Vielleicht bist du der Richtige
Billie Green
Bianca 930 (3-2/95)
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von Almut K.
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Vielleicht bist du der Richtige
Billie Green
Bianca 930 (3-2/95)
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von Almut K.
1. KAPITEL „Alvo ... Alvo, hör zu. Verdammt, Junge, halt jetzt den Mund, und hör mir eine Minute zu!" Als er sicher sein konnte, dass der Fünfzehnjährige ihm zuhörte, lehnte Dean sich auf dem Stuhl zurück und entspannte die Schultern ein wenig. „Ich bin dein Anwalt", sagte er langsam und ruhig. „Und was noch wichtiger ist, ich bin mindestens fünfzig Pfund schwerer als du. Sei einmal im Leben schlau, und hör mir zu. Es ist mir egal, ob die Wärter ein Haufen schwachsinniger Trottel sind, wie du sagst. Sie haben das Kommando, Alvo. Sie haben die Macht hier. Wenn du sie bekämpfst, schadest du dir nur selbst. Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie kurz davor sind, dich mit Ritalin vollzupumpen. Es sei denn, du kannst ihnen vormachen, dass du ein zivilisiertes Mitglied der ... Wie hast du sie noch genannt?" Als Alvo seine Meinung über die Zivilisation wiederholte, lachte Dean. „Du hast einen schiefen Sinn für Humor, Junge. Das gefällt mir. Aber ich fürchte, die Hüter des Gesetzes, die dich täglich ertragen müssen, sehen das nicht so. Komm schon, du hast doch Verstand. Benutze ihn. Lass mich meinen Job machen, ohne dass ich mir Sorgen machen muss, ob du deine Mitgefangenen terrorisierst oder nicht." Doch Alvo wollte noch nicht klein beigeben. Dean brauchte weitere dreißig Minuten, um dem Jungen das widerwillige Versprechen abzuringen, dass er sich besser benehmen würde. Das muss vorläufig reichen, sagte er sich, als er auflegte. Auch wenn er ziemlich sicher war, dass seine eigene Vorstellung von gutem Benehmen wenig mit der seines jungen Mandanten zu tun hatte. Alvo Gutierrez wurde beschuldigt, seinen Stiefvater Harland Jackson brutal angegriffen zu haben. Auf den ersten Blick sah die ganze Sache eindeutig aus: Jeder, der den Jungen kannte, sagte, er sei jähzornig. Im Krankenhausbett hatte Jackson geschworen, dass sein Stiefsohn ihn angegriffen und bewusstlos geschlagen hatte, weil er ihm kein Geld für Drogen geben wollte. Die Geschichte des Jungen war tragisch, aber leider nicht ungewöhnlich. Dean hatte viele solcher Fälle gehabt: Männer, Frauen und Kinder, deren Gewaltausbrüche sich gegen die eigene Familie richteten. Was die Sache noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass Alvo nicht gerade ein attraktives Exemplar war. Sein schmales Gesicht war von AkneNarben durchzogen, sein Haar stets ungewaschen. Und sein Charakter war noch übler. Mit seinem ordinären Ton und der unbeherrschten Art eckte Alvo bei jedem an, dem er begegnete. Erst einmal in den zwei Wochen, in denen er jetzt sein Anwalt war, hatte Dean den wahren Alvo Gutierrez erleben können. In seinen Augen war etwas Verängstigtes und Einsames. Es war der Junge, für den Dean sich ein Bein ausriss. Es war der verängstigte, einsame Junge hinter der Gewalttat, den Dean nicht aufgeben wollte. Er hätte auch so sein Bestes gegeben, um dem Jungen zu helfen, aber der kurze Blick auf den wahren Alvo brachte ihn dazu, noch mehr als sonst zu tun. Außerdem erinnerte Alvo Dean daran, wie er selbst in dem Alter gewesen war. Und wenn es jemanden gab, der wusste , wie es war, wenn man sich verängstigt und einsam fühlte, dann war es Dean. Er stieß sich vom Schreibtisch ab, stand auf und ging an das Regal an der einen Seite seines Arbeitszimmers. Er holte ein dickes Buch heraus und suchte nach dem Fall, an den er sich noch vom Jura-Studium her erinnerte. Als er den gesuchten Artikel endlich gefunden hatte, las Dean ihn sorgfältig durch. Vertieft ins juristische Fachchinesisch und dessen Auslegung saß er da, als
ein leises Geräusch ihn von der Arbeit ablenkte. Dean hob den Blick und sah den Kopf sowie die rechte Körperhälfte einer jungen Frau, die um die offene Tür herum ins Zimmer spähte. Sie trug ein verblichenes grünes T-Shirt und zerfledderte Cut-off-Jeans. Ihr schulterlanges Haar hing lose aus einem nicht sehr sorgfältig gebundenen Pferdeschwanz, und die funkelnden blauen Augen versprühten eine Mischung aus Belustigung und Übermut, die den Look einer schönen Vagabundin noch unterstrich. Ein Fremder hätte vermutlich angenommen, dass Dean, der angesehene, wohlhabende Anwalt, sich mit einer jungen Frau von der falschen Seite der Stadt eingelassen hatte. Die Vorstellung hätte Dean fast zum Lachen gebracht. Whitney Grant war vierundzwanzig und hatte gerade ihren Abschluss in Kunstgeschichte gemacht. Ihre Mutter Anne Harcourt Grant war eine der San-Antonio-Harcourts, einer der einflussreichsten Familien dieser Gegend. Während die meisten ihrer hochverehrten Angehörigen aus viel Bluff und wenig dahinter bestanden, war Whitney eine Harcourt erster Güte. Zwar konnte sie notfalls genug Glitter verstrahlen, um einen Blinden zu blenden, aber im Innern, dort, wo es zählte, war sie ernst und loyal. „Dean, mein Dean", begann sie, und ihre atemberaubenden Lippen verzogen sich zu einem noch atemberaubenderen Lächeln. „Habe ich dir je gesagt, dass du mein einzig wahrer Freund bist?" Dean klappte das Buch zu und warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „Du machst mich nervös, Whitney", sagte er. „Komm schon, heraus damit. Hast du einen deiner Cousins ermordet? Oder alle? Hast du das Harcourt-Personal zum Aufruhr angestachelt? Was ist es?" Ihre Augen weiteten sich zu einem Ausdruck von Entrüstung, von dem er wusste, dass er wie immer gespielt war. „Du kränkst mich. Ich habe keine Ahnung, wovon du redest." „Ich rede von dem, was du hinter der Tür versteckst." „Ach, das." Sie drehte sich um und kam rückwärts ins Zimmer. In Sicht kam ein Strick, dessen Ende sie mit beiden Händen hielt. Was immer am anderen Ende befestigt war, es wollte offensichtlich nicht mit ins Zimmer. Aber Whitney ließ sich nicht aufhalten. Sie zog und zerrte, dann drehte sie sich wieder um, warf den Strick über die Schulter und beugte sich nach vorn. Ein riesiger Hund - jedenfalls nahm Dean an, dass es ein Hund war - rutschte auf dem Hinterteil über das gebohnerte Parkett. „Alles Gute zum Geburtstag, Dean", sagte Whitney atemlos. „Ist er nicht wundervoll? Das perfekte Geschenk. Freust du dich? Ich wollte..." „Mein Geburtstag ist im November", bemerkte er und starrte halb fasziniert, halb entsetzt auf das Tier, das gerade dabei war, sich einige Fliegen abzuschütteln. Whitney sah zu Dean hinüber. „Nun ja, das weiß ich natürlich, aber ich hatte gehofft, du würdest es vergessen. Denk dir einfach einen anderen Anlass aus, ja? Bitte, Dean. Vergiss, wie er aussieht, und versuch, seine inneren Werte zu sehen. Er steckt voller Persönlichkeit. Ich habe ihn Oscar getauft, weil er irgendwie einen wilden Blick hat. Außerdem dachte ich mir, etwas Literarisches gibt ihm etwas mehr Würde. Oscar Wilde, du weißt schon ... Er trieb sich an den Ställen herum. Onkel Ames hätte ihn erschießen lassen, und Mutter hätte neunzehn verschiedene Anfälle bekommen, wenn ich versucht hätte, ihn für mich zu behalten. Was meinst du?" schloss sie hoffnungsvoll. Es war nicht der erste Streuner, den Whitney bei Dean anschleppte. Und so wie er sie kannte, auch nicht der letzte. Er betrachtete ihr wunderschönes Gesicht und wollte sie gerade bitten, das Tier aus seinem Haus zu entfernen, da fühlte er sich
einmal mehr von dem Charme gefesselt, der sie wie eine leuchtende Wolke umgab. „Pete Watkins hat ohnehin vor, seinem Jungen einen Hund zu besorgen", sagte er. „Ich bin ziemlich sicher, Pete denkt dabei eher an einen Spaniel oder einen Collie, jedenfalls an etwas Hundeähnliches. Aber ich werde ihnen dieses ... dieses Ding vorführen. Kein normaler Junge wird einem so hässlichen Hund widerstehen können." Dean runzelte die Stirn und rümpfte die Nase. „Hast du ihn mit Peperoni gefüttert?" Mit einem leisen Freudenschrei schlang Whitney die Arme um Deans Hals. „Ich wusste, dass du mir helfen würdest. Man sieht dem armen Ding an, dass er schon eine ganze Weile kein Zuhause mehr hat." Dean befreite sich aus ihrer Umarmung. „Er verdient kein Zuhause. Er verdient meine Hilfe nicht. Und wenn er an meinem Schreibtisch das Bein hebt, bekommt er sie auch nicht. Jetzt verschwinde und nimm das Vieh mit. Ich muss arbeiten." Dean sah ihr nach, wie sie das widerspenstige Tier hinter sich herschleifte, und machte sich wieder an die Lektüre. Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Dauernd schweiften seine Gedanken ab. Whitney hatte jedesmal dieselbe Wirkung auf ihn. In Deans Garten band Whitney den Hund an einen Baum, bevor sie einen Plastikeimer mit Wasser füllte und ihm hinstellte. Dann schlich sie zurück in die Küche und durchforstete Deans Speisekammer. Nach kurzer Suche holte sie eine Dose Rindfleisch heraus und öffnete sie - nicht mit dem elektrischen Öffner, sondern per Hand, damit Dean es nicht hörte. Sie wollte sich gerade wieder nach draußen schleichen, als sie seine Stimme hörte. „Ich hoffe, du gibst dem Vieh nicht mein T-bone-Steak." Lachend schloss sie die Küchentür hinter sich. Während Oscar fraß, sah Whitney sich in Deans Garten um. Er war klein, und Dean sorgte dafür, dass er ebenso in Ordnung gehalten wurde wie sein Haus. Doch wie das Haus, so war auch er ein wenig spartanisch. Das Gras war kurz, die Hecke sorgfältig gestutzt. Im Garten war nichts, was einfach nur dem Auge Freude bereitete. Der Hund leckte bereits die Sauce auf, als Dean aus dem Haus kam und sich vor die Tür setzte. Sein dunkelbraunes Haar war leicht zerzaust, als wäre er sich mit den Fingern hindurchgefahren, und die braunen Augen sahen müde aus. Er war nicht der bestaussehende Mann, den Whitney je getroffen hatte. Jedenfalls war er nicht auf die Art gutaussehend, wie es die meisten Männer zu sein versuchten. Aber er war bei weitem der attraktivste. Irgend etwas an seinem charaktervollen Gesicht und in seinen dunklen Augen machte einer Frau auf eindringliche Weise bewusst, dass sie eine Frau war. Whitney warf die leere Dose in den Abfall und setzte sich zum Objekt ihrer Überlegungen auf die Stufe. Sie musterte sein Profil. In Deans Gesichtsausdruck lag etwas, das nach Sorge oder Enttäuschung aussah. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen und getröstet. Aber sie tat es nicht. Es war nicht gestattet. Nach einer Weile drehte er den Kopf und sah sie an. „Warum bist du so still?" fragte er misstrauisch. Sie lachte. „Du sahst aus, als würdest du äußerst angestrengt nachdenken. Ich wollte das Genie nicht bei der Arbeit stören." Sie zögerte. „Läuft der Gutierrez-Fall nicht gut?" „Er läuft gar nicht. Der Junge redet einfach nicht. Er gibt nur zu, dass er seinen Stiefvater attackiert und gewusst hat, was er tat." Dean schüttelte den Kopf. „Aber an der Sache ist etwas faul. Ich fühle es. In seinem Blut war keine Spur von Drogen. Nichts deutet darauf hin, dass er wirklich schwer drogenabhängig ist, wie Jackson, sein Stiefvater, behauptet. Wenn Alvo wirklich süchtig wäre, so
verzweifelt, dass er jemanden umbringen würde, um an einen Schuss zu kommen, würde man es sehen, Whitney. Entzugserscheinungen sind nichts, was man so leicht verheimlichen kann." „Also lügt der Stiefvater", stellte sie fest. „Was sagt die Mutter?" „Nichts, das mir weiterhilft. Sie sagt, sie sei im Supermarkt gewesen, als Alvo ihren Mann attackiert hat, aber die Frau funktioniert kaum noch. Sie hat höllische Angst, steht unter Schock oder ist geistig verwirrt, ich weiß es nicht. Sie scheint sich nicht konzentrieren zu können. Und sie macht sich mehr um ihren Mann Sorgen als um ihren Sohn. Dauernd sagt sie, dass sie ihren Mann zu Hause braucht. Immer wieder. Sie braucht ihren Mann zu Hause. Sie hat eine zehnjährige Tochter, Alvos kleine Stiefschwester, aber die Mutter beachtet sie kaum." „Was ist mit den Nachbarn?" „Die Jacksons waren ziemlich verschlossen. Sie haben nie den geringsten Versuch unternommen, ihre Nachbarn kennen zu lernen. Die Leute nebenan sagen, sie hätten bei den Jacksons oft laute Auseinandersetzungen gehört. Keiner von ihnen mag Alvo, und man kann es ihnen auch nicht verdenken. Er macht es einem schwer, nett zu ihm zu sein." Dean lehnte den Kopf gegen die Tür. „Der Junge ist verängstigt, Whit. Ich kann es in seinen Augen sehen. Aber ich bringe ihn einfach nicht dazu, mir zu erzählen, was zum Teufel wirklich los ist." Einen Moment später straffte er sich wieder. „Genug davon. Ich weiß, der Fall lässt mich nicht mehr los, aber ich will dich nicht auch noch damit belasten." Sie zuckte mit den Schultern. „Wozu sind Freunde da?" Whitney wusste genau, was sie jetzt tun musste. Sie hatte es oft genug geta n. Es war ihre Aufgabe, ihn abzulenken, damit er seine Arbeit wenigstens für eine Weile vergaß. „Du meine Güte. Ich habe ja ganz vergessen, dir von der Spenden-Gala gestern Abend zu erzählen", begann sie mit einem leisen Lachen. „Kaum zu glauben, dass ich es vergessen habe. Dabei habe ich mir sogar Notizen gemacht, damit ich die guten Sachen nicht vergesse." Er lächelte. „Was hast du getan? Du hast dem Namen Harcourt doch nicht schon wieder Schande gemacht, oder?" „Diesmal war es nicht ich, sondern Baby." Baby war Whitneys Cousine. Sie war gut gebaut, nicht sehr intelligent und ging hart auf die Dreißig zu. Baby fand, dass man in dem Alter nicht mehr wählerisch sein durfte, sondern nehmen musste, was man bekam. „Onkel Ames hat sich den neuesten Kandidaten angesehen und wie der böse Riese das Blut des No rmalsterblichen gerochen", erklärte Whitney. „Er hat Baby unter einem Vorwand weggeschickt, sich den armen Kerl vorgeknöpft und ihn ausgequetscht. Dabei kam heraus, dass Babys neuer Freund nicht schon immer reich war. Offenbar hat er sein Vermögen, ein sehr großes Vermögen übrigens, mit Camping-Toiletten gemacht. Scheint eine echte Goldgrube zu sein." Als Dean grinste, legte Whitney richtig los und beschrieb, wie diverse Mitglieder der Harcourt-Familie auf die erschütternde Nachricht reagiert hatten. Babys Mutter, eine Frau, die stolz auf ihre Selbstbeherrschung war, hätte diese fast verloren, inmitten der feinen Gesellschaft der Stadt. „Tante Jocelyns Gesicht wurde glutrot. Ich schwöre es, Dean, glutrot, und das zu einem gelben Kleid." Sie schüttelte den Kopf. Als Tante Jocelyns Samthütchen gerade vom Kopf zu rutschen drohte, bemerkte Whitney die Klatschreporterin einer örtlichen Zeitung, die hinter einer Kübelpalme stand und alles mitschrieb. „Und da konnte ich kaum noch an mich halten", berichtete Whitney kichernd. Schmunzelnd hörte Dean sich den Rest der Geschichte an, und Whitney stellte
zufrieden fest, dass seine Augen nicht mehr so erschöpft und besorgt blickten und die tiefen Falten auf der Stirn verschwunden waren. Irgendwie kam es ihr wie Verrat vor, ihn ausgerechnet jetzt an seine Arbeit zu erinnern, aber ihr war zu dem Gutierrez-Fall etwas eingefallen. „Hat jemand mit dem kleinen Mädchen gesprochen?" fragte sie unvermittelt. Und Dean wäre nicht Dean gewesen, wenn er nicht sofort gewusst hätte, wovon sie sprach. „Sicher", erwiderte er. „Die Polizei hat sie befragt. Und ich auch. Ihre Mutter behauptet, die Kleine hätte sich unter dem Bett versteckt, als der Kampf losging, und das Mädchen hat das bestätigt. Sie sagt, sie hätte nichts gesehen." „Aber niemand hat mit ihr gesprochen, ohne dass die Mutter dabei war?" Er warf ihr einen fragenden Blick zu. „Du meinst, das würde einen Unterschied machen?" Sekunden später stand er abrupt auf. „Gute Idee, Whit. Eine wirklich gute Idee." Ohne ein weiteres Wort öffnete er die Tür und verschwand im Haus. Vermutlich hat er längst vergessen, dass ich hier bin, dachte sie lächelnd. Aber dass Dean sie hin und wieder vernachlässigte, störte sie nicht. Er konzentrierte sich immer voll und ganz auf seine Fälle. So ein Mann war er nun einmal. Ein Mann, der ihr gefiel. Whitney stand auf, ging durch den Garten, streichelte den schlafenden Hund ein letztes Mal und schlüpfte durch die Pforte auf die Straße. Die schmale Straße war so sauber und ordentlich wie auch die Häuser. Die Abfalleimer hatten eine einheitliche Farbe und standen in Reih und Glied. Blühende Büsche lugten über die gepflegten Holzzäune. Die meisten Hä user an der Macon Street stammten aus den zwanziger Jahren und waren von jungen, beruflich erfolgreichen Paaren restauriert worden. Die Straße war jedoch nicht immer ein so angenehmer Ort zum Leben gewesen. Als Whitney sechs gewesen war, hatte sie gedacht, dass die Straße und die Menschen, die an ihr lebten, irgendwie anders waren. Wie Geschöpfe aus einer anderen Welt fand sie sie zugleich beängstigend und aufregend. Vor allem beängstigend. Außer Dean. Selbst damals, als er auf dem besten Weg gewesen war, ein jugendlicher Krimineller zu werden, war Dean ihr Held gewesen. Und Whitney hatte einen Helden dringend nötig gehabt. Als Lloyd Grant bei einem Bootsunfall ums Leben kam, verlor Whitney mehr als einen Vater. Sie verlor außerdem ihre Freunde und ihr Zuhause, denn nur wenige Wochen nach dem Tod des Vaters zogen sie und ihre Mutter von Winnetka in Illinois nach San Antonio. Anne Harcourt Grant hatte Angehörige in San Antonio. Jede Menge Angehörige. Die Harcourts waren eine Institution in diesem Teil von Texas. Sie waren altes Geld. Und es machte auch nichts, dass das Vermögen, das Ururgroßvater Harcourt schon vor der Jahrhundertwende gemacht hatte, aus einem dubiosen Grundstücksgeschäft stammte . Die Zeit hatte den Schleier des Vergessens über die Herkunft des Harcourt-Vermögens gelegt, und jede nachfolgende Generation hatte es nicht nur vermehrt, sondern das selbstgeschaffene Harcourt-Image weiter aufpoliert. Anne und Whitney waren in den Schoß der Familie zurückgekehrt und in das anmutige zweigeschossige Cottage im hinteren Teil des riesigen HarcourtAnwesens gezogen. Das Cottage war für Großmutter Harcourt, Whitneys Urgroßmutter, gebaut worden, die ihre letzten zwanzig Lebensjahre dort verbracht hatte. Whitney war heilfroh, dass es ganz am hinteren Ende des Parks lag, fast eine Viertelmeile vom Haupthaus und Onkel Ames entfernt. Als sie in San Antonio eintraf, wusste die fünfjährige Whitney nichts von der Geschichte der Harcourts. Sie wusste nur, dass sie und ihre Mutter in einer Familie leben würden, und hatte sich darauf gefreut, viele Cousins und Cousinen
zum Spielen zu haben. Kinder wie sie, die für sie mehr als nur Freunde sein würden, weil sie mit ihnen verwandt war. Sie brauchte nicht lange, um zu begreifen, wie sehr sie sich geirrt hatte. Whitney hatte fünf neue Cousins. Onkel Ames hatte zwei Mädchen und einen Jungen, Allie, Baby und Ames junior, und Tante CeeCee, Annes ältere Schwester, hatte einen Jungen und ein Mädchen, Tad und Muffy. An die lächerlichen Namen hätte Whitney sich noch gewöhnen können, aber nicht an ihre Einstellung. Aus irgendeinem Grund war Whitney ihren Cousins vom ersten Moment an verhasst gewesen. Außer Onkel Ames' neuem Baby waren Whitneys Cousins alle älter als sie. Aber sie besuchten dieselbe Privatschule wie sie, ja sie hatten sogar denselben Reitlehrer und Tanzlehrer. Eigentlich hätte das für genügend Gemeinsamkeiten sorgen müssen. Aber irgendwie passte Whitney von Anfang an nicht dazu. Die Harcourt-Cousins ließen keinen Zweifel daran, dass sie Whitney nicht akzeptierten. Sie erlaubten sich hinterhältige Streiche mit ihr, sobald die Erwachsenen nicht hinsahen. Manchmal waren die Streiche eher harmlos - sie banden Knoten in die Riemen ihrer Ballettschuhe oder flüsterten den Mitschülern gemeine Dinge über sie zu. Aber manchmal waren die Streiche auch übler - zum Beispiel, als sie ihr einen spitzen Stein unter den Sattel legten. Der Tag, an dem alles anders wurde, der Tag, an dem sie lernte, mit ihren Cousins umzugehen, kam fast ein Jahr nachdem sie und ihre Mutter nach Texas gezogen waren. An einem Sommertag, nach der gemeinsamen Reitstunde, begannen die Cousins wie immer, sie zu ärgern. Aber diesmal forderten sie sie heraus, und die Herausforderung wurde angenommen. Um zu beweisen, dass sie nicht feige war, sollte Whitney durch die Hecke schlüpfen, die das Harcourt-Anwesen umgab, und sich ganz bis zur Macon Street trauen, bis zwischen die Häuser, die ihre Cousins das „Müllkippenviertel" nannten. Whitney ignorierte das Gejohle ihrer Cousins, kroch unter der Hecke hindurch und marschierte los. Erst einige Straßen weiter wurde ihr klar, worauf sie sich eingelassen hatte. Sie begriff, warum die Gegend das „Müllkippenviertel" genannt wurde. Überall lag Abfall herum, und alles war zerbrochen - zerbeulte Autos in den Einfahrten, kaputtes Spielzeug in den Gärten, demolierte Möbel auf den Veranden. Selbst die Straßen waren nicht mehr heil. Und plötzlich bekam Whitney es mit der Angst. Es war niemand da, der ihr hätte helfen können. Die Leute, denen sie begegnet war, hatten sie nur angestarrt. Und ohne Ausnahme waren ihre Mienen abweisend gewesen. Also setzte sie sich auf den Kantstein und tat, was sie vor ihren Cousins nie getan hätte- Sie verbarg das Gesicht zwischen den Knien und weinte. „Warum heulst du, Mädchen?" Sie wischte sich mit den Handrücken die Tränen ab und sah hoch. Die Person, die neben ihr stand, sah aus wie ein Mann, war aber vermutlich kaum älter als Tad. Seine Haut war zu einem dunklen Kupfer gebräunt, das dunkle Haar war lang und ungepflegt, die Züge des schmalen Gesichts eindringlich. Und er hatte denselben Zorn in den Augen, den sie bei den anderen Bewohnern des „Müllkippenviertels" gesehen hatte. Whitney starrte zu ihm hoch, hörte auf zu weinen und musste mehrmals schlucken. „Was tust du hier im Müllkippenviertel?" fuhr der Junge sie mit wütendem Blick an. „Ich wohne hier", log sie. „Da hinten." Sie zeigte in eine Richtung und stand auf. „Ich gehe jetzt nach Hause. Es war nett, dich kennenzulernen. Auf Wiedersehen."
Sie war gerade losgegangen, da hielt sein Lachen sie zurück. Sie drehte sich um und war auf der Stelle von seinem lachenden Gesicht gefesselt. „Sicher wohnst du hier", spottete er, noch immer lachend. „Jeder hier im Müllkippenviertel trägt Reithosen. Was tust du hier?" Die Frage erinnerte sie an ihre missliche Lage. Sie holte tief Luft und setzte sich wieder auf den Kantstein. Dann beugte sie sich vor, stützte das Kinn auf die Fäuste und schluchzte. Der Junge setzte sich neben sie und legte nach kurzem Zögern den Arm um ihre Schultern. „Komm schon, Mädchen. Wo ist das Problem?" „Kennst du Tad Harcourt?" ' „Sicher", sagte er sofort. „Ich und Tad, wir sind so." Er presste die geballten Fäuste gegeneinander. Die Worte klangen verbittert, und seine Miene hatte sich wieder verhärtet. Sie musterte sein Gesicht. „Du magst ihn auch nicht, was? Er ist mein Cousin." „Mist", meinte er mitfühlend und pfiff gleich darauf durch die Zähne. „Du bist eine Harcourt?" „Ja ... Mist", wiederholte sie traurig. „Jedenfalls sagt Onkel Ames, dass ich eine bin. Aber ich weiß nicht, warum ich eine Harcourt sein muss. Ich heiße nämlich Grant. Steht auf meiner Geburtsurkunde. Whitney Daryn Grant. Wenn mein Daddy nicht ertrunken wäre, könnte ich noch immer eine Grant sein und in Winnetka leben. Manchmal weine ich, aber nicht, wenn Tad dabei ist. Das Daryn in meinem Namen stammt von der Mutter meines Vaters. Die ist auch tot, war aber echt nett. Die Harcourts sind fast alle fies. Vor allem Tad. Er hasst Amesy ... das ist das kleine Baby von Onkel Ames und Tante Jocelyn. Tad hasst ein kleines Baby. Nur weil er der einzige Junge sein will. Ich finde das mies." Sie hob den Kopf. „Baby ist nicht mies. Nur dumm. Aber die anderen sind eingebildet. Allie nennt mich immer Spitney, und Muffy sagt, ich hätte Kuhaugen, aber ich glaube nicht, dass sie schon mal eine Kuh gesehen hat. Kühe haben nämlich braune Augen, und meine sind blau. Ich mag unser Haus, und ich ..." „Sei still!" Sie verstummte und sah ihn an, kein bisschen gekränkt. „Redest du immer so viel?" fragte er. „Ja", gab sie zu, „aber meistens mit mir selbst. Mutter ist immer beschäftigt, und mit meinen Cousins rede ich nicht. Ich meine, nicht so wie mit dir. Mit denen muss ich ..." „Schon kapiert", unterbrach er sie erneut. „Aber was hat das alles damit zu tun, dass du hier im Müllkippenviertel bist?" „Das ist ein hässlicher Name. Ich würde es nicht so nennen, wenn ich hier wohnen würde. Stört es dich gar nicht, wenn die Leute deine Gegend so nennen?" Offenbar hatte sie etwas Falsches gesagt, denn sein Blick wurde wieder zornig. „Sagst du mir jetzt, warum du hier bist, oder nicht?" Sie seufzte schwer. „Tad und die Mädchen meinen, wenn ich nicht feige bin, muss ich einen Beweis mitbringen, dass ich ganz bis zur Macon Street war." Sie sah sich um. „Weißt du, welches die Macon Street ist? Ich kann keine Schilder finden." Er starrte sie nachdenklich an, bevor er aufsprang. „Komm mit", befahl er. Ohne Zögern folgte Whitney dem fremden Jungen. Sie gingen eine verdreckte, von Unkraut überwucherte Gasse entlang und stiegen über eine völlig verrostete Kette. Auf dem Grundstück dahinter stand das Gras kniehoch. „Bleib hier", ordnete er an und sprang hoch, um an den niedrigen Ast einer riesigen Eiche zu kommen. „Warte", flüsterte sie, als er weiterkletterte. „Wessen Haus ist das?" „Meins", erwiderte er, ohne sich umzusehen.
„Warum kannst du dann nicht durch die Tür?" „Weil mein Stiefvater mal wieder arbeitslos ist", rief er nach unten. „Wenn ich durchs Ha us gehe, fängt er garantiert Streit mit mir an, und ich bin heute nicht in der Stimmung dafür." Das konnte Whitney gut verstehen. So erging es ihr mit ihren Cousins auch immer. „Warte", wiederholte sie. „Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie du heißt." „Dean ... Dean Russell. Kannst du jetzt den Mund halten?" Sie beobachtete, wie er durch ein Fenster im ersten Geschoß kletterte, und wartete, bis er wieder auftauchte. Sekunden später sprang er aus dem Baum und landete einen Meter von ihr entfernt. Er zog ein verbeultes Straßenschild aus dem Hemd und reichte es ihr. Sie drehte es hin und her. Macon Street. „Ich hab's vor ein paar Wochen abgemacht", sagte er. „Du meinst... du meinst, du gibst es mir?" fragte sie überrascht. Er zuckte mit den schmalen Schultern. „Du brauchst es mehr als ich. Außerdem kann ich jedes Straßenschild bekommen, das ich will." Obwohl er die Geste als belanglos abtat, wusste Whitney, dass er auf einen großen Schatz verzichtete, und konnte ihm nicht genug dafür danken. Sie dankte ihm, bis er ihr einmal mehr sagte, sie solle den Mund halten. „Was tust du denn, wenn die anfangen, dich zu ärgern?" fragte Dean, als sie durch die Straßen des Müllkippenviertels gingen. „Ich haue sie", sagte sie und ließ die Faust durch die Luft sausen, um ihm ihren rechten Haken vorzuführen. „Na ja, genau das ist der Fehler", erklärte er ihr. „Da die alle größer sind als du, kannst du ihnen nicht viel tun. Und wenn du dich wehrst, zeigst du ihnen nur, wie sie dich ärgern können. Ich habe schon vor langer Zeit herausbekommen, dass man solchen Typen zeigen muss, dass man sich nicht reizen lässt. Dass sie so unwichtig sind wie lästige Fliegen, die einem um die Nase schwirren. Wenn du so tust, als würdest du ihre Gemeinheiten einfach nur lächerlich finden, lassen sie dich bald in Ruhe. Dann suchen sie sich jemanden, der weint oder wütend wird. Verstehst du, was ich meine?" Whitney nickte und sog jedes Wort in sich auf, als käme es von einem weisen Propheten. Sie versicherte ihm, dass sie seinen Rat befolgen würde. Inzwischen hatten sie den Parkplatz der Wahrsagerin erreicht. Und dann würde sie zurückkommen und ihm alles erzählen. Denn das Müllkippenviertel machte ihr keine Angst mehr. Weil Dean dort wohnte. Jener Tag war der Anfang ihrer Freundschaft gewesen. In den achtzehn Jahren seitdem hatte sich viel verändert. Das Müllkippen viertel existierte nicht mehr. Die alten Häuser galten jetzt als chic, und die Gegend nannte sich jetzt West Edge. Dean hatte das College besucht, Jura studiert und war ein angesehener Rechtsanwalt geworden. Sein Stiefvater hatte sich schon vor Jahren abgesetzt, und seine Mutter lebte bei ihrer Schwester in Florida. Und der Rat, den Dean ihr an jenem ersten Tag gegeben hatte, hatte funktioniert. Irgendwann war es zu einem Waffenstillstand zwischen den Harcourt-Kindern gekommen. Whitneys Cousins waren mit zunehmendem Alter friedlicher geworden, und manchmal mochte sie sie fast. In den achtzehn Jahren war Whitney zu einer Frau geworden. Sie hatte sechs Jahre auf dem College hinter sich und war dabei, auf ihrem Gebiet zu einer echten Expertin zu werden. Und in der ganzen Zeit hatte Dean nie aufgehört, ihr Held zu sein. Sie ging noch immer zu ihm, wenn sie Probleme hatte oder einen Triumph teilen wollte. Und er war immer für sie da. Natürlich war sie in ihn verliebt. Wie auch nicht? Aber für Dean war Whitney noch immer nur das kleine Mädchen, das er damals gerettet hatte. Vielleicht würde sie
das immer bleiben.
2. KAPITEL „Könntest du mir vielleicht erklären, warum du Löcher in meinen Garten buddelst?" Whitney sah über die Schulter. Dean stand in der Küchentür, eine Tasse Kaffee in der Hand. Er trug nur Jeans. Kein Hemd, keine Schuhe. Er hatte sich noch nicht einmal das Haar gekämmt. „Ich suche nach vergrabenen Schätzen", erklärte sie. „Inka-Gold ... Marie Antoinettes Juwelen. Ja, das ist es." „Da kommst du zu spät." Er kam in den Garten und stellte sich neben sie. „Ich habe das Zeug in der letzten Woche eingesammelt." Es war Samstag, mehr als eine Woche nachdem sie ihm Oscar gebracht hatte. Und wie Dean vorhergesagt hatte, hatte der junge Watkins einen Blick auf das unansehnliche Tier geworfen und es sofort liebgewonnen. Pete Watkins hatte Oscars Ausstrahlung etwas länger widerstanden, sich aber schließlich von Dean überreden lassen, dem Hund ein Zuhause zu geben. „Ich habe dir ein paar Blumen mitgebracht" Sie hielt einen Plastiktopf hoch. „Um deinen Garten etwas farbenfroher zu gestalten. Als Dankeschön dafür, dass du Oscar gerettet hast. Sind sie nicht hübsch? Ich habe dieselben für den Garten hinter dem Cottage gekauft." Er runzelte die Stirn. „Ich dachte, ich hätte dir verboten, mir etwas zu schenken." „Ich will dich nicht mit schmutzigem Harcourt-Geld korrumpieren", erwiderte sie. „Ich habe sie von dem gekauft, was ich im Schweiße meines Angesichts verdient habe." Sie lächelte zu ihm hinauf. „Ich habe für Allies drei Darlings den Babysitter gespielt." „Dann danke ich dir." Er rieb sich den Oberkörper. „Bin gleich wieder da", sagte er, als hätte er jetzt bemerkt, dass er noch nicht angezogen war. Minuten später kehrte er zurück, komplett angezogen, das Haar ordentlich gekämmt. Schade, dachte sie leise seufzend und wandte sich wieder den Blumen zu. „Sieht aus, als hättest du die Gärtnerei leergekauft", scherzte er und ging neben ihr in die Hocke. „Was ist das denn?" „Von allem etwas: Fleißiges Lieschen, Stiefmütterchen, Begonien. Und das sind Callas. Die sehen am Haus gut aus. Du hättest die Dinger sehen sollen, die sie mir erst verkaufen wollten. Blass und kränklich. Die armen Pflanzen haben praktisch schon gehustet." „Kamelien?" fragte er. „Sehr witzig", konterte sie lachend. „Du hättest es bestimmt nicht lustig gefunden, wenn ich dir den Garten voller halbeingegangener Blumen bepflanzt hätte. Ich musste ihn erst nerven, bevor er mit mir nach hinten ging, wo er die guten Sachen hatte." „Hinterhofpflanzen, was?" „Könnte man sagen." Schmunzelnd starrte Dean auf ihren gesenkten Kopf. Manchmal, so wie jetzt, wenn sie den Clown spielte, fand er sie absolut hinreißend. Für sie selbst war ihr Aussehen so selbstverständlich - das schwarze Haar, das ihr bei der Arbeit vors Gesicht fiel, der Teint, der wie antikes Porzellan aussah, die Augen, die blauer waren als alle anderen Augen, die er kannte. Meistens nahm auch er ihre Schönheit als etwas Selbstverständliches. Aber dann traf der Sonnenschein sie im genau richtigen Winkel, oder sie bewegte den Kopf auf eine ganz bestimmte Art, und ihr Anblick raubte ihm den Atem.
