hatte man es als Soziologe also zuvor in erster Linie mit sozialen Fakten zu tun, zwingt die Infragestellung der Unterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt dazu, sich von der Voraussetzung ontischer Faktizität zu verabschieden (Luhmann 1984a: 19). Ersetzt wird die Vorstellung von Tatsächlichkeiten und deren ursächlichen Zusammenhängen durch die von Problembezügen bzw. Funktionen (Luhmann 1984b: 33). Bereits die Wortwahl spricht von der Distanzierung von einer Darstellungsform der Wirkungszusammenhänge: Die funktionale Methode formuliert ihre Erkenntnisse nicht als kausale Gesetzmäßigkeiten, die einen spezifischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang postulieren und diesen in die Form von Wenndann-Aussagen bringen. Ihr geht es um das Aufzeigen funktionaler Äquivalenzen, die nicht von Ein-Punkt-Beziehungen ausgehen, sondern sich für Variationen offen halten. Die funktionale Analyse erweist sich für Luhmann entsprechend nicht als Sonderfall von Kausalität, sondern genau andersherum (Luhmann 1984a: 10, 14, 16). Die daraus gewonnene Erkenntnisleistung hat sicherlich Luhmann selbst am treffendsten formuliert: „Die funktionale Analyse benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen. Sie bezieht Gegebenes, seien es Zustände, seien es Ereignisse, auf Problemgesichtspunkte, und sucht verständlich und nachvollziehbar zu machen, daß das Problem so oder auch anders gelöst werden kann. Die Relation von Problem und Problemlösung wird dabei nicht um ihrer selbst willen erfaßt; sie dient vielmehr als Leitfaden der Frage nach anderen Möglichkeiten, als Leitfaden der Suche nach funktionalen Äquivalenten“ (Luhmann 1984d: 83-84).
Die Besonderheit der Methode liegt dabei in der Technik der Problemkonstruktion, die ausreichend abstrakt ist für hochkomplexe Zusammenhänge und zugleich konkret genug, um nicht metaphysisch zu geraten. Am gemeinsamen Bezugspunkt, auf den hin die untersuchten Gegenstände Vergleichbarkeit gewinnen, eröffnet sich ein begrenzter Untersuchungsbereich, der dann von alternativen Lösungsmöglichkeiten ausgehen kann. Alles Weitere ist dann Sache empirischer Erkenntnis (Luhmann 1984a: 13-15, 35-36; Luhmann 1984d: 85, 86). Dabei gehört es zu einem theorietechnischen Spezifikum der funktionalen Analyse, dass sie die Problemstellung weder willkürlich gewinnt noch dieser einen wie auch immer gearteten ontologischen Status zuspricht. Die Beobachtung ist ihrem Gegenstand nicht äußerlich und eben dem begegnet die funktionale Analyse dadurch, dass sie ihre Problemgesichtspunkte theoriegeleitet gewinnt und darin zugleich ein lediglich durch das Untersuchungsinteresse geleitetes Werkzeug sieht, das von einem anderen Gesichtspunkt her wieder aufgelöst werden kann. Sie bestimmt ihre Bezugsprobleme selbstreferentiell: Das Problem ist zwar gegenstandsimmanent gedacht, gewinnt jedoch eigentlich erst durch die Analyse den Charakter eines solchen. Das – so Luhmann – er-
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hebt die Systemtheorie letztlich in den Rang einer Erkenntnistheorie (Luhmann 1984a: 19; Luhmann 1984d: 90). 6.2.3 Der Bruch mit der soziologischen Tradition III: Das Ende des Primats des Politischen Nach dem bislang Dargelegten mag es kaum überraschen, dass für Luhmann auch das in der soziologischen Theorie weitgehend ungebrochene Primat des Politischen zu den „wunden“ Punkten derselben zählt. Dessen andauernde Plausibilität erklärt er sich damit, „(...) daß die alteuropäische Vorstellung einer politischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die in einer politischen Identität kulminiert und darin das ‚gute Leben’ sichert, immer noch nachwirkt. Die modernen Semantiken des Nationalstaates und der Demokratie haben mit dieser Idee nicht wirklich gebrochen, obgleich man jetzt Staat und Gesellschaft unterscheidet. Von der Politik wird die Gestaltung der Verhältnisse verlangt, und dann liegt es sehr nahe, die Macht der Verhältnisse, die geronnene Faktizität der sozialen Zustände, als Resultat von Politik anzusehen“ (Luhmann 1988b: 44).
Luhmann bricht mit einem derartigen Verständnis zugunsten funktionaler Spezifikation (Luhmann 1987c: 84; Luhmann 2002: 131-132). Die Funktion des politischen Teilsystems aber liegt im „Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“ (Luhmann 2002: 84; Betonung im Original). Sie adressiert darin ein „(...) Problem, das die Gesellschaft mit oder ohne ausdifferenzierte Politik lösen muß, nämlich die Notwendigkeit, kollektive Verbindlichkeiten festzusetzen auch angesichts von Meinungsdivergenzen oder Meinungsschwankungen unter den Betroffenen“ (Luhmann 2002: 87). Während Politik in segmentären, Zentrum-Peripherieund stratifizierten Gesellschaften noch diffus verteilt ist, gewinnt sie im Prozess der Ausdifferenzierung an Autonomie, muss diese jedoch zugleich mit der strikten funktionalen Reduktion auf sich selbst bezahlen. Politik konstituiert dann nur ein rekursiv-geschlossenes, selbstregulatives Teilsystem neben anderen, das politische Entscheidungen auf politische Entscheidungen anwendet und dabei selbst wiederum nur solchen unterliegen kann. Damit ist bereits auf eine der oben genannten funktionalen Spezifikationen hingewiesen: Entscheidungen sind kontingent gesetzt, d.h. sie können immer auch ganz anders ausfallen. Das Bereithalten einer derartigen Kapazität weist darauf hin, dass mit Entscheidung zu rechnen ist und sei es auch nur derjenigen, keine zu treffen. Die bindende Wirkung sichert der Entscheidung Bestand bis zum Moment ihrer Revision zu. Der Zusatz kollektiv schließlich, diese Erläuterung fällt bei Luhmann reichlich knapp aus, meint „(...) eine Systemreferenz, die den Entscheidenden selbst einschließt“ (Luhmann 2002: 85). Damit ist in Luhmanns Verständnis allerdings bei weitem noch nicht alles zum Politischen gesagt. Denn „[D]aß etwas politische Bedeutung hat, weist sich am Bezug auf den Staat aus (...)“ (Luhmann 1987c: 88). Dabei ist dieser etwa nicht im
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Anschluss an die Dreielementelehre von Georg Jellinek als Wesenheit bestehend aus Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsterritorium zu verstehen (Jellinek 1914: 394434). Der Staat erweist sich als die Selbstbeschreibungsformel des Politischen und garantiert darin gewissermaßen die Verdichtung und Greifbarkeit des Sinnbezugs. Er versorgt das politische System mit mitlaufender Selbstreferenz und fungiert dabei zugleich als Autor und Adressat politischer Kommunikation (Luhmann 1987a: 73; Luhmann 1987c: 78, 88-89, 96; Luhmann 2002: 196). In eben dieser Funktion ist der Staat ebenso konstant erwartungsstrukturierend wie dominanter Bezugspunkt politischer Ideen und Interessen (Luhmann 1987c: 96). Andererseits darf der Staat nicht mit dem Politischen an sich gleichgesetzt werden. In der Tat versucht die Luhmann’sche Systemtheorie die Engführung traditioneller Ansätze des Politischen auf den (National-)Staat zu umgehen, wenn sie betont: „Politik wird nicht als Staat, sondern in Beziehung auf den Staat bestimmt. Das Politische ist immer auch am Staat, aber nie nur am Staat orientiert“ (Luhmann 1987c: 79; Betonung im Original). Das verweist auf Macht, die – davon wird weiter unten noch zu sprechen sein – nicht unbedingt nur im politischen System zum Tragen kommen muss, dort jedoch als einreguliertes und rechtlich legitimiertes Gewaltmonopol den eigentlichen Charakter des Staats und mithin der Politik ausmacht (Luhmann 2002: 195). Der Staat taucht in Luhmanns Beschreibung allerdings auch noch an ganz anderer Stelle auf, und zwar wenn es um politische Organisation geht. Im Gegensatz zur soziologischen Orthodoxie gewinnt er hier jedoch erst auf der dritten Ebene als segmentäre Binnendifferenzierung des Teilsystems der Politik in einer funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur an Bedeutung (Luhmann 2002: 244). Während Luhmann zwar grundsätzlich einschränkt, dass der Staat nur eine unter vielen (politischen) Organisationen darstellt, muss er diesem doch zugleich zugestehen, die eigentliche „Zentralorganisation“ (Luhmann 2002: 245) der Politik zu sein. So kommt auch Luhmann nicht umhin, das Politische, darauf hat Armin Nassehi bereits aufmerksam gemacht, zunächst und zuvorderst am Staat zu orientieren (Nassehi 2002: 42). Die Hinweise, dass Demokratie nicht als „wirkliche“ Partizipation aller an allen Entscheidungen zu verstehen ist, sondern als die Hereinnahme aller programmatischen Konkurrenz in die Unterscheidung von Regierung und Opposition, dass sich das System mit Hilfe der Wahl selbst mit einer unbekannten Zukunft und an der Kontingenzformel des Gemeinwohls mit der Legitimation seiner Verfahren versorgt, verweist auf ein stark am demokratischen Staatsapparat orientiertes Verständnis des Politischen. Wenn auch Luhmann gerade dieses, nicht zuletzt von Parsons geerbte, Problem eigentlich zu überwinden sucht (Luhmann 1986: 208; Luhmann 2002: 97-98, 104, 122, 124). Die Nähe zu Parsons erweist sich jedoch spätestens an der Behandlung von Macht als überdeutlich. Diese gewinnt zentrale Bedeutung, denn für die Erfüllung seiner Funktion ist das politische System auf das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Macht angewiesen, das in der Form von Machtüberlegenheit und
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Machtunterlegenheit codiert ist. Bezeichnet ist damit in Luhmanns Verständnis lediglich ein asymmetrisches Zuschreibungsverhältnis, keine ex ante bestehende hierarchische Struktur. Noch weniger verbirgt sich dahinter die Vorstellung von Verhaltenskausalität oder einer übergreifenden Steuerungseuphorie (Luhmann 1987b: 118; Luhmann 1988b: 50; Luhmann 2002: 36, 81, 88). In Abwandlung des oben Gesagten kann nun präzisiert werden, dass es im politischen System primär um Macht geht, indem alle Macht nur auf Macht angewandt wird und dies selbst wiederum nur den Bedingungen der Macht unterliegen kann (Luhmann 1987c: 87). Oder knapper: „Macht ist (...) nicht etwas, was in der Politik auch vorkommt, sie ist die Quintessenz von Politik schlechthin“ (Luhmann 2002: 75). Dabei sieht Luhmann natürlich, dass kollektiv verbindliches Entscheiden und Macht nicht nur im politischen Teilsystem der Gesellschaft auftreten. Auch Unternehmen, Krankenhäuser oder Universitäten treffen verbindliche Entscheidungen und verfügen über gewisse „Durchsetzungs“-Mechanismen wie etwa Kündigung, Entzug der ärztlichen Approbation oder Aberkennung akademischer Titel. Diese Art der Macht unterscheidet sich jedoch von politischer Macht, da sie gesellschaftlich diffus verstreut ist. Politische Macht als Sonderfall gesellschaftlicher Macht zeichnet sich hingegen durch die Ausdifferenzierung in einem spezifischen Teilsystem als „Drohmacht“ (Luhmann 1988b: 45) aus. „Auf sie ist der Staat gebaut, ohne sie wäre er unmöglich, und auch das Recht setzt Verfügung über dieses Sanktionsmittel voraus“ (Luhmann 1987b: 120). Negative Sanktionen, d.h. Gewalt, hat in Luhmanns Verständnis dabei primär symbolischen Charakter. (Politische) Macht ist auf die Erfahrung doppelter Kontingenz angewiesen: Sie will verändern, was sich sonst ganz anders ergeben würde und rechnet dabei grundsätzlich mit dem Dissens derjenigen, die an die Entscheidung gebunden werden sollen (Luhmann 1988b: 47; Luhmann 2002: 52-53). Drohmacht stabilisiert in ihrer Form als Vermeidungsalternative also die Erwartungen der Beteiligten. Sowohl die machtüberlegene wie auch die machtunterlegene Seite wollen den Einsatz von Gewalt verhindern und wissen dies voneinander. Die sanktionierende Instanz, da sie dadurch an Macht verliert, die sanktionierte Instanz aufgrund der Erwartung unangenehmer Konsequenzen (Luhmann 1987b: 117, 119; Luhmann 2002: 46-47, 59, 75). Macht ist jedoch in der modernen Gesellschaft nicht mehr an askriptive Kriterien gebunden. Sie wird im Kontext formaler Organisation von relationaler Amtsmacht ausgeübt, ist also grundsätzlich abstrakt, eindeutig zuordenbar, personen- und situationsunabhängig (Luhmann 1987b: 121; Luhmann 2002: 91, 93). Dies setzt den Übergang von einer zweistelligen zur dreistelligen Binnendifferenzierung des Politischen voraus und markiert zugleich die selbstreferentielle Schließung des politischen Systems. Kennen vormoderne Gesellschaften nur zwei in Bezug auf Macht bestimmte, fremdreferentiell festgeschriebene Positionen – Herrscher und Beherrschte (mit eindeutiger Bevorzugung der ersten Stelle) –, ist die moderne Gesellschaft durch „kreisförmige[n] Machtkonstellationen“ (Luhmann
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1981b: 72) zwischen Politik, Verwaltung und Publikum charakterisiert. „Die Politik bestimmt die (programmatischen, organisatorischen, personellen) Entscheidungsprämissen der Verwaltung. Diese stellt die Entscheidungen her, die das Publikum binden. Das Publikum wiederum wählt die Politiker“ (Luhmann 1981b: 73). Parallel entwickelt sich ein ebenso dominanter Gegenkreislauf informaler Macht, nach dem die Politik auf Entwürfe aus der Verwaltung angewiesen ist, das Publikum auf die politische Vorsortierung von wählbaren Personen und Programmen und die Verwaltung wiederum mit der Freiwilligkeit des Publikums rechnen können muss. Keine der Positionen aber kann für sich allein Macht ausüben. Sie ist immer auf eine der anderen angewiesen (Luhmann 1981a: 164; Luhmann 2002: 264). An der zirkulären Selbstanwendung von Macht auf Macht unter Bedingungen der Macht aber schließt sich das politische System selbst rekursiv. Die Umstellung von Fremdreferenz auf Selbstreferenz des Politischen setzt jedoch – so Luhmann – eine besondere Position voraus: das Publikum bzw. Volk. „Die Schließung des Systems erfolgt an der Stelle, wo das Weisungen empfangende, administrativ belästigte Publikum der Individuen, Gruppen und Organisationen zum Volk wird; an der Stelle, wo die volonté de tous zur volonté générale wird. Diese Transformation bleibt aber ein Geheimnis. Sie kann nur als Paradoxie formuliert werden“ (Luhmann 2002: 265).174 Oder mit Luhmann nochmals anders formuliert: Demokratie markiert die Vollendung der Ausdifferenzierung des politischen Systems, denn ab dann gründet es sich allein auf selbsthervorgebrachte Entscheidungen (Luhmann 2002: 105). Nach dem etwas rudimentär ausfallenden Hinweis in der Funktionsbestimmung des politischen Systems ist die Funktion als Zurechnungsadresse für Macht (auf der vierten Differenzierungsebene) also die zweite Stelle, an der die Luhmann’sche Systemtheorie auf Kollektivität zu sprechen kommt. Schließlich ist es die Selbstbeschreibung des politischen Systems in den vergangenen 200 Jahren, in der laut Luhmann die Begrifflichkeiten des Volks bzw. der Nation eine Rolle spielen. Als Begleitphänomene funktionaler Differenzierung versprechen Begrifflichkeiten wie Volk, Nation und Demokratie als Korrelate einer Gesellschaftsstruktur, die konkurrenzlose Zentralbeschreibungen anfertigen konnte, die Inklusion einer Gesamtbevölkerung, die so eigentlich schon gar nicht mehr möglich ist (Luhmann 1999b: 1045, 1050; Luhmann 2002: 101). „Im Begriff der Nation ebenso wie im Begriff des Menschen als Individuum und Subjekt schafft die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems sich einen hochplausiblen Ausweg, der es erlaubt, Identitätsressourcen zu aktivieren, die die Funktionssysteme in ihren Inklusionsformen nicht bieten können. (...) Kurz: der Begriff der Nation bietet ein Inklusionskonzept, das nicht auf die Son-
174 Originellerweise hat dies Émile Durkheim einmal vor ganz anderem Hintergrund ähnlich formuliert: „Ohne ein Wunder ginge nicht ein Mehr aus einem Weniger hervor“ (Durkheim 1973: 370).
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie derbedingungen der einzelnen Funktionssysteme angewiesen ist und selbst die Politik dazu zwingt, alle Angehörigen der eigenen Nation als gleiche zu respektieren“ (Luhmann 1999b: 1051, 1052).175
Allerdings sind es in Luhmanns Verständnis eben diese alteuropäischen Semantiken, die ob ihrer offensichtlichen Diskrepanz zur funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur endgültig an Plausibilität verloren haben, mit der sie lediglich eine „(...) Übergangszeit faszinieren konnten, ohne zu verraten, auf welches Gesellschaftssystem sie bezogen waren“ (Luhmann 1999b: 1055). Nicht nur, dass sich dahinter das epistemologische Hindernis einer konventionellen Soziologie schlechthin verbirgt. Auch die Erwartungen an politische Steuerungs- und Ausgleichsfähigkeit scheinen ob einer überkomplexen Gesellschaftsstruktur hoffnungslos veraltet. Nicht zuletzt entziehen die Undurchsetzbarkeit eines ethnisch bzw. religiös homogenen Staatsgebiets und der steigende Individualismus der Vorstellung einer konsistenten nationalen Identität zunehmend an Plausibilität (Luhmann 1986: 209; Luhmann 1988a: 255-256; Luhmann 1993: 93-94; Luhmann 1994: 6). In der Zusammenschau des Dargelegten scheint die Behandlung von Kollektivität in Luhmanns Denken im besten Sinne ambivalent. Am Ausgangspunkt steht zunächst der Bruch mit einer orthodoxen soziologischen Beschreibung, die Soziales nur als Konstitutionszusammenhang verstehen kann und darüber immer auf Kollektivität stößt. In den Blick rückt dann, dass es sich dabei weniger um theoriegeleitete Erkenntnis als um eine Praxis handelt, die sich selbst an ihrem eigenen Gegenstand stabilisiert. Damit verschwindet Kollektivität in Luhmanns Denken nicht, verliert jedoch ihren auf die Bedingungsmöglichkeit von sozialer Ordnung bezogenen Primat. Während die Funktionsbeschreibung des Politischen zu abstrakt ausfällt, als dass sie nähere Hinweise auf die Funktion von Kollektivität geben könnte, scheint die Ambivalenz zwischen Selbstbeschreibung bzw. -referenz einerseits und gesellschaftsstruktureller Bedeutung andererseits am augenfälligsten. Denn während Luhmann bereits das Ende jener alteuropäischen Semantiken für die Selbstbeschreibung des politischen Systems behauptet, in denen Kollektivität so unverzichtbar ist, bleibt die Beschreibung des politischen Teilsystems eng an den Prozessen und Institutionen des demokratischen Verfassungsstaats, inklusive der Fiktion eines Volks als Zurechenbarkeitsinstanz politischer Kommunikation, orientiert. Wenn diesem in Luhmanns Beschreibung auch nicht die Funktion einer das Soziale schlechthin begründenden Konstitutionszusammenhangs zukommt, so bleibt es doch entscheidender Wendepunkt, an dem sich das politische System selbst schließt. Ob man sich an dieser Stelle dem Urteil Armin Nassehis anschließen möchte, darin „die gewiß dunkelste Stelle“ (Nassehi 2002: 50) in Luhmanns Beschreibung des politischen Systems zu sehen, sei hier dahingestellt. Augenfällig ist jedoch, dass auch die Luhmann’sche Beschreibung der Gesellschaft der Fiktion 175 Parallel dazu sieht Luhmann auch im „(...) Prinzip der Demokratie eine Formel für Selbstreferenz. Das Volk regiert das Volk, das Volk herrscht über sich selbst“ (Luhmann 1981a: 163).
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eines einheitlichen Volks nicht so recht entkommen kann. Aus der Sicht der Untersuchung scheint es allerdings die Umstellung von Fremdreferenz (Natur, Gott, Tradition) auf Selbstreferenz, die den politischen Begrifflichkeiten den Vorwurf einbringt, doch „nur säkularisierte Theologismen“ (Nassehi 2002: 50) zu sein. Während dies scheinbar mit der Erwartung formuliert ist, auch das noch „säkularisieren“ zu können, liegt die Vermutung nahe, darin weniger die „dunkelste Stelle“ als den „blinden Fleck“ des politischen Systems zu vermuten, den die wissenschaftliche Reflexion wohl beobachten, aber selbst nicht überwinden kann – zumindest nicht, ohne selbst einen neuen blinden Fleck zu produzieren. Exkurs III: Zum Primat des Politischen bei Carl Schmitt Wie die Vorstellung der radikalen Selbstdetermination des Politischen durch das Politische in der frühen Neuzeit eng mit dem Namen Niccolò Machiavellis verbunden ist, ist sie es in der Moderne mit dem von Carl Schmitt (1888-1985). Wie kaum ein anderer hat er das Politische zum Schicksal der modernen Gesellschaft erklärt, zu ihrem Ersten und Letzten. Es lohnt daher, an dieser Stelle einen kurzen Blick auf dessen Denken zu werfen. Der Nutzen für die Fragestellung der Analyse ist dabei eher mittelbarer Art: Einerseits fügt sich die Argumentation Schmitts in die in der Moderne vorherrschende Beobachtung der Autonomie des Politischen aus einer ganz spezifischen Perspektive. Andererseits lässt sich an dieser veranschaulichen, dass sich auch eine von liberal-demokratischen Gesellschaftsvorstellungen distanzierte Beschreibung dem Sog der Kollektivität ebenso wenig entziehen kann wie sie darin zur Verabsolutierung des Politischen als Konstitutionsbedingung des Sozialen schlechthin tendiert. Wenn es Schmitt also darum geht, die Beschreibung des Politischen in der Moderne aus den „Sackgassen des liberal-demokratischen Systems“ (Schmitt 1933: 13) zu führen, setzt er dem liberalen Projekt der Auflösung aller Partikularität in Universalität letztlich die universale Logik des Politischen als unbedingte Partikularität entgegen. Dabei wendet sich Schmitts Kritik in erster Linie gegen drei sich gegenseitig bedingende Kernaussagen des Liberalismus: die Gleichsetzung von Staat und Politik, die Reduzierung des Politischen auf ein Gebiet neben anderen und schließlich der Individualismus als Ausgangsbedingung. So erweist sich die im liberalen Denken praktizierte Reduzierung des Politischen auf den Staat in Schmitts Denken als unzufriedenstellender Zirkel. Denn gerade der Staat als bereits konstituierte, in feste Bahnen gebrachte Politik muss sich dann die Frage gefallen lassen, wer oder was ihn denn zu einem solchen gemacht hat. Mehr noch: Ein derartiges Verständnis muss Politik zwangsläufig im Staatlichen im Gegensatz zum Gesellschaftlichen als einem per se unpolitischen Bereich kasernieren. Gerade das erweist sich jedoch als untragbar, hebt sich damit doch Politik in diesem Verständnis letztlich selbst auf (Schmitt 1963: 22 (FN), 24). Der Staat kann
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in Schmitts Denken keinesfalls die Letzteinheit des Politischen sein. Das kann nur das Volk: „Heute ist das Volk der Normalbegriff der politischen Einheit. Deshalb bestimmen sich heute alle maßgebenden politischen Begriffe vom Volke her. Politisch ist alles, was die Lebensfragen eines Volkes als eines einheitlichen Ganzen betrifft“ (Schmitt 1995: 133; Betonung im Original). Der Staat konstituiert sich nach diesem Verständnis als spezieller Zustand des Volks und zwar im entscheidenden Fall als der maßgebliche Zustand (Schmitt 1963: 20). Daran gewinnt jener überhaupt erst politischen Charakter, d.h. seine Einheit.176 Eben dafür, so die Kritik Schmitts, muss die liberale Theorie grundsätzlich blind bleiben, da sie die politische Assoziation lediglich als eine neben anderen – religiöser, ökonomischer, moralischer, kultureller Art – setzt und so die „seinsmäßige Sachlichkeit und Selbständigkeit des Politischen“ (Schmitt 1963: 28) notwendigerweise verfehlen muss. Diese aber bestimmt sich schlechthin daran, „(...) daß der Möglichkeit nach Alles politisch werden kann. Infolgedessen ist die Entscheidung darüber, ob etwas unpolitisch ist, im Streitfalle ebenfalls eine politische Entscheidung. Das beweist, wie sehr heute eine einheitliche, entscheidungsfähige politische Führung für jedes Volk notwendig geworden ist, um den Vorrang der politischen Entscheidung (Primat der Politik) gegenüber der Aufspaltung in die verschiedenen Sachgebiete (Wirtschaft, Technik, Kultur, Religion) zu gewährleisten“ (Schmitt 1995: 135; Betonung im Original).
