Stefan Tobler Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit
Stefan Tobler
Transnationalisierung nationaler Öffentl...
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Stefan Tobler Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit
Stefan Tobler
Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit Konfliktinduzierte Kommunikationsverdichtungen und kollektive Identitätsbildung in Europa
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2009 auf Antrag von Prof. Dr. Kurt Imhof und Prof. Dr. Barbara Pfetsch als Dissertation angenommen.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich | Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Redaktion: Michael Meiherhofer, http://www.textpoint.ch Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17260-6
Vorwort
Die Idee für dieses Buch entstand in Galicien im Sommer 2004, als ich mir erste Gedanken zum Konzept meiner Dissertation machte. Als mehrjähriger wissenschaftlicher Assistent am fög - Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich und als Projektleiter eines internationalen Issues Monitoring konnte ich mir ein genaues Bild davon machen, wie transnationale Diskurse empirisch zu vermessen sind. Und ich war überzeugt davon, dass sich eine europäische Öffentlichkeit nur konstituieren kann, wenn über nationale Grenzen hinweg transnationale Diskurse entstehen. Die grosse Herausforderung bestand darin, wie ein relativ gut beackertes Forschungsfeld mit Fragen zu konfrontieren sei, damit neue Erkenntnisse generiert werden können. Mir schien es und das ist auch heute noch der Fall, dies könne nur geleistet werden, wenn empirische Forschung theoriegeleitet betrieben werde. Aber welches heuristische Konzept von Öffentlichkeit soll einer europäischen Öffentlichkeit zugrunde gelegt und nach welchen Kriterien soll eine Operationalisierung vorgenommen werden, damit sich die empirischen Ergebnisse zu analytischen Regularitäten verdichten lassen? Es waren solche Überlegungen, die am Anfang eines oft mäandrierenden Forschungsprozesses standen, an dessen Ende im Sommer 2009 auf dem Monte Verità oberhalb Mendrisio schliesslich mit Erleichterung und Genugtuung die Früchte der Erkenntnis geerntet werden konnten. Dazu gilt all denjenigen mein grosser Dank, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Den Professoren Kurt Imhof und Barbara Pfetsch, die mich betreut und meine Dissertation abgenommen haben. Den langjährigen WegbegleiterInnen am fög: Mario Schranz, Mark Eisenegger, Marita Verbali, Jens Lucht, David Tréfás, Esther Kamber, Patrick Ettinger und Angelo Gisler. Meinen mich stets kulinarisch und logistisch unterstützenden Freunden und Freundinnen: Oliver Schlumpf, Beatrice Gut, Matthias Vonwil, Cora Stücheli, Jeanina Miskovic und Sidonia Clopath. Ein ganz spezieller Dank gilt Michael Meierhofer für das Lektorat. Meinen neuen ArbeitskollegInnen der Schweizerischen Bankiervereinigung, besonders Urs Roth und Sarah Mayer, bin ich für die Gewährung der grosszügen Auszeit während turbulenten Zeiten dankbar. Ein grosses Dankeschön gilt meiner Mutter Susanne Tobler und Alois Würsch sowie meinem Vater Urs Tobler und Edith Tobler für die nie in Frage gestellte Unterstützung während all der Jahre. An meine Schwiegereltern Pedro und Guillerma
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Vorwort
Méndez: Muchisimas gracias por vuestro apoyo. Dieses Buch widme ich meiner Familie: Susana, Leandra, Noam und Ramun. Ohne ihren Verzicht und ihre Entbehrung wäre es nicht möglich gewesen. Auf intensive Zeiten! Im November 2009
Inhaltsverzeichnis
1 Problemstellung ........................................................................................... 11 1.1 Antinomien einer Debatte ..................................................................... 11 1.2 Heuristik ............................................................................................... 14 1.3 Untersuchungsmaterial und Fragestellungen ........................................ 18 1.4 Aufbau der Arbeit ................................................................................. 19 2 Demokratie- und gesellschaftstheoretische Fundierung von Öffentlichkeit ............................................................................................... 23 2.1 Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit ............................ 25 2.1.1 Definition und normatives Leitbild ............................................. 25 2.1.2 Genese und Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit.................... 27 2.2 Kritik, Revisionen und arenatheoretische Implikationen ...................... 31 2.2.1 Pluralisierung des öffentlichkeitsstrukturellen Grundrisses ........ 32 2.2.2 Ausdifferenzierung nationaler Mediensysteme ........................... 35 2.2.3 Dynamisierung der Öffentlichkeit im Modus der Routine und Krise ............................................................................................ 39 2.3 Funktionen politischer Öffentlichkeit und normative Begründung ...... 41 2.3.1 Das Legitimationsproblem politischer Herrschaft ...................... 42 2.3.2 Funktionen von Öffentlichkeit im Licht unterschiedlicher normativer Ansätze ..................................................................... 44 2.4 Arenatheoretisches Öffentlichkeitsmodell ............................................ 48 2.4.1 Öffentlichkeitsstruktur und Arenen im demokratischen Nationalstaat................................................................................ 49 2.4.2 Nationale Medienarena und Kommunikationsereignisse ............ 54 3 Europäische Öffentlichkeit ......................................................................... 59 3.1 Die Defizitthese der Pessimisten .......................................................... 60 3.1.1 Das Legitimationsproblem der EU als Demokratiedefizit .......... 61 3.1.2 Das Demokratisierungsdefizit als Öffentlichkeits- und Identitätsdefizit............................................................................ 62 3.1.3 Im Trilemma von Demokratie-, Identitäts- und Öffentlichkeitsdefizit .................................................................. 65
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Inhaltsverzeichnis 3.2 Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit ................................... 70 3.2.1 Alternative Strukturmuster zur paneuropäischen Öffentlichkeit . 70 3.2.2 Dimensionen europäischer Kommunikation ............................... 73 3.2.3 Integrations- und Medienhypothese ............................................ 85 3.3 Konstitutionsbedingungen europäischer Öffentlichkeit........................ 87 3.3.1 Aktive und passive Öffentlichkeiten im sozialen Wandel .......... 88 3.3.2 Konfliktinduzierte transnationale Kommunikationsverdichtungen und Konstruktion kollektiver Identität ................ 95 3.3.3 Konflikthypothese ....................................................................... 99
4 Methodologie und Operationalisierung................................................... 101 4.1 Forschungsdesign zur Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit . 102 4.1.1 Kommunikationsereignisanalytik ............................................. 102 4.1.2 Europäische Kommunikationsereignisse .................................. 106 4.1.3 Politik- und Themenfelder ........................................................ 110 4.1.4 Untersuchungssample und Repräsentativität ............................ 110 4.2 Forschungsdesign zur „Zinsbesteuerungsdebatte“.............................. 113 4.2.1 Modultechnische Inhaltsanalyse ............................................... 113 4.2.2 Analyseeinheit „Artikel“ und „Sprecheräusserung“ ................. 114 4.2.3 Gegenstand der „Zinsbesteuerungsdebatte“ und Untersuchungssample ............................................................... 118 4.3 Operationalisierung der Dimensionen europäischer Kommunikation 121 4.3.1 Indikatoren zur EU-Politikbeobachtung ................................... 122 4.3.2 Indikatoren zur Diskurskonvergenz .......................................... 123 4.3.3 Indikatoren zum kommunikativen Austausch ........................... 124 4.3.4 Indikatoren zur kollektiven Identität ......................................... 125 5 Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit (1945-2006) .................... 127 5.1 Nachrichtengeografie der Schweizer Öffentlichkeit seit 1945 ........... 130 5.1.1 Nachrichtengeografie der Auslandberichterstattung ................. 132 5.1.2 Transnationalisierung der Inlandberichterstattung .................... 137 5.2 Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit im Integrationsprozess der Europäischen Union ......................................................... 138 5.2.1 Phasen des europäischen Integrationsprozesses ........................ 140 5.2.2 Die Europaberichterstattung im Kontext des EUIntegrationsprozesses ................................................................ 144 5.3 Politikfeldspezifische Besonderheiten ................................................ 156 5.3.1 Europäisierung der Politik- und Themenbereiche ..................... 157 5.4 Zusammenfassende Zwischenbilanz I ................................................ 166
Inhaltsverzeichnis 5.4.1 5.4.2 5.4.3
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Bilanz unter empirischen Gesichtspunkten ............................... 168 Bilanz unter analytischen Gesichtspunkten............................... 169 Bilanz unter normativen Gesichtspunkten ................................ 171
6 Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse: Zinsbesteuerungsdebatte .......................................................................... 173 6.1 Zeitgleiche Thematisierung des Gleichen in gleicher Weise .............. 176 6.1.1 Issue-Aufmerksamkeit: Politikkongruenz, transnationale Synchronität und nationale Relevanz ........................................ 177 6.1.2 Sprecherensembles: Sprechertypen und Diskurskoalitionen..... 190 6.1.3 Semantik – Kernbestand gemeinsam bewirtschafteter Frames und Vollständigkeit unterschiedlich begründeter Positionen .... 201 6.2 Transnationale Interdiskursivität ........................................................ 217 6.2.1 Resonanz auswärtiger Sprecher ................................................ 219 6.2.2 Interdiskursive Beziehungsstrukturen – Adressierung und Referenzierung .......................................................................... 229 6.3 Konstruktion kollektiver Identitäten ................................................... 239 6.3.1 Fremdtypisierungen .................................................................. 240 6.3.2 Inklusion in ein europäisches „Wir“ ......................................... 244 6.4 Zusammenfassende Zwischenbilanz II ............................................... 247 6.4.1 Öffentliche Kommunikation und Entscheidungshandeln in normativer Hinsicht................................................................... 249 6.4.2 Konfliktkommunikation und Konstruktion europäischer Identität ..................................................................................... 251 6.4.3 Konstruktionsleistung der Sprechertypen für ein gemeinsames Europa ....................................................................................... 255 7 Zusammenfassende Schlussbilanz ........................................................... 259 7.1 Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit als heuristisches Konzept ............................................................................................... 260 7.2 Level, Muster und Trends der Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten .................................................................................. 262 7.3 Diskursregularitäten............................................................................ 271 7.4 Demokratie- und integrationspolitische Implikationen....................... 276 7.5 Forschungsdesiderata.......................................................................... 282
Anhang samt Codierbücher findet sich unter OnlinePlus auf http://www.vs-verlag.de
1 Problemstellung
„Das Problem ist, dass wir keine europäische Öffentlichkeit haben und auch keine demokratisch legitimierten Kräfte, die den politischen Dialog über das beste Konzept für Europa auf übernationaler Ebene weiterentwickeln können. Wir haben immer noch keine europäischen Parteien, die eine Debatte über die Zukunft Europas austragen könnten. Weil es aber keine europäische Öffentlichkeit gibt, gibt es auch keine europäische Kommunikationsebene oder europäische Medien. EU-Abstimmungen drohen deshalb immer zu nationalen Abstimmungen zu verkommen.“1
Diese Arbeit befasst sich mit der Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeiten, genauer gesagt mit Fragen nach den Bedingungen, Ausmassen, Mustern sowie Entwicklungsperspektiven transnationaler Diskurse im europäischen Kontext. Auf diese Weise will sie einen Beitrag leisten zur „Debatte um die (Nicht-) Existenz einer europäischen Öffentlichkeit“ (Risse 2002). Diese Debatte ist, wie der zitierte Aufsatztitel des deutschen Politologen Thomas Risse auf den Punkt bringt, geprägt von Gegensätzlichkeiten und Widersprüchen, und zwar gleich auf mehreren Ebenen. 1.1 Antinomien einer Debatte Einigkeit besteht in der Feststellung, dass die europäische Union wirtschaftlich und politisch bereits weit integriert ist, dass aber die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit diesem Integrationsprozess hinterherhinke (Gerhards 1993; Latzer / Saurwein 2006). Die erste Antinomie setzt bereits hier auf einer grundsätzlichen Ebene an und berührt die Frage, ob sich eine europäische Öffentlichkeit überhaupt ausbilden kann oder nicht. Während insbesondere Staats- und Verfassungsrechtler, aber auch Politologen und Soziologen, von der Unüberwindbarkeit eines historisch angelegten europäischen Öffentlichkeitsdefizits ausgehen, halten andere die blosse Rede davon für reinen „Popanz“ (Eder 2000, 171), also für trügerisch, inszeniert, haltlos. Diese gegensätzlichen Einschätzun1
„Der frühere österreichische EU-Agrarkommissar Franz Fischler urteilt kritisch“, in: TagesAnzeiger, 11. Juni 2005.
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gen lassen sich allerdings nicht einfach nur auf unterschiedliche politische Einstellungen gegenüber der Europäischen Union als einer supranationalen Machtund Entscheidungsorganisation sui generis zurückführen. Genau so wichtig sind die unterschiedlichen theoretischen Öffentlichkeitskonzeptionen und die damit verbundenen normativen Erwartungen darüber, was eine Öffentlichkeit zu leisten hat. Orientiert man sich nämlich so am Konzept politischer Öffentlichkeiten, wie diese im Rahmen der demokratischen Nationalstaaten zur Entfaltung gelangt sind, und verbindet man damit die Erwartung, dass Öffentlichkeit im Sinn der Sichtbarkeit staatlichen Handelns für ein nicht begrenzbares Publikum der Staatsbürger Herrschaftskontrolle und politische Selbstbestimmung, mithin Meinungs- und Willensbildung ermöglichen soll, dann gibt es in der Tat, wie der eingangs zitierte frühere EU-Agrarminister Fischler beklagt, ein europäisches Öffentlichkeitsdefizit. Im Vergleich mit den demokratischen Nationalstaaten fehlen auf europäischer Ebene europäische Medien, die zur gleichen Zeit gleiche Inhalte an das Publikum verbreiten. Es fehlen weitgehend intermediäre europäische Akteure, welche Bedürfnisse und Sorgen der Bürger nationenübergreifend sammeln, aggregieren und in das supranationale Politiksystem der EU einspeisen. Es existiert aber auch kein europäischer Demos, der seine Angelegenheiten über das europäische Politiksystem geregelt haben will und der sich überhaupt als eine irgendwie zusammengehörende europäische Gemeinschaft wahrnimmt und artikuliert. Es fehlt also an den Strukturelementen einer einheitlichen paneuropäischen Öffentlichkeit; und es fehlt an kulturellem Bewusstsein einer europäischen Zusammengehörigkeit und einer gefühlten Identifikation mit dem politischen Gemeinwesen der Europäischen Union. Damit mangelt es an jenen Solidaritätsdispositionen, die für Mehrheitsentscheidungen in demokratischen Herrschaftsordnungen notwendig sind. Diesem Konzept einer auf die supranationale Ebene projizierten nationalen Öffentlichkeit steht ein konkurrierendes Konzept gegenüber, das eine europäische Öffentlichkeit als ein aus der Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeiten hervorgehendes Emergenzphänomen betrachtet. Hierbei braucht es nicht notwendig europäische Medien, europäische Akteure oder einen europäischen Demos, damit zeitgleich in Europa gemeinsame Angelegenheiten beobachtet und diskutiert werden. Dieses Konzept der Transnationalisierung respektive Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten hat sich denn auch als realistische Variante in der Forschung durchgesetzt und bestimmt die Suche nach den Spuren Europas und der Europäischen Union in der öffentlichen Kommunikation der europäischen Nationalstaaten. Aber selbst dann, wenn man sich auf dieses Konzept einer Transnationalisierung (Europäisierung) nationaler Öffentlichkeit festgelegt hat, eröffnen sich neue Antinomien. So ist zunächst die empirische Ebene von Befunden geprägt,
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die keine zu verallgemeinernden Aussagen darüber zulassen, ob nun eine europäische Öffentlichkeit existiert oder nicht, inwieweit sich nationale Öffentlichkeiten schon europäisiert haben oder ob sie sich gar interdiskursiv verschränken; – denn die Bandbreite dessen, was als Empirie vorliegt, beweist oder aber widerlegt das eine wie das andere. Und dann: Nach welchen normativen Massstäben sollten diese Befunde bewertet werden, wenn sie denn als empirisch gehaltvoll betrachtet würden – nach jenem des normativ anspruchsvolleren Diskursmodells oder des weniger anspruchsvolleren Spiegelmodells? Klarheit besteht darin, dass die widersprüchlichen empirischen Befunde „zu grossen Teilen Artefakte des Forschungsprozesses“ (Neidhardt 2006, 47) auf der methodologischen Ebene sind. Nach welchen methodischen Kriterien aber soll man Öffentlichkeit operationalisieren und vermessen? Wann ist sie europäisch, wann sind Diskurse transnational? Sofern man eine europäische Medienöffentlichkeit im Blick hat, wie sieht eine repräsentative Stichprobe aus? Sollen nur Zeitungen erfasst oder müssen auch Fernsehen, Radio und Internet erhoben werden? Wenn nur Zeitungen, dann Qualitätszeitungen oder auch Boulevardmedien und andere Zeitungsgenres? Und selbst auf dieser Ebene können die forschungsrelevanten Entscheidungen immer noch erheblich variieren: Sollen alle Textsorten berücksichtigt werden oder reicht es aus, wenn man sich beispielsweise auf Kommentare beschränkt? Kann man sich dabei mit der Erfassung des Titels zufrieden geben oder ist der gesamte Artikelinhalt zu codieren? Nochmals von einer anderen Qualität sind Fragen, die die Auswahl der zu untersuchenden Öffentlichkeitsarenen und die Zeiträume betreffen. Und schliesslich: Soll nach einem induktiven oder deduktiven Samplingverfahren vorgegangen werden, und wenn nach vorgängig bestimmten Kriterien einzelne Diskurse auswählt werden, dann welche? Aber warum sollte man sich für das alles überhaupt interessieren? Wieso ist es relevant, ob eine europäische Öffentlichkeit existiert oder nicht? Eine Antwort darauf findet man auf dem Feld der Politikwissenschaften und bei normativen Demokratietheorien. Da mit der Europäischen Union ein zunehmend supranationaleres Governance- und Entscheidungssystem entstanden ist, das weit in die Kompetenzbereiche der Nationalstaaten hineingreift und in vielen Politikfeldern gar darüber steht, stellt sich die Problematik der Legitimität europäischen Regierens und Entscheidens (u. v. Jachtenfuchs 1997, Scharpf 1999a, 1999b; Benz 2003). Das Legitimitätsproblem politischer Herrschaft, mit dem sich bereits die absolutistischen Herrschaftssysteme an der Schwelle zur Moderne konfrontiert sahen, wurde in den letzten beiden Jahrhunderten gelöst durch eine Demokratisierung in all ihren verschiedenen Facetten, was jene Vielfalt von demokratischen Nationalstaaten hervorbrachte, wie wir sie heute kennen. Im Zug der stetig voranschreitenden Kompetenzdelegation an die supranationale Ebene wiederholt sich nun das Problem mangelnder Legitimität erneut und der Ruf nach mehr
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Demokratie für die Europäische Union steht wiederum an der Wurzel einer Lösung. Aber lässt sich die Europäische Union überhaupt in vergleichbarer Weise demokratisieren? Die historische Erfahrung lehrt, dass Demokratisierung ohne gleichzeitige Ausbildung einer politischen Öffentlichkeit nicht möglich ist (Habermas 1962; Ernst 1998). Wo kein politischer Raum für Auseinandersetzungen über die gemeinsamen Anliegen und Angelegenheiten existiert, sind weder die für die Demokratie notwendige Herrschaftskontrolle noch Partizipation und somit auch keine Meinungs- und Willensbildung möglich (Kohler 1999). Damit gewinnt die Frage nach der (Nicht-)Existenz einer europäischen Öffentlichkeit schon an politischer Relevanz und Dringlichkeit. Doch ist unter Bedingungen fehlender Strukturelemente einer europäischen Öffentlichkeit eine Öffentlichkeit von Europa, die mehr als nur das Kaleidoskop der nationalen Öffentlichkeiten zum Ausdruck bringt, empirisch realistisch? Damit sind wir wieder bei den anfangs gestellten Fragen angelangt. 1.2 Heuristik Diese Arbeit geht davon aus und wird auch aufzeigen, dass es transnationale Diskurse in Europa bereits gibt. Doch verfügen wir über vergleichsweise wenig gesichertes Wissen. Wir wissen beispielsweise wenig, unter welchen Bedingungen Diskurse entstehen, die nicht nur grenzüberschreitend geführt, sondern darüber hinaus auch noch von einem europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstsein getragen werden. Auch wissen wir nicht genau, welchen Level die Europäisierung in nationalen Öffentlichkeiten bereits erreicht hat und ob es einen Trend in Richtung mehr Europäisierung gibt oder nicht. Solange keine hinreichend gesicherten Kenntnisse über die (Nicht-)Existenz einer europäischen Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, wird eine europabezogene Öffentlichkeitsforschung kaum Gehaltvolles zur Debatte über die politische Zukunft der Europäischen Union beitragen können. Erhellende Antworten lassen sich indes nur finden, wenn Theoriebildung und Operationalisierung „besser“ werden. So hat es sich diese Arbeit mitunter zum Ziel gesetzt, das, was ich bei einer früheren Gelegenheit als „methodologisches Babylon“ (Tobler 2006a, 107) bezeichnet habe, mit einem holistischen Ansatz zu konfrontieren, der es erlaubt, die soziale Wirklichkeit transnationaler Kommunikation im Kontext Europas in ihrer Vielfältigkeit erfassen, beschreiben und interpretieren zu können. Friedhelm Neidhardt zufolge wird eine Theorie dann „besser“, wenn sie aus ihrer Antinomie, wenn sie aus den skizzierten Widersprüchen befreit und sensibilisiert wird gegenüber graduell und dimensional unterschiedlichen Ausprägungen bereits beobachtbarer transnationaler Kommu-
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nikation (Neidhardt 2006, 53). Während ich nun damit beschäftigt war, einen solchen, auf Indikatoren gestützten, mehrdimensionalen Ansatz zu entwickeln und diesen an empirischem Material zu falsifizieren, hat die Bremer Forschungsgruppe um Hartmut Wessler und den leider viel zu früh verstorbenen Bernhard Peters die Ergebnisse einer umfangreichen Studie in einem ausgezeichneten Buch publiziert.2 Diese Studie legt nicht nur erstmals eine relativ lange Zeitreihe vor, mittels der sich Level, Trend und Muster der Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeiten in Europa bestimmen lassen, sie verwendet auch eine Heuristik, die in fast identischer Weise dem dieser Arbeit zugrunde gelegten und in meinen früheren Publikationen (2006a, 2006b) bereits skizzierten Ansatz entspricht. Zudem erlaubt die Studie die Formulierung von zwei Hypothesen, die sich bei aller Heterogenität aus den bisherigen empirischen Befunden ableiten lassen: eine Integrations- und eine Medienhypothese. Die Integrationshypothese beschreibt zwei Zusammenhänge: Je früher erstens ein Land der Europäischen Union beigetreten und je umfassender diese Integration ist, desto deutlicher und ausgeprägter zeigt sich die Europäisierung in der Berichterstattung dieses Landes (ebenso Pfetsch / Adam / Eschner 2008). Je stärker zweitens ein Politikfeld vergemeinschaftet, je grösser also die Entscheidungskompetenz der EU ist, desto mehr europäisiert sich die Berichterstattung darüber (ebenso Koopmans 2004b). Die Medienhypothese hält fest, dass Medien als Motoren oder Hindernisse im Konstruktionsprozess eines gemeinsamen Europas eine zentrale Rolle spielen, wobei Journalisten im Vergleich mit anderen Sprechertypen als Motoren gelten (sie auch Koopmans / Pfetsch 2006). Damit hat sich die Ausgangslage mit Bezug auf die Zielsetzungen dieser Arbeit etwas verändert, denn: Wenn verschiedene Personen in der Auseinandersetzung mit der gleichen Forschungsliteratur und dem gleichen Gegenstand unabhängig voneinander zu einer gleichen Methodologie gelangen, dann scheint die Suche nach einer „besseren“ Theorie im Sinn von Hansjörg Siegenthaler (2003) einen evolutiven Lernschritt vollzogen zu haben. Indem unterschiedliches empirisches Material in vergleichbarer Weise operationalisiert wird, lassen sich Gemeinsamkeiten und Differenzen in den empirischen Befunden im Licht der gleichen Theorie erklären, wodurch der Erkenntnisgewinn gesteigert wird. Die in dieser Arbeit entwickelte Heuristik besteht aus vier Theoriebausteinen, die kurz eingeführt werden sollen: Erstens wird Öffentlichkeit definiert als ein sozialer Raum für kommunikative Auseinandersetzungen über gemeinsame Angelegenheiten. Dabei soll öffentliche Kommunikation in normativer Hinsicht zur Kontrolle von und Kritik an Herrschaftspositionen beitragen, politische Steuerung ermöglichen und über 2
Wessler et al. (2008): Transnationalization of Public Spheres.
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Partizipationschancen an den öffentlichen Auseinandersetzungen eine Integration der Bürgerinnen und Bürger in die Gesellschaft leisten. Zweitens wird Öffentlichkeit arenatheoretisch modelliert als vielschichtiger Kommunikationsraum, der in unterschiedliche Öffentlichkeitsarenen differenziert und nach Öffentlichkeitsebenen hierarchisch gegliedert ist. Nationale Öffentlichkeiten sind in der nationalen Medienarena zentriert, gehen darin jedoch nicht auf. Aber nur in der nationalen Medienarena werden in Gestalt von Kommunikationsereignissen jene Themen oder Diskurse produziert, die auch für alle gleichermassen sichtbar sind und somit Anschlusskommunikation in weiteren Arenen und auf anderen Ebenen einer nationalen Öffentlichkeit ermöglichen. Dabei gelten Kommunikationsereignisse als „Medium der Selbstreferenz der Gesellschaft“ (Imhof 1996a, 3) und sind vereinfacht gesagt als Berichterstattungsabfolgen zum gleichen Thema oder Gegenstand definiert. Aus einer europäischen Perspektive existieren somit nationale Öffentlichkeiten als segmentär differenzierte Kommunikationsräume parallel nebeneinander. Da es in Europa, wie bereits erwähnt, weitgehend an den Strukturelementen einer einheitlichen, die nationalen Kommunikationsräume überwölbenden europäische Öffentlichkeit fehlt, ist europäische Öffentlichkeit als kommunikative Durchdringung, Verschränkung oder Überlappung der nationalen Kommunikationsräume und supranationalen Arenen zu modellieren. Auf diese Weise entstehen transnational verdichtete Kommunikationszonen, die man als „partikulare Emergenzphänomene“ (Pfetsch 2006, 232) bezeichnen kann. Diese Kommunikationszonen lassen sich drittens entlang sozial zunehmend voraussetzungsreicheren Dimensionen europäischer Kommunikation operationalisieren:
Auf der untersten Stufe zeichnet sich eine transnational verdichtete Kommunikationszone aus durch die Beobachtung von Vorgängen und Debatten in anderen Ländern durch die Medien eines Landes, was publizistisch in der Auslandberichterstattung seine Entsprechung findet. Diese Zone ist umso europäischer, je mehr die Medien eines europäischen Landes Vorgänge und Debatten beobachten und darüber berichten, die in anderen europäischen Ländern stattfinden. Von besonderer Bedeutung sind dabei Debatten, welche die EU-Politik dieser Länder betreffen. Darauf aufbauend gewinnt eine transnational verdichtete Kommunikationszone durch zeitgleiche Thematisierung des Gleichen unter gleichen (ähnlichen) Relevanzgesichtspunkten (Eder / Kantner 2000) an Konturen. Diese Zone gilt als umso europäischer, je mehr europäische Kommunikationsereignisse in den verschiedenen nationalen Medienarenen zeitgleiche Resonanz erzielen. Europäisch sind Kommunikationsereignisse, wenn sie sich
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auf die Politik der Europäischen Union, auf Europa oder auf die nationale Europapolitik eines Landes beziehen. Auf der dritten Stufe ist die Verdichtungszone charakterisiert durch kommunikative Austauschprozesse zwischen den Akteuren der verschiedenen nationalen und / oder auch supranationalen Arenen der EU. Solche transnationale Interdiskursivität ist umso europäischer, je mehr EU-Sprecher (vertikale Europäisierung) oder Sprecher aus europäischen Ländern (horizontale Europäisierung) als auswärtige Sprecher in anderen Medienarenen zu Wort kommen. Zusätzlich können sich diese Sprecher in ihren Sprechakten wechselseitig adressieren und referenzieren. Auf der vierten Stufe kann sich im Vollzug transnationaler Diskurse auch ein europäisches Identitätsgefühl und Zusammengehörigkeitsbewusstsein ausbilden, indem sich Sprecher mit europäischen WIR-Bezügen gegenüber anderen sozialen Bezugsgruppen abgrenzen.