In den letzten Jahren war Whitneys Körper voller geworden. Wunderschön. Sie war noch immer schlank, die Kurven unaufdringlich, aber die Beine wirkten endlos lang, und ihre Art sich zu bewegen hatte etwas Vitales, etwas unterschwellig Sinnliches. Obwohl Dean ihr gegenüber immer zurückhaltend gewesen war, waren seine Gefühle ihr gegenüber alles andere als distanziert. Fast sein ganzes Leben hindurch hatte er sich um sie Sorgen gemacht. Das tat er noch immer, denn auch wenn sie längst erwachsen war, kam sie ihm so zart vor wie früher. Sie war eine Harcourt-Orchidee, die in einer künstlichen Umwelt gewachsen war, ohne für die harten Realitäten der Welt draußen gerüstet zu sein. „Wie läuft der Fall?" Er sah verwirrt hoch und bemerkte, dass sie sein Gesicht betrachtete. Kopfschüttelnd griff er nach einer der Pflanzen. „Noch nichts Neues. Gestern habe ich Tess, Alvos kleine Schwester, von der Schule abgeholt. Ich bin mir fast sicher, dass du recht hast. Sie verschweigt etwas. Aber sie traut mir nicht und will nichts sagen." „Das wird sie schon noch," Whitney lächelte. „Du hast so eine Art, mit kleinen Mädchen umzugehen." Sie nahm ihm den Topf ab, holte die Pflanze heraus und sah ihn an. „Übrigens habe ich vielleicht einen Job für den Sommer." „Lass mich raten. Der Gärtner hat dich angeheuert, damit du seinen alten Gardenien neues Leben einhauchst." Sie machte eine abfällige Bewegung. „Ich werde bei Boedecker und Kraus arbeiten." „Die Kopier-Leute?" Er runzelte die Stirn. „Was weißt du von Kopiergeräten?" „Nichts", gestand sie bereitwillig. „Aber die Japaner, die den Laden gekauft haben, brauchen jemanden, der für sie Kunstwerke kauft. Zufällig habe ich einen Abschluss in Kunstgeschichte. Wenn ich den Job bekomme, werde ich im Sommer durch die Gegend fliegen ... vielleicht sogar nach Europa. Klingt gut, was?" „Klingt großartig. Wann wirst du es wissen?" „Ich habe am Montag ein Gespräch. Aber ich weiß nicht mehr, wann. Verdrehe nicht die Augen, ich kann nichts dafür. Die Sekretärin hat mir einen Termin genannt, es sich dann aber anders überlegt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er um zehn, halb elf oder drei ist." Dean lachte. Ihre unbeschwerte Art war einfach unwiderstehlich. Und sie war eine Harcourt und hatte es noch nie erlebt, abgewiesen zu werden. Sie konnte sich so etwas gar nicht vorstellen. Wahrscheinlich würde sie den Job bekommen. Whitneys Charme konnte aus einem wütenden Stier ein sanftes Kälbchen machen. Aber es fiel Dean schwer, sie sich in der hektischen Atmosphäre einer Firma vorzustellen. Whitney hatte noch nie in ihrem Leben richtig gearbeitet, und jetzt sollte sie beruflich in der Welt umherfliegen? Schon die Idee machte ihm angst. „Willst du den Job wirklich?" fragte er so beiläufig wie möglich. „Natürlich. Endlich kann ich all das verwenden, was ich im Studium gelernt habe." Sie sah ihn herausfordernd an. „Außerdem habe ich meine Garderobe schon zusammengestellt. Ich werde die bestgekleidete Kunsteinkäuferin der westlichen Welt sein." Obwohl Dean in ihr fröhliches Lachen einstimmte, war er noch beunruhigt. Ihre Neuigkeit hätte ihn nicht so berühren dürfen. Schließlich hatte er sie, seit sie achtzehn war, gedrängt, endlich flügge zu werden. Aber irgendwie hatte er mit einem gemächlicheren Übergang gerechnet. Eigentlich hätte er es besser wissen müssen. Whitney machte nie etwas halbherzig. Bei ihr war es immer alles oder nichts.
Als sie die Pflanzen gesetzt hatten, klopften sie sich den Staub von den Knien. „Die Blumen sind wunderschön, Whitney. Vielen Dank." Sie sah sich um. „Der Garten sieht jetzt besser aus, nicht wahr?" Er legte den Arm um ihre Schultern. „Ich muss los. Ich bin zum Lunch verabredet." „Beruflich?" fragte Whitney hoffnungsvoll. „Vergnügen." Sie verzog das Gesicht. „Schon wieder Barbara Charles? Hältst du sie wirklich für vertrauenswürdig? Ich glaube, ich habe ihr Foto im Postamt gesehen ... Nein, hör mir zu", sagte sie, als er lachte. „Ehrlich, ich hätte schwören können, dass sie es ist. Ihr Haar war strähniger als sonst, aber sie hat Haar, das man oft waschen muss. Nicht, dass ich damit andeuten will, sie sei keine reinliche Person, aber ... Hörst du jetzt auf zu lachen? Ich finde nur, dass sie nicht die Richtige für dich ist. Sie kommt mir so kalt und berechnend vor." Whitney sah ihn an. „Sie ist kalt, nicht wahr?" fragte sie. „Nein, ist sie nicht", erwiderte er, bevor er ihren Arm nahm und sie zur Pforte führte. „Und jetzt verschwinde." Er schob sie hinaus und schloss die Pforte hinter ihr. „Dean?" rief sie und stellte sich auf Zehenspitzen, obwohl sie auch so nicht über den zwei Meter hohen Zaun sehen konnte. „Dean, hör zu. Ich wollte es dir ja nicht sagen, aber Barbara ist viel älter, als du denkst. Modernes Make-up bewirkt Wunder, und ich schwöre dir, wenn sie es abmacht, sieht sie aus wie eine Luftaufnahme der Dakota Badlands." Als sie sein Lachen hörte, trat sie gegen einen der Mülleimer. „Die Frau hat dicke Waden", murmelte sie. „Okay", fuhr sie lauter fort. „Ich gebe es zu ... ich bin eifersüchtig. Wenn du mit ihr ausgehst, tust du meinen Gefühlen weh. Das willst du doch nicht, oder, Dean? Dean?" Sein Lachen wurde leiser, und Sekunden später hörte sie, wie er die Küchentür hinter sich schloss. Resigniert seufzend drehte sie sich um und ging die Straße entlang. Bis zu ihrem Wagen war es ein ganzes Stück. Dachte er etwa, sie hätte die Pflanzen hergezaubert? Oder der Butler der Harcourts hätte sie für sie hergetragen? Na ja, ein Spaziergang würde ihr guttun. Sie wusste , dass Dean ihre Eifersucht nicht ernst nahm. Er nahm ja nicht einmal sie ernst. Aber das wird er noch, schwor sie sich. Eines Tages wird er es. Als Whitney einige Minuten später ihr Haus betrat, kam ihre Mutter gerade die Treppe herunter. Anne Grant war Ende Vierzig, aber ihr gutes Aussehen wirkte irgendwie altersunabhängig. Beigeblondes Haar, beigecremiger Teint. Und sie trug fast immer Pastelltöne. Verschwommen. Ohne Konturen. Nichts an Anne Grant war markant, nicht einmal ihre Gefühle. Whitney liebte ihre Mutter, hatte aber in all den Jahres nichts Solides, nichts Verlässliches an ihr gefunden. Keinen Kern, keine Schale. Flauschig, das war das Wort, das ihr zu Anne einfiel. Flauschiges Aussehen, flauschige Persönlichkeit. Wenn man sie zu greifen versuchte, entglitt sie einem wieder und ließ nichts als eine Handvoll Luft zurück. Anne Grant reagierte mit derselben Verwirrung auf einen Fleck auf dem Teppich, wie sie es auf eine Weltkatastrophe getan hätte, und Whitney konnte sich nicht erinnern, jemals ein ernsthaftes Gespräch mit ihr geführt zu haben. Aber vielleicht war sie daran selbst schuld, denn sie hatte schon vor langer Zeit beschlossen, dass eine tiefergehende Unterhaltung mit ihrer Mutter reine Zeitverschwendung wäre. „Schade, dass du Madeleines Besuch verpasst hast. Sie hat es natürlich
bemerkt. Ich habe ihr gesagt, dass du bei irgendeiner Benefiz-Veranstaltung bist", begrüßte sie ihre Tochter. „Tut mir leid, Madeleine hatte ich ganz vergessen", sagte Whitney mit gespieltem Bedauern. „Ich war bei Dean." Anne blinzelte, und ihre Miene verhärtete sich. „Ich habe ihr versichert, dass du ihren Besuch niemals absichtlich vergessen würdest", fuhr sie fort, als hätte ihre Tochter nichts gesagt. Whitney beugte sich zu ihrer Mutter und küsste sie auf die Wange. „Möchtest du, dass ich ihr schreibe, wie traurig ich bin, sie verpasst zu haben?" „Madeleine würde sich bestimmt freuen." Whitney lächelte Anne noch einmal und ging in ihr Zimmer. Unter der Dusche und später, als sie den versprochenen Brief schrieb, musste sie immer wieder an Dean denken. Er war nach seiner Verabredung nicht nach Hause gekommen. Sie rief ihn an, um zwei, um drei, um vier und um halb fünf. Um sechs begann sie, ihn alle fünf Minuten anzurufen. Erst um zehn ging sie ins Bett. Doch auch dort kam sie nicht von Dean los. Hatte er mit Barbara nicht nur zu Mittag, sondern auch noch zu Abend gegessen? Oder hatte Barbara für ihn gekocht? Sie war der Typ von Frau, der zu solchen Tricks greifen würde, um ihm zu zeigen, was für ein perfektes Heim sie ihm bereiten konnte. Vielleicht waren sie jetzt bei ihr. Vielleicht waren sie in ihrem Schlafzimmer. In ihrem Bett. Whitney drehte sich ruckartig um, um diese deprimierende Vorstellung zu verdrängen. Meistens gelang es ihr, die Beziehung zu Dean in positivem Licht zu sehen und sich auf schönere Tage in der Zukunft zu freuen. Aber manchmal, spätabends, wenn das Mondlicht durch die Vorhänge schimmerte, konnte sie vor Verlangen nach ihm nicht einschlafen. Whitney wusste, dass sie Deans Freundschaft hatte. Es war das Solideste in ihrem Leben. Aber Freundschaft war nicht genug. Sie wollte totale Intimität. Verstand, Körper und Geist. Sie wollte, dass Dean sie ebenso sehr liebte wie sie ihn. Um sich zu trösten, schloss sie die Augen und malte sich ihren Hochzeitstag aus. Das war etwas, das sie häufiger tat. Ihre Mutter war die einzige Harcourt, die Whitney an diesem besonderen Tag teilhaben lassen würde. Sie würde es nicht zulassen, dass ihre Angehörigen ihren Hochzeitstag in einen solchen Zirkus wie bei Allie und Muffy verwandelten. Die Planungen für die Hochzeit ihrer Cousinen hatten über ein Jahr gedauert. Die Brautkleider waren in Paris und Mailand ausgesucht worden, und über beide Ereignisse hatte es Bildberichte in der Regenbogenpresse gegeben. Whitney hatte nicht vor, sich an einem so lächerlichen Wettbewerb zu beteiligen. Ihre Trauung mit Dean würde im Freien stattfinden, vielleicht sogar in seinem Garten, jetzt nachdem sie ihm all die Blumen geschenkt hatte. Es würde keine aufwendige Zeremonie werden, sondern ganz schlicht. Und sie würde alles mit ihrem eigenen Geld bezahlen. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens von Harcourt-Geld gelebt, und wenn sie eins dabei gelernt hatte, dann die Tatsache, dass der Zinssatz, den die Familie dafür verlangte, viel zu hoch war. Sie hatte noch nicht entschieden, was Dean tragen sollte. Im Smoking sah er hinreißend aus, aber ein Smoking war etwas zu harcourtisch. Etwas weniger Formelles wäre besser. In Schwarz sah Dean immer wunderbar aus. Und in Braun. Und Grau, Blau und Weiß. Whitney würde ihre Mutter bitten, sie Dean zu übergeben. Und Dean konnte seinen Partner in der Kanzlei, Sam Carter, als Trauzeugen nehmen. Nach der Hochzeit würden sie die Flitterwochen in den Bergen verbringen. Dean mochte die Berge. Neu-Mexiko oder Colorado, dachte sie und legte einen Arm über die Augen.
Vielleicht würden sie eine dieser irren Suiten mit einer herzförmigen Badewanne und einem herzförmigen Bett bekommen. In der Hochzeitsnacht würden sie dann auf dem herzförmigen Bett sitzen, Erdbeeren essen und Champagner trinken. Whitney war nicht gerade verrückt nach Champagner, aber sie mochte Erdbeeren, und die Idee hörte sich romantisch an. Sie wusste noch nicht, was sie in ihrer ersten Nacht anziehen würde. Etwas Langes und Weißes, das zu ihrem schwarzen Haar gut aussehen würde. Andererseits hatte sie wirklich tolle Beine und fand es schade, sie zu bedecken. Also entschied sie sich für ein schlichtes Seidenhemd. Dean würde einen Seiden-Pyjama tragen. Aus burgunderroter Seide. Aber nur die Hose ... Whitney setzte sich im Bett auf und fächerte sich mit beiden Händen Luft ins gerötete Gesicht. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, und kaum hatte sie die Augen geschlossen, sah sie Dean wieder vor sich und hielt den Atem an. Sie wollte ihn nicht nur sehen. Sie musste ihn einfach sehen. Sie musste sie beide zusammen sehen. Jetzt sah sie keine Seide mehr. Weder an sich noch an ihm. Sein langer, kräftiger Körper lag auf ihrem. Jeder Muskel in ihm war angespannt, und fast konnte sie seine heiße Haut an ihrer spüren. Seine Hüften, seine Hände an ihren Schultern, ihre an seinem Rücken. Whitneys Finger zuckten, als würde sie ihn tatsächlich berühren. Sie riss die Augen auf, atmete mehrmals tief durch, um sich wieder in den Griff zu bekommen. „Du spinnst, Whitney Daryn Grant", flüsterte sie heiser. „Echt verrückt, echt... gestört." Sie kletterte aus dem Bett und tastete in der Dunkelheit nach ihrer Reitkleidung. „Ein schlechtes Zeichen. Ein sehr schlechtes Zeichen", murmelte sie, als sie in die maßgeschneiderte Hose stieg. „Du weißt, was das bedeutet, nicht? Es bedeutet, dass du langsam zu einer alten Jungfer wirst. Liegst allein in deinem Bett und träumst erotische Träume", schimpfte sie mit zusammengebissenen Zähnen auf sich selbst, während sie sich in die Reitstiefel quälte. Es gelang ihr, sich aus dem Haus zu stehlen, ohne von ihrer Mutter bemerkt zu werden. Sie ging die Viertelmeile zu den Ställen und band sich auf dem Weg das Seidentuch um, das sie mitgenommen hatte. Als sie Herakles' Box erreichte, sprach sie mit ihm, um sich nicht mehr so allein zu fühlen. Herakles nickte mit dem Kopf, um sie wissen zu lassen, dass er ihre Wildheit spürte und sich auf den Ausritt freute. Whitney führte das Pferd aus dem Stall und schwang sich in den Sattel. Dann beugte sie sich vor und tätschelte ihm den Hals. „Okay, Junge, auf geht's." Hinter der Harcourt-Villa lag eine Weide, und als sie Herakles am Tennisplatz und dem Swimming-pool vorbeilenkte, hörte sich das Klappern der Hufe auf dem Pflaster wie Donnerschläge an. Onkel Ames hatte einen leichten Schlaf und würde sie vermutlich hören. Bestimmt würde er sich wieder bei ihrer Mutter beschweren, aber Whitney hatte es zu eilig, um sich darüber Sorgen zu machen. Als sie weit genug vom Haus entfernt waren, galoppierte Whitney an und ließ dem Pferd freien Lauf. Dann lag plötzlich das offene Land vor ihnen, und sie hatte den Druck der Harcourts hinter sich. Sie ritt schnell und geschickt, fühlte das kraftvolle Tier unter sich, während sie beide ihre rastlose Energie abarbeiteten. Eine halbe Stunde später erreichte sie eine kleine Anhöhe. Sie zügelte Herakles und richtete sich in den Steigbügeln auf. Unter sich konnte sie Harcourt House und ihr eigenes kleines Cottage sehen. Und dahinter lag das einstige „Müllkippenviertel". Von hier oben war der Dachfirst von Deans Haus gerade noch zu erkennen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie von hier oben auf sein Haus hinuntersah. Bevor sie alt und mutig genug war, mitternächtliche Ritte zu unternehmen, war sie zu Fuß zu dem kleinen Hügel gegangen. Manchmal, um in den Tag hineinzuträumen. Manchmal, um vor sich hinzubrüten. Sie war fast acht gewesen, als sie herausfand, dass Dean regelmäßig von seinem Stiefvater verprügelt wurde. Als sie die blauen Flecken das erste Mal bemerkte, hatte er gesagt, dass Straßenkämpfe nun einmal zum Leben im Müllkippenviertel gehörten. Das hatte ihr nicht gefallen, aber ihr Vertrauen in Dean war grenzenlos. Wenn er diese Prügeleien okay fand, würde sie versuchen, sich nicht darüber aufzuregen. Doch eines Tages erfuhr sie die Wahrheit. Sie war durch die Hecke geschlüpft und durchs Müllkippenviertel gerannt, um ihm zu erzählen, wie gut sie bei einem Rechtschreib-Test in der Schule abgeschnitten hatte. Sie war noch über einen Block von Deans Haus entfernt, als sie ihn sah. Er stand in der Adam Street und sprach mit einem glatzköpfigen, leicht übergewichtigen Mann. Der Zorn auf Deans Gesicht ließ Whitney wie angewurzelt stehen bleiben, und sie versteckte sich hinter einem kaputten Baby-Buggy, um die beiden zu belauschen. „Ich will dir ja helfen, Dean", sagte der Mann gerade. „Aber ich kann nichts tun, bis du mir erzählst, was los ist. Andere Leute haben es mir erzählt, aber du musst es mir bestätigen. Sag's einfach. Sag, dass er dich verprügelt. Mehr brauchst du nicht zu tun. Dann übernehme ich die Sache. Ich kann dir Hilfe besorgen." „Was für welche denn?" fragte Dean trotzig. „Wollen Sie mich den Sozialarbeitern übergeben, damit ich im Heim lande?" Er schnaubte verächtlich. „Das fehlt mir gerade noch." Der Mann schwieg einen Moment. „Weißt du, wovor ich am meisten Angst habe? Ich habe Angst, dass du eines Tages genug hast, durchdrehst ... und ihn umbringst. Du hast Verstand, Junge. Meistens setzt du ihn nicht ein, aber er ist da, und ich will nicht, dass du ihn nur fürs Gefängnis brauchst. Lass mich wenigstens mit deiner Mutter reden." Wütend baute Dean sich noch dichter vor dem Mann auf. „Bleiben Sie von meiner Mutter weg", warnte er. „Hören Sie mich? Bleiben Sie von ihr weg. Wenn es so wäre, wie Sie sagen, und mein Stiefvater wirklich das tut, was Sie glauben, was würde er denn wohl mit ihr machen? Meinen Sie, es wäre besser für sie, wenn ich weg bin?" Es dauerte eine Weile, aber schließlich begriff Whitney, was wirklich los war. Sie hörte nicht mehr hin, denn der Puls dröhnte ihr viel zu laut in den Ohren. Sie sprang aus ihrem Versteck und rannte davon. Vor Worten, die sie nicht hören wollte. Vor der Realität. Sie war keinen halben Block weit gekommen, als zwei Arme sich von hinten um sie legten. „Whit... Whit... Um Himmels willen, hör auf mich zu treten." Sie sah zu Dean hinauf, fing aber wieder an zu zappeln. „Lass mich los!" befahl sie heiser. „Warum? Was tust d u hier? Warum bist du weggerannt?" Keuchend wich sie seinem Blick aus. „Onkel Ames hat Waffen. Im Harcourt House gibt es ein Zimmer voller Waffen, in den Schränken und an den Wänden. Ich hole mir jetzt eine, und dann erschieße ich ihn." Dean war schnell. Er wusste immer, was sie dachte, manchmal sogar schon, bevor sie selbst es wusste. Er zog sie mit sich auf den Kantstein und legte den Arm um sie. „Ich wünschte, du hättest nichts davon mitbekommen", sagte er.
„Habe ich aber. Du hä ttest mich nicht anlügen dürfen, aber das ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist jetzt nur noch ..." „Dass du eine Waffe holst, um ihn zu erschießen", bemerkte er mit einer seltsamen Mischung aus Trauer und Belustigung. „Du wirst niemanden erschießen. Und wenn ich dich mit einer Waffe erwische, versohle ich dir den Hintern. Hast du mich verstanden?" Sie sank in sich zusammen. „Dean ..." Sie brach ab, ließ den Kopf auf die Knie fallen und begann zu schluchzen. „Komm schon, hör auf, Whit", verlangte er mit rauer Stimme. Sie schüttelte den Kopf. „Du hättest es mir sagen sollen. Ich halte es nicht aus. Ich halte es einfach nicht aus. Du hast gesagt, dass du mit anderen Jungs kämpfst, und das fand ich nicht gut, weil dein Gesicht immer so aussah. Ich dachte, die anderen sehen bestimmt noch schlimmer aus als du, weil du ein guter Kämpfer bist. Aber es waren keine Jungs. Es war dein eigener Vater, der ..." „Stiefvater", verbesserte er scharf. „Dein Stiefvater war es", verbesserte sie sich. „Und er ist erwachsen und sollte einem Kind nichts tun." Er tat ihre kindliche Logik mit einem Achselzucken ab. „So ist das Leben. So etwas passiert dauernd, auch wenn es das nicht sollte. Aber du darfst dir keine Sorgen mehr machen. Ein paar Mal im Monat besäuft er sich eben und lässt seinen Frust an mir aus. Meistens gehe ich ihm aus dem Weg, aber manchmal fängt er mich ab. Keine große Sache. Meistens ist er zu betrunken, um großen Schaden anzurichten." Er grinste. „Der Schnaps nimmt ihm das Gleichgewicht. Komm jetzt. Sag mir, warum du gekommen bist." Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ist nicht wichtig. Wer war der Mann, mit dem du gesprochen hast?" „Mein Englischlehrer. Er ist in Ordnung, aber er weiß nicht viel über das Leben im Müllkippenviertel." „Aber du leider", erwiderte sie aufgebracht. „Schade, dass du nicht bei uns im Cottage wohnen kannst. Mutter schlägt mich nie." Er warf den Kopf zurück und lachte. „Stell dir deine Mutter vor, wenn du mich mitbringen würdest. Whitney, Darling, ruf den Kammerjäger, wir haben Ungeziefer im Haus. Und fass ihn um Himmels willen nicht an.'" Sie wollte ihn boxen, doch dann dachte sie an seinen Stiefvater und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Versprich mir, dass du vorsichtig bist. Versprich mir, dass du ihm ab jetzt aus dem Weg gehst." Er versprach es ihr, mit der Hand auf dem Herzen und einem übertrieben feierlichen Schwur, trotzdem sah sie hin und wieder Blutergüsse auf seinem Gesicht. Selbst jetzt noch, Jahre später, tat es ihr weh, wenn sie an seine Kindheit dachte. Er war ihr Beschützer gewesen, hatte selbst jedoch niemanden gehabt, der ihn beschützte. Das fand sie noch immer zutiefst ungerecht. Dean hatte seinen Stiefvater nicht umgebracht, aber er war so groß und stark geworden, dass der Mann es sich zweimal überlegte, bevor er Streit mit Dean anfing. Irgendwann war Deans Stiefvater dann verschwunden. Whitney hatte es Dean nie gesagt, aber es tat ihr noch immer leid, dass der Mann nie seine gerechte Strafe erhalten hatte. Irgendjemand hätte dafür bezahlen müssen, dass Dean die Kindheit geraubt worden war. „Ich werde ihn dafür entschädigen", sagte sie zur Nacht. Zu den Sternen. Zum Mond. „Ich werde ihn glücklich machen, das schwöre ich. Wenn wir erst verheiratet sind, wird sein Leben so erfüllt und glücklich sein, dass er all das Schlechte vergessen kann."
Sollte er doch mit dieser Barbara ausgehen, sollte er doch ruhig mit ihr schlafen, eines Tages würde alles anders werden. Davon war Whitney felsenfest überzeug t. Eines Tages würden sie und Dean zusammen sein. Sie mussten es einfach. Herakles bewegte sich unter ihr, und im Haus mit der alten Wetterfahne ging ein Licht an. Whitney spürte, wie ihre Muskeln sich entspannten, und sie musste ein Gähnen unterdrücken. Jetzt konnte sie ins Cottage zurückkehren und ruhig schlafen. Dean war zu Hause.
3. KAPITEL Whitney trug Jeans-Shorts sowie ein gelbes Shirt und war in dem kleinen Garten hinter dem Cottage damit beschäftigt, Blumen zu pflanzen. Obwohl die schwarze Erde unter ihren Fingern kalt war, achtete Whitney nicht darauf, denn sie dachte wie üblich an Dean. Sie fragte sich, ob er heute morgen länger geschlafen hatte. Und wenn ja, warum. Vielleicht hatte er ja eine heiße, hemmungslose Nacht hinter sich. Whitney entschuldigte sich bei dem Stiefmütterchen, das sie fast erwürgt hätte, setzte sich auf den gepflasterten Weg und schlang die Arme um die bloßen Beine. Sie wusste, dass Dean mit den Frauen, mit denen er ausging, Sex hatte. Sie hatte es immer gewusst. Aber sie wusste auch, dass keine der Frauen, mit denen er schlief, ihm etwas bedeutete. Keine von ihnen war etwas Dauerhaftes. Sie waren nicht mehr als Zwischenspiele, Episoden kurzfristiger Zuneigung. Bei keiner davon war er mit dem Herzen dabei. Whitney gestand sich jedoch ehrlicherweise ein, dass sie selbst eine Menge dafür gegeben hätte, zum Kreis seiner Gespielinnen zu zählen. Sie war gerade dabei, die letzte Begonie umzusetzen, als ihr das Bewerbungsgespräch bei Boedecker und Kraus einfiel. Sie hatte sich den Termin notiert. Irgendwo. Bei der Sekretärin anzurufen und nachzufragen, würde vermutlich einen schlechten Eindruck machen. Irgendwie würde es unzuverlässig wirken, und echte Profis mussten zuverlässig sein. Und pünktlich. Nachdem sie die letzte Pflanze noch einmal liebevoll festgedrückt hatte, brachte sie die Gartengeräte wieder in den Schuppen, wusch sich die Hände und ging ins Cottage. Das kleine Arbeitszimmer war in den Pastelltönen gehalten, die Anne Grant so sehr liebte. Es war ein sanftes Zimmer. Sanfte Farben an den Wänden, sanfte Konturen an den Möbeln, und in den Regalen durften nur sanfte Bücher stehen. Whitney überlegte kurz und ging an den Queen-Anne-Schreibtisch ihrer Mutter. Sie hatte daran gesessen, als sie den Termin mit der Sekretärin von Boedecker und Kraus vereinbarte. Sie hatte sich die Zeit notiert, das wusste sie noch. Aber nicht auf dem lavendelfarbenen Block ihrer Mutter. Auf einen Umschlag oder einer Quittung oder so etwas. Und dann ... Und dann? Genau das ist das Problem, dachte Whitney und setzte sich. Sie konnte sich nicht erinnern, was dann gewesen war. Hatte sie den Zettel auf dem Schreibtisch gelassen? Durchaus möglich. Und wie sie ihre Mutter kannte, war der Zettel längst in einer Schublade gelandet, zusammen mit allem anderen, das auf dem Schreibtisch gelegen hatte. Whitney ging zunächst das Chaos in der mittleren Schublade durch. Nach einer halben Stunde blieb nur noch eine Schublade übrig. Die Schublade. Die, in der alte Unterlagen auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Whitneys alte Schulzeugnisse, fünf Jahre alte Einkaufslisten und zehn Jahre alte Zettel mit Zahnarztterminen.
Es hat keinen Sinn, sich noch länger davor zu drücken, sagte Whitney sich. Auch die chaotischste Schublade von allen musste durchsucht werden. Oder auch nicht, dachte sie Sekunden später, als sie die Schublade zu öffnen versuchte. Entweder klemmte sie, oder irgend etwas Kleines und Kräftiges hielt sie von innen zu. Whitney holte tief Luft, zerrte einmal, zweimal, aber das Ding rührte sich noch immer nicht. Entschlossen stemmte sie den linken Fuß gegen das Bein des Schreibtischs und zog mit aller Kraft am Griff. Es funktionierte. Es funktionierte so gut, dass die Schublade ganz herausschoss, gegen ihr Schienbein prallte und auf dem Boden landete. Eine Weile konnte Whitney nichts anderes tun, als auf einem Bein herumzuhopsen. Als der Schmerz nachließ, rieb sie sich das Bein und starrte auf die Papiere vor ihr. Sie lagen zu Hunderten, in allen Formen und Größen, auf dem Perserteppich. Whitney ließ sich auf Hände und Knie nieder und sammelte die Papiere zusammen. Erst als sie etwa die Hälfte eingeräumt hatte, bemerkte sie den gefalteten Bogen, der in einem Spalt am Ende der Schublade steckte. Neugierig zog sie ihn heraus und entfaltete ihn. Ein kurzer Blick zeigte ihr, dass er nicht das war, wonach sie suchte, doch irgendetwas ließ sie zögern, ihn gleich wieder zurückzulegen. Sie entfaltete ihn noch einmal und stellte fest, dass es sich um die letzte Seite eines Briefes handelte, der mit „Für immer Dein, Lloyd" unterschrieben war. Das muss ein alter Liebesbrief von Vater an Mutter sein, dachte sie, vermutlich auf einer seiner Geschäftsreisen geschrieben. Obwo hl Whitney wusste, dass sie den Brief eigentlich nicht lesen sollte, ließ sie sich von den Worten auf der Seite fesseln. „Wie geht es Whitney?" hatte ihr Vater geschrieben. „Es erstaunt mich noch immer, dass ich der Vater eines solchen Kindes bin. Selbst als sie noch ein Säugling war, wusste ich, dass sie etwas Besonderes wird. Klug und hübsch und voller Leben ist meine Maid Mary." Maid Mary. Der alte Kosename brachte sie zum Lächeln. Lloyd war ein stattlicher Mann gewesen. Groß und breitschultrig. Und seine Persönlichkeit war ebenso stark gewesen. Er hatte einen Oberlippenbart getragen, und sie erinnerte sich, dass sein Haar so schwarz gewesen war wie ihres, nur dicker. Er hatte große, kräftige Hände gehabt, Hände, die stark genug waren, ihr ein Gefühl der Geborgenheit zu geben, und sanft genug, um sie seine Liebe spüren zu lassen. An jedem Abend, nachdem ihre Mutter Whitneys Haar gebürstet hatte, kam ihr Vater, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Manchmal, wenn sie noch nicht schlafen konnte, nahm er sie auf den Schoß und las ihr eine Geschichte vor. Nach Lloyds Tod hatte Whitney sich diese Szene immer wieder ins Gedächtnis gerufen. Es war ein Stück von ihrem Vater, das ihr niemand nehmen konnte. Whitney besaß fünf Briefe, die ihr Vater ihr geschrieben hatte, noch bevor sie lesen konnte. Sie hatte sie in einem kleinen Kasten in der obersten Schrankschublade. Nie wäre sie darauf gekommen, dass auch ihre Mutter Briefe von ihm besaß. Sie starrte auf die Seite und wunderte sich, dass Anna die Briefe all die Jahre aufgehoben hatte. Irgendwie passte es nicht zu ihr, so traurig das war. Als sie den Brief wieder zusammenfalten wollte, fiel ihr Blick auf die Unterschrift. Erst jetzt bemerkte sie das Datum. Lloyd Grant hatte seine Briefe an Whitney stets mit dem Datum versehen. Dieser Brief trug ein Datum von vor elf Jahren, obwohl ihr Vater damals schon acht Jahre tot gewesen war. Whitney betrachtete das Datum noch einen Moment und lachte leise. Bestimmt
hatte ihr Vater gerade mit jemandem gesprochen, als er das Datum hinzufügte. Das passierte ihr auch immer. Sie schrieb einen Scheck aus, sprach mit der Verkäuferin, ließ sich dadurch ablenken und stellte hinterher fest, dass sie irgendeine astronomische Summe eingetragen hatte. Es war schön, zu wissen, dass sie etwas von ihrem Vater geerbt hatte, auch wenn es nur eine Kleinigkeit war. Behutsam legte sie den Brief in die Schublade zurück und ging daran, die anderen Papiere einzusammeln. Sie griff gerade nach dem letzten Zettel, als ihre Mutter das Arbeitszimmer betrat. „Oh ... du hast mich zu Tode erschreckt", sagte Anne und runzelte die Stirn, als sie die Schublade entdeckte. „Was tust du da? O nein, du hast den Schreibtisch doch nicht etwa für einen wohltätigen Zweck gespendet? Bei der auberginefarbenen Schale hatte ich ja nichts dagegen ... Aber Urgroßmutter Winslows Schreibtisch? Wirklich, Whitney, das kann ich nicht zulassen ..." „Die Schublade klemmte", erklärte Whitney hastig. „Das ist alles. Ich habe sie herausbekommen, aber der Inhalt flog durch die Gegend. Jetzt sammele ich alles wieder ein. Ganz harmlos, ich verspreche es dir." Sie lachte. „Urgroßmutters Schreibtisch droht keinerlei Gefahr." Sie bückte sich und hob den Brief ihres Vaters wieder auf. „Aber sieh mal, was ich gefunden habe. Einen Brief von Daddy. Er steckte hinten in der Schublade. Das Datum hat mir einen kleinen Schock versetzt, aber dann ging mir auf, dass er ..." Bevor sie den Satz vollenden konnte, wurde ihr der Brief aus der Hand gerissen. „Du ... du hast kein Recht, meinen Schreibtisch zu durchsuchen!" ereiferte sich ihre Mutter mit ungewohnter Lautstärke. „Hörst du, Whitney? Du hast absolut kein Recht, meine Sachen durchzugehen!" Whitney starrte sie verblüfft an. Ihre Mutter zitterte vor Erregung, ihr Gesicht war gerötet, und die Finger krallten sich geradezu um den Brief. „Ich möchte, dass du das begreifst." Annes Stimme war leiser geworden, klang jetzt gepresst und scharf. „Ich werde so etwas nie wieder dulden. In Zukunft wirst du dich von meinem Schreibtisch fernhalten, von meinen .... meinen persönlichen Dingen." Anne drehte sich um und ging hinaus. Whitney sah ihr verwirrt nach. Noch nie im Leben, kein einziges Mal, hatte ihre Mutter so die Beherrschung verloren. Irgendwie kam sie sich plötzlich vor wie in Alices Wunderland, wo nichts so war, wie es sein sollte. Sie fühlte sich, als wäre sie von einem Schmetterling gebissen worden. Später, nachdem Whitney geduscht und sich einen blauen Seiden-Overall angezogen hatte, machte sie es sich auf der Bank am Fenster bequem und starrte nach draußen. Selbst jetzt kam ihr die Szene mit ihrer Mutter irgendwie unwirklich vor. Jede Geste, jedes Wort waren übertrieben und unangemessen gewesen. Warum hatte ihre Mutter plötzlich etwas dagegen, dass sie an ihren Schreibtisch ging? Die Wechseljahre hatte Anne Grant hinter sich. Gab es irgendein anderes Problem, eins, das ihre Mutter vor ihr verheimlichte? Nein, sagte Whitney sich, es ging nicht um den Schreibtisch. Es ging um den Brief. Ihre Mütter war wie verwandelt gewesen, nachdem sie den Brief ihres Vaters erwähnt hatte. Sie legte die Stirn an die Scheibe und ließ die Szene noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen. Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher fand Whitney es, dass der Ausbruch ihrer Mutter nichts mit dem Schutz ihrer Privatsphäre zu tun hatte. Anne hatte nur kurz auf den Brief gestarrt, aber in diesem Moment hatte sie ängstlich ausgesehen.