Die Autonomie des Politischen in der Moderne wurzelt eben nicht darin, sich als spezifisches, abgeschlossenes Sachgebiet zu konstituieren, sondern in ihrem alle anderen Bereiche ko-fundierenden Primat: Sie entscheidet selbst, worüber sie (politisch) entscheidet. Darin muss sie sich nicht nur sachlich offen halten, sondern bestimmt zugleich, ganz bewusst und gewollt, das Unpolitische mit (Schmitt 1933: 17).177 Die souveräne Gewalt aber kann nur der Volkswille konstituieren. Und damit ist nach diesem Verständnis dann auch schon nahezu alles zu demselben gesagt, denn „[W]as das Volk will, ist eben deshalb gut, weil es will (...)“ (Schmitt 1928: 229). Am politischen Willen entscheidet sich letztlich die Existenz der politischen Einheit, denn nur diese bestimmt Form und Gestalt derselben (Schmitt 1928: 7577). In dieser „Totalentscheidung“ (Schmitt 1928: 78) wurzelt der Praxischarakter des Politischen schlechthin und eben deswegen muss es sachlich diffus operieren, 176 So kann die politische Gleichheit der Bürger nur dann substantielle Gleichheit sein, wenn sie sich auf ein Volk, nicht aber auf die Menschheit als Ganze bezieht. Das setzt die „Homogenität und Identität des Volkes mit sich selbst“ (Schmitt 1928: 229-230) voraus, in der wiederum das Bewusstsein und der Wille zur Einheit wurzeln, deren Ausdruck der Staat ist. Eben darin konstituiert sich die Demokratie als Identität von Regierenden und Regierten. „Mit dem Wort ‚Identität’ ist das Existentielle der politischen Einheit des Volkes bezeichnet zum Unterschied von irgendwelchen normativen, schematischen oder fiktiven Gleichheiten. Demokratie setzt im Ganzen und in jeder Einzelheit ihrer politischen Existenz ein in sich gleichartiges Volk voraus, das den Willen zur politischen Existenz hat. (...) Ein solcher Satz ist richtig, nicht aus einer Norm heraus, sondern aus dem homogenen Sein eines Volkes“ (Schmitt 1928: 235). 177 Eben darin liegt der wesentliche Unterschied zu Luhmanns Behandlung des Politischen, die zwar ebenfalls von der Selbstanwendung politischer Entscheidungen ausgeht, dies allerdings auf das Teilsystem der Politik reduziert. Damit ist noch gar nichts über Wirtschaft, Wissenschaft, Recht etc. gesagt.
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bestimmt sich doch exakt danach der „Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen“ (Schmitt 1963: 38-39; Betonung im Original). Damit stößt man zum Kern des Denkens von Carl Schmitt vor, d.h. zu der Frage, was den Entscheidungsbereich des Politischen überhaupt auszeichnet. Die Antwort darauf ist bekannt: Es ist die Unterscheidung von Freund und Feind.178 Das Politische konstituiert sich an der konfliktuellen Natur seiner selbst. „Jede Politik rechnet mit der Möglichkeit von Widerständen, die sie überwinden muß. Sie kann nicht auf den Kampf verzichten und sich auf die Taktik des bloßen Ausgleichens und Ausweichens beschränken. Eine echte ‚Entpolitisierung’ und einen absolut unpolitischen Zustand hätte nur der erreicht, der grundsätzlich Freund und Feind nicht mehr unterscheiden wollte. Unter Politik wird aber auch die Gestaltung und Herbeiführung der Ordnung und Harmonie eines umfassenden völkischen Ganzen verstanden, innerhalb dessen es keine Feindschaft gibt und das als Ganzes von sich aus Freund und Feind zu bestimmen vermag“ (Schmitt 1995: 136-137).
Dabei kann und muss der Status als Feind nicht einmal auf besondere Weise – moralisch, ästhetisch, ökonomisch – verargumentiert werden, sondern eben nur politisch. Es genügt dann darauf hinzuweisen, dass dieser in seiner Art etwas existentiell ganz Anderes und Fremdes darstellt, das „(...) die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren“ (Schmitt 1963: 27).179 Exakt vor diesem Hintergrund muss Schmitt die liberale Grundannahme eines politischen Pluralismus vehement zurückweisen, da dieser das Politische in seiner ureigensten Eigenschaft der Gegensätzlichkeit grundlegend verfehlen muss (Schmitt 1963: 44-45).180 Darin wurzelt aber zugleich auch deren irreduzible Letztinstanzlichkeit, denn „[P]olitisch ist (...) immer die Gruppierung, die sich an dem Ernstfall orientiert. Sie ist deshalb immer die maßgebende menschliche Gruppierung, die politische Einheit infolgedessen immer, wenn sie 178 Oder anders gesagt: Alle sachlichen Unterscheidungen lassen sich in Bezug auf die Freund-FeindUnterscheidung deuten und gewinnen daran politische oder (politisch bedingte) unpolitische Bedeutung. 179 Der Feind ist in diesem Sinne immer ebenso konkreter (nicht symbolischer) und öffentlicher (nicht privater) Gegner. Dabei eignet der Unterscheidung selbst keine Dauerhaftigkeit. Sie kann morgen schon ganz anders liegen. Obwohl der politische Antagonismus sicherlich den denkbar extremsten Gegensatz konstituiert, der sich im Normalfall gegen einen äußeren Feind und nur im Ausnahmefall nach innen bis hin zum Bürgerkrieg richtet, betont Schmitt, dass Politik nicht mit Krieg gleichzusetzen ist. Neigt die Politik zwar grundsätzlich zu einer „seinsmäßige[n] Negierung eines anderen Seins“ (Schmitt 1963: 33), kann die gewaltsame Auseinandersetzung ihre abgeleitete Natur nicht verbergen, konstituiert also nur ein, wenn auch durchschlagendes Mittel neben anderen. An ihr erschöpfen sich weder Zweck noch Mittel der Politik, denn der Einsatz von Gewalt ist darauf angewiesen, „(...) daß die politische Entscheidung, wer der Feind ist, bereits vorliegt“ (Schmitt 1963: 34). Das bedeutet zugleich, dass gewalttätige Konflikte grundsätzlich nicht aus moralischen, ethischen, ökonomischen oder anderen Gründen geführt werden, sondern eben allein aus politischen (Schmitt 1963: 28-32, 35-36; Schmitt 1995: 137). 180 Die Einheit des Politischen und mithin des Volks ergibt sich an der Unterscheidung von Freund und Feind. Gerade darin gründet, so Schmitt in einer Schrift aus den Anfängen des Dritten Reichs, der Erfolg des Nationalsozialismus’ und dessen Gleichschaltungspolitik: In der Installation eines Monopols des Politischen gegen die als Spaltung empfundene innenpolitische Lage der Weimarer Republik schafft sie einen homogenen Raum nach innen und lenkt Konflikte nach außen ab (Schmitt 1995: 136).
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie überhaupt vorhanden ist, die maßgebende Einheit und ‚souverän’ in dem Sinne, daß die Entscheidung über den maßgebenden Fall, auch wenn das der Ausnahmefall ist, begriffsnotwendig immer bei ihr stehen muß“ (Schmitt 1963: 39; Betonung im Original).
Das gerät offensichtlich zirkulär: Das Volk als Letztinstanz des Politischen gewinnt erst an der Unterscheidung von Freund und Feind Einheit und Souveränität und ist doch zugleich immer schon Ausdruck dessen. Und man erkennt nur allzu leicht die existentielle, irreduzible, maßgebende Natur dieser Leitunterscheidung des Politischen, die über die politische Einheit nur das Verdikt Ja oder Nein treffen kann (Schmitt 1963: 40, 43).181 Es geht in diesem Sinne im Politischen immer um ultimative Entscheidungen, weil es um letztlich existentielle Fragen geht. Andersherum ist das Ende von Politik dann eingeläutet, wenn die Unterscheidung von Freund und Feind nicht mehr greift (Schmitt 1963: 35). „Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, wenn auch nur für den extremsten Fall – über dessen Vorliegen es aber selbst entscheidet – die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz. Hat es nicht mehr die Fähigkeit oder den Willen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu existieren“ (Schmitt 1963: 50).182
Vor diesem Hintergrund kann Schmitt schließlich im liberalen Individuum als einer dem Staat vorgehenden Einheit und der daraus folgenden Unterscheidung von Gesellschaftlichem (Ökonomie, Moral, Recht) und Politischem (demokratischer Rechtsstaat) nur die Verneinung des Letzteren sehen (Schmitt 1963: 69-70, 71). Denn wenn der entscheidende Wesenszug der Politik bzw. des Staats in der Definition und Bekämpfung eines inneren oder äußeren Feinds liegt, muss er konsequenterweise über das ius belli und mithin über das Leben der Menschen verfügen können. Eben das erhebt die politische Logik über alle anderen: Kein ideologisches Programm oder Ideal, keine Norm oder Wahrheit verleiht das Recht über Leben und Tod. Die Vernichtung menschlichen Lebens ist allein politischen Maßstäben geschuldet, d.h. bleibt allein durch die Bewahrung der eigenen Existenzform be-
181 Das setzt die Pluralität der Staatenwelt bereits voraus und verdeutlicht zugleich, dass im Schmitt’schen Gedankengebäude Gesamtbegriffe wie Menschheit keine politischen Begriffe sein können, da es ihnen notwendigerweise an einer unterscheidenden Außenseite fehlt, an der Form „nationaler Gegensätze“ (Schmitt 1928: 234). Vielmehr gelingt es auch derartigen universalisierenden Semantiken aus Schmitts Sicht nicht, die politische Partikularität ihrer selbst auf Dauer zu verbergen. „Das politische Denken ist hier in der Selbständigkeit und Geschlossenheit seiner Sphäre schlechthin unwiderleglich, denn es sind immer konkrete Menschengruppen, die im Namen des ‚Rechts’ oder der ‚Menschheit’ oder der ‚Ordnung’ oder des ‚Friedens’ gegen konkrete andere Menschengruppen kämpfen, und der Betrachter politischer Phänomene kann, wenn er konsequent bei seinem politischen Denken bleibt, auch in dem Vorwurf der Immoralität und des Zynismus immer wieder nur ein politisches Mittel konkret kämpfender Menschen erkennen“ (Schmitt 1963: 66-67). 182 Die Entscheidung, sich nicht für einen Feind zu entscheiden, schließt Schmitt also kategorisch aus. Der Verzicht darauf sortiert evolutionär gesehen nicht das Politische, sondern nur ein „schwaches“ Volk aus, das nicht dazu in der Lage ist, überhaupt (politisch) zu existieren (Schmitt 1963: 51-52, 54).
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stimmt (Schmitt 1963: 45-46, 48-50).183 Die durch den staatlichen Zwangsapparat erreichte Befriedung nach innen garantiert überhaupt erst die Geltung der positiven Gesetze (Schmitt 1933: 16; Schmitt 1963: 46). Die Anerkennung einer pessimistischen Anthropologie und die Vorstellung eines Kriegs aller gegen alle konstituieren für Schmitt also keineswegs bedauernswerte Entartungen der Moderne, sondern die „elementaren Voraussetzungen eines spezifisch politischen Gedankensystems“ (Schmitt 1963: 65). 6.2.4 Zur Hartnäckigkeit nationaler Selbstbeschreibung Die weiter oben dargelegte Luhmann’sche Behandlung der Thematik von Volk und Nation blieb in der Folge gerade auch in systemtheoretischen Kreisen nicht unkommentiert. Punktuell entwickelten sich soziologische Forschungsprogramme, die sich mit dem Verständnis von Volk bzw. Nation als ad acta zu legender Selbstbeschreibungsformel der modernen Gesellschaft nicht so recht zufriedengeben wollten. Zu nennen sind hier u.a. Arbeiten von Alois Hahn (Hahn 2000), Rudolf Stichweh (Stichweh 1991, 2000a, 2000b, 2003), Peter Fuchs (Fuchs 1991, 1992), Dirk Richter (Richter 1996, 2001) sowie Georg Weber und Armin Nassehi (Nassehi/Weber 1990, 1992; Nassehi/Richter 1996; Nassehi 1990, 1997, 2002, 2003a, 2003b, 2006). Ihnen allen gemeinsam ist eine gewisse Unzufriedenheit mit der Behandlung nationaler Zuschreibungspraxen in der Luhmann’schen Systemtheorie. Diese lassen sich, grob gesprochen, auf zwei Positionen reduzieren. So sind es Soziologen wie Alois Hahn oder Reinhard Kreckel, die grundsätzliche Bedenken an der Unanfechtbarkeit der funktionalen Differenzierung als primärer Gesellschaftsstruktur der Moderne anmelden. So spricht etwa Kreckel im Anschluss an einen Aufsatz von Hartmut Esser aus dem Jahr 1988, in dem dieser der Annahme eines mit fortschreitender Modernisierung eintretenden Verschwindens „ethnischer Vergemeinschaftung“ (Esser 1988: 239) widerspricht, dem modernisierungstheoretischen Ansatz jegliche Aussagekraft ab, schlicht weil die Konstitution der modernen Gesellschaft nur als „Nationalgesellschaften“ (Kreckel 1989: 164) kapitalistischer Prägung sinnvoll gedeutet werden kann. Die Moderne trägt in der „askriptiven
183 Dass das Leben des Menschen nur unter politischen, nicht aber religiösen, moralischen o.a. Gründen genommen werden kann, scheint eines der wesentlichen Konstitutionsprinzipien der Moderne (siehe hierzu auch die Hinweise in Kapitel 2.2.2). Andererseits ist es gerade dieses Prinzip, das nach der Erfahrung des Holocausts als geradezu zynisch erscheinen muss. So spricht etwa Giorgio Agamben in „Homo sacer“ von der paradoxen Gleichzeitigkeit „(...) das Leben sowohl zu schützen wie auch seinen Holocaust zu autorisieren“ (Agamben 2002: 13), als dem spezifischen Merkmal der Moderne: „(...) das Eintreten der zŇē in die Sphäre der pólis, die Politisierung des nackten Lebens als solches bildet auf jeden Fall das entscheidende Ereignis der Moderne und markiert eine radikale Transformation der klassischen politisch-philosophischen Kategorien“ (Agamben 2002: 14; Betonung im Original).
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Segmentierung in Nationalstaaten“ (Kreckel 1989: 166) aus dieser Sicht selbst die unmodernen Wurzeln in sich, von denen sie sich längst hätte verabschieden sollen. „Die nationalstaatliche Segmentierung der Welt, das ist meine Behauptung, ist kein zufälliger, sondern ein systematischer Begleitumstand der einzigen Modernisierung, die wir kennen können: der historischen Modernisierung, die nun einmal von Europa ausgegangen ist und sich teils gewaltsam, teils friedlich über die Welt ausgebreitet hat. Das mag man bedauern, auf theoretischer Ebene vergessen sollte man es nicht“ (Kreckel 1989: 164; Betonung im Original).
Einen Schritt weiter geht Alois Hahn, indem er den Modernisierungsprimat funktionaler Differenzierung überhaupt bezweifelt: Die nationalstaatliche Einteilung der Welt ist ihm eigentliche Bedingungsmöglichkeit funktionaler Eigenlogiken, die an Staatsgrenzen, wenn auch nicht vollständige Unterbrechung, so doch zumindest eine Art Übersetzung finden (Hahn 2000: 60, 64). „Theorietechnisch könnte man sagen, daß evolutionär folgenreiche funktionale Differenzierungen offenbar auf vorgängige oder gleichzeitige (oder direkt ko-evolutive, wer will das gegenwärtig entscheiden!) segmentäre Differenzierungen angewiesen sind“ (Hahn 2000: 64). Demgegenüber stehen jene Perspektiven, die im ko-evolutiven Auftauchen von Weltgesellschaft und Nationalstaat einen Bedingungszusammenhang sehen, der sich nicht auf die eine oder andere Seite asymmetrisieren lässt. So geht etwa Peter Fuchs in der „Erreichbarkeit der Gesellschaft“ (Fuchs 1992) davon aus, dass Semantiken wie Vaterland oder Patriotismus ihre Funktion im Ersatz einer bislang unproblematisch gegebenen Einheitsperspektive gesellschaftlicher Selbstbeschreibung finden, deren „Bedarfsauslöser“ (Fuchs 1992: 96) im Auftauchen einer funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur liegt, die eben das nicht mehr kennen kann. Sie erweisen sich in diesem Sinne als Antwort auf „(...) zentrale Fragen (...), wie angesichts der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, angesichts der Vielzahl und Zersplitterung der Perspektiven und des Ausfalls einer legitimen Leitperspektive versucht wurde (und wird), für Sonderanliegen gesellschaftsweit Relevanzgeltung einzufordern“ (Fuchs 1991: 89). Auch Rudolf Stichweh kommt auf einen derartigen ko-evolutiven Zusammenhang von Nation und Weltgesellschaft zu sprechen.184 An der Nation lässt sich dabei ein „entscheidendes Spannungsverhältnis“ (Stichweh 2000b: 51) beobachten, da diese eine doppelt intermediäre Stellung einnimmt. Evolutionär erweist sich der Nationalstaat als Ausdruck „’partieller Modernisierung’“ (Stichweh 2000b: 51) zwischen traditionellen Gemeinschaften und 184 Stichweh kann an der „Genese des globalen Wissenschaftssystems“ auf erstaunlich plausible Weise zeigen, dass die Entstehung des europäischen Gesellschaftssystems eines der „konstitutiven Momente der Weltgesellschaft“ (Stichweh 2003: 10) bildet. So zeigt er, dass der wissenschaftliche und wissenschaftsorganisatorische Universalismus des Mittelalters im 18. und 19. Jahrhundert nationalstaatliche Verengung findet, und nach dieser „Übergangsperiode“ (Stichweh 2003: 16) erst wieder im 20. Jahrhundert eine Universalisierung und Globalisierung von Wissensressourcen, Wissensorganisation, wissenschaftsinternen und -externen Öffentlichkeiten, Popularisierung und massenmedialer Aufbereitung erfährt. Man mag dies als strukturelle Kontinuität lesen oder nicht, instruktiv ist die Argumentationsführung allemal.
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moderner Weltgesellschaft; systemisch, das scheint nah an Parsons formuliert, als Ausdifferenzierung von kulturellem Bedeutungshintergrund, Sozialorganisation und zunehmenden Freiheitsgraden des Individuums. „Nation und Nationalstaat stehen (...) zwischen der Einbindung in traditionsgesicherte lokale Zusammenhänge und der Unübersichtlichkeit der Weltgesellschaft als jenem emergenten Sozialsystem, das weltweit alle denkbaren Kommunikationen zur Einheit eines und nur eines Systems zusammenführt. (...) Im Kontrast zur Unübersichtlichkeit der Weltgesellschaft bietet die Nation eine relativ stabile Identifikation für Personen, denen herkömmliche lokale ‚settings’ eine hinreichende Erwartungssicherheit hinsichtlich ihrer eigenen Lebensbedingungen nicht mehr garantieren können“ (Stichweh 2000b: 51-52).
Weltgesellschaft und Nationalgesellschaften stellen in diesem Sinne keinen Widerspruch, sondern einen untrennbaren Bedingungszusammenhang dar. Der hochabstrakte Charakter einer singulären, funktional differenzierten Weltgesellschaft verhindert jegliche Identifikationsmöglichkeit. Der Nationalstaat hingegen setzt dem die allgemeinste Ebene eines kleinsten gemeinsamen Nenners entgegen und erweist sich darin als die institutionelle Standardisierung einer weltgesellschaftlichen normativen Erwartungsstruktur – eine singuläre Weltkultur, wie Stichweh im Anschluss an Immanuel Wallerstein und die Weltgesellschafts-Forschungsgruppe um John Meyer formuliert (Stichweh 2000a: 40-41; Stichweh 2000b: 54-59). Anders als das Argument einer einzigen Weltkultur und eher im Anschluss an die gesellschaftstheoretischen Überlegungen Parsons’ macht er darin allerdings weniger das Ergebnis strukturellen Drucks auf globaler Ebene aus, als einen tatsächlichen Bedingungs- und Steigerungszusammenhang. Weltkultur ist dann nicht als Hinweis auf Homogenisierungstendenzen zu lesen, sondern auf Heterogenität bei gleichzeitiger Zunahme gegenseitiger Abhängigkeit von kulturellem Hintergrund und nationaler Partikularität. „Damit ist gemeint, daß kulturelle Deutungssysteme dann der Realität der Weltgesellschaft besser angepaßt sind, wenn sie inklusiv operieren können, d.h. einen Platz für konkurrierende Deutungssysteme vorsehen können“ (Stichweh 2000a: 44). In eine ganz ähnliche Stoßrichtung geht auch Dirk Richters These der „Nation als Form“ (Richter 1996). Auch er fasst Nation nicht als tatsächliche Einheit konkreter Personen, sondern als einen (Selbst-)Beobachtungsmodus, der durch semantische Ein- und Ausschlussbeschreibungen soziale Phänomene in einem weltgesellschaftlichen Kontext beobacht- und kommunizierbar macht. In der Asymmetrisierung von innen und außen liegt dann deren Eindeutigkeit bzw. Sinn konstituierende Funktion (Richter 1996: 11, 253; Richter 2001: 105-106; Nassehi/Richter 1996: 153156).185 Dabei geht auch Richter von einem unmittelbaren Entstehungszusammenhang von Weltgesellschaft und Nation aus: „Erst die kommunikative Verdichtung in der Weltgesellschaft zwingt dazu, semantische Grenzen zu ziehen, zwischen ‚uns’ 185 Die dann erst in der Vermittlung über Medien – Nationalsprachen, vorgestellte Gemeinsamkeiten und Symboliken, geteilter historischer Erfahrungshintergrund – ihre eigentliche Form gewinnt (Nassehi/Richter 1996: 156).