Diese Strukturperspektive ist viertens durch eine Prozessperspektive zu erweitern. Dies lässt sich im Rahmen einer kommunikationstheoretisch und öffentlichkeitssoziologisch fundierten Theorie sozialen Wandels einlösen (Imhof / Romano 1996). Auf diese Weise geraten Zusammenhänge zwischen den zeithistorischen Aufmerksamkeits- und Relevanzstrukturen einerseits und krisen- bzw. konfliktinduzierten Kommunikationsverdichtungen andererseits in den Blick. Das erlaubt die Untersuchung von Konstitutionsbedingungen transnationaler Öffentlichkeiten aus der Makroperspektive von Gesellschaft als Formierung aktiver Öffentlichkeiten. Es liesse sich unter diesen Gesichtspunkten eine im Entstehen begriffene europäische Öffentlichkeit dann erkennen, wenn sich „transnationale Kommunikationsverdichtungen“ (Tobler 2002b) in Gestalt von europäischen Kommunikationsereignissen erstens häufen, zweitens sozialräumlich über alle nationalen Öffentlichkeiten Europas hinweg ausdehnen und drittens transnationale Diskurskoalitionen formieren sollten, die nicht nur als auswärtige Sprecher Resonanz in anderen Öffentlichkeiten erzeugen, sondern sich auch wechselseitig im Namen eines europäischen „Wir“ adressieren würden. Damit wird deutlich, dass europäische Öffentlichkeit nur als graduelles, multidimensionales und zugleich prozessuales Phänomen zu modellieren ist (Neidhardt 2006, 53; Latzer / Saurwein 2006).
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1.3 Untersuchungsmaterial und Fragestellungen Die entwickelte Heuristik wird an empirisch unterschiedlichem Material getestet. Eine erste Fallstudie basiert auf einer induktiven Erhebung der jährlich je zwanzig grössten Kommunikationsereignisse von vier Schweizer Zeitungen im Zeitraum von 1945 bis 2006. Damit gelangen diejenigen Diskurse und Thematisierungen in den Blick, die unter dem Gesichtspunkt medialer Aufmerksamkeit von zeithistorischer Relevanz waren und die öffentlichen Auseinandersetzungen der jeweiligen Zeit prägten, was zu untersuchen erlaubt, wann sich die Schweizer Öffentlichkeit wie stark europäisiert hat oder eben nicht und v. a. warum (Europäisierung Schweizer Öffentlichkeit). Die zweite Fallstudie betrifft eine vergleichende Analyse der Berichterstattung britischer, deutscher, französischer und schweizerischer Medien über die Einführung einer europäischen Zinsbesteuerung im Zeitraum von 1996 bis 2005 („Zinsbesteuerungsdebatte“). Dieser Analyse liegt somit ein europäisches Kommunikationsereignis zugrunde, dessen Berichterstattung nach einem deduktiven Samplingverfahren „gezogen“ wurde. Dieses Kommunikationsereignis scheint gerade deshalb ein instruktiver Fall zu bilden, weil sich die Debatte erstens auf ein Issue eines nicht vergemeinschafteten Politikfelds bezieht, womit viel nationale Idiosynkrasie zu erwarten ist. Zweitens ist die Debatte durch zwei fundamental verschiedene Konfliktkonstellationen gekennzeichnet. In einer ersten Phase bestand ein Konflikt unter den EU-Staaten, in einer zweiten Phase kam die Konfliktlinie zwischen die EU und die Schweiz sowie wie weitere Drittstaaten zu liegen. Diese beiden Fallstudien eröffnen nun ein weites Feld von Forschungsfragen, die einerseits den Bestand an gesichert geltendem Wissen über die Transnationalisierung respektive Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten überprüfen lassen und andererseits völlig neue Fragestellungen ermöglichen. Insbesondere möchte ich die Integrationshypothese mit einer Konflikthypothese konfrontieren. Diese besagt, dass transnationale Konfliktkonstellationen zu transnationalen Kommunikationsverdichtungen führen können, wogegen Öffentlichkeit bei Politikgestaltung im Modus der Routine nicht anspringt (Neidhardt 2006, Tobler 2006a, Berkel 2006, Saurwein et al. 2006, Imhof 2002a). Die Integrations- und Konflikthypothese schliessen sich gegenseitig nicht aus, die Frage ist jedoch, was sie mit Bezug auf die Transnationalisierung respektive Europäisierung der nationalen Öffentlichkeit je für sich erklären. Gemäss der Integrationshypothese sollte beispielsweise der Level der Europaberichterstattung oder das Ausmass des formulierten Europabewusstseins mit der zunehmenden wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Integration der Europäischen Union zunehmen. Die Europaberichterstattung sollte also im langjährigen Zeitverlauf durch einen
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Trend zu mehr Europa und Europäische Union bestimmt sein. Gemäss der Konflikthypothese steigt die Europaberichterstattung, wenn zwischen den EUMitgliedstaaten untereinander oder zwischen der EU und Drittstaaten ein Konflikt ausgetragen wird. Aber nicht jeder Konflikt führt zu gleich starker Resonanz. Die Konfliktwahrnehmung ergibt sich massgeblich aus den zeithistorisch variablen Relevanzstrukturen. Mit Bezug auf die langjährige Europaberichterstattung lässt dies erwarten, dass Europa und die Europäische Union wahrscheinlich diskontinuierlich im zeithistorischen Kontext konfliktinduzierter Bedrohungsperzeptionen thematisiert werden. Dazu stellt sich dann unter anderem die konkrete Frage, was die Tatsache konfliktinduzierter Kommunikation auf die Ausbildung eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins zur Folge hat. Schliesslich ergeben sich durch den kontrastiven Ansatz mit dem Einbezug von Schweizer Medien ins Untersuchungssample erkenntnisleitend gleichermassen spannende wie lohnende Vergleichsmöglichkeiten mit der Europaberichterstattung von EU-Ländern. Wenn die Integrationshypothese richtig ist, dann müssten sich in den Öffentlichkeiten der EU-Länder eigentlich stärkere Spuren einer Europäisierung als in der Schweiz nachweisen lassen. Ein Vergleich der langen Zeitreihe zur „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“ mit Zeitreihen vorhandener Studien über andere Länder sowie der unmittelbare Vergleich der schweizerischen Berichterstattung mit den Berichterstattungen der EU-Länder über die „Zinsbesteuerungsdebatte“ gibt darüber Auskunft. Summa summarum verspricht diese Arbeit einen dreifachen Beitrag zu leisten: Erstens entwickelt sie eine theoriegeleitete Heuristik, mittels der sich die Vielfalt transnationaler Kommunikation in Europa oder anderswo adäquat erfassen lässt. Zweitens werden verschiedenste Fragestellungen im Spannungsfeld von Integrationshypothese und Konflikthypothese untersucht, um den bisherigen Forschungsstand zu konsolidieren. Drittens wird erstmals untersucht, wie sich die Deutschschweizer Öffentlichkeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs europäisiert hat und nach welcher Logik diese Europäisierung stattfindet. 1.4 Aufbau der Arbeit Diese Arbeit gliedert sich in zwei Teile und eine zusammenfassende Schlussbilanz. Im ersten Teil wird die erkenntnisleitende Heuristik in zwei theoretischen Kapiteln und einem methodischen Kapitel Schritt für Schritt entfaltet. Zunächst wird der Sinn von Öffentlichkeit demokratietheoretisch und gesellschaftstheoretisch fundiert. Dies geschieht entlang einer Besprechung der von Jürgen Habermas rekonstruierten bürgerlichen Öffentlichkeit als normativer Idealtypus einer „politisch fungierenden Öffentlichkeit“ (2.1). Über drei Revisionsvorschläge
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(2.2) und der Analyse der Funktionen öffentlicher Kommunikation im Kontext demokratischer Herrschaft (2.3) führt das Kapitel schliesslich zur Beschreibung einer arenatheoretisch modellierten Öffentlichkeitsstruktur nationaler Kommunikationsräume (2.4). Das dritten Kapitel befasst sich mit der Debatte über die (Nicht-)Existenz einer europäischen Öffentlichkeit und skizziert ein Konzept, wie sich europäische Öffentlichkeit entlang verschiedener Dimensionen europäischer Kommunikation als Transnationalisierung nationaler Kommunikationsräume und supranationaler Arenen beschreiben und operationalisieren lässt. Es beginnt mit der Entfaltung der Defizitthese der Pessimisten und umreisst das Trilemma des Demokratie-, Öffentlichkeits- und Identitätsdefizits der Europäischen Union (3.1). Im nächsten Schritt wird dieser pessimistischen Sichtweise das Konzept der Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit gegenübergestellt; es werden weiter die Dimensionen europäischer Kommunikation besprochen und die Integrations- und Medienhypothese wird eingeführt (3.2). Das Kapitel endet mit Überlegungen dazu, unter welchen Bedingungen sich, angesichts fehlender Strukturelemente einer europäischen Öffentlichkeit, die öffentliche Kommunikation transnational verdichtet und interdiskursiv verschränkt. Auf dem Hintergrund einer öffentlichkeitssoziologisch begründeten Theorie sozialen Wandels wird zu plausibilisieren versucht, dass transnationale Konfliktkonstellationen zu konfliktinduzierten transnationalen Kommunikationsverdichtungen führen. Theoretisch stellt sich dazu jedoch die Frage, wie sich Konfliktkommunikation unter EU-Staaten auf die Ausbildung eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins und einer Identifikation mit dem politischen Gemeinwesen der Europäischen Union auswirken. Das Kapitel wird mit der näheren Beschreibung der Konflikthypothese abgeschlossen (3.3). Die theoretischen Überlegungen führen im vierten Kapitel über zur Methodik und Beschreibung der Forschungsdesigns der beiden empirischen Teilstudien. In einem ersten Schritt wird mit der Kommunikationsereignisanalytik das Verfahren und das Forschungsdesign zur Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit vorgestellt (4.1). Die Analyse der „Zinsbesteuerungsdebatte“ geschieht mittels einer modultechnischen Inhaltsanalyse, die in einem zweiten Schritt vorgestellt wird (4.2). Die methodologische Darstellung wird mit der Operationalisierung der Dimensionen europäischer Kommunikation beendet (4.3). Im zweiten Teil werden die empirischen Ergebnisse zu den beiden Teilstudien vorgestellt und kontextualisiert. Die erste Studie zur Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit beginnt mit der Darstellung der langfristigen Entwicklungen der Ausland- und Inlandberichterstattung (5.1). Es folgt eine Rekonstruktion der medialen Aufmerksamkeitsfokussierung auf europäische Kommunikationsereignisse entlang des Integrationsprozesses der Europäischen Union (5.2).
Problemstellung
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Eine politikfeldspezifische Analyse gibt sodann Auskunft, in welchen thematischen Bereichen sich die öffentliche Kommunikation der untersuchten Schweizer Leitmedien europäisiert hat (5.3). Das Kapitel schliesst mit einer zusammenfassenden Zwischenbilanz unter empirischen, analytischen und normativen Gesichtspunkten (5.4). Das sechste Kapitel stellt die Ergebnisse der zweiten Studie über die „Zinsbesteuerungsdebatte“ ins Zentrum. Dabei handelt es sich um ein europäisches Kommunikationsereignis, das in den vier untersuchten Medienarenen der Länder Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und der Schweiz zeitgleiche Resonanz erzeugt hat. In einem ersten Schritt werden die Ergebnisse zu den Indikatoren der Diskurskonvergenz dargestellt (6.1). Es folgt eine analoge Darstellung der Ergebnisse zu den Indikatoren des kommunikativen Austauschs (6.2). Im dritten Schritt werden dann ebenso die Ergebnisse zu den Indikatoren der kollektiven Identität vorgestellt (6.3). Auch dieses Kapitel schliesst mit einer zusammenfassenden Zwischenbilanz, indem es die Ergebnisse unter drei Gesichtspunkten bilanziert. Dabei interessiert erstens die Frage nach dem Zusammenspiel der öffentlichen Kommunikation und politischem Entscheidungshandeln auf europäischer Ebene. Zweitens interessiert der Zusammenhang zwischen Konfliktkommunikation und der Konstruktion nationaler und europäischer kollektiver Identitäten. Drittens interessiert die Frage, welche Rollen die verschiedenen Sprechertypen in der sozialen Konstruktion Europas spielen (6.4). Die Arbeit wird mit einer zusammenfassenden Schlussbilanz abgeschlossen. Dabei wird zuerst noch einmal auf das heuristische Konzept einer europäischen Öffentlichkeit als Transnationalisierung nationaler Kommunikationsräume und supranationaler Arenen sowie auf die zentralen Fragestellungen im Spannungsfeld der Integrations- und Konflikthypothese rekurriert (7.1). Es folgt eine synthetisierte Bilanzierung der Ergebnisse zu allen Indikatoren bezüglich Levels, Musters und – wo möglich – Trends der Europäisierung öffentlicher Kommunikation sowie eine Beantwortung der Frage, was jeweils die Integrations- respektive Konflikthypothese zu erklären vermag (7.2). Diese Besprechung mündet in die Formulierung von neun Diskursregularitäten im Kontext transnationaler Kommunikation in Europa sowie zu vier europapolitischen Diskursregularitäten im Kontext der Schweizer Öffentlichkeit (7.3). Auf diesem Hintergrund lassen sich tentative Überlegungen anstellen, was dies für eine Demokratisierung der Europäischen Union einerseits und für den Bilateralismus der Schweiz andererseits zur Folge haben könnte (7.4). Die Arbeit endet mit der Formulierung eines Forschungsdesideratums (7.5) .
2 Demokratie- und gesellschaftstheoretische Fundierung von Öffentlichkeit
Die einleitend geschilderten Antinomien der europabezogenen Öffentlichkeitsforschung erfordern eine vorgängige sozialwissenschaftliche und demokratietheoretische Fundierung des Begriffs Öffentlichkeit. Dass dieser „nicht zum klassischen Kanon sozialwissenschaftlicher Theorien“ (Neidhardt 2006, 46) gehört, macht dieses Vorhaben nicht leichter, verweist aber auf die zwingende Notwendigkeit einer analytischen Schärfung. Gegen eine konsistente Theoriebildung wirkt vorab der Umstand, dass mit Öffentlichkeit umgangssprachlich sehr verschiedene Substrate bezeichnet werden: Öffentlichkeit als Raum der politischen Auseinandersetzung oder der sozialen Integration; Öffentlichkeit als kritische Instanz der Herrschaftskontrolle und Medium demokratischer Selbststeuerung oder Öffentlichkeit im Kollektivsingular als Träger der öffentlichen Meinung. 3 Andererseits stehen einer Kanonisierung begriffsgeschichtlich unterschiedliche Bedeutungshorizonte im Weg: In Abgrenzung zum Privaten meint öffentlich das allen Gemeinsame und wird seit Ende des 17. Jahrhunderts auf das Staatliche bezogen. In Abgrenzung zum Geheimen meint öffentlich das Offensichtliche und wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Vernünftigen und moralisch Richtigen assoziiert. Im Selbstverständnis der Aufklärungsbewegung verschmelzen beide Bedeutungshorizonte im Begriff des bürgerlichen Publikums, das sich gegenüber einer als unmoralisch wahrgenommenen Staatsgewalt als Träger der kritischen öffentlichen Meinung sieht und in der, im gemeinsamen Diskurs erzeugten, öffentlichen Meinung dasjenige Medium erkennt, welches Herrschaftskontrolle und politische Selbstbestimmung zugleich ermöglicht. Mit dieser etymologischen Bestandsaufnahme bleibt indes die zentrale Ursache für die Sperrigkeit einer sozialwissenschaftlichen Kanonisierung des Begriffs Öffentlichkeit noch weitgehend unberührt. Verantwortlich für die Verwirrung ist paradoxerweise jene ausserordentlich stark beachtete Arbeit, die dem Thema Öffentlichkeit überhaupt zu seiner Publizität und Popularität in den Sozial- und Geisteswissenschaften verholfen hat: die 1962 von Jürgen Habermas publizierte Habilitationsschrift über den STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT. 3
Eine umfassende Begriffsanalyse liefert Hölscher 1978, 1979; vgl. auch Peters 1994, Imhof 1996a, Kohler 1999.
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Darin verschmilzt Habermas eine an der politischen Philosophie orientierte normative Kategorie mit einer historischen Kategorie von Öffentlichkeit, indem er die bürgerliche Öffentlichkeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zum normativen Idealtypus einer „politisch fungierenden Öffentlichkeit“ schlechthin erhebt, in dessen Perspektive der historische Strukturwandel der Öffentlichkeit dann als Verfallsprozess diagnostiziert wird. Neuere, vor allem historische Untersuchungen zeigen indes, dass weder Genese noch Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit in der von Habermas beschriebenen Weise aufrechtzuerhalten sind (Gestrich 2006, Kleinsteuber 2004). Allerdings würde man das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man wie Niklas Luhmann so weit ginge, dem öffentlichen Diskurs jegliches Potenzial zur Verständigung und Rationalisierung von politischen Entscheidungen und politischer Herrschaft abzusprechen (Luhmann 2002, 282ff.). Heuristisch sinnvoll erscheint dagegen ein Vorgehen, das zwischen einer normativen und empirischen Kategorie von Öffentlichkeit analytisch strikt unterscheidet (Imhof 1996a). Unter normativen Gesichtspunkten gilt es zu fragen, wie Öffentlichkeit bzw. die im Medium der öffentlichen Kommunikation erzeugte öffentliche Meinung beschaffen sein muss, damit sie die für das Funktionieren einer Demokratie notwendige Herrschaftskontrolle und politische Selbstbestimmung ermöglichen kann. Unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Demokratietheorien und normativer Öffentlichkeitsmodelle lässt sich dies durchaus kontrovers diskutieren. Allerdings lassen sich diese beiden Funktionen der Ermöglichung von Herrschaftskontrolle und politischer Selbstbestimmung nicht in beliebiger Weise, gleichsam von aussen, an politische Öffentlichkeiten herantragen und durch andere substituieren. Sie erlangen nämlich ihre Geltung durch den Prozess der Demokratisierung, der im Bewusstsein der Akteure betrieben worden ist, selbst und sind somit mit der Demokratie als eine von den Bürgern selbst gewollte Herrschaftsform untrennbar verknüpft. Würde man eine Demokratie ihrer Öffentlichkeit berauben, hörte die Demokratie auf, Demokratie zu sein. Dies bedeutet freilich umgekehrt und mit Blick auf die Europäische Union, dass ein Herrschaftsgebilde solange nicht demokratisierungsfähig ist, wie es keine Öffentlichkeit dazu gibt. Damit ist nun aber eine empirische Ebene angesprochen. Unter empirischen Gesichtspunkten ist ein Beschrieb angezeigt, der Öffentlichkeit im Hinblick auf deren Bedingungen, Strukturen, Prozesse und Wirkungen in einer nach Teilsystemen differenzierten Gesellschaft angemessen erfassen, analysieren und erklären vermag. Ob dann das, was man als (europäische) Öffentlichkeit empirisch vorfindet, auch den normativen Ansprüchen einer angemessenen Herrschaftskontrolle und politischer Selbstbestimmung genügt, ist dann eine andere Frage, die in der zusammenfassenden Schlussbilanz lediglich tentativ beantwortet werden kann.
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In diesem Kapitel geht es nun darum, Öffentlichkeit demokratie- und gesellschaftstheoretisch zu fundieren. Dazu ist das Kapitel in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil wird das von Jürgen Habermas im STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT ausgearbeitete Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit als Raum der diskursiven Verständigung über die gemeinsamen Dinge entlang von normativem Leitbild, Genese und Zerfall skizziert (2.1). Der zweite Teil befasst sich mit der Kritik am Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit hinsichtlich der Sozialstruktur, des Funktionswandels der Massemedien sowie der Publikumsbeschreibung. Die durch diese Kritikpunkte angestossenen Revisionen begründen eine arenatheoretische Modellierung von Öffentlichkeit, wie sie dieser Arbeit zugrunde liegt (2.2). Der dritte Teil beschreibt die Funktionen von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung im demokratischen Nationalstaat und begründet diese im Rahmen unterschiedlicher normativer Öffentlichkeitsmodelle (2.3). Sodann werden die Sozialstruktur demokratischer Nationalstaaten als ein in unterschiedliche Öffentlichkeitsarenen differenzierter Kommunikationsraum und die Medienarena als zentrale gesellschaftliche Kommunikationszone, die über die Produktion gesellschaftsweit anschlussfähiger Kommunikationsereignisse die gesellschaftlichen Teilsysteme und die Bürger im Medium der öffentlichen Kommunikation zu integrieren vermag, eingeführt (2.4). 2.1 Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit 2.1.1 Definition und normatives Leitbild Die Auseinandersetzung mit Öffentlichkeit ist bei Jürgen Habermas von Beginn an in einen normativen Horizont der Demokratietheorie eingelassen. So verfolgte er mit seiner Habilitationsschrift STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT, wie es der Historiker Andreas Gestrich (2006, 26) treffend auf den Punkt bringt, das Ziel einer „Analyse des für das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert diagnostizierten Verfallsprozess(es) kritischer politischer Öffentlichkeit im Hinblick auf dessen Bedeutung und die Gefährdung der Demokratie in spätkapitalistischen Gesellschaften bzw. auf mögliche Strategien zu deren Sicherung.“ Zentraler Gegenstand dieser Analyse ist die Entstehung und der Zerfall dessen, was Habermas als bürgerliche Öffentlichkeit, die er zum normativen Idealtypus einer politisch fungierenden und somit guten Öffentlichkeit stilisiert hat, bezeichnet. In dieser sieht er eine „Sphäre der öffentlichen Beratung und Beschliessung über die Leitung und Verwaltung aller zur Reproduktion der Gesellschaft notwenigen Prozesse“ (Habermas 1990, 208). Mit Rekurs auf die Aufklärungsbewegung und insbesondere auf Immanuel Kant erhebt Habermas den öffentlichen Diskurs zum
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zentralen Medium gesellschaftlicher Selbstorganisation und politischer Selbstbestimmung. So hat bereits Kant seine Überzeugung begründet, dass die Staatsgewalt nur dann zur Rechtfertigung ihres Tuns verpflichtet werden könne, wenn an diese adressierte Kritik öffentlich geäussert werde4 und dass die Rechtmässigkeit von Gesetzgebungsprozessen nur durch deren Publizität garantiert sei.5 Dies sei deshalb der Fall, weil die privaten Meinungen in der öffentlichen Meinung „zusammenstimmen“, sofern der öffentliche Gebrauch der Vernunft frei von äusseren und inneren6 Zwängen sei. Und da solches Räsonieren im Licht der Öffentlichkeit, also „vor dem ganzen Publikum der Leserwelt“, geschehe, kann dieses Zusammenstimmen gar nichts anderes als Ausdruck von Vernunft und Tugend sein.7 Für Habermas ist das Medium dieser politischen Auseinandersetzung, das öffentliche Räsonnement, ohne geschichtliches Vorbild und deshalb der bürgerlichen Öffentlichkeit „eigentümlich“ (Habermas 1990, 86).8 Die Besonderheit und gleichsam die normative Idee einer politischen Öffentlichkeit liegt demnach in der Überzeugung von der Gemeinwohl stiftenden Wirkmächtigkeit Vernunft gesteuerter und Moral gestützter Kritik, wenn sich diese in herrschaftsfreien Diskursen Publizität verschaffen kann. Wie definiert Habermas die bürgerliche Öffentlichkeit und was betrachtet er als für diese konstitutiv? Unter der bürgerlichen Öffentlichkeit versteht Haber4
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„Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen billigt, was ihr freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können“ (Kant, ,Kritik der reinen Vernunft‘, A5, zit. nach Imhof 1996a, 7). Kant formuliert ein Gebot, wonach der oberste Gesetzgeber „seine Gesetze so gebe, als ob sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und (wonach) er jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen (habe), als ob er zu einem solchen Willen mitzusammengestimmt habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmässigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“ (Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein ... ‘, zit. nach Kohler 1999, 206). Kant identifiziert die innere Ursache der selbstverschuldeten Unmündigkeit in der „Faulheit und Feigheit“, seinen eigenen Verstand ohne Leitung eines anderen zu bedienen und fordert als Wahlspruch der Aufklärung: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant, 1784 (1996), 9). „Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. […] Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausweichlich“ (Kant 1996, 10). Diese Idee der politischen Selbststeuerung im Medium öffentlicher Deliberation bzw. „verstehensund verständigungsorientierter Kommunikation“ kann als normative Leitidee des Gesamtwerks bezeichnet werden, an der er bis hin zu jüngsten Publikationen festhält. In seinem theoretischen Hauptwerk THEORIE DES KOMMUNIKATIVEN HANDELS hat Habermas diesen Gedanken im Rahmen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung begründet.
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mas „die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ (Habermas 1990, 86). Diese unterscheidet sich von jener „obrigkeitlich reglementierten Öffentlichkeit“ (ebd.), die sich im Kontext der absolutistischen Staatsbürokratie bereits ausgebildet hatte und deren Zweck darin bestand, obrigkeitliche Erlasse zu verlautbaren (ebd., 79f.). Indem nun die Privatleute die obrigkeitliche Verlautbarungsöffentlichkeit selbst für ihre Zwecke zu nutzen begannen, um sich mit der staatlichen Gewalt „über die allgemeinen Regeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen“ (ebd., 86), richtete sich die bürgerliche Öffentlichkeit unmittelbar und antagonistisch gegen die Staatsgewalt. Dabei gilt für die bürgerliche Öffentlichkeit als konstitutiv, dass sich freie und gleiche Bürger9 in meinungsbildenden Gremien versammeln, um gemeinsam und öffentlich ihre vorwiegend ökonomisch bestimmten Angelegenheiten selbst zu beraten, die erforderlichen politischen Regeln des Zusammenlebens zu entwerfen und diese schliesslich in Form von an die Staatsgewalt gerichtete Kritik einzufordern. Keimzellen dieser politischen Öffentlichkeiten waren meinungsbildende, durch Privatleute geformte Versammlungsöffentlichkeiten, deren sozialstruktureller Unterbau in der bürgerlichen Kommunikationsgemeinschaft besteht. 2.1.2 Genese und Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit Diese antagonistische Formierung der bürgerlichen Öffentlichkeit gegen die absolutistische Staatsgewalt ist ein Prozess, der sich über mehrere Stadien voll10 zog und den Habermas auf die Trennung von Staat und Gesellschaft zurückführt. So existierte gemäss Habermas im Spätmittelalter und auch noch in der frühen Neuzeit keine der Moderne entsprechende Dualität von öffentlich und privat. Der Begriff „öffentlich“ bezieht sich auf den absolutistischen Staatsapparat, der sich in der Person des Herrschers objektivierte. „L'état c'est moi“, wie Louis XIV das absolutistische Staatsverständnis auf den Punkt brachte. Herrschaft im absolutistischen Staat war Herrschaft vor dem Volk, nicht für das Volk – und als solche wurde sie im öffentlichen, für alle sichtbaren Bereich zelebriert. Habermas bezeichnet dementsprechend diese öffentliche Sphäre als „repräsenta9
Frei und gleich sind die Bürger dann, wenn sie ökonomisch unabhängig und gebildet sind und somit im Unterschied zur nicht erwerbbaren Herkunft über einen prinzipiell erwerbbaren sozialen Status verfügen. 10 Während Habermas diesen Vorgang der Trennung von Staat und Gesellschaft konzeptionell und begrifflich in der Tradition von Hegel formuliert, beschreibt der grosse Gegenspieler von Habermas, Niklas Luhmann, diesen Vorgang als Prozess einer Umstellung des Strukturmusters einer stratifikatorisch differenzierten und nach Ständen organisierten Gesellschaft auf eine nach funktionalen Teilsystemen differenzierte Gesellschaft.