Kurz darauf sah Whitney, wie ihre Mutter das Cottage verließ und den Weg zum Haupthaus nahm. Whitney knabberte an ihrer Unterlippe, während sie mit sich rang. Dann sprang sie auf und eilte aus ihrem Zimmer. Sie kehrte ins Arbeitszimmer ihrer Mutter zurück und ging daran, sämtliche Schubladen des Schreibtischs zu durchsuchen. Diesmal entfaltete sie jeden Zettel, inspizierte jeden Winkel und sah sogar zwischen den Seiten von Annes Terminkalender nach. Sie war nicht sicher, was sie dazu brachte. Sie war nicht einmal sicher, wonach sie suchte, aber sie wusste, dass sie nicht aufhören würde, bevor sie Antworten hatte. Und deshalb ging sie anschließend wieder nach oben, direkt ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Während sie die Sachen ihrer Mutter durchging, im Schrank, im Nachttisch und in der Kommode, quälte sie ein schlechtes Gewissen, aber es war nicht stark genug, die Neugier zu besiegen. Im Schlafzimmer ihrer Mutter fand sie nichts, was ihr weiterhalf. Absolut nichts. Keine Briefe, keine Notizen, keine Fotos. Stirnrunzelnd wanderte sie ins benachbarte Badezimmer und blieb abrupt stehen, als ihr Rauchgeruch in die Nase stieg. Es war kein Tabak. Rauchen kam für Anne Harcourt Grant nicht in Frage. Es war undamenhaft. Es roch eher verbrannt oder verkohlt. Irgend etwas hatte im Badezimmer gebrannt. Und zwar erst vor kurzem. Den Beweis dafür entdeckte Whitney in einem Abfalleimer aus Messing. Die Asche war noch warm. Sie kniete sich hin und wühlte mit zitternden Fingern in der Asche. Sie fand zwei Fetzen Papier. Auf dem einen davon waren, in der Handschrift ihres Vaters, die Worte bitte, Liebes zu lesen. Der zweite Fetze n war die obere Hälfte eines Briefumschlags, auf dem noch der Absender zu erkennen war. 1132 Quintan Street, Dallas, Texas. Der Poststempel verriet, dass der Brief vor sieben Jahren abgeschickt worden war. Whitney saß lange auf den kalten Fliesen des Badezimmers und starrte auf die angesengten Papierfetzen, bevor sie langsam aufstand und hinausging. Als sie das Haus verließ, rannte sie. Sie nahm den Weg, den ihre Mutter Minuten zuvor genommen hatte, und kam mehrmals ins Stolpern. Als sie einen immergrünen Busch umrundete, sah sie ihre Mutter und ihren Onkel. Die beiden standen auf einer kleinen Terrasse an der Seitenwand des Haupthauses. Whitney hörte auf zu rennen und ging langsam auf Anne Grant zu. „Erzähl mir, wie Daddy gestorben ist." Ihre Stimme war atemlos, nicht nur vom Rennen, auch vor Erregung. „Du hast mir nie Einzelheiten erzählt. Keine einzige. Immer nur, dass er bei einem Bootsunfall umgekommen ist. Als ich klein war, dachte ich nur daran, dass er nie wieder nach Hause kommen würde. Und später, als du nie von ihm sprachst, nicht einmal seinen Namen erwähntest, glaubte ich, es wäre zu schmerzhaft für dich. Ich habe mit dir gelitten, Mutter. Du hattest deinen Mann verloren, und ich konnte sehen ... alle konnten sehen, dass du nicht stark genug warst, allein zurechtzukommen." Sie schüttelte den Kopf. „In all den Jahren habe ich gedacht, ich müsste dich beschützen. Ich dachte, du wärest zu verletzlich, zu weich, um mit der Realität fertig zu werden. Ich dachte, das müsste ich für dich tun. Ich habe wirklich geglaubt, dass Daddy das von mir erwarten würde. Weißt du, ich ..." Sie verstummte und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. „Du musst mir die Wahrheit sagen, Mutter. Du musst sie mir jetzt sagen." „Whitney, um Himmels willen", rief Anne aus. „Du bist erhitzt. Sieh dir dein
Gesicht an, Liebling, es ist ganz rot und ..." „Ist mein Vater vor neunzehn Jahren gestorben?" „Whitney, nimm dich sofort zusammen!" Der scharfe Befehl kam von ihrem Onkel, aber sie ignorierte ihn und ließ ihre Mutter nicht aus den Augen. „Mutter, bitte!" Ihre Stimme war jetzt leiser, ruhiger, aber ebenso bestimmt wie zuvor. „Sag mir einfach nur die Wahrheit. Ist Daddy gestorben? Wie du es mir erzählt hast?" Als Anne ihrem Blick auswich, wusste Whitney, dass sie der Wahrheit ganz nah war. Das Unvorstellbare war plötzlich Wirklichkeit geworden. „All diese Jahre", flüsterte sie heiser. „All diese Jahre hindurch hast du mich angelogen. Wie konntest du das tun? Wie konntest du einem fünfjährigen Kind vormachen, sein Vater sei tot? Das war grausam. Du wusstest, was er mir bedeutet hat. Du wusstest es." Whitneys Hände ballten sich zu Fäusten. „Jeden Tag ... jeden verdammten Tag in den letzten neunzehn Jahren habe ich um ihn getrauert. Mich nach ihm gesehnt. Jeden einzelnen Tag habe ich versucht, das Loch zu füllen, das sein Tod in mir hinterlassen hat. Aber ich habe es nie geschafft, Mutter. Das Loch war einfach nicht zu füllen." Ihr Atem ging jetzt stoßweise. „Du hast mich angelogen, als du sagtest, er sei tot, und du hast weitergelogen, egal, wie weh mir das tat. Mein ganzes Leben lang hast du mir eine verdammte Lüge nach der anderen erzählt!" „Das reicht", unterbrach ihr Onkel sie streng. „Rede nicht in diesem Ton mit deiner Mutter." Whitney sah ihn an. „Du wusstest es, nicht wahr?" Sie lachte bitter. „Warum überrascht mich das nicht, Onkel Ames?" „Ich habe getan, was ich für das Beste hielt." Die sanft und mit zitternder Stimme gesprochenen Worte ließen Whitneys Blick zu ihrer Mutter zurückwandern. Anne hatte ihre blassen Hände an die Brust gepresst, ihr Blick war auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. „Ich habe getan, was ich tun musste", sagte Anne und nickte, als würde sie auf eine Frage antworten, die nur sie gehört hatte. „Das ist keine Antwort", flüsterte Whitney. „Keine Entschuldigung." Sie starrte ihrer Mutter ins Gesicht, und in diesem Moment fand sie sich endlich mit der Distanz ab, die zwischen ihnen beiden bestand. Mit der Distanz, die es zwischen ihnen beiden immer gegeben hatte. Whitney hatte keine Ahnung, wer ihre Mutter wirklich war. Die Frau, die sie zu kennen glaubte, hatte nie existiert. Wortlos drehte Whitney sich um und ging davon.
4. KAPITEL Dean rollte sich herum und sah auf die Uhr. Dann stöhnte er. Es war bereits nach eins. Er hatte den halben Tag verschlafen. Als er sich aufzusetzen versuchte, stöhnte er erneut, diesmal lauter. Er fühlte sich elend, und es geschah ihm recht. Er war gestern Abend nach Hause gekommen und hatte sich langsam aber sicher betrunken. Dean trank sonst kaum. Es erinnerte ihn zu sehr an seinen Stiefvater. Er hatte sich geschworen, so etwas nie zu tun, den Alkohol so zu missbrauchen, wie sein Stiefvater es getan hatte. Aber hin und wieder stellte Dean fest, dass er von dem Mann, der ihn aufgezogen hatte, mehr gelernt hatte, als ihm lieb war. Am gestrigen Abend war Dean mit Barbara zum Lunch gewesen, aber er hatte sich kaum auf das fröhliche Geplauder der Blondine konzentrieren können. Barbara Charles war eine attraktive Frau, nicht jedoch attraktiv genug, um ihn
länger zu fesseln. Das wurde ihm jetzt klar. Während des Essens hatte er immer wieder an eine andere Frau denken müssen, an eine Frau mit Haaren wie schwarze Seide und einem lustigen Funkeln in den strahlend blauen Augen. Nachdem er Barbara vor ihrem Haus abgesetzt hatte, war Dean noch eine Weile durch die Gegend gefahren. Dann war ihm eine Idee gekommen, und er hatte den Wohnblock angesteuert, in dem Alvo lebte, wenn er nicht gerade hinter Schloss und Riegel war. Ein kleines Mädchen hatte am Straßenrand gesessen, eine Puppe in den dünnen Armen. Tess. Dean fuhr um den Block, bis er einen Parkplatz fand, stieg aus und ging dorthin zurück, wo er Alvos kleine Halbschwester gesehen hatte. Er sagte nicht „Hallo" zu ihr. Er setzte sich einfach nur neben sie. Nach einer Weile begann er zu reden. Er sprach sie nicht an, er redete nur. Er redete über ein anderes kleines Mädchen, das er vor Jahren am Straßenrand hatte sitzen sehen. Er redete über Whitney, über die Probleme, die sie sich eingebrockt hatte, über die Streiche, die sie ihm und ihren Cousins gespielt hatte. Er redete darüber, wie sehr sein Leben sich von Whitneys unterschieden hatte, wie sie in einem wunderschönen Haus gelebt und ihr eigenes Pferd gehabt hatte, während er sich in sein eigenes Haus hatte schleichen müssen, damit sein Stiefvater ihn nicht verprügelte. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass Dean über seinen Stiefvater redete. Er war nicht sicher, warum er es tat, aber etwas im Gesicht des kleinen Mädchens sagte ihm, dass sie nicht schockiert sein würde. Etwas an Tess sagte ihm, dass sie bereits wusste , dass Kindern manchmal schlimme Dinge passierten. Es dauerte nicht lange, bis Tess ihm Fragen stellte, über ihn selbst, über Whitney. Der Abend brach bereits herein, als das kleine Mädchen Dean schließlich die Wahrheit über Alvos Streit mit ihrem Vater erzählte. Tess hatte sich irgendwann während der Szene unter dem Bett versteckt, aber gehört, was passierte. Und sie war dabei gewesen, als der Streit begann. Als würde sie ihm von einem Film erzählen, den sie im Fernsehen gesehen hatte, berichtete sie ihm, was geschehen war. Der Vater hatte Alvo beschuldigt, zwei Dollar aus der Kommode gestohlen zu haben. Dann hatte er den Strick geholt, mit dem er ihren Bruder immer fesselte, wenn er ihn mal wieder verprügeln wollte. Tess war hinausgeschlichen und hatte sich in ihrem Zimmer unter dem Bett versteckt. Sie hatte sich die Ohren zugehalten, um ihren Vater nicht schreien und Alvo nicht weinen zu hören. Aber diesmal war alles anders. Diesmal wehrte Alvo sich. Er weigerte sich, sich fesseln zu lassen. Tess wusste nicht, was als nächstes geschah. Sie wusste nicht, was ihr Bruder tat, aber sie hörte ihre Mutter schreien, er solle aufhören. Als Tess schließlich unter dem Bett hervorkroch, kümmerten sich die Sanitäter bereits um ihren Vater. Die Polizei sprach mit ihrer Mutter, und Alvo war verschwunden. Tess' Geschichte schockierte Dean nicht. Sie machte ihn zugleich traurig und wütend. Der Kinder wegen. Und sie weckte Erinnerungen in ihm, bei denen ihm übel wurde. Während Tess erzählte, war Dean Alvo geworden. Er war in seine eigene Kindheit zurückversetzt worden, in die Verzweiflung, die Wut und den Schmerz. Aber er würde sich nicht von seinen Gefühlen leiten lassen. Diesmal nicht. Er verabschiedete sich von Tess und fuhr auf direktem Weg zu Alvo. Und da er die Wahrheit kannte, brauchte er nicht lange, um herauszufinden, warum der Junge geschwiegen hatte. Jackson hatte gedroht, Alvos Mutter umzubringen. Dean machte seinem jungen Mandanten nichts vor. Er erklärte Alvo, dass sein
Stiefvater nicht für immer im Gefängnis bleiben würde. Aber Dean wollte sicherstellen, dass er erst dann entlassen würde, wenn Alvo groß und stark war. Dean hatte Freunde im Büro des Staatsanwalts. Er würde dafür sorgen, dass Jackson lange genug hinter Gitter wanderte, um Alvo und Tess die Chance auf ein besseres Leben zu geben. Alles in allem war der Samstag produktiv gewesen, aber als er Alvo im Jugendgefängnis zurückließ, fühlte Dean sich ausgelaugt. Er fuhr nach Hause, doch kaum war er durch die Tür, da fielen die Gespenster der Vergangenheit über ihn her. Er spürte ihre Gegenwart, nicht nur die seiner Mutter und seines Stiefvaters, sondern auch die des Jungen, der er einmal gewesen war. Damals war er so wild und wütend und verängstigt gewesen wie Alvo jetzt. Bis er Whitney fand. Whitney war seine Hoffnung. Sie zeigte ihm, dass das Leben nicht nur düster war, dass es auch helle Zeiten gab, auf die er sich freuen konnte. Sie bewahrte ihn davor, das mit seinem Stiefvater zu tun, was Alvo mit Jackson getan hatte. Solange es Whitney in Deans Leben gab, hatte er einen Grund, weiterzumachen und sein Bestes zu geben. Dean saß in seinem leeren Haus und spürte ein unglaublich starkes Bedürfnis nach Whitneys Nähe. Er brauchte etwas von ihrer Unbeschwertheit. Fast hätte er sie angerufen. Er wusste, dass sie sofort zu ihm kommen würde, wenn er sie darum bat. Er brauchte nur den Hörer abzuheben, tat es jedoch nicht. Diese Hölle war seine eigene, und er wollte nicht, dass sie damit in Berührung kam. Dies war eine Schlacht, die er allein schlagen musste. Und dann hatte er den ersten Drink genommen. Nur ein oder zwei, um besser schlafen zu können, sagte er sich. Dagegen war nichts einzuwenden. Aber ein Teil von ihm, der logische, objektive Teil, wusste genau, was er in Wirklichkeit tat. Er bestätigte, dass er, tief im Innern, noch immer der Junge aus dem Müllkippenviertel war. Er war noch immer der wilde, schlechte Junge, der Dinge tat, die anständige Leute nicht taten. Und jetzt, am Morgen danach, zahlte Dean den Preis für seinen kleinen Ausflug in die Wahrheit. Nicht nur, dass er gewaltige Kopfschmerzen hatte, er fühlte sich durch seine Schwäche auch irgendwie erniedrigt. Er warf die Decke zurück und glitt langsam in Richtung Bettkante. Herumzuliegen und den gestrigen Abend zu bereuen, das brachte nichts. Er musste Jackson im Krankenhaus aufsuchen und dafür sorgen, dass das Verfahren gegen seinen Mandanten eingestellt wurde. Alvo interessierten Deans Gespenster nicht, er hatte genug eigene. Und wenn er alles erledigt hatte, wenn er mit beiden Beinen wieder fester in der Gegenwart stand, würde er Whitney anrufen und ihr von dem Fall erzählen. Alvo und Tess würden ihr leid tun, und sie würde ihn ein juristisches Genie und einen wahren Menschenfreund nennen. Lächelnd malte er es sich aus. Das war genau das, was er heute brauchte. Whitney ging am Cottage vorbei und steuerte die Hecke an. Als sie sie erreichte, bückte sie sich und schlüpfte durch die niedrige Lücke. Sie überquerte den Parkplatz des Maklers und bog automatisch in die Adam Street ein. Ihr Vater lebte! Wo zum Teufel hatte die Wahrheit die letzten zwanzig Jahre gesteckt? Diese Frage war ihr immer wieder durch den Kopf gegangen und hatte sie fast um den Verstand gebracht. Warum hatte sie nicht geahnt, dass alles eine Lüge war? Warum hatte sie nicht gespürt, dass ihr Vater noch auf der Welt war? Als Whitney in die kleine Straße hinter Deans Haus einbog, rannte sie bereits wieder. Sie brauchte ihn jetzt. Allein schon ihn zu sehen, würde ihr zeigen, dass nicht alles im Leben eine Lüge war. Dean würde ihr helfen, in alldem einen Sinn zu sehen. Dean würde den Schmerz vertreiben. Sie betrat das Haus durch die
Küchentür. „Dean!" rief sie. „Dean!" Er war weder in der Küche noch im Arbeitszimmer. Er war nirgendwo im Erdgeschoß. Sie rannte die Treppe hinauf und den Flur entlang. Als sie sein Schlafzimmer erreichte, riss sie die Tür auf. „Dean, wo bist..." In genau diesem Moment kam Dean aus dem Bad. Er frottierte sich das Haar mit einem Handtuch. Und er war nackt. Das Sonnenlicht strömte durch die Vorhänge, verwandelte seinen Körper in Gold, betonte jeden Muskel, jede Sehne. Whitney konnte nicht mehr denken, konnte ihn nur anstarren. Sie hatte immer gewusst, dass er ohne Kleidung unglaublich aussehen würde, aber nichts in ihrer Vorstellung hatte sie auf die Realität vorbereitet. Die Energie, die sie noch vor kurzem an Zorn und Verwirrung verschwendet hatte, bündelte sich im Verlangen nach ihm. Sie brauchte ihn. Einen kleinen Teil dieses Verlangens kannte sie bereits. Aus ihren Träumen. Aber Jetzt, wo sie ihn vor sich sah, wo das, was sie gerade erfahren hatte, ihre Emotionen noch verstärkte, da überwältigte es sie. „Dein Körper ist wunderschön", flüsterte sie atemlos. „Schöner als alles, was ich je gesehen habe." Dean schloss die Augen. Er durfte Whitney nicht mehr sehen. Er durfte den begehrenden Blick in ihren blauen Augen nicht sehen. Erst als sie nur noch einen Schritt von ihm entfernt war, merkte Whitney, dass sie sich bewegt hatte. Sie schien keinen eigenen Willen mehr zu haben. Es war, als hätte ihr Körper eigenständig gehandelt. Sie sah, wie ihre Hand sich bewegte, sich nach ihm ausstreckte. Sie fühlte seinen Oberkörper unter ihren zitternden Fingern, noch warm und feucht von der Dusche. „Wunderschön", wiederholte sie, aber es klang nicht nach ihrer Stimme. Es klang leiser, heiserer. Langsam hob sie den Blick, um ihm in die Augen zu sehen. Dann zuckte ihre Hand zurück, und sie machte einen Schritt nach hinten. Seine dunklen Augen funkelten vor Ärger, und er machte keinen Versuch, es vor ihr zu verbergen. Wütend warf er das Handtuch auf den Boden. „Verdammt, Whitney!" Er griff um Whitney herum nach einer Jeans und zog sie an. „Was zum Teufel soll das? Wann wirst du endlich erwachsen? Um Himmels willen, werde endlich erwachsen." Seine Hände zitterten, als er die Jeans zuknöpfte. „Habe ich denn nicht genug Probleme, ohne dass du mir dauernd deine dummen Streiche spielst?" Er fuhr sich mit der Hand durch das feuchte Haar. „Ich habe ein Recht auf mein Privatleben. Verstehst du? Es wird langsam Zeit, dass du begreifst, dass ich mein eigenes Leben führe und keine Zeit habe, mit einer verwöhnten Harcourt-Göre zu spielen." Sein Atem kam keuchend, die Lippen waren schmal und weiß. „Verschwinde. Verschwinde endlich!" Seine Worte trieben Whitney das Blut aus dem Gesicht, aus dem Herzen. Sie hatte ihn schon zornig erlebt, aber nicht in ihren kühnsten Träumen hatte sie sich vorgestellt, dass dieser Zorn jemals ihr gelten würde. Sie wich zurück, schüttelte den Kopf. Sie wollte etwas sagen, aber die Worte kamen nicht, und als sie die Tür erreichte, kehrte sie ihm den Rücken zu. „Whitney!... Warte!" Der leise, fast flehende Befehl trieb sie weiter. Sie stolperte auf die Treppe und musste sich am Geländer festhalten, blieb aber nicht stehen. Sie hörte, wie Dean ihren Namen rief, doch das ließ sie nur noch schneller laufen. Leise fluchend rannte Dean hinter Whitney her. Er musste sie einholen. Er musste sie dazu bringen, ihn zu verstehen.
Als er die Küche erreichte, läutete das Telefon. Obwohl er es ignorierte, holte das Läuten ihn in die Realität zurück, und er blieb lange genug stehen, um zu begreifen, was er tat. Er setzte sich an den kleinen Tisch und stützte den Kopf auf die Hände. Er durfte Whitney nicht wiedersehen, nicht jetzt. Sie brauchte Zeit, um sich zu beruhigen, und er musste sich erst wieder in den Griff bekommen. Die Gefühle lagen bloß, auf beiden Seiten, und ein Gespräch konnte sich als katastrophal erweisen. Er hätte vernünftiger reagieren können. Und er hätte auch vernünftiger reagiert, wenn sie nicht ohne Vorwarnung bei ihm aufgetaucht wäre. Sie hatte ihn überrascht. Dean hatte immer gewusst, dass Whitney mehr in ihm sah als nur einen guten Freund. Aber er hatte es für eine schulmädchenhafte Verliebtheit gehalten, für mehr nicht. Das, was er gerade auf ihrem Gesicht gesehen hatte, war alles andere als schulmädchenhaft. Es war weit mehr als das. Whitney begehrte ihn. Und als er das begriffen hatte, hätte er es fast nicht geschafft, das zu ignorieren, was ihr Verlangen in ihm heraufbeschworen hatte. Bilder, die ihn zugleich schockierten und fesselten. Bilder, die ihm den Atem raubten. Dean wusste sehr wohl, dass er anders reagiert hätte, wenn seine eigenen Gefühle für sie nicht so stark wären. Er hätte ihr Verlangen gedämpft, ohne ihren Stolz zu verletzen. Verdammt, er ertrug es nicht, Whitney leiden zu sehen. Aber es hatte keine andere Möglichkeit gegeben. Er wusste , dass Whitney ihm die harten Worte verzeihen würde. Sie war nicht nachtragend. Das wa r nicht ihre Art. Und vielleicht ist es gar nicht mal so schlimm, sagte er sich nach einer Weile. Hatte er nicht seit Jahren versucht, etwas mehr auf Distanz zu gehen? Er hatte alles versucht, aber nichts hatte funktioniert. Vielleicht war etwas Drastischeres erforderlich, um ihr einen Anstoß zu geben. Die Szene im Schlafzimmer, zum Beispiel. Einen Anstoß, der sie, zu ihrem eigenen Guten, von ihm wegführte. Dean lehnte den Kopf an die Wand, als ihm aufging, dass Whitney es nicht gewöhnt war, angeschrieen zu werden. Sie war verwöhnt und verzogen, aber irgendwann musste sie aufwachen und begreifen, dass die Welt ein raues Klima besaß. Sie musste endlich einsehen, dass man zäh seih musste, um zu überleben. Warum kam er sich so mies vor, nur weil er es gewesen war, der sie mit der Realität konfrontiert hatte? Whitney betrat das Haus durch die Hintertür. Es würde eine Weile dauern, bis sie ihrer Mutter wieder ins Gesicht sehen konnte. Und jetzt, nachdem Dean... Sie brach den Gedanken ab, bevor sie ihn zu Ende gedacht hatte. Und als sie ihr Schlafzimmer betrat und die Tür hinter sich abschloss, hatte sie die Szene mit Dean schon verdrängt. Sie setzte sich ans Fenster und schlang die Arme um den Oberkörper. Sie fühlte nichts mehr. Seltsam. Keinen Zorn, keine Liebe, keinen Schmerz. Sehr seltsam. Eine erschreckende Müdigkeit befiel sie, und sie war nicht sicher, wie lange sie so dagesessen hatte, als sie ein Klopfen hörte. „Darling ... Whitney, deine Tür ist verschlossen." „Was du nicht sagst", murmelte sie und biss ins Kissen, als ein bitteres Lachen in ihr aufstieg. „Doris Louise Pfeiffer hat angerufen, während du weg warst. Sie weiß nicht mehr, ob das Komitee sich für grüne oder für weiße Tischtücher entschieden hat. Ich habe ihr höflich, aber bestimmt gesagt, dass du unmöglich für grüne gestimmt hast. Aber du weißt ja, wie sie ist. Sie war schon als Kind ..." Das Lachen geriet außer Kontrolle und drohte Whitney zu ersticken, als sie das
Gesicht aufs Kissen presste. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter eigentlich dankbar für die Ablenkung sein sollte. Schließlich half Anne ihr, diese entsetzliche Lähmung zu überwinden. Mit der Kraft kehrte allerdings auch die Erinnerung an all das zurück, was heute geschehen war. Ihr Vater, ihre Mutter, Dean ... Nein. Sie war noch nicht fähig, über Dean nachzudenken. Eines Tages würde sie sich mit dem abfinden, was zwischen ihnen vorgefallen war. Aber jetzt noch nicht. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, würde es sie umbringen. Sie holte tief Luft und legte die Stirn an die kühle Scheibe. Es war ein interessanter Tag gewesen, kein Zweifel. Ihre oberflächliche Mutter hatte sich noch weiter von ihr entfernt. Zurück blieb nur eine Handvoll Nichts. Und jetzt hatte sie auch Dean ... Konnte sie denn keinen Gedanken mehr fassen, ohne dass er sich hineindrängte? Schließlich waren heute auch andere Dinge passiert. Verflixt, warum musste sie immerzu an Dean denken? Whitney wusste , was Anne von ihr erwartete. Ihre Mutter wollte, dass Whitney so tat, als wäre nichts geschehen. Sie wollte, dass Whitney vergaß, dass ihr Vater, ihr wundervoller Vater, irgendwo auf der Welt noch am Leben war. Wusste er von den Lügen? Wusste er, dass seine Tochter ihn für tot gehalten hatte? War er Teil dieser unerträglichen Täuschung? „Nein", flüsterte sie heiser. Er konnte es nicht gewusst haben. Lloyd Grant hatte sie geliebt. Daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Aber warum hatte er sich nie bei ihr gemeldet? Und warum war er überhaupt gegangen? Selbst wenn Anne ihn fortgeschickt hatte, selbst wenn ihre Ehe gescheitert war, warum war er aus dem Leben seiner Tochter verschwunden? Es machte einfach keinen Sinn. Nichts macht noch Sinn, dachte sie und ignorierte beharrlich das Gerede ihrer Mutter, das noch immer durch die verschlossene Tür drang. Fünfzehn Minuten später begriff Anne endlich, dass sie keine Antwort erhalten würde, und ging. Stundenlang saß Whitney am Fenster, bewegungslos, während die Stille und die Dunkelheit sich um sie herum ausbreiteten. Es war kurz vor Mitternacht, als sie endlich aufstand. Hier finde ich keine Antworten, sagte sie sich. Nicht in diesem Zimmer, nicht in dieser Stadt. Dean hatte recht. Es war höchste Zeit, dass sie erwachsen wurde. Whitne y brauchte fast drei Stunden, um zu packen. Und sie musste dreimal laufen, um ihr Gepäck im Wagen zu verstauen. Sie hatte keine Angst, ihre Mutter zu wecken. Anne Grant schlief wie ein Stein. Whitney fand es erschreckend, wie mühelos ihre Mutter die Ereignisse des Tages verdrängte. Eigentlich hätte sie aus Scham und Schuld wach sein müssen. Whitney wusste , dass ihre Mutter ihren Vater mit keinem Wort mehr erwähnen würde, wenn sie blieb. Sie würde so tun, als wäre nichts passiert, und nach einer Weile würde Whitney glauben, dass wirklich nichts passiert war. Nein, dachte sie entschlossen und warf den Make-up-Koffer auf den Rücksitz ihres weißen Jaguar. Sie würde keine Harcourt werden und alles ignorieren, was sie nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Sie stand noch einen Moment da und starrte zum Cottage hinüber. Es war immer ihr Zuhause gewesen. Nicht das Anwesen der Harcourts, sondern dieses kleine Haus hinter der riesigen Villa. Aber auch dieses Haus gehörte jetzt zu den Lügen. Ihr richtiges Zuhause war woanders. Ihr richtiges Zuhause lag noch in der Zukunft. Eigentlich hätte es nicht so weh tun dürfen, eine Lüge hinter sich zu lassen. Whitney glitt hinters Lenkrad und fuhr los. Doch als sie die Ställe erreichte, hielt
sie und starrte zu den flachen Gebäuden hinüber. Ein letztes Mal, dachte sie. Ein letzter Abschied. Ein letzter Mitternachtsritt. Zehn Minuten später saß sie auf Herakles' Rücken und ritt auf das offene Land zu. Das Pferd schien zu spüren, dass diese Nacht anders war als die anderen Nächte, in denen sie zusammen ausgeritten waren. Die Unruhe und der Schmerz in Whitney übertrugen sich irgendwie auf das Tier, und sie rasten wie Dämonen über die Weide. Whitney hätte fast gelacht, als ihr aufging, dass das Pferd sie besser verstand als ihre Mutter. Doch sie lachte nicht. Sie weinte. Der Wind blies ihr ins Gesicht, kühlte ihre Tränen und trocknete sie schließlich. Als sie den Hügel erreichte, brachte Whitney Herakles zum Stehen. Er bäumte sich auf und scharrte rastlos mit den Hufen. „Wir bleiben nicht lange", flüsterte sie und starrte auf West Edge. Sie musste an Dean denken. In seinem Haus brannte noch Licht, und eigentlich hätte es sie trösten müssen, dass er noch nicht schlafen konnte. Whitney gab sich den Erinnerungen hin. Den Erinnerungen aus achtzehn Jahren. Sie sah Dean vor sich, wie er ihr das zerbeulte Straßenschild schenkte. Wie er schallend lachte, als sie Tads erste Freundin imitierte. Wie er ihr erklärte, wie sie sich bei einem Date verhalten sollte. Wie er ihr offen und ehrlich beschrieb, was sich zwischen Männern und Frauen abspielte. Wie er sie in den Arm nahm, wenn sie weinte. Und irgendwann wurde Whitney klar, dass nichts von dem, was an diesem Tag geschehen war, ihr die schönen Erinnerungen rauben konnte. Sie würde nichts verdrängen, wie ihre Mutter es immer tat. Sie würde sich dem stellen, was passiert war. Und gemessen an der Liebe, die Dean ihr achtzehn Jahre hindurch geschenkt hatte, war der heutige Tag nicht mehr ganz so erschütternd. Fast gegen ihren Willen ging es Whitney plötzlich besser. Sie fühlte sich stärker. Dean hatte ihr beigebracht, sich auf ihre innere Kraft zu verlassen, ein Problem anzupacken und damit zu ringen, bis es gelöst war. Genau das würde sie jetzt tun. Sie würde ihren Vater finden und sich die Antworten holen, die sie brauchte. Und wenn sie die Wahrheit kannte, würde sie ein neues Leben beginnen. Sie würde ein neues Zuhause finden. Whitney beugte Sich vor und tätschelte Herakles den Hals. „Okay Junge, jetzt können wir weiter." Sie zog den Kopf des Pferdes herum, weg von der Vergangenheit, in Richtung auf die Zukunft. Dann drehte sie sich im Sattel um und warf einen letzten Blick auf Deans Haus. „Auf Wiedersehen, Dean", flüsterte sie. „Pass auf dich auf."
5. KAPITEL Whitney lenkte den Jaguar an den Straßenrand, parkte und breitete eine Straßenkarte auf dem Beifahrersitz aus. Sie war oft in Dallas gewesen, aber stets hatte jemand anders, ein Taxifahrer oder ein Freund, am Steuer gesessen. Und sie war ziemlich sicher, dass sie noch nie in dieser Gegend gewesen war. Meilenweit war kein Restaurant oder Geschäft zu sehen. Sie sah hoch, las das Straßenschild am Ende des Blocks und starrte wieder auf die Karte, während ihr Finger über die winzigen Striche wanderte. Sie war fünf Blocks von der Quintan Street entfernt. Fünf Blocks. Sie war fast da. In der Nacht, in der sie San Antonio verlassen hatte, hatte Whitney nur daran gedacht, ihren Vater zu finden. Ihre Fragen beantwortet zu bekommen. Sein
wundervolles Gesicht wiederzusehen und seine Arme um sich zu spüren. Aber jetzt setzten die ersten Zweifel ein. Wenn Lloyd Grant seine Familie nun aus eigenem Entschluss im Stich gelassen hatte? Wenn er einfach beschlossen hatte, dass er Anne und Whitney nicht mehr um sich haben wollte? Und wenn Lloyd seine Familie verlassen hatte, weil er sie nicht mehr liebte, würde er vielleicht nicht mehr an sie erinnert werden wollen. Vielleicht würde es ihm nicht passen, wenn seine Tochter plötzlich auftauchte. Außerdem war es möglich, dass er eine neue Familie hatte, eine, die nichts von der alten wusste. Hatte sie das Recht, sich in das Leben unschuldiger Menschen zu drängen? Sie legte die Karte beiseite, schloss die Augen und legte die Stirn aufs Lenkrad. Sie wollte niemandem weh tun, aber sie konnte auch nicht wegfahren, ohne die Wahrheit zu kennen. Sie würde behutsam vorgehen. Wenn Lloyd Grant noch in der Quintan Street wohnte, würde sie ihn beobachten, bis sie alles über sein neues Leben wusste . Erst dann würde sie entscheiden, was sie als nächstes tun würde. Sie legte den Gang ein und fuhr los. Das Haus 1132 Quintan Street hatte eine breite Veranda, die auf Säulen aus Backstein und Holz ruhte. In dem winzigen Garten standen einige magere Sträucher, aber keine Bäume, keine Blumen. Alles wirkte karg und unpersönlich. Noch bevor Whitney das Schild sah, auf dem „Zimmer frei" stand, wusste sie, dass dies nicht das Heim einer Familie war. Dreimal fuhr sie am Haus vorbei, bevor ihr aufging, dass die Leute ihren weißen Jaguar neugierig anstarrten. Natürlich starrten sie ihn an. Es war eine anständige Gegend, sauber und ordentlich, aber in den meisten Einfahrten standen preiswerte Kleinwagen oder verlässliche alte Limousinen. Nirgends ein Mercedes oder BMW oder Jaguar, dachte sie, als sie um die Ecke bog und zu ihrem Hotel zurückfuhr. Vierundzwanzig Stunden später stand der Jaguar, den sie im ersten Jahr an der Universität von ihrem Onkel bekommen hatte, in einem Parkhaus, und sie war die stolze Besitzerin eines 72er Buick. Das war nicht die einzige Veränderung, die sie an sich vorgenommen hatte. Als sie den Buick vor der Pension parkte und ausstieg, trug sie ausgebleichte Jeans und ein übergroßes Männer-Arbeitshemd, ein Ensemble, bei dem Anne Grant immer zusammengezuckt war. Ihre Mutter hätte es nicht komisch gefunden, dass Whitney endlich einmal passend angezogen war. Sie klopfte, und eine Frau von Ende Fünfzig mit mürrischer Stimme und mürrischem Gesicht öffnete die Tür. „Sie kommen besser herein", sagte Mrs. Skinner, als Whitney nach einem Zimmer fragte. „Ich habe zwar nichts mehr frei, aber eine Freundin von mir vermietet ebenfalls Zimmer. Warten Sie einen Moment, ich schreibe Ihnen die Adresse auf", fuhr sie fort und wollte davongehen. „Eigentlich wollte ich gern hier ein Zimmer", erwiderte Whitney. „Sehen Sie, Ihre Pension wurde mir empfohlen ... von einem Freund meines Vaters. Einem Mann namens Lloyd Grant." Mrs. Skinner schüttelte den Kopf und steckte eine lockere Haarnadel fest. „Nein, hier wohnt niemand namens Grant. Letztes Jahr war hier ein Mann. Konnte ihn nicht ausstehen. Dauernd räusperte er sich. Wie hieß er noch? Nein, Greer, glaube ich. An einen Grant kann ich mich nicht erinnern." Und dann war sie fort, bevor Whitney sie aufhalten konnte. „Lloyd wohnt schon seit vier oder fünf Jahren nicht mehr hier." Erstaunt wirbelte Whitney herum und sah einen älteren Mann die Treppe herunterkommen. „Was haben Sie gesagt?" fragte sie mit klopfendem Herzen.
„Ich sagte, der alte Lloyd wohnt schon eine ganze Weile nicht mehr hier." Der Mann sprach laut und langsam, als hätte er es mit einer Schwerhörigen zu tun. Whitney schluckte den Kloß im Hals herunter und wischte sich die Hände an der Jeans ab. „Vielleicht ist er es. Seine ... seine Frau war groß und dunkelhaarig." Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Nein, dann war er es nicht. Lloyd war Junggeselle wie ich. Ist es noch, soweit ich weiß. Jedenfalls hat er nichts von einer Frau gesagt, als ich ihn letzten Monat gesehen habe." „Sie haben ihn gesehen? Wo denn?" Die Miene des Mannes wurde verschlossen, und Whitney ging auf, dass ihre Fragen zu scharf, zu interessiert geklungen hatten. Sie setzte ein Lächeln auf. „Vielleicht habe ich mich auch geirrt. Ich meine, ich habe die Frau nie zu Gesicht bekommen. Wissen Sie, Mr. ... Sehen Sie, ich muss Mr. Grant Unbedingt sprechen." „Warum?" Sie fragte sich, warum er so misstrauisch war. Trotz ihrer Nervosität lächelte sie weiter. „Ich ... ich schulde ihm Geld. Er hat mir vor einigen Jahren etwas geliehen und jetzt, wo es mir besser geht, möchte ich es ihm zurückzahlen. Wissen Sie, wo er im Augenblick wohnt?" Der Mann schüttelte den Kopf. „Typisch Lloyd. Ich würde ihm ja gern helfen, sein Geld zurückzubekommen, aber er hat mir nicht gesagt, wo er wohnt. Ich habe ihn zufällig getroffen, in Rick's Pub drüben an der Rale Street. Ich glaube, Lloyd ist dort Stammgast. Mir ist es da zu laut", murmelte er. „Mein Neffe hat mich auf ein Bier mitgenommen. Ich gehe lieber ins Westler's. Da gibt's Country-music." „Danke, Sir", sagte Whitney und drehte sich halb zur Tür. „Würden Sie Mrs. Skinner sagen, dass ich die Adresse doch nicht brauche? Und danken Sie ihr in meinem Namen." Die letzten Worte sprach sie schon über die Schulter. Whitneys Hände zitterten am Lenkrad, als sie abfuhr. Kaum hatte sie die Pension und die Quintan Street hinter sich gelassen, hielt sie am Straßenrand und ließ den Kopf nach vorn fallen. Ihr Vater lebte noch. Whitney hatte riesige Angst gehabt, dass ihr Vater inzwischen gestorben war. Dass sie ein zweites Mal mit seinem Tod fertig werden musste. Aber er war noch am Leben. Und er hatte keine neue Familie. Sie konnte ihn finden, mit ihm sprechen, ohne anderen Menschen in seinem Leben weh zu tun. Heute Abend würde sie in Rick's Pub an der Rale Street gehen und nach ihm fragen. Aber dann kam ihr ein erschreckender Gedanke. Wenn er sie und ihre Mutter wirklich verlassen hatte, weil er genug von ihnen hatte, würde er vielleicht erneut untertauchen. Das durfte sie nicht riskieren. Sie musste Geduld haben. Sie würde nicht nach ihm fragen. Der alte Mann in der Pension hatte gesagt, dass Lloyd Grant Stammgast im Rick's war, also würde sie ebenfalls dort Stammgast werden. Sie würde zuhören und die Augen offen halten, und früher oder später würde sie ihn finden. Ihr Entschluss stand fest, und sie ließ noch einen Kombi passieren, bevor sie wieder losfuhr. Whitney freute sich nicht darauf, ins Hotel zurückzukehren. Das Zimmer war zu leer, zu einsam, und sie würde sich beherrschen müssen, um Dean nicht anzurufen. Sie hatte das Bedürfnis, mit ihm zu reden. Und obwohl sie ihm alles erzählen wollte, was sie erfahren hatte, wusste sie, dass es ihr schon reichen würde, seine Stimme zu hören. Sie hatte sich auf dem Hügel von ihm verabschiedet, aber sie dachte trotzdem immer an ihn. Sie war es gewöhnt, an ihn zu denken. Sie war gewöhnt, ihre Gedanken und Gefühle mit ihm zu teilen.