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und den ‚anderen’ zu unterscheiden“ (Richter 1996: 253). Das Zwingende dieser Entwicklung liegt dann einerseits in der analog zur Einheit der Person gedachten Bereitstellung von Zurechnungsadressen. Andererseits in der Bereitstellung von Identitätssicherung in einer Gesellschaftsstruktur, die chronisch mit MultiInklusionsproblemen der Person in verschiedene funktionale Teilsysteme belastet ist, die „(...) das Individuum allein bewältigen muß“ (Nassehi/Richter 1996: 159). Gerade darin erweist sich die Nation – gegen die Voraussagen der Modernisierungstheorie – eben nicht als überflüssig. Je höher die Verunsicherung des Individuums, desto stärker die Nachfrage nach nationalen Auffangsemantiken. Neben dieser strukturellen Aussage lässt sich aus der Sicht Richters gerade auch ein evolutionärer Zusammenhang formulieren: „Wenn es aber stimmt (...), dass die Evolution zur modernen Gesellschaft zugleich eine Evolution zur Weltgesellschaft darstellt, dann muß es eine partikular-staatliche Beobachtung der Weltgesellschaft schon seit einigen Jahrhunderten geben“ (Richter 2001: 106). In der Tat findet Richter bereits im Mittelalter erste Hinweise auf national-partikulare Selbstbeschreibungen, die sich bis in die Gegenwart sich je verstärkend durchziehen (Richter 1996: 255-257). Schließlich wundern sich auch Georg Weber und Armin Nassehi über die Persistenz von „vermeintlich vormodernen Formen kollektiver Vergemeinschaftung“ (Nassehi 1997: 190). Und auch sie interpretieren diese zunächst nicht als anachronistische Überbleibsel, sondern als zentrale Brücken- bzw. Ersatzfunktion (Nassehi 1990: 269, 289). In diesem Sinne plädiert Nassehi dafür, „(...) ethnische und nationale Semantiken als Kompensation für den Verlust identitätsverbürgender Weltbilder anzusehen (...)“, deren Funktion darin liegt „(...) mit dem Modernisierungsprozeß verbundene Integrationskrisen abzumildern“ (Nassehi 1997: 190; auch Nassehi/Weber 1992: 24). So ist davon auszugehen, dass der Prozess der Ablösung einer religiösen Universalbeschreibung durch die wertgeneralisierende, identitätsverbürgende Kommunikation der Kultur – kurz: Säkularisierung – seine Entsprechung in der Freisetzung des Individuums aus fixierten Rollenerwartungen – kurz: Individualisierung – und der Wiedereinholung derselben durch nationale Semantiken findet. Der kompensative Effekt liegt in der Bereitstellung einer Totalperspektive bzw. der Eindeutigkeit von Zurechnungsadressen einerseits und der Vollinklusion der aus vormodernen Gemeinschaften entlassenen, nun vereinzelten Individuen andererseits (Nassehi/Weber 1990: 287, 289; Nassehi/Weber 1992: 27; Nassehi 1990: 264; Nassehi 1997: 196; Nassehi 2003b: 195). Nach diesem Verständnis zählen Konstruktionen wie die von Nation und Ethnie also zur „(...) notwendigen Ausstattung gesellschaftlicher Kommunikation im Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft (...)“ (Nassehi/Weber 1990: 287; Betonung im Original). Trotz aller Differenzen der dargelegten Perspektiven lassen sich diese aus Sicht der Untersuchung auf einen gemeinsamen Kritikpunkt hin bündeln. Ihnen allen gemeinsam ist die Beobachtung, dass sich die zu erwartende Verabschiedung von askriptiven Zuschreibungen im Verlauf der Modernisierung nicht erfüllt hat. Die
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verschiedenen Perspektiven gehen demgegenüber von einem ko-evolutiven Zusammenhang von Nation und Moderne aus, der sich aus der Erfahrung eines Verlusts traditioneller Bindungen erklärt. Die Kompensations- bzw. Brückenfunktion zwischen der per se Einheit suggerierenden Perspektive einfacher Gesellschaften und der Divergenz funktionaler Differenzierung übernimmt aus dieser Sicht die Nation, die – Parsons’ Verständnis scheint hier nach wie vor stil- und theorieprägend – in der Bereitstellung eines gemeinsamen Integrationshintergrunds Einheit auch gegen auseinanderstrebende Momente herstellen kann. Was derartigen Interpretationen zugutezuhalten ist, ist der Wunsch im Untersuchungsobjekt Nation zugleich weniger und mehr zu sehen. Weniger, da zunächst von integrationsorientierten Annahmen Abstand genommen wird. Mehr, da Semantiken wie die der Nation oder des Volks nicht als archaische Überreste interpretiert werden sollen. Als Krux erweisen sich allerdings die voraussetzungsreichen Beobachtungsbedingungen einer unterstellten Geselligkeit von Gesellschaft (Integration als Vorbedingung sozialer Ordnung) und einer Auffangbedingung individueller Psychen (also letztlich nichtsozialer Einheiten). In der Folge hat sich gerade Armin Nassehi um eine neue theoretische Herangehensweise bemüht, die auf eine von integrativen Voraussetzungen ausgehende Auffangsemantik psychischer Zustände verzichtet. Auffällig ist in diesem Zusammenhang zunächst die Umstellung zentraler Begrifflichkeiten. Orientierte sich die theoretische Auseinandersetzung Nassehis zuvor noch an Bezeichnungen wie „Volk“, „Nation“ und „Ethnie“, finden diese ihre Ablösung im Begriff der „Kollektivität“. Damit scheint die Untersuchung einen größeren Abstand zwischen sich und denjenigen Integrationsunterstellungen bringen zu wollen, auf die sie es als ihrem Gegenstand abgesehen hat. Kollektivität gewinnt dabei insofern herausragende Bedeutung, weil sie für Nassehi zur Problemformel des Politischen schlechthin wird (Nassehi 2002: 38; Nassehi 2003a: 150; Nassehi 2006: 347). Ausgangspunkt der Überlegungen ist jedoch zunächst die Beobachtung, dass in der modernen Selbstbeschreibung das Politische aufs engste mit der Dualität von Staat und Gesellschaft konnotiert ist. Zwei Versionen dessen lassen sich beobachten: Auf der einen Seite stehen die Lesarten, die den Staat als administratives System der Gesellschaft gegenüberstellen, die als Ort kritischer Willensbildung jene erst mit Leben erfüllt und darin gewissermaßen für das Ganze im Ganzen steht. Auf der anderen Seite stehen die Versionen, die in Politik einen funktionalen Teilbereich der modernen Gesellschaft neben anderen sehen und darin zur Gleichsetzung mit dem Staat tendieren. Ziel der Überlegungen Nassehis ist es, die Funktion des Politischen neu zu bestimmen und dabei die Identifizierung mit dem zu vermeiden, was sich aus seiner Sicht als eigentliches Bezugsproblem des Politischen herausstellt – Kollektivität, oder besser: die Voraussetzung von Kollektivität (Nassehi 2003a: 133-134, 137-139). Denn gerade dem kann sich aus Nassehis Sicht auch die Luhmann’sche Behandlung des Politischen letztlich nicht entziehen. Während dieser die Funktion
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von Politik – das wurde in Kapitel 6.2.3 dargelegt – als das Bereithalten der Kapazität kollektiv bindenden Entscheidens bestimmt, berücksichtigt dies für Nassehi zu sehr die Aspekte der Bereitstellung von Entscheidungsverfahren, kollektiver Legitimation und gewaltbereiter Durchsetzung. Das aber verweist primär auf Organisationsbildung und damit auf die prominenteste Institution des Politischen – den Staat (Nassehi 2002: 45; Nassehi 2006: 342-343). Mit anderen Worten: Die Luhmann’sche Behandlung des Politischen atmet allzu sehr den „Geist der staatlichen Stabilität“ (Nassehi 2002: 57). Die Ursache dafür ist schnell gefunden, denn „[W]eniger theoretische Aufmerksamkeit erfährt dabei der Aspekt der Kollektivität, der ja gerade deshalb im verborgenen bleibt, weil die Kollektivität des Politischen immer schon vorausgesetzt wurde, schon um das Paradox der Souveränität zu verdecken, und das scheint mir auch für Luhmanns Politik der Gesellschaft zu gelten“ (Nassehi 2002: 45; Betonung im Original). In Abgrenzung dazu und in Erweiterung der Funktionsbestimmung Luhmanns schreibt Nassehi dem Politischen entsprechend die Funktion der Bereitstellung von Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit ein. „Das Medium, in dem solche Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit hergestellt wird, sind unterstellte Kollektivitäten, für die Sichtbarkeit und Transparenz kollektiv wirksamer Kausalitäten ebenso hergestellt wie diese dadurch erst erzeugt werden. Politische Entscheidungen unterscheiden sich von anderen Entscheidungen vor allem dadurch, dass sie per Entscheidung einen Entscheidungsraum entfalten, in dem – in unvermeidlicher Tautologie – Entscheidungen für all jene bindend sind, für die sie bindend sind. Diese Erweiterung der Funktionsbestimmung im Hinblick auf die Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit von Kollektiven appelliert also exakt an jenes definiens des Politischen, nämlich an jene adressierbare Kollektivität, die ihrer selbst ansichtig werden muss, um sich im Konfliktfall an die Entscheidung zu binden beziehungsweise an sie gebunden zu werden“ (Nassehi 2003a: 149; Betonung im Original).
Mit anderen Worten: Das Politische ist ebenso auf die Sichtbarkeit generierende Funktion von Kollektivität angewiesen wie sie diese letztlich voraussetzen muss, um überhaupt zum Entscheidenden zu kommen – zu ihren Entscheidungen (Nassehi 2006: 335).186 Daran bestimmt sich in Nassehis Verständnis nicht zuletzt die Effektivität von Macht als dem Medium des Politischen. Denn diese setzt ebenso einen Raum voraus, in dem bereits eine „Art wechselseitiger Transparenz“ (Nassehi 2002: 47) anzutreffen ist wie sie zugleich „Sichtbarkeiten erzeugen“ (Nassehi 2002: 47) muss, um überhaupt Entscheidungen fällen und diesen bindende Wirkung auch gegen anderslautende Ansichten verleihen zu können. Sichtbarkeit, das räumt Nassehi ein, ist jedoch keine exklusive Eigenschaft des politischen Systems. Während sich auch andere Funktionssysteme mit Sichtbarkei186 In der Wahrheitsprätention liegt entsprechend die Besonderheit einer derartigen Lösung, denn exakt „[A]uf diese Denkungsart baut das unbändige Vertrauen aller Demokratietheorie auf, dass das Volk, jene amorphe, aber mit einem Willen ausgestattete black box, tatsächlich der Wahrheit näher ist. Das Volk und sein generalisierter Wille ist insofern eine black box, als es in modernen Formen des Politischen als tatsächlich blinder Fleck fungiert, hinter den man nicht zurück kann“ (Nassehi 2006: 316; Betonung im Original).
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ten versorgen, das Ökonomische etwa am Medium des Geldes, liegt die Besonderheit im politischen System darin, Eindeutigkeit und Zurechenbarkeit in der Simulation der Erreichbarkeit gesamtgesellschaftlicher Räume zu erzeugen (Nassehi 2003a: 150; Nassehi 2006: 345). „Damit inszeniert das politische System letztlich Gesellschaft als eine zurechenbare Einheit. Das politische System macht damit aus Gesellschaft als zunächst abstraktem Horizont aller möglichen Kommunikationen, also aus einem alles Soziale umfassenden, in der Moderne sich längst seit zwei Jahrhunderten als Weltgesellschaft darstellenden Zusammenhangs, Gesellschaften“ (Nassehi 2003a: 150; Betonung im Original).
Das Zentralproblem des Politischen erweist sich für Nassehi also weniger als eines sachlicher Steuerung, sondern als eines der sozialen Erzeugung von Kollektivität. Sachprobleme werden im politischen System überhaupt nur in der Sozialdimension bearbeitet und eben daran weisen sich Kollektivitäten nicht als Gesellschaften, sondern als politische Zurechnungsgrößen aus (Nassehi 2002: 49-51; Nassehi 2003a: 150-151; Nassehi 2006: 336, 348). Gerade diese Orientierung an Sichtbarkeit hat jedoch das Politische unweigerlich als Chiffre für soziale Ordnung, d.h. für die Gesellschaft als Ganze stehen lassen (Nassehi 2002: 40, 48). „Es ist letztlich der Basso continuo der Selbstbeschreibungen von Gesellschaften als politische Gemeinwesen, die die Modernität ihres Selbstbildes ausgemacht haben. Der Nationalstaat beziehungsweise seine funktionalen Äquivalente scheinen also – bis heute – der ‚gesellschaftliche’ Ort der Moderne zu sein“ (Nassehi 2002: 41; Betonung im Original). Während nicht weiter geklärt wird, welche funktionalen Äquivalente dies sein mögen, geht es Nassehi doch gerade darum, das Politische jenseits des Staats zu bestimmen (Nassehi 2006: 345). Vor diesem Hintergrund interessiert sich Nassehi primär für Kommunikationen, die außerhalb des Staats, aber innerhalb des Politischen liegen, eben weil sie die Möglichkeit simulieren, „(...) so zu kommunizieren, als halte man sich in adressierbaren Kollektiven auf – und diese Kommunikationen nehmen selbst dann politische Formen an, wenn sie nicht die Chance haben, in konkrete Entscheidungen umgesetzt zu werden“ (Nassehi 2002: 51; Betonung im Original). Gemeint sind damit gerade die Äußerungen von Intellektuellen, Feuilletonisten, Protestbewegungen und Alternativbeschreibungen radikalisierter Façon. Der Nationalstaat erweist sich also als der gesellschaftliche Ort der Moderne und die Soziologie als dessen ureigenste Fürsprecherin. Denn manifestiert sich die Eigenheit der Moderne für Nassehi exakt daran, dass der Begriff der Gesellschaft in der Sozialdimension gebildet wird, so scheint dies umso mehr für die gesellschaftstheoretische Beschreibung zu gelten. In der normativen Behandlung eines normativ strukturierten Gegenstands entdeckt Nassehi entsprechend nichts weniger als die „doppelte Normativität der ‚soziologischen’ Moderne“ (Nassehi 2003a: 133). „Soziologie entstand dort, wo sich ein Beschreibungsproblem stellte, das einerseits mit kontingent handelnden Akteuren mit gewissen Freiheitsgraden im je eigenen Verhalten rechnen musste, das andererseits die Bedingungen anzugeben hatte, unter denen sich diese Freiheitsgrade zugunsten
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie sozialer Ordnung einschränken ließen. Der soziologischen Beschreibung der Gesellschaft ist also ihrerseits ein Primat der Sozialdimension, der Formierung des Gesellschaftlichen als Kollektiv individueller Akteure vor der Zeitdimension (Evolution, Geschichte) und der Sachdimension (Differenzierung von Bezugsproblemen) eingeschrieben“ (Nassehi 2006: 353).
Während die soziologische Behandlung des Sozialen im Modus von Integrationsansprüchen an nationalstaatlich verfasste Gesellschaften sicher nicht von der Hand zu weisen ist, ergeben sich doch theorietechnische Einwände gegen eine Funktionserweiterung wie Nassehi sie vornimmt. Denn Witz und Aussagekraft bezieht die Systemtheorie ja gerade aus der Annahme, dass jedes funktionale Teilsystem eine, und nur eine, Leistung für die Gesamtgesellschaft erfüllt. Die Erweiterung der Funktion des Politischen durch Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit im Medium der Kollektivität unterwandert allerdings diese grundlegende theoretische Bedingung. Mehr noch: Nimmt man die Annahme ernst, dass mit der Funktion der Vergleichsbezugspunkt benannt ist, auf den hin das funktional Äquivalente im gesellschaftsstrukturell Verschiedenen sichtbar wird (Luhmann 2002: 87), läuft die Erweiterung Nassehis auf ein erstaunliches Maß an behaupteter soziostruktureller Kontinuität auf. Während kollektiv bindendes Entscheiden unter modernen Bedingungen zeitdimensional einen unbekannt bleibenden Zukunftshorizont erzeugt, sozialdimensional mit der Bindung des Entscheiders rechnet und sachdimensional zwischen vorhergehenden und nachfolgenden Entscheidungen unterscheidet, geschieht dies unter Bedingungen der segmentären, Zentrum-Peripherie und stratifikatorischen Differenzierung je ganz anders. Die Funktion des Politischen kann nicht in jeder gesellschaftlichen Differenzierungsstruktur als Herstellung von Zurechenbarkeit und Sichtbarkeit durch Kollektivität gedacht werden, eben weil diese aus Voraussetzungen lebt, die ganz modern sind. Während sich über derartige Einwände als allzu theorietechnisch selbstverliebte durchaus hinwegsehen lässt, scheint es jedoch angebracht, den von Nassehi allgemein angewandte Maßstab von Performanz und Ästhetik auch an dessen eigene Argumentation anzulegen. Die nachfolgenden Überlegungen verstehen sich also unter der Fragestellung, welches Problem gelöst wird, wenn die Problemformel des Politischen Kollektivität und nicht kollektiv bindendes Entscheiden lautet. Dabei sticht zunächst hervor, dass die Funktionsbestimmung des Politischen in der Sozialdimension seltsam quer zur Idee funktionaler Differenzierung liegt. Und es fällt tatsächlich schwer zu glauben, dass die moderne Gesellschaft ihr Reproduktionsmuster in allen funktionalen Teilsystemen an der Unterscheidung von System und Umwelt verrechnet, außer eben im Politischen, das sich scheinbar an der Differenz von Inklusion und Exklusion orientieren soll. Was aber versteht Nassehi eigentlich unter der Sachdimension des Politischen, die dem System auf so rätselhafte Weise abzugehen scheint? Alles deutet darauf hin, dass hier von einem Verständnis ausgegangen wird, das an das Politische die Erwartung einer sachlich-objektiven, rationalen Kausalität von Entscheidungen durch Bereitstellung von entsprechenden Ver-
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fahren für Entscheidungsfindung, Legitimation und Durchsetzung stellt. Mit anderen Worten: Das Politische müsste sich eigentlich in der Form rekursiver Anschlüsse von Entscheidungen an Entscheidungen verrechnen (Nassehi 2006: 336). Dem steht aus Nassehis Sicht allerdings die mangelnde Sachkompetenz des politischen Systems entgegen, Erwartungen an gesellschaftliche Steuerung tatsächlich befriedigen zu können – sowohl in sachlicher Hinsicht wie auch angesichts des chronischen Negationspotentials von Entscheidungen (Nassehi 2002: 49). Das aber lässt auf eine Erwartungshaltung an politische Steuerungsfähigkeit schließen, die mit der restlosen Bearbeitung von Sachproblemen rechnet, die Nassehi allerdings in der typischen Selbstüberforderung des Politischen mit letztlich nicht politisch zu bewältigenden Problemen (Stichwort: Wohlfahrtsstaatlichkeit) gerade nicht antreffen kann. Denn das würde letztlich die „(...) Aufhebung des Politischen als Funktionssystem in Richtung eines gesellschaftlichen Supersystems erfordern (...)“ (Nassehi 2006: 347). Ein derartiges Verständnis aber muss mehr als erstaunen, geht es doch von einem verhältnismäßig schlichten Bild von Steuerungsfähigkeit aus, weil sie – so die Vermutung der Untersuchung – die Umstellung des Politischen auf die Kontingenz des Entscheidens grundsätzlich unterschätzt. Denn während sicherlich nicht von der Hand zu weisen ist, dass politische Entscheidungen nun einmal für diejenigen bindend sind, für die sie bindend sind, so lässt sich andersherum ebenso gut formulieren, dass nur das entschieden wird, was nun einmal entschieden wird. Es kann hier nur vermutet werden, dass sich Nassehi mit seiner Argumentation von einer Beschreibungsart des Politischen zu distanzieren sucht, die von der Steuerungsfähigkeit der Gesellschaft als Ganze ausgeht. Das müsste allerdings andersherum bedeuten, dass Steuerung nur dann erfolgreich simuliert werden kann, wenn sich Gesellschaft als hierarchisch durchstrukturiert ausweist, was die Denkbarkeit von Steuerung eigentlich ausschließen muss. Die Arbeit vermutet allerdings und zwar exakt gegen Nassehis Darstellung, dass noch nicht einmal die hier behandelten klassischen gesellschaftstheoretischen Ansätze von einem derart schlichten Zusammenhang ausgehen. Dazu gilt es, zunächst nochmals auf die Beschreibungen der frühen Neuzeit zurückzukommen. Denn was sich an den Schriften Machiavellis oder Bodins sehen lässt, ist das gegen die Kontingenz der herrschenden Verhältnisse in Stellung gebrachte Souveränitätsparadox der Bindung einer per se ungebundenen Gewalt. Entfalten bzw. bewältigen lässt sich dieses allerdings nur als selbstkontrollierte Willkür: Der Horizont möglicher Entscheidung bemisst sich an der personengebundenen Fähigkeit, Entscheidungen als selbstinduzierte Unruhe so weit wie möglich auszuschließen, um die ruhebedürftigen Bedingungen nicht zu beunruhigen. Mit Demokratie stellt das System dahingegen auf „Kontingenz des Entscheidens“ (Luhmann 2002: 101) um und exakt das macht Entscheidungen jetzt erst verantwortungsfähig, d.h. zurechenbar. Das entspricht ebenso den Bedingungen der funktional differenzierten Gesellschaft wie es exakt darauf angewiesen ist, eben weil sich das politische System an
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der chronischen Überforderung durch in erster Linie ökonomische bzw. wohlfahrtsstaatliche und dann erst pädagogische, wissenschaftliche, religiöse, kulturelle u.a. Steuerungsprobleme irritieren lässt und daran die notwendige Unbestimmtheit seiner selbst gewinnt. Mit anderen Worten: Das System versorgt die moderne Gesellschaft mit genau der Politik, die sie eigentlich gar nicht will, eben weil Entscheiden nur im Kontext des Unentscheiden zu haben ist. Und damit ist zumindest eines sichergestellt: „Es gibt garantiert immer etwas zu tun“ (Luhmann 2002: 216). Die eigenartige Tendenz des Politischen, das Ganze im Ganzen zu repräsentieren, lässt sich dann auch ganz differenzierungstheoretisch deuten. Denn in der Tat markiert das System als die Einheit seiner Unterscheidung ja die „universale“, weil eigenlogische Form im Medium der Macht (neben Wissen, Liebe, Geld, Sinn etc.), in die sich die Gesellschaft bringt, um sich über sich selbst Auskunft zu geben. Das System schließt sich aus Sicht der Arbeit also exakt an der Stelle, an der es nicht mehr um Zähmung von Kontingenz, sondern um deren vollständige Freigabe geht. Was sich dann allerdings wiederum an Machiavellis und Bodins Problemformulierung sehen lässt, ist, dass Entscheidungen nicht mehr Sicherheit und Kalkulierbarkeit in das System induzieren, sondern im Gegenteil mehr Unsicherheit und Uneindeutigkeit. Entscheidungen klären eben nicht endgültig und abschließend – sie erzeugen vielmehr als Unterscheidungen, die einen Unterschied machen, die ganz eigenen Bedingungen ihrer Möglichkeit. Das aber, darauf verweisen gerade klassische gesellschaftstheoretische Ansätze, ruft immer und zwangsläufig Kritik hervor, eben weil sich die moderne Gesellschaft nur als Zwei-Seiten-Form der Annahme oder Ablehnung von Kommunikation kennt. Man muss mit anderen Meinungen rechnen und sehr wahrscheinlich werden sie dazu zwingen, weitere Entscheidungen zu treffen, ohne damit vorwegnehmen zu müssen, welche das sind. Das erweist sich als geradezu konstitutiv für die moderne, an Individualinteressen, der Unterscheidung von Kapital und Arbeit, an Arbeitsteilung oder funktionaler Differenzierung beunruhigten Gesellschaft. Nassehi behandelt allerdings nicht nur den sachdimensionalen Aspekt des Politischen erstaunlich reduziert. Er pflegt darüber hinaus auch ein Verständnis, das Dissens überraschend starkmacht, um dem eine ebenso wirkmächtige Einheit entgegenzusetzen. Und es besteht Grund zur Annahme, dass sich beide Beobachtungen gegenseitig bedingen. Denn zwei Versionen der Beschreibung von Einheit und Divergenz sind für Nassehi problem- bzw. feldbestimmend: Die von individueller Interessendivergenz her kommende, darin aber schon mit Tendenzen zur Gesellschaft ausgerüstete Metapher des (Hobbes’schen) Vertrags und die von Gesellschaft ausgehende Beobachtung radikaler Interdependenz auseinanderstrebender Momente, aufgefangen in der Durkheim’schen Metapher des Organischen (Nassehi 2002: 47-48; Nassehi 2003: 144; Nassehi 2006: 325, 328-329, 349, 362). Ein derartiges Verständnis scheint jedoch exakt dahin zu tendieren, Widerstreit und Differenz als diejenige „phänomenologisch frühere Größe“ (Nassehi 2006: 345; Betonung im
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Original) zu behandeln, die sie eigentlich in Kollektivitäten am Werke sieht. Dass allerdings auch die Benennung des Differenten immer schon eine Vergleichsbeobachtung voraussetzt, die das Ähnliche mitbestimmt und darin zugleich den gemeinsamen Bezugspunkt setzt, scheint hier seltsam in den Hintergrund zu treten. Genau hier könnte also der blinde Fleck der Betrachtungen Nassehis liegen. Denn geht dessen Kritik in erster Linie dahin, dass Kollektivität als Heilmittel für Dissens als feld- und disziplinbegründende Problemformel letztlich immer schon vorausgesetzt ist, steht nach dem bislang Dargelegten zu bedenken, ob den „klassischen“ Ansätzen die Kontingenz und Praxisbedingung von Kollektivität und politischer Entscheidung vielleicht nicht schon deutlicher vor Augen steht, als die Beschreibung Nassehis dies implizieren mag. Auf nichts anderes scheint zumindest die Beobachtung aufzulaufen, dass die Eigenart moderner gesellschaftlicher Bedingungen darin liegt, sich aus sich selbst heraus als Bedingungen der Gesellschaft hervorzubringen, die auf Ergänzung angewiesen sind. Das aber verweist tatsächlich auf eine Praxis, die sich daran bewährt, Differenzen und Auseinandersetzungen in geeignete Bahnen zu lenken. So lassen sich etwa Parsons’ Hinweise zur schwarzamerikanischen Bevölkerungsminderheit gerade dahin gehend lesen, dass es eine politische, weil eben entscheidbare Frage ist, diese weiterhin auszugrenzen oder aber zu integrieren. Für welche Option man sich nun auch immer entscheiden mag, sicher ist, dass weitere Konflikte folgen werden – mit der nach wie vor unter Segregation leidenden Bevölkerung oder den Gegnern einer Gleichstellungspolitik. Man kann sich also letztlich entscheiden, ob es für den Fortbestand der amerikanischen Gesellschaft leichter fällt, die Ungleichheit ökonomischer, pädagogischer, wissenschaftlicher, religiöser, kultureller Rechte im Verweis auf politische Gleichheitsrechte je anzupassen oder sich auf weitere Konfliktlagen einzustellen. Der Zusammenhang zwischen starker Dissensbeschreibung und ebenso deutlicher Betonung von (simulierter) Totalperspektivität tritt aber auch an Nassehis Behandlung des Kriegs als dem „klassischsten“ aller Mittel zur Erzeugung von Kollektivität, der „politischsten“ Form der Formierung politischer Räume, deutlich hervor (Nassehi 2006: 359-360). Denn während sich gewalttätige Konflikte als geradezu konstitutiv für die europäische nationalstaatliche Moderne erweisen, speist sich die Selbstbeschreibung derselben allein aus ihren harmonischen Elementen. Oder wie Nassehi es selbst formuliert: „Der Krieg galt und gilt letztlich als das ganz andere der befriedeten, westlichen Modernität; vielleicht ist der Krieg die radikalisierte dunkle Seite der Moderne, eine subkutan wirkende Markierung der anderen Seite einer Unterscheidung, die unsichtbar bleiben muss, aber doch immer mitbezeichnet wird, weil sie unterschieden wird“ (Nassehi 2006: 365-366; Betonung im Original).187 Man mag nun der Beschreibung von hellen und dunklen Seiten der Moderne 187 Interessant ist an dieser Stelle, dass ausgerechnet dieses Argument von Vorstellungen einer „multiple“ oder „entangled modernity“, wie sie Shmuel Eisenstadt oder Shalini Randeria formulieren, nicht als Hinweis auf eine sich hinter der aufgeklärten, befriedeten Moderne verbergende dunkle Gegenmoderne
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folgen oder nicht, ohne zu vergessen, dass es diese selbst ist, die derartige Unterscheidungen hervorbringt. Und man muss auch das Argument der integrativen Logik von gewalttätigen Konflikten nicht anzweifeln, um dennoch darauf hinzuweisen, dass Dissens kein unabhängiger Erklärungsstatus’ zukommt. Denn mit dem Verschiedenen ist eben immer auch schon das Ähnliche und der gemeinsame Vergleichsgesichtspunkt benannt. Nicht umsonst geben Denker von Machiavelli über Schmitt und Clausewitz bis hin zu Parsons und Luhmann zu bedenken, dass Gewalt keine Eigenlogik zukommt, eben weil sich damit letztlich auch nur verhältnismäßig wenig erreichen und wissenschaftlich erklären lässt. Während sich auf der anderen Seite die Politikwissenschaft schon immer für die Rolle von Gewalt bei der Formierung des modernen Staatensystems interessiert hat (so etwa Tilly 1990), sind es gerade neuere Untersuchungen, die die Zwangsläufigkeit einer derartigen Interpretation deutlich konterkarieren. So geht etwa Hendrik Spruyt davon aus, dass strukturelle Variationen im internationalen System in zwei Schritten erfolgen: als evolutionäre Emergenz verschiedenartiger neuer Formen der Institutionalisierung und einer darauffolgenden Phase der Bewährung und Selektion (Spruyt 1994: 7). Es soll und kann an dieser Stelle nun gar nicht entschieden werden, welche von beiden Varianten zu bevorzugen ist. Worum es allerdings geht, ist darauf hinzuweisen, dass wissenschaftliche Erläuterungen ihre eigene Plausibilität immer an sich selbst mitliefern. Und so spricht Nassehis Appell, die gegenwärtig zu beobachtende Entstaatlichung des Kriegs durch fundamentalistischen Terrorismus und ethno-religiöse Bürgerkriege als Chance für die soziostrukturelle und soziologische Entstaatlichung von Gesellschaft zu nutzen, genau eine Sprache, die von Dissens als einer unabhängigen Variable auszugehen scheint (Nassehi 2006: 364-365). Die ambivalente Stellung des Kollektivitätsbegriffs zeigt sich darüber hinaus auch dort, wo es um Globalisierung und Transnationalisierung geht. Derartige „Diagnosebegriffe“ (Nassehi 2002: 55) aber sprechen aus Nassehis Sicht für die gegenwärtige „Tragik des Politischen“ (Nassehi 2002: 51), dass sich Sach- und Sozialdimension in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr ohne weiteres miteinander in Einklang bringen lassen, eben weil sich der „(...) innere Machtkreislauf politischer Schließung, der ohne Rest auf Adressierbarkeit und kommunikative Erreichbarkeit angewiesen ist (...)“ (Nassehi 2002: 52-53), nicht unproblematisch auf die globale Ebene übertragen lässt. Das erinnert sehr an Carl Schmitt und dessen Feststellung, dass Menschheitsbegriffe keine politischen Begriffe sind, weil ihnen jegliche ausschließende Logik abgeht. Auch hier zeigt sich erneut das „Alleinstellungsmerkmal“ von Differenz in Nassehis Denken, der als Gegenüber von Identität scheinbar unhintergehbare Bedeutung zukommt. Das bedeutet nicht, dass die Untersuchung damit kosmopolitischen Ordnungskonzepten das Wort redet. Wohl aber plädiert sie gelesen wird, sondern geradezu als konstitutives Moment und Bestätigung der Moderne (siehe hierzu genauer Kapitel 7.1).