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tive Öffentlichkeit“.11 Eine eigenständige Privatsphäre der Bürger hat es indes noch nicht gegeben. Es gab noch keine Bezeichnung für den bourgeois, die Bürger konnten sich als Untertanen lediglich als cives verstehen.12 Ebenso wenig existierte in sozialpsychologischer Sicht eine Vorstellung für das, was später den Kern der Privatsphäre ausmachen sollte: die häusliche Intimsphäre (ebd., 107ff.). Mit dem Aufstreben der Städte als wirtschaftliche und kulturelle Zentren veränderte sich die Sozialstruktur der feudalen Grundherrschaft fundamental. Auf der Basis eines sich durchsetzenden kapitalistischen Warenverkehrs und der freien Lohnarbeit sowie der voranschreitenden Alphabetisierung beginnen sich nun insbesondere die Städte zunehmend von den fürstlichen Höfen zu emanzipieren. Diese sozialstrukturelle Trennung von Staat und Gesellschaft findet seine Entsprechung auch auf bewusstseinsstruktureller Ebene und lässt beim Bürgertum allmählich einen kollektiven Identitätsbildungsprozess eintreten. Die staatlichen Interventionen in die aufstrebenden Märkte beginnen gemäss Habermas beim Adressaten, der städtischen Privatleute, eine Resonanz auszulösen, die dazu führen sollte, dass sich die bürgerlichen Privatleute allmählich als eine Klasse für sich zu begreifen beginnen, die von den staatlichen Erlassen zwar unmittelbar im eigenen wirtschaftlichen Handeln betroffen ist, ohne aber die Möglichkeit zur Anhörung, geschweige denn zur Mitentscheidung über ihre ureigenen Angelegenheiten zu besitzen. Der Begriff „Publikum“ durchläuft dabei jenen Bedeutungswandel, der fortan das Selbstverständnis der aufkommenden Aufklärungsbewegung prägt und für jene neue bürgerliche Schicht von Privatleuten steht, die sich der öffentlichen Gewalt der absolutistischen Staatsbürokratie antagonistisch 13 gegenüber sieht. Soziologisch handelt es sich um jene bürgerliche Kommu11
Indem die Entfaltung der repräsentativen Öffentlichkeit an Attribute der Person wie Abzeichen, Kleidung, Grussformen und Rhetorik, aber auch an einen spezifischen Kodex edlen Verhaltens geknüpft ist, verbinden sich mit öffentlich im Sinn der Repräsentation in erster Linie Statusmerkmale (Habermas 1990, 61). 12 Dazu schreibt M. Riedel über die bürgerliche Gesellschaft: „Während nach dem Sprachgebrauch der politischen Tradition von Aristoteles bis Kant der Staat zwanglos als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet werden kann, weil diese Gesellschaft an sich selber schon politisch – in der Rechtsfähigkeit der Vollbürger (cives) und ihrer Zusammenfassung zur regierenden Herrschaftsgewalt – gegliedert ist, unterscheidet Hegel die ‚politische‘ Sphäre des Staats von dem nunmehr ‚bürgerlich‘ gewordenen Bereich der Gesellschaft. Dabei erhält das Adjektiv ‚bürgerlich‘, entgegen seiner ursprünglichen Bedeutung, einen vorwiegend ‚sozialen‘ Verwendungssinn und wird nicht mehr als gleichbedeutend mit ‚politisch‘ gebraucht: es bezeichnet die gesellschaftliche Stellung des im absoluten Staat zum bourgeois […] privatisierten Bürger“ (zit. nach Gestrich 2006, 27). 13 Gemäss Habermas lösen die obrigkeitlichen Interventionen bei der „betroffenen und beanspruchten Schicht eine Resonanz aus, die das publicum, das abstrakte Gegenüber der öffentlichen Gewalt, sich als eines Gegenspielers, als des Publikums der nun entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit bewusst werden lässt“ (ebd., 82). „Das publicum entwickelt sich zum Publikum, das subjectum zum Subjekt, der Adressat der Obrigkeit zu deren Kontrahenten“ (ebd., 84).
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nikationsgemeinschaft, die sich als Trägerin der zur Geltung bringenden, weil wahren und richtigen, öffentlichen Meinung versteht. Wesentlich zur Formierung des allmählich zu Klassenbewusstsein gelangenden Publikums zum alsbald kritisch räsonierenden Bürgertum beigetragen haben Habermas zufolge die neuen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft: Kaffeehäuser, Salons, Tischgesellschaften, Logen und Vereine. Im Rahmen von meinungsbildenden Assoziationen treffen sich die sonst bürgerlichen Berufstätigkeiten nachgehenden Privatleute als politische Personen, die nicht nur über die schönen Dinge des Lebens diskutieren, sondern auch die merkantilistischen Staatsinterventionen zum Thema des gemeinsamen Gesprächs machen (ebd., 90ff.). In solchen Zirkeln konnte sich nun jener, von der Idee der demokratischen Selbstbestimmung geprägte und gegen die Staatsgewalt gerichtete, Diskurs als eines spezifischen Mediums der Kritik entfalten. Dabei lernten die bürgerlichen Privatleute nicht nur Vertrauen in die Gestaltungskraft öffentlichen Räsonnements zu gewinnen, sondern erhoben die im herrschaftsfreien Diskurs eingeübte Praxis der gemeinsamen Verständigung gleichsam zur allgemeingültigen Methode politischer Selbstbestimmung. Aber erst der rasche und breite Aufstieg der Aufklärungspresse in Form von kritischen Zeit- und Wochenschriften integriert die bis dahin nur lose gekoppelten meinungsbildenden Versammlungsöffentlichkeiten zu einem auf Dauer gestellten und gegen die Staatsgewalt gerichteten Diskurs (ebd., 104ff., 116ff.). Das entscheidende Vorhaben, das Habermas mit dem STRUKTURWANDEL verfolgt hat, bestand indes in der Frage, weshalb sich die bürgerliche Öffentlichkeit nicht auf Dauer hat durchsetzen können. Wieso hat sich mit Habermas’ Worten die „demokratisch revolutionierte Öffentlichkeit“ (ebd., 208) im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts „refeudalisiert“? Habermas führt diese Entwicklung der „Refeudalisierung der Öffentlichkeit“ (ebd., 292) auf einen sozialen Strukturwandel und einen politischen Funktionswandel zurück. Mit dem sozialen Strukturwandel bezeichnet er eine neuerliche Verwischung der klassischen Trennung zwischen Staat und Gesellschaft: Indem sich der Staat im Zug der Industrialisierung und der damit aufkommenden Pauperisierung grosser Teile der Bevölkerung über das Sozialrecht in die privaten Bereiche ausdehnt und indem gleichzeitig private Akteure wie Verbände mit staatlichen Aufgaben betraut werden, entsteht eine „repolitisierte Sozialsphäre, die sich der Unterscheidung von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ entzieht“ (ebd., 226). Im Ergebnis führte dieser Prozess zur Substitution des kritischen Räsonnements freier und gleicher Bürger durch klassenkämpferisch geführte Auseinandersetzungen, die nun in den Parlamenten und der Presse durch die sich formierenden Massenparteien ausgetragen werden. Zudem konstatiert Habermas mit der sozialen Entgrenzung des Bildungsbürgertums ein Heranwachsen einer Konsumgesellschaft
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und einen damit korrelierenden „Zerfall der literarischen Öffentlichkeit“ (ebd., 266). Entsprechend stellt er eine Entwicklung „vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum“ (ebd., 248) fest; dieses eignet sich gleichsam in stummen Gruppen Kultur – Funk, Film und Fernsehen – an und räsoniert nicht mehr, wie zuvor, in den Clubs und Salons darüber. Das Publikum verliert auf diese Weise allmählich seine autonome Urteilsfähigkeit und wird zum aussengesteuerten Empfänger blosser Akklamation herabdegradiert. Mit dem politischen Funktionswandel der Öffentlichkeit beschreibt Habermas eine Entwicklung von den Versammlungsöffentlichkeiten der meinungsbildenden Assoziationen der Aufklärungsbewegung, samt der diese integrierende Aufklärungspresse, hin zu einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit. Kann Habermas die bürgerliche Öffentlichkeit, mit ihrem bestimmenden Typus der Gesinnungspresse, noch dem privaten Bereich zuordnen, so löst sich diese mediale Öffentlichkeit zeithistorisch in dem Mass von ihrem angestammten Publikum ab, wie sie durch den Staat und durch die organisierten Partikularinteressen der Parteien und insbesondere der Privatwirtschaft angeeignet und „vermachtet“ wird. Beide Prozesse, sowohl der soziale Strukturwandel wie der politische Funktionswandel, hinterlassen letztlich jene „vermachtete Öffentlichkeit“, in welcher der rationale Austausch von Argumenten unter freien und gleichen Bürger verdrängt wird durch eine letztlich „manipulative Inanspruchnahme der Medienmacht zur Beschaffung von Massenloyalität, Nachfrage und Wohlwollen“ (ebd., 45). Der ursprünglich aus der bürgerlichen Öffentlichkeit hervortretende und gegen die Staatsgewalt gerichtete Kommunikationskreislauf („autochthone Öffentlichkeit“) wird von einem durch administrative Macht und durch organisierte Interessen der Wirtschaft gesteuerten Kommunikationskreislauf („vermachtete Öffentlichkeit“) zurückgedrängt; die öffentliche Meinung als kritische Instanz, die sich als Resultat aus dem Prozess öffentlichen Räsonnements ergibt, wird ersetzt durch eine öffentlichen Meinung als rezeptive Instanz, die Habermas gemäss bloss noch die manipulierbaren Einstellungen eines unkritischen Publikums zum Ausdruck bringt (ebd., 343ff.). Versucht man Habermas’ Gesamtargument zum Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit zusammenzufassen, zeigt sich, dass für deren Genese meinungsbildende Assoziationen der bürgerlichen Gesellschaft und diese vernetzende Periodika der Aufklärungsbewegung konstitutiv sind (bürgerliche Kommunikationsgemeinschaft). Dieser Prozess vollzog sich im Gefolge der durch den kapitalistischen Warenverkehr induzierten Trennung von Staat und Gesellschaft schrittweise. Die bürgerliche Öffentlichkeit entfaltete sich somit als eine aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft hervortretende und gegen die absolutistische Staatsgewalt gerichtete öffentliche Sphäre der Kritik. Eigentümlich und ge-
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schichtlich ohne Vorbild war das in Anlehnung an Kant von Habermas zur normativen Leitidee erhobene öffentliche Räsonnement als zentrales Medium der politischen Selbstbestimmung freier und gleicher Bürger. Mit der neuerlichen Verquickung von Staat und Gesellschaft und der Vermachtung der Massenmedien im Dienste organisierter Interessen von Wirtschaft und Staat setzte etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein Prozess ein, den Habermas als „Refeudalisierung der Öffentlichkeit“ bezeichnet. An die Stelle eines aufgeklärten, der Wahrheit und Tugend verpflichteten Diskurses, der zwischen den privaten Interessen der Bürger und des Staats vermittelt, ist eine demonstrative und manipulative Publizität mit dem ausschliesslichen Zweck des Erzielens plebiszitärer Zustimmung bei einem nunmehr mediatisierten Publikum getreten. In solcher Lage sei die demokratische Idee einer republikanischen und zugleich an kritischer Publizität orientierten Selbstorganisation der Gesellschaft nur noch in „innerparteiliche(n) und verbandsinterne(n) Öffentlichkeiten“ (ebd., 32) möglich. 2.2 Kritik, Revisionen und arenatheoretische Implikationen Man wird Habermas beipflichten müssen, dass durch soziale Interessen geprägte Debatten, die zudem über Nachrichtenwert gesteuerte Massenmedien vermittelt werden, nicht mehr jenes kritische Räsonnement erlauben, von dem die Aufklärung einst überzeugt war, dass es die Rationalität und Legitimität der Politik gleichermassen zu erhöhen vermöge. Wenn Öffentlichkeit letztlich zur akklamativen Instanz verkommt und die öffentliche Meinung nur noch in Gestalt einer manipulierbaren Grösse besteht, dann ist es um das Potenzial einer politischen Öffentlichkeit im Hinblick auf die Ermöglichung demokratischer Herrschaftskontrolle und Selbststeuerung in der Tat schlecht bestellt. Allerdings zeigen einige neuere Studien, veröffentlicht im Anschluss an den 1989 ins Englische übersetzten STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT, dass der Beschrieb sowohl der Genese wie auch des Zerfalls der bürgerlichen Öffentlichkeit von Habermas zum Teil überzeichnet wurde, zum Teil auch auf unvollständigen historischen Fakten beruhte. Im Licht dieser Revisionen und vor dem Hintergrund der bereits im deutschen Sprachraum angebrachten Kritik erscheint der Strukturwandel in einem wesentlich differenzierteren und letztlich weniger pessimistischen Bild.14 Einiges, was an Kritik vorgetragen wurde, hat Habermas im Vorwort zur Neuauflage von 1990 reflektiert. Dies führte allerdings nicht zu einer Überarbeitung des Inhalts selbst. Ein revidiertes Öffentlichkeitskonzept, das den Weg für 14
Vergleiche dazu die luzide Zusammenfassung über den neusten Stand der Forschung insbesondere aus historischer Sicht bei Andreas Gestrich 2006. Einige der folgenden Ausführungen beziehen sich auf dessen Darstellung und die im Text diskutierte Literatur.
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eine arenatheoretische Modellierung von Öffentlichkeit weist, findet sich dagegen in VOLKSSOUVERÄNITÄT ALS VERFAHREN von 1989 sowie in FAKTIZITÄT UND GELTUNG von 1992. Zugunsten einer realistischeren Sichtweise hat Habermas seine ursprünglich radikal-republikanische Konzeption, wonach „die Gesellschaft insgesamt als eine Assoziation im grossen vorgestellt werden kann, die (dauerhaft) über die Medien Recht und politische Macht auf sich selbst einwirkt“, aufgegeben (Habermas 1990, 35). An die Stelle einer dauerhaften Selbstorganisation der Gesellschaft ist eine Unterscheidung der Politikgestaltung im Modus der Routine und im Modus der Krise getreten. Trotz dieser Neupositionierung des Öffentlichkeitskonzepts durch Habermas wird im Folgenden auf die zentralen Kritikpunkte und Einwände am Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit eingegangen und danach gefragt, welche Implikationen sich für ein arenatheoretisches Modell demokratischer Öffentlichkeit ergeben. Dabei lassen sich die Einwände in drei Kritikdimensionen gruppieren: Sie beziehen sich auf die Sozialstruktur der bürgerlichen Öffentlichkeit (2.2.1), auf die Bedeutung und den Funktionswandel der Massenmedien (2.2.2) und auf die Einschätzung des Publikums als Adressaten und gleichzeitig als aktiven Teilnehmer an der politischen Auseinandersetzung (2.2.3). 2.2.1 Pluralisierung des öffentlichkeitsstrukturellen Grundrisses Die soziale Fundierung der bürgerlichen Öffentlichkeit in einer homogenen Sozialstruktur ist unter dem Gesichtspunkt eines differenzierungstheoretischen Ansatzes zugunsten einer Pluralisierung des öffentlichkeitsstrukturellen Grundrisses zurückzuweisen. Dabei zielt eine erste Kritik auf die Sozialstruktur dessen, was der Gesellschaft als Trägerin der bürgerlichen Öffentlichkeit überhaupt zugerechnet wird. Die Gleichsetzung der bürgerlichen Gesellschaft mit den „zum Publikum versammelten Privatleuten“ als bürgerliche Kommunikationsgemeinschaft hat zur Folge, dass nicht nur die Frauen (Landes 1988, Fraser 1992), son15 dern auch die gesamte Unterschicht (Eley 1992) von den meinungsbildenden Assoziationen ausgeschlossen sind. Wenn aber bedeutende Teile der von den alten Ständen geschiedenen Gesellschaft der allgemeine Zugang zur Öffentlichkeit verwehrt bleibt, verliert das von Habermas für eine politische Öffentlichkeit
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Habermas selbst sieht zwar eine aus den Unterschichten hervorgehende „plebejische Öffentlichkeit“, die er aber nicht in Interdependenz zur bürgerlichen Öffentlichkeit thematisiert.
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zentrale normative Kriterium der prinzipiellen Unabgeschlossenheit gegenüber dem Publikum seine Gültigkeit.16 Aber selbst dann, wenn man die bürgerliche Öffentlichkeit nur auf den sozialstrukturellen Unterbau der bürgerlichen Kommunikationsgemeinschaft im engeren Sinn17 bezieht, bekommt das Konzept deutliche Risse. So belegen zweitens Studien vor allem für Deutschland (Daniel 2002) und Frankreich (Charter 1995), dass die Keimzellen der bürgerlichen Öffentlichkeit, die meinungsbildenden Assoziationen, meist gar nicht genuin bürgerlich zusammengesetzt waren. Stattdessen sind die Aufklärungsgesellschaften als Mischung von bürgerlichen und adeligen Kreisen zu beschreiben, deren gemeinsames Gespräch weniger auf die Revolutionierung der absolutistischen Herrschaftssysteme denn auf eine Reformierung des Staats fokussiert war (Gestrich 2006, 31). Eine dritte Kritik hebt den Umstand in den Vordergrund, dass die Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit keineswegs allein auf die gegen die absolutistische Staatsgewalt gerichteten meinungsbildenden Assoziationen der bürgerlichen Gesellschaft zurückzuführen ist. Stattdessen konnte sich diese Sphäre vielerorts nur durch die Unterstützung des Staats und dessen adeligen und klerikalen Eliten bzw. „unter dem Schutz der herrschaftlichen Zensur“ (Gestrich 2006, 32) 18 entfalten. Die enge Fixierung auf die bürgerliche Kommunikationsgemeinschaft übersieht, auch wenn Habermas auf die Existenz einer „plebejischen Öffentlichkeit“ (1990, 16) verwiesen hat, dass die Entstehung der sozialstrukturell weiter gefassten nationalstaatlichen Öffentlichkeiten im 18. und 19. Jahrhundert nur als Koexistenz einer dominierenden bürgerlichen Öffentlichkeit mit anderen Typen politischer Gegenöffentlichkeiten zu beschreiben ist. Neben der bürgerlichen Kommunikationsgemeinschaft existieren von Beginn weg auch andere Kommunikationsgemeinschaften, auf die sich eine nationalstaatlich strukturierte Öffentlichkeit wird beziehen müssen (Imhof 1996b, 85ff; 2003, 200). Dieser Umstand wird noch durch den Befund bestärkt, dass parallel zu diesen politischen Öffentlichkeiten bereits Formen europäisch vernetzter Wissenschaftsöffentlichkeiten „von hoher politischer Relevanz“ (Gestrich 2006, 33)19 bestanden haben. Wird 16
Habermas (1990, 156) definiert dieses konstitutive Kriterium wie folgt: „Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppe(n) eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist viel mehr gar keine Öffentlichkeit.“ 17 In erster Linie umfasst die neue Schichte der Bürgerlichen: Beamte der Landesverwaltung, Ärzte, Pfarrer, Offiziere, Handels- und Kaufleute, Bankiers, Gelehrte und Lehrer sowie Verleger und Manufakturisten. 18 Gestrich verweist insbesondere auf eine Studie von Schaich (2001) über die Interdependenz von Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung. 19 Vgl. ebenfalls die von Gestrich angegebene Literatur zur „Gelehrtenrepublik“ (Körber 1998, Gestrich 1994, Bosse 1997).
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das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft nicht hegelianisch, also im Sinn substanzialisierter Entitäten, sondern in der Sprache der Systemtheorie differenztheoretisch beschrieben, dann lässt sich die Dualität von Staat und Gesellschaft ersetzen durch eine Pluralität sich funktional ausdifferenzierender Teilsysteme, innerhalb derer sich wiederum verschiedene Subsysteme ausbilden können. Solche Teil- und Subsysteme lassen sich dann in sozialer Hinsicht als unterschiedliche Kommunikationsgemeinschaften mit spezifischen Formen der Organisation eines systeminternen Diskurses modellieren, womit wir es mit unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten respektive Öffentlichkeitsarenen20 zu tun haben. Geht man so von einem in unterschiedliche Arenen gegliederten Kommunikationsraum aus und hält an der prinzipiellen Unabgeschlossenheit als Konstitutionsmerkmal von Öffentlichkeit fest, kann Öffentlichkeit nicht mehr mit einem sozial homogenisierten Demos als Träger der öffentlichen Meinung gleichgesetzt werden. Die Vorstellung eines homogenen Publikums der bürgerlichen Gesellschaft muss zugunsten einer heterogenen Zusammensetzung von verschiedenen meinungsbildenden Kommunikationsgemeinschaften aufgegeben werden. Diese sozialstrukturelle Entscheidung zugunsten einer Pluralisierung des Publikums hat dann unmittelbare Konsequenzen für die Integration der einzelnen Kommunikationsgemeinschaften in eine nationalstaatlich verfasste Öffentlichkeit. Die essentialistische Annahme einer vorpolitisch definierten kollektiven Identität weicht einer konstruktivistischen Sichtweise von nationalen Identitätsbildungsprozessen. Ein „Gemeinsamkeitsglauben“ (Max Weber) und ein wie auch immer definiertes „Zusammengehörigkeitsbewusstsein“ (Grimm 1995) zwischen verschiedenen, aber der gleichen Nation angehörigen Bevölkerungssegmenten bzw. Kommunikationsgemeinschaften entsteht erst im Prozess einer gemeinsamen Praxis demokratischer Auseinandersetzung und mittels derer Vermittlung durch öffentliche Kommunikation (Habermas 2001; Imhof 2002b). Diese, nationalen Kommunikationsgemeinschaften inhärente, Heterogenitätsunterstellung substituiert ebenso die Konzeptualisierung von Öffentlichkeit als Akteur oder Institution durch eine Konzeption, die Öffentlichkeit in erster Linie als Raum modelliert oder, wie es Habermas in FAKTIZITÄT UND GELTUNG dann später vorschlägt, als „Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“ (Habermas 1992, 436). Wenn ausserdem die Entfaltung dieses Raumes nicht allein aus den kommunikativen Handlungen seitens der meinungsbildenden und als Zivilgesellschaft bezeichneten Assoziationen hervorgeht, sondern ganz wesentlich durch die an die Bürger adressierte staatliche Kommunikation getragen wird, dann ist politische Öffentlichkeit sozialtopografisch zu veror20
Zum Begriff ‚Öffentlichkeitsarena‘ siehe die Ausführungen unter Kap. 2.4.1.
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ten als intermediärer Kommunikationsraum, der zwischen den Entscheidungszentren der Politik und dem Publikum der Staatsbürger sowie den gesellschaftlichen Teilsystemen in beide Richtungen hin vermittelt (vgl. Gerhards / Neidhardt 1993, 58; Habermas 1992, 435). 2.2.2 Ausdifferenzierung nationaler Mediensysteme Eine zweite Stossrichtung der Kritik betrifft den Funktionswandel der Öffentlichkeit. Anstelle einer einseitigen Fixierung auf eine durch Massenmedien „vermachtete Öffentlichkeit“ tritt ein differenzierungstheoretischer Beschrieb, der im Funktionswandel der Öffentlichkeit die Ausdifferenzierung eines autonomen Mediensystems zu beschreiben vermag. In der Konsequenz dieser Entwicklung wird das kritische Räsonnement durch einen von Nachrichtenwerten bestimmten Kommunikationsmodus abgelöst, an den sich aber alle Akteure und Sprechertypen werden anpassen müssen. Die Pressegeschichte jüngeren Datums hebt, wie schon Habermas im STRUKTURWANDEL, die zentrale Bedeutung von regelmässig erscheinenden Massenmedien für die dauerhafte Institutionalisierung der öffentlichen Kommunikation hervor. Im Unterschied zu diesem beschreibt der Pressehistoriker Jörg Requate die Entstehung und Entwicklung der Presse aber nicht in Abhängigkeit des Bürgertums und nicht im Hinblick auf das von Habermas favorisierte normative Modell einer unabhängigen vierten Gewalt: „Mit dem Journalismus entwickelte sich auch die Struktur der Öffentlichkeit in den jeweiligen Ländern in sehr unterschiedlicher Weise und brachte in den einzelnen Ländern veränderte Typen von modernen Öffentlichkeitsformen hervor“ (Requate 1995, 400). Dabei haben die spezifischen Entwicklungen der publizistischen Strukturen für die Ausbildung nationaler Öffentlichkeiten eine entscheidende Rolle gespielt. Ob sich Medienstrukturen als unabhängige vierte Gewalt, als Annex von Regierung und Parteien oder unter Zensurbedingungen als korporatistische Interdependenz entwickelt haben, hängt somit stark von den nationalen Kontexten ab, innerhalb denen sich eine nationale Medienstruktur ausgebildet hat. So hat sich die von Habermas zum Idealtypus einer bürgerlichen Öffentlichkeit erhobene Unabhängigkeit einer vierten Gewalt in England erst allmählich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildet; und zwar als Folge einer mit dem aufkommenden Anzeigegeschäft erreichten ökonomischen Unabhängigkeit – und nicht schon während der Aufklärungszeit, sozusagen als Folge einer politischen Unabhängigkeit der Presse. Dagegen hat sich die Presse in Frankreich gänzlich in Abhängigkeit von Staat und Parteien entwickelt, während für Deutschland wiederum ein anderes Ver-
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hältnis, nämlich dasjenige des Korporatismus, kennzeichnend war (vgl. Gestrich 2007, 35-37). Ähnliche Ausprägungen nationalstaatlich differenzierter Mediensysteme belegen Hallin und Mancini (2004), wenn sie idealtypisch ein liberales Modell (zum Beispiel Grossbritannien), ein polarisiertes Pluralismusmodell (z. B. Frankreich) und ein demokratisches Korporatismusmodell (z. B. Deutschland, Schweiz) unterscheiden.21 Darüber hinaus konstatieren sie in ihrer historisch angelegten vergleichenden Analyse von nationalen Mediensystemen ab den 1960er-Jahren eine Konvergenz in Richtung des angelsächsisch geprägten liberalen Modells, das sich durch eine weitgehende Unabhängigkeit der Medien von Staat und Parteien und durch eine der Aufmerksamkeitsökonomie verpflichteten Wettbewerbslogik charakterisieren lässt (Hallin / Mancini 2004, 251ff.). Im deutschsprachigen Raum der Kommunikations- und Medienwissenschaften ist seit einigen Jahren eine Debatte in Gang, die diesen Prozess unter dem Gesichtspunkt eines „neuen“ Strukturwandels der Öffentlichkeit diskutiert (Münch 1997; Imhof 2003d; Jarren 1998). Hätte Habermas den Strukturwandel von Beginn weg als Interdependenzverhältnis der Systeme Medien, Politik und Ökonomie konzipiert, hätte er den Funktionswandel der Öffentlichkeit als Ausdifferenzierung eines an ökonomischen Kriterien der Rendite orientierten Mediensystems (Imhof 2003a) erkannt. Am Beispiel des Schweizer Mediensystems lässt sich besonders gut illustrieren, wie sich die Medien von ihrem korporatistischen Ver22 hältnis abkoppeln und in Richtung liberales Modell entwickeln. Charakteristisch für das (Schweizer) Korporatismusmodell ist die Parteipresse, weshalb die Phase ausgangs des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er-Jahre auch als Ära der Parteipresse bezeichnet wird (Imhof 1996d; Eisenegger 2005, 59). Mit dem Aufkommen der grossen Massenparteien im 19. Jahrhundert und der allmählichen Durchsetzung politischer Freiheitsrechte entstanden die grossen Tageszeitungen als Parteizeitungen oder als ideologisch den grossen Parteien des Liberalismus, Konservatismus und der Sozialdemokratie zugewandte Gesinnungspresse. Die Presse dieser Ära war Bestandteil des politischen Systems, was sich nicht zuletzt an der Doppelrolle einer Person als Redaktor und Politiker zeigt: Viele nationale Politiker übten neben Politikmandaten auch noch Redaktionsfunktionen aus. So bildeten die Redaktionen gleichsam den intellektuellen 21
Den liberalen Modellen rechnen die Autoren insbesondere die Mediensysteme aus den angelsächsischen Ländern zu. Das polarisierte Modell eignet sich vorwiegend zur Beschreibung der Mediensysteme der Mittelmeerstaaten Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland und Portugal. Das demokratische Korporatismusmodell sehen sie hingegen in Zentral- und Nordeuropa verbreitet (Hallin / Mancini 2004, 68). 22 Folgende Darstellung an dieser Stelle steht in einem engen und relevanten Erklärungsbezug auf die empirische Untersuchung im zweiten Teil über die Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit, die sich hauptsächlich auf die beschriebenen Medien bezieht.