Sie war es gewöhnt, ihn zu lieben. Es würde bald einfacher werden. Es musste einfacher werden. Wenn sie erst ihren Vater gefunden hatte, würde sie sich nicht so einsam fühlen. Dann würde sie einen anderen Menschen haben, an den sie denken konnte. Und eines Tages würde sie sich sogar an den schmerzhaften Gedanken gewöhnen, Dean verloren zu haben. Dean ließ das dicke Buch auf den Schreibtisch fallen und sprang auf. Seit vier Tagen hatte er Whitney nicht mehr gesehen. Sie weigerte sich sogar, mit ihm zu telefonieren. Jedesmal, wenn er im Cottage anrief, erklärte Anne Grant ihm, dass ihre Tochter indisponiert sei und unmöglich an den Apparat kommen könne. „Trotzkopf", murmelte er. Er war sicher, dass sie ihm nicht mehr böse war. Aber jetzt wusste er nicht, ob sie nur beleidigt oder zutiefst verletzt war. Dean rieb sich den Nacken, ging ans Fenster und starrte auf die Blumen, die sie in seinen Garten gepflanzt hatte. Sie fehlte ihm. Whitney war so lange ein Teil seines Lebens gewesen. Ein großer Teil seines Lebens. Wenn er wütend auf die Justiz wurde oder sich zu sehr in einen Fall vertiefte, war Whitney immer da, um ihn von seinen Problemen abzulenken. Irgendwann hatte er begonnen, sich auf sie zu verlassen. Er presste die Stirn ans Glas und überlegte, warum er so beunruhigt war. Schließlich hatte er Whitney nicht täglich gesehen. Sie wären oft getrennt gewesen - als sie auf dem College war, oder wenn die Harcourts auf Reisen gingen, was mehrmals im Jahr geschah. Warum kam ihm diese Trennung so anders vor? Warum hatte er das Gefühl, nicht nur räumlich, sondern auch emotional von ihr getrennt zu sein? Als es läutete, runzelte er die Stirn. Whitney konnte es nicht sein. Sie machte sich nie die Mühe, an der Tür zu klingeln. Sie betrat das Haus einfach. Andererseits wollte sie ihm vielleicht zeigen, wie sehr sie inzwischen seine Privatsphäre respektierte. Es war nicht Whitney. Anne Grant war die letzte Person, mit der er gerechnet hätte. Sie hatte ihn stets ignoriert, wenn sie einander auf der Straße begegnet waren. Aber jetzt stand sie vor ihm. „Mrs. Grant", grüßte er, sorgsam eine neutrale Miene wahrend. „Was kann ich für Sie tun?" Sie sah ihm nicht in die Augen. Sie ließ den Blick über seine Veranda schweifen und spielte mit der Tasche, die sie zwischen den behandschuhten Händen hielt. „Ich muss mit Ihnen reden", erklärte sie mit ungewohnt matter Stimme. Er hielt ihr die Tür auf. „Gern. Kommen Sie herein." Nachdem er sie zu einem Sessel im Wohnzimmer geführt hatte, setzte er sich und wartete. „Ihr ... Ihr Zuhause ist bezaubernd", sagte sie schließlich. „Die Restaurierung ist Ihnen wirklich gelungen." „Danke." Warum kam sie nicht zur Sache? „Wie geht es Whitney? Ist sie noch immer indisponiert'?" Sofort starrte Anne auf ihre Hände. „Meine Tochter ist der Grund, aus dem ich heute hier bin", erwiderte sie, und es fiel ihr sichtlich schwer. „Was ist mit Whitney?" Er blieb äußerlich ruhig, obwohl die plötzliche Sorge ihn verkrampfen ließ. „Wo ist sie? Whitney geht es doch gut, oder? Sie ist doch nicht wirklich krank oder ..." „Sie ist fort."
Einen Moment lang war Dean unsicher, ob er sie richtig verstanden hatte. „Was zum Teufel sagen Sie da?" fuhr er sie an. „Was Soll das heißen, sie ist fort?" „Sie ist irgendwann in der Nacht zum Sonntag verschwunden. Ich wusste, dass sie aufgebracht war, aber damit hatte ich nicht gerechnet. Sie hat einfach ihre Taschen gepackt und ist weggefahren." Ihre Lippen begannen zu zittern. „Sie hat mir nicht einmal eine Nachricht hinterlassen." Dean stand auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Ihre Taschen gepackt? Weggefahren? Whitney war fort? „Hat sie Ihnen gegenüber unsere ... Auseinandersetzung erwähnt?" fragte Anne Grant. Er drehte sich wieder zu ihr um, antwortete aber nicht. „Ich habe sie oft durch die Hecke schlüpfen sehen." Ihre Lippen wurden schmal. „Schon als kleines Mädchen ging sie immer zu Ihnen, wenn sie Probleme hatte." Dean sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, das zugeben zu müssen. „Sie hat mir nichts erzählt", sagte er. Es klang zornig, aber der Zorn galt ihm selbst. Whitney hatte gar nicht die Gelegenheit gehabt, ihm etwas zu erzählen. Verdammt, er hätte wissen müssen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Er hätte wissen müssen, dass sie etwas Schmerzliches erlebt hatte. Dean hatte die letzten vier Tage damit verbracht zu verdrängen, wie sie in seinem Schlafzimmer ausgesehen hatte, aber jetzt rief er sich die Situation ins Gedächtnis zurück. Ihre blauen Augen hatten Verwirrt und verängstigt geblickt. Genauso hatte sie ausgesehen, als er sie damals vor vielen Jahren am Straßenrand gefunden hatte. Was war passiert? Was hatten die Harcourts ihr angetan? Und warum hatte er ihr nicht wenigstens die Chance gegeben, es ihm zu erzählen? „Sie hat mir nichts erzählt", wiederholte er müde. Mrs. Grant setzte sich anders hin. „Meine Tochter hat etwas gefunden ..." begann sie. Dann schüttelte sie den Kopf. „Whitney bildet sich ein, ihr Vater sei noch am Leben. Und deshalb ..." „Was reden Sie da?" unterbrach er sie. „Ihr Mann ist vor zwanzig Jahren bei einem Bootsunfall umgekommen. Warum sollte sie plötzlich auf die Idee kommen, er sei noch am Leben?" Anne Grant antwortete nicht. Noch verkrampfter als zuvor starrte sie auf das Bild an der gegenüberliegenden Wand. Erst als das Schweigen fast körperlich zu spüren war, senkte sie den Blick auf ihre weißen Handschuhe. „Mr. Russell, ich bin gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche." Er betrachtete sie eingehend und schüttelte erstaunt den Kopf. „Ihr Vater ist am Leben, nicht wahr? Und Whitney hat herausgefunden, dass Sie ihr all die Jahre hindurch die Wahrheit verschwiegen haben. Himmel, Lady, was sind Sie bloß für eine Mutter?" Sie zuckte, als wäre sie geohrfeigt worden. „Ich habe nur getan, was ich für das Beste hielt." „Für wen?" fragte er verächtlich. „Für Sie? Bestimmt nicht für Ihre Tochter." Er wandte sich von ihr ab. „Sie sind wie alle Harcourts. Sie ignorieren einfach, was Sie nicht sehen wollen. Einen unbequemen Ehemann zum Beispiel?" Er lachte kurz, „Wirklich stark. Man lässt ihn einfach sterben, tut so, als gäbe es ihn nicht mehr. So, wie Sie immer getan haben, als gäbe es mich nicht." Ihr pfirsichfarbener Teint wurde fleckig, als sie ihn endlich ansah. „Was haben Sie denn erwartet?" fragte sie heiser. „Sollte ich mich etwa damit abfinden, dass meine Tochter, ein süßes, unkompliziertes Kind, sich mit einem wilden Jungen aus dem Müllkippenviertel herumtreibt?" „Das ist Jahre her, Mrs. Grant", sagte er leise, aber nicht weniger eindringlich.
„Ich bin kein Junge mehr, und das Müllkippenviertel existiert nicht mehr." „Aber Sie sind noch Sie. Oh, ich wusste immer, was Whitney tat. Sie waren für meine Tochter nicht mehr als eine Form der Rebellion. Hätte ich befürchten müssen, dass die Sache zwischen ihr und Ihnen von Dauer sein würde, hätte ich ihr einfach sagen müssen, dass ich Sie absolut wunderbar finde. Ich hätte ihr verbieten müssen, mit einem Jungen aus gutem Hause auszugehen. Denn dann, Mr. Russell, hätte sie sich mit genau dem eingelassen, da können Sie sicher sein." Dean wollte es nicht hören. Er versuchte, sich einzureden, dass die Frau sich nur an ihm rächen wollte, aber es funktionierte nicht. Ihre Worte fraßen sich in sein Inneres. Er konnte ihr nicht widersprechen, denn derselbe Gedanke war ihm schon vor Jahren gekommen. Plötzlich hatte Dean genug. Dieser Streit führte zu nichts. Und Whitney half er schon gar nicht. „Sie sagten, Sie brauchten meine Hilfe", erinnerte er sie und lächelte über die Ironie, die darin lag. „Ich nehme an, ich soll sie für Sie finden. Nun, ich nehme den Auftrag an. Aber bevor ich mich auf die Suche mache, muss ich wissen, warum sie gegangen ist. Um von Ihnen und den Harcourts wegzukommen oder um ihren Vater zu finden?" Anne Grant zuckte mit keiner Wimper. „Ich habe alles verbrannt ... Whitney weiß nicht, wo sie ihn suchen muss." Dean lachte, aber es klang nicht belustigt. „Sie haben sämtliche Beweise verbrannt, ja? Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass Whitney sich dadurch bremsen lässt. Offenbar kennen Sie Ihre Tochter nicht sehr gut, Mrs. Grant. Sie ist nicht nur schlau, sie ist auch hartnäckig." Er schüttelte den Kopf. „Nein, Whitney gibt nicht so schnell auf. Schon gar nicht, wenn es um Menschen geht. Sie wird alles tun, um ihn zu finden." Er wartete, aber Mrs. Grant sagte nichts. „Wo würde sie ihn suchen, Mrs. Grant?" Sie stieß einen leisen Laut aus und machte, eine hilflose Handbewegung. „Wo würde sie suchen?" wiederholte er, und seine Stimme wurde schärfer. „Kommen Sie, Lady, wo würde Ihr Mann jetzt leben?" Sie senkte den Blick. Irgendwann hatte sie die Handschuhe ausgezogen, und jetzt drehte sie sie zwischen den Fingern. „Dallas", flüsterte sie. „Whitney könnte in Dallas sein." „Dallas", wiederholte er. „Bitte, finden Sie sie, Mr. Russell." Anne Grant stand mit anmutiger Bewegung auf. „Finden Sie sie und bringen Sie sie nach Hause." „Ich werde sie finden", sagte er auf dem Weg zur Tür. „Aber ich kann sie nicht zwingen, nach Hause zurückzukehren. Whitney ist erwachsen. Sie muss ihre eigenen Entscheidungen treffen." Kaum hatte er die Haustür hinter Anne Grant geschlossen, griff Dean nach dem Hörer und rief jemanden an, den er im Büro des Staatsanwalts kannte. Er würde seinen Freund bitten zu überprüfen, ob Whitney ihre Kreditkarten benutzte. Auf diese Weise würde er erfahren, ob sie wirklich in Dallas war. Dann rief er Boedecker und Kraus an und fand heraus, dass Whitney ihr Einstellungsgespräch abgesagt hatte. Das machte ihn noch besorgter. Mitten in der Nacht zu packen und zu verschwinden, konnte ein spontaner Einfall sein. Aber auf einen Job zu verzichten, das klang nach Planung. Als letztes rief Dean in seiner Kanzlei an. „Hör zu, Sam", sagte er zu seinem Partner. „Du musst mich nächste Woche vertrete n." Fünfzehn Minuten später legte er auf und lehnte sich gegen die Wand. Er hatte Anne Grant erklärt, dass ihre Tochter jetzt erwachsen war. Das stimmte. Aber er wusste auch, wie verletzlich Whitney war. Sie war noch nie ganz allein gewesen. Und sie war nicht auf die Realität vorbereitet. Sie war zu naiv, zu vertrauensselig,
und Dean machte sich große Sorgen um sie. Himmel, Whitney, dachte er, was hast du dir diesmal eingebrockt?
6. KAPITEL Rick's Pub lag nicht gerade in der feinsten Gegend von Dallas. Eigentlich lag er nicht einmal dort, wo die Mittelschicht lebte. In Rick's Viertel waren die Mieten äußerst niedrig. Die Gegend um den kleinen Pub wies einige gepflegte Wohnanlagen auf, aber beherrscht wurde sie von alten Mietskasernen und zahllosen kleinen Holzhäusern. Es gab keine Shopping-Passagen oder elegante Boutiquen. Die Geschäfte um die Rale Street waren wie die Häuser und ihre Bewohner. Schlicht. Wer hier lebte, konnte Autoersatzteile oder Reinigungsmittel kaufen, ohne sein Wohnviertel zu verlassen. Aber wer eine Gala plante oder sein Haus neu einrichten wollte, musste woanders suchen. Die Bar lag genau dort, wo das Wohnviertel an ein Industriegebiet im Süden der Stadt grenzte. Wie die Häuser und die Menschen, so war auch Rick's Pub ziemlich einfach. Es gab keine flackernden Lichter, keine Glitzerkugeln, nur eine verspiegelte Bar, eine Jukebox und viele nackte Holztische. Zum Personal gehörte ein Rausschmeißer, ein Riese, den alle Tink nannten, aber der Mann schien seinen Barhocker niemals zu verlassen. Falls jemand zu laut wurde, beruhigten ihn die anderen Gäste. Oder sie warfen ihn selbst hinaus. Rick's war ihre Stammkneipe, und sie ließen es nicht zu, dass jemand sie störte. Die Männer und Frauen, die sich jeden Abend dort trafen, arbeiteten an Laderampen und Fließbändern. Sie arbeiteten mit den Händen und waren stolz darauf. Im Rick's kannte jeder jeden. Gelegentlich kam ein Fremder hereinspaziert, aber die Mehrzahl der Gäste ging seit Jahren hier ein und aus. Sie lebten und arbeiteten und amüsierten sich in dieser Gegend. Sie zogen hier ihre Kinder groß. Es war die Herzlichkeit, die Kameradschaft, die Rick's Pub seinen besonderen Charme verlieh. Doch nach drei Tagen auf einem Barhocker verlor dieser Charme für Whitney an Reiz. Die neugierigen Blicke und das Getuschel, ob sie nun die neue Bürokraft in der Papierfabrik war oder nicht, störten sie kein bisschen. Sie fand es sogar lustig, als der Rausschmeißer freundlich andeutete, dass leichte Mädchen im Rick's unerwünscht waren. In den letzten drei Tagen hatte sie jedoch genug Club Soda getrunken, um ein Schiff schwimmen zu lassen, aber noch niemanden gesehen, der ihrem Vater auch nur entfernt ähnelte. Whitney traf stets am frühen Nachmittag in der Bar ein. Sie bestellte sich einen Drink und musterte jeden Mann, der hereinkam. Große Männer mit blauen Augen und schwarzem Haar gab es genug, aber keiner davon hatte das Gesicht ihres Vaters. Vielleicht trug er nicht einmal mehr den Oberlippenbart, an den sie sich erinnern konnte. Und da er in den Fünfzigern war, hatte er bestimmt schon graue Schläfen. Whitney war jedoch sicher, dass sie ihn an der Stimme erkennen würde. Er war ein kräftiger Mann mit einer kräftigen Stimme und eine m herzhaften Lachen. Seufzend drehte sie sich auf dem Barhocker um und starrte in den Spiegel hinter dem Tresen. Es war vier Uhr, was bedeutete, dass die Männer aus der Spielzeugfabrik bald kommen würden. Es waren fünf. Stammgäste, die täglich kamen. Whitney mochte sie. Die Männer erzählten sich lustige Sachen und lachten viel. Im Moment waren außer Whitney nur vier Leute in der Bar. Zwei Frauen Anfang
Dreißig, die seit einer Stunde über die Scheidung einer Nachbarin redeten, und zwei Männer, die Whitne y noch nie gesehen hatte. Im Rick's lief der Betrieb erst nach dem Schichtwechsel in den Fabriken richtig an. Als die Frauen ihre Drinks bezahlten und gingen, bemerkte Whitney, dass die beiden Männer zu ihr herübersahen. Der eine musterte sie ohne Scheu, und sein Blick war fragend. Sie unterdrückte ein Lachen. Vielleicht hielten die beiden sie für ein leichtes Mädchen, wie Tink zu Anfang. Die Vorstellung kam Whitney lächerlich vor. Sie trug verblichene Jeans, ein altes Uni-Sweatshirt und bis auf Lippenstift keinerlei Make-up. Ihr Haar war locker hochgesteckt. Sie fand, dass sie ganz normal aussah. Als ihr Blick zum Spiegel zurückwanderte, sah sie, dass die Männer aus der Spielzeugfabrik die Bar betraten. Es waren stets dieselben fünf. Zwei davon waren Zwillinge, der dritte um die Vierzig, mit leuchtend rotem Haar und Sommersprossen, der vierte weißhaarig, mager und viel älter als seine Kollegen, der fünfte klein, rundlich und in etwa so alt wie ihr Vater jetzt. Whitney sah zu ihnen hinüber und setzte sich abrupt auf. Heute hatten die fünf einen anderen Mann bei sich. Einen großen Mann. Einen Mann, dessen Haar schon ganz weiß war. Sie schluckte. Durchaus möglich, dachte sie. Das Alter kam hin. Wenn sie seine Augen sehen oder seine Stimme hören könnte ... Vielleicht sollte sie etwas fallen lassen, dann würde er sich umdrehen, und sie ... „Hallo, Süße." Verblüfft fuhr Whitney herum. Einer der Männer vom Ecktisch stand neben ihr. „Wie bitte?" fragte sie und hob automatisch das Kinn. „Ich sagte ,hallo,Süße' ", wiederholte er grinsend. Whitney musterte ihn. „Ich hoffe, Sie haben diese Anmache nicht zu lange geübt", sagte sie und kehrte ihm den Rücken zu. „Sie müssen nämlich noch dran arbeiten." Lachend beugte er sich zu ihr. „Bist schon scharf auf mich, was? Mein Name ist Will. Warum gehen wir nicht einfach zu mir?" „Wohl kaum", entgegnete sie und glitt auf der anderen Seite vom Hocker. Sie kam nicht weit. Wills Freund stand ihr im Weg und betrachtete sie interessiert. Whitney hatte keine Angst. Sie wusste, dass die anderen Gäste sie notfalls beschützen würden. Aber es ärgerte sie, dass die beiden ihr die Sicht auf die Männer aus der Spielzeugfabrik nahmen. Sie hob den Kopf und sah Will an. „Jetzt hören Sie mir mal genau zu, denn ich wiederhole mich nie. Mit Ihnen würde ich diese Bar nicht einmal dann verlassen, wenn sie in Flammen stünde und Sie den einzigen Schlüssel hätten. Kapiert?" Offenbar nicht, denn er grinste weiter und strich ihr über den Rücken. Whitney blinzelte verwirrt und sah zum Hocker des Rausschmeißers hinüber. Er war nicht besetzt. Zum ersten Mal, seit sie Rick's Pub betreten hatte, war Tink nicht an seinem Posten. Langsam wurde Whitney nervös. Sie drehte sich zu dem Tisch um, an dem die Männer aus der Spielzeugfabrik immer saßen. Aber dort saß nur der Fremde mit dem weißen Haar. Die anderen standen vor der Dart-Scheibe im hinteren Teil der Bar. „Hören Sie auf damit!" fauchte sie, als Will erneut ihren Rücken streichelte. Als er lachte, holte sie tief Luft, um ihn anzuschreien. „Das reicht", ertönte eine Stimme. „Dir Jungs habt euren Spaß gehabt. Es wird Zeit, dass ihr verschwindet."
Whitney wäre fast vom Hocker gefallen. Sie kannte die Stimme. Sie hatte sie als Kind gehört. Sie hatte sie in ihren Träumen gehört! Schlagartig vergaß sie die aufdringlichen Kerle und drehte sich zu der Stimme um. Als sie den weißhaarigen Mann am Tresen stehen sah, sah sie an ihm vorbei, um ihren Vater zu finden. Aber es war sonst niemand da. „Willst du uns etwa rausschmeißen, alter Mann?" Wills feindselige Frage ließ Whitneys Blick wieder zu dem weißhaarigen Mann wandern. „Tink!" rief er. Whitney fühlte sich plötzlich schwach. Seine Stimme war laut und kräftig. Unverkennbar. „Gibt’ s ein Problem, Lloyd?" Sie hörte Tinks Stimme. Er stand nur einen Meter entfernt, aber irgendwie befand Whitney sich plötzlich in einer anderen Welt. Sie starrte den Weißhaarigen an. War das Lloyd Grant? War das ihr Vater? „Kein Problem, Tink", sagte der alte Mann. „Diese Gentlemen wollten gerade gehen." „Schon? Kommt, ich bringe euch zur Tür." Tink packte die beiden am Arm und schob sie in Richtung Ausgang. „Ich hoffe, ihr habt euch hier wohl gefühlt." Sein Griff war schmerzhaft, und sie verzogen das Gesicht. „Rick's ist nämlich ein freundlicher Laden", fügte der Rausschmeißer hinzu und beförderte die beiden ins Freie. Als ihr Vater sich von ihr wegdrehte, kehrte Whitney in die Wirklichkeit zurück. „Warten Sie", rief sie. Er sah über die Schulter. „Ich ... ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt", stammelte sie. Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe die beiden nur aufgehalten, bis Tink wieder zurück war", erwiderte er und ging weiter. Seine Stimme klang jetzt anders, sanfter. Tink hatte ihn Lloyd genannt, und das war die Bestätigung, die Whitney brauchte. Sie sprang vom Hocker und ging ihm nach. „Mr. ... Tut mir leid, ich habe Ihren Namen nicht verstanden." Er setzte sich an den leeren Tisch. „Lloyd" sagte er, und sein Tonfall ließ erkennen, dass das Gespräch für ihn damit beendet war. Er konnte nicht wissen, dass Whitney kaum so leicht abzuschütteln war. „Mr. Lloyd?" fragte sie. „Nur Lloyd." . „Nun, Nur Lloyd, Sie haben mir eine Menge Ärger erspart. Und das heißt, ich schulde Ihnen einen Drink." Sie rief die Serviererin herüber. „Was nehmen Sie? Bier? Roxie", sagte sie zu der blonden Frau, „bringen Sie Nur Lloyd noch ein Bier. Ich möchte ..." „Club Soda?" fragte Roxie. Whitney lachte. „Nein, heute bin ich mal wagemutig. Bringen Sie mir ein Glas Weißwein." „Sind Sie sicher, dass Sie das verkraften werden?" scherzte die Serviererin und ging davon. Whitney sah Lloyd an. Er musterte sie. In den blauen Augen lag Neugier, aber er stellte keine Fragen. Sie lächelte. „Sie fragen sich, worauf Sie sich eingelassen haben, was?" meinte sie fröhlich. „Sie denken gerade ,Warum habe ich mich bloß eingemischt?' Nun ja, seit drei Tagen beobachte ich Sie. Alle hier in der Bar amüsieren sich, aber Sie sitzen einfach nur da und mischen sich in nichts ein. Meiner Meinung wird man jedoch ziemlich einsam, wenn man sich in nichts einmischt, wissen Sie."
Er starrte sie an. „Reden Sie immer soviel?" „Ja", gab sie bereitwillig zu. „Damit mache ich jeden verrückt. Aber ich reagiere auf 'Halte den Mund'. Manchmal." „Halten Sie den Mund, wer? Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt." Sie hielt den Atem an. Sie durfte ihm ihren Namen nicht nennen. Noch nicht. Er schien etwas aufzutauen, und wenn sie ihm jetzt sagte, wer sie war, würde er sich vielleicht wieder zurückziehen. In diesem Moment brachte Roxie die Drinks, und Whitney nutzte die Unterbrechung, um sich einen neuen Namen auszudenken. „Mary", sagte sie in Erinnerung daran, wie er sie als Kind genannt hatte. Dann sah sie auf sein Haar. „Mary White." „Und was tun Sie in diesem Teil der Stadt, Mary? Wovor sind Sie weggelaufen?" Sie hätte sich fast am Wein verschluckt. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden", meinte sie. Sein Blick glitt über ihr Gesicht. „Sie tragen alte Sachen, aber im Rick's gibt es nicht viele, die auf der Uni waren. Und selbst wenn Sie einen Futtersack anhätten, Sie sehen teuer aus. Die Art, wie Sie sich geben. Die Art, wie Sie reden. Selbst Ihre Frisur sieht teuer aus." Seine Lippen verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns. „Wenn Sie Ihren Eltern eins auswischen wollen, hätten Sie sich einen angenehmeren Ort als Versteck aussuchen können." Trotzig hob sie das Kinn. „Ich bin über einundzwanzig", erklärte sie und musste über ihren rebellischen Unterton lächeln. „Die Umstände haben mich gezwungen, meinen Lebensstil zu ändern. Haben Sie noch nie gehört, dass man auch Pech haben kann? Und ob Sie's glauben oder nicht, ich kann auf mich aufpassen." „Ja, das habe ich gesehen." Seine Skepsis ärgerte sie. „Hören Sie, ich bin seit drei Tagen hier, und..." „Warum?" Sie legte die Stirn in Falten. „Wie bitte?" „Warum sind Sie seit drei Tagen hier? Sitzen an der Bar, mustern jeden, der hereinkommt, belauschen unsere Gespräche. Warum?" Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich weiß nicht. Ich denke, ich wollte nur nicht allein sein. Es gefällt mir hier." Sie schüttelte den Kopf. „Jedenfalls wusste ich nach drei Tagen, was für Leute hier verkehren. Ich wusste , dass ich bloß um Hilfe zu rufen brauchte." Er gab keinen Kommentar ab, und als das Schweigen andauerte, spürte sie, wie ihr Vater sich wieder von ihr entfernte, an einen Ort, an den sie ihm nicht folgen konnte. Ängstlich beugte sie sich vor. „Nun ja, vielleicht stimmt es wirklich, dass ich vor jemandem weglaufe." Wie sie gehofft hatte, hob er den Kopf und sah sie an. „Ich wusste es", sagte er leise. „Aber nicht vor meinen Eltern. Vor einem Mann." Sie dachte an Dean, und ihr wurde weh ums Herz. „Ich habe ihn mein ganzes Leben geliebt", fuhr sie heiser fort. „Sein Name ist Dean." Sie nahm einen Schluck Wein. „Leider liebt er mich nicht. Ich dachte, ich würde ihm etwas bedeuten. Nein, ich habe ihm etwas bedeutet. Aber das reicht nicht. Ich glaube, er wollte mir scho n immer sagen, dass er mich nicht liebt, jedenfalls nicht so wie ich ihn. Aber ich wollte es nicht hören. Ich wollte die Wahrheit nicht hören. Ich sagte mir immer, eines Tages ..." Sie brach ab. „Na ja, als alles zusammenbrach, bin ich gegangen. Ohne irgend etwas. Ich habe alles auf Dean gesetzt." Sie lehnte sich zurück. Die Erinnerung an den letzten Tag in San Antonio überflutete sie. „Wir haben uns gestritten, und er ..."
Sie setzte sich wieder auf und sah Lloyd in die Augen. „Er ist ein guter Mensch. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Er hatte einfach nur genug. Von mir. Davon, wie ich mich an ihn gehängt habe." Sie zuckte mit den Schultern. „Bestimmt war ich immer nur eine Last für ihn." Sie verzog das Gesicht. „Die Wahrheit ist nicht immer angenehm, aber manchmal wichtig. Vielleicht laufe ich auch vor mir selbst weg. Vor dem, was aus mir geworden wäre." Sie stützte die Arme auf den Tisch und legte das Kinn auf die Hände. „Und? Wie finden Sie mich, jetzt?" Er legte den Kopf leicht zurück und lachte. Es war das Lachen, das sie in ihren Erinnerungen gehört hatte. „Sie sind bemerkenswert", meinte er schmunzelnd. „Sind Sie sicher, dass Sie ihn nicht einfach nur besinnungslos geredet haben?" Sie lächelte verlegen. „Vermutlich auch das." Er hob seinen Bierkrug und sah sie an, während er trank. „Wollen Sie meine Meinung hören?" fragte er. „Will ich", erwiderte sie. „Wirklich." „Ich glaube, Sie haben sich eine Menge Kummer erspart", sagte er tonlos. „Ich lebe allein, und meistens finde ich das auch gut so. Keine Verantwortung, niemand, den man enttäuschen könnte. Daher kommt nämlich der echte Schmerz, Mary. Nicht von dem, was einem angetan wird, sondern von dem, was man selbst anderen angetan hat. Das ist das, was einen wirklich zerreißt." Was hast du jemandem angetan? wollte sie fragen. Aber das durfte sie nicht. Der Schmerz in seinen Augen stammte nicht aus der Vergangenheit. Er stammte aus der Gegenwart. Fühlte er sich selbst jetzt noch, nach all den Jahren, schuldig, weil er seine Familie verlassen hatte? Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hatte gelitten, aber ihre Trauer war nichts, verglichen mit dem, was dieser Mann durchgemacht hatte. Abrupt stand er auf. „Ich gehe jetzt besser", meinte er, und seine Stimme klang rau. Whitney wusste , dass Lloyd Rick's nie vor zehn Uhr abends verließ, aber sie hielt ihn nicht zurück. Sie hatte ihn an seinen Schmerz erinnert, und er wollte allein damit fertig werden. „Danke für den Drink." Lloyd drehte sich noch einmal zu ihr um. „Suchen Sie einen Job?" Die Frage überraschte sie. Sie starrte ihn an, dann nickte, sie langsam. „Ja allerdings, das tue ich." „In der Fabrik ist eine Stelle frei. Ich könnte ein gutes Wort für Sie einlegen, wenn Sie wollen." „Danke, sehr Lloyd. Da wäre ich Ihnen sehr dankbar." Sie lächelte. „Ich kann jedes gute Wort gebrauchen, das ich bekommen kann." Leise schmunzelnd ging er davon. Whitney sah ihm nach. Dann schloss sie die Augen. Fast hätte sie es ihm gesagt. Zum Schluss, als ihr aufging, wie sehr er litt, hätte sie ihm fast gestanden, dass sie seine Tochter war. Die Worte hatten ihr auf der Zunge gelegen, doch dann war ihr bewusst geworden, dass sie absolut nichts über diesen Mann wusste. Sie würde warten, bis sie ihn besser kannte. Er sollte sie erst als Mensch erleben, als jemanden, der weder ihn noch sein neues Leben bedrohte. Whitney stand auf, und urplötzlich ging ihr auf, was geschehen war. Sie hatte ihren Vater gefunden. Ein neues Leben zu beginnen war harte Arbeit, und die nächsten Tage verliefen für Whitney hektisch. Sie war mehr oder weniger hilflos, wenn es darum ging, eine
Wohnung zu suchen, sie einzurichten und Lebensmittel zu kaufen. Und sie sorgte dafür, dass Lloyd es mitbekam. Jedesmal, wenn er sich von ihr zurückziehen wollte, bat Whitney ihn um Hilfe. „In China", erzählte sie ihm, „muss man für den Menschen, dem man das Leben rettet, auch Verantwortung übernehmen. Das ist ein Gesetz, Lloyd." „Ich habe doch nur Tink gebeten, ein paar Krawallmacher aus der Bar zu werfen", entgegnete er und lachte über ihre maßlose Übertreibung. „Ich habe Ihnen nicht das Leben gerettet." „Doch", widersprach sie. „Sie haben mir das Leben gerettet. Denn wenn er mich noch ein einziges Mal angefasst hätte, hätte ich ihm meine Sodaflasche über den Kopf gehauen. Und wenn er daran gestorben wäre, wäre ich vor Gericht gekommen und schuldig gesprochen worden. Außerdem hätte ich nicht die geringste Reue gezeigt, und Sie wissen ja, wie Richter das finden." Sie senkte die Stimme. „In Texas gibt es noch die Todesstrafe, Lloyd." „Okay ... okay, ich gebe auf. Ich helfe Ihnen, Ihre blöden Töpfe und Pfannen auszusuchen." Lloyd half ihr nicht nur, Töpfe und Pfannen auszusuchen, er ging mit ihr in einen Laden, der gute Gebrauchtmöbel verkaufte, und er besorgte genügend Helfer mit Pick-ups, um alles in die kleine Wohnung zu schaffen, die sie in seinem Haus gemietet hatte. Hin und wieder kamen Whitney Zweifel, ob sie weiterhin ihre Kreditkarten benutzen sollte, denn die Abrechnungen gingen an ihren Onkel. Doch sie notierte sich jeden Dollar, den sie ausgab. Irgendwann würde sie es ihm zurückzahlen können. Plötzlich war es ihr wichtig, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie wollte, dass ihr Vater stolz auf sie war. Sie wollte selbst stolz auf sich sein. Nur in ihrem neuen Job konnte sie Lloyd nicht um Hilfe bitten. In der Fabrik war Whitney auf sich allein gestellt. Das erste Hindernis war ein kleines Detail, an dem ihr gesamter Plan scheitern konnte - Whitneys Name und Sozialversicherungsnummer. Sie hatte die Gäste im Rick's lange genug beobachtet, um zu wissen, dass die Fabrik wie eine Kleinstadt war. Es gab keine Geheimnisse. Wenn sie ihren richtigen Namen nannte, würde die gesamte Belegschaft ihn innerhalb weniger Stunden erfahren. Wenn sie jedoch ihren neuen Namen sowie eine falsche Sozialversicherungsnummer angab, würde das den Behörden sicher nicht gefallen. An dem Tag, an dem sie sich um den Job bewerben sollte, ließ dieses Dilemma sie stundenlang vor dem Personalbüro auf und ab gehen. Gerade als Whitney beschlossen hatte, die ganze Sache zu vergessen, kehrte die Angestellte aus der Mittagspause zurück. Mit ihrem fast blauen Haar und in ihrem verblichenen Hauskleid sah Mrs. Dennison aus wie jedermanns Großmutter. Aber Äußerlichkeiten konnten täuschen. Lloyd hatte Whitney von Mrs. Dennison erzählt. Sie war die Mutter des Fabrikbesitzers, und im Betrieb geschah nichts ohne ihre Erlaubnis. Was Whitney jedoch Mut machte und sie hinter der Frau ins Büro gehen ließ, war nicht das großmütterliche Gesicht oder die Macht der Fabrikantentochter. Es war das Taschenbuch, das die Frau unter dem Arm trug. Mafia-Morde in Midland. Mrs. Dennison war ein eingefleischter Krimifan. Eine Stunde später hatte Whitney nicht nur einen neuen Job, sondern auch die Gewissheit, dass ihre neue Freundin niemandem ihren richtigen Namen verraten würde. Whitney hatte Mrs. Dennison nicht angelogen. Sie hatte ihr nur erzählt, dass sie ein neues Leben beginnen wollte und dass „Dinge" passieren konnten, wenn gewisse Leute erfuhren, wo sie war. Dinge, über die man nicht reden konnte.
Mrs. Dennison hatte jedes ihrer Worte verschlungen. Das zweite Hindernis war nicht so einfach zu überwinden. Die Tatsache, dass Lloyd Grant, ein überaus beliebter Vorgesetzter, sie für den Job empfohlen hatte, half ihr, rasch Freunde zu finden. Aber nicht einmal eine Empfehlung vom Firmenchef hätte ihr am Fließband geholfen. Whitneys Job bestand darin, kleine Spielzeug -Lastwagen mit winzigen Gummireifen zu versehen. Als Lloyd ihr die Tätigkeit beschrieb, hatte sie kinderleicht geklungen. Doch schon an ihrem ersten Tag merkte Whitney, dass es die reine Hölle sein konnte, kleine Spielzeug-Lastwagen mit kleinen Gummireifen zu bestücken. Niemand hatte ihr erzählt, dass sie den Job in einem Wahnsinnstempo zu erledigen hatte. In jener Nacht träumte Whitney von zahllosen kleinen roten und blauen und gelben Trucks, die nicht nur bereift, sondern auch geschmiert werden mussten. Am dritten Tag kam sie besser zurecht. Sie war zwar noch nicht so schnell, wie sie sollte, war aber zuversichtlich, dass sie dem Job eines Tages gewachsen sein würde. Sie versuchte, Lloyd dazu zu überreden, zusammen mit ihr zur Arbeit zu fahren. Wozu sollten sie zwei Autos nehmen, anstatt sich auf der Fahrt Gesellschaft zu leisten und Benzin zu sparen? Doch da spielte Lloyd nicht mit. Gemeinsam einen Wagen zu benutzen, war ihm eine zu große Nähe. Am Freitagabend, nach der ersten Woche in der Fabrik, fand bei Rick's das wöchentliche Dart-Turnier statt. Whitney hatte es hin und wieder probiert, und Lloyd sowie einige ihrer neuen Freunde drängten sie, am Turnier teilzunehmen. Die ersten beiden Gegner besiegte sie mühelos. Der letzte Konkurrent war Frankie Halloran. Frankie hielt sich für unbesiegbar, aber er war ein umgänglicher Typ, und niemand nahm es ihm übel. „Ich glaube, dich kann ich locker schlagen", verkündete er. „Wie wär's mit einer kleinen Wette?" Alles johlte. „Okay", fuhr er fort. „Wenn ich gewinne, gehst du morgen Abend mit mir zum Traktor-Rennen ... und hinterher auf den Parkplatz", fügte er mit einem breiten Grinsen hinzu. „Und wenn ich gewinne?" fragte Whitney. „Dann muss er deinen alten Buick polieren", rief jemand. Als alle lachten, hob Frankie eine Hand. „Wenn du gewinnst", versprach er, „gebe ich eine Lokalrunde aus." „Los, Mary, zeig's ihm." „Lass ihn blechen." „Du schlägst ihn", meinte Lloyd. „Aber bleib auf Distanz. Er neigt dazu, dich zu streifen, wenn du gerade werfen willst." Obwohl alle einen freien Drink wollten, bildeten sich zwei Gruppen, als das Finale begann. Whitney merkte sofort, dass Frankie gut war, besser als die anderen Gegner. Aber sie blieb seelenruhig. „Komm schon, Mary. Du schaffst es. Mach ihn fertig." Whitney nahm sich einen Wurfpfeil und winkte dem Rausschmeißer zu. „Lass dir Zeit, Mary", riet Lloyd. Whitney zupfte sich einen Fussel vom Ärmel, setzte zum Wurf an und schoss den Pfeil mitten ins Zentrum der Scheibe. Alle umringten sie, jubelten und klopften ihr anerkennend auf die Schulter. Als Whitney sah, dass Frankie ein guter Verlierer war und fröhlich lächelte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihm die Wange. „Dein Trostpreis", sagte sie.