6.2 Die systemtheoretische Verabschiedung vom integrativen Fokus soziologischer Beschreibung
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dafür, nicht hinter ein Verständnis zurückzugehen, das die Reproduktion der Gesellschaft als die Einheit der Unterscheidung von Identität und Differenz fasst, um sich dann für das „Wie“ einer operativen Anschlusspraxis zu interessieren. Ein Verständnis wie das Nassehis, das mit einer ruhelos-dynamischen globalisierten Wirtschaft einerseits und einer behäbigen, weil bürokratisch-durchrationalisiert und in der Wertsphäre gebildeten, nationalstaatlichen Politik andererseits rechnet, bleibt dann vielleicht selbst allzu sehr dem Bild der klassischen Moderne verhaftet (Nassehi 2002: 55-56). Und läuft damit auf die Frage auf, worin denn eigentlich die Unbedingtheit der Unbedingtheit des Kollektiven für das Politische liegt. Was sich an Nassehis Behandlung des Politischen also insgesamt abzuzeichnen scheint, ist eine seltsam asymmetrische Reformulierung des Reflexionszirkels von Identität und Differenz. Denn aus dessen Sicht unterscheiden sich politische Entscheidungen von anderen Entscheidungen ja gerade dadurch, dass sie per kollektiv bindender Entscheidung die Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit als dem Definiens des Politischen herstellen, die ihrer selbst ansichtig werden muss, um sich an ihre eigenen Entscheidungen zu binden. Oder anders formuliert: Die im politischen Prozess erzeugte Kollektivität übernimmt die Funktion der Visibilisierung eines politischen Prozesses, dem es um nichts anderes geht als um die Herstellung von Kollektivität (Nassehi 2003a: 162). Vor diesem Hintergrund erklärt sich wohl auch die seltsame Ambivalenz in Nassehis Beschreibung der Formierung des Politischen im Medium der Macht und im Medium der Kollektivität, ist die Verdoppelung von Handlungsmöglichkeiten im Medium der Macht doch zunächst und zuvorderst auf Transparenz im Medium der Kollektivität angewiesen, die die politische Entscheidung erst herstellt, indem sie sie voraussetzt. Das aber weist ein weiteres Mal darauf hin, dass eine derartige Darstellung ihren blinden Fleck dort hat, wo sie Dissens als wegzuarbeitendes Gegenüber von Identität behandelt. Denn sieht Nassehi in Kritik, die sich selbst immer mit dem Index des Vernünftigen (als dem Notwendigen im Kontingenten) versieht, ein Gegenargument gegen sachdimensionale Steuerungsfähigkeit, so müsste entsprechend das Antreffen von Verschiedenheiten, die sich mit dem Index des Identischen (als dem Notwendigen im Kontingenten) versorgen, eine Verunsicherung der Sozialdimension des Politischen gefunden sein. Exakt hier wähnt Nassehi jedoch Problem und Lösung des Politischen überhaupt: die Bereitstellung von Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit. Der Visibilisierung bedarf allerdings nur, was ansonsten als selbstverständlich Vorausgesetztes im Dunkeln bleiben würde. Mit anderen Worten: Das Medium der Kollektivität hält sichtbar, was sich unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft eigentlich schon gar nicht mehr sichtbar machen lässt, worauf das Medium der Macht allerdings für die Erfüllung seiner Funktion der (gewaltbereiten) Bindung gegen Widerstand angewiesen ist.188 Von 188 Es sei hier nur am Rande darauf hingewiesen, dass in der modernen Gesellschaft mit Hilfe organisierter staatlicher Sanktionsgewalt gerade auch das durchgesetzt wird, was gar nicht unbedingt politischen Ursprungs (sprich: Privatverträge) ist.
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hier aus lässt sich nun annehmen, dass Nassehi Kollektivität als funktionales Äquivalent für die eineindeutige Hierarchie der stratifizierten Gesellschaft als Sichtbarkeitsindex politischer Herrschaft par excellence fasst. Denn während sachdimensionale Steuerungserwartungen vor dem Hintergrund der offensichtlichen Kontingenz (Kritik) des Notwendigen (Vernunft) in der modernen Gesellschaft herausfallen müssen, ist es aus Nassehis Sicht exakt die Kontingenz in der Sozialdimension (Dissens), die das Notwendige (Identität) als Form des Politischen erzeugt und – im Notfall auch gewaltsam – durchsetzt. Damit soll nicht bestritten werden, dass es nicht die politische Entscheidung ist, die als Unterscheidung, die einen Unterschied macht, den Schnitt zwischen Konsens und Dissens, Herrscher und Beherrschte, Drohung und Belohnung legt. Aber sie tut das eben immer auch im Wechsel zwischen je verschiedenen Mitteln und Zwecken, ja sie sieht exakt die Relativität dessen in sich selbst vor. Für das Medium der Macht bedeutet das, dass es nicht zu einem (kausalen) Anhängsel des Mediums der Kollektivität wird, sondern zum Machtkreislauf des demokratischen Systems. Vor diesem Hintergrund könnten sich auch die von Nassehi ins Feld geführten Kommunikationen von Protestbewegungen, Intellektuellen und radikalisierten Weltentwürfen weniger daran ausweisen, dass sie adressierbare Kollektivitäten unabhängig vom Staatlichen simulieren, sondern exakt daran, dass sie sich am Staatlichen im Sinne eines machtpolitischen Zurechnungssystems als ihrer Differenz orientieren. Denn der Intellektuelle zeichnet sich ja nicht nur daran aus, dass er weiß, wovon er spricht, sondern dass er es letztlich besser weiß, gerade weil er das Wissen der anderen mitbeobachten kann. Ähnlich scheint es sich mit Protestbewegungen und fundamentalistischen Weltsichten zu verhalten, die von der Alternativität ihrer Visionen und Weltanschauungen leben, um gerade darin erstaunlich alternativlos daherzukommen. Beide aber beziehen ihre Aussagekraft letztlich daraus, nicht zurechenbar zu sein, eben weil nicht am machtpolitischen System beteiligt. Vielleicht liegt die Ästhetik einer Kritik wie der Nassehis letztlich darin, sich selbst nicht so ganz der im Feld des Politischen beobachteten „Ästhetik des Kollektiven“ (Nassehi 2002: 48) entziehen zu können. Dieser Hinweis versteht sich nun allerdings weniger als Bestätigung, sondern dahin gehend, dass letztlich die Kritik selbst noch vom Kritisierten profitiert. So lebt die Darstellungsart Nassehis gerade auch daraus, zwischen soziologischer Auf- und Abklärung hin und her zu oszillieren. Auf der einen Seite steht dabei das Demaskieren von und der Zoom auf Verstecktes, Vorausgesetztes und Ungesehenes des Politischen. Das lässt sich an Formulierungen wie „basso continuo“ (Nassehi 2002: 41), subkutan (Nassehi 2002: 55), „simuliert“ (Nassehi 2002: 46) „god-terms“ (Nassehi 2003a: 146; Betonung im Original), „säkularisierte Theologismen“ (Nassehi 2002: 50), hellen und dunklen Seiten (Nassehi 2006: 357-366) oder an Chiffren, die für die Selektivität von Selektivität stehen (Nassehi 2006: 310-312), ablesen. Auf der anderen Seite spricht daraus allerdings immer auch eine Erwartungshaltung, die in der Aufdeckung „quasi-religiöser“
6.3 Von Funktion zu Risiken
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Bezüge des Politischen, vielleicht auch das noch – ganz der Logik der Moderne entsprechend – zu „säkularisieren“ hofft. Diese Erwartung richtet sich nicht zuletzt an die eigene Disziplin, die bis heute und „wider besseres soziologisches Wissen“ (Nassehi 2002: 48) eingelebten normativen Routinen einer normativen Gegenstandskonstitution endgültig hinter sich zu lassen (Nassehi 2002: 55). Während dieser Appell durchaus nachvollziehbar ist, so versteht er sich doch primär vor dem Hintergrund, dass Gesellschaftstheorie erst dort auftaucht, wo sie es mit einem (vorausgesetzten und selbsterzeugten) Raum des Appellierbaren zu tun bekommt – wo sie sich angesichts von Differenz als auf Einheit abstellende Praxis selbst erzeugt. Eine derartige Beobachtung kann ob ihrer Voraussetzungen allerdings nur die Praxislosigkeit soziologischer Beschreibungspraxen zu Gesicht bekommen. Vielleicht lässt sich abschließend nur darauf hinweisen, dass die Tendenz auf die eine (die Sozialdimension betonende) oder auf die andere (mehr auf den sachdimensionalen Aspekt fokussierende) Seite letztlich eher eine Frage des Geschmacks als eine der Realität des Gegebenen ist. Jede Version handelt sich ganz eigene Probleme ein, indem sie ihre Beobachtungsbedingungen entweder zu sehr an der Voraussetzbarkeit von Differenz oder zu sehr an der vorweggenommenen Einhegung von Macht im Staat stabilisiert. Über die Plausibilität dessen aber müssen andere entscheiden. 6.3 Von Funktion zu Risiken: Die subpolitische Wiedereinholung einer riskanten Gegenwart „In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken“ (Beck 2003: 25; Betonung im Original).189 So der erste Satz der 1986 erschienen „Risikogesellschaft“ von Ulrich Beck, die der Theorie einer zweiten, reflexiven Moderne breite Aufmerksamkeit weit über die Grenzen der Soziologie hinaus zusichern sollte. Wie kaum einer anderen Beschreibung scheint es der These der Risikogesellschaft im Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu gelingen, eine qualitativ neue Bedrohungslage auf den Punkt zu bringen. Wenn auch noch im Schatten des Ost-West-Konflikts entstanden, ist die Diagnose nahezu unabweisbar, dass inzwischen weniger die ideologische Großwetterlage für Gefahren an Leib und Leben der Menschen verantwortlich ist, sondern ökologische Katastrophen. Das scheint einem Jahrzehnt zu entsprechen, dem die Konsequenzen der Modernisierung erstmals deutlich vor Augen stehen: Klimaveränderungen, Umweltverschmutzung, ho189 Luhmann übernimmt den Begriff in die Unterscheidung von Risiko und Gefahr als Zurechnungsfrage zwischen Zeit- und Sozialdimension. Ob die Zukunft als Risiko, d.h. als zufälliges Einstellen von Nachteilen, oder als Gefahr, d.h. als Rückrechnung von Katastrophen auf das eigene Handeln, zu deuten ist, hängt von der Perspektive als Entscheider oder Betroffener ab (Luhmann 1993b; Luhmann 1996).
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her Verbrauch nicht-erneuerbarer Ressourcen oder die Nukleartechnologie erzeugen, ob der Langfristigkeit der Nachwirkungen, der Unvorhersehbarkeit ihrer Folgen, neuen Handlungsdruck. Das findet seine Entsprechung in der Gründung von Umweltorganisationen und Grünen Parteien und in der gesetzlichen Festlegung von Grenzwerten und erlaubten bzw. verbotenen Inhaltsstoffen. Doch nicht nur ökologische Folgen geraten in den Blick. Auch der Prozess der Individualisierung geht nicht spurlos an Institutionen wie Familie, Geschlechterbeziehung, Erziehung, Arbeitsverhältnis und nationalem Zusammenhalt vorbei. Der Strukturwandel moderner Volkswirtschaften zu Dienstleistungsgesellschaften, Absatzkrisen und Konjunkturtiefs, Wirtschaftswachstum ohne Beschäftigungszuwachs lassen die Arbeitslosenzahlen erstmals seit den Aufschwungjahren der Nachkriegszeit enorm ansteigen. Das und die fortschreitende Alterung der Gesellschaft stellen den modernen Wohlfahrtsstaat vor neue Herausforderungen. Fortschritte in Medizin und Technologie verlängern nicht nur das menschliche Leben, sondern reproduzieren es nun auch auf künstliche Weise. Entschlüsselung und Eingriffe in den Genpool von Mensch, Tier und Pflanze verunsichern die Grenzen von Natur und Kultur und eröffnen erneut Fragestellungen, ob erlaubt ist, was machbar ist. All dies führt für Beck gerade eines in aller Deutlichkeit vor Augen: Eine mit globalen Risikolagen konfrontierte Gesellschaft kann dies nicht den Problemfeldern selbst überlassen, sondern muss auf effektive Steuerungsmechanismen setzen. 6.3.1 Die Subpolitisierung des Politischen Nah an der Durkheim’schen Beschreibung sozialen Wandels formuliert, beobachtet auch Beck eine Erhöhung von Dichte und Volumen der sozialen Beziehungen in den vergangenen Jahrzehnten, die mehr und mehr die Grenzen des Nationalstaats sprengen. Globalisierung gilt ihm als Prozess der Denationalisierung, der einerseits die grundlegenden Prämissen der Moderne in Frage stellt und andererseits neue Räume (sub-)politischen Handelns, neue transnationale Organisations- bzw. Handlungsnetzwerke und Akteure, neue Identitäten und Machtchancen erzeugt (Beck 1997: 25-30, 34, 46; Beck 2002b: 396). Dass es überhaupt so weit kommt, liegt in der Industriemoderne selbst verborgen, die sich im bloßen Betreiben ihrer selbst gegen ihre eigenen Grundlagen wendet. Sie verselbständigt bzw. radikalisiert sich in dem Maße von selbst, in dem nicht mehr ihre Entscheidungen, sondern deren unintendierte Nebenfolgen zum Motor des Sozialen werden (Beck 1993: 12-13, 25-26, 185). Mit anderen Worten: Die Moderne ist Opfer ihres eigenen Erfolgs und eben das geschieht (anders als von den klassischen Modernisierungstheorien erwartet) nicht im Kontext eines revolutionären Umbruchs, sondern als latente Nebenfolge ganz unfreiwillig, unreflektiert und irreversibel (Beck 1993: 36; Beck 2003: 19, 104105; Beck/Lau 2005: 110). Eben daran gerät die alte Welt der Moderne „aus den
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Fugen“ (Beck 1993: 58) ihrer traditionellen Institutionen: Nationalstaat, nationaler Wirtschaftsmarkt, Familie, Beruf, Klasse, Wissenschaft etc. erweisen sich ob der neuen Risiken als zutiefst ungeeignet und überfordert. In der Folge verlieren sie ebenso an Durchsetzungskraft wie an Legitimität. Die aus ihren traditionellen Lebensformen und Selbstverständlichkeiten entlassenen Individuen aber erfahren ihre Umwelt als zunehmend kontingent, unsicher und begründungsbedürftig (Beck 2003: 20; Beck/Lau 2005: 110; Beck et al. 2004: 15-16). Das eigentliche Problem (und dessen Lösung) liegt für Beck jedoch in der virtuellen Natur der Risiken. Es fehlt diesen an Eindeutigkeit, die sich auch und gerade nicht mit Hilfe wissenschaftlicher Expertise und Forschung herstellen lässt. Gerade das muss die Erwartungen an wissenschaftliche Einsichten überfordern, variieren Risiken doch mit dem Blickwinkel, aus dem sie betrachtet werden. Andersherum ist es die den globalen Gefährdungslagen immanente Herstellung diffuser Betroffenheit, die eine ganz neue Qualität universaler Gleichheit zeitigt, die jeden Einzelnen zum authentischen und einzig legitimen Risikoexperten seiner selbst macht (Beck 2003: 28-29, 35-37, 68-69, 111). Es ist diese immanente Unbestimmtheit und potentiell universale Betroffenheit von Risikolagen, die aus sich selbst heraus weniger Konsens als Dissens produziert und darin die gegenwärtige Erfahrung der Individualisierung von Risiko- und Folgenzurechnung grundsätzlich zu unterstützen scheint. Das trägt allerdings weniger zur Verbesserung als zur Verschlimmerung der Lage bei, steigern sich Risiken doch mit deren Unkenntnis und mangelnder Vorsorge für alle Beteiligten erheblich. Gerade daran bringt sich in Becks Verständnis die Notwendigkeit politischer Entscheidungen quasi von selbst hervor. Das aber setzt zunächst ein (globales) Bewusstsein der veränderten Lage voraus: Es gilt einzusehen, dass Risiken weder Sache von wissenschaftlicher Definition noch von individuellem Erdulden sind, sondern gesellschaftsübergreifender Reflexion und argumentativer Vermittlung bedürfen. Dem kommt grundlegende Bedeutung zu, denn „(...) bereits diese Konflikte [über Verständnis von und Umgang mit Risiken – Anm. d. Verf.] selbst haben eine integrative Funktion, indem sie deutlich machen, daß globale Lösungen gefunden werden müssen und diese nicht etwa durch Krieg, sondern durch Verhandlungen herbeizuführen sind. Lösungen sind ohne neue globale Institutionen und Regelwerke – und damit: ohne ein gewisses Maß an Konvergenz – kaum denkbar. An den grenzübergreifenden Langzeitfolgen und Erwartungen des Unerwarteten entzünden und etablieren sich somit transnationale Risikogemeinschaften, Folgen-Öffentlichkeiten, die zu einer ‚unfreiwilligen Politisierung’ der Weltgesellschaft führen“ (Beck/Holzer 2004: 428; Betonung im Original).
Der öffentliche Aushandlungsprozess konstituiert dann beides zugleich: kosmopolitische Kollektivität und Rückgewinnung der Gestaltungsfähigkeit einer riskanten Welt. An der Anerkennung von Risiken als Risiken gewinnen diese die „objektive Gemeinsamkeit einer globalen Gefährdungslage“ (Beck 2003: 61; Betonung im Original) und darin wiederum die Möglichkeit, diese durch Zurechnung, Kostenverteilung, Absicherung, Wiedergutmachung, Abwendung oder Erduldung in institutionelle Bahnen zu lenken. Andersherum eröffnet der Reflexionsprozess ebenso einen
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gemeinsamen Sinn- und Diskurshorizont wie einen „(...) Verantwortungs- und Handlungsraum (...), der, analog zum nationalen Raum, politisches Handeln zwischen Fremden stiften kann (nicht muß)“ (Beck/Holzer 2004: 430; Betonung im Original).190 Die Einheit einer Weltrisikogesellschaft macht darin die Ungleichheit regionaler Betroffenheiten von Risiken ebenso sichtbar wie ertragbar, weil diese in den solidarischen Horizont einer kosmopolitischen „Schicksalsgemeinschaft“ (Beck 1997: 62) eingelassen sind. Die Unhintergehbarkeit des sozialen Status von Risiken sichert Beck wiederum durch Selbstzurechnung ab: Gefährdungslagen konstituieren in diesem Verständniszusammenhang „(...) gerade kein Problem der uns umgebenden Welt – kein sogenanntes ‚Umweltproblem’ – (...)“ (Beck 1993: 46). Leugnen macht Risiken also weder ungesehen noch ungeschehen. Im Gegenteil: Gerade damit geht ein „Anwachsen der Gefahr“ (Beck 2003: 61) einher. Man kann dem schlichtweg nicht entkommen, nur sich dessen bewusst werden. Die Beschreibung gerät darin konstativ und normativ zugleich. Einerseits herrschen aus Becks Sicht bereits die Bedingungen einer zweiten Moderne, „(...) in die wir längst hineingeschlittert sind (...)“ (Beck 1993: 14). Andererseits hat man es nach wie vor mit den Halbierungen einer einfachen Moderne nationaler Gesellschaften zu tun (Beck 1993: 92). Eben dagegen muss Globalisierung als „(...) politisches Projekt begriffen und gestaltet (...)“ (Beck 1997: 228) werden und zwar durch eine, gemessen an nationalstaatlicher Politik, geradezu „subversive Form des Politischen“ (Beck 1997: 173): „Das Politische bricht jenseits der formalen Zuständigkeiten und Hierarchien auf und aus, und dies wird gerade von denjenigen verkannt, die Politik mit Staat, mit dem politischen System, mit formalen Zuständigkeiten und ausgeschriebenen politischen Karrieren gleichsetzen“ (Beck 1993: 156; Betonung im Original). Globalisierung ist also gerade nicht – so Becks Kritik – gleichbedeutend mit der Unterwerfung unter eine entpolitisierte Sachzwanglogik wie gemeinhin irreführend behauptet wird. Blind für die soziale Natur von Risiken muss die herrschende Meinung darin das Politisierungspotential einer genuin globalen Entwicklung verfehlen. Denn gerade die nicht-diskriminierende Natur globaler Gefährdungslagen zwingt ausnahmslos alle zur Auseinandersetzung mit diesen, an der sich ebenso neue Mitsprachechancen bislang nicht beteiligter Gruppen – Bürger, Öffentlichkeit, soziale Bewegungen, Experten, Berufstätige, zivilcouragierte Einzelne – wie neue, formelle und informelle, institutionelle und außerinstitutionelle Gestaltungsräume – Rechtsprechung, Medienöffentlichkeit, Privatheit, soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen – bilden (Beck 1993: 168, 200; Beck 1997: 217). Dieser explizite „Ausbruch des Politischen“ (Beck 1997: 13; Betonung im Original) hat dann nicht nur die Umkehrung des Verhältnisses von politisch und unpolitisch zwischen einfacher und reflexiver Moderne zur Folge. An ihr manifestiert sich letztlich die Steige190 Gerade das kann aus der Sicht Becks in der reflexiven Moderne nur mehr symbolisch ausfallen und nicht mehr durch Gewalt hergestellt werden (Beck 1997: 122, 124).
6.3 Von Funktion zu Risiken
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rung der gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten, weil nun bearbeitbar wird, was bislang in den nationalstaatlichen Institutionen entzogen war (Beck 1993: 33). Oder wie Beck an die Adresse der Systemtheorie formuliert: Gegen die Rigidität und strikte Trennung in funktional geschlossene Einzellogiken gewinnt die reflexive Moderne an dem ihr innewohnenden Drang zur funktionalen Koordination die Steuerungsfähigkeit ihrer selbst zurück (Beck 1993: 78). Daran macht sich in diesem Verständniszusammenhang nicht weniger als die Erfindung des Politischen an und für sich fest. Gemeint ist damit, dass die reflexive Moderne politisches Entscheiden erstmals an Bedingungen politischen Entscheidens selbst rückbindet, sich also nach deren eigenen Maßstäben als ganz säkularisiert erweist. An den Risiken versorgt sich die Gesellschaft also selbst der „(...) lebensweltliche[n] Grundlagen für einen weltbürgerlichen Republikanismus (...)“ (Beck 1997: 26; Betonung im Original). Subpolitik ist eben „[N]icht nur regelausführende, sondern auch regelverändernde Politik, nicht nur Politiker-Politik, auch Politik der Gesellschaft, nicht nur Machtpolitik, auch Gestaltungspolitik, Kunst der Politik“ (Beck 1993: 17-18; Betonung im Original). Das macht die Risikogesellschaft letztlich sozialer als es der Verfassungsstaat der nationalstaatlichen Ära jemals sein konnte, eben weil dieser immer noch mit askriptiven Bedingungen der Zugehörigkeit arbeiten musste. Mit der Subpolitisierung als bewusster Gestaltung und Wahrnehmung neuer Handlungsräume aber gewinnt die Gesellschaft ob universaler, unfreiwilliger Risikobetroffenheit an der inzwischen entpolitisierten Institution des Nationalstaats vorbei das Politische zurück (Beck 2003: 372).191 Das sich dann allerdings explizit nicht als Weltstaat konstituieren kann, denn „Weltgesellschaft meint nicht Weltstaatsgesellschaft oder Weltwirtschaftsgesellschaft, sondern eine nicht-staatliche Gesellschaft, d.h. ein Aggregatzustand von Gesellschaft, für den territorialstaatliche Ordnungsgarantien, aber auch die Regeln öffentlich legitimierter Politik ihre Verbindlichkeiten verlieren“ (Beck 1997: 174; Betonung im Original).192 Der Nationalstaat verschwindet damit nicht, vermag allerdings auch nicht mehr die Einheitlichkeit von territorialen Grenzen, kultureller Bindung, Solidarität und Institutionalisierung zu simulieren wie noch wenige Jahre zuvor (Beck/Lau 2005: 132). Er reiht sich neben 191 Gerade das rückt für Beck das Politische zusehends näher an Kunst und Ästhetisierung: „Politik, politische Institutionen sind niemals irgendwo abgelesen, abgelauscht, aus unwandelbaren Naturgesetzen abgeleitet, sondern immer erfunden worden. Politik und Kunst, aber auch Technik tragen diese Siegel der Selbstschöpfung. Die Geschichte des Politischen ist in diesem Sinne eine Geschichte der Erfindung des Politischen (...). Kurz, ebenso wie in der griechischen Antike die Formen der lokalen, im 18. und 19. Jahrhundert die Formen der nationalen müssen heute die Formen der globalen Demokratie neu erfunden werden“ (Beck 1993: 18, 19). 192 In Becks Verständnis kommt Europa dabei eine ebenso führende wie beispielhafte Bedeutung als institutioneller Testfall zu. Denn „[N]ur im transnationalen Raum Europa kann die einzelstaatliche Politik vom Objekt drohender zum Subjekt gestalteter Globalisierung werden“ (Beck 1997: 262). Allein das vermag den „(...) Vorrang der Politik, die demokratisch kontrollierbare gesellschafts- und wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit für die kooperierenden Staaten wiederherstellen“ (Beck 1997: 263).