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Stab der Parteien (und Verbände) und die in diesen Weltanschauungsorganen geführten Auseinandersetzungen glichen einer virtuellen verlängerten Parlamentsöffentlichkeit, weil sich die Redaktionen im politischen Meinungsstreit wechselseitig als pars pro toto des politischen Gegners wahrgenommen und adressiert hatten (Imhof 1996c, 231f.). Indem Partei- und Verbandszeitungen als ideologische Wortführerinnen der jeweiligen politischen Gruppierungen agierten, entsprach die öffentliche Kommunikation in der Ära der Parteipresse fast ausschliesslich politischer Kommunikation. Diese Ära geht dann in den 1960er zu Ende, die korporatistisch geprägte Medienstruktur der Schweiz nimmt in der Folge verstärkt Züge des liberalen Modells an, indem sich auch in der Schweiz, wie anderorts schon früher, ein Mediensystem auszudifferenzieren beginnt, das zunehmend autonom und nach medialem Eigensinn operiert (Imhof 2003d). Dieser Wandlungsprozess lässt sich auf medienexterne und -interne Faktoren zurückführen (Jarren 1998). Mit der Individualisierung der Lebensstile seit dem wirtschaftlichen Aufschwung am Ende des Zweiten Weltkriegs einher geht eine Erosion der Bindungsstärke und Integrationsfähigkeit gesellschaftlicher Grossorganisationen politisch-religiösen Typs mit dem Effekt der Zunahme einer neuen Schicht von Wechselwählern. Die Erosion der Parteimilieus hat zudem eine Abkoppelung der Partei- und Verbandszeitungen von ihren ursprünglichen Trägerorganisationen zur Folge. Dabei fällt die Abkoppelung in eine Zeit, in der sich der Journalismus grundsätzlich neu zu organisieren beginnt. So existierten neben den Parteizeitungen auch in der Schweiz schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts Medienerzeugnisse, die von reichen Verlegerfamilien mit kommerziellen Absichten produzierten wurden. Diese Produkte waren zwar in ihren Anfängen weitgehend unpolitisch und orientierten sich beispielsweise wie jene aus dem Haus Ringier an Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums, aber sie waren im Unterschied zu den Parteizeitungen ausge23 zeichnet im Anzeigenmarkt abgestützt. Die 1959 durch Ringier erfolgte Lancierung der Boulevardzeitung Blick sowie die zeitgleich stärkere politische Ausrichtung der Forumszeitung Tages-Anzeiger aus dem Haus Coninx, trafen die Bedürfnisse eines neuen individualisierten Publikums voll und setzten den alten Gesinnungsjournalismus der liberalen NZZ, des katholisch-konservativen Vaterlands und der sozialdemokratischen Tagwacht unter massiven Anpassungsdruck.24 Damit die alten Parteizeitungen auf dem dualen Leser- und Abonnementenmarkt weiter bestehen konnten, mussten sie sich nolens volens professionali23
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Vgl. dazu die DOK-Sendung des Schweizer Fernsehens SF1 vom 5.5.2008, „Spuren der Zeit. 175 Jahre Ringier – Patriarchen, Presse und Profit“. Dies gilt selbstverständlich für alle Zeitungen, die jeweils politischen Milieus nahe standen. Die hier angeführten NZZ, Vaterland und Tagwacht gelten jedoch als Leitmedien der jeweiligen Parteimilieus.
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sieren. Aus den vielfach nicht betriebswirtschaftlich geführten Medienorganisationen entwickelten sich Medienkonzerne, die sich an betriebswirtschaftlichen Kennzahlen der Rentabilität auszurichten begannen. Diese Entwicklung, die in der Schweiz relativ spät in den 1960er-Jahren beginnt, dann in den 1980erJahren durch die Entstehung des Privatfernsehens nochmals exponentiell beschleunigt wird, bleibt natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die Produktion der Nachrichten und Informationen selbst. Ist die öffentliche Kommunikation der Partei- und Gesinnungspresse in der Ära der Parteipresse fast ausschliesslich politische Kommunikation, beginnt sich die Kommunikation unter Bedingungen eines autonomen Mediensystems thematisch zu entgrenzen: Nachrichten und Informationen aus anderen Teilsystemen stehen vermehrt in Konkurrenz zur politischen Kommunikation. Ausserdem beginnen sich Informations- und Unterhaltungsformate verstärkt zu durchmischen, verliert die Nachrichtenproduktion dadurch generell ihren auf Sachverhalte bezogenen Stil der nüchternen Beschreibung und orientiert sich vermehrt an Nachrichtenfaktoren wie Personalisierung, Privatisierung, Emotionalisierung, Konfliktstilisierung und Skandalisierung (Galtung / Ruge 1965; Staab 1990; Eisenegger 2008) sowie, infolge des Fernsehens als neuem Leitmedium, allgemein am Bildhaften. Es sind solche neuen Selektionskriterien vorwiegend an Rendite orientierter Medienorganisationen, die sich an den Aufmerksamkeitsbedürfnissen eines zunehmend entpolitisierten und an Unterhaltung gewöhnten Publikums orientieren. Diese medienspezifische Entwicklung als Ausdifferenzierung eines eigensinnig nach Nachrichtenwerten operierenden Mediensystems verändert prinzipiell die Zugangschancen aller Akteure zur massenmedialen Öffentlichkeitsarena. Alle Akteure sehen sich einem dauerhaften Kampf um Aufmerksamkeit und Definitionsmacht ausgesetzt und müssen sich an den medialen Eigensinn anpassen. Beobachtet wird dabei eine Zunahme von medienwirksamen Aktionsformen wie die Produktion Aufmerksamkeit erregender Events, von Regelverstössen und der Transformation von Ideen in Prominenz und Personalisierung (Schmitt-Beck / Pfetsch 1994; Imhof 1996d; Imhof / Eisenegger 1999, 2003). Indem die journalistischen Nachrichtenfaktoren mit den Vorstellungen der Akteure über gelingendes Erzielen von Resonanz und Zustimmung in Massenmedien konvergieren, ist die seitens der Akteure für Medien inszenierte Kommunikation zunehmend konfliktstilisierend und simplifizierend sowie moralisch und emotional aufgeladen. Dass unter solchen Bedingungen ein kritisches Räsonnement zu blossem 25 Wunschdenken verkommt, scheint augenfällig zu sein. 25
Im Prinzip ist die Annahme einer im herrschaftsfreien Diskurs angelegten Gleichsetzung von Konsens mit der Generalisierbarkeit von Vernunft und Tugend von Beginn weg idealisierend und sozial nur unter der Bedingung plausibel, wenn der Diskurs geführt wird in kleinen Zirkeln glei-
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Unter den Bedingungen eines ausdifferenzierten und eigenlogisch operierenden Mediensystems wird die Doppelrolle der Journalisten als Chronisten für Stellungnahmen anderer Akteure und als politische Sprecher überhaupt erst plausibel. Medien entsprechen nicht einfach nur einem Spiegel, der Wirklichkeit abbildet, vielmehr konstruieren Medien diese Wirklichkeit, indem sie selektiv über die Welt berichten und diese aktiv kommentieren und interpretieren. Insbesondere bei Konflikten, Skandalen oder in Krisenzeiten übernehmen Journalisten eine aktive Rolle als Sprecher und können so der politischen wie auch ökonomischen Funktionselite als vierte Gewalt gegenüberstehen und diese gleichsam zu Fall bringen. Sie können aber auch im Unterschied zu politischen Akteuren, und darauf haben Ruud Koopmans und Barbara Pfetsch (2006) im Rahmen von Untersuchungen über europäische Konstruktionsprozesse aufmerksam gemacht, eine meinungsbildnerisch führende Rolle einnehmen.26 2.2.3 Dynamisierung der Öffentlichkeit im Modus der Routine und Krise Mit Blick auf das Publikum ist der Beschrieb eines linearen Zerfallsprozesses der politischen Öffentlichkeit nicht haltbar. Treffender ist eine Beschreibung, wie sie der liberale Gesellschaftstheoretiker Dahrendorf (1974) in Unterscheidung zwischen einer aktiven und passiven Öffentlichkeit vorgenommen hat.27 Das Publicher und freier Bürger, die weder ihre soziale Stellung noch ihre privaten Angelegenheiten zum Thema des gemeinsamen Gesprächs machen. Solange der Diskurs auf Gegenstände fokussiert, die aufgrund der gleichen sozialen Lage aller am Diskurs Beteiligten in gleichen Relevanz- und Interpretationsmustern wahrgenommen werden, erscheint der in kritischer, durch Argument und Gegenargument geführter Auseinandersetzung erzielte Konsens für die Teilnehmer zugleich vernünftig und moralisch richtig (Luhmann 1971, 11). Dies gilt selbst dann, wenn solche Diskurse nicht nur in Präsenzöffentlichkeiten, sondern auch in den Aufklärungsperiodika vor eben diesem Publikum gleicher und freier Bürger geführt werden. Diese Annahme ist indes nicht länger aufrecht zu erhalten, wenn eine unterschiedlicher sozialer Lagen entspringende Pluralität von Publikum und Medien unterstellt wird. Die im gleichen Kommunikationsraum durch unterschiedliche Medien geführten und vermittelten Auseinandersetzungen nehmen aus Gründen divergierender Interessenlagen und Weltanschauungen den Modus des Konflikts an. Rechnet man von Beginn weg mit einer Pluralität unterschiedlicher Öffentlichkeitsarenen, die je über ihre Medien miteinander und gegeneinander über die als gemeinsam erachteten Angelegenheiten ins Gespräch kommen, dann ist das öffentliche Räsonnement, wenn es auf gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzungen im gemeinsamen Kommunikationsraum bezogen ist, nichts anderes als eine von Beginn weg immer wieder durch den Konflikt geprägte Dauerauseinandersetzung, die im Namen je eigener Interessen und ideologischer Überzeugungen geführt wird. 26 Im Rahmen der Untersuchung über die „Zinsbesteuerungsdebatte“ wird auf die Rolle der verschiedenen Sprechertypen in der Konstruktion Europas näher eingegangen. 27 Mit einer „aktiven Öffentlichkeit“ verbindet Dahrendorf die beobachtete Tatsache, dass in den westlichen Demokratien, gemessen an der Gesamtbevölkerung, nur ein relativ kleiner Kreis von
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kum verhält sich nicht einfach nur passiv, sondern wird, wie Habermas später selbst koinzidiert, von Zeit zu Zeit, insbesondere in Zeiten einer wahrgenommenen Krise, aktiv. In der politischen Öffentlichkeit steckt mit anderen Worten ein Regenerationspotenzial, das im STRUKTURWANDEL noch ausgeblendet, im Rahmen einer Theorie sozialen Wandels aber erklärbar ist. Habermas gesteht im Vorwort von 1990, dass seine früher gemachte Einschätzung einer „geradlinige(n) Entwicklung vom politisch aktiven zum privatistischen, vom ‚kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum‘ zu kurz greift“ (1990, 30). Diese Diagnose wurde zweifelsohne unter dem starken Einfluss der von Horkheimer und Adorno aufgestellten Thesen der Kulturindustrie gefällt. Ausserdem unterschätzte der junge Habermas als Folge der einseitigen Fokussierung auf die Binnenöffentlichkeiten demokratisch organisierter Parteien und Verbände die Bedeutung von „zivilgesellschaftlichen Assoziationen“28, Protestparteien und sozialen Bewegungen für die demokratische Revitalisierung einer politischen Öffentlichkeit. Sowohl die Einsicht in die autonome Urteilsfähigkeit des Publikums wie die Neuentdeckung der Zivilgesellschaft als Trägerin einer kritischen Publizität lassen den späteren Habermas an eine Revitalisierung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit glauben. Angesichts der Komplexität funktional differenzierter Gesellschaften wird der Modus einer dauerhaft auf sich einwirkenden Kommunikationsgemeinschaft zugunsten einer Unterscheidung der Politikgestaltung im Modus der Routine und im Modus der Krise aufgegeben. Während der grösste Teil der Politikgestaltung nach Routinen des politischen Zentrums und ohne öffentliche Debatte abläuft,29 glaubt Habermas, im Rekurs auf die von neuen sozialen Bewegungen eingebrachten „grossen Themen“30, plausibel machen zu können, dass „zivilgesellschaftliche Akteure Personen aktiv an der Gestaltung der öffentlichen Ordnung beteiligt ist, während sich der grosse Teil passiv oder gar gleichgültig verhält. 28 Darunter versteht er „nicht-staatliche und nicht-ökonomische Zusammenschlüsse und Assoziationen auf freiwilliger Basis“, die ähnlich wie das Bürgertum an der Schwelle zur Moderne, die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit im lebensweltlichen Kontext der Gesellschaft verankern (Habermas 1992, 443ff; 1990, 45-48). Und ähnlich wie die bürgerliche Gesellschaft bildet die Zivilgesellschaft ein Assoziationswesen zum Zweck gesellschaftlicher Selbstorganisation. Zu diesem Assoziationswesen aus Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zählen etwa Kirchen und karitative Organisationen, kulturelle Vereinigungen und Akademien, unabhängige Medien, Sport- und Freizeitvereine, Debattierclubs, Bürgerforen und Berufsverbände, nicht-etablierte politische Parteien, Gewerkschaften und alternative Einrichtungen (1990, 46). 29 „Gerichte fällen Urteile, Bürokratien bereiten Gesetze vor und bearbeiten Anträge, Parlamente verabschieden Gesetze und Haushalte, Parteizentralen führen Wahlkämpfe, Klienten nehmen Einfluss auf ‚ihre‘ Verwaltungen – und alle diese Vorgänge laufen nach etablierten Mustern ab“ (Habermas 1992, 432). 30 Habermas (1992, 460f.) denkt dabei an „die Spirale des atomaren Wettrüstens, an die Risiken der friedlichen Nutzung von Atomenergie, anderer grosstechnischer Anlagen oder wissenschaftlicher
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unter Bedingungen einer wahrgenommenen Krisensituation eine überraschend aktive und folgenreiche Rolle übernehmen können“ und „für die kritischen Augenblicke einer beschleunigten Geschichte die Chance (erhalten), die Richtung der konventionell eingespielten Kommunikationskreisläufe in der Öffentlichkeit und im politischen System umzukehren und damit den Problemlösungsmodus des ganzen Systems zu verändern“ (1992, 460). Konsequenterweise verbindet Habermas in FAKTIZITÄT UND GELTUNG Politikgestaltung im Modus der Routine mit einer passiven „Öffentlichkeit im Ruhezustand“ (1992, 458) und eine aktive „Öffentlichkeit im Krisenbewusstsein“ (1992, 461) mit Politikgestaltung im Modus der Krise. Diese im Anschluss an Dahrendorf formulierte Unterscheidung von aktiver und passiver Öffentlichkeit respektive Politikgestaltung im Modus der Krise und der Routine widerlegt die Vorstellung eines linearen Verfallsprozesses der Öffentlichkeit und lässt den Strukturwandel der Öffentlichkeit als Ausdifferenzierung und zugleich diskontinuierliches Phänomen erscheinen: Trotz der Ausdifferenzierung eines autonomen und nach eigenen Regeln operierenden Mediensystems formieren sich immer wieder aktive Öffentlichkeiten, die geprägt sind von der Einflussnahme dessen, was Habermas einst als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet hat und was heute unter dem Titel Zivilgesellschaft firmiert. In solch beschleunigten Momenten konfliktreicher Auseinandersetzungen übernimmt die öffentliche Kommunikation auch heute durchaus Funktionen, wie sie ehedem die Aufklärungsbewegung für sich in Anspruch genommen hat. 2.3 Funktionen politischer Öffentlichkeit und normative Begründung Die Ausführungen zur Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit haben gezeigt, dass die Aufklärungsbewegung im Gebot der kritischen Publizität in erster Linie ein Medium zur Demokratisierung der absolutistischen Herrschaftssysteme gesehen hat. Herrschaftskontrolle und politische Selbstbestimmung als die beiden massgeblichen Ausdrucksformen einer demokratischen Herrschaftsform sind notwendig auf eine politisch fungierende Öffentlichkeit angewiesen. Die Entstehung einer solchen Öffentlichkeit und die Ausübung demokratischer Praktiken Experimente wie der Genforschung, denken wir an die ökologischen Gefährdungen eines überstrapazierten Naturhaushaltes (Waldsterben, Gewässerverschmutzung, Artentod usw.), an die dramatisch fortschreitende Verelendung der Dritten Welt und Probleme der Weltwirtschaftsordnung, denken wir an Themen des Feminismus, an die steigende Immigration mit den Folgeproblemen einer veränderten ethnischen und kulturellen Zusammensetzung der Bevölkerung usw. Fast keines dieser Themen ist zuerst von Exponenten des Staatsapparates, der grossen Organisationen oder gesellschaftlichen Funktionssysteme aufgebracht worden. Stattdessen werden sie lanciert von Intellektuellen, Betroffenen, radical professionals, selbsternannten ‚Anwälten‘ usw.“
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sind so aufs Engste miteinander verknüpft und nur als interdependenten Prozess beschreibbar. Es wird im nächsten Kapitel zu zeigen sein, dass die Europäische Union heute mit einem ähnlichen Legitimitätsproblem politischer Herrschaft konfrontiert ist, wie dies die anciennes régimes an der Schwelle zur Moderne waren, – wobei sich wiederum die Frage stellen wird, wie sich ein Herrschaftssystem für die Bürger, die von dessen Entscheidungen betroffen sind, demokratisieren lässt. In diesem Subkapitel geht es jetzt aber darum, das Legitimationsproblem politischer Herrschaft und die sich im Demokratisierungsprozess der Nationalstaaten Geltung verschaffende Funktionen politischer Öffentlichkeit im Rahmen einer analytischen Demokratietheorie zu beschreiben (2.3.1). Diese Funktionen lassen sich sodann entlang unterschiedlicher normativer Öffentlichkeitsmodelle bewerten. Je nach normativem Anspruchsniveau braucht es mehr oder weniger, damit eine Öffentlichkeit im Sinn ihrer allgemeinen Funktionserwartungen als „gute Öffentlichkeit“ (Gerhards 2001, 1997) bezeichnet werden kann (2.3.2). 2.3.1 Das Legitimationsproblem politischer Herrschaft Abraham Lincoln definiert Demokratie aus einer liberalen Perspektive als Herrschaft durch das Volk bzw. durch dessen Vertreter und zugleich als Herrschaft 31 für das Volk. Einem republikanischen Demokratieverständnis verpflichtet, definiert Rousseau diese als Identität von Regierenden und Regierten. Beide Definitionen implizieren einen zweiseitigen Legitimationsmechanismus demokratischer Herrschaft (vgl. Scharpf 1999a). Analytisch betrachtet verweist Herrschaft durch das Volk bzw. durch dessen Repräsentanten auf eine Dimension der Input-Legitimation von Herrschaft. Entscheide gelten demzufolge dann als legitim, wenn und sofern sie den Willen des Volkes verkörpern (volonté de tous). Herrschaft für das Volk dagegen verweist auf eine Dimension der OutputLegitimation, wobei Entscheide dann als legitim gelten, wenn und sofern sie am Gemeinwohl und nicht an Partikularinteressen einzelner Volksgruppen orientiert sind (volonté générale). Das Grundproblem demokratischer Herrschaft lässt sich somit legitimationstheoretisch zurückführen auf die Frage, wie kollektiv bindende Entscheide von Herrschaftsträgern an die Interessen und Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger gebunden werden können, damit sie als legitim gelten. Grundsätzlich wird dieses Problem durch allgemeine und freie Wahlen gelöst. Ein auf sporadisch stattfindende Wahlakte reduziertes Demokratieverständnis 31
Nach Lijphart (1999, 49) spricht Lincoln von „government by the people (or by representatives of the people) and for the people.”
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kann normativ indes nicht befriedigen. Politische Sachentscheide werden nicht durch Wahlakte getroffen, auch wenn mit der Wahl jeweiliger politischer Parteien, Personen oder Programme Versprechen zur Lösung zeitgenössischer Probleme mitartikuliert sein mögen, so werden politische Sachfragen letztinstanzlich im Parlament oder an der Urne zwischen Wahlgängen entschieden. Eine normativ befriedigende Lösung des Demokratieproblems kann so nur erzielt werden, wenn demokratische Herrschaftsausübung dynamisiert und als Prozess modelliert wird (Huget 2007). Begreift man Demokratie als eine prozesshafte Form von Herrschaftsausübung, ist die Legitimität politischen Entscheidungshandelns zwingend auf ein Medium angewiesen, das Responsivität zwischen Herrschaftsträgern und Entscheidungsbetroffenen dauerhaft, somit auch zwischen Wahlen, zu sichern vermag. Und dieses Medium wird in der politischen Theorie32 seit der Aufklärung als öffentliche Meinung bezeichnet, wobei ich öffentliche Meinung im Anschluss an Luhmanns Definition der „institutionalisierten Themenstruktur“ (1971, 29) funktionalistisch definiere als das zeithistorisch variable Spektrum öffentlich debattierter Problembezüge und damit artikulierter Problemlösungen33. Aus Sicht der Bürger ist Responsivität vorhanden, wenn sie das Tun und Unterlassen der Herrschaftsträger durch dieses Medium beobachten können (OutputLegitimation) und wenn sie über dieses Medium zugleich ihre Interessen, Sorgen und Bedürfnisse einbringen können (Input-Legitimation). Aus Sicht der Herrschaftsträger ist umgekehrt Responsivität gewährleistet, wenn sie im Wissen um die Interessen, Sorgen und Bedürfnisse der Bürger handeln und entsprechende Gesetze erlassen (Koppelung des Outputs an den Input). Aus bereits bei Kant formuliertem Demokratieverständnis lassen sich die zentralen Funktionen einer politischen Öffentlichkeit ableiten: Diese sollen, resultativ, im Medium der öffentlichen Meinung Herrschaftskontrolle und Selbststeuerung ermöglichen; und zwar so, dass letzten Endes politisches Handeln und Herrschaftsausübung zugleich rationalisiert und legitimiert werden können.
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Zu erwähnen gilt es vor allem Albert Tocqueville (1835), John Stuart Mill (1859), Karl Marx, John Dewey (1927), Walter Lippmann (1922), Ferdinand Tönnies (1922), Ernst Fraenkel (1962) und Niklas Luhmann (1971, 2002). 33 Diese Definition von öffentlicher Meinung unterscheidet also ähnlich wie bei Luhmann zwischen Themen und Meinungen, indem zwischen Problembezügen und Problemlösungen unterschieden wird, womit die gesellschaftlichen Aufmerksamkeits- und Relevanzstrukturen in den Blick gelangen (vgl. dazu Kapitel 4.1.1).
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2.3.2 Funktionen von Öffentlichkeit im Licht unterschiedlicher normativer Ansätze Wie nun aber Öffentlichkeit bzw. die aus der öffentlichen Kommunikation resultierende öffentliche Meinung beschaffen sein soll, damit Herrschaftskontrolle und politische Selbststeuerung möglich ist, wird im Rahmen unterschiedlicher normativer Öffentlichkeitsmodelle kontrovers diskutiert. Dabei beziehen sich das republikanische Diskursmodell auf der einen Seite und das liberale Spiegelmodell auf der anderen Seite sozusagen auf die normativen Extrempunkte eines Kontinuums. Während gemäss Vorgabe des Spiegelmodells eine Öffentlichkeit „gut“ ist, wenn sie individuelle Meinungs- und Willensbildung der Bürger ermöglicht, geht das Diskursmodell weit darüber hinaus. Danach ist eine Öffentlichkeit erst dann „gut“, wenn sie Mehrheitsmeinungen erzeugt, die einem diskursiv erzielten Konsens entspringen. Dazwischen liegen Variationen, die in jeweils unterschiedlicher Weise Elemente aus den beiden anderen Modellen kombinieren. In der doppelten Abgrenzung gegenüber dem Spiegelmodell und dem Diskursmodell optiere ich für ein antagonistisches Interaktionsmodell, das die Korrektur von Irrtümern und kollektives Lernen ins Zentrum dessen stellt, was eine „gute“ Öffentlichkeit normativ auszeichnet.34 Wenn Öffentlichkeit mit Bezug auf demokratische Herrschaftsausübung als Prozess modelliert wird, dann lässt sich für jede Phase fragen, was öffentliche Kommunikation leisten muss, damit Herrschaftskontrolle und politische Selbstbestimmung dergestalt ermöglicht wird, dass Öffentlichkeit im Sinn ihrer Leistungserwartung als „gut“ bezeichnet werden kann. Gemäss Neidhardt (1994, 8f.) erfüllt Öffentlichkeit an der Input-Seite Transparenzfunktionen, im Throughput (Auseinandersetzung) Validierungsfunktionen und auf der Output-Seite Orientierungsfunktionen. Ähnlich benennt Imhof (2006a) für die entsprechenden Phasen seismografische, deliberative und sozialintegrative Funktionen. Auf dem Hintergrund der drei normativen Öffentlichkeitsmodelle lässt sich entlang dieser drei 34
Die Gegenüberstellung von Diskursmodell und Spiegelmodell (bzw. liberalem Modell) wurde von Gerhards (1997) im Hinblick auf eine empirische Überprüfung der unterschiedlichen normativen Komponenten herausgearbeitet. Habermas (1996a) selbst nimmt ähnliche Unterscheidungen der öffentlichen Kommunikation vor, die er allerdings auf dem Hintergrund unterschiedlicher normativer Demokratietheorien diskutiert. Die von Gerhards vorgenommene schematische Unterscheidung wird jedoch von Peters als „nicht sehr plausibel” zurückgewiesen, weil das Diskursmodell Elemente enthält, die einerseits bereits im Spiegelmodell enthalten sind und andererseits unter Bedingungen massenmedialer Produktion unrealistisch sind. Nicht Konsensbildung oder Legitimation einzelner politischer Entscheidungen sollten als Funktion öffentlicher Debatten im Vordergrund stehen, sondern „die möglichen Wirkungen öffentlicher Debatten auf längerfristige, diffusere kulturelle Wandlungs- und Innovations- oder Lernprozesse” (Peters 2007, 202). In ähnlicher Weise werde ich die Funktion öffentlicher Kommunikation im antagonistischen Interaktionsmodell bestimmen.
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Funktionsunterscheidungen diskutieren, wie die durch gemeinsame Auseinandersetzung erzeugte öffentliche Meinung in normativer Hinsicht beschaffen sein muss. Liberales Spiegelmodell
Antagonistisches Interaktionsmodell
Republikanisches Diskursmodell
Transparenz / Seismograph
Offenheit für Themen und Akteure
Offenheit für Themen und Akteure
+ Partizipativer Einbezug zivilgesellschaftlicher Akteure und periperisierter Themen
Validierung / Deliberation
Sichtbarkeit alternativer und konkurrierender Themen und Meinungen
+ wechselseitige Bezugnahmen
+ rational begründeter Austausch von Argumenten und Gegenargumenten
Ermöglichung von Meinungs- und Willensbildung der Bürger
+ Ermöglichung der Korrektur von Irrtümern
+ Ermöglichung diskursiv erzeugter Mehrheitsmeinungen; Sozialintegration
Orientierung
Tabelle 1: Normativ bewertete Funktionen politischer Öffentlichkeit Lesehilfe: Das Diskursmodell ist das normativ anspruchsvollste Modell. Die in den vorher genannten Modellen formulierten Bedingungen sind im Diskursmodell enthalten, so wie die Bedingungen des Spiegelmodells im Interaktionsmodell enthalten sind.