Lachend fasste er sie um die Taille und bog sie nach hinten. Der Kuss war lang und geräuschvoll, und obwohl er mehr spielerisch als erotisch war, feuerten die Umstehenden sie begeistert an. Als Frankie sie endlich losließ, wischte Whitney sich demonstrativ das Gesicht ab, bevor sie sich zum Tresen umdrehte. Sie hob die Hand und öffnete den Mund, um sich einen Drink zu bestellen. Entsetzt riss sie die Augen auf. Keine zwei Meter vor ihr stand Dean. Und seinem Gesicht nach würde es gleich schrecklichen Ärger geben.
7. KAPITEL Whitneys Kopf war plötzlich leer. Aber dann, in schwindelerregendem Tempo, begann ihr Verstand Überstunden zu machen. Dean war hier. In Dallas. In Rick's Pub. Sein teurer Anzug wirkte deplaziert, und Whitneys neue Freunde starrten ihn bereits an. Sie begannen sich zu fragen, was ein Mann wie er hier wollte. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Whitney die Situation lustig gefunden, aber im Moment war sie zu sehr mit ihrer Panik beschäftigt. Wie hatte er sie gefunden? Und noch wichtiger, warum hatte er sie überhaupt gesucht? Wenn Dean sie jetzt mit ihrem richtigen Namen ansprach, wäre ihre hart erarbeitete Tarnung aufgeflogen. Das durfte nicht geschehen. Dazu stand zuviel auf dem Spiel. Sie zwang sich, Dean in die Augen zu sehen, und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Bitte, lass ihn begreifen, flehte sie stumm. Bitte, lass ihn begreifen. Sie hätte nicht an ihm zu zweifeln brauchen. Nach kurzem Zögern setzte er sich an den Tresen und orderte mit ausdrucksloser Miene einen Drink. „Dean?" Whitney wirbelte herum. Ihr Herz schlug wild. Neben ihr stand Lloyd. „Was hast du gesagt?" fragte sie ihn leise. „Ich habe gefragt, ob das dein Dean ist." Wenn die Chancen, damit durchzukommen, eins zu einer Million gestanden hätten, hätte Whitney es abgestritten. Aber Lloyd kannte sie bereits zu gut. Er würde ihr die Lüge ansehen. „Nicht mein Dean." Sie lächelte bitter. „Meiner war er nie. Aber es ist Dean." Sie holte tief Luft. „Keine Frage." Lloyd warf einen Blick zum Tresen hinüber. „Er sah nicht gerade erfreut aus." „Nein", stimmte sie ihm zu. „Das war er wohl auch nicht." Lloyd führte sie an ihren Tisch und schob sie sanft auf einen Stuhl. „Wenn er dich als Last ansieht, warum ist er dir dann gefolgt?" Sie kaute auf ihrer Unterlippe. „Wahrscheinlich, weil er mich als seine Last ansieht. Ich habe dir gesagt, dass er ein guter Mensch ist. Er hat sich um mich gekümmert, seit ich sechs war." Sie zögerte. „Er wollte nie, dass ich einfach verschwinde. Doch er wollte, dass ich mein eigenes Leben führe, so wie jetzt. Aber das konnte er ja nicht wissen. Und deshalb ist er hier ... vielleicht", schloss sie resigniert. „Wirst du mit ihm reden?" Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nicht jetzt." Nur mit Mühe riss sie den Blick von Dean los. „Reden wir über etwas anderes. Wenn ich ihn ignoriere, geht er vielleicht wieder." Ihr Vater schmunzelte. „Irgendwie halte ich ihn nicht für einen Typen, der sich einfach in Luft auflöst, wenn er stört." Lloyd irrte sich. Einige Minuten später bezahlte Dean seinen Drink und verließ den Pub, ohne Whitney eines Blicks zu würdigen.
Als die Tür sich hinter ihm schloss, hätte Whitney sich eigentlich wieder entspannen sollen, aber so einfach war das nicht. Sein Auftauchen hatte sie verwirrt, begeistert und neugierig gemacht. Eigentlich hatte sie geglaubt, auch ihre Liebe zu ihm in San Antonio zurücklassen zu können. Wie der weiße Jaguar würde die Liebe zwar immer existieren, aber eben stillgelegt. Eine Erinnerung. Ein Element von vielen, die ihr geholfen hatten, die neue Whitney Daryn Grant zu werden. Dann begriff sie plötzlich. Sie war dumm gewesen. Unglaublich dumm. Ihre Liebe zu Dean ließ sich nicht stilllegen und war weit mehr als Nostalgie. Sie saß in ihrem Herzen, so stark und tief und fest wie zuvor. Sie hatte es sich nur nicht eingestehen wollen. „Ich denke, es wird Zeit für mich", sagte Lloyd. Betrübt sah sie auf die Uhr. Wieso war es denn schon zehn? Sie wollte nicht, dass der Abend schon vorüber war. Sie wollte nicht weg von hier. Sie brauchte den tröstenden Trubel. Widerwillig stand sie auf und ging mit Lloyd zum Ausgang. Draußen drückte er ihr die Hand, wünschte ihr eine gute Nacht und verschwand zwischen den Schatten auf dem Parkplatz. Whitney atmete noch einmal tief durch, bevor sie zu ihrem Wagen ging. Sie war gerade dabei, den Buick aufzuschließen, als jemand sie von hinten packte. Eine Hand legte sich auf ihren Mund und nahm ihr die Luft. Dann wurde sie von den Füßen gerissen. Mit der freien Hand öffnete der Angreifer die Wagentür und schob sie hinein. Er folgte ihr und drängte sie auf die andere Seite. Sekunden später lag sie ihrem Angreifer in den Armen und wurde heftig geküsst. Bevor sie den Kuss erwidern oder abwehren konnte, stieß er sie von sich. „Siehst du, was dir alles passieren kann?" fuhr Dean sie an und schüttelte sie. O ja, dachte sie, er ist echt sauer. Das Licht der Parkplatzlaternen erhellte den Wagen kaum, aber Whitney brauchte Dean gar nicht zu sehen, um zu wissen, dass er vor Zorn zitterte. „Siehst du jetzt, wie einfach es für jemanden wäre, dir weh zu tun?" fuhr er fort. „Verdammt, Whitney, du hast dich nicht mal gewehrt! Nicht geschrieen. Du hast einfach nur... Was? Was hast du gesagt?" „Ich sagte, ich wusste , dass du es bist." Sie fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Ich wusste, dass du hier draußen bist. Und ich wusste, dass du sauer bist." „Sauer? Sauer! Das beschreibt nicht annähernd, was ich bin. Was zum Teufel hast du dir eigentlich gedacht? Weißt du, was für eine Angst deine Mutter um dich hat? Und dein Onkel..." Er raufte sich das Haar und lachte. „Dein ehrenwerter Onkel hat ganz leise, ganz diskret den Verstand verloren. Er hat das FBI, die CIA, Pinkerton und die berittene Polizei mobilisiert! Wo ist der Jaguar? Warum fährst du einen Wagen, der älter ist als du? Verdammt, Whitney, hast du eine Ahnung, was du getan hast? Seit einer Woche bin ich hinter dir her. Meine Kanzlei geht den Bach runter, und ich kann nichts dagegen tun, weil ich dich hier in dieser miesen Gegend suchen muss." „Wer hat dich darum gebeten?" konterte sie. „Habe ich vielleicht Rauchsignale ausgeschickt? Mir geht es gut. Jedenfalls ging es mir gut, bis du hereinkamst wie eine Wall-Street-Version von James Bond. Ich kann selbst auf mich aufpassen, vielen Dank." Dean starrte sie an. Selbst im matten Licht erkannte er den Blick wieder. Trotzig, rebellisch. Himmel, war es gut, sie wiederzusehen. Er hatte nicht im Traum gedacht, dass es so lange dauern würde, sie zu finden, und mit jedem Tag war seine Angst größer geworden. Natürlich hatte er nicht wissen können, dass er sie in einer Bar und in den Armen
eines Fremden finden würde. Erneut musste er seinen Zorn hinunterschlucken. „Deine Mutter hat mich darum gebeten", sagte er. „Sie macht sich wirklich Sorgen um dich, Whitney. Und wenn sie wüsste, dass du mitten in der Nacht auf dunklen Parkplätzen herumspazierst, würde sie ganz edel ausflippen. Du hast ein Recht auf dein eigenes Leben, Honey, aber sicher begreifst du, dass das hier nicht die richtige Umgebung für dich ist." Whitney starrte vor sich hin, wehrte sich innerlich dagegen, von der Besorgnis in seiner Stimme verführt zu werden. „Das soll wohl heißen, Rick's ist nichts für eine verzogene, nutzlose Harcourt-Göre." Sie schüttelte den Kopf. „Mir geht's gut, Dean. Seit ich hier bin, bist du der einzige, der mir echte Probleme bereitet hat." „Whitney." Sie sah ihn nicht an. „Whitney, es tut mir leid ... Was ich gesagt habe, tut mir wirklich leid. Ich meine, an dem Tag in meinem Schlafzimmer, da hast du mich überrascht und erschreckt, Honey. Mehr war nicht." „Ich wusste nicht, dass du eine Vorwarnung brauchst. Musst du dich darauf vorbereiten, nett zu mir zu sein?" Als er zögerte, versetzte es ihr einen Stich. „Und der Kuss gerade?" fragte sie. „Habe ich dich heute Abend etwa auch überrascht? Und falls es eine Art Lektion sein sollte, dann hast du es übertrieben." „Glaub ja nicht..." Er verstummte und atmete durch. Als er fortfuhr, war seine Stimme ruhiger. „Nein, ich wollte dir keine Lektion erteilen. Ich war nur wütend. Und du weißt ja, wie heißblütig ich bin." „Ich fange an, es zu begreifen", murmelte sie. „Vergiss es, Dean. Es spielt keine Rolle mehr." Lügen, sagte sie sich traurig, alles nur Lügen. Es spielte eine größere Rolle, als ihr lieb war. Eine größere, als er je erfahren würde. Sie drehte sich zu ihm. „Da du hier in Dallas bist, weißt du vermutlich auch, dass ich hergekommen bin, um meinen Vater zu suchen." Er nickte. „Ich habe ihn gefunden, Dean. Deshalb war ich bei Rick's. Deshalb lebe ich in dieser Gegend. Ich will, dass er mich kennen lernt." „Der Mann an deinem Tisch? Hat er dich erkannt? Weiß er, wer du bist?" „Nein, noch nicht. Ich darf es ihm noch nicht sagen." Sie biss sich auf die Lippe. „Es ist kompliziert... aber auf die Gründe kommt es eigentlich gar nicht an. Wichtig ist, dass wir Freunde werden." Sie schüttelte den Kopf. „Das hier ist mir wichtig, Dean. Ich werde nicht aufgeben." „Okay", sagte er. „Ich bin froh, dass du deinen Vater gefunden hast. Daran darfst du nicht zweifeln." Er sah sie eindringlich an. „Magst du ihn, Whit? Ist er so, wie du dich an ihn erinnerst?" „Ich mag ihn", sagte sie nur. „Er sieht anders aus als in meiner Erinnerung, und im Moment sind wir nicht mehr als locker befreundet, aber ich glaube ... Vielleicht gibt es eine Art genetisches Band, oder wir liegen einfach auf der gleichen Wellenlänge. Jedenfalls merke ich, wie wir uns näher kommen. Es ist wie echte Zuneigung und wartet nur darauf, dass wir sie entdecken." Sie lächelte. „Ich lerne es, geduldig zu sein, Dean. Das müsste dir gefallen. Und bis dahin habe ich meinen Job in der Fabrik." Whitney spürte sein Erstaunen mehr, als dass sie es sah. „O ja", fuhr sie fort. „Ich habe einen richtigen Job. Ich kann meinen kunstgeschichtlichen Hintergrund nutzen, um die kleinen Reifen symmetrisch an die kleinen Spielzeuglastwagen zu montieren." „Fließband?" „Ja", bestätigte sie fröhlich. „Und ich will keine abfälligen Bemerkungen hören.
Wir Arbeiter sind da sehr empfindlich. Wir sind stolz auf das, was wir tun. Und zu deiner Information, mir gefällt meine Arbeit. Sehr sogar. Ich arbeite hart, gehe nach Feierabend zu Rick's, entspanne mich mit meinen Freunden und gehe anschließend in meine neue Wohnung, um den Schlaf der Gerechten zu schlafen." „Ich weiß von der Wohnung", gestand er. „Durch die habe ich dich heute Abend gefunden, aber der Rest ..." Er verstummte und legte das Kinn aufs Lenkrad. „Ich muss das erst einmal verdauen. Ein Fließband, Whit?" Sie lachte. „Ob du es glaubst oder nicht, ich lerne es. Mutter würde einen Schlag bekommen, wenn sie mich so sähe. Ich trage ein Tuch, damit mein Haar nicht dazwischengerät. Ehrlich, ich glaube, der Bauernlook gefällt mir." Dann sah sie ihm in die Augen. „Mein ganzes Leben gefällt mir, Dean. Wenn du also hier bist, um mich zurückzuhole n, vergiss es. Ich bleibe." Es dauerte einige Sekunden, bis er antwortete. „Ich habe deiner Mutter gesagt, dass du selbst entscheiden musst, was du willst. Und dass ich dich weder zwingen noch überreden werde." Er verzog seinen Mund zu einem wehmütigen Lächeln. „Aus der Distanz ist es leicht, neutral zu sein. Aber jetzt, wo ich hier bin, geht das nicht mehr, Whitney. Ich mache mir Sorgen um dich. Niemand hat dir die Fähigkeiten beigebracht, die man braucht, um an einem solchen Ort zu überleben." „Du irrst dich", widersprach sie leise. „Du hast sie mir beigebracht. Du hast mir beigebracht, mich anzupassen, mit neuen Situationen fertig zu werden." Sie strich ihm über die Wange. „Es tut mir leid, dass ich dir Schwierigkeiten bereitet habe. Das wollte ich nicht." Sie ließ die Hand auf ihren Schoß fallen. „Fahr nach Hause, Dean. Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen. Es geht mir gut." Sie nagte an ihrer Unterlippe. „Sag Mutter, dass ich sie anrufe, wenn ... wenn ich mich hier eingerichtet habe." Er nickte. „Wenn du es so willst", sagte er schließlich. Dann tastete er nach dem Türgriff. „Pass auf dich auf, ja?" bat er und stieg aus, ohne sie noch einmal anzusehen. „Sicher", versprach sie so unbeschwert wie möglich. „Du auch auf dich." Sie glitt auf den Fahrersitz und sah Dean nach, als er verschwand, in der Dunkelheit, aus ihrem Leben. Dann startete sie den Buick und fuhr vom Parkplatz. Fünfzehn Minuten später betrat Whitney ihre Wohnung und schaltete alles ein. Sämtliche Lampen, den Fernseher sowie das Radio in der Küche. Es half nicht. Die Geräusche und das Licht erfüllten die Räume nicht mit Leben. Obwohl Dean nie in ihrer Wohnung gewesen war, spürte sie seine Abwesenheit überdeutlich. Als ein Nachbar gegen die Wand hämmerte, schaltete Whitney alles wieder aus, nahm eine Dusche und ging zu Bett. Sie lag auf der Decke, starrte an die Decke und befahl ihrem Körper, sich zu entspannen. Dennoch musste sie dauernd an ihn denken. Rastlos wälzte sie sich herum. Er hatte müde ausgesehen. Bestimmt fehlte ihm seine Arbeit schrecklich. Er hätte seinen Beruf nicht vernachlässigen dürfen, um herzukommen und nach ihr zu suchen. Aber jetzt würde es ihm bald besser gehen. Jetzt, wo sie sich persönlich voneinander verabschiedet hatten und er gesehen hatte, dass sie ein neues Leben führte, würde er sie vergessen und sein eigenes Leben weiterführen können. Whitney beschloss, dass alles eine gute Wendung genommen hatte, drehte sich um und weinte sich in den Schlaf. Dean schloss die Augen, damit die Rothaarige neben ihm denken musste, er wäre eingeschlafen. Er war nicht zum Flirten aufgelegt. Eigentlich war er nicht einmal
dazu aufgelegt, in diesem Flugzeug zu sitzen. Viel lieber wäre er in Dallas geblieben und hätte sich diesen muskelbepackten Schwachkopf vorgeknöpft, der Whitney in der Bar geküsst hatte. Reiß dich zusammen, sagte Dean sich. War das nicht genau das, was er gewollt hatte? Er hatte sich eingeredet, dass es besser wäre, wenn Whitney sich aus der Abhängigkeit von ihm löste und ein normales Leben führte. Deshalb hatte er auch immer ganz offen mit ihr über seine Frauen geredet. Verdammt, deswegen war er ja mit all diesen Frauen ausgegangen. Um ihr klarzumachen, wie kindisch ihre Anhänglichkeit ihm gegenüber war. Nicht, dass Whitney nie mit Männern ausgegangen wäre. Auf der High School hatte sie sich mit vielen Jungs getroffen. Typen aus gutem Haus. Dean war ungeduldig geworden, hatte darauf gewartet, dass sie endlich eine richtige Verbindung einging. Als das nicht geschah, hatte er ihr noch mehr über seine Frauen erzählt, um ihr zu zeigen, dass sie nicht zu seinem Privatleben gehörte. Aber Whitney reagierte nicht so, wie er es erwartet hatte. Es gab keine Auseinandersetzung, keine Tränen. Obwohl sie ihre Eifersucht nicht vor ihm verbarg, milderte sie sie auf lustige Weise ab. Es war, als würde sie warten, als würde sie genau wissen, dass er eines Tages zu ihr zurückkehren würde. Und Dean tat so, als würde ihre Beharrlichkeit ihn wütend machen. Aber heute Abend hatte er sich der Wahrheit stellen müssen. Als er sie in den Armen eines Fremden sah, hätte er gewusst, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Er drehte den Kopf zum Fenster. Die Wahrheit über sich zu erfahren, war äußerst unangenehm. Er hatte sich für stärker gehalten. Jetzt sah er ein, dass er von Whitneys Gefühlen für ihn gezehrt hatte, dass er sich mit ihrer Hilfe über Wasser gehalten hatte. Whitneys Lachen und ihre Liebe waren der feste Boden unter seinen Füßen gewesen. Dean schlug die Augen auf und starrte in die Dunkelheit hinaus. Dennoch sah er sie vor sich. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er sie gefunden hatte, auf dem Kantstein sitzend, fremd im Müllkippenviertel. Und dann das Biberkostüm, das sie bei der Aufführung in der 3. Klasse tragen wollte. Er sah sie in Reitkleidung, mit dem kleinen Helm auf dem Kopf, in der Hand ihre erste Trophäe. Er sah sie am Abend vor ihrem ersten Schulball, in dem pinkfarbenen Kleid, das ihre Mutter ausgesucht hatte, und den Turnschuhen, die nicht recht dazu passten. Und dann veränderte sich das Bild, und Dean sah das erste Mal, als er sie begehrt hatte. Er holte tief Luft und verschloss die Augen vor der Szene, aber sie verschwand nicht. Im Gegenteil. Er sah sie deutlicher als je zuvor. Er war vierundzwanzig gewesen, Whitney sechzehn. Selbst in diesem Moment, Jahre später, wusste Dean noch immer nicht, warum es gerade damals passiert war. Ihre Jeans und das T-Shirt waren in keiner Weise aufreizend gewesen. Und sie hatte weder mit Worten noch mit Gesten geflirtet. Sie saßen auf der Hintertreppe, nah beieinander, aber ohne sich zu berühren. Whitney erzählte ihm davon, wie sie sich mitten in der Nacht aus dem Cottage schlich, um zu reiten, ohne dass jemand sie dabei beobachtete und kritisierte. Während sie den Mondschein-Ritt und die Begeisterung beschrieb, mit der sie und ihr Pferd über das Harcourt-Land flogen, starrte Dean auf ihren Mund. Und dann geschah es. Er wusste plötzlich, dass er sie begehrte. Sie lehnte sich zurück, und ihr Körper berührte seinen. Es war die Art von Berührung, wie sie in einer freundschaftlichen Beziehung immer mal vorkam. Nichts Ungewöhnliches. Ohne jede sinnliche Absicht. Aber diesmal fühlte sie sich für Dean sinnlich an. Und während sie weiterredete, ging ihm auf, dass seine Hand an ihrer Hüfte lag.
Er hatte keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen war, aber jetzt war sie dort, und es gelang ihm nicht, sie wegzunehmen. Er spürte ihre heiße Haut an seiner Handfläche, als wäre das T-Shirt nichts als eine Einbildung. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich, und plötzlich fiel ihm das Atmen schwer. Er schien sich nicht mehr auf das konzentrieren zu können, was sie sagte. Als seine Hand sich an ihrer Hüfte zu bewegen begann, als würden seine Finger sie aus eigenem Willen berühren wollen, wusste Dean, dass er damit aufhören musste. Ruckartig löste er sich von ihr und stand auf. Seine Hände zitterten, sein Inneres brannte. Um seine Erregung zu tarnen, war er ärgerlich geworden. Er hatte ihr gesagt, er habe keine Zeit, herumzusitzen und zu reden. Er war an ihr vorbei ins Haus gegangen und hatte die Tür hinter sich abgeschlossen. Dean war klar, dass er und Whitney nicht nur Freunde waren, und er sah sie nicht als seine kleine Schwester. Er war nur nicht sicher, wie er das, was sie verband, definieren sollte. Aber gleich vom ersten Tag an hatte er das Gefühl gehabt, sie beschützen zu müssen. Aber damals an dem Tag, als sie sechzehn war, begehrte er sie. Er wollte sie nehmen. Er wollte sie nackt unter sich spüren. Er wollte fühlen, wie ihr Körper sich unter seinem bewegte. Und manchmal in den folgenden Jahren, mitten in einer schlaflosen Nacht, wenn die Verzweiflung ihn packte, überlegte er, ob er sie darum bitten sollte. Doch allein schon, dass er nur daran dachte, erfüllte ihn mit Scham. Whitney war zu ihm gekommen, um das zu bekommen, was die Harcourts ihr verweigerten. Zuneigung ... Verständnis ... Mitgefühl ... Kameradschaft. Und plötzlich hatte er Angst, sie zu berühren. Angst, dass sein Verlangen außer Kontrolle geriet. Immer wieder musste er sich sagen, dass Whitney nichts als eine verwöhnte Harcourt-Göre war. Für jemanden wie Whitney gab es in seinem Leben keinen Platz. Der Zufall hatte sie zusammengebracht, aber die Realität hinderte sie daran, etwas anderes zu sein als gute Freunde. So will ich es, sagte Dean sich. Mit einer Freundschaft konnte er umgehen. An alles andere wollte er nicht mehr denken. Whitney akzeptierte die neuen Grenzen, die er ihrer Beziehung gesetzt hatte. Ohne Protest, ohne Fragen. Aber sie ließ es nicht zu, dass er völlig aus ihrem Leben verschwand. Sie blieben Freunde, und im Laufe der Jahre lernte Dean, den Dämon in sich zu bändigen. Manchmal glaubte er sogar, ihn endgültig besiegt zu haben. An dem Tag jedoch, an dem sie San Antonio verließ, an dem Tag, an dem sie ohne Vorwarnung in sein Schlafzimmer kam, hatte er sich der Wahrheit stellen müssen. Der Dämon war noch in ihm. Dennoch hatte alles ein gutes Ende genommen. Deans Willenskraft hatte gesiegt. Whitney himmelte ihn nicht mehr an. Whitney führte endlich ihr eigenes Leben, ein richtiges Leben, für sich selbst. Aber warum empfand er bloß keinen Triumph dabei? Warum fühlte er sich so verdammt leer?
8. KAPITEL „Ich verstehe es nicht", sagte Lloyd. „Wie kommt es bloß, dass du mit Darts so fantastisch umgehen kannst, aber mit der Bowling-Kugel überhaupt nicht?" Von der Kritik vollkommen unbeeindruckt hielt Whitney ihre Hände über das Gebläse und wartete darauf, dass ihre Kugel zurückgerollt kam. „Ganz einfach. Nimm einen Wurfpfeil und dann versuch mal, eine von diesen Kugeln zu greifen.
Das hat etwas mit Schub und Kraft und Energie zu tun." „Und deshalb landet die Kugel jedesmal in der Rinne?" fragte Lloyd. „Sie macht sich über dich lustig", rief Frankie von der benachbarten Bahn. „Sieh's ein, Mary, du bist absolut unfähig. Der einzige Mensch in der Geschichte des Bowlings, der es schafft, eine negative Punktezahl zu erreichen." Frankies Bemerkung und ihre durchaus angemessene Antwort lösten in der Gruppe lautes Gelächter aus, aber Whitney ignorierte es und griff nach der Kugel. Sorgfältig ging sie die Schritte durch, die Lloyd ihr beigebracht hatte. Sie hielt die Kugel in Brusthöhe, machte einen Schritt nach vorn und ließ den Arm mit der Kugel nach hinten schwingen. Sie machte noch einen Schritt und ließ die Kugel aus der wieder nach vorn schwingenden Hand gleiten. Dann seufzte sie laut, als die Kugel sofort die Rinne neben der Bahn ansteuerte. Sie machte einen Knicks, als Applaus aufbrandete. Offenbar verfolgten selbst Leute, die sie gar nicht kannte, ihren Auftritt. Whitney eilte in den Waschraum, um sich etwas frisch zu machen. Sie wusch gerade ihre Hände, als eine kleine, attraktive Blondine auftauchte. Linelle Pierce arbeitete ebenfalls in der Spielzeugfabrik, aber im Büro. Daher sah Whitney sie nicht so oft wie die anderen aus der Gruppe. „Ich bin froh, dass du so locker auf das Geläster reagierst", meinte Linelle und machte sich an ihrer Frisur zu schaffen. „Sie mögen dich. Vor allem Frankie." Whitney musterte die betont ausdruckslose Miene der Blondine. „Höre ich da eine versteckte Frage heraus? Zum Beispiel die, ob ich an Mr. MuskelpaketHalloran interessiert bin?" Whitney grinste. „Keine Sorge, Linelle. Frankie kommt für mich nicht in Frage. Der ist mir ein paar Nummern zu groß." „Irgendwie glaube ich, dass Frankie das anders sieht", erwiderte ihre Kollegin betrübt. Whitney holte einen Lippenstift aus ihrer Handtasche. „Frankie liebt die Herausforderung. Wenn ich wirklich scharf auf ihn wäre, würde er mich keines Blickes würdigen. Wenn du das nächste Mal mit ihm sprichst, sieh einfach zu einem anderen Mann hinüber. Was meinst du, wie er darauf reagiert?" Sie lächelte verschmitzt. Linelle dachte kurz nach und lächelte. „Warum eigentlich nicht? Was habe ich denn zu verlieren?" Die Blondine beobachtete Whitney dabei, wie sie die Lippen nachzog, und wurde nachdenklich. Dann starrte sie auf ihre Hände. „Mary ... Hör mal, wir kennen uns nicht so gut, und du kannst es mir sagen, wenn es mich nichts angeht, aber..." Sie hob den Kopf und sah Whitney an. „Du hast es doch nicht etwa auf Lloyd abgesehen, oder?" Whitney unterdrückte ein erstauntes Auflachen. „Nein ... wirklich nicht", sagte sie und schüttelte heftig den Kopf. „So etwas ist es nicht. Lloyd und ich sind Freunde. Nur gute Freunde." Linelle entspannte sich sichtlich. „Da bin ich aber erleichtert. Ich mag dich, und ich mag Lloyd. Aber euch beide zusammen? Weißt du, was ich meine?" „Denkt sonst noch jemand so wie du?" fragte Whitney mit besorgter Miene. „Denken die anderen etwa auch, dass Lloyd und ich ... na ja, zusammen sind?" Die Blonde zuckte mit den Schultern. „Einige vielleicht. Ich meine, dauernd hängst du mit Lloyd herum, und soweit ich weiß, hast du noch kein einziges Date gehabt, seit du in der Fabrik arbeitest. Aber wenn du mit Lloyd nichts hast, wieso hast du dann noch kein einziges Date gehabt? In der Fabrik gibt es eine Menge Typen, die begeistert wären, mit dir ausgehen zu können. Und einige davon sind ganz in Ordnung. Hör mal, ich könnte da etwas arrangieren. Wir könnten zu viert weggehen." „Das ist wirklich nett von dir, Linelle, aber ich glaube nicht. Ich bin einfach noch
nicht soweit." „Noch nicht soweit?" Linelle warf Whitney einen wissenden Blick zu. „Habe ich mir doch gedacht. Du hast eine kaputte Beziehung hinter dir, habe ich recht?" „So ähnlich." „He, vergiss ihn. Männer sind das nicht wert." Sie wandte sich zur Tür und lächelte noch einmal. „Ich hoffe, du hast demnächst mehr Glück." Die Gruppe spielte noch eine Runde und löste sich dann la ngsam auf. Es war kurz nach drei, als Whitney mit Lloyd die Bowling-Bahn verließ und zu seinem Kombi ging. Sie und Lloyd fuhren zwar noch immer getrennt zur Arbeit, aber hin und wieder, am Wochenende, wenn die Gruppe aus der Fabrik gemeinsam etwas unternahm, fuhren sie mit einem Wagen. Garden Court Apartments war ein kleiner Komplex, der aus vier separaten zweigeschossigen Gebäuden bestand, die um einen Innenhof herum angeordnet waren. Es gab keine Innenflure, denn sämtliche Wohnungstüren lagen auf langen Galerien mit Blick auf den Innenhof. Lloyds Wohnung lag im oberen Geschoß des westlichen Gebäudes, und Whitney hatte es mit einiger Mühe geschafft, ein Apartment zu bekommen, das nur drei Türen von seinem entfernt lag. „Ich weiß gar nicht, was du willst", sagte sie, als sie seine Tür erreichten. „Ich habe im letzten Spiel sechs Pins geschafft. Das ist doch wohl ein Fortschritt." „Wenn du meinst", sagte er. „Aber da bist du vermutlich die einzige. Vermutlich hätte ich dir erklären sollen, dass das Ziel dieser Sportart darin besteht, die Pins auf deiner eigenen Bahn umzuwerfen." „Ich hatte gehofft, das wäre dir entgangen", meinte sie mit verlegener Stimme. Als Whitney so dastand und zusah, wie Lloyd sich auf ihre Kosten amüsierte, tauchte ein Mann mit einem großen Pappkarton auf. Sie ging beiseite, um ihn vorbeizulassen, und sah aus den Augenwinkeln, wie der Fremde vier Türen weiter vor einer Wohnung stehen blieb, gleich neben ihrer. Als der Mann den Karton abstellte und den Schlüssel in die Tür schob, runzelte sie die Stirn. Irgendwie kam er ihr bekannt, vor. Sie drehte den Kopf und sah genauer hin. Dann riss sie entsetzt die Augen auf und hielt den Atem an. Der neue Mieter trug ein graues Sweatshirt, dessen Ärmel abgeschnitten waren, und die verblichenen Jeans saßen perfekt. Obwohl er ihr den Rücken zukehrte, erkannte Whitney ihn sofort. O ja, den Anblick kannte sie. Dean drehte sich um und nickte ihr zu. „Wie geht's?" fragte er. Sein Lächeln war höflich, und in den Augen funkelte ein unterdrücktes Lachen. „Mary?" Whitney drehte sich wieder um. Lloyd musterte sie und gab sich keine Mühe, seine Belustigung zu verbergen. „Willst du mich nicht deinem Freund vorstellen?" fragte er. Dean ließ den Karton stehen und kam zu ihnen.. „Ja, Mary, mach uns bekannt." Sie würde ihn umbringen. Sie würde ihn auf äußerst schmerzhafte Weise umbringen. Und ganz langsam. „Lloyd, dies ist Dean Russell ... ein alter Freund. Dean, Lloyd Grant." „Ein neuer Freund", sagte Lloyd und gab Dean die Hand. Whitney machte einen Schritt von den beiden Männern weg und fühlte Zorn in sich aufsteigen. Und viele andere Dinge, über die sie im Moment nicht nachdenken wollte. Sie wollte sich auf den Zorn konzentrieren. Wenigstens bis sie herausgefunden hatte, was zum Teufel hier vor sich ging. „Die Wohnung ist erst gestern frei geworden", berichtete Dean gerade. „Ich habe
richtig Glück gehabt. Offenbar fand der Verwalter, dass ich vertrauenswürdig aussehe." Genug war genug. Whitney packte Deans Arm und zerrte ihn zu seiner eigenen Wohnungstür. „Dean, Lieber, du brauchst bestimmt Hilfe beim Auspacken. Du hättest mir sagen solle n, dass du heute einziehst. Du weißt ja, wie hilfreich ich sein kann." Sie warf einen Blick über die Schulter. „Bis heute Abend, Lloyd." „Ja ... bis heute Abend , Lloyd", rief Dean. Als sie beide in seiner Wohnung waren, warf Whitney die Tür hinter sich zu. „Was zum Teufel fällt dir ein?" platzte sie heraus. „Warum bist du hier? Was ist mit deiner Kanzlei? Wenn du mir diese Sache versaust, Dean, dann werde ich dir nie verzeihen." Dean legte den Kopf in den Nacken und lachte herzhaft. Himmel, war es herrlich, sie wiederzusehen. „Jetzt mal der Reihe nach", verlangte er. „Deine erste Frage war, glaube ich, was zum Teufel mir einfällt. Das ist einfach. Mir fällt ein, hier einzuziehen. Zweitens, warum ich hier bin? Weil ich vor achtzehn Jahren die Verantwortung für dich übernommen habe. Egal, was ich seitdem gesagt habe. Die Verantwortung kann ich erst ablegen, wenn ich ganz sicher bin, dass es dir gut geht. Was ich in der Bar gesehen habe, hat mich nicht davon überzeugt. Die dritte Frage war, was aus meiner Praxis wird. Die meisten meiner Fälle habe ich Sam übergeben. Den Rest manage ich von hier aus. Wenn nötig, fliege ich kurz nach San Antonio." Was er ihr nicht sagte, war, dass die letzten beiden Wochen die reinste Hölle gewesen waren. Erst die Frage, ob er wirklich herkommen sollte, dann das Problem, die Fälle, die er nicht an Sam übergeben konnte, quasi als Pendler zu erledigen. „Und was die letzte Frage betrifft", fuhr er fort. „Aber das war eigentlich gar keine Frage, nicht wahr? Es war ein Vorwurf, der mich zutiefst gekränkt hätte, wenn ich in der Stimmung dazu gewesen wäre. Aber ich bin nicht in der Stimmung." Er sah ihr in die Augen. „Ich habe nicht vor, dir diese Sache zu versauen, wie du es ausdrückst. Ich finde, du solltest deinen Vater kennenlernen. Wann habe ich jemals etwas anderes als dein Bestes gewollt, Whitney?" Whitney drehte sich von ihm weg. Verflixt, sie wollte ihn nicht lieben. Warum konnte sie nicht damit aufhören? Warum konnte sie nicht wütend auf ihn bleiben? Es war nicht richtig, dass er einfach hereinspazieren, ein paar Worte sagen konnte, und schon schmolz sie dahin. „Mir scheint nur, du übertreibst es ein wenig", sagte sie, und die Verunsicherung war ihr anzuhören. „Ich wusste , dass du dich für mich verantwortlich fühlst, aber das hier geht zu weit, Dean. Warum solltest du dein eigenes Leben vernachlässigen, nur um meins im Blick zu behalten?" Langsam schüttelte sie den Kopf. „Das gefällt mir nicht. So etwas habe ich nie von dir verlangt." „Das weiß ich." Sie hörte, wie er sich bewegte, dann kam seine Stimme von direkt hinter ihr. „Du hast nie etwas von mir verlangt. Das hier ist für mich, Whitney. Allein für mich. Okay?" Sie fuhr zu ihm herum, sah ihm in die Augen. In ihnen sah sie immer nur die Wahrheit. „Okay", erwiderte sie nach einem Moment. Er nahm ihre Hände und drückte sie leicht. „Schon besser?" Zwischen ihnen herrschte plötzlich eine Verlegenheit, eine neue Art, sich wahrzunehmen, und sie musste erst lernen, damit umzugehen. Die Situation erforderte Nachdenken. Eine Menge Nachdenken. Doch erst später. Vielleicht dann, wenn seine Nähe sie nicht mehr verwirrte. Vielleicht würde sie dann einen klaren Gedanken fassen können. „Der Gutierrez-Fall", erinnerte sie sich unvermittelt. „Der war dir wichtig. Wie
kannst du ihn Sam überlassen? Der Junge hat auf dich gezählt." Er lächelte. „Alvo geht es gut. Ich hatte die Sache fast abgeschlossen, als du abgehauen bist." „Wirklich?" Sie freute sich. Für Dean und den Jungen. Zwanzig Minuten später saßen sie auf Pappkartons, und Dean erzählte ihr, was Alvo Gutierrez wirklich passiert war. Während Whitney ihm zuhörte, wurden ihre blauen Augen immer trauriger. Ihr natürliches Mitgefühl galt zwei Kindern, die sie nie persönlich kennengelernt hatte. „Was wird jetzt aus ihnen?" fragte sie. „Wir können von Glück sagen, wenn Jackson sechs Monate bekommt." Sie schnaubte verächtlich. „Das stinkt, Dean. Das stinkt wirklich." „Ich weiß", sagte er, „aber wenigstens gibt ihnen das etwas Luft. Die drei, Alvo, Tess und ihre Mutter, machen jetzt eine Therapie, und..." „Wie hast du das denn geschafft? Ich dachte, die Mutter kommt nicht von ihrem Mann los? Wie hast du sie dazu gebracht, endlich einmal an ihre Kinder zu denken?" „Du würdest dich wundern, was so ein kleiner, inoffizieller Besuch aus dem Büro des Staatsanwalts bewirken kann. Ich habe einen Freund gebeten, Mrs. Jackson aufzusuchen und anzudeuten, dass sie wegen Beihilfe angeklagt werden kann... es sei denn, sie lässt es zu, dass man ihr und den Kindern hilft. Wenn Jackson freikommt, werden Alvo und Tess, vielleicht auch ihre Mutter, stärker sein. Jetzt wissen sie, dass sie nicht allein sind. Wenn es wieder Ärger gibt, können sie sich an die Behörden wenden." Er starrte aus dem Fenster. „Alvo muss eine Menge aufgestauter Wut loswerden, Whit. Und der Zorn, der ihm emotional am meisten schadet, ist nicht der auf seinen Stiefvater. Sondern das, was er insgeheim für seine Mutter empfindet. Es ist ihm noch nicht bewusst, aber im Grunde gibt er ihr die Schuld. Daran, dass sie diesen nutzlosen Schuft überhaupt geheiratet hat. Und daran, dass sie ihn nicht beschützt hat. Alvo hält sich für einen Erwachsenen, der alle menschlichen Schwächen kennt, aber in ihm drin steckt noch das Kind, das seine Eltern für allmächtig und allwissend hält. Und stark und klug genug, um ihn vor allem Schlechten zu bewahren." Er atmete mit einem Seufzer aus, und seine Lippen verzogen sich zu einem selbstkritischen Lächeln. „Und dann ist da noch der kleine Teufel in ihm, der ihm einflüstert, dass er nur das bekommen hat, was er verdient." Als Dean die Worte leise und ohne Emotion aussprach, verspürte Whitney den alten, vertrauten Schmerz in sich aufsteigen. Alvos Geschichte ähnelte zu sehr dem, was Dean vor all diesen Jahren passiert war. Und wie immer wollte sie ihn in die Arme nehmen, ihn trösten, bis die Vergangenheit ihn freigab. Sie räusperte sich. „Du bist ein guter Mensch, Dean Russell", sagte sie heiser. „Ein guter, freundlicher, liebevoller Mensch. Nein, schüttele nicht den Kopf, und sag mir, dass du nur deinen Job gemacht hast. Du hast diese Kinder gerettet." Schmunzelnd stand er auf und holte einen Karton von der Wohnungstür. „Was machen wir denn heute Abend?" fragte er und stellte ihn auf den Tisch. „Wir pokern bei mir zu Hause." Sie ging zur Tür und öffnete sie. „Acht Uhr. Sei pünktlich." „He, ich dachte, du wolltest mir beim Auspacken helfen?" Sie sah über die Schulter und zog eine Augenbraue hoch. „Sehe ich aus wie ein Möbelpacker?" fragte sie und verließ die Wohnung. Bei sich angekommen, ging Whitney kurz unter die Dusche. Ihr blieb kaum die Zeit, ihre gelben Shorts und das passende Shirt anzuziehen, als sie ein Klopfen hörte.