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Netzwerken und Verhandlungsforen als Verhandlungsstaat ein und übernimmt eine Art Regiefunktion zwischen selbstorganisationsfähigen und -unfähigen Interessen (Beck 1993: 216-217, 224, 226; Beck 1997: 227-228; Beck 2002b: 367). Das alles steht aus Becks Sicht nicht nur im Range eines Epochenwandels, sondern konstituiert einen grundlegenden strukturellen Wandel des Gesellschaftskonzepts hin zu Fließ- und Hybridformen, Ambivalenzen und Kreolisierung (Beck et al. 2004: 23; Beck/Lau 2005: 112, 114; Beck/Holzer 2004: 431). Die Institutionalisierung der Risikogesellschaft manifestiert sich entsprechend nicht mehr an askriptiven Klassen- und Nationenzugehörigkeiten, sondern an Bündnissen, die „(...) punktuell, situations- und themenspezifisch und durchaus wechselnd mit unterschiedlichen Gruppen aus unterschiedlichen Lagen geschlossen und wieder aufgelöst [werden]“ (Beck 2003: 159). Dass diese Art der Risikobearbeitung selbst nicht ohne Konsequenzen bleibt, ist für Beck klar. Es ist dann nicht nur mit Erneuerung, sondern auch mit einer Gegenmoderne zu rechnen, die der herrschenden Verunsicherung und Uneindeutigkeit die Gewissheit und Fraglosigkeit übersteigerter Nationalismen und Ethnizismen entgegenzustellen sucht (Beck 1993: 100-107, 114, 119; Beck/Lau 2005: 119-121). Gerade das muss die Sache allerdings nur schlimmer machen, denn „[W]er national denkt, handelt, forscht, wird überrollt, umgestürzt, sieht die Welt aus ihren Angeln treten“ (Beck 2002b: 376). Ob der selbstverstärkenden Tendenz von Risiken tritt eigentlich nur umso deutlicher die unbedingte Notwendigkeit soziostruktureller Überarbeitung hervor. 6.3.2 Das globalisierte Individuum: Der Einbruch des Subpolitischen in die privaten Lebensbahnen Die moderne Gesellschaft, diese Diagnose Becks wurde bereits erwähnt, wird von ihrem eigenen Erfolg eingeholt – nicht zuletzt auch in den ihr innewohnenden individualisierenden Tendenzen. Der aus sich selbst heraus unwillkürlich hervorgebrachte neuerliche Enttraditionalisierungsschub setzt die Einzelnen aus den althergebrachten Kollektivitäten der Moderne – Klasse, Stand, Schicht, Nation – frei und bietet diesen so ganz neue Entfaltungsmöglichkeiten. Ganz auf sich selbst zurückgeworfen, sind sie allerdings im Beck’schen Verständnis erneut auf die Formierung solidarischer Kontexte angewiesen. Die Kernfragen der zweiten Moderne erweisen sich dann ein weiteres Mal als Identitätsfragen (Beck 1997: 182). In Parallelität zur Freisetzung der Menschen aus den ständisch-feudalen Strukturen gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfahren die Individuen am Ausgang des 20. Jahrhunderts eine ganz ähnliche Herauslösung, nun allerdings aus den traditionellen industriegesellschaftlichen Bindungen von Nation, sozialer Klasse, Familie, Geschlecht, Ehe, Elternschaft, Profession bzw. Beruf, denn „Betroffenheit und Nichtbetroffenheit polarisieren nicht wie Besitz und Nichtbesitz“ (Beck 2003: 52). Es ist die diffuse Diffe-
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renzlosigkeit globaler Gefährdungslagen, die die Individuen aus ihren ursprünglichen Lebensbedingungen befreit, indem sie die Einzelnen zu (Folgen-) Betroffenen und (Risiko-)Produzenten gleichermaßen macht und sie eben darin dazu ermächtigt, selbstverantwortlich aufzutreten als einzig denkbare und legitime Entscheidungsinstanzen ihrer selbst (Beck 1993: 50). Der Zurechnung kann sich die Person grundsätzlich (und auch nicht durch Nichtentscheiden) nicht entziehen, obwohl gerade dies prekärerweise und unbeabsichtigt stets neue Risiken zeitigt und so erneut Entscheidungszwänge erzeugt. In diesem Sinne reproduziert die Risikogesellschaft das politische Subjekt der modernen Gesellschaft als Betroffenheitsindividuum, das immer wieder von den unbeabsichtigten, aber selbstproduzierten Nebenfolgen eigenen Handelns eingeholt wird und dem doch nichts anderes als erneute (riskante) Entscheidungen entgegensetzen kann (Beck 2003: 65). „Die Nebenfolge der Nebenfolge ist die Freisetzung der Individuen aus dem Rollenkäfig der Institutionen, die Renaissance von Begriffen wie Handlung, Subjektivität, Konflikt, Wissen, Reflexion, Kritik, Kreativität. (...) Strukturen zerstören Strukturen und räumen so Subjektivität und Handlungen Entfaltungsmöglichkeiten ein. (Dies gelingt allerdings nur in dem Maße, in dem neue Strukturen ge- und erfunden werden, die Handeln ermöglichen)“ (Beck 1993: 63; Betonung im Original).
In diesem Satz liegt die Krux der Beschreibung Becks, an dem sich die Steigerung eines unmittelbaren Bedingungszusammenhangs von Individuum und Gesellschaft manifestiert. Ist das Individuum zugleich Ursache und Opfer selbsterzeugter Risiken, unter deren Folgen zwangsläufig auch andere zu leiden haben und ohne sich dem Entscheidungszwang entziehen zu können, erweist sich dessen Handeln grundsätzlich als ex ante legitimationsbedürftig und erst ex post beurteilbar (Beck 1993: 197). Daran aber (sub-)politisiert sich ebenso die individuelle Biographie wie das Soziale. Denn sind inzwischen unterschiedslos alle Entscheidungen ob ihrer potentiellen Nebenfolgen auf Rechtfertigung angewiesen, so setzt dies für Beck einen gemeinsam geteilten Verständnis- bzw. Legitimationshintergrund voraus, vor dem sich Argumente bewähren – oder eben nicht. Das können die althergebrachten Institutionen einer ersten Moderne von Familie über Klasse und Schicht bis hin zur Nation nicht mehr leisten, denn diesen fehlt es an normativem Integrationspotential. „Das Kollektivschicksal ist in den klassenzusammenhanglosen, individualisierten Lebenslagen zunächst zum persönlichen Schicksal, zum Einzelschicksal mit nur noch statistisch vernommener, aber nicht mehr (er)lebbarer Sozietät geworden und müßte aus dieser Zerschlagung ins Persönliche erst wieder zum Kollektivschicksal zusammengesetzt werden“ (Beck 2003: 144; Betonung im Original). Ein solches kann keinesfalls den veralteten, askriptiven Mustern der Industriemoderne folgen, sondern muss sich am Individuum selbst orientieren, das an der (normativen) Rechtfertigungspraxis seiner Handlungen die eigene Identität und den solidarischen Hintergrund gleichermaßen erzeugt. Das Individuum wird darin zum „(...) Akteur, Konstrukteur, Jongleur und Inszenator seiner Biographie, seiner Identität, seiner sozialen Netzwerke, Bindungen, Überzeugungen (...). Schlicht gesagt, meint ‚Individualisierung’: den Zufall
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie industriegesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten sowie den Zwang, ohne Selbstverständlichkeit für sich selbst und miteinander neue ‚Selbstverständlichkeiten’ zu finden und zu erfinden“ (Beck 1993: 151; Betonung im Original).
Was also früher rechtlich verbindliche Vorgabe, institutionalisiertes Verfahren oder Klassenschicksal war, liegt in der Risikogesellschaft biographisch quer. Die Kontinuität und Gegebenheit einer Normalbiographie der ersten Moderne wird von einer „’Bastelbiographie’“ (Beck 1993: 152; Betonung im Original) der zweiten Moderne abgelöst, die es zur Aufgabe des Individuums macht, durch Selbstreflexion kontinuierlich die eigene Identität herzustellen, zu revidieren, zu behaupten oder neu zu kreieren (Beck et al. 2004: 17). Das aber kann nur in dialogischer Auseinandersetzung mit und am Anderen gelingen. Konstitutiv für das Selbst wird damit die Unterscheidung vom Anderen als Anderen (Beck 2002a: 73). Oder anders gesagt: An der irreduziblen Widersprüchlichkeit von Identitäten und Loyalitäten gewinnt ebenso der Einzelne wie das Gesellschaftliche je Gestalt (Beck 2002a: 72). Die Fähigkeit, mit Ambivalenz und Unsicherheit umgehen zu können, weist sich dann als „zivilisatorische Schlüsselqualifikation“ (Beck 2003: 102; Betonung im Original) des Einzelnen aus. Darin aber liegt im Beck’schen Verständnis nichts weniger als die Vervollständigung des Versprechens der Moderne, Ergebnis allein individueller Entscheidungen zu sein. Unter diesen Umständen wird „[D]er oder die einzelne selbst (...) zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“ (Beck 2003: 119; Betonung im Original). Die Risikogesellschaft erweist sich gerade darin für Beck als individueller und sozialer zugleich, weil grundsätzlich entscheidungs- und gestaltungsoffener. Denn setzt die Auflösung klassischer sozialer Milieubindungen und Institutionen die Individuen frei, kehren diese über die subpolitische Aktivierung in die Gesellschaft zurück (Beck 1993: 155). Oder nochmals anders formuliert: Bricht der emanzipative Effekt universaler Risiken althergebrachte, askriptive Klassen- und Nationszugehörigkeiten auf, produzieren Fragen der Betroffenheit, Zurechenbarkeit, Umverteilung, Zurückweisung oder Erduldung von Risiken und deren Folgen erneut soziale Konfliktlinien, an denen die Gesellschaft die Gestaltungsnotwendigkeit und -fähigkeit ihrer selbst zurückgewinnt (Beck 2003: 152, 155, 157). 6.3.3 Riskante Zukunft: Nebenfolgen und ihre Nebenfolgen „Risikogesellschaft heißt: Die Vergangenheit verliert ihre Determinationskraft für die Gegenwart. An ihre Stelle tritt die Zukunft, also etwas nicht Existentes, Konstruiertes, Fiktives als Ursache gegenwärtigen Erlebens und Handelns. Wenn wir über Risiken reden, streiten wir über etwas, das nicht der Fall ist, aber eintreten könnte, wenn nicht jetzt sofort das Ruder herumgeworfen wird“ (Beck 1997: 171; Betonung im Original).
In Becks Denken, das zeigt das Zitat, schlägt sich der Schritt von der einfachen zur reflexiven Moderne gerade auch zeitdimensional nieder. Für ihn ist es erstmals nicht
6.3 Von Funktion zu Risiken
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eine nationalstaatlich vorstrukturierte Vergangenheit, die das Handeln der Gegenwart bestimmt, sondern die Ausrichtung auf einen genuin offenen Zukunftshorizont. Dabei ist es aus dieser Sicht die Unausweichlichkeit und zugleich Unkalkulierbarkeit riskanter Nebenfolgen, die die Zukunft aus Sicht der Gegenwart so grundlegend verunsichert. Die Unabsehbarkeit künftiger Risiken aus heutigen Entscheidungen erzeugt zwangsläufig Uneindeutigkeit und Unübersichtlichkeit und darin fundamental den „(...) Verlust des bisher geltenden Fortschrittsvertrauens (...)“ (Beck 2003: 329). Daran verlieren in Becks Denken Voraussagen allerdings keineswegs ihre Funktion. Im Gegenteil: Je unkalkulierbarer die Zukunft, desto unverzichtbarer die handlungsleitende Relevanz von Prognosen für die Gegenwart. Die Produktion von sozialer Bedeutung und Eindeutigkeit verschiebt sich daran zusehends in die Zukunft als einer „’projizierten Variable’“ (Beck 2003: 45). Die „Zukunftsfähigkeit“ (Beck 1993: 247) von Entscheidungen bestimmt sich dann mehr und mehr daran, ob es gelingt, in der Erwartung des Unerwartbaren dieses mitzubestimmen und darauf vorbereitet zu sein. In der Risikogesellschaft sind es also die Prognosen von heute, die den Ausschlag für die Betroffenheit von Risiken und deren Nebenfolgen von morgen geben und damit zugleich Perspektive und Entscheidungsspielraum in Abhängigkeit erwartbarer Konsequenzen reduzieren bzw. strukturieren. Es ist der fiktive Status von Gefährdungen, an dem sich ebenso die Unkalkulierbarkeit einer Zukunft manifestiert wie die Angewiesenheit auf Prognosen, denen wiederum zukunftsverändernde Wirkung eignet (Beck 2003: 43-44). Oder wie Beck es prägnanter formuliert: „Das Zentrum des Bewußtseins liegt nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft. (...) Wir werden heute aktiv, um die Probleme oder Krisen von morgen und übermorgen zu verhindern, abzumildern, Vorsorge zu leisten – oder eben gerade nicht“ (Beck 2003: 44; Betonung im Original). Das treibende Element der Gesellschaftsgeschichte konstituiert sich dann weniger am Wissen um eine bessere Zukunft, als am Risiko einer schlechteren solchen (Beck 1993: 13, 71). Nur so kann ein „’Zukunftsschock’“ (Beck 2003: 364) erfolgreich abgewendet werden. Daran verkürzt und verlängert sich die Perspektive zugleich. Einerseits ist bis weit in die Zukunft und in einem globalen Ausmaß mit Folgen zu rechnen, die schon heute produziert werden. Das setzt aus dieser Sicht voraus, dass nicht mehr je partikulare (nationale) Zeitverhältnisse vorherrschen, sondern ein quasi „’zeitkompakte[r] Globus’“ (Beck 1997: 46). Andererseits verkürzt sich der unmittelbar sichtbare Abschätzungshorizont beträchtlich, da die Nebenfolgen heutigen Handelns morgen schon ganz andere Risiken bzw. Gefahren produzieren können und so ganz andere Entscheidungen erzwingen. Ein derartiges Verständnis muss also hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit dauerhafter Strukturen, wie sie noch der Nationalstaat der Moderne versprochen hatte, pessimistisch eingestellt sein (Beck 2003: 261).
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
6.3.4 Eine „Soziologie der Globalisierung“193: Die Rekonstruktion der Gesellschaftswissenschaft als kritisches Projekt Die Infragestellung der Bedingungen der einfachen Moderne kann aus der Sicht Becks dann allerdings nicht konsequenzlos für die wissenschaftlichen Beschreibungskategorien bleiben. Angesichts der Unüberschaubarkeit und Ambivalenz der Entwicklungen in der reflexiven Moderne müssen althergebrachte Methoden und Kategorien allerdings versagen, schulden sie sich doch einer ganz unreflektierten Epoche. Daran macht sich in Becks Verständnis der Bedarf nach neuen wissenschaftlichen Begrifflichkeiten und Methoden fest, anhand derer der neuen, noch ganz und gar unbegriffenen Entwicklung beizukommen ist (Beck 1993: 46, 50, 6163; Beck 1997: 182; Beck 2003: 16, 17). Dem entgegen steht allerdings jene „herrschende Begriffssklerose“ (Beck 1993: 62), die Beck auf den methodologischen Nationalismus als grundlegende Erkenntnisblockierung gegenwärtiger Sozialwissenschaft zurückführt (Beck 1997: 49-54). Denn „[D]ie Verknüpfung zwischen Soziologie und Nationalstaat reicht so weit, daß das Bild ‚moderner’, geordneter Einzelgesellschaften, das mit dem politischen Organisationsmodell Nationalstaat verbindlich wurde, durch den im besten Sinne fundamentalen Begriffslegungsanspruch sozialwissenschaftlicher Klassiker zum denknotwendigen Bild von Gesellschaft überhaupt verabsolutiert wurde“ (Beck 1997: 52).
Während die Sozialwissenschaft der einfachen Moderne aus dieser Grundbedingung erst – so Becks Kritik – die Eindeutigkeit ihrer Aussagen bezieht, muss dies der Ambivalenz und Verunsicherung einer riskanten Gegenwart aufs deutlichste widersprechen. Eine (territorial) parzellierte und darin begriffskonservativ gebaute Wissenschaft, wie sie der ersten Moderne eignet, muss die gegenwärtigen Prozesse eines tiefgreifenden Strukturwandels des Sozialen ebenso verkennen wie sie sich als letztlich ungeeignet für deren wissenschaftliche Beschreibung und Deutung erweist. Ist es doch die containerartige Beschränkung ihres Denkens, die sie daran hindert, eine entsprechende Perspektive zum herrschenden gesellschaftlichen Umbruch einzunehmen und daran wissenschaftlich gehaltvolle Aussagen zu gewinnen (Beck 1997: 49; Beck/Lau 2005: 108-109). „Das Projekt der Moderne, so scheint es, ist gescheitert“ (Beck 1997: 24), vermochte es doch auch in wissenschaftlicher Hinsicht nicht auf Dauer zu institutionalisieren, was es eigentlich versprochen hatte: eine vollständig säkularisierte Ordnung auf ebensolchen Grundlagen. Allerdings, es besteht Hoffnung auf Rettung des Projekts. Wenn sich auch die längst veralteten Sicherheiten und Eindeutigkeiten nicht mehr rekonstruieren lassen, so ist eine zeitgemäße Soziologie doch dazu in der Lage, ein valides Subjekt-ObjektVerhältnis durch systematische Auseinandersetzung und Hinterfragung der „Kardinalfehler der klassisch-linearen Modernisierungstheorie“ (Beck/Holzer 2004: 423) 193 Unmittelbar zititert aus Beck 1997: 48.
6.3 Von Funktion zu Risiken
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wiederzugewinnen. In kritischer Distanz zu den voraussetzungslos akzeptierten wissenschaftlichen Grundannahmen einer einfachen, nationalstaatlichen Moderne wurzelt für Beck also die Bedingungsmöglichkeit wissenschaftlicher Beobachtung in einer Epoche, die an sich keine Sicherheiten und Eindeutigkeiten mehr entdecken kann. Dahinter verbirgt sich im Beck’schen Verständnis nichts weniger als eine zweite Aufklärung, die zu Ende zu führen imstande ist, was die erste lediglich versprochen hatte, aber nicht halten konnte. Sie führt der Risikogesellschaft nichts weniger als die „(...) selbstverschuldete Unmündigkeit der ersten industriellen Zivilisation und ihrer Selbstgefährdungen (...)“ (Beck 1997: 171) vor. Dieser zweite Säkularisierungsprozess aber kann dann selbst nur von Ambivalenz, Unsicherheit und Pluralität geprägt sein, manifestiert sich daran doch die Ablösung einer ersten Entweder-oder-Moderne durch eine zweite des Sowohl-als-auch (Beck 1993: 59, 61; Beck/Lau 2005: 110, 115, 118; Beck et al. 2004: 15-16, 26). Zu distanzieren gilt es sich dann in Becks Verständnis in erster Linie vom rationalistischen Fortschrittsglauben, festgemacht an der universalen Institution des Nationalstaats, der ersten Moderne. Ob der immanenten Unbestimmtheit und Unabsehbarkeit von Risiken und deren Nebenfolgen verliert das evolutionäre Selbstbild eines universalen Entwicklungsprozesses gesellschaftlichen Fortschreitens notwendigerweise an Plausibilität (Beck 1993: 73, 195; Beck 1997: 51). An die Stelle der Linearität des Modernisierungsprozesses treten dann „zirkuläre Summen- und Bumerangeffekte“ (Beck 1993: 83; Betonung im Original), die sich nicht mehr einer einzigen (Zweck-)Rationalität fügen, sondern an einer Logik der Nebenfolgen orientiert sein müssen, die sich an den permanent wandelnden Situationsdefinitionen kontinuierlich verändern (Beck/Holzer 2004: 424; Beck 1993: 96). Entsprechend muss von einer Pluralisierung gesellschaftlicher Entwicklungspfade in verschiedene (zweite) Modernen ausgegangen werden, die sich allesamt keiner einheitlichen Richtungsvorgabe beugen (Beck et al. 2004: 18; Beck/Holzer 2004: 424, 438). Parallel dazu gilt es, sich vom unreflektierten Status traditioneller Kollektivitäten als soziologischen Grundkategorien zu verabschieden. Nicht Volk oder Nation konstituieren mehr die Grundeinheiten des soziologischen Blicks, sondern das Individuum (Beck 1997: 49-51; Beck 2003: 139). Ebenso fügt sich die Uneindeutigkeit der Risiken kaum mehr der Rigidität Eindeutigkeit simulierender, moderner binärer Unterscheidungen von links und rechts, innen und außen, politisch und unpolitisch, öffentlich und privat, Natur und Kultur. Soweit nun alles zur Risikofrage werden kann und darin (sub)politisierbar ist, d.h. entscheidungs- bzw. gestaltungsabhängig wird, konstituieren sich daran vielmehr inklusive Unterscheidungen (Beck 1993: 234-235; Beck/Lau 2005: 109, 122). Das wirkt nicht zuletzt auf die Theorie reflexiver Modernisierung selbst zurück, kann sie sich doch von sich selbst nicht ausnehmen: Denn „[Z]eichnet einfache Modernisierung(ssoziologie) das Bild von Strukturen reproduzierenden Akteuren, entwirft reflexive Modernisierung(stheorie) das Bild von Strukturen verändernden Akteuren. Die
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie klassische Dialektik von Struktur und Akteur wird gelockert, sogar umgedreht: Strukturen werden selbst zum Gegenstand sozialer Aushandlungs- und Veränderungsprozesse“ (Beck 1993: 90-91; Betonung im Original).