Das liberale Spiegelmodell verdankt seinen Namen der berühmt gewordenen Spiegelmetapher Niklas Luhmanns zur Paraphrasierung der öffentlichen Meinung. Im Spiegel der öffentlichen Meinung, so Luhmann, „kann man beobachten, wie der Beobachter selbst und andere in der öffentlichen Meinung abgebildet werden. Im Spiegel sieht man jedenfalls nicht sich selbst, sondern nur das Gesicht, das man für den Spiegel aufsetzt und ihm zuwendet. Aber man sieht nicht nur das, sondern man sieht im Rückblick über die Schultern hinweg die anderen, die im gleichen Raum vor dem Spiegel agieren: andere Personen, andere Gruppen, andere politische Parteien, andere Versionen zum gleichen Thema […]. Der Spiegel der öffentlichen Meinung ermöglicht mithin, ähnlich wie das Preissystem des Marktes, eine Beobachtung von Beobachtern“ (Luhmann 1990, 181). Responsivität wird über die Beobachtung von im Medium der öffentlichen Meinung abgebildeten Beobachtern, genauer gesagt über die Beobachtung von Herrschaftsträgern durch die Bürger und die Beobachtung der Bürger durch die Herrschaftsträger möglich. Als normative Voraussetzung gilt dabei lediglich, dass die Bürger die Möglichkeit haben, „sich über die Repräsentanten und deren Konkurrenten vor den Wahlen hinreichend zu informieren. Sie müssen sich zugleich zwischen den Wahlen über die verschiedenen, von den Herrschaftsträgern geplanten und beschlossenen Gesetze und die von der Opposition daran kritisierten
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Punkte informieren können“ (Gerhards 2002, 137f.). Gefordert ist normativ an der Input-Seite eine Offenheit gegenüber Themen und Akteuren. Im Throughput sollten Alternativen sicht- und zurechenbar sein, damit die Bürgerinnen und Bürger je für sich ihre Meinungen bilden und Entscheidungen fällen und die Herrschaftsträger ihr Handeln an der öffentlichen Meinung orientieren können (Output). Diese prinzipielle Offenheit gegenüber Themen, Meinungen und Akteuren ist im Diskursmodell (Habermas 1962, 1989, 1990, 1992), wie die Ausführungen zum Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit bereits gezeigt haben, nur eine notwendige Bedingung für eine unter normativen Gesichtspunkten „gute“ Öffentlichkeit. Darüber hinaus formuliert es in drei Belangen weiterführende Ansprüche: Öffentlichkeit soll zwar prinzipiell offen sein, im Unterschied zum Spiegelmodell, das eine angemessene Repräsentanz der Akteure in der öffentlichen Kommunikation gemäss deren Machtpositionen erkennt, verlangt das Diskursmodell aber erstens eine starke Partizipation von zivilgesellschaftlichen Akteuren als Sprecher (Input). Zweitens sollen in der öffentlichen Auseinandersetzung geäusserte Stellungnahmen von Repräsentanten und Kontrahenten nicht einfach nur, gleichsam als nebeneinanderher gemachte Verlautbarungen, sichtbar sein, sondern es muss die Auseinandersetzung als dialogische Struktur mit wechselseitigen Bezugnahmen erkennbar sein. Darüber hinaus soll dieser Dialog als rational begründeter Austausch von Argumenten und Gegenargumenten geführt werden (Throughput). Drittens ist der öffentliche Diskurs unmittelbar auf das politische System und die Politikgestaltung bezogen. Öffentlichkeit umgibt das politische Zentrum „im Modus der Belagerung [...] ohne Eroberungsabsicht“ (Habermas 1989, 31) und operiert dabei als „Warnsystem mit unspezialisierten, aber gesellschaftsweit empfindlichen Sensoren, (das) Probleme nicht nur wahrnehmen und identifizieren, sondern auch überzeugend und einflussreich thematisieren, mit Beiträgen ausstatten und so dramatisieren (soll), dass sie vom parlamentarischen Komplex übernommen und bearbeitet werden“ (Habermas 1992, 435). Diese Orientierungsfunktion kann eine politische Öffentlichkeit allerdings nur dann erfüllen, wenn politischem Entscheidungshandeln jeweils öffentliche Debatten vorgelagert sind, die die Entscheidungsträger gemäss den Input- und Throughput-Erfordernissen mit einem „Pool von Gründen“ versorgen (Habermas 1989, 28). Laut Habermas ist diese deliberative Qualität einer in der Öffentlichkeit erzeugten öffentlichen Meinung bzw. das „diskursive Niveau der Meinungsbildung“ das entscheidende „Mass für die Legitimität des Einflusses, den öffentliche Meinungen auf das politische System ausüben“ (Habermas 1992, 438). Eine Öffentlichkeit ist also gemäss normativen Vorstellungen des Diskursmodells dann „gut“, wenn eine für das politische System sichtbare Mehrheitsmei-
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nung produziert wird, die das Resultat eines öffentlichen Diskurses unter zentraler Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Akteure ist. Das Interaktionsmodell geht nicht so weit wie das Diskursmodell. Es verlangt weder eine starke Repräsentanz von zivilgesellschaftlichen Akteuren in der öffentlichen Kommunikation noch eine nach diskursethischen Regeln sich vollziehende Verständigungspraxis. Auf der anderen Seite geht es einen bedeutenden Schritt weiter als das Spiegelmodell, indem öffentliche Kommunikation als antagonistische Interaktion modelliert wird, der die Korrektur von Irrtümern, somit kollektives Lernen, ermöglichen soll. Damit knüpft das Interaktionsmodell an das Potenzial an, das der liberale Denker John Stuart Mill der öffentlichen Kommunikation zugetraut hat: So betont Mill in seiner Kampfschrift „Über die Freiheit“, dass der öffentliche Diskurs „Irrtümer (zu) korrigieren“ vermag (1859 [1988], 30), sofern man das „Zusammenprallen entgegengesetzter Meinungen“ (ebd., 72) 35 zulasse. Kollektives Lernen vollzieht sich nun aber nicht etwa dadurch, indem die zusammenprallenden Meinungen diskursiv in ein Zusammenstimmen überführt würden, nein, die Korrektur möglicher Irrtümer ergibt sich viel mehr als Resultat konfliktinduzierten und somit gleichsam evolutiven Lernens (vgl. auch Siegenthaler 2000, 2003). Inwieweit eine politische Öffentlichkeit realiter den normativ unterschiedlich anspruchsvollen Anforderungen gerecht wird, ist allerdings eine empirische Frage. Sind aber die im Spiegelmodell genannten Minimalanforderungen nicht erfüllt, ist nicht nur die normativ anspruchsvollere Selbststeuerung, sondern bereits die eher passive Herrschaftskontrolle nicht möglich (Kohler 1999). Entscheidend im Hinblick auf eine Input-legitimierende Selbststeuerung scheint mir jedoch die Erfordernis der wechselseitigen Bezugnahme öffentlicher Kommunikation: Demokratie als Prozess erfordert interaktive Auseinandersetzungen, als deren Ergebnisse Irrtümer gerade als Folge konfliktinduziertem Lernens stets von neuem korrigiert und, noch besser, vermieden werden können.
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„Erstens: Wenn man eine Meinung zum Schweigen zwingt, so kann sie doch, soweit wir wissen können, richtig sein. Das leugnen, hiesse unsere Unfehlbarkeit beanspruchen. Zweitens: Mag auch die zum Schweigen gebrachte Meinung irrig sein, so kann sie doch – was häufig genug vorkommt – ein Körnchen Wahrheit enthalten. Und da die allgemeine oder die vorwiegende Meinung über eine Sache selten oder niemals die ganze Wahrheit enthält, hat der übrig bleibende Teil nur durch Zusammenprallen entgegengesetzter Meinungen Gelegenheit, unterstützt zu werden. Drittens: Selbst wenn die überlieferte Meinung nicht nur die Wahrheit, sondern sogar die ganze Wahrheit enthielte, so würden die meisten derer, die sie teilen, sie nur als eine Art Vorurteil annehmen, mit wenig Verständnis oder Sinn für ihre verstandesmässige Begründung, wenn man nicht zulässt, ja sogar darauf besteht, sie in vollem Ernst zu bekämpfen“ (1988, 72 f.).
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2.4 Arenatheoretisches Öffentlichkeitsmodell Nachdem die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, dass die Leitidee von Öffentlichkeit in der demokratischen Ermöglichung von Herrschaftskontrolle und politischer Selbstbestimmung besteht und Öffentlichkeit deswegen als Raum für die kommunikativen Auseinandersetzungen über die gemeinsamen Angelegenheiten zu bezeichnen ist, geht es jetzt darum, diesen Raum in der Sozialstruktur moderner Gesellschaften zu verankern und zu begründen, weshalb nationale Kommunikationsräume in der nationalen Medienarena zentriert sind. Dazu kann an die in Kapitel 2.2 dargelegten arenatheoretischen Implikationen der Revisionen an dem von Habermas beschriebenen Strukturwandel der Öffentlichkeit angeknüpft werden. Diese betreffen erstens das Faktum, dass Öffentlichkeit aus Gesprächen und kommunikativen Handlungsvollzügen von kollektiven Akteuren und Einzelpersonen einer Kommunikationsgemeinschaft hergestellt wird. Diese Kommunikationsgemeinschaft darf jedoch selbst im nationalstaatlichen Kontext nicht als eine volkshomogene Gemeinschaft vorgestellt werden, sie ist seit der Trennung von Staat und Gesellschaft nach Öffentlichkeitsarenen funktional und segmentär differenziert, zugleich aber immer noch geschichtet (2.4.1). Von allen Öffentlichkeitsarenen bilden zweitens die Massenmedien das einzige gesellschaftliche Teilsystem, das die anderen Öffentlichkeitsarenen über einen Modus der Beobachtung zweiter Ordnung sozialräumlich zu integrieren vermag, indem in der Medienarena Kommunikationsereignisse produziert werden, die in den anderen Arenen und auf allen Ebenen von Öffentlichkeit Anschlusskommunikation auszulösen vermögen. Dies ist der Grund, weshalb ein nationaler Kommunikationsraum in der nationalen Medienarena zentriert ist, ohne darin vollständig aufzugehen (2.4.2). Eine dritte Implikation betrifft die Unterscheidung von einer „Öffentlichkeit im Krisenbewusstsein“ und einer „Öffentlichkeit im Modus der Routine“. In vergleichbarer Weise ist auch von der Unterscheidung einer „aktiven“ und einer „passiven“ Öffentlichkeit die Rede (Dahrendorf 1974), welche auf den Umstand verweist, dass es historische Phasen im sozialen Wandel und Episoden in konkreten Auseinandersetzungen gibt, während derer Öffentlichkeit anspringt und die Kommunikationsstrukturen gleichsam zu vibrieren beginnen. Aus argumentationslogischen Gründen wird dieser dritte Aspekt allerdings erst im Kapitel 3.3 im Zusammenhang mit den Konstitutionsbedingungen europäi36 scher Öffentlichkeit im Rahmen einer Theorie sozialen Wandels erläutert.
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Die Ausführungen in diesem Kapitel sind im Wesentlichen der präzisen Beschreibung der Komplexität moderner Öffentlichkeitsstrukturen durch Kurt Imhof zu verdanken und beruhen hauptsächlich auf seinen beiden Monografien von 1996b sowie 2009.
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2.4.1 Öffentlichkeitsstruktur und Arenen im demokratischen Nationalstaat Öffentlichkeit ist eingeführt worden als Raum für kommunikative Auseinandersetzungen zum Zweck der Herrschaftskontrolle und Selbststeuerung im demokratischen Nationalstaat. Diese Auseinandersetzungen werden geführt von staatlichen, intermediären und (zivil)gesellschaftlichen Akteuren sowie von Einzelpersonen, die allesamt mit ihren Stellungnahmen die zwischen dem politischen System und der Lebenswelt der Staatsbürger sowie den gesellschaftlichen Teilsystemen vermittelnde öffentliche Meinung erzeugen. Solche Auseinandersetzungen finden auf drei hierarchisch gestuften Öffentlichkeitsebenen statt (Gerhards / Neidhardt 1993, 63): Auf der untersteten Ebene gibt es spontane Auseinandersetzungen an Stammtischen, auf dem Markt, im Zug oder wo auch immer. Auf der zweiten Ebene finden solche Auseinandersetzungen im Rahmen von organisierten Veranstaltungen wie Elternabenden, Rockkonzerten, Podien, Konferenzen, Partei- und Generalversammlungen, Landsgemeinden, Gemeindeversammlungen oder auch Strassendemonstrationen statt. Für die spontane Interaktionskommunikation wie für die organisierte Versammlungskommunikation gilt jedoch, dass sie bloss situationsbezogen und von episodischer Natur sind. Die in Begegnungs- und Versammlungsöffentlichkeiten geführten Auseinandersetzungen können indes nur auf Dauer gestellt werden, wenn auf der dritten Ebene eine massenmediale Öffentlichkeit besteht, welche die Kommunikation auf den unteren beiden Ebenen dauerhaft zu integrieren vermag. Auch die bürgerliche Öffentlichkeit bestand bereits aus diesen drei Öffentlichkeitsebenen. In der Kritik wurde jedoch bemängelt, dass sich diese Öffentlichkeit nur auf den sozialstrukturellen Unterbau der bürgerlichen Kommunikationsgemeinschaft bezogen hat. Wenn der Übergang vormoderner Gesellschaften nicht als Trennung zwischen Staat und Gesellschaft, sondern als Prozess einer funktionalen Ausdifferenzierung beschrieben wird, dann wird offensichtlich, dass sich der sozialstrukturelle Unterbau moderner Öffentlichkeiten nicht auf das Publikumssegment irgendeiner Klasse, Schicht oder auf bestimmte politische Milieus beschränken darf, sondern sich auf die Gesamtheit funktional ausdifferenzierter Teilsysteme der Gesellschaft wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst oder Medien beziehen muss (Luhmann 1986). Tut man dies, dann gelangt ein differenzierungstheoretischer Beschrieb in den Blick, der die nationale Öffentlichkeit als einen in funktional und segmentär differenzierte Öffentlichkeitsarenen gegliederten und zugleich nach Statusmerkmalen geschichteten Kommunikationsraum zu beschreiben vermag (Imhof 2008, 2009; Wessler 2002a). Im Hinblick auf die funktionale und segmentäre Differenzierung lassen sich die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme sowie die nach politischer
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Weltanschauung, Religion, Ethnie, Sprache oder auch Lebensstilgruppen differenzierten Milieus je als Kommunikationsgemeinschaften mit eigenen kollektiven Identitäten und einem spezifischen Zusammengehörigkeitsbewusstsein unterscheiden. Diese Teilsysteme können als unterschiedliche Kommunikationssysteme beschrieben werden, die gemäss ihrer systeminternen Rationalität Diskurse organisieren (Gerhards / Neidhardt 1993; Luhmann 1986). Anstatt von Kommunikationssystemen möchte ich von Teilöffentlichkeiten oder Öffentlichkeitsarenen37 sprechen, die sich in sozialer, sachlicher, zeitlicher und sozialräumlicher Hinsicht unterscheiden. In der sozialen Dimension sind Öffentlichkeitsarenen charakterisiert durch spezifische Akteurensembles in entsprechenden Leistungsund Publikumsrollen.38 In der sachlichen Dimension sind sie bestimmt durch eine spezifische Sinnrationalität, nach welcher Themen selektioniert und Debatten geführten werden. In zeitlicher Hinsicht sind sowohl die Akteurensembles wie auch die Diskursrationalitäten stabil, was einen auf Dauer gestellten Diskurs unter Gleichen ermöglicht. Und in sozialräumlicher Hinsicht diffundieren die Debatten über Versammlungsöffentlichkeiten und systemeigene Medien zu jenem Publikum, das die jeweilige Arena bzw. Teilöffentlichkeit konstituiert. So lässt sich beispielsweise die Börse als funktional differenzierte Öffentlichkeitsarena modellieren (Tobler 2004). In dieser Börsenarena kommunizieren Wirtschaftsjournalisten, Banker, Unternehmer, Analysten und andere Wirtschaftsexperten über Anlagemöglichkeiten, wobei der Diskurs durch die spezifische Sinnrationalität der Renditeerwartung (Gewinn / Verlust) bestimmt ist. Institutionelle und Kleinaktionäre bilden dabei das Publikum, das sich über Börsenzeitungen und Anlegermagazine informiert, Fachmessen besucht oder sich auch über Internetforen untereinander austauscht. Die Wissenschaftsarena, um ein weiteres Beispiel für eine funktional ausdifferenzierte Öffentlichkeitsarena anzuführen, ist geprägt durch einen an Wahrheitsfindung orientierten Diskurs, wobei Wissenschaftler ihre Erkenntnisse vor einem wissenschaftlich interessierten Publikum an Fachkongressen und in Fachpublika zur Diskussion stellen. 37
Im Unterschied zum Begriff „Kommunikationssystem“ impliziert der Begriff „Öffentlichkeitsarena“ im öffentlichkeitssoziologischen Kontext stets eine Interdependenz von Akteuren, Publikum und Medien als die drei zentralen Strukturelemente einer Öffentlichkeit. Bei Neidhardt (1994, 7f.) wird Öffentlichkeit als „offenes Kommunikationsforum“ eingeführt, dass aus einer Arena und einer Galerie besteht. Während in der Arena Akteure als Sprecher auftreten, wird die Galerie besetzt von einem prinzipiell unbekannten und unabgeschlossenen Publikum, dem es jederzeit frei steht, den Platz auf der Galerie wieder zu verlassen und sich anderen Dingen zuzuwenden oder aber sich selber aktiv in der Arena als Sprecher zu positionieren zu versuchen. Hinzu kommen Medien als Chronisten und Vermittler der Auseinandersetzungen, wobei Journalisten zugleich als Sprecher auftreten. 38 In der Systemtheorie ist die Ausbildung von Leistungs- und Publikumsrollen eine notwendige Voraussetzung für die dauerhafte Absicherung von Kommunikationssystemen (Gerhards 1994).
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Segmentär differenzierte Öffentlichkeitsarenen, etwa religiösen oder ethnischen Typs, erfüllen diese Kriterien genauso. So diskutiert zum Beispiel eine jüdische Diasporagemeinschaft im Rahmen kirchlicher oder gemeinschaftlicher Veranstaltungen sowie in ihren eigenen Diasporamedien vorwiegend über Themen, die sie als jüdische Gemeinschaft im fremden Land betreffen oder die einen Bezug zum Heimatland Israel haben. Infolge der speziellen Stellung, welche der Staat im politischen System als generalisierter Adressat von Problembezügen und legitimer Akteur für die Durchsetzung kollektiv bindender Entscheide hat (Gerhards / Neidhardt 1993), und der trotz Strukturwandel der Öffentlichkeit noch immer engen Beziehung zwischen Politik und Medien, umfasst die politische Öffentlichkeitsarena potenziell nicht nur alle Akteure einer Gesellschaft, sie orientiert sich auch an einer Sinnrationalität, die zunehmend durch die Medienlogik geprägt ist. Im engeren Kreis agieren Parteien, Regierung und Opposition vor dem Publikum in der Rolle der Staatsbürger. Indem der Staat Gesetze gegenüber jeglichen Anspruchsgruppen durchsetzen kann, erweitert sich der Kreis potenzieller Leistungs- und Publikumsrollen jedoch fallspezifisch auf Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, Unternehmen sowie ganz unterschiedliche Interessengruppen und zivilgesellschaftliche Akteure. Im inneren Kreis versuchen politische Akteure das Publikum für Problemlösungen zu überzeugen, von denen sie annehmen, dass sie die richtigen Antworten auf die wirklichen Betroffenheiten im Publikum geben. Im ursprünglichen Sinn ist der politische Diskurs deshalb am Gemeinwohl orientiert. Wegen der eigentümlichen Interdependenz zwischen Wählern und Gewählten zum einen und der strategischen Konkurrenz zwischen den zu wählenden Parteien und Personen zum anderen haftet dieser Diskursrationalität von Beginn an eine Latenz zur Skandalisierung an, weshalb der politische Diskurs durch die Leitdifferenz Gemeinwohlorientierung / Skandalisierung bestimmt ist: Um ihre Wahlchancen zu erhöhen, treten die Leistungsträger vor dem Publikum der Staatsbürger gemeinwohlorientiert auf respektive verschleiern ihre Partikularinteressen in Gemeinwohlsemantik. Gleichzeitig versucht der politische Gegner im Kampf um Herrschaftspositionen seine Gegner genau dieser Korruption zu entlarven und fährt eine Skandalkommunikation hoch. Dieser Mechanismus wird mit der Ausdifferenzierung des Mediensystems aus dem politischen System und der Orientierung der Medien an den Aufmerksamkeitsbedürfnissen eines zunehmend entpolitisierten Publikums verstärkt. Die Leitdifferenz Gemeinwohlorientierung / Skandalisierung akzentuiert sich zugunsten einer mediengetriebenen Skandalisierung (Imhof 2002b, 2003c, 2005). Systemeigene Medien der politischen Öffentlichkeitsarena gibt es heute nur noch in Form von partei- oder verbandsinternen Zeitungen und Informationsbulletins. Solche Medien sind infolge
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ihrer geringen Reichweite für die politische Öffentlichkeitsarena nicht mehr konstitutiv. Diese wird viel mehr getragen von den kommerzialisierten und den öffentlich-rechtlichen Medien, die zusammen die nationale Medienarena bilden. Eine nationale Öffentlichkeit und jede Öffentlichkeitsarena für sich ist auch stratifikatorisch differenziert. Nicht alle Organisationen und kollektiven Akteure und noch weniger Einzelpersonen haben die gleiche Chance, sich in den Öffentlichkeitsarenen, insbesondere jedoch in der Medienarena, Resonanz zu verschaffen. Definitionsmacht, definiert als die Chance, bei anderen kraft Resonanz Anschlusskommunikation oder wenigstens Gehör und Aufmerksamkeit zu erzwingen, ist unter den Akteuren einer Gesellschaft ungleich verteilt. Über die Verteilung dieser Chance entscheiden Reputation und Sozialprestige zum einen, soziale Stellung und Geld zum anderen. Nationaler Kommunikationsraum
Politik Autonome Öffentlichkeit
Kunst
Wirtschaft
Massenmedien
Wissenschaft
Peripherie
Abbildung 1:
Sinnzirkel
Autonome Öffentlichkeit Religion
Peripherie
Öffentlichkeitsstruktureller Grundriss demokratischer Nationalstaaten
Nun sind jedoch nationale Öffentlichkeiten nicht nur entlang einer Akteursdimension in etablierte und nicht-etablierte Akteure stratifiziert, auch die Öffentlichkeitsarenen selbst verfügen nicht über gleich verteilte Definitionsmacht. Welche Normen und Werte in einer Gesellschaft gelten sollen, welche institutionellen Regeln sich verbindlich durchsetzen, wird in jener Sphäre der Gesellschaft entschieden, welche Kurt Imhof den „Sinnzirkel“ (1996b, 210ff.) nennt. Dieser Sinnzirkel, der sich über die kommunikativen Auseinandersetzungen der etab-
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lierten Akteure der politischen, ökonomischen und medialen Arenen39 generiert, grenzt sich ab gegenüber semi-autonomen Öffentlichkeitsarenen40 der Wissenschaft, Religion und Kunst einerseits und den als „autonomen Öffentlichkeiten“ bezeichneten Arenen anderseits. Während die semi-autonomen Öffentlichkeitsarenen wissenschaftliche Expertisen, moralische Appelle oder expressive Irritationen in die im Sinnzirkel geführten Auseinandersetzungen beisteuern, bleibt den autonomen oder alternativen Öffentlichkeiten politisch peripherisierter Gruppierungen, ethnischer Minderheiten oder unkonventioneller Lebensstilgruppen der Zugang zu den Arenen der öffentlichen Auseinandersetzungen im Sinnzirkel – ausser in Phasen wahrgenommener Krisen – meist verwehrt. Der Sinnzirkel ist aber nicht nur jene Sphäre einer nationalen Gesellschaft, in welcher die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die verbindlichen Regeln, Werte und Normen stattfinden; indem in dieser Sphäre immer wieder zur Disposition steht, was wie gelten soll, wird zugleich mitdefiniert, für wen was wie gelten soll und für wen nicht. Über die demokratischen Funktionen der Ermöglichung von Herrschaftskontrolle und politischer Selbstbestimmung hinaus bekommt die öffentliche Kommunikation eine sozialintegrative Funktion, indem sie kollektive Identitäts- und Abgrenzungskonstruktionen ermöglicht und 41 gesellschaftsweit diffundieren lässt (Imhof 1996c, 212, 216f.). Am Beispiel der politischen Öffentlichkeitsarena wurde die sozialintegrative Funktion der Massenmedien bereits ersichtlich. Das politische System lässt sich ja arenatheoretisch modellieren als Öffentlichkeitsarena, die selbst wiederum in vereinzelte Teil- oder Binnenöffentlichkeiten wie die parlamentarische Arena oder parteiinterne Arenen differenziert ist (Ettinger 2005). Diese nur lose miteinander verbundenen Binnenöffentlichkeiten lassen sich sozialräumlich und dauerhaft in einen politischen Diskurs indes nur integrieren, wenn auf Politik spezialisierte Massenmedien die in den parlamentarischen Arenen sowie in den internen Arenen kollektiver Akteure stattfindende politische Kommunikation beobachten und über die Produktion von Kommunikationsereignissen allen zur 39
Zu den etablierten Kommunikationszentren des Sinnzirkels zählt Imhof die politischen Organisationen Regierung, Behörden, Parteien und Verbände, weiter die in Unternehmen ausdifferenzierten Marketing- und PR-Agenturen, Medien- und Pressestäbe sowie schliesslich die öffentlichrechtlichen und privaten Medienorganisationen (Imhof 1996c, 220-235, 2003, 204, 2009). 40 Diese drei Sphären wenden sich der Welt je unter einem besonderen Gesichtspunkt möglicher Welteinstellungen zu: Während die Wissenschaft einen kognitiven Weltbezug zur objektiven Welt herstellt und nach dem Code des Wahren kommuniziert, die Religion einen moralisch-ethischen Weltbezug zur sozialen Welt herstellt und nach dem Code des Guten kommuniziert, kommuniziert die Kunst nach dem Code des Schönen, indem sie einen expressiven Weltbezug zur subjektiven Welt herstellt (Imhof 1996c, 236-245). 41 Die Thematik kollektiver Identitätsbildungsprozesse wird im Zusammenhang mit der Identitätsdimension europäischer Kommunikation unter 3.2.2 wieder aufgenommen.
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Demokratie- und gesellschaftstheoretische Fundierung von Öffentlichkeit
Beobachtung zugänglich machen und auf die Weise Anschlusskommunikation ermöglichen. Indem Massenmedien nicht nur Politik beobachten und darüber berichten, sondern gemeinhin über alles – Börse, Wissenschaft, Sport usw. –, ermöglichen sie „Realitätskonstruktionen, an denen alle Teilsysteme, ja alle Menschen teilhaben können“ (Luhmann 1996, 188) und leisten somit eine „gesellschaftliche Inklusion der Bürger in die Gesellschaft insgesamt“ (Gerhards 1994, 88).42 Massenmedien machen somit nicht nur die in den unterschiedlichen Arenen geführten Diskurse beobachtbar, sondern sie verknüpfen darüber hinaus über die Ermöglichung von Anschlusskommunikation, die dann selbst wiederum in Massenmedien sicht- und beobachtbar wird und ihrerseits erneute Anschlusskommunikation generiert, die vereinzelten Sprech- und kommunikativen Handlungsakte zu einem auf Dauer gestellten Diskurs der Gesellschaft über Gesellschaft. Dieser Mechanismus begründet, weshalb sich in der Medienarena gesellschaftliche Kommunikation verdichtet; und dies ist auch der Grund, weshalb der nationale Kommunikationsraum in der nationalen Medienarena zentriert ist, gleichwohl auch ausserhalb Kommunikation über die Gesellschaft und somit alternative Konstruktionen sozialer Wirklichkeit stattfindet (Marcinkowski 2002). 2.4.2 Nationale Medienarena und Kommunikationsereignisse Mit Blick auf die Abgrenzung nationaler Öffentlichkeiten nach aussen sprechen auch Peters und Wessler (2006, 127) von einer „kommunikativen Verdichtungszone“, die sich in der massenmedialen Berichterstattung festmachen lässt. Solche in nationalen Medienarenen zentrierten kommunikativen Verdichtungszonen lassen sich zum einen auf eine Infrastruktur von unterschiedlichen Medien zurückführen, die zeitgleich gleiche Kommunikationsereignisse produzieren. Zum anderen lässt sich der mediale Produktionsoutput selbst anhand vierer Indikatoren öffentlicher Kommunikation beschreiben, mittels derer sich bestimmen lässt,
42
Die Integration funktional ausdifferenzierter und autopoietisch operierender Teilsysteme erkennt die neuere Systemtheorie nach Marcinkowski (2002) nicht darin, dass die verschiedenen Teilsysteme durch die Beobachtung des Gleichen zu einem Ganzen integriert würden. Aufgrund der autopoietischen Operationsweise sei dies gar nicht möglich. Der Integrationsmechanismus vollziehe sich hingegen über jene Beobachtung zweiter Ordnung, die im jeweiligen System auf Grundlage der eigenen Sinnrationalität zu Reflexionen und Anschlusskommunikationen führe, die eine Anpassung des eigenen Verhaltens an anderswo formulierte Erwartungen begünstige.