„Ich komme! Sekunde!" rief sie und streifte auf dem Weg zur Tür weiße Sandalen über. Sie und Lloyd wollten ein kleines mexikanisches Restaurant ausprobieren, von dem alle Kollegen schwärmten. Sie riss die Tür auf. „Hör mal, Lloyd, ich war ..." Sie verstummte schlagartig, als sie hinter ihrem Vater Dean entdeckte. „Sieh dir an, wer mir über den Weg gelaufen ist", sagte Lloyd und grinste ebenso breit wie Dean. „Er sah so hungrig aus, dass ich ihn eingeladen habe, uns zu begleiten. Da ihr zwei alte Freunde seid, hast du sicher nichts dagegen." „Hallo, Mary", grüßte Dean. „Wo wollen wir denn essen?" Whitney hatte sich gefragt, wie Dean und Lloyd sich wohl verstehen würden. Jetzt wusste sie es. Die beiden sahen aus wie zwei Jungs, die einige Streiche planten. Dass Lloyd Dean so einfach akzeptierte, hieß nicht, dass Whitneys andere Freunde das auch tun würden. Obwohl es freundliche Menschen waren, blieben sie Neulingen gegenüber zunächst zurückhaltend. Whitney hatte fünf ihrer Kollegen zu der Poker-Runde in ihrer Wohnung eingeladen. Mit Dean, Lloyd und ihr selbst waren sie also zu acht und saßen um ihren kleinen Resopal-Esstisch, auf den vier Metallstühlen, einer Trittleiter, einem Fußschemel, einem Hocker und dem Sessel aus dem Wohnzimmer. Es war eng, und die Drinks, Dips und Chips, die sich auf dem Tisch drängten, ließen nicht viel Platz zum Pokern, aber das schien niemanden zu stören« Dean war zunächst eher ruhig, damit ihre Freunde sich an ihn gewöhnen konnten, dann wurde er langsam aktiver. Die Tatsache, dass er seine Gewinne und Verluste ebenso gutgelaunt hinnahm wie die anderen, war ein großes Plus. Whitney hatte nicht daran gezweifelt, dass ihre Kollegen Dean mögen würden. Aber sie hatte erwartet, dass sie, wie bei ihr, erst auftauen mussten. Doch nach der dritten gewonnenen Runde stellte sie fest, dass Dean bereits zu der kleinen Gruppe gehörte. Sie hatte sich vorgenommen, ihre Gewinne ebenso locker zu nehmen wie Dean, aber nachdem sie den Topf dreimal gewonnen hatte, strich sie strahlend den großen Haufen Pennies ein. „Bin ich nicht gut?" verkündete sie. Dean nahm einen Tortilla-Chip, lehnte sich zurück und betrachtete ihn ausgiebig. Dann sah er in die Runde. „Eins ... zwei ... drei", zählte er leise, und eine Sekunde später versuchte Whitney, einem Hagel von Tortilla -Chips auszuweichen. Sie hätte wissen müssen, dass Dean zu ihren Freunden passte. Das lag nicht nur daran, dass er selbst eine harte Jugend hinter sich hatte und ihre Sprache sprach. Dean verstand es einfach, auf Menschen zuzugehen. Nachdem die Gruppe der Kollegen gegangen war, waren Dean, Whitney und Lloyd in Deans Wohnung umgezogen, damit er Lloyd seine Schallplattensammlung zeigen konnte. Doch die Musik war schnell vergessen, als Lloyd Dean über seine Freundin Mary ausfragte. „... also dachte ich, vielleicht benimmt sie sich eine Weile, aber weit gefehlt", erzählte Dean Lloyd. „Keine Woche später hat sie die Küche in die Luft gejagt." „Du weißt ganz genau, dass das nicht meine Schuld war", protestierte Whitney. „Ich habe lediglich versucht, eine streunende Katze zu füttern", fuhr Whitney entrüstet fort. „Außerdem war ich erst sieben. Woher sollte ich wissen, wie eine Küche funktioniert?" Dean beugte sich zu Lloyd hinüber. „Sie dachte, die Katze würde eine warme Mahlzeit mögen, also hat sie ein Glas Spaghetti-Sauce in die Backröhre gestellt und das Ding voll aufgedreht. Dann hat sie es natürlich vergessen." Whitney musste lächeln. „Es war ein Kater, und er sah irgendwie amerikanisch
aus, also dachte ich mir, vielleicht will er lieber einen Hotdog." „Die Explosion war weltweit zu hören", berichtete Dean. „Ich war noch nie bei ihr zu Hause gewesen, aber da konnte ich nicht mehr widerstehen. Ich habe mich nach hinten geschlichen und durchs Küchenfenster gesehen. Die Ofentür hing an einem Scharnier, und überall war Spaghetti-Sauce. An der Decke und an den Wänden." Whitney funkelte die beiden Männer an, die sich vor Lachen krümmten. „Ich hoffe, ihr erstickt", zischte sie. Grinsend stand Dean auf und ging zur Küchentür. „Ich gieße uns Milch ein, oder möchte jemand einen Eisbeutel - nach all dem Tequila?" Kaum war Dean aus dem Zimmer, warf Whitney Lloyd einen strengen Blick zu. „Warum ermutigst du ihn, diese dummen Geschichten zu erzählen?" fragte sie. Er lächelte. „Ich genieße seine kleinen Klein-Mary-Geschichten. Und er offenbar auch." „Sicher tut er das", erwiderte sie. „Sie gehen alle auf meine Kosten." Sie zog die Knie auf die Couch. „Gleiches Recht für alle. Erzähl mir eine Kleiner-LloydGeschichte. Hast du Geschwister? Eine große Familie?" Er schüttelte den Kopf. „Es gab einen Bruder, aber der sta rb Jahre vor meiner Geburt." „Das tut mir leid." Lloyds Augen wurden traurig. „Ich kannte ihn nicht. Bestimmt war es für meine Eltern hart, aber für mich hat James eigentlich nie richtig existiert." Langsam, fast widerwillig, erzählte er ihr von seiner Kindheit in einer Kleinstadt in Illinois. Da beide Eltern arbeiteten, war er oft allein gewesen, aber das hatte ihn nicht gestört. Er hatte immer etwas zum Träumen gehabt. An Sommertagen, in den Schulferien, ging er immer an die Bahnstrecke hinter dem Haus und folgte ihr meilenweit. Irgendwo, so glaubte er, wartete etwas auf ihn. Abenteuer, Leben, irgend etwas. Er brauchte nur weit genug zu laufen. „Jedes Kind glaubt, dass aus ihm einmal etwas Großes, Wichtiges werden wird", sagte er mit einem leisen, schiefen Lächeln. „Genau darum geht es wahrscheinlich bei der Midlife-crisis. Eines Tages wacht man auf, das halbe Leben ist vorüber, und man entdeckt, dass man nicht mehr ist als ein ganz normaler Mensch, dass man die Kindheitsträume nie verwirklichen wird." Sie schwieg einen Moment, vertieft in seine Worte. „Wovon hast du geträumt?" fragte sie schließlich. Er lächelte. „Ich wollte ein weltberühmter Urzeitforscher werden. Selbst auf dem College habe ich noch davon geträumt. Aber irgendwann ändern sich die Träume. Man wacht auf, und die Träume sind zu einem Menschen geworden. Plötzlich gibt es jemanden, der aus dir mehr macht, als du vorher warst. Jemand, der das Aufwachen am Morgen zu einem besonderen Ereignis macht. Dann sind die Träume der Kindheit nur noch Hirngespinste." „Ist es dir so ergangen?" fragte sie und versuchte, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. „Hast du den Stern gefunden, der nur für dich schien?" Sie sah seinen Schmerz, dann schloss er die Augen und verbarg sich hinter einer Wand. Ein leises Geräusch drang durch Whitneys Enttäuschung, und als sie aufsah, stand Dean in der Tür. Sein Blick war mitfühlend und schloss sie beide ein. Eine Viertelstunde später war Lloyd fort, und Whitney legte den Kopf zurück und atmete tief durch. „Es tut jedes Mal weh", sagte sie leise. „Jedes Mal wenn er sich hinter seine Wand zurückzieht. Und ich weiß nicht, ob ich seinen oder meinen Schmerz fühle." Müde schüttelte sie den Kopf. „Als ich herkam, hatte ich Angst, ihm zu sagen, dass ich seine Tochter bin. Ich wusste nicht, ob er sich noch an mich erinnern
würde. Aber ich hatte die Briefe vergessen." Sie sah Dean an. „Hat Mutter dir von den Briefen erzählt?" „Nicht direkt. Sie hat sie verbrannt, nicht?" Sie nickte. „Es war kein kleiner Haufen Asche, Dean. Er muss ihr in all den Jahren oft geschrieben haben. Und wenn die anderen so waren wie der in ihrem Schreibtisch, dann hat er nichts vergessen. Weder sie noch mich. In dem Brief hat er mich noch geliebt." „Warum sagst du ihm dann nicht, wer du bist?" „Du hast vorhin selbst gesehen, wie er sich zurückgezogen hat. Jedes Mal wenn es um seine Vergangenheit geht, tut er das. Was meinst du, wie er reagiert, wenn ihm aufgeht, dass er seiner Vergangenheit ins Gesicht sieht? Vielleicht ist es ein Fehler, aber ich hoffe, dass er nicht davonläuft, wenn er mich erst einmal als Freundin, als echte Freundin, erlebt." Er setzte sich zu ihr auf die Couch und legte den Arm um sie. „Tut mir leid, Whit. Ich weiß, es ist hart für dich. Aber als Beobachter finde ich, du machst Fortschritte." Whitney schloss die Augen, unterdrückte den Wunsch, sich an ihn zu schmiegen. Noch vor einem Jahr hätte sie Deans Berührung als etwas ganz Natürliches akzeptiert. Aber so war es nicht mehr, und sie verspürte ein tiefes Bedauern. Die Veränderung war keine Folge ihres Entschlusses, sich ein neues Leben zu schaffen. Sie war an dem Tag erfolgt, an dem sie ihn berührt hatte und ihn hatte merken lassen, welche Feuer in ihr brannten. Sie hatte ein neues Element in ihre Beziehung eingebracht. Die Erotik. An dem Tag in Deans Schlafzimmer hatte Whitney nicht über die Konsequenzen nachgedacht. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie auf der Stelle miteinander geschlafen und ihrer Beziehung eine neue Dimension hinzugefügt. Aber da Dean eigene Bedürfnisse hatte, die mit Whitneys nichts zu tun hatten, war nichts hinzugefügt, sondern etwas weggenommen worden. Und erst jetzt wurde Whitney voll bewusst, was sie damals verloren hatte. Sie öffnete die Augen. „Ich werde dich immer brauchen", sagte sie sanft. „Aber Freundschaften sind dynamisch. Sie wachsen und verändern sich. Ich will, dass du ein Teil meines Lebens bist. Für immer. Aber ich werde mich nicht mehr an dich klammern. Ich werde keine Orchidee an einem Baum sein, ohne eigene Wurzeln. Lass uns Freunde sein. Die besten Freunde, ja? Egal, was geschieht."
9. KAPITEL Als Whitney einen Zweig vor sich sah, zögerte sie keine Sekunde. Sie sprang darüber hinweg und joggte weiter. Es war nach sechs, und die Sonne stand bereits tief am Horizont. Es war ein heißer Tag im Mai, aber eine leichte Brise machte die Temperatur erträglicher. Whitney sah auf die Uhr und wollte sich gerade fragen, wo Dean wohl an diesem Abend war. Aber das hatte sie sich schon zweimal gefragt, seit sie losgelaufen war, und sie hatte die Regel aufgestellt, dass sie nur zweimal pro Stunde an ihn dachte. Nicht an ihn zu denken, war nur eine der neuen Regeln, die sie ihrem Leben gegeben hatte. Auch die meisten anderen betrafen Dean. An den Abenden, an denen sie nicht ins Rick's ging oder mit Lloyd zusammen war, blieb sie zu Hause. Anstatt Dean anzurufen oder an seine Wohnungstür zu klopfen, sah sie fern oder las oder räumte auf. Irgendwann, so redete sie sich ein, würde es nicht so viel Selbstbeherrschung kosten, sich nicht mehr auf ihn zu verlassen. Irgendwann würde sie nicht mehr das Bedürfnis haben, jede Minute des Tages mit ihm zu
verbringen. Irgendwann würde sie sich auch ohne ihn wieder ganz wohl fühlen. Aber dieses „Irgendwann" lag noch in weiter Feme, zumal Dean immer wieder vorbeikam, um Wischtücher zu leihen, über einen seiner Fälle zu reden oder um zu fragen, wie viele kleine Lastwagen sie in der Fabrik mit Reifen bestückt hatte. Hin und wieder blieb er auch zum Fernsehen, und dann verbrachten sie den gesamten Abend zusammen. Gelegentlich dachte Whitney sich einen Vorwand aus, um allein zu sein. Kopfschmerzen zum Beispiel. Aber meistens schaffte sie es nicht. Schon in einem Raum mit ihm zu sein, war schöner, als sie es sich eingestehen wollte. Und manchmal träumte sie auch von ihm. Hör endlich auf, sagte sie sich, und durchlief eine S-Kurve ihrer Jogging-Route. Sie war schon mehrmals in dem kleinen Park gelaufen, und ihre Zeit wurde von Mal zu Mal besser. Sie versuchte gerade, gleichmäßig zu arbeiten, als ein anderer Jogger sie einholte. Sie wollte ihn vorbeilassen, doch er überholte nicht, sondern blieb hinter ihr. Sie lief schneller, aber er hielt ihr Tempo mit. Sekunden später blieb sie abrupt stehen und beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt, um nach Luft zu schnappen. Nach einer Weile hob sie den Kopf, die Hände noch immer auf den Knien. Der andere Läufer war Dean. Er trug seine schäbigen Cut-offs, Laufschuhe und sonst nichts. Whitney ließ den Kopf wieder sinken. Ihn anzusehen war keine gute Idee gewesen. Auf diese Weise würde sie bestimmt nicht wieder zu Atem kommen. „Verfolgst du mich etwa?" fragte sie schließlich. „Tue ich", gestand er auf der Stelle laufend. „Ebenso wie der magere Typ und der mit dem topmodischen Haarschnitt. Die beiden warten darauf, dass du sie bemerkst. Ich dagegen bin eher aufdringlich." Sie lachte atemlos. „Du bist ein Idiot. Ich war dabei, meine beste Zeit zu laufen." Sie starrte ihn an. Er lief noch immer auf der Stelle. „Angeber", murmelte sie. „Gehst du heute Abend zu Rick's?" fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Lloyd ist erkältet, also bleibe ich zu Hause. Im Fernsehen gibt es einen Horrorfilm, den ich im Kino verpasst habe. Du weißt, wie gern ich es mir mit Kakao und Popcorn vor dem Fernseher gemütlich mache, während unschuldige Menschen abgeschlachtet werden." Sie schüttelte seine Hand ab und rannte los. „Bis dann." Diesmal holte Dean sie nicht ein. Whitney wusste, dass er es mühelos geschafft hätte. Aber er tat es nicht. Eigentlich hätte sie sich darüber freuen sollen, doch es gelang ihr nicht. Zurück in ihrer Wohnung duschte Whitney und zog sich ein seidenes Hauskleid an. Dann aß sie den Salat, den sie aus einem Restaurant mitgenommen hatte. Es war kurz vor acht, als sie begann, sich ihr Nest herzurichten. Kissen und eine weiche Decke auf dem Boden vor dem Fernseher. Kakao rechts, Popcorn links. Der Film war gerade von der Ansagerin angekündigt worden, als es an der Tür klopfte. Hör auf, sagte sie sich und ärgerte sich maßlos über ihr Herzklopfen. Ihr Herz klopfte, noch bevor sie die Tür geöffnet hatte. Sie wusste auch so, dass es Dean war. Lächelnd stand er vor ihr. „Urplötzlich war ich ganz verrückt nach Kakao, Popcorn und Horrorfilmen. Ich kann's mir nicht erklären. Es überkam mich einfach." Er schob sich an ihr vorbei. „Außerdem weißt du, dass du dir bei solchen Filmen immer die Hand vor die Augen hältst. Du brauchst jemanden, der dir sagt, wann die gruseligen Szenen vorbei sind." Whitney war zu müde und zu faul, um sich mit ihm zu streiten. Außerdem hatte er recht. Sie brauchte ihn. Er ging zur Couch, zog sich die Schuhe aus und arrangierte die Kissen um.
„Dieser Film", begann er und klopfte auf das Kissen neben seinem, „ist das der, in dem der Held jedes Mal wenn er eine Leiche findet, zum Mond hochsieht und etwas vom ,Bösen, das zerstört werden muss' sagt?" Whitney zögerte nur kurz, bevor sie sich zu ihm setzte. „Woher soll ich das wissen? Ich habe dir doch gesagt, dass ich ihn nicht kenne. Wehe, du verrätst mir, wie er ausgeht." Er schnaubte. „Wie denn? Horrorfilme sind doch alle gleich. Dieser echt hässliche, echt einfallslose Typ fällt über echt süße, echt dämliche Teenager her, und alle kommen um. Bis auf das Mädchen mit dem besten Körper und dem Knaben mit dem tollsten Haar." Sie bewarf ihn mit einer Handvoll Popcorn. „Du bist das Böse und musst zerstört werden." „Wo ist mein Kakao?" fragte er und sammelte das Popcorn aus seinem Haar. „Behandelst du deine Gäste immer so?" Er sah ihr nach, als sie in die Küche ging. „Wieso hast du mir noch nichts von eurem Betriebsausflug erzählt? Lloyd hat gesagt, dass alle sich riesig darauf freuen." Lloyd sagt viel zuviel, dachte sie. Dean und ihr Vater verstanden sich großartig, und wenn sie den einen sah, sah sie meistens auch den anderen. „Ist keine große Sache", rief sie aus der Küche. „Die großen Tiere spendieren uns Hähnchen und Kartoffelsalat, und dann ziehen wir an den See und pflegen das Betriebsklima, indem wir uns bei Baseball und Volleyball bekriegen und mit Hufeisen werfen... solche Sachen." „Baseball?" wiederholte er, als sie ihm einen Becher Kakao reichte. „Da bist du ganz gut. Vielleicht kannst du deine miserable Leistung beim Bowling wieder vergessen machen." „Da muss jemand etwas ausgeplaudert haben", murmelte sie grimmig. „Ist es vielleicht meine Schuld, dass du nie mit mir zum Bowling warst?" Er lachte. „Keine Sorge. Mit dem Schläger in der Hand zeigst du ihnen schon, was du drauf hast." Whitney nahm einen Schluck Kakao und betrachtete Dean aus den Augenwinkeln. Es klang fast, als wollte er von ihr zum Betriebsausflug eingeladen werden. Nun ja, der Tag würde mit ihm sicher noch interessanter werden. Und eigentlich war es ja auch nur ein Picknick. Was machte es schon aus, wenn ... Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, sah aber nicht hoch, sondern starrte auf den Fernseher. „Das ist die Musik. Gleich kommt sicher der erste Mord. Wenn ich da wäre, würde ich wegrennen, sobald die Musik ertönt." Dean akzeptierte den Themenwechsel mit einem leisen Lächeln, lehnte den Rücken gegen die Couch und sah sich mit ihr den Film an. Er behielt recht: Der Film war die billige Imitation eines Dutzends anderer Horrorfilme. Aber das machte ihn nicht weniger blutig. Eine halbe Stunde später sprach Whitney nur noch durch die Hände, die sie sich vors Gesicht hielt. „Sag mir Bescheid, wenn er sie umgebracht hat." Dean lachte. „Er hat noch nicht mal angefangen. Sie geht noch immer die Treppe hoch. Jetzt ist sie oben. Und jetzt... oje, auf geht's. Er schlägt zu. Noch mal. Und noch mal. Und ..." Whitney ballte eine Faust und schlug ihm mit geschlossenen Augen auf den Rücken. „Hör auf. Du weißt, ich kann es nicht ab, wenn ... Was passiert jetzt?" „Sie schleppt sich ans Telefon und zeigt dabei einen wohlgeformten Oberschenkel. Ein wenig Erotik inmitten des Entsetzens. So, jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen. Ich glaube, sie hat ihren letzten Atemzug getan." Eine Stunde später war der Film endlich vorüber. Whitney saß am Sofa, die Decke
bis zur Nase hochgezogen, um sich notfalls dahinter verstecken zu können. Schließlich warf sie einen Blick auf die Uhr. „Ich müsste ins Bett, damit ich morgen früh aufstehen und zur Arbeit gehen kann. Jetzt bleibe ich die ganze Nacht wach und lausche auf jedes Geräusch im Haus. Warum hast du mich bloß dazu gebracht, mir diesen blöden Film anzusehen?" „Ich? Du wolltest doch beweisen, dass du ihn aushältst." Er stand auf. „Ich nehme an, das ist deine diskrete Art, mich zum Gehen aufzufordern. Soll ich noch mal unters Bett sehen?" Sie warf ihm einen entrüsteten Blick zu. „Ich bin durchaus in der Lage, selbst unter meinem Bett nachzusehen ..." Er ging zur Schlafzimmertür. „Ich glaube, wir sollten zusammen nachsehen." „Dean ... Dean." Sie folgte ihm. „Das ist nicht nötig. Ich habe wirklich nur Spaß gemacht. Dean, hör mir zu. Ich habe keine Angst." Er öffnete die Schranktür, sah dabei über die Schulter und zog eine Augenbraue hoch. „Also gut", gestand sie achselzuckend, „ich habe Angst. Wenn du schon mal dabei bist, sieh auch gleich hinter dem Mantel nach. Danach kannst du im Badezimmer suchen." Lachend ging Dean ins Bad und sah sich um. Das kleine Waschbecken war von Kosmetika umgeben. Er griff nach einem kleinen Parfum -Flakon, starrte ihn an und stellte ihn wieder hin. An der Tür hing ein flauschiger weißer Bademantel. In Weiß sah Whitney immer aus wie ein verführerischer Engel... „He", rief sie, „du wirst doch nicht gerade erwürgt oder so was?" Seine Hand zuckte zurück. Als er wieder ins Schlafzimmer kam, saß sie auf dem Bett. „Nichts", sagte er mit gezwungenem Lächeln. „Alles in Ordnung", fügte er hinzu. „Ich verschwinde jetzt." An der Wohnungstür lächelte er. „Gute Nacht, schlaf schön." Er öffnete die Tür. „Ich muss morgen nach Hause fliegen, müsste aber wieder hiersein, bevor du von der Arbeit kommst. Wenn es Lloyd besser geht, lade ich uns alle zum Essen ein. Wenn du selbst kochst, nimmst du nur noch mehr ab." „Sehr witzig. Du bist auch nicht gerade ein Zauberer in der Küche." , Er stieß sich vom Türrahmen ab. „Ich muss jetzt wirklich gehen", sagte er. „Du gehst zu Bett und schläfst." Als die Tür sich hinter ihm schloss, starrte Dean lange darauf. Es war verdammt schwer zu gehen. Und es wurde mit jedem Mal schwerer.
10. KAPITEL Entgegen Whitneys Erwartung regnete es am Tag des Betriebsausflugs nicht. Im Gegenteil, es hätte kaum schöner sein können, und da es ein Wochentag war, hatten die Beschä ftigten der Tickner Toy Company den kleinen Park praktisch für sich allein. Das Baseball-Spiel hatte sofort begonnen, nachdem alle eingetroffen waren, und Whitney spielte in einem roten Shirt und roten Tennisschuhen auf der zweiten Linie. „Komm schon, Frankie!" rief sie. „Du bist toll. Mach weiter so." Nach der ersten Runde führte Whitneys Team mit sechs Runs, und da sie es noch immer nicht gelernt hatte, sich still über ihre Triumphe zu freuen, war sie etwas heiser vom Schreien. Als die beiden Teams gebildet wurden, waren sie und Lloyd auf verschiedenen Seiten gelandet. Whitney liebte ihren Vater, und zwar den wahren Lloyd, nicht mehr nur ihre Erinnerung an ihn, aber Liebe und Tochterpflichten hatten nichts mit
Baseball zu tun. Whitney sah Lloyd neben dem Backstop stehen und winkte ihm zu. „Jetzt machen wir dich fertig, Lloyd!" rief sie. Lloyd grinste nur. Er tut nur so zuversichtlich, dachte sie. Aber es dauerte nicht lange, bis ihr aufging, wie sehr sie sich geirrt hatte. Nachdem Frankie eine hübsche Rothaarige vom Platz gefegt hatte, bückte Whitney sich, um ihre Schuhe fest zu verschnüren. Als sie sich wieder aufrichtete, war der nächste Gegner schon zur Stelle. Sie starrte hinüber. Der neue Mann schwang den Schläger, und ihm war anzusehen, dass er etwas von Baseball verstand. Whitney sah zu Lloyd. Sein Grinsen wurde breiter. Er hatte einen echten Hammer aufs Feld geschickt. Der Mann mit dem Schläger war Dean. „Das gilt nicht!" rief sie. „Nimm den Kerl vom Platz. Er arbeitet nicht in der Fabrik und ist auch nicht mit dir verwandt, Lloyd. Foul!" „Die Regeln besagen nichts über Verwandte", rief Lloyd zurück. „Die Regeln sagen gar nichts. Wir haben nämlich keine Regeln. Dean ist mein Gast und darf spielen." „Er war nicht hier, als die Mannschaften aufgestellt wurden!" protestierte sie. „Du schummelst, Lloyd." „Ralph hat sich den Knöchel verstaucht", rief jemand. „Dean ist Ersatzspieler. Sollen wir vielleicht mit einem Mann weniger spielen?" Dean warf ihr einen Blick zu und zog eine Braue hoch. „Was ist denn, Mary? Angst?" Ihre Antwort bestand aus einer wenig freundlichen Geste, bei der die Zuschauer in begeistertes Lachen ausbrachen. Sie beobachtete, wie Dean einen Schläger wählte und sich links von der Home plate postierte. Er war ein guter Sportler. Ein sehr guter. „Nimm keinen schnellen Ball, Frankie", rief sie dem Werfer zu. „Er ist im Kopf zwar etwas langsam, aber einen schnellen Ball drischt er dir sonstwohin." Die Feldspieler nahmen ihre Warnung ernst und stellten sich entsprechend auf. Whitney beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und sah sich noch einmal um. Frank zwinkerte ihr zu, holte aus und warf seinen berühmten Drop-ball. Offenbar hatte Dean Frankie sorgfältig beobachtet, denn er schien zu wissen, womit er rechnen musste. Anstatt mit dem Schläger auszuholen, drehte er sich in letzter Sekunde ganz lässig und hielt den Schläger kurz in die Bahn des Balls, der daraufhin flach über dem Boden ins rechte Feld sauste. „Du Idiot!" rief Whitney. „Er hat ihn nur abprallen lassen!" Linelle tauchte nach dem Ball, verfehlte ihn nur knapp, und die Outfielder rasten los. Inzwischen war Dean schon an der ersten Linie vorbei. Whitney stellte sich wieder auf ihren Posten, sprang auf und ab und schrie, dass jemand ihr endlich den verdammten Ball zuwerfen sollte. Als ein hochgewachsener Mitspieler ihn schließlich aufsammelte, hatte Whitney Dean längst aus den Augen verloren. Sie hob den Handschuh, bereit, den Ball zu fangen. Er war noch in der Luft und kam direkt auf sie zu, als sie die Zuschauer jubeln hörte. Dean erreichte die zweite Linie einen Sekundenbruchteil vor dem Ball. Er rutschte hinein, kollidierte mit Whitney und riss sie von den Füßen. Mit den Armen wedelnd fiel sie um und landete in voller Länge auf Dean. Lloyds Team hatte endlich einen Mann auf der Linie, und die Fans waren außer sich vor Freude. Als Whitney Deans Hand auf ihrem Po spürte, hob sie den Kopf und sah zu ihm hinunter.