Die Beck’sche Theorie steht also nach ihrem Selbstverständnis zwischen jenem veralteten exklusiven Herrschaftswissen einer Eindeutigkeit suggerierenden nationalstaatlichen Moderne und der von postmodernen Theorien behaupteten vollständigen Auflösung jeglicher wissenschaftlicher Eindeutigkeit. In der Anerkennung der mit anderen Interpretationen konkurrierenden, wirklichkeitsverändernden und darin emanzipierenden Wirkung ihrer Aussagen vermag sich Soziologie als genuin kritisches Projekt der Gesellschaft zu rekonstruieren, das sich allein den selbstgegebenen Vorgaben schuldet (Beck 1993: 274). Befreit vom Zwang der Subsumption des Beobachteten unter eine prästabilisierte nationalstaatliche Logik gewinnt sie den übergreifenden Blick auf die verschiedenen Teilrationalitäten einer Gesamtgesellschaft, vermag diese über deren selbstverschuldetes Schicksal aufzuklären und eröffnet eben damit die Möglichkeit der Wiedereinholung der gesellschaftlichen Bedingungen (Beck 1993: 195; Beck 2002a: 83; Beck 2003: 297-299). 6.4 Fazit: Das integrierende Moment gesellschaftlicher Komplexitätssteigerung und globaler Risikolagen Sieht sich das lange 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund von Nationalstaatsbildung und Industrialisierung primär mit der Klärung und Stabilisierung verfassungsrechtlicher und ökonomischer Grundbedingungen konfrontiert, mündet dies im 20. Jahrhundert in einen beispiellosen Prozess der Individualisierung, Urbanisierung, Bürokratisierung und Rationalisierung, der in der enormen Stabilitätserfahrung der modernen Wohlfahrtsgesellschaft seinen Höhepunkt erreicht. Damit ist nicht gemeint, dass Erster und Zweiter Weltkrieg oder der unter dem Vorzeichen nuklearer Vernichtungsmacht stehende Kalte Krieg nicht Erschütterungen ihrer jeweiligen Zeit bedeuteten. Kaum eine andere Phase scheint jedoch ebenso sehr für die Erfahrung eines mit sprunghafter technologischer Entwicklung verbundenen ökonomischen Aufschwungs zu stehen, der einerseits ebenso zur Steigerung von Produktivität und Welthandel führt wie er andererseits ein Überangebot qualifizierter Arbeitsplätze schafft, die wiederum durch steigende Einkommen ein neues Maß an Wohlstand ermöglichen, wie die 1950er und 1960er Jahre. Der Staat sorgt für seine Bürger für den Fall von Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Rente und Tod mit Hilfe generationenübergreifender Versicherungs- und Sozialsysteme vor. Das erlaubt einem großen Teil der Bewohner der nördlichen Hemisphäre, sich verstärkt mit ganz anderen als den unmittelbar existentiellen Fragen zu beschäftigen und damit gerade auch einen ganz neuen Freiraum zu „entdecken“: Die Freizeit, die mit Hobbys wie Reisen, Sport oder Autofahren angefüllt werden kann. Diese Stabilitätser-
6.4 Fazit: Das integrierende Moment gesellschaftlicher Komplexitätssteigerung und globaler Risiken
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fahrung setzt zugleich einen hohen Grad an funktionaler Differenzierung der Gesellschaft voraus. Der Einzelne ist zur Bewältigung seines Alltags darauf angewiesen, dass eine unüberschaubare, hochkomplexe Struktur sich ganz selbstverständlich jeden Moment selbst reproduziert, dass sie tut, was sie tut, damit alles so weiterlaufen kann wie gehabt. Was die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts in erster Linie an sich selbst beobachtet, ist, dass sie zur Reproduktion ihrer selbst auf Differenzierung angewiesen ist, dabei aber ebenso auf Abhängigkeiten stößt. Andersherum zeichnet sich das moderne Subjekt dadurch aus, mit der Verschiedenheit unterschiedlicher Kontexte zurechtzukommen, ohne dass sich dies aus bloßem Zwang oder a priori Moralunterstellungen erklären ließe. Dieser Komplex markiert für Parsons das eigentliche Kernproblem des Systems moderner Gesellschaften, für das Differenzen ebenso konstitutiv sind wie die Abhängigkeiten, die daraus entstehen. Das versteht sich dabei weiterhin vor einem Hintergrund, der von einem Bedingungs- und Steigerungszusammenhang von Individuum und Gesellschaft ausgeht. Anders als bei Durkheim gewinnen gesellschaftliche Auseinandersetzungen aus der Sicht Parsons’ ihre Funktion allerdings nicht mehr als tiefgreifende Krise im Sinne einer quasi a-sozialen Ausnahmesituation, die nur in der vollständigen Überarbeitung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft geheilt werden könnte. Die Beschreibung Parsons’ nimmt auch das noch in sich hinein, indem sie soziale Konfliktlagen nicht als Hinweis auf das Gegenteil von Solidarität, sondern geradezu als Beweis für die Effizienz der Gesellschaft in Bezug auf ihre ureigenste Funktion – Integration – liest. Eben an den in einer hochdifferenzierten Gesellschaft alltäglichen sozialen Auseinandersetzungen zwischen funktionalen Eigenlogiken weist sich die Fähigkeit derselben aus, sich im Modus der Inklusion an der Komplexität ihrer selbst zu bewähren. Das ist in Parsons’ Denken sozusagen immer schon geklärte Grundbedingung und Bedingungsmöglichkeit des Sozialen. Denn trotz gesellschaftlicher Konfliktlagen, davon spricht ein derartiges Verständnis letztlich, geht das Leben erstaunlich alltäglich weiter. Der katalysatorische Effekt, der bis vor kurzem noch in der Fiktion eines Naturzustands, der objektiven Kraft der Geschichte und gesamtgesellschaftlichen Krisenbeschreibungen inkorporiert war, verschiebt sich hin zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen als Anzeichen evolutionärer Steigerung von Komplexität, der nur durch eine entsprechende Verallgemeinerung des gesellschaftlichen Wert- und Normengefüges und der Verbreiterung sozialer Integrationsmechanismen beizukommen ist. Eben darin, das scheint das zentrale Argument Parsons’, liegt die eigentliche Funktion einer Gesellschaft, die ihre Leistungen wie politisches Entscheiden, Marktregulierung durch Angebot und Nachfrage, Entscheiden über Recht und Unrecht, Reflexion durch Kunst und Wissenschaft oder religiöse Weltdeutung an je autonome Teilsysteme ausgelagert hat. Eine derartige Version des Sozialen tendiert dann vermutlich weit weniger zu Harmonie und Konfliktlosigkeit, als ihr gemeinhin unterstellt wird, sondern modelliert Gegensätze als immanenten Teil der modernen Gesellschaft, an deren Lösung
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6 Die Perspektive von Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
sich im Sinne von steigender Integrationsfähigkeit deren Effektivität entscheidet. Oder nochmals anders formuliert: Wodurch sich die Gesellschaft als soziales System, das aus dieser Sicht am eigenen Erhalt ein Interesse haben muss, bewährt, ist die steigende Anpassungsfähigkeit an eine komplexer werdende Umwelt, die in gesellschaftlichen Konflikten ihren Ausdruck findet und durch Prozesse der Rationalisierung, Differenzierung, Individualisierung und Technologisierung aufgefangen werden kann. Das ist zirkulär, denn andersherum gilt dann freilich, dass nur diejenigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen Integrationsprobleme aufwerfen, die gesellschaftsweite Bedeutung haben, die sie wiederum nur erlangen, weil sie am Problem der Integration formuliert sind. Daran entlasten sich allerdings Gesellschaft und Individuen gleichermaßen. Jene, weil sie zunehmend weniger konkrete Situationen vorschreiben muss und mehr Variation zulassen kann. Diese, weil sie daran an Autonomie und Freiheitsgraden gewinnen. Das setzt Gewöhnung durch Erziehungs- und Bildungssysteme voraus, die auf die Herausbildung einer situationsunabhängigen Kompetenz angesichts verschiedener Möglichkeiten angelegt ist. Insgesamt verweist dies auf einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Komplexitätssteigerung, individuellen Freiheitsgraden und Wertintegration der Gesellschaft, der bei Parsons freilich die unhinterfragte Matrix von Gesellschaft an und für sich bleibt. Die Plausibilität dessen macht Parsons’ Strukturfunktionalismus zu einer der prägendsten Theorien des 20. Jahrhunderts. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass eine derartige Lösung erst dann an Attraktivität verliert, wenn sich oben genannte Stabilitätserfahrungen nicht mehr selbstverständlich einstellen. Das ist spätestens mit der anhaltenden Unterentwicklung und den Hungerkatastrophen in der Dritten Welt, der Machtlosigkeit gegen den Staatsterrorismus in westlichen Gesellschaften und den schwerwiegenden weltweiten ökonomischen Krisen in den 1970ern und 1980ern der Fall. All dies stellt das bislang ungebrochene Vertrauen in die Effektivität und Steuerungsfähigkeit staatlichen Handelns deutlich in Frage. Davon spricht nicht zuletzt die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Diese weist sich nicht zuletzt durch die Verabschiedung von einem Steuerungsoptimismus aus, wie er aufs engste mit dem Verständnis von Gesellschaft als nationalstaatlich verfasster Territorialeinheit verbunden ist. Die weltgesellschaftliche Ausdehnung funktionaler Differenzierung kann keinen Ort mehr kennen, von dem aus sich die Gesellschaft als Ganze selbst beobachten bzw. steuern könnte. Noch weniger kann Gesellschaft ein Interesse an ihrem eigenen Erhalt unterstellt werden, das sie mit Hilfe eines an den eigenen sozialen Konfliktlagen allgemeiner werdenden Integrationshintergrunds absichern könnte. Die Politik konstituiert sich bei Luhmann entsprechend als lediglich ein funktionales Teilsystem neben anderen. Teilt Luhmann dann mit einer Darstellung wie etwa der von Carl Schmitt den Autonomiegedanken des Politischen, ist der Bruch mit einem Konstitutionszusammenhang des Sozialen schlechthin von politischer Entscheidung und Kollektivität mehr als deutlich. Aus dem Wenigen, das der Systemtheorie dann zum Begriff des Volks, der Nation bzw.
6.4 Fazit: Das integrierende Moment gesellschaftlicher Komplexitätssteigerung und globaler Risiken
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der Kollektivität zu entnehmen ist (und das sich zumeist von der Orthodoxie der Soziologie zu distanzieren sucht), sticht dabei insbesondere jene Stelle heraus, an der Luhmann dem Volk als Zurechnungsadresse von Kommunikation eine unverzichtbare Funktion bei der Schließung des politischen Systems im Kontext der gesellschaftsstrukturellen Umstellung auf funktionale Differenzierung beimisst. Ganz anders sieht das hingegen die Beschreibung der Risikogesellschaft von Ulrich Beck, die im Vertrauen der Moderne in die Effizienz des Nationalstaats bzw. der rekursiven Selbststeuerung sozialer Systeme eine nahezu unerträgliche Steigerung gegenwärtiger Gefährdungslagen sehen muss. Gerade diese können jedoch nicht sich selbst überlassen bleiben. Als globales Phänomen, das die universale Betroffenheit einer Menschheit konstituiert, erfordern Risiken ebenso eine allgemeinverbindliche Definition wie eine allgemeinverträgliche Umverteilung der Folgelasten. Derartige Entscheidungen aber können ebenso wenig einer rationalitätsgläubigen, methodologisch beschränkten Wissenschaft der ersten Moderne und deren Experten überlassen bleiben wie der Steuerung durch die veraltete, territorial begrenzte Institution des Nationalstaats. Als genuin politische, weil alle gleichermaßen betreffende Wertentscheidungen, gewinnen Risiken aus dieser Sicht ihre soziostrukturelle Realität einzig und allein aus ihrer kreativen bzw. subversiven Natur, die sie herausfordern. Nicht die Reproduktion gegebener Institutionen, sondern das kritische Unterwandern derselben steigert so zugleich die soziale Natur des Sozialen, weil es die herrschenden Bedingungen einmal mehr zu den Bedingungen der Betroffenen, die sich darin als kosmopolitische Einheit konstituieren, macht. Eben dieses Steuerungspotential der gesellschaftlichen Risikobedingungen aber muss zunächst verstanden werden, um es voll ausschöpfen zu können. Der entscheidende Hinweis – und hier kommt die Beschreibung wiederum in sich selbst vor – kommt dabei von einer, den Bedingungen der reflexiven Moderne angepassten Soziologie, die in der Bereitstellung auf das Handwerkszeug der Kritik eine aufklärungsbedürftige Gesellschaft auf den rechten Weg zu dirigieren weiß.
7 Zur Rekonstruktion von Kollektivität in einer globalisierten Welt
7.1 Post, reflexiv, vielfältig, verwoben, vor- oder modern? Die Frage nach einem Epochenbruch, die in der Einleitung vorerst suspendiert wurde, soll an dieser Stelle und vor dem Hintergrund des bislang Dargelegten wieder aufgegriffen werden. Die Untersuchung, das deutet die Überschrift dieses Kapitels bereits an, bedient sich dazu zunächst verschiedener soziologischer Beschreibungen eines solchen behaupteten Epochenbruchs, um diese im Folgenden vor dem Hintergrund der vorangegangenen Kapitel zur Synthese der Arbeit zusammenzufügen. Dabei fällt auf, dass die genannten soziologischen Reflexionen ihren speziellen Reiz entweder aus einer zeitpräpositionalen Ergänzung oder einer nach innen gerichteten Pluralisierung des Begriffs der Moderne beziehen. Drei Hauptstränge lassen sich dabei unterscheiden. Das Hauptgewicht der Debatte fällt zunächst auf jene Perspektiven, die das bislang unvollendete Projekt der Moderne endlich zu vollenden trachten. Dazu zählen ebenso die Ansätze von Zygmunt Bauman und Michel Maffesoli, die sich mit postmodernen Verhältnissen konfrontiert sehen, die Rekonstruktion als reflexive Moderne Ulrich Becks oder auch das Projekt einer „postnationalen Konstellation“ (Habermas 1998a: 91) von Jürgen Habermas. Allen diesen Denkansätzen gemein ist, dass sie nicht für einen vollständigen Bruch mit der Moderne plädieren, wohl aber dafür, diese endlich vom Kopf transzendenter Annahmen auf die vollständig säkularisierten Füße derselben zu stellen. So zeichnet sich im Verständnis von Zygmunt Bauman (wie in Kapitel 5.2 bereits ausgeführt) die Moderne in erster Linie durch das Bewusstsein des konstruierten Status ihrer selbst aus. In ihrer Form als die eine Seite der Unterscheidung von Ordnung und Kontingenz begründet sie sich allerdings als Epoche, die ihre Existenzbedingungen letztlich aus Differenzierung, Unterscheidung und Abgrenzung bezieht: „The existence is modern in as far as it contains the alternative of order and chaos“ (Bauman 1991: 6; Betonung im Original). Die Katastrophen der Moderne, besonders aber der Holocaust, offenbaren allerdings, dass diese Grundstruktur eher Teil des Problems als der Lösung bei der Frage nach einem erträglichen Ausgleich zwischen individueller Freiheit und sozialem Zusammenhalt ist. Mit der Sichtbarkeit dessen aber tritt die Unerträglichkeit der moralischen Auswüchse menschlichen Handelns in der nationalstaatlichen Ordnung deutlich zutage. Sie trennt eher, als zu verbin-
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7 Zur Rekonstruktion von Kollektivität in einer globalisierten Welt
den, und gefährdet darin die individuelle Freiheit, die sie eigentlich schützen soll. Das muss und kann nicht vollständig mit den Bedingungen der Moderne brechen, zwingt aber dazu, auch die Abweichungen moralischen Handelns noch zu internalisieren und darin Freiheit und Solidarität aneinander neu zu rekonstruieren. „Postmodernity is no more (but no less either) than the modern mind taking a long, attentive and sober look at itself, at its condition and its past works, not fully liking what is sees and sensing the urge to change. Postmodernity is modernity coming of age: modernity looking at itself at a distance rather than from inside, making a full inventory of its gains and losses, psychoanalysing itself, discovering the intentions it never before spelled out, finding them mutually cancelling and incongruous. Postmodernity is modernity coming to terms with its own impossibility; a selfmonitoring modernity, one that consciously discards what it was once unconsciously doing“ (Bauman 1991: 272).
Für Michel Maffesoli hingegen verspricht die Postmoderne die Überwindung einer letztlich unsolidarischen Moderne durch die Rückbesinnung auf vormoderne Solidaritätsbedingungen. Denn die Krux der Moderne liegt in der Behandlung von Individuum und Gesellschaft als je getrennte Sphären. Das verleiht dem Individuum transzendenten Status, der Gesellschaft dahingegen lediglich abgeleitete Existenz. Die Unterwanderung der nationalstaatlichen Kasernierung des Sozialen durch die Globalisierung aber löst diese ebenso artifizielle wie unvollständige Verbindung auf und überlässt das Individuum zunehmend sich selbst. Gerade die Krise bietet jedoch die Chance der Rekonstruktion wirklicher Sozialität durch den Einbau vormoderner, emotionaler Elemente als eigentliche Rekonstruktionsbedingungen von Solidarität, sozialer Ordnung und Sinnkonstitution. Die Postmoderne aber ist dann nichts weniger als „(…) l’arachaïque réinvesti par le moderne, ou le moderne entrant en synergie avec les éléments les plus arachaïque, c’est-à-dire les éléments premiers, primordiaux de toute humanité“ (Maffesoli 1992: 244). Ulrich Beck wiederum, das wurde bereits im Kapitel 6.3 dargelegt, beobachtet in der Gegenwart eine sich verselbständigende Moderne, die in der Hinterfragung ihrer bislang unhinterfragten Grundlagen die eigentliche Radikalisierung bzw. „Modernisierung der Moderne“ (Beck/Holzer 2004: 421) gewinnt. Zutage tritt daran die Differenz von einfacher und sich bereits abzeichnender reflexiver Moderne. An der Auseinandersetzung mit den konstitutiven Bedingungen einer halbierten Moderne aber gewinnt die zweite Moderne ihre eigenen Grundlagen als kritisches Projekt zurück und kann so internalisieren, was vorher im methodologischen Nationalismus externalisiert werden musste (Beck et al. 2004: 26). Schließlich gewinnt für Jürgen Habermas das Projekt der Moderne seine Vollendung in der postnationalen Konstellation. Dem Nationalstaat, als der eigentlichen Institution der Moderne, kommt dabei lediglich katalysatorische Funktion im Kontext eines steigenden Abstraktionsprozesses von vormodern-askriptiven zu vollständig säkularisierten Integrationsbedingungen zu. Stellte dieser bis vor kurzem als spezifische, aber nicht notwendige Verschmelzung von Nationalismus und Republikanismus die Bestandsvoraussetzung der Errungenschaften der Französischen
7.1 Post-, reflexiv, vielfältig, verwoben, vor- oder modern?
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Revolution dar, unterwandern Globalisierung und Multikulturalisierung dies zunehmend (Habermas 1996b: 129, 133; Habermas 1996c: 158; Habermas 1998a: 113). Oder nochmals anders ausgedrückt: War eine Übergangsphase rechtlich vermittelter Legitimation von politischer Autorität noch auf die Bereitstellung eines „kulturellen Substrat[s]“ (Habermas 1996b: 137) angewiesen, lassen aktuelle Entwicklungen das eigentliche Spannungsverhältnis von Partikularismus und Universalismus ebenso deutlich zutage treten wie sie dessen Kontingenz vor Augen führen. Abwerfen lässt sich der historische Ballast aus der Sicht Habermas’ allerdings nur durch einen weiteren Säkularisierungsschritt, in dem eine auf askriptive Merkmale aufliegende, nationale Identität durch die reflektierte Solidarität eines „Verfassungspatriotismus’“ (Habermas 1992b: 603; Habermas 1996b: 143; Habermas 1998a: 114) abgelöst wird. Die Besonderheit einer solchen radikal modernen, weil ganz auf vernünftigen Gründen aufruhenden Solidaritätsbedingung liegt darin, dass sie selbst die „Ausfallbürgschaft“ (Habermas 1996c: 158) hervorbringt, die sie voraussetzt.194 „Freilich wird auch eine derart prozeduralisierte ‚Volkssouveränität’ nicht ohne die Rückendeckung einer entgegenkommenden politischen Kultur, nicht ohne jene durch Tradition und Sozialisation vermittelten Gesinnungen einer an politische Freiheit gewöhnten Bevölkerung operieren können: keine vernünftige politische Willensbildung ohne das Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt“ (Habermas 1992b: 626-627; Betonung im Original).
Das setzt die in der Gemeinsamkeit der Sprache und der normativ-symbolischen Lebenswelt angelegte intersubjektive Verständigungsfähigkeit sowie die gegenseitige Anerkennung als Freie und Gleiche voraus, die zugleich Ergebnisse des Prozesses sind (Habermas 1996c: 161, 166).195 Oder anders gesagt: Im „intersubjektivistischen 194 Dass die Europäische Union das Potential hat, die erste Version einer solchen postnationalen Demokratie anzunehmen, steht für Habermas fest. Er leitet dies einerseits aus der Existenz einer demokratischen Legitimationslücke und der Gemeinsamkeit historischer Erfahrungen ab, die die Grundlage für einen gemeinsamen Kommunikationsraum einer europaweiten politischen Öffentlichkeit (nicht eines europäischen Volks veralteter Diktion) bieten können (Habermas 1996c: 180, 182, 184; Habermas 1998a: 135, 151). „Gewiß, dieser politisch hergestellte Solidarzusammenhang unter Bürgern, die als Fremde gleichwohl füreinander einstehen sollen, stellt sich als ein voraussetzungsreicher Kommunikationszusammenhang dar. (...) Den Kern bildet eine politische Öffentlichkeit, die es den Bürgern ermöglicht, zur gleichen Zeit zu gleichen Themen von gleicher Relevanz Stellung zu nehmen. Diese – nicht-deformierte, weder von innen noch von außen okkupierte – Öffentlichkeit muß in den Kontext einer freiheitlichen politischen Kultur eingebettet sein und von freizügigen Assoziationswesen einer Zivilgesellschaft getragen werden, in die gesellschaftlich relevante Erfahrungen aus intakt bleibenden privaten Lebensbereichen einfließen können, damit sie dort zu öffentlichkeitsfähigen Themen verarbeitet werden“ (Habermas 1996a: 190; Betonung im Original). 195 Darin gründet übrigens auch Habermas’ Kritik an der Vorstellung der Ablösung einer nationalstaatlichen Ordnung durch Netzwerkstrukturen. Gerade weil sie den Menschen weder eine gemeinsame Sprache noch ein intersubjektiv geteiltes Sinnuniversum anzubieten vermögen, sondern diesen in „(...) eine Welt anonym vernetzter Beziehungen entlassen, in der sie sich zwischen systemisch erzeugten Optionen nach je eigenen Präferenzen entscheiden müssen“ (Habermas 1996b: 150), bieten sie keinen Ort für genuin politische, weil alle betreffende Fragen. Darin kann Habermas tatsächlich nur mehr das Hobbes’sche Diktat der Selbsterhaltung erkennen (Habermas 1996b: 150).
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Verständnis der prozeduralisierten Volkssouveränität“ (Habermas 1996c: 165; Betonung im Original) liegt die Rettung des Projekts der Moderne als vollständig säkularisiert, muss sich doch hier das Verfahren jeden Moment an sich selbst bewähren. Dem steht jener Argumentationsstrang gegenüber, der weniger von der Singularität eines einzigen Projekts der Moderne ausgeht, sondern von der Vielfalt bzw. Verwobenheit verschiedener Modernen. So gehen Shmuel Eisenstadt und Shalini Randeria davon aus, dass sich die Moderne nicht als ein universales Projekt konstituiert, sondern ihrem zentralen Wesenszug nach – der Reflexion bzw. Überarbeitung des Gegebenen – Potential und Ursprung für ganz unterschiedliche Versionen der Moderne bietet. Die Gegenwart ist dann weniger postmodern als geprägt von „multiple modernities“ (Eisenstadt 2000b: 1). Konstitutiv dafür ist die Einsicht, dass Modernisierung und Westernisierung nicht dasselbe sind (Eisenstadt 2000b: 23). Gegen die Konvergenzannahme eines einzigen westlichen Projekts der Moderne, wie sie klassische Modernisierungstheorien vertreten, stellt Eisenstadt die Beobachtung einer Mannigfaltigkeit von Modernisierungsprozessen und einer Vielgestaltigkeit moderner Gesellschaften (Eisenstadt 2000a: 10-11; Eisenstadt 2000b: 1). Der besondere Trick der Eisenstadt’schen Argumentation liegt mithin darin, partikulare Ausformungen der universalisierenden Logik der Moderne nicht als Anachronismen zu lesen, sondern als konstitutives Moment derselben. Zeichnet sich diese durch die Infragestellung und Überarbeitung traditionaler Bedingungen aus, setzt dies alternative Denkmöglichkeiten voraus. Die Freigabe von Sinnhaftigkeit allerdings ermöglicht unterschiedliche Ordnungsvorstellungen, muss also grundsätzlich mit Fragmentierung bezahlt werden (Eisenstadt 2000a: 44-45; Eisenstadt 2000b: 4-8). Dies öffnet den Blick auf die Vielfalt kultureller Programme, die jeweils für sich genommen ganz einzigartig sind, und auf unterschiedliche Entwicklungspfade in eine vielschichtige Moderne, die Gesellschaften in verschiedenen Perioden durchlaufen (Eisenstadt 2000a: 36, 174; Eisenstadt 2000b: 11, 14-15). Gegen die westliche Überbetonung universalisierender Effekte eines einzigen Projekts der Moderne weist die konfliktuelle Gestalt von Konstitutionalisierungsprozessen der vergangenen 200 Jahre aus der Sicht Eisenstadts keineswegs auf eine ganz andere Seite der Moderne hin. Die Differenz ist vielmehr inklusiv zu lesen: Universalität gewinnt Sinnhaftigkeit und Sichtbarkeit nur an Partikularität und muss dann immer gegen ihre eigenen Konstitutionsbedingungen anarbeiten. Gegenreaktionen wie etwa (religiöse) Fundamentalismen erweisen sich dann keineswegs als antimodern, traditionalistisch oder atavistisch, sondern als konstitutiver Teil einer grundsätzlich konfliktuellen Moderne, in der wir uns nach wie vor befinden. Das westliche Modell ist also nur eines neben anderen, wenn es auch nach wie vor als maßgeblicher Bezugspunkt dient (Eisenstadt 2000a: 14, 25, 182, 204; Eisenstadt 2000b: 11, 23, 25). „The continuing salience of the tensions between pluralist and universalist programs, between multifaceted as against closed identities, and the continual ambivalence of new centers of moderni-
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ty toward the major traditional centers of cultural hegemony attest to the fact that, while going beyond the model of the nation-state, these new movements have not gone beyond the basic problems of modernity. They are all deeply reflexive, aware that no answer to the tensions inherent in modernity is final – even if each in its own way seeks to provide final, incontestable answers to modernity’s irreducible dilemmas“ (Eisenstadt 2000b: 21).
In eine ähnliche Stoßrichtung geht auch die Beschreibung von „verwobenen Modernen“ Shalini Randerias, die sich als Projekt wissenschaftlicher Erneuerung in erster Linie an die eigene Disziplin richtet. Vor dem Hintergrund der Beobachtung eines durchaus kreativen Umgangs mit traditionellen Wurzeln und zivilgesellschaftlicher Institutionalisierung im postkolonialen Indien plädiert Randeria für eine „kosmopolitische Reorientierung der Soziologie“ (Randeria et al. 2004: 9). Es besteht Bedarf für eine Revision der epistemologischen und normativen Grundannahmen klassischer westlicher Modernisierungstheorien und der Öffnung des soziologischen Blicks weg von einem Projekt der Moderne hin zu einem Problemfeld vielfältiger Modernen (Randeria et al. 2004: 29). Dies versteht sich vor dem Hintergrund, dass Kolonialisierung eben nicht nur asymmetrische politische bzw. ökonomische Herrschaftsstrukturen hervorbringt, sondern letztlich auch die wissenschaftliche Beschreibung der Welt nicht frei davon bleiben kann. Gegen die universalen Geltungsansprüche westlicher Gesellschaftstheorie, die vor dem Hintergrund eines linearen Modernisierungsprozesses immer schon von der Dichotomie traditionaler und moderner Gesellschaften ausgeht, die wiederum nur durch nachholende Entwicklung nach westlichem Vorbild überbrückt werden kann, gilt es, eben diese theoretischen Voraussetzungen und methodischen Herangehensweisen als partikular anzusehen und durch solche höherer Sensibilität für nicht-westliche Modernisierungspfade und Modernen zu ersetzen (Randeria et al. 2004: 9-10, 13; Randeria 2004: 155, 159). Kurz: Es gilt, den Blick auf „(...) den relationalen Charakter der Moderne wie der Modernisierungsprozesse (...)“ (Randeria et al. 2004: 12) zu schärfen, eben weil Modernisierung weder normativ noch epistemologisch gleichbedeutend mit Westernisierung sein kann. „An dieser Stelle kommt das Konzept der entangled modernities zum Tragen, das die wechselseitige Konstitution, Abhängigkeit und (bisher vernachlässigte) Beeinflussung der Entwicklungen auf beiden Seiten als konstitutiven Zusammenhang auch für die Entstehung der Moderne im Westen begreift. Die nicht-westlichen Gesellschaften und die westliche Moderne haben sich in Interaktion entwickelt – wenn auch unter Vorzeichen kolonialer Differenz. Das Bild wäre folglich eines von (partiellen) Unterschieden innerhalb eines großen (globalen) Verweisungs- und Vernetzungszusammenhanges, der als ein politischer oder Machtzusammenhang aber auch als ein sozial und intellektuell interaktiver gesehen werden muss“ (Randeria et al. 2004: 30; Betonung im Original).