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ob eine Kommunikationszone national, transnational oder auch europäisch verdichtet ist.43 Betrachten wir zunächst also eine Medienarena aus einer infrastrukturellen Perspektive, so besteht diese aus einem von Land zu Land variierenden Set einzelner Medien, die sich mit Bezug auf die in der Soziologie gebräuchlichen Sinndimensionen sozialräumlich, sachlich und sozial unterscheiden lassen. Sozialräumlich können Medien mit Blick auf ihre Verbreitung unterschieden werden. Dahingehend existieren Medien mit einer nationalen Verbreitung und Reichweite sowie regionale und lokale Medien. Während lokale Medien von einem lokalen Publikum genutzt werden, ist das Publikum von nationalen Medien selbstredend nicht an den Sozialraum einer bestimmten Region gebunden, sondern eben national zerstreut. Im Unterschied zu regionalen und lokalen Medien verfügen Medien mit nationaler Reichweite über das Potenzial für Anschlusskommunikation auf nationaler Ebene und vermögen auf diese Weise die verschiedenen regionalen Sozialräume in einen nationalen Kommunikationsraum zu integrieren. In sachlicher Hinsicht können General-interest- und Special-interestMedien unterschieden werden. Als Special-interest-Medien sind all jene Medien zu bezeichnen, die weiter oben als systemeigene Medien thematisch spezifizierter Öffentlichkeitsarenen bezeichnet worden sind: die auf die Börse und Anlagen spezialisierte Finanzpresse, am sportlichen Geschehen interessierte Gazetten, auf unterschiedliche Musikstile spezialisierte Magazine usw. Der Ausschnitt der Realitätskonstruktionen solcher Medien beschränkt sich auf einen thematisch engen Bereich, für den sich ein spezifisches Publikum interessiert. Im Unterschied dazu fokussieren General-interest-Medien wie Qualitätszeitungen, Forumszeitungen, Fernseh- und Radiovollprogramme, teilweise auch die Boulevardmedien, den gesamten Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit. Indem General-interest-Medien über Politik, Wirtschaft, Sport, Wissenschaft, Kultur etc. berichten, vernetzen sie die sachlich getrennten Arenen, indem sie hier wie dort Anschlusskommunikation auslösen können. Medien können auch in sozialer Hinsicht als Leitmedien und Folgemedien unterschieden werden. Als Leitmedien einer Medienarena gelten Medien, die von anderen Medien besonders stark beobachtet und zitiert werden und von einem breiten und allgemeinen Publikum wie auch von den unterschiedlichen Eliten der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion etc. benutzt werden. Aufgrund ihres Sozialprestiges verfügen Leitmeiden über eine hohe Definitionsmacht und sind für die Institutionalisierung gesellschaftsweit geführter Diskurse zentral, weil sie besonders geeignet sind, beispielsweise auch in anderen Medien 43
Im Rahmen der Besprechung der Dimensionen europäischer Kommunikation werden diese Indikatoren wieder aufgenommen und für den europäischen Kontext der Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit ausführlich besprochen (vgl. 3.2.2).
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Anschlusskommunikation zu erzeugen. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Integration der Bürger in die Gesellschaft insgesamt sind somit überregionale General-interest-Leitmedien besonders wichtig und für Untersuchungen repräsentativ, die sich auf den Output der Medien beziehen: die Berichterstattung in Gestalt von Kommunikationsereignissen. Kommunikationsereignisse sind definiert als mediale Berichterstattungsabfolgen zum gleichen Thema44 und können als „thematisch zentrierte Sinneinheiten“ (Eisenegger 2003; Imhof 1993a; Kamber 1995) bezeichnet werden. Sie zeichnen sich aus durch einen bestimmten Gegenstand, der anzeigt, worum es geht und worüber debattiert wird; sie lassen Akteure sichtbar- und beobachtbar werden, die sich an der Auseinandersetzung beteiligen und in Medien als Sprecher Resonanz erhalten; Kommunikationsereignisse durchlaufen, vergleichbar mit dem Konzept des „Issue-Attention-Cycle“ (Downs 1972) und der Beschreibung der „Lebensgeschichte“ von Themen (Luhmann 1971) eine Karriere; und sie beziehen sich auf einen Geltungsbereich, der sich an sozialräumlichen oder geografischen Kriterien festmachen lässt.45 Kommunikationsereignisse sind somit sinnstiftende Leistungen von Journalisten bzw. Medien(organisationen) und damit als „Realitätskonstruktionen“ (Luhmann 1996) zu bezeichnen. Sie bringen letztlich eine soziale Wirklichkeit zum Vorschein, die von den gesellschaftlichen Akteuren inklusive Journalisten in kommunikativen Handlungsvollzügen selbst erzeugt wird und die auf die zeithistorischen Diskurse einer Gesellschaft verweist.46 Eine kommunikative Verdichtungszone, die in einer Medienarena zentriert ist, verlangt nun per definitionem, dass die verschiedenen Medien in hinreichendem Mass zeitgleich gleiche Kommunikationsereignisse produzieren, was einen Bestand gemeinsam geteilter Aufmerksamkeits- und Relevanzstrukturen anzeigt. Gestützt auf vier Indikatoren lässt sich bestimmen, ob die mit der kommunikativen Verdichtungszone korrelierenden Aufmerksamkeits- und Relevanzstrukturen national oder anders geprägt sind:
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Kommunikationsereignisse können letztlich auch auf der Basis von Medien gebildet werden, die nicht der nationalen Leitmedienarena, sondern spezifischer Teilarenen zuzuweisen sind. Beispielsweise können Kommunikationsereignisse einer Wirtschafts- und Finanzarena, einer Sportarena, einer linksalternativen Öffentlichkeit etc. erfasst werden. Selbst innerhalb des politischen Systems lassen sich anhand der parlamentarischen Bulletins die Kommunikationsereignisse der parlamentarischen Arena erfassen. 45 Kommunikationsereignisse werden im Kapitel 4.1.1 weiter spezifiziert. 46 Dieser Ansatz gründet letztlich in einer konstruktivistischen bzw. phänomenologischen Tradition: Kommunikationsereignisse als Realitätskonstruktionen zweiter Ordnung geben Auskunft, wie Journalisten die Welt als Realität erster Ordnung beobachten, beschreiben und auslegen. Vgl. etwa das Problem der Relevanz von Alfred Schütz.
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Dominanz nationaler Themen: Eine Kommunikationszone ist erstens national, wenn sich die Kommunikationsereignisse vorwiegend auf nationale Gegenstände der Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft, des Sport etc. beziehen. Dominanz nationaler Akteure: Eine Kommunikationszone ist zweitens national, wenn vor allem nationale Akteure als Sprecher auftreten. Dominanz nationaler Interdiskursivität: Eine Kommunikationszone gilt drittens als national, wenn sich in Sprechakten vor allem Sprecher wechselseitig aufeinander beziehen, die der heimischen Nation bzw. Kommunikationsgemeinschaft angehören. Dominanz nationaler Identitätssemantiken: Eine Kommunikationszone ist viertens national, wenn sich die Sprecher in nationalen WIR-Bezügen äussern und gegenüber anderen Bezugsgruppen abgrenzen.
Damit haben wir einen nationalen Kommunikationsraum, der in der nationalen Medienarena zentriert ist, beschrieben und zugleich begründet, weshalb diese mit dem Sinnzirkel einer Gesellschaft identische Sphäre als kommunikative Verdich47 tungszone bezeichnet wird. Im nächsten Kapitel gilt es nun zu zeigen, dass eine europäische Öffentlichkeit infrastrukturell in solchen nationalen Medienarenen verankert und letztlich als ein Emergenzphänomen zu modellieren ist, das aus diesen hervortritt, wenn sich die national verdichteten Kommunikationszonen wechselseitig zu überlappen, durchdringen oder verschränken beginnen und auf diese Weise transnational verdichtete Kommunikationszonen in Gestalt europäischer Kommunikationsereignisse entstehen.
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Eine Gesellschaft, in welcher der Sinnzirkel und die in der Medienarena zentrierte kommunikative Verdichtungszone auseinandertreten würden, könnte nicht mehr als sozialintegrierte Gesellschaft bezeichnet werden. Es ist unvorstellbar, dass sich ein Sinnzirkel gegen eine in nationalen Medienarenen zentrierte kommunikative Verdichtungszone behaupten könnte.
3 Europäische Öffentlichkeit
Die „Debatte um die (Nicht-)Existenz einer europäische Öffentlichkeit“ verweist auf ein relativ junges Forschungsfeld, das der weiter gefassten Europaforschung zuzuordnen ist und sich im Wesentlichen mit den folgenden drei Fragen befasst: Zum Ersten stellt sich die Frage, warum eine europäische Öffentlichkeit überhaupt nötig ist. Diese erste Frage verweist auf das in der Europaforschung thematisierte Legitimationsproblem europäischer Governance. Der zweite Problemkreis beschäftigt sich mit der Frage, wie eine europäische Öffentlichkeit zu beschreiben ist. Im Zentrum dieses Problemkreises stehen theoretische Konzepte, Operationalisierungen und empirische Vermessungen sowie die Bewertung der empirischen Befunde an normativen Massstäben. Die dritte Frage lautet: Wie ist eine europäische Öffentlichkeit möglich? Hierbei angesprochen sind Konstitutionsbedingungen europäischer Öffentlichkeit, die sich nur im Rahmen transdisziplinärer Ansätze adäquat benennen lassen. Was die Beantwortung dieser drei zentralen Leitfragen betrifft, stehen sich auf dem Forschungsfeld zwar keine ausgereiften Schulen, aber doch drei unterschiedliche Lager gegenüber. Auf der einen Seite stehen die Pessimisten und 48 Skeptiker. Sie sprechen von einem Öffentlichkeitsdefizit und glauben auch nicht, dass sich dies in nächster Zeit aus strukturellen sowie kulturellen Gründen ändern wird. In deren Perspektive ist eine weitere Demokratisierung der Europäischen Union aus diesen Gründen nicht möglich. Ihnen stehen die Optimisten gegenüber. Sie vertreten die Meinung, dass es in Europa schon ein beträchtliches Mass an europäischer Kommunikation und Öffentlichkeit gibt und bezeichnen die Rede von einem Öffentlichkeitsdefizit als reinen „Popanz“ (Eder 2000, 171)49. Sie sind überzeugt, dass die EU auf supranationaler Ebene demokratisierungsfähig ist. Dazwischen liegen die Pragmatisten, die weder dem einen noch dem anderen Lager zuzurechnen sind. Sie vertreten die Meinung, dass das, was als beobachtbare transnationale und europäische Kommunikation bereits vorliegt, zwar für eine stärkere Demokratisierung der EU kaum ausreicht, dass 48
Dazu zählen etwa Jürgen Gerhards, Dieter Grimm, Peter Graf Kielmansegg, Herrmann Lübbe oder Philip Schlesinger. 49 Dazu zählen vor allem die Forschergruppe um Klaus Eder, Cathleen Kantner und Hans-Jörg Trenz sowie etwa Holger Sievert, Christoph Meyer sowie Jürgen Habermas.
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Europäische Öffentlichkeit
aber eine weiter führende Europäisierung der öffentlichen Kommunikation weder aus strukturellen noch soziokulturellen Gründen unmöglich erscheint.50 Das Kapitel beginnt mit einem kurzen Abriss über die Legitimationsproblematik europäischen Regierens und beleuchtet den Hintergrund, der die Debatte überhaupt erst angestossen hat. Dabei gilt es, die Defizitthese der Pessimisten herauszuarbeiten (3.1). Sodann dann folgt die Modellierung einer europäischen Öffentlichkeit als Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit entlang von vier Dimensionen europäischer Kommunikation (3.2). Das Kapitel schliesst mit theoretischen Überlegungen dahingehend, wie angesichts fehlender Strukturelemente einer europäischen Öffentlichkeit eine Öffentlichkeit von Europa entstehen könnte, die mehr darstellt als das Kaleidoskop nationaler Öffentlichkeiten. Im Zentrum steht dabei die Überlegung, dass die Europäische Union als Problemgemeinschaft auf dem Weg zu einer Problemlösungsgemeinschaft ist, die angesichts zunehmend gemeinsam zu lösender Probleme über die Voraussetzungen zur Konstruktion einer europäischen kollektiven Identität verfügt (3.3). 3.1 Die Defizitthese der Pessimisten Die wissenschaftliche Beschäftigung mit einer wie auch immer strukturierten europäischen Öffentlichkeit verweist auf ein relativ junges Forschungsfeld, das sich im Zug der starken politischen und ökonomischen Vergemeinschaftung der 51 Europäischen Union seit den späten 1980er-Jahren mit Problemstellungen demokratischer Legitimation europäischen Regierens auszudifferenzieren beginnt. Ausgangspunkt dieses Forschungsfelds ist die Frage, wie die Legitimation europäischen Regierens angesichts einer zunehmenden Macht- und Kompetenzfülle der supranationalen Institutionen gesteigert werden kann. Diese Fragen werden zunächst in den Politikwissenschaften und im Staatsrecht als Problem eines Demokratiedefizits der Europäischen Union behandelt (Jachtenfuchs 1997; Grande 1996; Benz 2003; 1999; Kohler-Koch / Rittberger 2007; Huget 2007). In diesem Kontext bleiben Fragen zu einer europäischen Öffentlichkeit nachrangig oder werden mehr oder weniger pauschal in dem Sinn beantwortet, dass es eine Europäische Öffentlichkeit weder aktuell gibt noch künftig geben wird (zusammenfassend Kantner 2004).
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Dazu zähle ich etwa Friedhelm Neidhardt, Barbara Pfetsch, Ruud Koopmans, die Bremer Forschergruppe um Hartmut Wessler sowie die Zürcher Forschungsgruppe um Kurt Imhof. Der Autor dieser Arbeit sieht sich ebenfalls in dieser Gruppe der Pragmatisten verortet. 51 Einheitliche Europäische Akte 1987, Vertrag von Maastricht 1992.
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3.1.1 Das Legitimationsproblem der EU als Demokratiedefizit Die Europäische Union bzw. deren Vorläuferorganisationen waren von Beginn weg ein Elitenprojekt und als solches wurde es von dessen Protagonisten auch verstanden (Lepsius 1999, 206f., Huget 2007). Allerdings scheint dieses Projekt zunehmend zwar nicht gerade in eine Krise geraten, aber doch mit einem Legitimationsproblem konfrontiert zu sein. Zu diesem Schluss gelangt, wer die Debatten im Anschluss an die sich in jüngster Zeit häufenden Referendumsniederlagen in Dänemark52, Irland53 und insbesondere die Abstimmungen über den Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005 verfolgt. All diesen Debatten ist eine Kritik an der mangelnden Bürgernähe der europäischen Institutionen und der fehlenden Partizipationsmöglichkeiten der EU-Bürger gemeinsam. Daran ändert auch ein womöglich positiver Ausgang des Ratifizierungsprozesses zum neuen Reformvertrag nichts. Der Vertrag von Lissabon wird von politischen Eliten, meist aber nicht von der Bevölkerung legitimiert, und mit dieser mangelhaften demokratischen Ausgestaltung der EU ist der Kern der Legitimationsproblematik angesprochen.54 Gleichwohl das Demokratieproblem schon ganz zu Beginn der Geschichte der EU zur Sprache55 kam, wird dieses Defizit erst eigentlich brisant, als sich im Zug der fortschreitenden Vergemeinschaftung im Hinblick auf den Vertrag von Maastricht zu Beginn der 1990er-Jahre abzuzeichnen beginnt, dass die bislang auf einem permissiven Konsens beruhende Output-Legitimation der Europäischen Union zu kurz greift, man also für europäische Entscheide nicht schon deshalb Legitimation unterstellen kann, weil Widerspruch seitens der Bürgerschaft ausbleibt (Neidhardt / Koopmans / Pfetsch 2000, 271). Verstärkt wird seither ein inputzentriertes, an der gemeinsamen politischen Selbstbestimmung orientiertes Legitimationsverständnis von Demokratie diskutiert (Greven 1998, 254; Münch 1999, 223, Huget 2007). Das diagnostizierte Legitimationsproblem der EU wird somit zunächst als Demokratieproblem wahrgenommen und thematisiert. Soziologisch betrachtet ist das Demokratieproblem zweitseitig als Demokratiedefizit und als Demokratisierungsdefizit zu beschreiben. Das Demokratiedefizit verweist auf institutionelle Mängel und im Wesentlichen auf eine fehlende Korrespondenz von Entscheidungen und Entscheidungsbetroffenen, also auf eine fehlende Identität von Regierenden und Regierten: Seit dem Vertrag von Maastricht werden zahlreiche 52
Abstimmung über Vertrag von Maastricht im Jahr 1992. Abstimmung über Vertrag von Nizza im Jahr 2001. Vgl. dazu die Titelstory des britischen Economist „Give Europe a say“ vom 25.10.2007. 55 So wurde bereits 1951 die „unvollständig entwickelte“ Kontrolle der Montanunion durch das Parlament kritisiert (Kaelble 2000, 254; vgl. zusammenfassend Huget 2007, 25 f.). 53 54
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Politikentscheide auf supranationaler Ebene gefällt, ohne dass die nationalen Parlamente und noch viel weniger die europäischen Völker darüber entscheiden könnten (Lepsius 1999, 204f.). Demokratietheoretisch bestünde eine Lösung des Problems in geeigneten Verfahren, welche die kollektiv bindenden Entscheide der supranationalen Herrschaftsträger an die Willensbildungsprozesse der Bürger rückzukoppeln erlauben würden (Huget 2007). 3.1.2 Das Demokratisierungsdefizit als Öffentlichkeits- und Identitätsdefizit Auf einem anderen Blatt steht freilich geschrieben, ob die Europäische Union dazu überhaupt in der Lage und also demokratisierungsfähig ist (Kantner 2002, 2004). Diese Frage nach der Demokratisierungsfähigkeit verweist auf die strukturellen und soziokulturellen Voraussetzungen, die eine demokratische Herrschaftsform erst möglich machen: auf europäische Medien und ein Medienpublikum, das an europäischen Themen interessiert ist; auf eine intermediäre Struktur europäischer Akteure wie Parteien und Verbände; auf eine europäische Zivilgesellschaft und letztlich einen Demos mit einer europäischen kollektiven Identität. Im Urteil der Pessimisten fällt die Antwort deutlich aus: Die notwendigen Voraussetzungen sind nicht nur nicht vorhanden, sondern sie werden sich auch nicht entwickeln. Die Europäische Union krankt demnach nicht nur an einem institutionellen Demokratiedefizit, sondern leidet auch noch an einem doppelten Öffentlichkeits- und Identitätsdefizit (Trenz / Klein / Koopmans 2003). Wenn nachfolgend die zentralen Argumente der Pessimisten entlang der Strukturelemente für eine Öffentlichkeit und dem soziokulturellen Überbau einer kollektiven Identität rekonstruiert werden, ist es hilfreich zu wissen, dass die Pessimisten dabei eine Öffentlichkeit im Blick haben, die gleichsam von der nationalen auf die supranationale Ebene projiziert wird und die sie als eine einheitliche, die nationalen Kommunikationsräume überwölbende Öffentlichkeit verstehen. Dies kommt deutlich zum Ausdruck beim Soziologen Jürgen Gerhards, der 1993 als der erste seiner Zunft festhält, dass in Europa europäische Medien fehlen, damit „Inhalte in verschiedenen europäischen Ländern Verbreitung finden und von den Bürgern in den verschiedenen Ländern rezipiert werden, gleichsam (in Form) eine(r) ARD für Westeuropa“ (1993, 100). Dass sich dies auf absehbare Zeit ändern würde, sei primär aus infrastrukturellen und finanziellen Gründen unwahrscheinlich (ebd., 100). Bisher scheiterten nämlich sämtliche Versuche genuin europäischer Fernsehsender oder Zeitungen an den Sprachbarrieren und an der Struktur europäischer Medienmärkte, die sich vorwiegend an nationalen Zielgruppen ausrichten (Eilders / Voltmer 2004, 360). Ein einheitliches europäisches Mediensystem ist nicht auszumachen, auch wenn sich die
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Brüsseler Korrespondenten nationaler Qualitätszeitungen vermehrt untereinander auszutauschen begonnen haben (Meyer 2000, 2003). Die erfolgreiche Skandalisierungskampagne eines Verbunds nationaler Medien, welche die europäische Kommission 1999 wegen einer Korruptionsaffäre zu Fall brachte, ist allerdings ein Ausnahmefall und nicht die Regel. Ein eigenständiger europäischer Journalismus gibt es bis dato nicht (Russ-Mohl 2000, 136; Blöbaum 1999; Meier / Trappel 2006; Hummel 2006). Wenn nationale Medien über Europa berichten, dann geschieht dies vorwiegend in einer nationalen und nicht in einer europäischen Perspektive (Gerhards 1993, 99); und dort, wo sich transnationale Medien wie die Financial Times, die International Herald Tribune oder The Economist in nationalen Lesermärkten etabliert haben, richten sich diese an ein englischsprachiges Elitenpublikum (Schlesinger / Kevin 2000, 222 ff.). Ganz ähnlich argumentiert auch der deutsche Verfassungsrechtler Dieter Grimm: „Ein europäisches Kommunikationssystem darf nicht mit vermehrter Berichterstattung über europäische Themen verwechselt werden. Diese richten sich an ein nationales Publikum und bleiben damit nationalen Sichtweisen und Kommunikationsgewohnheiten verhaftet. Sie können folglich auch kein europäisches Publikum erzeugen und keinen europäischen Diskurs begründen“ (Grimm 1995,41). Zu einem ähnlichen Befund gelangt Lutz Erbring als Herausgeber des Bandes der DGPuK zum Thema „Kommunikationsraum Europa“, wenn er feststellt, dass von einem „Kommunikationsraum Europa […] wohl keine Rede sein kann, ebenso wenig wie bei der Konstruktion gesellschaftlich-politischer Öffentlichkeit […] – oder auch nur eines europäischen Medienpublikums“ (Erbring 1995, 11f.). In dieser Perspektive wird eine europäische Öffentlichkeit mehr oder weniger auf englischsprachige Elitenmedien und ein englisch sprechendes Elitenpublikum reduziert. Das breite Massenpublikum wird damit aber nicht erreicht. Weil es auf diese Weise keine in europäischen Medien zentrierte europäische Öffentlichkeit gibt, besteht mit Bezug auf den ökonomisch und politisch weit fortgeschrittenen Integrationsprozess ein Öffentlichkeitsdefizit (Gerhards 1993, 96; 2000, 288). Nebst fehlenden Medien und Publikum diagnostizieren die Pessimisten einen eklatanten Mangel an intermediären europäischen Akteuren wie Parteien, Verbände, soziale Bewegungen oder Interessengruppen, die nationenübergreifend Themen sammeln, aggregieren und in das politische System der Europäischen Union einspeisen und die überhaupt ein Interesse hätten, dieses Publikum zu erreichen (Gerhards 2002, 152). Aufgrund der politischen Opportunitätsstruktur der Europäischen Union seien nämlich vor allem Interessengruppen und soziale Bewegungen nicht auf die Mobilisierung einer europäischen öffentlichen Meinung angewiesen, weil diese in Form des Lobbying gute Einflussmöglichkei-
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ten bei der Europäischen Kommission und deren Unterorganisationen hätten (Rucht 2000; Eder / Hellmann / Trenz 1998; Wessels 2003). Was die EU-Akteure betrifft, so verfügt die die Europäische Kommission zwar über ausreichende Mittel für Öffentlichkeitsarbeit, die sie seit dem Korruptionsskandal auch verstärkt einsetzt (Hahn / Rosenwerth / Schröder 2006, 286ff.); eine Notwendigkeit für die Europäischen Kommissare, sich über die Massenmedien zu vermitteln und um Zustimmung für ihre Politik bei den europäischen Bürgern zu werben, besteht indes nicht, weil die Kommission nicht von einem europäischen Publikum (ab)gewählt wird (Gerhards 2002, 153). Der Ministerrat seinerseits hat ein weitaus grösseres Interesse an Publizität. Weil aber die Regierungsvertreter von nationalen Bürgern bzw. von nationalen Parlamenten und nicht von einem europäischen Wahlvolk gewählt werden, orientiert sich deren öffentliche Kommunikation am nationalen und nicht an einem europäischen Wahlvolk (ebd., 153). Das europäische Parlament bzw. die im Parlament versammelten europäischen Parteienzusammenschlüsse haben als institutionalisiertes Gegengewicht zur Kommission und zum Ministerrat zwar eine stärkere Öffentlichkeitsneigung, sind aufgrund der vergleichsweise geringen institutionellen Kompetenzen allerdings kaum in der Lage, Kommission und Ministerrat in öffentliche Rechtfertigungsdebatten zu verwickeln (ebd., 154). Bilanziert man die Defizitthese mit Blick auf die fehlenden Strukturelemente einer europäischen Öffentlichkeit, zeigt sich, dass die Öffentlichkeit produzierenden Interdependenzverhältnisse zwischen Medien, Publikum und Akteuren, wie sie im Rahmen nationalstaatlicher Öffentlichkeiten funktionieren, auf europäischer Ebene nicht oder nur mangelhaft greifen. Der Horizont einer weiter führenden Demokratisierung der Europäischen Union trübt sich noch mehr ein, wenn die Pessimisten über das Fehlen einer europäischen kollektiven Identität zu sinnieren beginnen. Dabei steht kollektive Identität für ein unterschiedlich begründeter „Gemeinsamkeitsglauben“ (Max Weber) bzw. ein „Zusammengehörigkeitsbewusstsein“ (Grimm 1995; Böckenförde 1999) eines Volkes, das als soziale Einheit auf demokratische Weise seine gemeinsamen Angelegenheiten regeln will. „Nach der Vorstellung, die der Volkssouveränität zugrunde liegt“, so der Sozialphilosoph Charles Taylor, „ bilden die Menschen, von denen die Souveränität ausgeht, eine irgendwie geartete Einheit. Sie sind kein von der Geschichte bunt zusammengewürfelter Haufen, der so wenig einen inneren Zusammenhang aufweist wie die Passagierliste eines internationalen Fluges“ (Taylor 2002, 121). Das Band, das die Menschen, das Volk, zu einer sozialen Einheit zusammenkittet, muss auf jeden Fall genügend stark sein. „In diesem Sinn besteht die Europäische Union derzeit aus Völkern und Nationen, hat als Grundlage aber weder ein europäisches Volk noch schon eine Nation der Europäer“ (Böckenförde 1999, 93). Auch für Hermann Lübbe (1994,
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100) ist klar: „Ein europäisches Volk ist politisch inexistent und wenn es auch keine Gründe gibt zu sagen, dass eine volksanaloge Zusammengehörigkeitserfahrung der Europäer undenkbar wäre, so sind derzeit doch keinerlei Umstände erkennbar, unter denen ein legitimitätsstiftender Volkswille sich bilden könnte.“ Und Dieter Grimm ergänzt dazu: „Der Verdacht, hinter dieser Einschätzung verberge sich die Idee, dass Demokratie nur auf der Basis einer homogenen Volksgemeinschaft möglich sei, ist nach alledem grundlos. Die Voraussetzungen für Demokratie werden hier nicht vom Volk, sondern von der Gesellschaft her entwickelt, die sich als politische Einheit konstituieren will. Diese bedarf allerdings einer kollektiven Identität, wenn sie ihre Konflikte gewaltlos austragen will, sich auf die Mehrheitsregel einlassen und Solidarität üben will. […] Nötig ist nur, dass die Gesellschaft ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit (Hervorhebung durch S.T.) ausgebildet hat, welches Mehrheitsentscheidungen und Solidarleistungen zu tragen vermag, und dass sie die Fähigkeit besitzt, sich über ihre Ziele und Probleme diskursiv zu verständigen. Demokratiehinderlich ist folglich nicht die fehlende volkhafte Verbundenheit der Unionsbürger, sondern ihre schwach ausgebildete kollektive Identität und geringe übernationale Diskursfähigkeit. Das heisst freilich, dass das europäische Demokratiedefizit strukturell bedingt ist“ (Grimm 1995, 46f.). Und auch der Politologe Thomas Risse, der einen sich herausbildenden öffentlichen Kommunikationsraum in Europa zu erkennen mag, sieht im Mindestmass an (transnationaler) politischer Gemeinschaft die zentrale Voraussetzung für eine europäische Demokratie und demokratische Öffentlichkeit (Risse 2002, 22). Hinter dieser Liste von Zitaten, die man freilich problemlos verlängern könnte (vgl. dazu Kantner 2004), verbirgt sich meist implizit ein Kausalzusammenhang, wonach eine Demokratisierung der EU nicht möglich ist, weil es keine europäische Öffentlichkeit gibt; diese wiederum gibt es nicht, weil eine europäische Identität nicht möglich oder schon vorhanden ist. Die Begründung dafür bringt Peter Graf Kielmansegg pointiert auf den Punkt: „Europa ist keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemeinschaft und nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft [...]. Europa ist keine Kommunikationsgemeinschaft, weil Europa ein vielsprachiger Kontinent ist – das banalste Faktum ist zugleich das elementarste.“ 3.1.3 Im Trilemma von Demokratie-, Identitäts- und Öffentlichkeitsdefizit Zusammenfassend lässt sich das Legitimationsproblem der Europäischen Union in der pessimistischen Lesart als eigentliches Trilemma beschreiben. In publizistischer Hinsicht gibt es keine europäische Öffentlichkeit, weil keine europäi-
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schen Medien existieren, die europaweit gleiche Medieninhalte verbreiten würden. Wenn nationale Medien über Europa berichten, dann bleiben sie an die nationale Perspektive gebunden (Gerhards 1993) und wo sich transnationale Medien wie die Financial Times in nationalen Lesermärkten etabliert haben, richten sich diese an ein englischsprachiges Elitenpublikum (Schlesinger / Kevin 2000). Weil es folglich keine europäischen Diskurse gibt, kann sich auch keine kollektive europäische Identität ausbilden, weshalb Europa letztlich auch nicht demokratisierungsfähig sei. Institutionell betrachtet gilt das Öffentlichkeitsdefizit als Folge des Demokratiedefizits der EU. Weil die supranationalen Akteure nicht durch die Bürger Europas legitimiert werden müssen, besteht für diese auch kein Anreiz, für sich und ihre Anliegen vor dem Publikum der Staatsbürger zu werben (Gerhards 2002). Und da das Parlament auch nach den institutionellen Revisionen von Nizza im Jahr 2000 im Vergleich zur Kommission und zum Ministerrat immer noch über deutlich weniger Kompetenzen verfügt, fehlen Anreize und wohl auch Ressourcen, dass sich über die nationalen Grenzen hinweg transnationale Parteien und andere intermediäre Organisationen ausbilden könnten.56 Damit liegt der Kern des Öffentlichkeitsdefizits in fehlenden demokratischen Strukturen begründet. Kulturalistisch argumentieren jene, die Cathleen Kantner die „Partikularisten des Nationalen“ (2004, 76) nennt. Gemäss dieser Lesart gründet das Öffentlichkeitsdefizit in einem Identitätsdefizit. Weil es in Europa keine sprachkompetente Kommunikationsgemeinschaft mit einem europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstsein gebe, bildeten sich auch keine europäischen Diskurse über Europa heraus. Aus diesem identitätsbegründeten Öffentlichkeitsdefizit folgt dann wiederum, dass die Europäische Union nicht demokratisierungsfähig sei (Lübbe 1994; Grimm 1995; Kielmansegg 1996). Schliesslich: Da es auch keine kollektiven Akteure gibt, die das Publikum im Hinblick auf europäische Themen adressieren würden, entstehen dort auch keine Resonanz und kein Bewusstsein für eine europäische Zusammengehörigkeit. Das Demokratiedefizit liesse sich im Fall einer weiterführenden Parlamentarisierung57, Direktwahl der Kommission durch die europäischen Bürger oder 56
Diese Prämisse gilt selbst unter der Bedingung einer Annahme des Vertrags von Lissabon, mit dem die Kompetenzen des Europäischen Parlaments nochmals gestärkt werden sollen. 57 Mit Blick auf einen Abbau des Parlamentarismusdefizits der Europäischen Union schreibt Kantner: „Das Europaparlament bräuchte ein Initiativrecht und eine Gesetzgebungshoheit auf der Basis einer Verfassung oder eines Verfassungsvertrages, worin geklärt wird, wie die Kompetenzen der kommunalen, regionalen, nationalen und europäischen Parlamente sorgfältig verteilt oder in einigen Bereichen gemeinsam ausgeübt werden. Das würde bedeuten, dass das Europäische Parlament die volle Kontrolle über den legislativen Prozess auf europäischer Ebene erlangen würde. Der Rat würde zur zweiten (Staaten-)Kammer des Parlaments, wie der Bundesrat in der Bundesrepublik oder der Senat in den Vereinigten Staaten (oder der Ständerat in der Schweiz, S.T.). Ein solches
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der Einführung plebiszitärer Instrumente auf dem Weg institutioneller Reformen zwar abbauen, wohl aber nur zum Preis einer Minorisierung von jeweils wechselnden Minderheiten, die aller Voraussicht nach Mehrheitsentscheidungen nicht akzeptieren würden. Denn solange es kein ausreichendes europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein und genügend starke Solidaritätsdispositionen unter den Bürgern der europäischen Nationen gibt, gelten Mehrheitsentscheidungen für unterlegene Minderheiten als illegitim (Lepsius 1999). Dieses Defizit an Identifikation mit einer europäischen Solidargemeinschaft schwindet allerdings nur in dem Mass, wie diese Bürger im Hinblick auf gemeinsam zu lösende Probleme die Erfahrung einer zusammengehörenden Problemlösungsgemeinschaft machen. Diese Erfahrung ist aber ohne europäische Akteure, die das Publikum für europäische Anliegen sensibilisieren und ohne massenmediale Kommunikation, die sich auf den Zusammenhang von Problembezug und Problemlösung diskursiv bezieht, nicht möglich. Und an dieser Stelle wird eben das Öffentlichkeitsdefizit diagnostiziert. Zur Überwindung des publizistisch begründeten Öffentlichkeitsdefizits stehen weder rechtliche noch technische Hindernisse im Weg. Die Europäische Union verfügt sowohl über eine Mediengesetzgebung, welche die Gründung transnationaler Medien erlaubt, wie auch über europaweit geltende Rechte der freien Rede, Versammlung und Presse. Ausserdem sind die technischen Möglichkeiten zur Produktion und europaweiten Verbreitung von Information und Kommunikation vorhanden (Wessler 2004). Entscheidend ist indes die Voraussetzung, dass im Publikum eine Nachfrage nach europäischen Themen und Debatten überhaupt besteht. Wie könnte ein solches Interesse stimuliert werden? Zunächst wächst die Nachfrage, je eher sich unter den Medienschaffenden eine europäische Journalismuskultur entwickelt. Seit dem Korruptionsfall in der Europäischen Kommission lässt sich dies allmählich beobachten (Meyer 2002, 2003; Trenz 2002). Parallel dazu ist auch das Verständnis der Europäischen Kommission für eine bürgernähere Öffentlichkeitsarbeit gestiegen (Brüggemann 2008). Das Interesse des Publikums an europäischen Themen steigt weiter, wenn sich europäische Politik personalisieren und somit auch besser skandalisieren liesse, was allerdings unter der Mehrebenenbedingung und der kaum erkennbaren Verantwortlichkeit für europäische Politikentscheide nur schwer realisierbar ist. Tabelle 2 bilanziert die oben besprochenen Strukturelemente sowie die Rahmenbedingungen für eine paneuropäische Öffentlichkeit.