„Ich liebe dieses Spiel", sagte er, und seine Augen funkelten, als er den Griff um ihren Po festigte. Das Lachen kam überraschend. Sie musste so heftig lachen, dass sie nach Luft schnappte und die Stirn an seine legte. „Was du da tust, ist ein klarer Regelverstoß", prustete sie und stemmte sich von ihm ab. Sie stand auf und reichte ihm die Hand. Eine sportliche Geste konnte nicht schaden. Schließlich konnte sie es ihm immer noch heimzahlen. Eine Stunde später war das Spiel vorbei. Lloyds Team hatte mit zwei Runs gewonnen. Whitney beobachtete, wie Dean sich unter ihre Freunde und Kollegen mischte, mit ihnen lachte und scherzte. Sie runzelte die Stirn. Sie wusste , dass Dean aus reinem Verantwortungsgefühl hier war, aber das erklärte nicht, warum er ihr auf Schritt und Tritt folgte. Manchmal entdeckte sie an ihm etwas, das sie beunruhigte. Einen Blick, einen Tonfall. Irgendein innerer Konflikt machte ihn rastlos. „Was macht dir Sorgen?" Sie sah hoch. Lloyd stand neben ihr. „Dean ... wie üblich", gab sie seufzend Auskunft. Lloyd warf einen Blick dorthin, wo Dean mit einigen anderen Hufeisen warf. „Mir scheint, er amüsiert sich. Wo ist das Problem?" „Er müsste längst wieder in San Antonio sein. In seiner Kanzlei. Im Gerichtssaal. Du hast ihn noch nie bei der Arbeit erlebt, Lloyd. Er ist eine Art Wunderknabe, der beste Anwalt, den das Berufungsgericht seit Jahren gesehen hat. Jedenfalls wird das behauptet." Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Aber er macht sich solche Sorgen um mein Leben, dass er seins vernachlässigt. Ich muss etwas unternehmen. Ich darf nicht zulassen, dass er meinetwegen Opfer bringt." „Er ist erwachsen", erwiderte ihr Vater achselzuckend. „Du kannst ihm ebensowenig vorschreiben, wie er zu leben hat, wie er dir." „Du hast recht. Aber ich kann ihm zeigen, dass ich mein eigenes Leben führe. Ich kann ihm zeigen, dass ich keinen großen Bruder mehr brauche." Lloyd schob kopfschüttelnd die Hände in die Taschen. „Du hast deine Wohnung, deinen Job, neue Freunde. Das ist ein eigenes Leben. Er hat es gesehen. Und er ist immer noch hier." Sie runzelte die Stirn. „Ich weiß. Und ich frage mich, warum. Ich kenne Dean fast mein ganzes Leben und hätte ihn nie für einen Macho gehalten. Aber er scheint zu denken, dass ich einen Beschützer brauche. Nicht nur einen guten Freund wie dich, sondern einen richtigen, eigenen Mann. Hör auf zu lachen", sagte sie, lachte aber mit ihm. „Es stimmt. Warum sollte er sonst noch hier sein? Er wartet darauf, dass ich einen festen Freund finde oder so etwas." Noch immer schmunzelnd schüttelte Lloyd den Kopf. „Ich glaube, du irrst dich, aber ich will dir die Idee nicht ausreden. Jetzt weißt du also, wo das Problem liegt. Was willst du tun?" Sie kaute auf ihrer Unterlippe, während sie über das Problem nachdachte. Einen Augenblick darauf hob sie das Kinn, schob die Daumen in die Gürtelschlaufen und sah sich um. „Ich werde mir einen Mann suchen", erklärte sie und marschierte los, gefolgt von Lloyds Lachen. Whitney verbrachte die nächste halbe Stunde damit, sich die Männer aus der Fabrik anzusehen. Als sie damit fertig war, wusste sie, dass es nicht so einfach sein würde, einen geeigneten Kandidaten zu finden. Die Anforderungen waren eigentlich gar nicht so hoch, aber Whitney kam bald zu dem Ergebnis, dass kaum jemand in die engere Wahl kam. Sie wollte schon aufgeben, da erspähte sie einen stämmigen Mann von etwa Mitte Zwanzig. Den hatte sie ganz vergessen. Ralph Jenkins. Ralph war ein süßer, schüchterner
Bursche mit blondem Haar und blassem Teint. Er war nicht gerade eine imponierende Persönlichkeit, und Whitney fand es etwas eigenartig, dass er mit Mitte Zwanzig noch bei seiner Mutter lebte. Aber Ralph war jemand, den Dean vertrauenswürdig finden würde, da war sie ganz sicher. „Herrlicher Tag für ein Picknick, nicht?" kommentierte Whitney und setzte sich zu Ralph an den Tisch. Der junge Mann musterte sie misstrauisch und schluckte ein paar Mal, offenbar aus Nervosität. Ungerührt machte Whitney mit ihrem Plan weiter. „Ich glaube, jemand sucht Leute für ein Volleyball-Spiel. Machst du mit?" Als er den Kopf schüttelte und einmal mehr schluckte, wurde Whitney unsicher. Die Sache gestaltete sich schwierig. Sie lächelte. „Entschuldige, Ralph. Ich habe ganz vergessen, dass du dir beim Baseball den Knöchel verstaucht hast." Erneut kam keine Antwort. Whitney suchte nach einem neuen Gesprächsthema und fand eins. „Arnie hat sein Boot dabei, falls jemand Wasserski laufen will. Was meinst du? Ich weiß, du kannst nicht Ski laufen, aber wir könnten im Boot herumfahren und ... du weißt schon ... den anderen zusehen ... oder so etwas." Ralph schluckte immer nervöser. Und dann sagte er schließlich etwas. „Ich ..." Hoffnungsvoll beugte sie sich vor, aber er sprach nicht weiter, sondern schluckte wieder. Whitney räusperte sich, um ein hysterisches Kichern zu unterdrücken. „Dein Knöchel? Tut er noch weh?" Sie hatte jede Hoffnung auf ein echtes Gespräch aufgegeben, war jedoch bereit, notfalls allein weiterzumachen. „Hör mal, ich habe eine Idee. Wir können uns doch unter einen Baum setzen, während die Hamburger auf dem Grill liegen. Wenn sie fertig sind, hole ich dir einen. Dann brauchst du den blöden Knöchel nicht zu belasten, und wir beide können uns besser..." „Ralph", wurde sie unterbrochen, „deine Mutter sucht dich. Sie will am Dreibeinrennen teilnehmen und braucht jemanden, der sie anfeuert." Whitney fuhr herum. Auf der anderen Seite des Picknicktischs stand Dean, ein Knie auf die Bank gestützt. Als Sie sich wieder zu Ralph drehte, sah sie so etwas wie Erleichterung über sein Gesicht huschen. Dann stand er auf und humpelte davon. „Warum hast du das getan?" fragte sie und sprang auf. „Ralph und ich hatten gerade eine interessante Unterhaltung." Dean zog eine Augenbraue hoch. „Wie bitte? Hast du gerade Gespräch gesagt? Wahrscheinlich kenne ich mich da nicht gut genug aus, aber bedeutet Gespräch, dass eine Person redet und die andere schwitzt?" Trotzig hob sie das Kinn. „Du kennst dich überhaupt nicht aus. Ralph war gerade dabei, ein wenig aufzutauen." Er lachte lauthals. „Sicher war er das. Wenn er noch weiter aufgetaut wäre, wäre er in Ohnmacht gefallen. Der arme Kerl hatte eine Todesangst. Sieh' s ein, Whit, wenn du loslegst, zeigt sich, wer ein Mann ist. Ralph ist ein netter Bursche, aber deinem Tempo ist er einfach nicht gewachsen." Entrüstet starrte sie ihn an. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Du tust ja so, als wäre ich eine Art Femme fatale. Dabei weißt du genau, wie jungfräulich ich bin. Von Männerhänden unberührt." Dean zögerte nur kurz, bevor er den Blick langsam über ihren Körper wandern ließ. „Ich weiß Dinge über dich, die nicht einmal du selbst weißt", bemerkte er schließlich. Sein Blick war so sinnlich, dass sie unwillkürlich den Atem anhielt. Jedenfalls dachte sie, dass es unwillkürlich geschah. Noch nie hatte Dean sie so angesehen. Er griff über den Tisch und kniff sie in die Nase. „Ich glaube, du
solltest dir jemanden aussuchen, der dir gewachsen ist." „Ach, du kannst mich mal", murmelte sie. Im Davongehen hörte sie sein Lachen. Offenbar amüsierte sich nicht nur Lloyd über sie, sondern auch Dean. Whitney unterhielt sich gerade mit Louise Grendt, einer älteren Kollegin aus der Versandabteilung, als sie Frankie Halloran bemerkte. Er stand am Grill, kümmerte sich um die Hamburger, und als er sie entdeckte, winkte er und rief ihr etwas zu, das sie nicht verstand, weil er den Mund voller Kartoffel-Chips hatte. Das ist er! dachte sie und starrte auf die Gruppe um den Grill. „Frankie!" rief sie und winkte. Als Whitney ihn erreichte, legte er den Bratenwender hin und stellte sich in Bodybuilder-Positur. „Ich wusste, dass du mir nicht mehr lange widerstehen würdest", sagte er. „Was hat dich überzeugt? Der Anblick meines gewaltigen Brustkorbs?" Er ballte die Fäuste, um seine Muskeln spielen zu lassen. „Oder mein Talent beim Baseball?" „Die Art, wie du Hamburger machst", erwiderte sie und lächelte über den aufsteigenden Qualm hinweg. Die nächsten paar Minuten verbrachten sie mit einem lockeren Flirt. Niemand flirtete so gekonnt wie Frankie. Aber als Whitney Dean auf sie zukommen sah, beschloss sie, es etwas weniger subtiler angehen zu lassen. Die Sache dauerte einfach zu lange. Sie griff nach Frankies Arm. „Schnell, Frankie. Kommst du am Freitag zum Abendessen zu mir?" „Oho, sie gerät in Panik", brummte Frankie und seufzte genießerisch. „Wann?" „Um acht." Sie warf einen Blick über die Schulter. Dean kam immer näher. Er hatte die Augen zusammengekniffen. Sein Mund war schmal wie ein Strich. So kannte sie ihn von früher. „Abgemacht", verkündete Frankie. „Ich werde eine Flasche Wein, einen Strauß Gänseblümchen und meinen Wahnsinnskörper mitbringen." „Toll", sagte sie über die Schulter, denn sie eilte bereits davon. Doch schon nach wenigen Schritten hatte Dean sie eingeholt. Er hielt sie am Arm fest und drehte sie zu sich herum. „Was für hinterhältige Komplotte schmiedest du denn jetzt wieder, Whitney?" „Pst", zischte sie und sah nervös in die Runde. „Ich heiße Mary, oder hast du das schon vergessen?" „Mir ist egal, wie du heißt. Ich will wissen, was du vorhast." „Ich tue nur das, was ich deiner Ansieht nach schon längst hätte tun sollen", erwiderte sie und ging weiter. Er folgte ihr. Verärgert schüttelte sie den Kopf. „Du hast mir gesagt, ich soll mein eigenes Leben führen", flüsterte sie. „Genau das tue ich. Ich nehme Kontakt zum anderen Geschlecht auf." Im Weitergehen sah sie ihn an. „Du magst Frankie. Und um was willst du wetten, dass er meinem Tempo gewachsen ist?" Dean runzelte die Stirn. Frankie mochte ihrem Tempo durchaus gewachsen sein, aber das tröstete Dean kein bisschen. Im Gegenteil. Es machte ihn unglaublich nervös. Die nächsten paar Tage machte Dean sich verrückt. Dauernd malte er sich aus, wie Whitney bei einem anderen war, mit einem anderen lachte, einen anderen küsste , einen anderen berührte. Seit er in Dallas war, hatte Dean fast den ganzen Tag telefoniert, mit Klienten oder seiner Sekretärin oder Sani, und seine Arbeit hatte sich so ganz gut erledigen lassen. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt konnte er an nichts anderes als an Whitney denken, und er war am Telefon absolut unausstehlich. Sam erklärte ihm, er solle sich zum Teufel scheren, und die
Sekretärin drohte mit Kündigung. Whitney hatte ihm gegenüber ihr Date mit Frankie nicht erwähnt. Sie war ihm sogar die ganze Woche aus dem Weg gegangen. Aber Lloyd hatte Dean davon informiert, dass Frankie um acht Uhr abends bei Whitney erscheinen würde. Deshalb war Dean am Freitagabend um acht Uhr in einer grauenhaften Stimmung. Er war nicht imstande fernzusehen, und er brachte keinen Bissen herunter. Nachdem er eine halbe Stunde lang durch sein kleines Wohnzimmer marschiert war, verließ er die Wohnung und ging ins Rick's. „Eine wie sie habe ich noch nie erlebt", sagte Dean zu Lloyd. Die beiden Männer saßen in Rick's Pub am Tresen, und Dean war gerade dabei, eine der Geschichten über die kleine Mary zu beenden. . „Wenn sie einfach nur den Mund gehalten hätte, wären ihr eine Menge Probleme erspart geblieben", erklärte er lächelnd. „Aber versuch mal, ihr das beizubringen. Wenn sie etwas zu sagen hat, sagt sie es auch." „Vermutlich hat sie sich darauf verlassen, dass du ihr hilfst", meinte Lloyd. „Ich habe immer getan, was ich konnte", gab Dean zu. „Und sie hat mir alles zugetraut. Sie verstand nicht, dass ein Junge von der falschen Seite der Bahnlinie bei der Schulbehörde nicht sehr viel ausrichten kann. Oder bei besorgten Eltern." Er schüttelte den Kopf. „Sie war anders. Damit meine ich nicht nur ihr Aussehen oder ihre Bereitschaft, für das zu kämpfen, woran sie glaubt. Es ist noch etwas anderes, etwas Einzigartiges." Er starrte erst in den Spiegel hinter der Bar, dann in sein Bierglas. „Sie ist stark und weise, verletzlich und lustig. Und du würdest nicht glauben, wie intelligent sie ist, Lloyd. Man muss sich nie fragen, ob sie etwas begriffen hat oder nicht. Sie versteht eine Idee, noch bevor sie sich in deinem Kopf voll entwickelt hat." Er lachte. „Natürlich ist sie auch die rätselhafteste, starrsinnigste Frau, die mir je begegnet ist. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, bekommst du es selbst mit der Brechstange nicht mehr heraus. Sie lässt einfach nicht los." „Und du kannst sie nicht loslassen", bemerkte Lloyd leise. Es war keine Frage. Es war eine sachliche Feststellung. „Ich versuche es ja, Lloyd", erwiderte Dean. „Zum Teufel, ich versuche es." Dean sah auf die Uhr, trank sein Bier aus und glitt vom Hocker. Er kehrte in seine Wohnung zurück, ging dort eine Weile auf und ab und sah dabei alle paar Sekunden auf die Uhr. Es war nach elf. Bestimmt war Frankie schon nach Hause gegangen. Dean blieb stehen. Wenn er noch nicht gegangen war, war es vielleicht an der Zeit, ihm ein wenig Beine zu machen. Er knallte die Tür hinter sich zu, ging die wenigen Schritte zu Whitneys Wohnung und klopfte an. Er wartete ein paar Sekunden, dann hämmerte er dagegen. Die Tür ging auf und Whitney stand vor ihm. Sie trug Jeans und eine blaue Seidenbluse, die ihre Augen noch strahlender als sonst wirken ließ. Als sie nichts sagte, sah Dean an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Ihr Date saß auf dem Fußboden. Auf dem Couchtisch stand ein Brettspiel. Deans Blick kehrte zu Whitney zurück. „Ich muss mir eine Tasse Zucker leihen", erklärte er die Störung. Sie zog eine Augenbraue hoch. „Backst du etwa schon wieder?" fragte sie und ließ ihn eintreten. „Du backst, Dean?" fragte Frankie. Es klang nicht sonderlich interessiert, und er schien sich durchaus vorstellen zu können, dass Dean seine Freizeit am Ofen verbrachte. „Nicht gut genug, um öffentlich aufzutreten", erwiderte Dean und warf einen Blick auf den Couchtisch. „Trivial Pursuit? Pass auf, Frankie. Sie schummelt." „Du lügst", entgegnete Whitney, und in ihrem Blick mischten sich Entrüstung und
Belustigung. Dean machte es sich auf der Couch bequem und ließ Frankie damit wissen, dass er so bald nicht wieder gehen würde. Nach einer Weile sah Frankie auf die Uhr. „Mensch, so spät ist es schon?" Er stand auf und streckte sich ausgiebig. „Ich denke, ich gehe jetzt besser." Whitney warf Dean einen wütenden Blick zu, bevor sie ihren Gast zur Tür brachte. Frankie war sich seines Charmes ganz sicher und senkte nicht einmal die Stimme, als er sie fragte, ob sie mit ihm ins Kino gehen würde. „Gern", nahm Whitney die Einladung an. „Wir reden am Montag in der Pause darüber. Ungestört." Sie schloss die Tür hinter ihm, kehrte langsam zur Couch zurück und baute sich vor Dean auf, die Hände in die Hüften gestemmt. „Würdest du mir vielleicht sagen, was das sollte? Du wusstest doch, dass ich nicht allein war. Und erzähl mir nicht den Blödsinn, dass du Zucker brauchtest. Du hast erst letzten Mittwoch ein Pfund gekauft." Er legte den Kopf zurück und starrte an die Decke. „Was ist los, Dean? Ich weiß, du willst, dass ich mein eigenes. Leben führe. Irgendwo im Hinterkopf habe ich das schon immer gewusst, glaube ich. Und genau das versuche ich jetzt zu tun. Ich dachte, Frankie wäre dabei ein ganz guter Start. Nichts Ernstes, nur ein kleiner Vorstoß in die Welt der Erwachsenen. Ich tauche meine Zehen ein wenig in das Wasser der Sexualität, könnte man sagen." Er sah sie an, und seine dunklen Augen funkelten. „Du bist noch nicht soweit, irgend etwas in irgend etwas zu tauchen", erwiderte er scharf. „Du bist zu unerfahren." Sie schnaubte. „Beim Picknick hast du von meinem Tempo und Vulkanen geredet. Und jetzt bin ich plötzlich zu unerfahren?" „Tempo ist eine Eigenschaft", sagte er gepresst. „Keine praktische Erfahrung." Sie warf die Hände in die Luft. „Du bist wirklich unschlagbar, weißt du das? Wie soll ich denn Erfahrung bekommen, wenn du mich dauernd beschattest? Das, worüber wir hier reden, ist nicht gerade ein Zuschauersport." Er starrte wieder an die Decke. Seine Miene war verschlossen. Whitney wusste nicht, was er dachte, und das machte sie äußerst nervös. „Wer hat dir beigebracht, so Baseball zu spielen?" fragte er plötzlich. „Du." „Wer hat dir Radfahren beigebracht? Autofahren? Fiese Tricks beim Prügeln?" „Wir wissen beide, dass du mir das alles beigebracht hast. Und?" fragte sie verärgert. Dean drehte langsam den Kopf und sah ihr in die Augen. Sie starrte ihn verwirrt an, bis sie begriff, worauf er hinauswollte. Die Wahrheit raubte ihr den Atem.
11. KAPITEL Whitney wurde blass, und die Luft im Zimmer schien sich zu erhitzen. Dean starrte sie noch immer an. „Du meinst doch nicht etwa ... Du meinst es, nicht wahr?" Sie drehte sich von ihm weg und strich sich mit den Händen über die geröteten Wangen. „Du hast den Verstand verloren. Du hast endgültig den Verstand verloren." Ohne ihn aus den Augen zu lassen, setzte sie sich neben ihn auf die Couch. „Geht es dir gut?" fragte sie besorgt. Er lachte, aber es war nicht zu hören. „Hört sich an, als wolltest du bei mir Fieber messen. Ich bin nicht verrückt, und ich habe auch keine erhöhte Temperatur." „Was zum Teufel ist dann los?" Ihre Verwirrung war echt. „Erst flehst du mich
förmlich an, die alten Bande zwischen uns zu zerschneiden, weil sie uns fesseln ..." „Diese Bande haben mich nie gefesselt", unterbrach er sie ruhig, aber nachdrücklich. „Nie. Ich dachte nur, es wäre besser für dich, wenn du etwas Abstand von mir gewinnst. Ich dachte, du solltest ein wenig über eine Beziehung nachdenken, die begann, als du noch viel zu jung zum Nachdenken warst. Ich wollte nur, dass du deine Gefühle aus einer objektiven Sicht betrachtest." „Du scheinst ja eine Menge für mich geplant zu haben", erwiderte sie nach kurzem Schweigen. „Und du hast viele Entscheidungen getroffen, ohne mich zu fragen. Aber vielleicht bin ich auch unfair. Schließlich habe ich auf dich nicht gerade so gewirkt, als könnte ich diese Entscheidungen selbst treffen." Sie zögerte, knabberte an ihrer Unterlippe. „Aber jetzt hast du es dir offenbar anders überlegt und dir einen völlig neuen Plan für mich einfallen lassen", sagte sie langsam. „Mir scheint, dass das was du vorschlägst, nicht gerade zu irgendeinem Abstand zwischen mir und dir beitragen würde." Er legte die Hand an ihren Hals. Sein Blick war gesenkt, so dass sie ihn nicht deuten konnte. „Ich habe es mir nicht anders überlegt, Whit. Ich will noch immer, dass du objektive Entscheidungen triffst. Wenn du soweit bist", fügte er ernst hinzu. „Wenn du in der Läge bist, mit allem fertig zu werden, was dir begegnet." Sie entzog sich seiner Hand, um wieder klar denken zu können. „Und Sex gehört zu dem, was mir begegnet? Könntest du mir nicht einfach eins von diesen Aufklärungsbüchern kaufen, die Mütter ihren Töchte rn geben?" „Ist dir die Vorstellung, mit mir zu schlafen, peinlich?" fragte er unverblümt. „Ich ..." Sie verstummte und schüttelte hilflos den Kopf. Er sah zur Seite. „An dem Tag, als du in mein Schlafzimmer kamst, kurz bevor du San Antonio verlassen hast ... an dem Tag wolltest du mich." Whitney stockte der Atem. Sie schloss die Augen. „Du nimmst kein Blatt vor den Mund, was?" fragte sie matt. Zu sagen, dass sie ihn wollte, wäre eine Untertreibung gewesen. Noch nie im Leben hatte sie etwas so Gewaltiges gefühlt. „Ich wollte dich auch, Whitney." Die leisen Worte waren wie ein Paukenschlag. Sie öffnete die Augen, sah ihm ins Gesicht und wusste, dass er die Wahrheit sagte. Nervös strich sie sich mit der Zungenspitze über die Lippe. „Aber du ... Warum hast du nie etwas davon gesagt?" Er runzelte die Stirn. „Du bist von Menschen aufgezogen worden, die nichts vom wirklichen Leben wussten. Ich nehme an, ich hatte mich einfach nur daran gewöhnt, dich zu beschützen. Ich wollte dich nicht verwirren." Whitney musste die Erklärung erst verarbeiten. Dean wollte sagen, dass er sie begehrte. Aber auch, dass er sie nicht liebte. Sie wusste es. Sie. hatte es gewusst, als sie San Antonio verließ. Eigentlich hätte es nicht so schrecklich weh tun dürfen, die Worte zu hören. Eine Wahrheit, die sie längst kannte, hätte nicht so sehr schmerzen dürfen. Sie befeuchtete sich die Lippen und atmete durch, um ihre Stimme ruhiger klingen zu lassen. „Und was jetzt?" Er zuckte mit den Schultern. „Du bist erwachsen. Alt genug, selbst zu entscheiden, alt genug, mit sexueller Anziehungskraft umzugehen." „Ach ja?" Ihr Ton war skeptisch. „Ja", erwiderte er lächelnd. „Aber ich will nicht, dass wir in etwas hineinschlittern. Uns von irgend etwas mitreißen lassen. Ich könnte es nicht ertragen, morgen früh aufzuwachen und zu bereuen, was heute Abend geschehen ist. Wir müssen beide genau wissen, worauf wir uns einlassen, bevor wir den nächsten Schritt machen." „Sollen wir einen Vertrag unterzeichnen?" Ohne auf eine Antwort zu warten,
stand Whitney auf. „Nein, du bleibst hier", befahl sie, als er ebenfalls aufstehen wollte. „Ich muss eine Weile allein sein ... um nachzudenken. Ich mache uns Kaffee", sagte sie auf dem Weg aus dem Zimmer. In der Küche schaltete Whitney die Kaffeemaschine ein und sah zu, wie der Kaffee in die Kanne lief. Würde sie es schaffen? Würde sie eine Affäre mit Dean überstehen, ohne eine Verletzung davonzutragen? Und wenn er sie berührte, würde er sie dann nur äußerlich berühren, ohne das erreichen zu wollen, was in ihr war? Die Kaffeekanne war schon eine Viertelstunde voll, als Whitney zu dem Ergebnis kam, dass es keine Rolle spielte, was nach der Affäre mit Dean kam. Die Sache würde ihr mit Sicherheit weh tun, aber das hatte sie noch nie abgeschreckt. Selbst wenn das hier alles war, was sie je von Dean bekommen würde, war es immer noch mehr als das, was sie gestern gehabt hatte. Mit zwei Tassen Kaffee ging sie ins Wohnzimmer zurück. Sie reichte ihm eine und setzte sich, die andere zwischen den Händen, als wollte sie sich daran wärmen. Mehrere Minuten vergingen, ohne dass einer von ihnen etwas sagte. Dean nippte gerade an dem noch heißen Kaffee, als Whitney endlich das Schweigen brach. „Okay, lass es uns tun." Er verschluckte sich. „Verflixt, Whitney, jetzt habe ich mir den Mund verbrannt." „Soll ich ihn küssen, damit der Schmerz vergeht?" Er holte tief Luft und sah sie an. „Ja ... ja, das möchte ich." Sie drehte sich und beugte sich leicht zu ihm hinüber. Dies war es, was sie wollte. Dies war das, was sie immer gewollt hatte. Aber jetzt, als es endlich soweit war, spürte sie Verlegenheit in sich aufsteigen. Irgendwie hatte sie immer geglaubt, dass es viel natürlicher und ohne jede Vorüberlegung ablaufen würde. Sie wich ein wenig zurück und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Gleich. Dräng mich nicht." Sie strich sich das Haar aus der Stirn. „Ich schaffe es." Sie beugte sich erneut vor; richtete sich aber gleich wieder auf. „Andererseits spricht einiges dafür, sich lieber von der Leidenschaft mitreißen zu lassen. Es kommt mir vor, als gäbe es für das hier ein Drehbuch, und ich hätte es nur vergessen." Er lachte leise und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. „Soll ich dir helfen?" Sie schüttelte seine Hände ab und stand abrupt auf. „Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass ich geküsst werde. Als ich aufs College kam, habe ich sogar Petting gemacht, damals, als ich ..." „Ich erinnere mich." Seine Stimme klang rau. „Du hast es mir genau erzählt, jedes einzelne Mal." „So oft war es nicht." „Es war oft genug." Sie starrte ihn an. Etwas an seinem Ton, an seinem Blick irritierte sie. „Du klingst verärgert. Hat es dich wirklich gestört, dass ich ... etwas mit anderen Männern hatte?" „Ob es mich gestört hat?" Er lachte bitter. „Das beschreibt es nicht annähernd." „Das Leben steckt voller Überraschungen", murmelte sie, bevor sie ans Fenster ging und den Vorhang beiseite schob, um nach draußen zu sehen. Die kleinen sexuellen Scharmützel, von denen er gesprochen hatte, hatten in ihrem ersten College-Jahr stattgefunden. Vor sechs Jahren. Begehrte er sie seit sechs Jahren? Ihre erste Reaktion auf diese verblüffende Erkenntnis war Erleichterung. Darüber, dass es Dean ähnlich ergangen war wie ihr. Auch er hatte viele einsame Nächte verbracht, schlaflos oder von etwas träumend, das er sich ersehnte, aber
nicht bekam. Doch bald löste Trauer die Erleichterung ab. All die einsamen Nächte. Wenn er es ihr damals gesagt hätte, hätte es all die einsamen Nächte nicht zu geben brauchen. „Worüber denkst du nach?" fragte er. Als sie sich umdrehte, stand er mit besorgter Miene direkt hinter ihr. Sie hob eine Hand, um ihm die Falten aus dem Gesicht zu streichen. „Darüber, dass ich nicht mehr nachdenken will. Ich denke, dass Denken Zeit verbraucht, die man ..." Sie zog die Augenbrauen hoch. „Die man viel ergiebiger verbringen könnte." Sie rückte näher. „Hast du das gesehen? Das soll dir sagen, dass das gerade eine Anspielung war. Und das hier ..." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streifte seine Lippen mit ihren. „Ist eindeutig. Das hier ..." Ihre Erklärung brach ab, als er sie fest an sich zog. Seine Hände zitterten, als er sie berührte. Es war, als hätte er schon zu lange auf diesen Moment gewartet. Sein Atem ging schwer, als er die Stirn an ihre legte. „Also ist dir dein Text noch eingefallen", flüsterte er heiser. Ihr Lachen verstummte, als er sie küsste. Ihn zu schmecken, ihn zu spüren, davon hatte Whitney fast ihr ganzes Leben geträumt, ob wach oder schlafend. Jetzt war es real. Sein Kuss löste eine Explosion aus Empfindungen aus, und sie konnte nicht genug davon bekommen. Aus Angst, er könnte es sich in letzter Sekunde anders überlegen, schlang sie die Arme um ihn, suchte mit ihrer Zunge nach seiner und presste sich an ihn. Sie war verwegen und kostete aus, wie sein Körper auf ihren reagierte, Ein tiefes Stöhnen stieg in ihm auf, und er beugte sich leicht vor, um sie hochzuheben, ohne den heftigen Kuss zu unterbrechen. Er trug sie ins Schlafzimmer und ließ sich mit ihr aufs Bett fallen. Dann berührte er sie, und es war besser als in allen ihren Träumen zusammen. All die langen, einsamen Nächte waren vergessen, als sie eine Welt erkundeten, zu der ihnen noch Stunden zuvor jeder Zutritt verboten gewesen war. Selbst in der Hitze der Leidenschaft war Dean um Whitney besorgt. Er drängte sie nicht. Er wartete, bis sie bereit war, bevor er den nächsten Schritt machte. Er zog sein Hemd aus, knöpfte ihre Bluse jedoch nur auf, um die Intimität ganz langsam zu steigern. Er musste sich Zeit lassen. Er musste es schön für sie machen. Doch Whitney wollte kein Abwarten mehr. Sie hatte lange genug gewartet, sich nach ihm gesehnt. Sie wartete nicht, bis er sie auszog, sondern streifte sich die Kleidung selbst vom Körper und warf sie achtlos beiseite. Dean glitt vom Bett und stand auf, um sich ganz auszuziehen. Fasziniert starrte er auf ihren Körper, das dunkle Haar auf dem weißen Kissen. Ihm stockte der Atem, als ihre Schönheit ihm direkt ans Herz ging. Endlich hatte er seine wahren Gefühle zugelassen, und ihre Kraft warf ihn fast um. Wie hatte er so lange ohne das hier leben könne n? Ohne zu wissen, wie es war, sie zu berühren und ihre Hände an sich zu spüren? Er zitterte, als er sich wieder zu ihr legte und ihr zärtliche Worte ins Ohr flüsterte. Dann hob er sie an und ließ sie eins werden. Für Whitney gab es keinen Raum für Angst, keinen Raum für Schmerz. Sie hatte immer gewusst, dass ihre Körper füreinander geschaffen waren. Aber sie hatte nicht gewusst, dass dieser Moment etwas in ihr auslösen würde, das noch wilder, noch erfüllender war als alles, was sie bisher erlebt hatte. Wie hätte sie auch wissen können, dass jede Bewegung, jede Zärtlichkeit herrlicher sein würde als die davor? Das Mondlicht strömte übers Bett und schien auf ihre nackte Haut. Und dann ließen sie ihre Gefühle wachsen, bis es nichts anderes gab als ihre Leidenschaft. Sie war in ihnen und um sie herum. Sie war in ihren Köpfen, ihren
Körpern, ihren Herzen. Sie band sie für immer aneinander und gab ihnen endlich Frieden. Whitney drehte langsam den Kopf auf dem Kissen und sah zu Dean hinüber. Er schlief, aber sie wollte ihn nicht wecken, obwohl der Sonnenschein seit fast einer Stunde durch die Vorhänge strömte. Sie wollte es genießen, seinen Kopf neben sich auf dem Kissen zu sehen. Es war eine Intimität, die ebenso unerwartet wie aufregend war. Whitney war überzeugt, dass diese Nacht kein Fehler gewesen war. Dean liebte sie. Sie war ganz sicher. Aber irgend etwas hinderte ihn daran, es sich einzugestehen. Sie würde ihm einfach zeigen müssen, dass er keine Angst vor der Liebe zu haben brauchte. Sie würde durchhalten, bis ihm keine andere Wahl mehr blieb, als sie zu heiraten und für den Rest seines Lebens glücklich zu sein. Denn glücklich würde sie ihn machen. Als er im Schlaf etwas murmelte und sich rastlos bewegte, konnte sie nicht anders, als ihn eine Sekunde lang zu berühren. Dann küsste sie ihn behutsam aufs Ohr. „Du bist wach, nicht wahr, Dean? Ich nutze doch keinen wehrlosen Mann aus, wenn ich ihn hier berühre ..." Sie ließ die Hand an ihm hinabwandern. „Oder?" Er schlug die Augen auf, blieb starr liegen, bevor er seufzend ausatmete, nach ihr griff und sich auf sie rollte. „Dann müsste ich mich rächen und dich hier berühren." Er strich über eine Brust, ließ den Daumen auf der Spitze. „Oder hier ... oder..." Er stöhnte auf, als es an der Tür klopfte, und rollte sich von ihr, um die Hände hinter dem Kopf zu verschränken. Er seufzte. „Merke dir, wo du gerade warst", verlangte sie und kletterte aus dem Bett. „Ich werde den Störenfried zum Schweigen bringen." Sie zog sich einen kurzen Bademantel an. „Bis gleich." Bevor sie das Zimmer verließ, musste sie sich über ihn beugen. Zu einem letzten Kuss. Zwei. Drei. Sie küsste seine Wange. Und die Stirn. Und das Kinn. Und den Mund. Er zog sie auf sich. Es klopfte e rneut. Dean stand mit ihr in den Armen auf und stellte sie auf die Füße. „Schick sie weg", befahl er. „Schick sie schnell weg." Auf dem Weg zur Tür fuhr Whitney sich mit den Fingern durchs Haar. Wenn es ein Vertreter war, würde er die schnellste Abfuhr in der Geschichte seines Berufs erleben. Aber es war kein Vertreter. Es war ihr Vater. „Lloyd", rief sie überrascht aus. „Ich dachte, du musst dich heute um eine Inventur oder so etwas kümmern." „Die ist abgesagt worden. Ich wollte nur rasch ..." Er sah an ihr vorbei und lächelte. „Guten Morgen, Dean." Whitney blickte sich um und sah Dean in der Schlafzimmertür stehen. Obwohl er sich seine Jeans angezogen hatte, war ihm anzusehen, dass er gerade aufgestanden war. „Lloyd.", begrüßte Dean ihren Vater höflich. Lloyd lächelte noch immer. „Ich komme später wieder", sagte er und drehte sich um. Whitney hielt ihn am Arm fest und zog ihn in die Wohnung. „Nein, das wirst du nicht. Du wirst bleiben und mit uns frühstücken. Dean hat mir gerade erzählt, wie hungrig er ist. Stimmt' s, Dean?" „Stimmt aufs Wort genau." Er kam ins Wohnzimmer. „Setz dich zu uns, Lloyd. Ich verspreche dir, ich werde Whitney nicht an die Pfanne lassen." Sie schnaubte leise. „Willst du damit etwa andeuten ... Mein Rührei ist einfach
fantastisch, musst du wissen." „Kann man wohl sagen", erwiderte Dean und öffnete die Wohnungstür noch weiter. „Hör auf zu schmollen, Mary. Wenn du artig bist, darfst du den Toast machen." Wenig später saß Whitney auf der Arbeitsplatte in der Küche und kratzte die verbrannten Stellen von der letzten Scheibe Toast. „Kann ich vielleicht etwas dafür, dass mein Toaster kaputt ist? Du hast mir geholfen, ihn auszusuchen, Lloyd." Sie legte den Toast zu den anderen auf den Teller und sprang hinunter. „Außerdem habe ich gehört, dass Kohlenstoff gut für die Verdauung ist." Beide Männer prusteten los, aßen den Toast aber dennoch. Und Whitney musste zugeben, dass Dean ein gutes Frühstück gemacht hatte. Vielleicht würde er es ihr beibringen. Mit den beiden Männern, die sie liebte, zu frühstücken war einer der Höhepunkte im Leben, auf die man später mit einem Lächeln zurückblickte. Dean und Lloyd in eine Diskussion über Baseball und Jazz vertieft. Dean und Lloyd, wie sie sich um die restliche Erdbeermarmelade stritten. Lloyd, wie er Whitney mit der Gabel in die Hand piekste, als sie sich mehr als ihren Anteil am Schinken nehmen wollte. Lloyd bestand anschließend darauf, beim Abwasch zu helfen, und als er ging, fand sie es schade. Sie wusste, dass er nicht länger stören wollte, und am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er das keineswegs tat. Er war ihr Vater und daher ein Teil ihres Lebens. Aber sie sagte nichts. Als sich die Wohnungstür hinter ihm schloss, drehte Whitney sich zu Dean um. „Ich muss es tun. Ich muss es ihm sagen. Er mag mich. Oder findest du nicht? Findest du nicht auch, dass wir echte, wahre Freunde sind?" „Er liebt dich, Whit", erwiderte Dean leise. „Und du musst es ihm bald sagen. Denn je länger du es aufschiebst, desto schwerer wird es für euch beide." „Du hast recht. Du hast ja recht. Aber ich muss mir erst überlegen, wie ich es tue. Ich muss vorher genau wissen, was ich ihm sage." Er legte die Arme um sie und zog sie an sich. „Mach dich auf etwas gefasst, Honey. Ich will dir keine Angst einjagen, aber denk dran, wie du reagiert hast. Damals, als du erfuhrst, dass deine Mutter dich getäuscht hatte." Sie nickte und atmete tief durch. „Ich habe sie vor ein paar Tagen angerufen." „Wirklich? Ich bin stolz auf dich." „Sei nicht zu stolz", sagte sie bedauernd. „Ich war nicht gerade freundlich." Sie verbrachten den Rest des Tages wie Kinder. Auf Whitneys Vorschlag hin. Jetzt wo sie frei war, ihn zu lieben, wollte sie Dean etwas von seiner versäumten Kindheit zurückgeben. Sie fuhren zu „Six Flags Over Texas" und aßen pinkfarbene Dinger am Stiel und Pommes frites. Sie fuhren mit der riesigen hölzernen Achterbahn, dem „Klippenhänger" und dem „führerlosen" Zug. Sie spielten jedes Spiel in der Spiel-Arkade und kehrten erschöpft und erhitzt und überglücklich nach Hause zurück, die Arme voll billiger Stofftiere. Dean verbrachte auch die nächste Nacht mit ihr, aber irgend etwas an seiner Stimmung verwirrte Whitney. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was in ihm vorging. Er begehrte sie noch immer und konnte kaum die Hände von ihr lassen, aber zu oft verfiel er in brütendes Schweigen. Es war fast so, als würde er ihre neue Beziehung bereuen. Während der folgenden Tage hielt Deans eigenartige Stimmung an. Jedes Mal wenn sie miteinander schlafen wollten, schien er einen stummen Kampf in sich auszutragen. Und jedes Mal wenn er schließlich mit ihr ins Bett ging, reagierte er explosiv und ungestüm, als würde er jede Vernunft in den Wind schlagen. Und als ob er den Kampf gegen seine übermächtigen Gefühle verloren hätte.
Am Donnerstag, fast eine Woche nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, aß Whitney in der Betriebskantine zu Mittag. Irgendwann beschloss sie, die Sache zur Sprache zu bringen. Selbst wenn sie sich damit weh tat. Nach der Arbeit duschte sie, zog sich um und ging zu ihm. „Hattest du einen guten Tag?" fragte sie, als er sie hereinließ. „Ist mit dem Sanderson-Fall alles okay?" „Einen durchschnittlichen, was die erste Frage betrifft, und nicht anders als erwartet auf die zweite", sagte er und setzte sich auf die Couch. „Das ist gut ..." Sie schob die Hände in die Taschen ihrer Shorts. „Dean ... Dean, ich habe nachgedacht." Er zog eine Augenbraue hoch. „Welch schreckliche Vorstellung." „Sehr witzig." Sie setzte sich auf den Couchtisch vor ihm. „Du hast mir gesagt, ich sei zu unerfahren. Nun, das hat sich geändert. Ich habe jetzt viel Erfahrung. Eine wundervolle, aufregende Erfahrung." „Komm auf den Punkt, Whitney." „Na ja, wenn der Sinn der Übung war, mich in den Sex einzuweihen, so bin ich jetzt eingeweiht. Du musst zugeben, dass ich schnell gelernt habe." Whitney starrte an ihm vorbei, wich seinen» forschenden Blick aus. Sie wusste, dass sie ein großes Risiko einging, aber manche Dinge waren jedes Risiko wert. Dean war es wert. „Vermutlich bin ich jetzt reif für einen Soloflug", fuhr sie fort. „Na ja, solo wohl nicht, aber jedenfalls glaube ich, dass ich ohne Fluglehrer starten kann. Meinst du nicht auch? Ich meine, jetzt weißt du, dass ich es kann, und brauchst dir keine Sorgen mehr um mich zu machen. Wahrscheinlich könntest du sogar nach San Antonio zurückkehren und deine Kanzlei wieder in Ordnung bringen." „Du hast einen anderen kennen gelernt?" Die Worte kamen scharf. „Sieht er gut aus? Doch nicht etwa dieses Muskelpaket? Vergiss es. Hast du mich gehört, Whitney? Vergiss es einfach, ja?" Sie nahm sein Gesicht zwischen die Hände. „Sei mal eine Minute still. Hast du dir selbst zugehört, Dean? Du willst nicht, dass ich etwas mit einem anderen Mann anfange. Ebensowenig wie ich will, dass du etwas mit einer anderen Frau anfängst. Warum wohl? Was glaubst du, warum die Vorstellung uns so weh tut?" Er stand auf und kehrte ihr den Rücken zu. „Was soll das?" fragte er. „Ist das ein Spiel?" „Nein", protestierte sie und stellte sich hinter ihn. „Ich spiele keine Spiele mit dir. Das würde ich nie tun. Und weißt du, warum, Dean? Weil du mir zu wichtig bist. Ich gebe es zu. Ich liebe dich. Ich liebe dich, seit ich denken kann. Wenn hier jemand Spiele gespielt hat, dann du." Als er herumwirbelte, wusste sie, dass er es abstreiten würde. „Ja", sagte sie, bevor er zu Wort kam. „Du. Du hast getan, als hätten wir nur eine Affäre. Eine lockere Sache. Und das ist nicht wahr, stimmt' s?" „Nein, ist es nicht. Du hast recht. Was ich für dich empfinde, ist nicht locker. Ich liebe dich, Whitney." Mit einem leisen Laut der Erleichterung warf sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Er reagierte sofort, zog sie an sich und strich mit den Händen über ihren Körper. Doch Schon nach wenigen Sekunden brach er den Kuss ab. „Whit..." „Was ist?" hauchte sie gegen seine Wange. „Warum hörst du auf? Das war eine meiner besten Nummern. Unter der Wucht dieses Kusses sind schon viel bessere Männer schwach geworden." Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Das ist natürlich gelogen. Es gibt keine besseren Männer als dich." Sie nahm seine Hand von ihrer Schulter und legte sie an die Wange. „Und jetzt, wo du zugegeben hast, dass du
mich liebst, bist du perfekt." „Ich konnte es schlecht bestreiten", sagte er lachend. „Nicht nachdem ich mich so blamiert habe, als ich dachte, du wolltest dir einen anderen suchen. Verlangen, Respekt, Bewunderung, Sympathie. Wenn du all das mit dem Gefühl kombinierst, dass ich mich ohne dich irgendwie unvollständig fühle, dann kommt Liebe heraus. Es war schon immer Liebe. Ich wollte es nicht, aber ich konnte auch nichts dagegen tun." Erst nachdem das Glücksgefühl sich in ihr ausgebreitet hatte, ging ihr auf, was er da eigentlich gesagt hatte. Es hatte geklungen, .als wollte er sie gar nicht lieben, sei aber machtlos dagegen. „Du meinst also, du könntest etwas Besseres bekommen?" fragte sie. „Nun, dann will ich dir etwas sagen. Du wirst niemanden finden, der dich so lieben kann wie ich. Ich habe viel Übung darin. Schließlich tue ich es schon mein ganzes Leben. Und das ist deine Schuld. Wenn du nicht so wundervoll wärst, würde ich dich nicht bis zu meinen Zehenspitzen lieben. Wenn du den Teil von mir entfernst, der dich liebt, bleibt nicht viel übrig. Nichts als eine unglaublich hübsche Hülle." Schmunzelnd presste er sie an sich. Er hielt sie so fest, dass sie kaum atmen konnte. Seine Umarmung hatte etwas Verzweifeltes. „Was ist?" flüsterte sie. „Irgend etwas macht dir angst. Warum kannst du nicht darüber reden?" „Nichts ... wirklich, es ist nichts." Er küsste ihre Stirn. „Ich dachte nur gerade an etwas, das deine Mutter gesagt hat. Sie sagte, ich wäre deine Rebellion." Er löste sich von ihr. „Es machte Sinn, Whitney. Und leugne nicht, dass du es dir zur Lebensaufgabe gemacht hast, die Harcourts zu ärgern. Deine Wohnung, dein neuer Job, all das tust du " nicht nur, um dich deinem Vater anzunähern. Du bist hergekommen, um dich von allem zu distanzieren. Von Menschen, von einer Art zu leben." „Und?" „Und vielleicht gehöre ich zu dem Plan. Eine Affäre mit mir wäre mit Sicherheit etwas, das deinen Angehörigen nicht gefallen würde." „Einigen schon. Baby findet dich höllisch sexy." Als er nicht antwortete, atmete sie langsam durch. Sie wollte ruhig klingen, obwohl sie ihn am liebsten angeschrien hätte. Noch nie im Leben hatte sie etwas so Lächerliches gehört. „Okay ... okay", fuhr sie gereizt fort. „Vielleicht hast du mit der Wohnung und dem Job recht. Ich weiß es nicht. Aber selbst wenn du recht hättest, hat das nichts damit zu tun, was ich für dich empfinde. Ich begehrte dich schon, als ich noch eine gute, kleine Harcourt war." „Eine gute, kleine Harcourt bist du nie gewesen." Die Andeutung eines Lächelns umspielte seinen Mund. „Wie ich schon sagte", beharrte sie mit strengem Blick. „Ich wollte dich, als ich noch eine Harcourt war, und ich will dich auch als lupenreine Grant. Ich liebe dich noch immer. Selbst wenn ich morgen herausfände, dass ich nur adoptiert und wirklich die britische Thronfolgerin bin, würde ich dich lieben. Meine Liebe zu dir ist keine Rebellion. Sie ist eine Konstante, eine Tatsache." Er zog sie wieder in die Arme. „Vielleicht ist das genug", hörte sie ihn sagen, bevor er sie küsste . „Himmel, lass es genug sein."