Wie schon Eisenstadt betont auch Randeria die konstitutive Funktion der Unterscheidung von Moderne und Tradition, gewinnt die Moderne doch erst an dieser ihre universalisierende Logik, die sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher Traditionslagen nur je partikular ausformen kann. Sichtbar werden daran, wie Randeria mit Blick auf die Zivilgesellschaft des postkolonialen Indiens zeigt, vor allen Dingen
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Mischformen moderner und traditionaler Wertvorstellungen, Institutionen, Praktiken und Solidaritäten, die für das Modell einer universalen Moderne der westlichen Soziologie ebenso abwegig bleiben müssen wie unverständlich (Randeria 2004: 157). Ein dritter Interpretationsstrang schließlich, der hier an Bruno Latours Perspektive dargelegt werden soll, stellt die Modernität der Moderne überhaupt in Frage: „Niemand ist je modern gewesen. Die Moderne hat nie begonnen. Es hat nie eine moderne Welt gegeben“ (Latour 1995: 65). Der Grund dafür ist klar: Die Moderne hat nie nach ihren eigenen Ansprüchen funktioniert. Dass dies nun überhaupt sichtbar wird, liegt in der Eigenheit einer Gegenwart, die die Hybridisierung ihrer selbst nicht mehr verbergen kann. Die für die Moderne konstitutiven Unterscheidungen von Natur und Kultur bzw. Wissenschaft und Politik verlieren rapide an sozialstrukturierender und beschreibender Kraft. Sichtbar gemacht haben dies erst postmoderne Denker, die aus der Sicht Latours allerdings lediglich als Symptome einer Zeit zu lesen sind, die ihrer Grundlagen verlustig gegangen ist, letztlich jedoch keine tragbaren Lösungen anbieten können. Damit ist das Problem nach wie vor vorhanden: Gesellschaft und Wissenschaft bedürfen dringend einer Erneuerung ihrer struktur- und sinngebenden Grundlagen. Das setzt zunächst eine adäquate Beschreibung der neuen Gegebenheiten voraus, die mit den althergebrachten wissenschaftlichen Mitteln nicht mehr zu leisten ist (Latour 1995: 8-12, 57). Darin aber liegt das Grundproblem der modernen Beobachtungsinstrumentarien: Wenn die Moderne das Zeitalter der Unterscheidungen ist, dann ist Wissenschaft ebenso dazu verurteilt, nur das zu Gesicht zu bekommen, was sie immer schon als Getrenntes beobachtet, wie sie in der Formulierung von Gesetzmäßigkeiten dies wiederum manifestiert und garantiert. Das gilt es zu überwinden und der Latour’sche Blick, das ist wenig überraschend, bietet dafür die entsprechende Lösung. Dabei zeichnet sich die Moderne aus dieser Sicht in erster Linie durch ihre zutiefst paradoxe Konstitution aus. Das moderne Selbstverständnis versteht sich als „(...) ein neues Regime, eine Beschleunigung, einen Bruch, eine Revolution der Zeit. Sobald die Worte ‚modern’, ‚Modernisierung’, ‚Moderne’ auftauchen, definieren wir im Kontrast dazu eine archaische und stabile Vergangenheit“ (Latour 1995: 18-19). Die Moderne bringt sich selbst als Ausdruck von Beherrschung und Emanzipation im Sinne von Trennung, Unterscheidung und Reinigung in Stellung gegen eine durch Mischformen bestimmte Vormoderne, die wegzuarbeiten sie stets bemüht ist, dabei jedoch ungewollt und unbewusst permanent neue Hybride produziert. Während die Verfassung der Moderne es also auf Separation – von Politik und Wissenschaft, Kultur und Natur, Subjekt und Objekt – abgesehen hat, produziert sie eben darin unweigerlich immer neue Assoziationen (Latour 1995: 11, 22-23, 43, 53-54). Mehr noch: Die Geburtsstunde der Moderne selbst weist sich als ein Moment der Mischung aus, aus dem sie nach wie vor Dynamik gewinnt, wenn sie dies auch kontinuierlich zu verbergen sucht. Oder prägnanter mit Latour formuliert: „Die moderne Verfassung erlaubt gerade die immer zahlreichere Vermehrung der Hybriden, während sie
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gleichzeitig deren Existenz, ja sogar Möglichkeit leugnet“ (Latour 1995: 50; Betonung im Original). Das ist Problem und Lösung zugleich, weil gegenseitiger Bedingungs- und Steigerungszusammenhang: Die Konstitution der Moderne hat die Vermittlungsleistung vormoderner Gesellschaften letztlich nicht beseitigt, sondern geholfen, sie unendlich zu steigern. Darin liegt die besondere Leistung der Moderne, die es zu bewahren gilt. Auf der anderen Seite steht das Problem der Moderne der getrennten Behandlung von Trennung und Vermischung. Die Bestandsgarantie einer neuen Verfassung kann allerdings nur darin liegen, beide Formen als gleichermaßen konstitutiv zu betrachten (Latour 1995: 45, 58, 181).196 Das setzt ein Projekt der Symmetrisierung des wissenschaftlichen Blicks wie der gesellschaftlichen Verhältnisse voraus. Soziologisch gesehen gilt es, auf einen kritischen, enthüllenden Blick zugunsten eines vergleichenden, ethnologisch informierten, auf das Ganze gerichteten zu verzichten (Latour 1995: 24, 61). Sozial gesehen lassen sich die mit der vorherrschenden Infragestellung moderner Unterscheidungen verlorengegangenen moralischen Grundlagen der Gesellschaft nur wiedergewinnen, wenn man sich auf eine Umkehrung von Trennung und Vermittlung zugunsten von „(...) Arrangement, Berechnung, combinazione, Dreh, aber auch Verhandlung oder Kompromiß“ (Latour 1995: 64; Betonung im Original) einlässt. Oder anders formuliert: Das Projekt der Aufklärung lässt sich nur durch Kombination von vormodernen und modernen Elementen, als Mischverhältnis von Trennung und Vermittlung, retten. Nur das ermöglicht die Sichtbarkeit und Offenheit der gegenseitigen Produktion von Gesellschaft und Natur wie die Einregulierung, Kontrolle und Gestaltung der enormen Vermehrung der Hybride in einer krisenhaften Gegenwart. Das setzt wiederum ein Bewusstsein für die grundlegend nichtmoderne Natur der Gegenwart voraus, die doch erst das Ergebnis der Umgestaltung sein kann und bedingt sich darin gegenseitig: Erst in der Behandlung von einstmals Getrenntem als eigentlich Vermischtem entlarvt sich das „falsche Bewußtsein“ (Latour 1995: 65) der Moderne. Damit aber „(...) hören wir sofort auf, gänzlich modern zu sein, unsere Zukunft beginnt sich zu verändern. Im selben Moment hören wir auf modern gewesen zu sein – im Perfekt –, weil uns rückblickend bewußt wird, daß die beiden Ensembles von Praktiken in der zu Ende gehenden historischen Periode schon immer am Werk gewesen sind. Unsere Vergangenheit beginnt sich zu verändern. Und schließlich, wenn wir nie modern gewesen sind (...), könnten sich die gequälten Beziehungen, die wir zu den anderen Naturen/Kulturen unterhalten haben, wandeln“ (Latour 1995: 20).
Die (politische) Rückgewinnung der Gestaltbarkeit der sozialen Verhältnisse ergibt sich also nicht als revolutionärer Bruch, sondern als Einsicht in die Tatsache, dass niemals eine neue Epoche begonnen hat. In der unbewussten, unkontrollierbaren und aus sich selbst heraus erfolgenden Produktion von Hybriden besiegelt die Mo196 Berechtigterweise ließe sich an dieser Stelle fragen, worin eigentlich die vermittelnde Logik der Vermittlung liegt oder ob sich dahinter nicht erneut ein Versprechen der Abtrennung (nämlich des Trennenden) verbirgt? Vermutlich liegt hier der blinde Fleck der Latour’schen Betrachtungen.
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derne ihr eigenes Schicksal, indem sie sich selbst als Katalysator symmetrischer Bedingungen der Hybridisierung hervorbringt (Latour 1995: 65-66, 175-176, 181). 7.2 Wandel der Gesellschaftsstruktur oder Wandel gesellschaftlicher Selbstbeschreibung? Am Ende angekommen, schließt die Untersuchung den Kreis der Argumentation und kehrt zu ihrem Ausgangspunkt zurück, der gar kein Anfang im eigentlichen Sinne ist, sondern eine Unterscheidung, die einen Unterschied macht – die vorliegende Arbeit. Sie tut das von jetzt auf gleich und sie tut es anhand der ebenso schlichten wie klaren Anweisung: Beobachte Beobachter dabei, was sie sehen. Für die Fragestellung der Untersuchung bedeutet das, Beobachtungen in den Blick zu nehmen, die eine Entität (sprich: Kollektivität) sehen, die es so eigentlich gar nicht gibt, an der sich der Beobachter 1. Ordnung als Bedeutungs- und Sinnkategorie seines Erlebens und Handelns in der Welt allerdings sehr wohl orientiert. Die Rekursivität dieser Praxis offenbart sich erst auf der Beobachtungsebene 2. Ordnung, die allerdings auch darin wiederum unweigerlich eine Beobachtung 1. Ordnung ist. So reproduziert die Beschreibung aus ihrer spezifischen Perspektive zwangsläufig den Gegenstand, für den sie sich interessiert. Und um die Sache endgültig auf die Spitze zu treiben: Vielleicht liegt das Gewinnende (oder Verlierende oder zu Ignorierende) der Untersuchung weniger im Beschriebenen als in der Art der Beschreibung, die ihren Gegenstand stets mitbestimmt. Damit stellte sich die Frage nach einer den Ansprüchen moderner Beobachtungsbedingungen entsprechenden Fassung des Kollektivitätsbegriffs. Bereits in der Einleitung distanzierte sich die Arbeit von der in den Sozialwissenschaften üblichen Vorgehensweise einer vorgegebenen Definition, die sich in aller Regel an der Unterscheidung von konstruierten (d.h. kontingenten) gegenüber primordialen (d.h. notwendigen) Einheiten orientiert. Während diese Differenz allzu oft auf das Problem aufläuft, dass beide Seiten in der jeweils anderen wieder auftauchen, bleibt die Frage nach der Selbstverständlichkeit der eigenen Beobachtungsbedingungen letztlich unbeantwortet bzw. verschwimmt im Verweis auf eine Universalgeschichte der Moderne, die das Geheimnis ihres Erfolgs in Säkularisation, Individualisierung und Rationalisierung wähnt. Die weltweite Institutionalisierung von Nationalstaaten als das erstaunlich Identische im Differenten wird dann ebenso in den Dienst von normativ orientierten Interaktionsfeldern (Peter Heintz) wie des Weltwirtschaftssystems (Immanuel Wallerstein) oder einer politisch orientierten Weltkultur (John Meyer) gestellt. Diese letzte Beobachtung einer weltweit ähnlichen Institutionalisierung ist nicht falsch, aber sie ist es vielleicht aus den falschen Gründen. Unzufrieden mit den theoretischen und methodischen Gegebenheiten sozialwissenschaftlicher Beobachtung von Kollektivität, plädierte die Arbeit für eine
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konstruktivistische Epistemologie, die von Menschen auf Kommunikation umstellt und sich im Folgenden für das Soziale als eine operative Praxis zu interessieren. Auch auf diesem Feld ist die Behandlung von Kollektivität nicht unbekannt. So nimmt diese in Niklas Luhmanns Systemtheorie, die von einer funktional (nicht segmentär) differenzierten Weltgesellschaft ausgeht, ganz andere Bedeutung ein. Als mit den Nationalstaaten verbundene Binnendifferenzierung des weltpolitischen Systems gewinnt Kollektivität in Luhmanns Darstellung dreierlei Funktion: als die vom System selbsthervorgebrachte Bedingungsmöglichkeit der Schließung des Systems, als die Stelle des Publikums im demokratischen Machtkreislauf (neben Regierung und Verwaltung) und als Selbstbeschreibungsformel eines im Übergang befindlichen Vokabulars. Während sich das System an Kollektivität als Abschlussformel mit der Kontingenz sequentiellen Entscheidens ob eines grundsätzlich offenen Zukunftshorizont versorgt, weist sich das Publikum als die systeminterne Umwelt aus, das ebenso gebunden werden muss wie Personen, Programme oder Weltsichten an dessen Offenheit die Alternativität ihrer Vorschläge gewinnen, an der sie sich wiederum zu bewähren haben. Denn kaum ein Thema, für das man heute nicht Unterstützung mobilisieren könnte, aber nur wenige, die es bis zu einer bindenden Entscheidung bringen. Die darin implizierte Nähe des Kollektivitätsbegriffs zum Staat als der Zentralorganisation und Selbstbeschreibung des politischen Systems sowie die Verabschiedung als eigentlich überlebte, alteuropäische Semantik hat Luhmann allerdings auch Kritik eingebracht. Zum einen, da gerade die Globalisierung den Staat als exklusiven Ort des Politischen zunehmend unter Druck setzt. Zum anderen da im Zuge von Transnationalisierungsprozessen auch eine ebenso starke Renationalisierung (ethnischer, religiöser oder fundamentalistischer Art) zu beobachten ist. Als Reaktion darauf waren es Autoren wie Reinhard Kreckel, Alois Hahn, Lutz Hoffmann, Rudolf Stichweh, Peter Fuchs, Dirk Richter, Georg Weber und Armin Nassehi, die alternative Deutungsvorschläge für die Behandlung von Kollektivität als kontinuierte Vormoderne im Modernen oder als Auffangmechanismus von aus einstigen Bindungen freigesetzte Individuen vorbrachten. Auch das gerät allerdings zu voraussetzungsreich und so ist es – wie bereits mehrfach erwähnt – Nassehi, der vorschlägt, Kollektivität als die Problemformel des Politischen zu behandeln. Gemeint ist damit die Bereitstellung von Transparenz als Bedingungsmöglichkeit der Kapazität kollektiv bindenden Entscheidens. Dieser Vorschlag aber geht von Denkvoraussetzungen aus, an denen die Untersuchung, das wurde bereits in Kapitel 6.2.4 diskutiert, ihre Zweifel hat. Die Funktionserweiterung in der Sozialdimension auf Kosten der Sachdimension könnte auf eine nicht unwesentliche Verengung des soziologischen Blicks hinauslaufen, die eigentlich Relevantes aus den Augen verliert. Denn für Nassehi ist es einerseits die gesellschaftsstrukturelle Bedingung funktionaler Differenzierung und das chronische Kritikpotential von Sachargumenten, die Erwartungen rationaler Koordination an das Politische stets enttäuschen muss
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und ihre Probleme dann nur mehr sozialdimensional, d.h. in der Behauptung des Identischen gegen das Differente, lösen kann. Das Argument gegen die Sachdimension des Politischen – chronische Differenz der Weltsichten – wird Nassehi andersherum zur Bedingungsmöglichkeit des Politischen in der Sozialdimension schlechthin. Dissens und Widerstreit rücken damit zur quasi-unabhängigen Variable auf, dienen sie der Beobachtung Nassehis doch als unhinterfragte und unhinterfragbare andere Seite des auf Einheit abstellenden. Das aber bezweifelt die Untersuchung. Denn auch Differenz ist nicht schlicht gegeben, sondern Teil einer Beobachtung, die – sich von jetzt auf gleich setzend – in der Operation des Vergleichs das Ähnliche im Differenten und den jeweiligen Bezugspunkt setzt. Das aber ist immer eine Beobachtung 1. Ordnung, die sich nur durch weitere Beobachtung beobachten lässt und darin die Polyperspektivität und Polykontexturalität moderner Beobachtungsbedingungen offenbart. Mit anderen Worten: Dissens ist aus der Sicht der Arbeit nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung einer sich selbstbeobachtenden Gesellschaft, die sich in jeder Operation in eine Zwei-Seiten-Form bringt und dann sehen kann, wo sie anschließt und wo nicht. Rückt also Gesellschaft bei Nassehi auf die Seite der Identität bzw. Einheit, um aus dem singulären Horizont der Weltgesellschaft die Pluralität von Gesellschaften als zurechenbare Einheiten zu machen, fasst die Untersuchung Gesellschaft als die Einheit der Unterscheidung von Identität und Differenz. Sie erhofft sich damit nicht nur einen anderen Blick auf die funktionale Stelle von Kollektivität in der modernen Gesellschaft zu gewinnen, sondern trifft damit auch auf eine wesentlich praxisreichere gesellschaftstheoretische Beschreibungspraxis als Nassehi dies mit seiner These der doppelten Normativität der soziologischen Moderne diagnostiziert. Denn während Nassehi den dominanten Selbstbeschreibungszug der modernen Gesellschaft in Identität und Integration als dem zu bevorzugenden (und tatsächlich bevorzugten) Gegenüber von Differenz, Konflikt und Widerspruch vermutet, scheint das in der Untersuchung Dargelegte ganz anderes nahezulegen. Die moderne Gesellschaft, so das Argument der Arbeit, hat sich offenbar selbst in eine ebenso plausible wie bewährte Form ihrer selbst gebracht, die es mit beiden Seiten gleichermaßen aufnehmen kann – mit Differenz und Identität. Besser formuliert: Sie entscheidet je in Echtzeit über die Identität oder Differenz von Identität und Differenz. Das zeichnet sich bereits in jenen klassische Vertragstheorien des ausgehenden 18. Jahrhunderts ab, die in der Einleitung unter dem Stichwort Status und der Kategorie bewusster Vergesellschaftung geführt wurden. Von Interesse ist an diesen aus Sicht der Arbeit dann weniger die Behandlung von Naturzustand und Gesellschaft als gegensätzliche Versionen menschlichen Zusammenlebens, sondern die selbstinduzierte Unruhe von nutzenmaximierenden, ökonomischen Minimaleinheiten (Individuen), die in der Konkurrenz um knappe Ressourcen einsehen können, wie viel vernünftiger es für sie ist, aus unkalkulierbaren Feinden, unsichere, aber eben doch sanktionierbare Vertragspartner zu machen, und die zugleich sehen
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können, dass sich die anderen an exakt denselben Erwägungen orientieren, woran sie sich wiederum orientieren und so weiter. Diese Version der doppelten Kontingenz muss freilich asymmetrisiert werden und wird es bei Hobbes als Akt der Selbsterhaltung, bei Locke als Schutzmaßnahme von Leib, Leben und Eigentum und bei Rousseau als (umgekehrter) Akt der Bewahrung individueller Freiheit. Gerade das beendet Auseinandersetzungen zwischen den Einzelnen jedoch nicht. Im Gegenteil: Die „commercial society“ muss damit rechnen, permanent mit Streitigkeiten zwischen Produzenten, Unternehmern, Kaufleuten, Erbberechtigten, Kunden, Banken, Steuerbehörden etc. konfrontiert zu sein und reagiert darauf mit der Entwicklung des Rechtskomplex’ des Zivilrechts und der Zivilgerichtsbarkeit. Mehr noch: Die vorprogrammierten Konflikte zwischen je partikularen Interessen gelten, das lässt sich bei Adam Smith nachlesen, geradezu als der Stoff, aus dem Fortschritt, Wohlergehen und Reichtum der Gesellschaft gemacht sind. Diese Version gesellschaftlicher Selbstbeschreibung verliert allerdings schnell an Plausibilität und wird abgelöst von einer Form, die sich unter der Überschrift der Verselbständigung des Sozialen subsumieren lässt. Die Ausgangslage verlagert sich von der Gegensätzlichkeit von Individuum und Gesellschaft in die immer schon vorhandene, verselbständigte Qualität des Sozialen. Die quasi-mythologische Stiftung von Gesellschaft, die darin zugleich die begründende Instanz (Natur, Gott, Tradition) voraussetzen muss, lässt sich ebenso wenig für alle Beobachter verbindlich vorschreiben wie die Tatsache bestreiten, dass der Einzelne immer schon in soziale Gegebenheiten hineingeboren ist, die sich noch dazu als überkomplex und durchaus hartnäckig erweisen. In der Voraussetzung des Sozialen aber schreibt sich die Gesellschaft ihr Entwicklungspotential selbst ein und historisiert sich daran: Was heute ist, hat seine Ursachen in der Vergangenheit. Ergebnis ist dann eine Universalgeschichte der Moderne, die von (religiös) Einfachem ausgehend auf dem Weg interner Differenzierung einen Prozess der Säkularisation, Individualisierung, Rationalisierung und Technisierung durchläuft. In den Fokus geraten nun gesellschaftliche Übergangslagen: Der vergleichende Blick schreibt sich sich selbst ein und zwar als der Bezugspunkt, der Ähnliches und Verschiedenes der sozialen Strukturbedingungen zugleich benennt und rekursiv aufeinander bezieht. Die Untersuchung hatte versucht, dies mit den je beobachtungsleitenden Stichworten Status, Eigentum, Moral, Funktion, Wissen, Kultur und Risiken zu demonstrieren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts äußert sich das zunächst an der Thematisierung von Gesellschaft als soziale Frage, d.h. am sozialstrukturgebenden Widerspruch, der im historischen Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels und dem Historismus von Lorenz von Stein in der Unterscheidung von Arbeit und Kapital in Bezug auf Eigentum seine Form gewinnt und diesen zugleich beschreibund bearbeitbar macht. Während sich hier die Geschichte am alternierenden Auftreten von Spannungen und Ausgleichseffekten durch verschiedene Stufen ihrer selbst treibt, sind es die speziellen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, die sie zum
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geeigneten Zeitpunkt der letzten, weil sozialen Revolution bzw. Reform macht. Im materialistischen Verständnis ist es dabei die hier herrschende, Mensch und Natur ultimativ widersprechende Willkür des Kapitals über die Arbeit, die in der revolutionären Abschaffung des Eigentums in einer nicht allzu fernen Zukunft die Auflösung aller Differenzverhältnisse in die Identität derselben mit sich selbst zurückführen wird. Für Lorenz von Stein ist es hingegen die verwaltungstechnische und pädagogische Reformkraft, die politisch und ökonomisch Unvereinbares dem ausgleichenden Effekt einer Gesellschaft des gegenseitigen Interesses zuführt, die soziale Konfliktlagen in geeignete Bahnen zu lenken versteht, ohne davon ausgehen zu müssen oder zu können, jene ein für alle Mal beseitigt zu haben. Die Orientierung des Sozialen an einer einzigen Unterscheidung ebenso wie die Hoffnung auf revolutionäre bzw. reformatorische Wiedereinholung der gesellschaftlichen Bedingungen verliert jedoch an der Schwelle zum modernen Wohlfahrtsstaat gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlich an Überzeugungskraft. Mit Bezeichnungen wie Arbeitsteilung (Durkheim), Ausdifferenzierung von Wertsphären (Weber) oder der Verschiedenheit sozialer Kreise (Simmel) registriert die gesellschaftstheoretische Beschreibung die als evolutionäres Fortschreiten erfolgende Differenzierung von je eigenlogischen Teilbereichen der Gesellschaft: Religion funktioniert anders als Wirtschaft, Recht anders als Wissenschaft, Pädagogik anders als Kunst und alle je wiederum anders als Politik. Die Erfahrung spricht nun eine ganz andere Sprache: Die gesellschaftlichen Bedingungen (r)evolutionieren sich fortwährend selbst und bringen daran die Auseinandersetzungen hervor, auf die sie zugleich angewiesen sind, die sie aber auch bearbeitbar machen müssen. So ist es die Diagnose einer grundlegenden Anomie bzw. Pathologie der modernen Gesellschaft, an der Émile Durkheim den disziplinbegründenden Gegenstand sui generis als den Bezugspunkt der Moral gewinnt, auf den hin Ähnliches und Verschiedenes sichtbar wird. Die Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität kommt dann exakt an der Stelle zum Tragen, wo es darum geht, zu verstehen, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen auf mechanischem Wege als arbeitsteilig differenzierte hervorbringen, auf die die moderne Gesellschaft grundsätzlich angewiesen ist, die sie aber zugleich auch mit Hilfe geeigneter ausgleichender Eingriffe wieder zu Bedingungen der Gesellschaft machen muss. In der sprichwörtlichen Routinisierung hochkomplexer Gesellschaften im Verlauf des 20. Jahrhunderts findet allerdings auch dieser Problembezug der Soziologen der ersten Stunde deutliche Abkühlung. Die Krise als quasi a-sozialer Zustand verliert an sozialbeschreibender Plausibilität und findet sich als Permanenzbedingung sozialer Konfliktlagen zwischen funktionalen Eigenlogiken im Alltag moderner Gesellschaften wieder. Das tritt am deutlichsten sicherlich an der Argumentation Talcott Parsons’ hervor, an dessen Denken vielleicht mitunter allzu vorschnell der Vorwurf der Stabilität oder Homöostase gerichtet ist (siehe Nassehi 2006: 213-214; 216). Streit gilt hier gerade nicht als das Gegenteil von Integration, sondern als Bewäh-
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rungs- und Entwicklungshorizont des Sozialsystems auf dessen eigentliche Funktion hin. Die (alltägliche) Adaptionsfähigkeit der Gesellschaft erweist sich an ihrer Effizienz, evolutionär überraschende Effekte als Komplexitätssteigerungen mit Hilfe interner Differenzierung von Integration abfangen zu können. Oder am konkreten Beispiel formuliert: Die Verhältnisse erlauben beides – sich auf die Ausgrenzungskonflikte mit einer schwarzamerikanischen Minderheit oder auf die Konflikte mit den Gegnern politischer Gleichstellung einzulassen, aber eben nicht, Auseinandersetzungen grundsätzlich zu umgehen. Als Gemeinsames der verschiedenen Versionen gesellschaftstheoretischer Beobachtungen kristallisiert sich also die Problematisierung der Reproduktion des Sozialen heraus, das in Widerstreit und Auseinandersetzungen ebenso den konstitutiven Zug seiner selbst entdeckt wie in dem Umstand, dass sich die Dinge nicht von selbst regeln und daher auf Ausgleichsprozesse angewiesen sind. Mit anderen Worten: Was sichtbar wird, ist eine Form der Permanenzerklärung des ausgleichbaren Differenten. Indem die gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder aus sich selbst heraus – historisch, mechanistisch oder evolutionär – neue und überraschende (Sinn-)Überschüsse produzieren, die es wieder einzuhegen gilt, schreibt sich eine derartige Beschreibungspraxis die Bewältigungsfähigkeit kommender Diskrepanzen selbst ein. Die dargelegten gesellschaftstheoretischen Perspektiven sind dabei zweifellos stark mit moralischen Obertönen, normativ-konstativer Darstellungsweise und Einsichtsappellen unterfüttert, die aus der Sicht der Arbeit zu voraussetzungsreich gebaut sind. Was sich an diesen allerdings auch beobachten lässt, ist das Erstaunen darüber, dass sich das Soziale tatsächlich und in jedem Augenblick – fortsetzt. Es ist also der alternierende Beobachtungsmodus der Moderne, der dazu auffordert, das Ähnliche im Differenten zu entdecken, womit auch der gemeinsame Bezugspunkt immer schon, wenn auch verdeckt, mitbenannt ist. Das Dargelegte allerdings eröffnet einen Blick auf die Disziplin der Soziologie, die sich ihrer Praxen deutlicher bewusst scheint, als dies etwa Nassehi vorschwebt. Es fällt auf, dass die Beobachtung der Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft stattfindet und zwar aus je verschiedenen, unvereinbaren Perspektiven. Exakt daran aber, an der divergenten Natur der Selbstthematisierung des Sozialen, gewinnt die Soziologie die selbsternannt exklusive Perspektive auf ihren Gegenstand und den Status als eigenständige Disziplin. Andersherum bedeutet das: Die soziologische Beschreibung kommt in ihrem eigenen Gegenstand wieder vor und zwar auf zweierlei Weise, die eng miteinander koordiniert ist. Denn zum einen kann die Soziologie sehen, dass es sie nicht schon immer gegeben hat. Sie ist Teil eines Prozesses, in dessen Verlauf sich funktionale Teilsysteme wie Wissenschaft, Recht oder Kunst ausdifferenzieren und die Stelle der Religion einnehmen. Vom Zwang des Eineindeutigen herkommend, sichert sich die Soziologie so selbst ihren Platz in der Gesellschaft zu, indem sie darauf hinweist, dass man nun mit Hilfe der Wissenschaft verstehen lernen muss, dass man mit Hilfe der Wissenschaft verstehen lernen muss,
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dass es um Revolution bzw. Reform, die Rekonstruktion einer neuen Moral der arbeitsteiligen Gesellschaft oder die Adaption an immer komplexere gesellschaftliche Bedingungen geht. Mit anderen Worten: Die Soziologie historisiert sich selbst, indem sie sich zum Ergebnis sozialer Differenzierungsprozesse macht. Dass sie sich dabei exakt einer Beobachtungssituation verdankt, die die soziale Realität eigentlich schon gar nicht mehr (konkurrenzfrei) erreichen kann, registriert und verdeckt sie zugleich daran, dass sie ihre eigenen Denkvoraussetzungen, Kategorien und Methoden immer schon mitliefert. In der Verdoppelung der Welt in eine wirkliche Wirklichkeit und die wissenschaftliche Beschreibung derselben – orientiert an materiellen Bedingungen, sozialen Fakten sui generis oder an Handlung als multikausalem Ereignis – entsteht die beobachterunabhängige Wahrheit der Wissenschaft. Diese weiß jedoch zugleich auch um ihre kontingente, rekursive Praxis der Beschreibung des Unbeschreibbaren, gewinnt sie doch exakt daraus die Bedingungsmöglichkeit ihrer Alternativität. Sie weiß, dass man ihren Ergebnissen immer auch misstrauen kann und schlägt doch genau daraus ihr eigentliches Potential: Jede Gesellschaftstheorie weiß es letztlich immer besser als die anderen. Das modelliert sich zweifelsohne mitunter allzu nah an allen Unbedingtheiten und Notwendigkeiten wissenschaftlichen Fortschreitens, eignet dem zeitlichen Index des Vorhergehenden jetzt doch vor allen Dingen die abwertende Bedeutung des Unzeitgemäßen. Zum anderen kommt die Soziologie aber auch dort wieder in ihrem Gegenstand vor, wo sie sehen kann, dass sich die Gesellschaft an ihren Aussagen orientiert. Diesen Praxisaspekt nimmt sie bisweilen allzu wörtlich, indem sie sich als Aufklärungsinstanz über die Diskrepanzen einer Moderne installiert, die im Auftrag der permanenten Überarbeitung des Traditionalen, ihre Form zwischen selbstinduzierter Unruhe und aktiven Ausgleichsbewegungen findet.197 Sie entspricht darin allerdings – wie könnte es anders sein – selbst den Beobachtungsbedingungen der Moderne, die sich grundsätzlich als relativierend erfahren. Von hier aus besehen könnte es also interessant sein, das Auftauchen von Soziologie weniger dort zu vermuten, wo es um Einheit, Ganzes und Identisches als Gegenüber von Differenz, 197 Man fühlt sich dann nach wie vor stark an jene berühmte Frage Kants aus dem Jahr 1783 erinnert: „Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. (...) Allein, daß jetzt ihnen [den Menschen – Anm. d. Verf.] doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. (...) Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelte, um sie darin zu erhalten“ (Kant 1974: 15, 16; Betonung im Original). Bekanntermaßen kann sich Kant die Aufklärung des Menschen nur als Selbstaufklärung und darin wiederum nur als genuin öffentliche Angelegenheit vorstellen. Andersherum kann weder ein Einzelner noch das Volk sich selbst Aufklärung verbieten, weil es sich im Fortschreiten seiner selbst für seine aufzuklärende Zukunft offen halten muss (Kant 1974: 10-11, 13). Das aber widerspräche der menschlichen Natur und das hieße, „(...) die heiligen Rechte der Menschheit [zu] verletzen und mit Füßen [zu] treten“ (Kant 1974: 14). Das aber läuft wiederum auf die Frage auf, inwiefern es dem Menschen entspricht, seiner Menschlichkeit entsprechend zu leben.