föderales System würde die Volksvertretungen der verschiedenen Ebenen, die jeweils direkt vom Bürger ermächtigt wären, in ihre legislativen Rechte einsetzen und legitime Politik betreiben.“ (2004, 74).
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Strukturelemente
Rahmenbedingungen
Europäische Medien Intermediäres System europäischer Akteure Publikum / Bürger mit europäischem Identitätsgefühl Politische Entscheidungszentren Europäische Mediengesetzgebung Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheiten Technologien zur Produktion und Diffusion von Information und Kommunikation
Status rudimentär existent rudimentär existent inexistent erfüllt erfüllt erfüllt erfüllt
Tabelle 2: Strukturelemente und Rahmenbedingungen einer europäischen Öffentlichkeit Letztlich hängen aber sowohl das Publikumsinteresse wie die Entwicklung einer europäischen Journalismuskultur von der Überwindung des institutionell begründeten Öffentlichkeitsdefizits ab. Jürgen Gerhards (2002, 154) vermutet, dass eine Demokratisierung der EU das europäische Öffentlichkeitsdefizit „wahrscheinlich weitgehend beheben“ würde. Würden nämlich demokratische Möglichkeiten der Input-Legitimation wie Direktwahl der Kommission oder europäische Referenden und Volksinitiativen geschaffen und die parlamentarischen Kompetenzen gegenüber Ministerrat und Kommission gestärkt, sähen sich die politischen Akteure des Zentrums der EU gezwungen, für sich und ihre Themen in der Öffentlichkeit um Aufmerksamkeit und Zustimmung zu werben. Indem die EU-Bürger dadurch politische Einflussmöglichkeiten von Belohnung und Sanktionierung der Entscheidungsträger erhielten, könnte sich das Publikum von einem passiven Medienpublikum zu einem aktiven Staatsbürgerpublikum wandeln (Habermas 2001; Kantner 2004, 100; Delanty 1999, 283f.). Es ist wahrscheinlich richtig, dass unter Bedingungen einer Demokratisierung der EU insbesondere die supranationalen Akteure eine grössere Öffentlichkeitsneigung verspüren werden. Und vielleicht ist es auch richtig, dass die Öffentlichkeitsneigung bei den Bürgern und intermediären Akteuren wächst. Aber ob sie sich deswegen auch zu transnationalen Zusammenschlüssen formieren und die EU als kompetenten und zugleich legitimen Adressaten wahrnehmen, auf den hin das politische Engagement ausgerichtet werden sollte? Mit dieser Frage sind wir wieder beim kulturell begründeten Öffentlichkeitsdefizit angelangt. Ein Abbau des Demokratiedefizits kommt einer Verringerung des Öffentlichkeitsdefizits zwar strukturell entgegen. Dafür könnte wegen der fehlenden kollektiven Identität der Bürger Europas mit der „Polity“ (Institutionen) der Europäischen Union und des kaum ausgebildeten europäischen Zusammengehörigkeitsbe-
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wusstseins die zweckrational begründete Gemeinschaft zwischen den Staaten und Bürgern der Europäischen Union infolge demokratieinduzierter Mehrheitsund Minderheitsspannungen in einer Weise destabilisiert werden, dass sich die Union fragmentieren und am Ende gar zerfallen würde. Die Möglichkeit einer weitgehenden Demokratisierung der EU steht und fällt also mit der Frage, ob es gelingt, dass in Europa nicht nur vermehrt über, sondern vor allem miteinander über Europa geredet wird und dass dies in einer europäischen und nicht nationalstaatlichen Perspektive geschieht. Gleichwohl die Argumente der Pessimisten in der Tat schwer wiegen und viel theoretische Evidenz haben, bleibt es letztlich eine empirische Frage, ob dies gelingt oder nicht. Mit Bezug auf die Nationenbildung in den vergangenen Jahrhunderten ist die These von der Unüberwindbarkeit des kulturell begründeten Öffentlichkeitsdefizits, wie die historische Erfahrung lehrt, falsch (vgl. z. B. Neidhardt / Koopmans / Pfetsch 2000; Ernst 1998; Siegenthaler 1993b). Denn kollektive Identität ist nicht etwas immer schon gleichsam primordial Vorhandenes, sondern das Resultat langjähriger, meist konfliktiver Auseinandersetzungen über Regeln gemeinsamen Zusammenlebens und somit immer auch Produkt öffentlicher Kommunikation (vgl. etwas Lepsius 1999, Münch 1999, Eder 1999, 2002, 2003, Habermas 1996, 2001, 2008, Imhof 2002a, Kaelble 2002, Giesen 2002). Und es ist zumindest fraglich, ob sich solche Identitätsbildungsprozesse nur in einer einheitlichen paneuropäischen Öffentlichkeit vollziehen könnten. Was dringend Not tut, ist eine Reflexion über eine Konzeption europäischer Öffentlichkeit, welche die soziale Realität angemessen zu modellieren erlaubt. Die Nichtexistenz einer europäischen Öffentlichkeit im Singular impliziert nicht notwendig, dass die Entstehung einer kollektiven europäischen Identität nicht auch möglich wäre! Zurecht hat Jürgen Habermas (2001) die Konzeption einer auf die supranationale Ebene verlängerten Projektion einer nationalstaatlichen Öffentlichkeit angesichts der komplexen Politikstruktur der Europäischen Union mit Verflechtungen von supranationalen und intergouvernementalen Entscheidungsarenen sowie der fortbestehenden Existenz einer Parallelität segmentär differenzierter nationaler Öffentlichkeiten als inadäquater Beschrieb einer europäischen Öffentlichkeit zurückgewiesen. „Stattdessen müssten sich die nationalen, aber ineinander übersetzten Kommunikationen so miteinander verschränken, dass die relevanten Beiträge osmotisch aus den jeweils anderen Arenen aufgesogen werden. Auf diese Weise könnten die europäischen Themen, die bisher unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt und entschieden werden, in die miteinander vernetzten nationalen Arenen Eingang finden“ (Habermas 2001, 12). In seinen Überlegungen geht Habermas einen Schritt weiter. Hätten die Europäer die Gelegenheit, über eine gemeinsame Verfassung abzustimmen, dann würde
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grenzüberschreitend ein Diskurs mit einem Bezug auf eine europäische Zusammengehörigkeit oberhalb nationaler Differenzsemantiken geschaffen. 3.2 Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit In diesem Subkapitel wird die theoretische Diskussion geöffnet und eine europäische Öffentlichkeit als Emergenzphänomen einer Transnationalisierung nationaler Kommunikationsräume und supranationaler Arenen eingeführt. Transnationalisierung bedeutet, dass sich die in nationalen Medienarenen zentrierte kommunikative Verdichtungszone grenzüberschreitend ausdehnt und mit anderen nationalen und supranationalen Verdichtungszonen verschränkt. Dies geschieht in drei Schritten. Zuerst werden alternative Strukturmuster zur oben beschriebenen einheitlichen, paneuropäischen Öffentlichkeit diskutiert (3.2.1). Diese Auslegung führt zweitens zur theoretisch wie normativ begründeten Einsicht, dass eine wie auch immer bereits ausgeprägte europäische Öffentlichkeit in Emergenzen von transnational verdichteten Kommunikationszonen zu suchen ist, wobei diese Zonen entlang von sozial zunehmend voraussetzungsreicheren Dimensionen europäischer Kommunikation zu modellieren sind (3.2.2). Die Formulierung einer Integrations- und Medienhypothese schliesst dieses Subkapitel ab (3.2.3). 3.2.1 Alternative Strukturmuster zur paneuropäischen Öffentlichkeit Wenn man Öffentlichkeit als einen Raum für kommunikative Auseinandersetzungen über gemeinsame Angelegenheiten definiert, so ist dieser intermediäre Kommunikationsraum einerseits auf die politischen Entscheidungszentren ausgerichtet und wurzelt andererseits in der Sozialstruktur der Gesellschaft. Publikumsebene Politikebene
Medienöffentlichkeit unter Abwesenden
Präsenzöffentlichkeit unter Anwesenden
Supranationale Ebene
Einheitliche paneuropäische Öffentlichkeit
Supranationale Präsenzöffentlichkeiten von Eliten und Gegeneliten (Verfahrensöffentlichkeiten)
Transnationalisierung / Europäisierung nationaler Öffentlichkeit
Transnationalisierung von Binnenöffentlichkeiten kollektiver Akteure
Nationale Ebene
Tabelle 3: Strukturmuster europäischer Öffentlichkeit
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Indem auf der Politikebene zwischen nationalen und supranationalen Entscheidungszentren und auf der Ebene des Publikums zwischen Anwesenden und Abwesenden unterschieden wird, ergeben sich im Fadenkreuz dieser beiden Dimensionen vier mögliche Strukturmuster einer europäischen Öffentlichkeit.
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Einheitliche paneuropäische Öffentlichkeit: Das bereits diskutierte Modell einer supranationalen Medienöffentlichkeit ist im Quadranten oben links verortet. Das Modell einer paneuropäischen Öffentlichkeit ist publikumszentriert und bemisst sich daran, dass die gleichen Inhalte in den verschiedenen europäischen Ländern Verbreitung finden und von den Bürgern in den verschiedenen Ländern rezipiert werden. Es ist dieses Modell, das die Skeptiker und Pessimisten vor Augen haben, wenn sie von einem europäischen Öffentlichkeitsdefizit sprechen. Supranationale Präsenzöffentlichkeiten: Im Unterschied zu der in Massenmedien zentrierten paneuropäischen Öffentlichkeit existiert auf der supranationalen Politikebene der EU und auch anderer internationaler Organisationen bereits so etwas, was als „politikfeldspezifische bzw. issuespezifische Handlungs- und Kommunikationsräume“ bezeichnet wurde (Eder / Hellmann / Trenz 1998). Dieses oben rechts liegende Strukturmuster bezeichnet Gerhards als „Verfahrensöffentlichkeiten“ (2000, 300) oder als „Präsenzöffentlichkeiten von Eliten und Gegeneliten“ (2002, 148). Die Entstehung europäischer Arenen politischer Eliten liegt in den Opportunitätsstrukturen des europäischen Institutionensystems begründet: Die institutionelle Komplexität des europäischen Mehrebenensystems schafft zahlreiche Möglichkeiten für potenziell betroffene Interessenorganisationen, sich im Politikgestaltungsprozess direkt bei den jeweiligen Fachkommissionen und Gremien einbringen zu können (Wessels 2003, 2008), was auch als „deliberativer Supranationalismus“ (Schmalz-Bruns 1999) bezeichnet wurde. Dass dabei Organisationen wie Greenpeace, Amnesty International oder wirtschaftliche Lobbygruppen nicht den Weg über die massenmediale Öffentlichkeit wählen, sondern direkt bei der Kommission und deren Untergruppen vorstellig werden (vgl. Rucht 2000), ist als Beleg für die Effizienz solcher deliberati58 ver Verfahrensöffentlichkeiten zu betrachten. In dieser Hinsicht werden diese „zum Ort, an dem eine gesellschaftliche Teilhabe und Mitbestimmung am Prozess des europäischen Regierens erstritten werden kann“ (Trenz 2000, 334).
Aber auch im Umfeld von internationalen Institutionen und Organisationen wie der UNO oder der WTO findet man solche deliberativen Expertenarenen.
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Europäische Öffentlichkeit Transnationalisierung von Binnenöffentlichkeiten kollektiver Akteure: Auch das Strukturmuster im Quadranten unten rechts geht von Binnenöffentlichkeiten unter Anwesenden aus. Transnationale oder europäische Öffentlichkeit entsteht auch, indem sich die Binnenöffentlichkeiten kollektiver Akteure wie Parteien, Verbände, soziale Bewegungen, grosse Unternehmen oder ethnische, religiöse oder andere soziale Minderheiten nationen- und länderübergreifend verschränken. Mit Blick auf die Europäische Union bezeichnet dieser Prozess die Herausbildung einer europäischen Binnenöffentlichkeit von europäischen kollektiven Akteuren, die sich nationenübergreifend organisieren und Einfluss auf die Gestaltung der europäischen Politik nehmen würden. Analog zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert sind diese meinungsbildenden Assoziationen in Gestalt einer europäischen Zivilgesellschaft durchaus als aktive Keimzellen 59 einer paneuropäischen Öffentlichkeit zu verstehen (Klaus 2006). Transnationalisierung (Europäisierung) nationaler Öffentlichkeiten: Das Strukturmuster dieses Modells orientiert sich wie eine einheitliche europäische Öffentlichkeit am dispersen und nicht bekannten Medienpublikum und geht davon aus, dass die nationalen Kommunikationsräume die zentralen Öffentlichkeitsarenen für Meinungs- und Willensbildungsprozesse der Bürger Europas sind. Europäische Öffentlichkeit entsteht, wenn sich diese nationalen Räume in einer noch näher zu bestimmenden Weise wechselseitig kommunikativ durchdringen, überlappen oder verschränken.
Wenn für demokratische Öffentlichkeiten am normativen Kriterium der prinzipiellen Offenheit und Zugänglichkeit für alle interessierten Bürger, Themen und Meinungen festgehalten wird, dann wird klar, dass dies die Präsenzöffentlichkeiten von supranationalen Entscheidungseliten und kollektiven Akteuren nicht erfüllen. Solche Arenen sind für aktive und interessierte Personen fall- und themenspezifisch offen und sie bilden im Rahmen internationaler Politikprozesse wichtige deliberative Foren. Sie sind aber, wie Jürgen Gerhards insistiert, „kein funktionales Äquivalent für eine massenmediale Öffentlichkeit“, weil die Zugänglichkeit und Offenheit für alle gerade fehlt (Gerhards 2000, 313). Solche Elitenarenen sind viel mehr durch „ein deliberatives Verfahren des Lobbying und des Mitregierens“ als durch einen Modus der öffentliche Kommunikation bestimmt (Gerhards 2002, 148). Weil auch eine einheitliche paneuropäische Öffentlichkeit aus den weiter oben genannten Gründen eine unrealistische Konzep59
Ein anderes Beispiel für die Transnationalisierung von Binnenöffentlichkeiten kollektiver Akteure war die Formierung einer globalen Gegenöffentlichkeit durch die Anti-Globalisierungsbewegung um die Jahrtausendwende (vgl. Tobler / Alder 2005).
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tion darstellt, ist eine europäische Öffentlichkeit im Strukturmuster der Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeiten zu suchen. Strukturelle Grundlage europäischer Öffentlichkeit bildet somit nichts anderes als die Parallelität segmentär differenzierter nationaler Kommunikationsräume einerseits und supranationaler Öffentlichkeitsarenen andererseits. 3.2.2
Dimensionen europäischer Kommunikation
Im letzten Kapitel wurde eine nationale Öffentlichkeit beschrieben als kommunikative Verdichtungszone, die in der nationalen Medienarena zentriert ist. Die kommunikative Verdichtungszone würde sich auszeichnen durch zeitgleiche Thematisierung des Gleichen in verschiedenen Medien unter ähnlichen Relevanzgesichtspunkten; sie würde sich weiter auszeichnen durch kommunikativen Austausch zwischen den verschiedenen Sprechern einer nationalen Gesellschaft und die diesen gesellschaftlichen Kommunikationsraum strukturierenden Öffentlichkeitsarenen. Schliesslich würden im Vollzug öffentlicher Debatten kollektive Identitätsbezüge einer nationalen Gemeinschaft erzeugt und gegenüber anderen sozialen Bezugsgruppen abgegrenzt. Legt man diesem Modell nun eine europäische Sozialstruktur segmentär differenzierter und nebeneinander existierender nationaler Kommunikationsräume zugrunde, dann emergiert eine transnational verdichtete Kommunikationszone, wenn erstens in den verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten das „Gleiche zur gleichen Zeit unter ähnlichen Relevanzgesichtspunkten“ (Eder / Kantner 2000) diskutiert wird und wenn sich zweitens diese nationalen Kommunikationsräume diskursiv verschränken, so, „dass die relevanten Beiträge osmotisch aus den jeweils anderen Arenen aufgesogen werden“ (Habermas 2001, 12). Diese transnational verdichtete Kommunikationszone gilt dabei als umso europäisierter, je mehr europäische Themen auf den Agenden der nationalen Öffentlichkeiten stehen, je mehr europäische Sprecher in jeweils auswärtigen Arenen Resonanz erzeugen, je mehr sich europäische Sprecher wechselseitig adressieren und referenzieren und je stärker dies in einer europäischen Perspektive, also im Namen eines europäischen, statt nationalen WIR geschieht. Dabei haben sich zwei verschiedene Formen einer Europäisierung im Wissenschaftsdiskurs eingebürgert: Von „vertikaler Europäisierung“ spricht man, wenn vermehrt auf EU-Politik fokussiert wird und vermehrt EU-Akteure in den nationalen Öffentlichkeiten Resonanz erzeugen. Von „horizontaler Europäisierung“ spricht man dagegen, wenn andere europäische Länder beobachtet werden und die Sprecher dieser Länder in auswärtigen Öffentlichkeiten Resonanz erhalten (Koopmans / Erbe 2003). Ich werde hierüber im Zusammenhang der Einführung unterschiedlicher Typen europäischer Kommunikationsereignisse
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(Kap. 3.2.2) noch ein drittes Muster einer transnationalen Europäisierung einführen. Eine solche Modellierung einer europäischen Öffentlichkeit entlang von „sozial zunehmend voraussetzungsvolleren Wertschöpfungsdimensionen europäischer Kommunikation“ wird auch von Friedhelm Neidhardt gefordert (2006, 55). Zugleich verbindet Neidhardt mit der Multidimensionalität die Vorstellung einer Gradualität. Jede einzelne Dimension kann mehr oder weniger stark europäisiert sein. Wie stark, in welchem geografischen Umfang und nach welchen Mustern Europa heute schon europäisiert ist, ist dann eine empirische Frage, genauso wie die Frage, ob es einen Trend in Richtung mehr Europäisierung der Kommunikation in den nationalen Öffentlichkeiten Europas gibt oder nicht. Wird Europäisierung auf diese Weise als multidimensionales, graduelles und zugleich prozessuales Phänomen verstanden, entgeht man der für das Forschungsfeld bisher so charakteristischen wie kontraproduktiven Situation einer unversöhnlichen Gegenüberstellung von Spiegel- und Diskursmodell und somit der einseitigen Fixierung auf eine „zeitgleiche Thematisierung des Gleichen unter gleichen Relevanzgesichtspunkten“ respektive auf eine „transnationale Interaktionsstruktur öffentlicher Debatten“ (Wimmel 2004). Beide Muster schliessen sich nämlich nicht aus, sondern ergänzen einander im Sinn eines Sowohl-als-auch und Mehr-oder-weniger. Wiederum ist es auch hier eine empirische Frage, wie stark das eine oder andere und unter welchen Bedingungen bereits existiert oder nicht. Dimensionen
Subdimensionen
A. EU-Politikbeobachtung
A.1 Sichtbarkeit der EU-Polity A.2 Aufmerksamkeit für EU-Policy A.3 Politikphasenbezug B.1 Konvergenz nationaler Issue-Aufmerksamkeit B.2 Konvergenz nationaler Semantiken B.3 Konvergenz nationaler Sprecherensembles C.1 Beobachtung europäischer Länder C.2 Interdiskursivität D.1 Bedrohungsperzeption D.2 Identitäts- und Differenzkonstruktion
B. Diskurskonvergenz
C. Kommunikativer Austausch D. Kollektive Identität
Tabelle 4: Dimensionen europäischer Kommunikation Tabelle 4 gibt einen Überblick über die Dimensionen europäischer Kommunikation, die nachfolgend kurz besprochen werden. Dabei wird für jede Dimension zunächst ihre normative Relevanz mit Blick auf eine europäische Öffentlichkeit diskutiert. Danach folgt eine kurze Rekonstruktion der im Forschungsfeld dazu geführten Diskussion. Die Operationalisierung der jeweiligen Indikatoren wird in
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Kapitel 3.4 vorgenommen. Die Dimensionen und Indikatoren, die ich grösstenteils bereits in früheren Arbeiten eingeführt und vorgestellt habe (Tobler 2006a), decken sich weitgehend mit dem Operationalisierungsvorschlag der Bremer Forschungsgruppe um Harmut Wessler und Bernhard Peters (Peters / Wessler 2006; Wessler et al 2008). 60 A. Politikbeobachtung Es zählt zur normativen Erfordernis demokratischer Herrschaftsformen, dass die Massenmedien hinreichend über politische Angelegenheiten berichten, damit sich die Bürgerinnen und Bürger genügend informieren, ihre Meinung bilden und Entscheidungen fassen können. Eine europäische Öffentlichkeit setzt entsprechend fundamental voraus, dass in einem ausreichenden Ausmass über europäische Angelegenheiten – EU-„Policies“, EU-Institutionen und Akteure – berichtet wird. Wie hoch sollte dieser Anteil aus normativer Sicht (mindestens) sein? Könnte gemäss einem Schwellenwertmodell61 ein bestimmter Level festlegt werden oder genügt es, wenn Politikgestaltungsprozesse während bestimmter Phasen Resonanz erhalten? Sollte womöglich der Level der Europäisierung im Verlauf der Zeit parallel mit dem Kompetenzzuwachs der EU steigen? Schliesslich ist zu fragen, ob über jedes Thema berichtet werden muss oder ob es Politikfelder gibt, die einer stärkeren medialen Beachtung bedürfen als andere. Grundsätzlich besteht Einigkeit darüber, dass über EU-Politik nicht in gleich starkem Mass berichtet werden muss wie über die nationale Politik. So weist beispielsweise Majone (1998, 10) darauf hin, dass die EU im Unterschied zu den Nationalstaaten nur über sehr beschränkte Kompetenzen zur direkten Steuererhebung und Ausgabenverwendung verfügt. Auch Moravcsik (2002, 615) gibt zu bedenken, dass die fünf wichtigsten Issues in den westlichen Demokratien – Krankenversicherung, Bildungspolitik, law and order, Fürsorge und Sozi-
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Gegenüber der früheren Systematisierung habe ich in Anlehnung an Wessler und Mitarbeitende die Dimension der Politikbeobachtung eingeführt und die entsprechenden Subdimensionen, die bisher unter der Konvergenzdimension aufgelistet waren, hier untergebracht. Ausserdem habe ich die politische Prozessdimension aufgelöst und der Dimension der Politikbeobachtung zugeschlagen. 61 Peters und Wessler unterscheiden drei Modelle: Das Schwellenwertmodell bezieht sich auf ein bestimmtes quantitatives Niveau der Europaberichterstattung und würde einen Schwellenwert als prozentualen Anteil der Europaberichterstattung an der Gesamtberichterstattung festlegen. Das Gradualistische Modell unterlässt die Bestimmung eines Schwellenwertes und vergleicht stattdessen die Europäisierungsanteile verschiedener nationaler Medienarenen entlang der einzelnen Dimensionen miteinander. Das Episodische Modell schliesslich würde für bestimmte Phasen in Politikgestaltungsprozessen – etwa im Stadium der Politikformulierung – eine höhere Europaberichterstattung verlangen als beispielsweise für das Stadium der Umsetzung (Peters / Wessler 2006, 139f.).