12. KAPITEL „Worüber denkst du so angestrengt nach?" fragte Dean. Whitney hob den Kopf von seiner Brust und sah ihn an. „Lloyd ... Daddy. Du
weißt nicht, wie oft ich ihn fast so genannt hätte. Ich dachte gerade, wenn ich ihn als Vater und nicht nur als Freund hätte, hätte ich alles, was ich je gewollt habe." Wie abwesend strich sie mit den Fingern über seinen bloßen Oberschenkel. „Ich weiß, dass ich es ihm bald sagen muss, doch jedes Mal wenn ich es versuche, hindert mich etwas daran. Etwas an ihm. Aber es ist nicht nur diese verdammte Mauer, die er um sich errichtet. Irgend etwas anderes ... ich weiß nicht. Es ist eine Art von Dunkelheit oder Trauer, die ihn überkommt, wenn er an die Vergangenheit denkt." Dean zog sie fester an sich. „Wenn ich höre, was die anderen sagen, ist er viel offener geworden, seit du hier bist. Aber ich weiß, was du meinst. Ein Teil von ihm ist noch eingekapselt... und was immer es ist, es macht ihm das Leben nicht gerade leicht." Sie seufzte. „Es ist wie die Geschichte von der Lady und dem Tiger. Ich weiß nicht, was hinter der verschlossenen Tür lauert, und es macht mir angst." Er strich ihr das Haar aus der Stirn. „Was wirst du jetzt tun?" „Ich werde es ihm sagen." Sie lächelte, küsste seine Brust, den Hals, das Kinn. „Schließlich bin ich nicht dorthin gekommen, wo ich jetzt bin - in die Arme des atemberaubendsten Mannes im ganzen Land -, ohne etwas zu riskieren. 'Hätte ich doch hur' zu sagen fand ich nie gut. Ich habe nicht vor, mir für den Rest des Lebens Selbstvorwürfe zu machen, weil ich etwas nicht getan habe. Also werde ich es tun, und wenn es schiefgeht, werde ich auch damit fertig." Es war eine gute Entscheidung. Da war sie ganz sicher. Während der nächsten Tage hatte Whitney oft genug die Gelegenheit, Lloyd zu sagen, dass sie seine Tochter war. Einmal waren die Worte schon halb aus dem Mund, bevor sie es sich doch noch anders überlegte und stattdessen hustete. Sie hatte gewusst, dass es schwierig werden würde, aber manchmal kam es ihr fast unmöglich vor. Am Samstagabend versammelten sich mehrere Leute aus der Spielzeugfabrik in ihrer Wohnung, um sich im Fernsehen einen Western anzusehen. Es war ein lauter, lustiger Abend, vor allem nachdem der Film vorüber war. Sämtliche Männer taten so, als wären sie Revolverhelden, und Whitneys Wohnzimmer war mit Opfern übersät. Währenddessen saßen die Frauen am Tisch und versuchten, sich trotz des Trubels zu unterhalten. Alle hatten zusammengelegt und sich Pizza liefern lassen. Für Kaffee und den Nachtisch sorgte Whitney mit Hilfe einer Konditorei in der City. Es war weit nach Mitternacht, als ihre Gäste sich mit Ausnahme von Dean und Lloyd verabschiedeten. Whitney machte noch eine Karaffe Eistee, und dann saßen sie zu dritt am Tisch und redeten. „Wirklich bewundernswert, wie du deinen Gästen einen diskreten Wink gibst, dass es Zeit zum Aufbruch ist, Mary", meinte Lloyd und hatte sichtlich Mühe, ernst zu bleiben. „Meint ihr, dieser Ausschlag an meinem Bein ist ansteckend? Ist zwar nicht gerade elegant, aber dafür äußerst effektiv. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Raum sich so schnell geleert hat." Dean schmunzelte. „Oh, sie war schon immer erfindungsreich. Habe ich dir schon erzählt, wie sie ..." Whitney stöhnte auf. „Bitte, Dean. Weißt du eigentlich, wie oft ich diese blöde Einleitung in den letzten Wochen gehört habe? Lloyd wird dabei nur deshalb noch nicht schlecht, weil er entweder einen kräftigen Magen hat oder einfach nicht mehr hinhört. Vielleicht ist er auch nur zu höflich, um dir zu sagen, du sollst endlich den Mund halten." „Halt den Mund , Whitney", sagte Lloyd. „Erzähl weiter, Dean. Lass mich die
Geschichte hören." „Wie ich schon sagte" fuhr Dean fort und warf Whitney einen triumphierenden Blick zu. „Sie war in der achten Klasse ... nein, in der siebten, glaube ich. Jedenfalls hatte sie vergessen, sich auf diesen echt wichtigen Test in Geschichte vorzubereiten. Ich glaube, sie hat mit dem Pferd herumgemacht oder so etwas." „Ich habe nicht mit ihm herumgemacht'", protestierte Whitney entrüstet. „Er hatte Husten. Ben war mein allererstes Pferd. Ich konnte nicht für so eine n dämlichen Test üben, während Ben kurz vor einer Lungenentzündung stand." „Es war kein Husten. Er hat nur komisch geschnaubt." Sie lachte. „Ich glaube, er hatte vergrößerte Rachenmandeln", gab sie zu. „Was war denn nun mit dem Test?" bohrte Lloyd nach. „Es war einer, bei dem man falsch oder richtig ankreuzen musste. Da sie nicht geübt hatte, kannte sie keine einzige Antwort. Sie sagte sich, ich falle sowieso durch, also brauche ich ein System." Whitney erinnerte sich und stöhnte erneut auf. Dann erhob sie sich und ging ans Spülbecken, in dem das Geschirr von der Fernseh-Party stand. „Du bist böse und musst vernichtet werden", murmelte sie und tauchte die Hände in das Spülwasser. „Was für ein System?" fragte Lloyd, und die Vorfreude war ihm schon anzuhören. „Na ja, erst wollte sie bei allen Fragen ,richtig' ankreuzen, weil sie dachte, auf die Weise würde sie mindestens fünfzig Prozent Treffer erzielen. Aber das war ihr dann doch zu dumm, also nahm sie einfach die Melodie von ,An der schönen blauen Donau'. Richtig ... richtig ... richtig.... richtig ... falsch, falsch ... falsch ... falsch." Die beiden Männer bogen sich vor Lachen. Whitney bewarf sie mit einer Handvoll Seifenschaum und hob entrüstet das Kinn. „Ich habe den Test bestanden, oder etwa nicht?" „Das soll wohl ein Scherz sein", meinte Lloyd nach Luft schnappend. Dean schüttelte den Kopf. „Whitney hat immer unheimlich Glück gehabt. Sie ..." Als er verstummte, sah Whitney erstaunt über die Schulter. Die beiden Männer starrten einander über den Tisch hinweg an. Deans Miene war zutiefst bekümmert, und Lloyds Gesicht war schlagartig kreideweiß. „Whitney?" flüsterte Lloyd. Dean sah sie an. „Es tut mir leid. O Honey, es tut mir so leid." Sie starrte noch immer auf Lloyds ungläubige Miene. „Nein", sagte sie leise, „es muss dir nicht leid tun. Früher oder später musste es geschehen." Lloyd wandte langsam den Kopf, um sie anzusehen, und schien jedes Detail ihres Gesichts in sich aufzusaugen. „Wer bist du?", fragte er mit heiserer Stimme. Sie zuckte mit den Schultern und presste die Lippen aufeinander, damit sie nicht mehr zitterten. „Whitney Daryn Grant", antwortete sie schließlich so leise, dass es kaum zu hören war. „Deine Tochter." Vater und Tochter starrten einander an. Dean stand auf und verließ die Küche. Lloyd schien es nicht zu bemerken. Selbst als er sich erhob, nahm er den Blick nicht von Whitne ys Gesicht. Whitney stand an der Spüle und wartete darauf, dass er etwas sagte, dass er einen Schritt auf sie zu machte. Nur einen einzigen. Aber sie wartete vergebens, denn Sekunden später drehte er sich wortlos um und ging hinaus. Seine Reaktion traf sie vollkommen unerwartet, und es dauerte eine ganze Weile, bis Whitney in der Lage war, sich aus der Erstarrung zu lösen. Ruckartig stieß sie sich vom Rand der Arbeitsplatte ab und rannte hinter ihrem Vater her. Als sie ihn endlich einholte, hatte er bereits die Wohnungstür erreicht. „Nicht!" rief sie verzweifelt. „Das darfst du nicht ... Wage es nicht, mich noch einmal im Stich zu lassen. Wage es nicht." Einen Moment lang dachte Whitney schon, er würde die heftig herausgeschriene
Warnung einfach igno rieren, doch er blieb stehen. Seine Hand lag auf der Türklinke, und er kehrte ihr den Rücken zu. Sie holte tief Luft und schob sich das Haar aus der Stirn. „Du schuldest mir keine Liebe", begann sie mit leiser, zittriger Stimme. „Und auch keine Loyalität. Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen ... du brauchst mich nicht einmal zu mögen. Aber du schuldest mir irgendeine Art von Erklärung. Ich will, dass du mir sagst, warum du damals gegangen bist. Ich will erfahren, warum du dich nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet hast. Warum hast du mich mein Leben lang denken lassen, dass mein Vater tot ist?" Sie starrte auf seinen Rücken und sah, wie ein Beben durch seinen Körper lief. „Deine Mutter wollte es so", sagte er schließlich, und es klang matt, fast ausdruckslos. Whitney machte einen Schritt auf ihn zu und legte die Schulter an die Wand neben der für. Sie wollte sein Gesicht sehen, wollte sehen, ob es zu seiner ausdruckslosen Stimme passte . Aber er hielt den Kopf gesenkt, und seine Miene war nicht zu erkennen. "Und was hast du daraufhin gesagt? Mensch, was für eine tolle Idee. Lass uns dem Kind erzählen, ich sei gestorben?" Er schüttelte den Kopf. „Du verstehst es nicht. Ich war nicht in der Lage, Forderungen zu stellen. Es musste alles so laufen, wie sie wollte." Sie hörte, wie er mühsam durchatmete. „Ich habe ihr die reine Hölle bereitet. Ich ... ich musste einfach alles tun, um es wiedergutzumachen. Sie sagte, euch beiden würde es ohne mich viel besser gehen, und ... und mir ging es damals nicht so gut. Deshalb habe ich eingesehen, dass sie recht hatte." „Was war passiert?" flüsterte sie verzweifelt. „Erzähl es mir, Dad. Warum hast du geglaubt, dass es uns beiden ohne dich viel besser gehen würde?" Langsam hob er den Kopf und drehte ihn ein wenig in ihre Richtung. Dann zuckte er zusammen, als würde ihr Anblick ihm Schmerzen bereiten. Er wandte sich wieder ab, lehnte sich gegen die Tür und schloss die Augen. „Ich nehme an, du erinnerst dich nicht mehr daran", begann er leise. „In Winnetka hatte ich einen anständigen Job. Kein fantastischer Job, aber ein anständiger. Ich habe in einer großen Firma gearbeitet. Als einer von zwölf Buchhaltern. In einer florierenden Firma." Er öffnete die Augen und sah Whitney an. „Anne hat so viel aufgegeben, um mich zu heiraten. Sie hat alles aufgegeben, Mary ... Whitney." Er verstummte und schluckte nur mit Mühe. „Nachdem wir geheiratet hatten, fuhren wir nach San Antonio. Einmal. Ein einziges Mal. Aber das einzige Mal hat gereicht. Ich nehme an, du weißt besser als jeder andere, wie sie aufgewachsen ist. Sie hatte alles, was man mit Geld kaufen kann. Ich konnte sehen, wie weh es ihr tat, ein sparsames Leben zu führen, nie genug Geld zu haben für den Luxus, den sie gewöhnt war. Es war unglaublich hart für sie ... und das mitzuerleben, brachte mich um. Ich ... ich wollte ihr wenigstens einige von den Dingen bieten, die sie verdiente." Er schüttelte den Kopf. „Ich will damit nicht entschuldigen, was ich getan habe. Ich will nur, dass du verstehst, warum ich es getan habe." „Du hast Geld genommen?" Er nickte, stieß seufzend den angehaltenen Atem aus. „Ich habe fast fünfzigtausend Dollar unterschlagen. Als ihr Fehlen bemerkt wurde ... als sie ins Haus kamen und mich festnahmen... das war an einem Samstag. Du warst oben und hast geschlafen. Weißt du, selbst jetzt, nach all diesen Jahren, sehe ich es wieder vor mir, wenn ich die Augen schließe. Ich durchlebe diese Szene immer wieder. Und der Blick aus ihren Augen zerreißt mich noch genauso wie damals, als die Polizei kam." Er starrte zu Boden. „Es hätte sie fast umgebracht, Whitney. Sie konnte die
Schande nicht ertragen. Sie hatte entsetzliche Angst, dass die Leute zu Hause in San Antonio herausfinden würden, dass ihr Ehemann ein Krimineller ist. Sie ... sie blieb, bis ich verurteilt wurde, dann war sie verschwunden." Er zuckte mit den Schultern, und es war eine müde Geste. „Ich glaube, sie hat es ihrem Bruder erzählt, aber alle anderen dachten, ich wäre tot. Ich saß schon ein Jahr im Gefängnis, als sie mir schrieb, was sie getan hatte. Sie erklärte mir, warum es ihrer Ansicht nach besser wäre, wenn ich mich nach meiner Entlassung nicht mehr melde ... und nicht versuche, dich zu sehen." Er hob den Kopf und sah Whitney an. „Es war nicht leicht für mich, das zu akzeptieren. Himmel, etwa ein Dutzend Mal war ich kurz davor, nach San Antonio zu fahren und dich zu besuchen. Einmal war ich sogar da. Ich hatte mir eingeredet, dass niemand das Recht hätte, uns beide voneinander zu trennen. Nicht einmal deine Mutter. Du warst meine Tochter, und ich hatte ein Recht, dich wenigstens zu sehen, dafür zu sorgen, dass es dir gut geht, dass du glücklich bist." Seine Hand zitterte, als er sich über die Stirn fuhr. „Aber ich brachte es nicht fertig. Als es drauf ankam, brachte ich es nicht fertig, den letzten Schritt zu machen und dich zu besuchen. Ich dachte daran, wie die Leute reagierten, wenn sie erfuhren, dass ich im Gefängnis gesessen hatte ... Und früher oder später finden sie es immer heraus. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist. Du kannst es nicht wissen. Es ist der Blick, mit dem sie dich ansehen, dieser Unterton in ihrer Stimme." Er nickte resigniert. „Und ich wusste, dass es für dich noch viel schlimmer sein würde. Du wärest innerlich zerrissen gewesen, zwischen Loyalität und Verachtung. Das durfte ich dir nicht antun ... Das verstehst du doch, Baby, oder? Ich durfte nicht zulassen, dass meine Sünden dein Leben ruinieren. Ich musste akzeptieren, dass das, was Anne sagte, die Wahrheit war. An dem Tag, an dem ich beschloss, Geld zu nehmen, das mir nicht gehörte, habe ich auf jedes Recht an dir verzichtet." Als Whitney vehement den Kopf schüttelte und ihm widersprechen wollte, berührte er ihr Gesicht. „Deine Mutter hat es für dich getan. Verstehst du das denn nicht?" „Sie hatte kein Recht dazu", flüsterte Whitney scharf. „Sie hatte kein Recht. Ich habe an jedem Tag meines Lebens um dich getrauert. Das wusste sie. Sie wusste, wie sehr ich um dich geweint habe. O Daddy, sie wusste , dass ich dich gegen alle Harcourts der Welt eingetauscht hätte. Mutter wusste das." „Pst, Baby. " Erneut hob er die Hand und wischte ihr die Tränen von den Wangen. „Wenn du jemandem die Schuld an allem geben wills t, dann gib sie mir. Ich war so dumm und schwach." „Jeder macht mal einen Fehler", stieß sie hervor. „Man wirft Menschen nicht einfach weg, wie Abfall... egal, was sie getan haben. Sie hätte stärker sein können. Zusammen hätten wir drei es geschafft. Sie hätte..." „Niemand kann gegen seine Natur handeln", unterbrach er sie. „Deine Mutter hat einen ungeheuren Stolz. Das habe ich an ihr immer geliebt. O ja", fügte er hinzu, als Whitney verblüfft den Kopf hob, „Es ist falscher Stolz. Harcourt-Stolz." „In deinen und meinen Augen vielleicht, aber für Anne ist dieser Stolz alles. So ist sie nun einmal erzogen worden." Er legte die Arme um sie, und sie weinte an seiner Brust, leise, über die Sinnlosigkeit des Ganzen, die traurige, sinnlose Verschwendung von Liebe. Einen Moment später packte sie seinen Arm. „Du wirst mich doch nicht wieder verlassen? Ich brauche einen wirklichen, lebendigen Vater in meinem Leben. Und wir ... wir sind doch Freunde, nicht wahr?" Sie versuchte zu lächeln, schaffte es
aber nicht. „Man kann gar nicht genug Freunde haben." „Maid Mary", flüsterte er. „Deine Mutter weiß, dass du hier bist? In Dallas? Bei mir?" Sie nickte. „Ich nehme an, deshalb schreibt sie mir seit einiger Zeit nicht mehr." „Sie schreibt dir?" fragte Whitney mit ungläubigem Staunen. „Seit zwanzig Jahren, fast jede Woche." Lloyds Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. „Aber nie erwähnt sie die Vergangenheit. Sie erzählt mir von dir ... nicht in allen Einzelheiten, sondern nur, dass es dir gut geht und dass du schnell wächst, solche Sachen. Die Art von Briefen, die man einem Brieffreund schreiben würde." „Sie hat dir nicht mehr geschrieben, weil sie alle deine Briefe verbrannt hat, damit ich sie nicht sehe. Wie ich Mutter kenne, hat sie sich deine Adresse nirgendwo notiert." Sie lachte kurz und bitter. „Eine Brieffreundschaft, was? Du hättest uns schon vor Jahren abschreiben und eine neue Familie gründen sollen." Er lächelte. „Ich habe eine Familie. Du und deine Mutter, ihr gingt mir nie aus dem Kopf, nie aus dem Herzen. Und jetzt, wo du hier bist, wo du mich in dein Leben gelassen hast, reicht mir das. Es ist mehr, als ich mir jemals habe träumen lassen." Er küsste sie auf die Stirn, bevor er nach dem Türgriff tastete. „Ich glaube, jeder von uns muss jetzt eine Weile allein sein." Liebevoll lächelte er zu ihr hinunter. „Wir haben eine Menge nachzuholen, Maid Mary." Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, drehte Whitney sich um und sah Dean in dem dunklen Durchgang stehen, der zum Schlafzimmer führte. „Du hast alles gehört?" fragte Whitney ihn. Er nickte. „Hart. Hart für dich. Hart für ihn." Irgend etwas war nicht in Ordnung. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht deuten, aber irgend etwas in seiner Stimme beunruhigte sie. Seine Stimme war dumpf, tonlos, als hätte er plötzlich jedes Gefühl ausgeschaltet. Das Zittern traf sie vollkommen unvorbereitet, durchlief sie mit ungeahnter Heftigkeit, und obwohl es in der Wohnung warm war, spürte sie ein Frösteln, das tief aus ihrem Innern kam. Als er ins Wohnzimmer ging und sich in einen Sessel setzte, langsam, mit müden, schwerfälligen Bewegungen, folgte sie ihm. „Woran denkst du?" fragte sie und stieß ein nervöses Lachen aus. „Du klingst so seltsam." Er zuckte mit den Schultern. „Ich dachte daran, wie er sein Leben verschwendet hat. Seit zwanzig Jahren steht er auf der Schattenseite. Nicht tot, aber auch nicht ganz lebendig." Whitney setzte sich ihm zu Füßen auf den Boden. „Es muss schrecklich für ihn gewesen sein. Viel schrecklicher als für mich. Ich wusste ja nicht, dass er lebt, aber er wusste, dass es Mutter und mich gab. Er wusste, dass wir lebten, konnte aber nicht mit uns in Verbindung treten. Er gibt sich selbst die Schuld, weißt du. Er hat mal einen dummen Fehler gemacht und findet es nur gerecht, dass er für den Rest seines Lebens dafür bezahlt. Aber den allergrößten Fehler hat nicht er gemacht sondern Mutter." „Nein, da irrst du dich", widersprach Dean leise. „Sie hat das einzig Richtige getan. Unter den damaligen Umständen konnte sie gar nichts anderes tun." Verblüfft riss Whitney die Augen auf. „Du verteidigst sie? Sie hat mir den Vater geraubt. Wie kannst du dich nur auf ihre Seite stellen?" „Ich stelle mich auf die Seite von niemandem. Ich sage einfach nur, dass sie damals in eine Situation geraten ist, in der es nur Verlierer geben konnte. Und vielleicht sage ich sogar, dass es Lloyd war, der den allergrößten Fehler gemacht
hat. Nicht die Unterschlagung. Die meine ich nicht. Sein Fehler bestand darin, sich mit einer Frau wie ihr einzulassen. Er hätte wissen müssen, dass es nicht funktionieren würde." Whitney bekam plötzlich Angst. Und diese Angst hatte nicht nur mit dem zu tun, was er gesagt hatte. Es war vielmehr seine Einstellung, der Ausdruck auf seinem Gesicht, mit dem er absichtlich auf Distanz zu ihr zu gehen schien. Im nächsten Augenblick stand er abrupt auf. „Wir brauchen nicht heute Abend darüber zu reden. Du bist ausgelaugt. Du bist zu emotional." "Zu emotional?" Sie fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar. Verwirrung und eine plötzliche, unerklärliche Panik machten ihr das Denken schwer. „Ich habe gerade erst meinen Vater zurückbekommen. Das berechtigt mich doch wohl zu einigen Emotionen." Sie sprang auf. „Aber hier geht es nicht um meinen Vater oder um das, was vor zwanzig Jahren passiert ist, nicht wahr? Hier geht es um etwas anderes. Um etwas, das an dir nagt." Er starrte sie einen Moment lang an, dann wandte er sich zum Gehen. „Lass es uns bis morgen vertagen, ja?" „Geh nicht!" Die Worte klangen verzweifelt. Sie stellte sich hinter ihn, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Warum werde ich denn bloß dauernd von allen Leuten verlassen? Dean ... Dean, du musst mit mir reden. Jetzt und hier." Er wirbelte herum, seine Bewegungen waren steif und gezwungen, seine dunklen Augen blitzten vor Zorn. Und dann, vor ihren Augen erlosch das Feuer in ihnen. Jegliches Gefühl war aus ihnen verschwunden. „Ich weiß nicht, was du von mir hören willst", sagte er leise. „Zunächst einmal kannst du mir sagen, warum du bei deiner Einschätzung der Situation, in der meine Mutter und mein Vater sich befanden, kein Wort von Liebe gesagt hast." Ihre Stimme vibrierte vor Intensität. „Du hast angedeutet, dass ... du denkst, dass Daddy Mutter niemals hätte heiraten sollen. Aber du hast nichts davon gesagt, dass die beiden sich geliebt haben. Und es war auch keine lockere, flüchtige Liebe, Dean. Sie war stark genug und tief genug, um zwanzig Jahre der Trennung zu überdauern. Das bedeutet schon etwas. Ganz bestimmt bedeutet das etwas. Es bedeutet, dass die beiden .... dass die beiden sich wirklich geliebt haben, Dean." „Und was hat ihnen das eingebracht?" fragte er mit rauer Stimme. „Nichts. Diese alle Zeit überdauernde Liebe, von der du geredet hast, war zum Schluss gar nichts wert. Sie haben sich früher geliebt, sie lieben sich noch immer, aber hat das etwas geändert?" Er lachte verbittert. „Ihre Leben sind ruiniert, aber sie lieben sich dabei. Großartig." „Liebe ist großartig", flüsterte sie mit zitternder Stimme. „Ich liebe dich, und für mich ist das großartig." Er lachte, aber es war kein belustigtes oder freudiges Lachen. Es war voller Zorn und Bitterkeit. „Ja, du liebst mich", stieß er hervor. „Und das macht alles nur noch schlimmer." Dann kehrte er ihr den Rücken zu, und bevor sie ihn aufhalten konnte, ging er durchs Zimmer und verließ die Wohnung. Sie presste die Hand vor den Mund. Was war los? Wenige Minuten zuvor hatte sie noch geglaubt, dass sie beide zusammen glücklich waren. Sie war davon überzeugt gewesen, dass sie den Rest ihres Lebens zusammen verbringen würden. Jetzt stand sie allein in ihrem Wohnzimmer und hatte das Gefühl, Dean verloren zu haben. Und sie hatte keine Ahnung, wie es dazu gekommen war und aus welchem Grund. Sie drehte sich um, machte ein paar Schritte und ließ sich auf den Fußboden sinken. Sie lehnte den Rücken an die Couch, schloss die Augen und wehrte sich nicht mehr gegen das Zittern, das ihren Körper immer wieder durchlief.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte, als sie eine Hand an ihrem Kopf spürte. Sie schlug die Augen auf und sah Lloyd. Er kniete neben ihr und strich ihr sanft übers Haar, Liebe und Mitgefühl in den Augen. „Ich habe gesehen, dass Dean gegangen ist", sagte er. „Mir ist nicht entgangen, wie er aussah, und ich dachte mir, dies ist ein guter Zeitpunkt, um damit anzufangen, dein Vater zu sein." Er nahm sie in die Arme und zog sie mit sich auf die Couch. „Weine nicht so sehr, Liebes. Du machst dich nur krank damit." „Ich liebe ihn, Daddy", flüsterte sie hilflos. „Ich liebe ihn doch so sehr." Er wiegte sie in den Armen. „Ich weiß. Ich weiß, dass du ihn liebst, Kleines. Und Dean liebt dich auch, aber im Moment hat er eine panische Angst. Er kann keinen klaren Gedanken fassen. Für dich und mich ist er ein intelligenter, erfolgreicher Mann, aber Dean sieht sich offenbar anders. Er hat mal erzählt, dass er von der falschen Seite der Bahnlinie stammt. Damit meinte er das Müllkippenviertel, nicht wahr? Ein Leben voller Erniedrigung, Kränkung und Abweisung vergisst man nicht einfach, Whitney. Das kannst du mir glauben. Ein Teil von Dean wird wahrscheinlich immer der Junge aus dem Müllkippenviertel bleiben." Er strich ihr das Haar aus der Stirn und sah ihr in die Augen. „Dean hat mir von seiner Vergangenheit erzählt. Nicht viel, aber genug für mich, um zu wissen, wie es für ihn gewesen sein muss. Er hat schreckliche Angst, dass er eines Tages so wird wie sein Stiefvater." Als sie einen ungläubigen Laut ausstieß, drückte er ihre Hand. „Du hast recht ... du hast ja recht. Es ist unsinnig. Aber was ein Mensch im Kopf mit sich herumträgt, ist nicht immer realistisch. Dean weiß, was man ihm beigebracht hat. Dass schlechte Jungs aus den Slums nichts mit den netten Mädchen aus dem Millionärsviertel zu tun haben dürfen." „Das ist doch idiotisch. Das kann er doch nicht wirklich glauben. Er kennt mich, Daddy. Besser als jeder andere. Er weiß, dass es für mich auf der ganzen Welt niemanden außer ihm gibt. Und ich kenne ihn", sagte sie, und ihre Stimme zitterte schon weniger. „Wenn er das wirklich glaubt ... wenn er den Unsinn wirklich glaubt, dann braucht er mich. Er braucht mich, damit ich bei ihm sein kann und ihn daran erinnere, wer und was er ist. Der beste Mann, den ich kenne und den ich jemals kennen werde." Lloyd sah zur Seite, ließ sie los und stand auf. Er machte ein paar Schritte, kehrte ihr den Rücken zu. „Es ist wie eine Wiederholung im Fernsehen", murmelte er vor sich hin. „Sie hat mich auch geliebt. Sie hat mich so sehr geliebt." Hastig stand Whitney auf. Sie ging zu ihm, um ihn herum und baute sich vor ihm auf. „Ich bin nicht meine Mutter! Warum begreift das denn niemand? Ich bin nicht einmal eine Harcourt! Ich bin ich. Whitney Daryn Grant. Und das wird sich nur ändern, wenn ich den Namen Russell hinten anhänge. Keinen anderen Namen." Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. „Meine Liebe ist zäher als ihre, Daddy. Ich bin härter. Ich gebe nicht auf, wenn es schwierig wird." Sie drehte sich von ihm weg, wartete darauf, dass das Pochen hinter den Schläfen sich legte. Als sie sich besser fühlte, sah sie ihn an. „Wenn ich so aufgewachsen wäre wie Mutter, würde ich vielleicht so empfinden wie sie. Ich kann es mir zwar nicht vorstellen, aber ich nehme an, alles ist möglich. Tatsache ist jedoch, ich bin nicht so aufgewachsen. Sie haben zwar versucht, mich zu einer Harcourt zu machen ... du würdest es nicht glauben, wie sehr sie es versucht haben. Aber ich hatte Dean. Er war immer da, um mir zu zeigen, wie das Leben aussah. Das richtige Leben, nicht die gefälschte Harcourt-Version davon." Sie schüttelte bekräftigend den Kopf. „Selbst wenn sie Dean ins Gefängnis werfen würden, selbst wenn die ganze Welt ihn verachten würde, was glaubst du, wo ich dann wäre? Bei ihm, Daddy. Ganz nah bei ihm. Immer." Sie sprach das Wort so heftig aus, dass ihre Stimme zitterte. „So, wie ich bei dir gewesen wäre,
wenn jemand mir erzählt hätte, wie es in Wirklichkeit war. Bei dir und Mutter hat es nicht funktioniert. Das akzeptiere ich. Aber für andere hat es funktioniert. Wenn einem daran liegt, mehr als an allem anderen, dann kann man dafür sorgen, dass es funktioniert." Sie lachte gequält und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. „Du denkst, es ist vorbei, und Dean denkt, es ist vorbei, aber ich weiß es besser. Ich gebe nicht auf, Daddy. Ich kann es dir ebenso gut jetzt schon sagen. Ich habe auf Dean gewartet, seit ich ein kleines Mädchen war, und ich werde mich mit keinem anderen zufrieden geben. Ich werde ihn bekommen, und ich werde ihn behalten. Ich werde ihm auf die Nerven gehen und ihn zur Verzweiflung treiben und ihn verrückt machen, aber ich werde bei ihm bleiben. Ich werde bei ihm bleiben, und irgendwann wird er nachgeben." Diesmal klang ihr Lachen schon zuversichtlicher. „Ich kann ziemlich unwiderstehlich sein, wenn ich mir Mühe gebe. Dean weiß das. Es wird ihm nicht gefallen, aber ich werde ihn nicht nach seiner Meinung fragen. Ich werde bei ihm bleiben, bis ... bis er mir sagt, dass er mich nicht mehr liebt." „Dann wirst du wohl für immer bei mir bleiben müssen ... denn das werde ich dir nie sagen, Whitney." Die leisen Worte ließen sie zur Wohnungstür herumfahren. Dean stand keine drei Meter von ihr entfernt, den Blick auf ihr Gesicht gerichtet, forschend, suchend, mit fieberhafter Intensität. „Du hast alles gehört?" fragte sie und hob das Kinn. Er nickte. „Ich habe alles gehört." Er warf Lloyd einen Blick zu. „Ich glaube, sie meint es ernst." Lloyd lächelte. „Scheint mir auch so. Du hast mir selbst gesagt, dass sie ein zäher Teufel ist. Daran hättest du denken müssen." Er küsste Whitney auf die Stirn. „Wir sehe n uns morgen, meine Maid Mary." „Gute Nacht, Daddy." Ihre Stimme klang abwesend, denn sie starrte auf Deans Gesicht und spürte, wie die Distanz zwischen ihnen auf wundersame Weise geringer wurde. Als die Tür sich hinter Lloyd schloss, kam Dean auf sie zu. Hilflos hob er die Hände. „Lloyd hatte recht", sagte er leise. „Ich hatte wirklich eine panische Angst, Whit. Ich hatte Angst vor dem, was passieren würde. Vor dem, was passieren könnte. Ich hatte Angst vor dem, was die Zukunft uns bringen könnte. O Liebling, ich hatte schreckliche Angst, dich eines Tages zu verlieren. Und dann, als ich aus der Wohnung ging, wurde mir plötzlich bewusst, was für ein Idiot ich war. Ich war dabei, deine Liebe wegzuwerfen, das einzige, was mir wichtig ist. Und zwar weil ich dachte, ich werde nicht damit fertig, wenn sie mir irgendwann in der Zukunft wieder weggenommen wird." „Dummkopf ... Dummkopf." Die Worte waren wie eine Liebkosung, als Whitney zwischen seine Arme trat und mit den Lippen über sein Gesicht strich. „Ja, ich war ein Dummkopf. Vielleicht wird das, was wir zusammen haben, eines Tages auseinanderbrechen. Vielleicht steht mir Schmerz bevor, aber wenn ich dich bis dahin haben kann, ist es mir das wert." Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. „Ich hoffe, du siehst das auch so, Whitney. Es gibt Dinge, die du über mich nicht weißt. Du weißt nicht, dass ..." Er schüttelte den Kopf. „Es gibt hässliche Dinge, schwarze Punkte. Du musst wissen, dass es nicht immer einfach sein wird, mit mir zu leben, mich zu lieben." Whitney hob die Hand und berührte sein Gesicht, um die Sorgenfalte n zu glätten. Deans Unsicherheit würde nicht über Nacht verschwinden. Vielleicht würde sie nie ganz verschwinden. Sie würden beide daran arbeiten müssen, die Intimität zwischen ihnen am Leben zu erhalten. Die Intimität von Körper, Geist und Seele. Aber sie zweifelte keinen Moment daran, dass sie es schaffen würden. Dean zu
lieben war etwas, auf das sie nie verzichten würde. „Ich glaube, ich werde damit fertig", sagte sie und schmiegte sich an ihn. „Ich bin aus ziemlich zähem Material. Und Probleme, in die ich mich so richtig verbeißen kann, habe ich immer gemacht." Sie biss ihn zärtlich ins Kinn. „Dich zu lieben ... für dich da zu sein, wenn du mich brauchst... zu lernen, die beste Ehefrau zu sein, die dieser Planet je erlebt hat... jede Nacht in deinen Armen zu liegen ... mich von dir halten und berühren zu lassen ... mich von dir um den Verstand bringen zu lassen ... deine Kinder zu bekommen." Sie lachte, und es klang überglücklich. „Du hast recht, Dean, es wird nicht einfach. Aber du hast mir vor langer Zeit beigebracht, dass man sich einer Sache, die unausweichlich ist, stellen muss, ohne Klagen, ohne Zaudern." Sie spürte die Hitze, das Verlangen, das in ihm aufstieg, und presste ihren Körper gegen seinen. „Es wird harte Arbeit ", flüsterte sie an seinen Lippen, „aber irgend jemand muss sie tun." -ENDE