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Dissens und Widerspruch geht, sondern exakt dort, wo man sich darüber wundert, dass es genau in dieser Form weitergeht. Das dürfte zumindest erklären, warum die hier dargelegten gesellschaftstheoretischen Beschreibungen von Marx, Engels und Stein über Durkheim bis hin zu Parsons und Luhmann in erster Linie beobachten, dass die Gesellschaft in sich selbst wieder auftaucht und zwar im Hinblick auf ihre Reproduktionsbedingungen. Mit anderen Worten: Die Soziologie gibt sich exakt an der Stelle überrascht, wo sie auf Gesellschaft als sich selbst hervorbringende und verändernde Bedingung trifft. Sie modelliert das als sequentielle bzw. differenzierte Eigenlogiken, die sie nur sehen kann, weil sie sich in die Form einer vergleichenden Beobachtung gebracht hat, die das Ähnliche im Differenten auf einen bestimmten Bezugspunkt hin benennt. Mit anderen Worten: Sie „entdeckt“ das Soziale als das radikal Andere, Exzentrische und Außergewöhnliche und zugleich Versöhnliche, Ausgleichende und Vermittelnde und weiß um die alternierende Form dessen. Hält man sich demgegenüber die soziologischen Ansätze einer postindustriellen, postmodernen und reflexiven Konstellation vor Augen, so zeichnet sich an diesen aller Verabschiedungsrhetorik zum Trotz eine erstaunliche Nähe zur „klassischen“ Storyline der Modernisierung als der kontinuierlichen Überarbeitung des sich ob permanent neuer Bedingungen selbsthervorbringenden Traditionalen aus. Die gegenwärtigen Versionen versorgen sich selbst allerdings auch mit einem deutlichen Grad an Selbstverunsicherungs- und gesteigertem Reflexionspotential. Mit den sich einstellenden Zweifeln an der Selbstverständlichkeit eines bislang vorausgesetzten Kongruenzverhältnisses von Volk, Staat und Gesellschaft, für die der Begriff der Globalisierung steht, haben sich in der Tat Differenzbeschreibungen verstärkt und die Hoffnungen auf (dauerhafte) Vermittlung deutlich abgeschwächt. So sprechen die Beobachtungen einer post-kapitalistischen Gesellschaft, wie sie in dieser Arbeit an den Arbeiten von Daniel Bell, Alain Touraine, Peter Drucker, Nico Stehr, Manuel Castells und Ulrich Beck dargelegt wurden, von einer erneuten Verselbständigung der gesellschaftlichen Bedingungen. Der neuerliche Rationalisierungsschub aber löst Eigentum und Arbeit als grundlegende Strukturbedingung des Sozialen durch Wissen als dem neuen Bezugspunkt des Verschiedenen und Ähnlichen ab. In der Absage an alle Hoffnungen auf rationale, effektive und eindeutige Steuerung wurzelt auf der anderen Seite das Konfliktpotential, das die symbolischen Grundlagen einerseits so ideologieanfällig und manipulierbar macht und andererseits neue Ungleichheiten in Bezug auf Erziehung, Bildung, Qualifikation, Karriere, ökonomischer Stellung etc. erzeugt. Eben weil sich Fragen nach Entstehungsbedingungen, Ziel, Interpretation, Anwendung, Plausibilität bzw. Folgenabschätzung des Wissens nicht von selbst auf logischem Wege klären, erzeugen sie die Auseinandersetzungen um Verteilungs- und Zugangsbedingungen, die zugleich das Soziale als einhegungsbedürftig konstituieren. Von einem ganz mechanischen Veränderungsprozess der gesellschaftlichen Bedingungen sprechen auch Zygmunt Bauman und Michel Maffesoli. Das gründet
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einerseits für Bauman in den Entartungen einer Moderne, die im Holocaust ihre Konstitutionsbedingungen der Identität, Einheit und Reinheit des Kollektiven ebenso vollständig durchsetzte wie sie darin die Rechte des Individuums an und für sich negierte. Andererseits ist es für Maffesoli die Multiplikation von Identifikationskontexten, die die moderne durchrationalisierte Gegenüberstellung von Gesellschaft und Individuum als sich gegenseitig ausschließende Sphären nicht mehr aufzufangen in der Lage ist. Lassen sich die allzu künstlichen Capricen einer nationalstaatlichen Moderne nicht mehr durchhalten, bestimmt sich das Verschiedene und Ähnliche nun an Kultur als der Anerkennung der Andersheit des Anderen. Die postmoderne Rekonstruktion von Solidarität und individueller Freiheit als ausreichender Grad an Sozialität für maximale Individualität bei Bauman und ausreichender Individualität für maximale Solidarität bei Maffesoli lösen dann allerdings gerade die in der Postmoderne auftretenden Widersprüche, Unvollständigkeiten, Doppeldeutigkeiten und Ambivalenzen nicht auf. Im Gegenteil: Als Stoff für das Spiel mit dem unheilbar Widersprüchlichen stellen sie überhaupt erst die eigentliche Bedingungsmöglichkeit des Sozialen als einem Zustand konfliktueller Harmonie dar. Am plakativsten von den hier behandelten Beschreibungen hat wohl Ulrich Beck die Radikalisierung selbstproduzierter Handlungsfolgen der Industriemoderne als globale Gefährdungslagen, die sich ebenso ungesehen und ungewollt wie unumkehrbar einstellen, auf den Begriff der Risikogesellschaft gebracht. Universale Betroffenheit als bestimmender Wesenszug von Risiken und deren Nebenfolgen aber macht jede Entscheidung und Handlung ebenso rechtfertigungsbedürftig wie erst ex post beurteilbar. Auf welchen Bezugspunkt hin das geschehen kann, konstituiert wiederum die ergänzungsbedürftige Bedingung des Sozialen, an der sich Ähnliches und Verschiedenes bestimmen. Oder andersherum formuliert: Die immanente Uneindeutigkeit und die universale Betroffenheit von Gefährdungslagen zwingt zu einer allgemeingültigen Definition, an die sich Anschlussbedingungen für Folgenbewältigung, Betroffenheit, Zurechenbarkeit, Umverteilung, Zurückweisung oder Erduldung von Risiken knüpfen. Konflikte lassen sich damit bei weitem nicht ausschalten, aber als Permanenzerklärung der subversiven Überarbeitung veralteter Institutionen einer ersten Moderne (zuvorderst des Nationalstaats) in bearbeitbare Bahnen lenken. Während sich also die Nähe gegenwärtiger soziologischer Diagnosen zu klassischen Positionen kaum verbergen lässt, fällt doch auf, dass sich die Darlegungen selbst mit einem deutlichen Reflexivitätsindex versehen. Die Orientierung an Wissen, Kultur und Risiken als soziostrukturelle Bezugspunkte soziologischer Beschreibung produziert bei weitem nicht mehr die (soziale und soziologische) Eindeutigkeit und Sicherheit wie sie vielleicht noch in Bezug auf Eigentum, Moral oder Funktion in Anspruch genommen werden konnte. Konstituierte sich die Soziologie als eigenständige Disziplin an der „Entdeckung“ rekursiver Eigenlogiken des Sozialen, seien diese nun sequentieller und/oder differenzierter Art, ist es nun die gesteigerte Re-
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flexivität der Bezugspunkte, an denen sich nicht nur eine Verschiebung des blinden Flecks, sondern gerade auch ein neues Interesse für Anschlussmomente abzuzeichnen scheint. Mit dem Einschwenken von Eigentum auf Wissen macht sich Gesellschaft selbst auf die selbsttragenden wissensbasierten Bedingungen des Wissens aufmerksam, die der Aufklärung insofern den Wind aus den Segeln nehmen, weil Wissen nun eben nicht mehr nur die Lösung, sondern gerade auch das Problem ist. Ähnliches registriert wohl auch eine Umstellung von Moral auf Kultur, die die Andersheit des Anderen immer nur aus der Eigenheit des Eigenen registrieren kann, darin aber immer schon von beidem abstrahiert haben muss und eben nicht wissen kann, ob das Ähnliche und Verschiedene für den Anderen ähnlich oder verschieden liegt. Schließlich spricht die Orientierung an Risiken davon, dass es die Prognosen von heute sind, die nicht nur die Risiken und Nebenfolgen von morgen bedingen, sondern als Erwartungen über Erwartungen gerade auch in die Erwartungen der anderen und damit wiederum in die eigenen eingehen. Dem eignet nicht zuletzt der Eindruck eines deutlich beschleunigten Zeitindex’ der Prozessualisierung des Sozialen. Was die hier dargelegten neueren soziologischen Beschreibungen offensichtlich beobachten, ist eine deutlich kürzer Taktung dessen, was sich jetzt deutlich mehr am nächsten Moment überraschen lassen muss. So zumindest lässt sich die gegenwärtige Plausibilität von und das Interesse an Ästhetik und Kunst, an Exzentrischem und Überspanntem, an Vormodernem und Tribalismus, an Ironie und Posse, an Bastelbiographie und Inszenierung deuten. Für Kollektivität und nationale Identität scheint das in allererster Linie zu bedeuten, sich mit der eigenen kurzfristigen, punktuellen, unverbindlichen, situations- und themenspezifischen Bedingungsmöglichkeit von Kollektivierung abzufinden. Kurz: Sich nicht mehr auf die Voraussetzbarkeit, Notwendigkeit und Unbedingtheit von nationaler Identität gegenüber anderen solchen zu verlassen, sondern sich (und damit auch das Differente) jeden Moment aufs Neue zur Disposition zu stellen. Es lässt sich dann zweifelsohne nicht abstreiten, dass die gegenwärtige Soziologie ihre Beschreibungen nach wie vor mit deutlich normativ überformten Zügen anfertigt und noch weniger, dass sie das mit dem bekannten Hang zu Kritik, Aufklärung und alternativen Vorschlägen macht, also zu all dem, was bislang unter dem Projektnamen „Moderne“ lief. Der theoretische und methodische Mangel an Bewusstsein der selbstreferentiellen Bedingungen wissenschaftlicher Beobachtung muss dann je nach Erwartungshaltung enttäuschen oder eben nicht. Beachtenswert bleibt jedoch, dass die deutliche Abschwächung gesellschaftstheoretischer Großprojekte in der (Selbst-)Verunsicherung des eigenen Gegenstands in sich selbst wieder auftaucht. Was aber bedeutet das nun für die Behandlung von Kollektivität, um die es der Arbeit ja ursprünglich zu tun war. Vor dem Hintergrund der dargelegten Zweifel an den Denkvoraussetzungen einer Funktionserweiterung wie Nassehi sie vornimmt, plädiert die Untersuchung für eine Rücknahme derselben und eine Perspektivänderung, die sie – wie sollte es anders sein – an sich selbst bereits vollzogen hat. Sie
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stößt dabei auf ein sich von jetzt auf gleich initiierendes zirkuläres Verhältnis, das den Moment der Schließung des politischen Systems im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts markiert. Gemeint ist damit die Beobachtung von Beobachtungen in der Form von machtpolitischer Konkurrenz. Die darin nach Innen gezogene Alternativität von politischen Weltanschauungen, Programmen und Personen ist ob der offensichtlichen Kontingenz auf Konsens angewiesen, der wiederum nur möglich ist und sichtbar wird, weil auch Abweichendes vorkommt. Oder vielleicht nochmals besser formuliert: Die politische Entscheidung legt im Horizont anderer Möglichkeiten den je spezifischen Schnitt, an dem sich Konsens (Identität) und Dissens (Differenz) zugleich bestimmen. Damit ist allerdings noch gar nichts darüber gesagt, wie dieses Identische und Differente je empirisch aussehen mag und noch weniger, wie und ob dies mit monopolitisierter Sanktionsgewalt durchgesetzt wird oder nicht. Führt man sich nun vor diesem Hintergrund und im Horizont gegenwärtiger (Selbst-)Verunsicherung nochmals den nationalstaatlichen Gestaltungsoptimismus „klassischer“ gesellschaftstheoretischer Selbstbeschreibungen vor Augen, so tritt daran offensichtlich ein deutlich übersteigerter Reflexionszirkel zutage, der sich in den vergangenen 200 Jahren mit einem Grad an Notwendigkeit und Unbedingtheit versorgte, der sich heute so weder auf Seiten der Kollektivität noch auf der der politischen Entscheidbarkeit unproblematisch reproduzieren lässt. Das soll nun aus der Sicht der Arbeit gerade nicht als eine wie auch immer geartete Fehlentwicklung abgetan werden. Worum es an dieser Stelle vielmehr geht, ist zu sehen, dass sich die moderne Weltgesellschaft selbst in die Form des Politischen bringt, um sich über sich selbst im Modus des Entscheidbaren Auskunft zu geben. Sie tut das, indem sie zunächst auf die Offenheit und Unbestimmtheit einer nationalen Kollektivität abstellt. Die Arbeit plädiert also exakt für das Gegenteil von Nassehis Vorschlag, indem sie behauptet, dass der Vorteil von Kollektivität für die moderne Gesellschaft darin lag/liegt, nicht genau klären zu müssen, mit wem sie es je zu tun hat. Es ist letztlich die immanente Un- und Unterbestimmtheit der Kollektivität, die eine der funktional differenzierten Gesellschaft angepasste Bewegungsfreiheit erlaubt, eben weil das Politische nun nicht mehr mit dem Außen rivalisierender, andersgläubiger oder andersdenkender Gegner zu tun hat, sondern mit dem anonymen, aber eben doch sanktionierbaren Mitbürger. Die Gesellschaft gewinnt daran ein mehr an Flexibilität, Mobilität und Unabhängigkeit vom Konkreten, eben weil sie Personen nicht mehr anhand von Statuszuschreibungen an je vorbestimmte Positionen setzen muss, sondern Bildung, Beruf und Karriere, Glaubensvorstellungen, politische und sonstige Überzeugungen, Wahl des Ehepartners, der Freunde, des Wohnorts oder der Automarke diesen selbst überlassen kann. Andersherum ermöglicht exakt das alternative Weltsichten, die sich wiederum an der immanenten Offenheit der Kollektivität mit Unterstützung versorgen können – und müssen, wollen sie mehr sein als nur Parolen, Forderungen oder Mahnungen. Vielleicht erweist sich gerade hier
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der Vorteil einer Semantik des Publikums, wie Luhmann sie wählt. Auf der anderen Seite versorgt sich das politische System im Horizont des Unentscheidbaren mit sachdimensionaler Offenheit, exakt weil sie das (für) entscheidbar hält. Die Arbeit liest den Anspruch der Allzuständigkeit des Politischen also gerade nicht als Testfall für die Möglichkeit rational-objektiver Gesamtsteuerung, sondern argumentiert mit dieser gegen eine solche. Denn sichtbar wird daran eine Erwartungshaltung, die selbst mit der Unbedingtheit des Eindeutigen und Rationalen rechnet und daran doch nur wieder auf die Kontingenz dessen hinweist. Und so ist es also die eigentliche Unmöglichkeit des Entscheidens, die Entscheiden überhaupt erst möglich und notwendig macht. Boten die Voraussetzbarkeit der Identität des Identischen (Nation) und der Vernunft des Vernünftigen (Gemeinwohl) in gesellschaftstheoretischen Beschreibungen bislang die Lösung für das Problem politischen Entscheidens unter modernen Beobachtungsbedingungen, verliert exakt das an der Sichtbarkeit der Kontingenz dessen gegenwärtig deutlich an Plausibilität. Neuere soziologische Ansätze markieren, registrieren und bauen das zugleich in sich selbst ein, indem sie auf weitere Differenzierung setzen. Mit anderen Worten: Sie versorgen sich mit neuen Notwendigkeiten, ohne die sich Beobachtungen 1. Ordnung in sich selbst festfahren würden. Eben diese neuen Selbstverständlichkeiten hat die Arbeit in der Verlagerung auf Wissen, Kultur und Risiken als neue soziostrukturelle Bezugspunkte entdeckt. Damit verbindet sich ein weiteres Mal der Hinweis auf die Rekursivität von Eigenlogiken als der Bedingungs- und Reproduktionsmöglichkeit des Sozialen. Für das Politische bedeutet das scheinbar, auch in Zukunft auf Konsens für ihre Entscheidungen angewiesen zu sein, diesen allerdings nicht mehr ganz so unproblematisch als nationale Gegebenheit voraussetzen zu können, sondern als sich – bezogen auf Dauer, Ausmaß, Situation und Thema – je erst ergebende empirische Anschlussbedingung auf der Seite von Identität oder Differenz. Was nun die Behauptung eines epochalen Wandels anbetrifft, kann auch diese die Paradoxie ihrer selbst nicht abstreifen. Auch sie manifestiert sich als eine Beobachtung des Ähnlichen – des Trägen, Konstanten, Gleichmäßigen – im Verschiedenen – das Exzentrische, Unerwartete, Überraschende – und ist dazu gezwungen, den Bezugspunkt, auf den hin sie dies diagnostiziert, zu invisibilisieren. Dieser aber liegt für Beschreibungen wie die einer Post-, Vor-, multiplen, verwobenen oder reflexiven Moderne in der Neuheit des soziostrukturellen Bezugspunkts, an dem sich das Soziale ab jetzt orientiert, d.h. differenziert. Auch die Frage nach einem epochalen Umbruch ist also immer eine Beobachtung der Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft, womit wiederum Perspektive und Kontext einer solchen in den Blick geraten. Oder anders und als Frage formuliert: Unter welchen Bedingungen lässt sich überhaupt Wandel diagnostizieren und wieso gewinnt das gerade jetzt derartige Plausibilität? Aus der Sicht der Arbeit könnte die Antwort darauf lauten, dass das Soziale darin erneut auf ein Zeitkalkül aufläuft – auf die Permanenz des Wan-
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dels seiner selbst. Darin aber manifestiert sich nichts weniger als das gesellschaftliche Selbstverständnis der Moderne. Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass gegenwärtige Umbruchsthesen weniger tiefgreifende Wandlungsprozesse diagnostizieren, als dass sie, darauf hat Armin Nassehi hingewiesen, eine kognitive Verschiebung markieren. Die Arbeit mag sich darin als konservativ (im Gegensatz zum Progressiven) platzieren und die Kritik derjenigen auf sich ziehen, die dies als unzeitgemäß und veraltet ablehnen. Und damit ließe sich wieder von vorne beginnen.
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