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alversicherung sowie Steuern – in erster Linie in nationaler Kompetenz verblieben sind (beiden Angaben zit. nach Wessler et al., 2008, 13). Aber um wie viel tiefer dürfen denn die Anteile an der Europaberichterstattung im Vergleich zur Berichterstattung über die nationale Politik liegen? Diese Frage lässt sich nicht in absoluten Zahlen, sondern bestenfalls relational klären, indem man ein nationales Quorum mit einem europäischen Quorum über die Zeit vergleicht.62 Anstatt sich in einen objektiv nicht zu ermittelnden Schwellenwert zu verkrallen, sind andere Überlegungen zielführender. Vergegenwärtigt man sich zum einen, dass die supranationale Ebene der EU seit der Inkraftsetzung des Vertrags von Maastricht im Jahre 1993 deutlich an Entscheidungskompetenz zugelegt hat, dann sollte aus normativen Überlegungen die Berichterstattung über EU-Politik seither ebenfalls gestiegen sein. Zum anderen brauchen nicht alle EU-Politikfelder gleich stark beachtet zu werden. Es genügt, wenn über jene Politikfelder mehr berichtet wird, die stärker vergemeinschaftet sind, somit der Entscheidungskompetenz der Europäischen Institutionen und nicht jener der Nationalstaaten unterliegen (Koopmans / Erbe 2003; Wessler et al. 2008). Daraus lässt sich die normative Forderung ableiten, wonach der Europäisierungsgrad auf vergemeinschafteten Politikfeldern höher sein soll als auf Politikfedern, die in nationaler Entscheidungskompetenz liegen. Diese Überlegungen lassen sich anhand der beiden Subdimensionen A1 und A2 operationalisieren. EU-Politik sollte schliesslich für die Bürgerinnen und Bürger nicht bloss in Form von verlautbarten Ergebnissen sichtbar sein. In Anlehnung an eine Unterscheidung zwischen Politik im Modus der Routine und Politik im Modus der Krise (Habermas 1992, 460) könnte normativ gefordert werden, dass kontroverse Issues stärker beachtet werden sollten als unproblematische. Das hätte zur Folge, dass Politikprozesse nicht erst dann in die Öffentlichkeit gelängen, wenn sozusagen der Output verkündet wird. Die normative Vorstellung des Interaktionsmodells verlangt im Hinblick auf mögliche Lernprozesse und die Korrektur von Irrtümern eine Responsivität von Politik und öffentlicher Kommunikation bereits schon für den Input und auch für die Phase des Throughput – zumindest im Fall konfliktiver und kontroverser Auseinandersetzungen (A3).
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Man könnte dies etwa dadurch tun, indem man den Umfang der nationalen Politikberichterstattung eines Jahres (alle Artikel über nationale Politik dividiert durch alle Artikel einer Zeitung) ins Verhältnis zur Anzahl nationaler Politikentscheide setzt und dieses nationale Quorum vergleicht mit einem analog errechneten Quorum für die europäische Ebene. Indem man dann diese beiden Quoren für unterschiedliche Jahre entlang der Zeitachse misst, kann man ablesen, wie sich diese beiden Quoren entwickeln: vielleicht nehmen beide ab, was bedeuten würde, dass die mediale Aufmerksamkeit für Politik generell abnimmt, das Öffentlichkeitsdefizit für Politik somit grösser wird; vielleicht vergrössert sich das europäische Quorum zum nationalen, was bedeuten würde, das sich das europäische Öffentlichkeitsdefizit gegenüber einem nationalen Quorum verringert.
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B. Diskurskonvergenz Vergleichbar mit dem nationalen Kontext, in dem ein über unterschiedliche Medien zerstreutes Publikum zeitgleich auf die gleiche Bühne schaut und so auf ähnliche Art und Weise den gleichen Stücken beiwohnt, so gilt als Merkmal einer transnational verdichteten Kommunikationszone, dass die nationalen Publika vermittelt über ihre nationale Berichterstattung zur gleichen Zeiten gleiche Ereignisse, Vorgänge oder Debatten beobachten können. Man hat diese Konvergenzvorstellung in die griffige Formel der „gleichen Themen zur gleichen Zeit unter gleichen Relevanzgesichtspunkten“ (Eder / Kantner 2000, 315) gebracht. Dieser Vorschlag, den Klaus Eder und Cathleen Kantner unter Verweis auf Habermas (1996, 146, 184, 190) gleichsam als Nominaldefinition für eine europäische Öffentlichkeit eingeführt haben, ist allerdings nicht ohne Kritik geblieben und hat zu einer Kontroverse geführt. Während über den Aspekt der „zeitgleichen Thematisierung des Gleichen“ (B1) Konsens herrscht (vgl. etwa Peters / Wessler 2006, 134, Adam 2006, Berkel 2006), wird in Frage gestellt, ob eine europäische Öffentlichkeit normativ auch „gleiche Relevanzgesichtspunkte“ (B2) erfordert. Ruud Koopmans und Jessica Erbe (2003, 5) bemerken, dass genuin europäische Themen, über die in den verschiedenen Ländern Europas zwar zeitgleich und unter gleichen Relevanzgesichtspunkten berichtet wird, für das Publikum dennoch solange nicht als europäische Angelegenheiten zu erkennen sind, wie ein expliziter Bezug zu Europa in der öffentlichen Kommunikation nicht hergestellt wird. Das „Dubliner Asylabkommen“ zum Beispiel sei so in den meisten Ländern Europas als nationale und nicht europäische Angelegenheit wahrgenommen worden, obwohl es ein auf europäischer Ebene verhandeltes Abkommen ist. So ist es eben durchaus möglich, dass EU-Politik in den nationalen Medienarenen trotz Thematisierung unter gleichen Relevanzgesichtspunkten („Festung Europa“) als nationale Angelegenheiten erscheinen. Der Einwand von Koopmans / Erbe ist nicht unberechtigt. Ihr Ergänzungsvorschlag, dass europäische Themen als Themen für uns Europäer debattiert werden sollten (ebd.), betrifft indes eine weitere Dimension, die unter dem Aspekt der kollektiven Identität weiter unter besprochen wird. Bernhard Peters und Hartmut Wessler (2006, 134) setzen den Aspekt der gleichen Relevanzgesichtspunkte mit der Vorstellung einer sich über alle Länder gleichmässig präsentierenden Verteilung von Relevanzgesichtspunkten bzw. Frames gleich. Diese Vorstellung betrachten sie als normativ nicht wünschbar und aufgrund historischer Erfahrungen oder unterschiedlicher Grade von Betroffenheit der einzelnen Länder als empirisch unrealistisch. Hingegen sei aus Gründen von Lernprozessen normativ wünschbar, dass sich die nationalen Medien im Land A der Deutungsperspektiven in den Ländern B, C usw. bewusst seien und
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diese ihren Publika entsprechend vermitteln würden. Wünschbar sei deshalb eine Art kategoriale Vollständigkeit der Deutungsperspektiven in den nationalen Berichterstattungen, damit die jeweiligen nationalen Publika über die Positionen, Argumente und Interpretation, wie sie anderswo vorkommen, ins Bild gesetzt würden (Wessler et al. 2008, 16). Cathleen Kantner liefert für die Begründung ihrer Formel eine gute Antwort, zieht daraus aber den falschen Schluss. Für sie bedeutet nämlich „gleiche Relevanzgesichtspunkte“ richtigerweise „keine in einer europäischen kollektiven Identität gründende ‚europäische‘ Perspektive, sondern übereinstimmende Problemdeutungen zu einem Thema bei durchaus kontroversen Meinungen dazu“ (Kantner 2004, 58). Daraus aber zu schliessen, dass übereinstimmende Problemdeutungen „der beste Indikator für Interdiskursivität“ (Eder / Kantner 2002, 85) sei, ist nicht nachvollziehbar. Liegt denn Interdiskursivität überhaupt und notwendigerweise vor, wenn beispielsweise deutsche, französische und tschechische Medien zur gleichen Zeit über die amerikanischen Präsidentschaftswahlen unter dem Relevanzgesichtspunkt berichten, dass die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger nach zwei Dutzend Jahren einer dynastischen Vorherrschaft der Familien Bush und Clinton einen Wandel herbeisehnen würden? Transnationale Interdiskursivität liegt doch erst dann vor, wenn sich die Akteure dieser drei nationalen Öffentlichkeiten wechselseitig aufeinander beziehen und als auswärtige Sprecher Resonanz in den jeweils anderen Medienarenen erzeugen. Das Kriterium der „gleichen Relevanzgesichtspunkte“ verfehlt ganz offensichtlich die Erfassung von Interdiskursivität. Richtig ist hingegen, dass gleiche Relevanzgesichtspunkte eine „thematische Verschränkung der nationalen Arenen in Bezug auf die gemeinsamen europäischen Problemlagen und Konflikte“ (Kantner 2006a, 147) anzeigen. In dieser Weise möchte ich mich für den Aspekt konvergenter Problemdeutungen in unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten als Indikator für eine kommunikative Verdichtungszone stark machen. Wo nämlich Probleme dauerhaft unter völlig verschiedenen Relevanzgesichtspunkten wahrgenommen und interpretiert werden, kann schlechterdings nicht von einer integrationsfähigen Kommunikationsgemeinschaft die Rede sein. Man hätte es zu tun mit segmentierten Kommunikationsgemeinschaften, die zwar wie Israel und Palästina zur gleichen Zeit über das Gleiche reden, aber auf inkommensurable Art und Weise die Probleme deuten. Das heisst nicht, dass in allen nationalen Öffentlichkeiten alle Problemdeutungen im Sinn der Vollständigkeitsforderung gleich stark thematisiert sein müssen. Verlangt wird lediglich ein hinreichender Bestand an gleichen Problemdeutungen, damit im Konfliktfall ein Konsens darüber möglich ist, worüber Dissens herrscht.
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Vor diesem Hintergrund leitet sich für eine transnational verdichtete Kommunikationszone ab, dass die nationalen Berichterstattungen über EU-Politik (oder andere internationale Gegenstände) synchron zu erfolgen haben (B1) und darüber hinaus ein Mindestmass an übereinstimmender Semantik (B2) erreichen sollen. Öffentliche Auseinandersetzungen zeichnen sich ausserdem aus durch eine zentrale Leitdifferenz bzw. Konfliktlinie, die das Spektrum des an der Auseinandersetzung beteiligten Sprecherensembles in zwei Diskurskoalitionen mit je unterschiedlichen Positionen und Meinungen zur Streitfrage trennt (Wessler et al. 2008, 6; Wessler 1999; Sabatier 1993; Kriesi 2001). Damit in den verschiedenen Öffentlichkeiten die Konfliktlinie in gleicher Weise wahrgenommen werden kann, sollten die antagonistischen Diskurskoalitionen auch in ähnlicher Weise Resonanz erhalten (B3). C. Kommunikativer Austausch Wenn zeitgleich in mehreren nationalen Arenen europäische Themen unter ähnlichen Relevanzgesichtspunkten debattiert werden, ohne dass zwischen diesen Räumen ein kommunikativer Austausch stattfindet, dann liegt ein Europäisierungsmuster vor, das als „segmentäre Europäisierung“ bezeichnet wurde (Brüggemann 2006, Wessler et al. 2008). Nun gehört jedoch zur Charakteristik einer transnational verdichteten Kommunikationszone in ganz entscheidender Weise, dass die segmentär differenzierten nationalen Öffentlichkeiten über massenmediale Kommunikation sozialräumlich integrieren werden. Dies ist aber nur möglich, wenn sich die nationalen Öffentlichkeiten kommunikativ durchdringen, wenn sie sich, wie Jürgen Habermas es formuliert, diskursiv verschränken (Habermas 2001). Kommunikative Interaktion zwischen nationalen Kommunikationsräumen kann auf zwei Arten erfolgen. Ein erster, schwächerer Modus besteht in der (wechselseitigen) Beobachtung anderer europäischer Länder, was ein publizistisches Korrelat in Form der Auslandberichterstattung über diese Länder findet (C1). Diese Berichterstattung über Vorgänge in anderen Ländern ist normativ angezeigt, weil dort gefällte Entscheide direkte oder indirekte Effekte auf das eigene Land zeitigen können. Je stärker Länder untereinander – sei es über wirtschaftliche, politische oder kulturelle Beziehungen – verflochten sind, desto eher drängt sich eine systematische und dauerhafte Beobachtung dieser Länder auf. Aus Sicht eines Mitgliedstaats der EU ist es beispielsweise nicht ohne Bedeutung zu wissen, aus welchen Gründen das irische Volk wie über den Reformvertrag von Lissabon abstimmt. Aber auch für einen europäischen Drittstaat wie die Schweiz ist die systematische Beobachtung der dynamischen Entwicklung des acquis communautaire im Hinblick auf die bilateralen Beziehungen mit der EU
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nicht unerheblich. Die wechselseitige Beobachtung ist zudem aus Gründen von Lernprozessen wünschenswert. So zeigt zum Beispiel die virulente globale Finanzkrise ganz deutlich, dass im Prinzip sehr viele Staaten vor gleich gelagerten Problemen stehen. Die Beobachtung, wie andere mit dieser Krise umgehen und sie zu lösen versuchen, hilft mögliche Irrtümer zu vermeiden und aus Fehlern anderer zu lernen. Schliesslich fördert wechselseitige Beobachtung das gegenseitige Verständnis für die jeweils andere Sichtweise, fördert die Bereitschaft zu Kompromissen und begünstigt grenzüberschreitende Solidarität (Wessler et al. 2008, 17). All diese Potenziale erschöpfen sich indes nicht in der wechselseitigen Beobachtung. Sie kommen überhaupt erst richtig zur Geltung, wenn zwischen Sprechern unterschiedlicher nationaler Arenen ein kommunikativer Austausch mit oder ohne expliziten Bezugnahmen stattfindet, wenn mit anderen Worten Akteure unterschiedlicher Länder miteinander transnational ins Gespräch kommen – und zwar zunächst ganz gleichgültig, ob sie mit harten Bandagen einen Disput austragen oder verständigungsorientiert Lösungen für gemeinsame Probleme eruieren. Kommunikativer Austausch in Form von Resonanzen auswärtiger Sprecher, wechselseitiger Adressierung mit Geltungsansprüchen, Kritiken oder Würdigungen sowie wechselseitiger Bezugnahmen auf Äusserungen von Akteuren anderer Länder sind Indikatoren für transnationale Interdiskursivität und indizieren einen transnational verdichteten kommunikativen Austauschprozess (C2). Ohne solche transnationalen Interaktionen ist letztlich die Entstehung einer auf Dauer gestellten europäischen Kommunikationsgemeinschaft nicht möglich. Denn diese zählen in ganz entscheidender Weise zur Voraussetzung, dass ein mit Bezug auf gemeinsames Handeln europäisiertes Zusammengehörigkeitsbewusstsein erzeugt und eine kollektive Identität kommunikativ konstruiert werden kann. Die klassische Nachrichtenwertforschung kennt für die Auslandberichterstattung seit Galtung / Ruge (1965) mit den Nachrichtenfaktoren eine Erklärung für die Dominanz von Nachrichten über grosse bzw. mächtige Länder oder auch Nachbarstaaten. Zu erwarten ist deshalb auch für die Europäische Union eine stärkere Auslandberichterstattung über die grossen und mächtigen EU-Mitgliedstaaten sowie eine besonders hohe Resonanz von Sprechern aus diesen Ländern. Normativ wünschbar wäre aber, dass insbesondere in Konfliktfällen, in die kleinere Länder involviert sind, auch Akteure aus diesen Ländern in anderen Öffentlichkeiten angemessen Gehör finden. Wessler und Mitarbeitende (2008, 17) führen deshalb das normative Kriterium der Vollständigkeit ein: Trotz Dominanz grosser Staaten und mächtiger Akteure sollte in jedem europäischen Land das ganze Universum europäischer Länder beobachtet werden, und es sollten Sprecher aus all diesen Ländern Resonanz erhalten.
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D. Kollektive Identität In der Kombinatorik der drei Dimensionen der Politikbeobachtung, Diskurskonvergenz und des kommunikativen Austauschs lässt sich eine transnational verdichtete Kommunikationszone nachweisen. Diese Kommunikationszone emergiert zwar aus den nationalen und supranationalen Öffentlichkeitsarenen, weist aber noch nicht notwendig die Merkmale einer Kommunikationsgemeinschaft auf, die sich durch einen spezifischen Modus eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins oder einer europäischen kollektiven Identität auszeichnet. Die analytisch wie demokratietheoretisch umstrittenste Dimension europäischer Kommunikation betrifft denn auch mit der Frage nach einer kollektiven Identität die kulturalistische Seite des weiter oben diskutierten Öffentlichkeitsdefizits. Während in der klassischen politischen Theorie (z. B. Carl Schmitt) und im Staatsrecht (z. B. Zipelius, Grimm, Böckenförde) die kollektive Identität einer Volksgemeinschaft als primordiale Bedingung für Demokratie und Öffentlichkeit vorausgesetzt wird, werden in den Sozialwissenschaften vor allem konstruktivistische und prozeduralistische Ansätze ins Feld geführt. Ein „Gemeinsamkeitsglauben“ (Max Weber) oder „Zusammengehörigkeitsbewusstsein“ (Grimm, Böckenförde) kann sich in dieser Perspektive einstellen, wenn sich die Mitglieder unterschiedlicher sozialer Einheiten wechselseitig als Teilnehmer der gleichen Kommunikationsgemeinschaft wahrnehmen und adressieren, wobei solche kollektiven Identitätskonstruktionen auf allen Ebenen von Öffentlichkeit prozessiert werden müssen. Die Frage, welches Identitätskonzept für die Europäische Union am besten konveniert, damit die EU für mehr Demokratie bereit wäre, ist damit noch nicht beantwortet. Es scheint mir angebracht, zwischen kollektiven Identitätskonzepten zu unterscheiden, die entlang der Dimension einer zunehmend vertieften sozialen Integration angeordnet werden können, wobei am oberen Ende die in den demokratischen Nationalstaaten eingebettete Solidargemeinschaft als gleichsam am weitesten entwickelte Form der sozialen Integration moderner Gesellschaften rangiert. Im Rekurs an die sich entwickelnden bürgerlichen Kommunikationsgemeinschaften an der Schwelle zur Moderne könnte man zunächst von Problemgemeinschaften ausgehen. Man erinnere sich: Die bürgerlichen Privatleute wurden adressiert von Personen in vergleichbarer sozialer Stellung, die angesichts der merkantilistischen Interventionen der absolutistischen Herrschaftsregimes in den Wirtschaftsbereich auf Problemlagen aufmerksam machten, die alle bürgerlichen Privatleute als solche gleichermassen betrafen. Daraus sind Problemlösungsgemeinschaften entstanden, die vor dem Hintergrund einer wahrgenommenen und miteinander diskutierten Problemlage gewillt waren, diese Probleme gemeinsam anzugehen und nach politischen Lösungen zu suchen. Mit Blick auf
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die Europäische Union sehen sich die Bürgerinnen und Bürger der europäischen Nationalstaaten infolge Globalisierung und starker Verflechtungen auf mehreren Gebieten nicht nur zunehmend mit gleichen Problemlagen konfrontiert, die supranationalen Institutionen und Akteure können von sich aus als Problemlöser auftreten, sie können als Problemlöser adressiert werden oder die nationalen Akteure gemeinsam neue supranationale Regeln und Institutionen schaffen. Von gelingenden Identitätskonstruktionsprozessen hängt es dann ab, ob sich die europäischen Bürger mit der Europäischen Union als Problemlösungsgemeinschaft identifizieren oder nicht (Wessler et al. 2008). Das Identitätskonzept einer Problemlösungsgemeinschaft als Zweckgemeinschaft diskutiert auch Cathleen Kantner (2006b, 2006c). Der Zweckgemeinschaft liegt eine schwache kollektive Identität zu Grunde, die in der rationalen Einsicht gründet, mit anderen gemeinsam nach Lösungen für Probleme zu suchen, die alle in gleicher Weise betreffen. Mit Blick auf die Europäische Union gründet der gemeinsame Binnenmarkt in der rationalen Überzeugung einer Zweckgemeinschaft. Eine schwache kollektive Identität wäre Kantner zufolge auch für die Konstitution einer Verfassung im formalen Sinn ausreichend. Die rationale Einsicht, dass eine Gemeinschaft mit 27 Mitgliedstaaten adäquate Regeln der Entscheidungsfindung brauchen, begründet eine zweckrationale Problemlösungsgemeinschaft. Für eine mehrheitsfähige Umverteilungspolitik erachtet sie Zweckgemeinschaften allerdings als nicht ausreichend. Dazu nötig wäre eine starke kollektive Identität, die in einer europäischen Wertegemeinschaft gründet (2006b, 512). Ob solche Identitätskonstruktionen und Problemlösungsdiskurse in einer europäischen und nicht national-partikularistischen Perspektive geführt werden, wie dies Gerhards (1993) als Kriterium einer Europäischen Öffentlichkeit gefordert hat, ob also die Probleme als Probleme für uns Europäer und durch uns Europäer zu lösende Probleme adressiert werden (Risse / van de Steeg 2003, 18-21; Koopmans / Erbe 2003, 4), ist freilich eine empirische Frage. Ob über die Stufe der Zweck- oder Problemlösungsgemeinschaft noch weiter führende Formen der sozialen Integration möglich sind (Wertegemeinschaft, Solidargemeinschaft), wird sich weisen müssen. Normativ bedeutend bleibt indes, dass überhaupt Identitätskonstruktionsprozesse über die nationalen Grenzen hinweg in Gang kommen und somit oberhalb nationaler Identitätssemantiken ansetzen. Aus historischen Untersuchungen wissen wir, dass in Zeiten einer wahrgenommenen Bedrohung kollektive Identitätsbezüge besonders stark artikuliert werden (Imhof 1993b, 1996e). Dabei können sich solche Bedrohungswahrnehmungen auf beliebige Tatbestände wie Kriegsgefahr, Terrorgefahr, Bedrohung der sozialen Sicherheit und des Wohlstands, Umweltbedrohungen, Gesundheitsbedrohungen, Gefahr der Überfremdung, Angst vor Freiheits- und Souveräni-
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tätsverlust etc. beziehen (D1). Bedrohungsperzeptionen sind für die Konstruktion von kollektiven Identitäten deshalb besonders geeignet, weil diejenigen, die sich oder ihre Ressourcen als bedroht wahrnehmen, durch scharfe Differenzsemantiken moralische Unterscheidungen treffen zwischen denen, die für uns und deshalb gut sind, und denen, die nicht für uns und deshalb barbarisch sind.63 Dabei werden nun in der öffentlichen Kommunikation jene Eigenschaften und Attribute aktualisiert, die das Besondere einer sozialen Einheit ausmachen und mit denen sich die Teilnehmer dieser Gemeinschaft identifizieren müssen, wenn sie dazu zählen wollen. Das können Überzeugungen, Werte, Institutionen, Traditionen, Lebensformen, Ressourcen oder Volkseigenschaften sein, die identitätsstiftend überhöht werden. Man kann solche Prozesse kommunikativer Identitätskonstruktionen in Form kollektiver WIR-Bezüge sowie Fremd- und Selbsttypisierungen feststellen (D2). Aus dieser Argumentation lässt sich ableiten, dass transnational wahrgenommene Bedrohungen bzw. Bedrohungsperzeptionen von gemeinsamen Ressourcen besonders geeignet erscheinen, eine europäische Problemlösungsgemeinschaft zu formen, sofern sich Problemlagen ergeben, die eine derartige Wahrnehmung überhaupt zulassen (Neidhardt / Koopmans / Pfetsch 2000).64 Aber von einer Problemlösungsgemeinschaft hin zu einer Werte- oder gar Solidargemeinschaft ist es doch noch ein zeitlich und sozial recht langer Weg. Dennoch: die Möglichkeit der Erfahrung, Probleme angesichts öffentlich wahrgenommener Bedrohungslagen gemeinsam gelöst zu haben, könnte aus einer mehr funktionalistischen und zweckrationalen Identifikation mit der Europäischen Union als Problemlösungsgemeinschaft mit der Zeit zu einer Identifikation mit der EU als Wertegemeinschaft führen und stärker wertrationale Elemente einer kollektiven Identität am Horizont erscheinen lassen.
*** Fassen wir kurz zusammen: Einer europäischen Öffentlichkeit liegt die normative Vorstellung eines Raums für massenmedial vermittelte Auseinandersetzungen über gemeinsame Angelegenheiten zugrunde, wodurch Herrschaftskontrolle und Selbststeuerung ermöglicht werden soll. Dieser Raum ist modelliert worden als Emergenz transnational verdichteter Kommunikationszonen, die sich über mehrere Stufen und entlang verschiedener Dimensionen erstrecken. Ausgehend von 63
Hierzu sei an einen Leitsatz von George W. Bush im Anschluss an die Terroranschläge vom 11. September 2001 erinnert, als er sinngemäss sagte: Wer für uns ist, ist unser Freund; wer nicht für uns ist, unterstützt den Terrorismus und wird als Feind bekämpft. 64 Neidhardt / Koopmans / Pfetsch sprechen von einem radikalen Islamismus, der Europa zu einer gemeinsamen Bedrohungsperzeption veranlassen könnte.
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nationalen Öffentlichkeiten liegt eine erste Stufe vor, wenn die nationalen Medien über EU-Politik berichten. Findet diese EU-Berichterstattung zeitgleich statt und gleicht sich ausserdem noch an, dann ist dies ein Beleg für einen Bestand an gemeinsam geteilten Aufmerksamkeits- und Relevanzstrukturen im Kommunikationsraum Europa in Gestalt von europäischen Kommunikationsereignissen. Eine Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten auf dieser ersten Stufe liegt demnach vor, wenn die Berichterstattungen über EU-Politik im Vergleich mit der Berichterstattung über nationale Politik oder im Vergleich mit der restlichen Auslandberichterstattung über die Zeit zunimmt und sich angleicht. Normativ wünschbar ist, dass die EU-Berichterstattung parallel mit dem EU-Kompetenzzuwachs steigt. Je grösser der EU-Politik-Output ist, desto umfangreicher sollte die EU-Berichterstattung sein. Freilich kann Europäisierung auf dieser Stufe nicht bedeuten, dass diese gleichsam ihren Maximalwert annimmt. Wenn nur noch über EU-Politik berichtet würde, hingegen nicht mehr über nationale Angelegenheiten, dann ist dies weder normativ wünschbar, noch könnte empirisch von der Existenz einer nationalen Öffentlichkeit ausgegangen werden. Nun kann diese als vertikal bezeichnete Form der Europäisierung auch eintreten, ohne dass die nationalen Öffentlichkeiten wechselseitig voneinander Notiz nehmen oder dass zwischen diesen kommunikative Interaktionen stattfinden, was als „segmentäre Europäisierung“ oder als „nationalstaatlich versäulte“ Europaberichterstattung zu bezeichnen ist. Eine nicht nur segmentär, sondern transnational verdichtete Kommunikationszone liegt erst vor, wenn auf der zweiten Stufe die nationalen Medien des einen Landes die in anderen europäischen Ländern geführten Debatten aufnehmen und kommentieren (schwacher Modus der Interdiskursivität) und wenn sich darüber hinaus die nationalen Kommunikationsräume und supranationalen Arenen wechselseitig überlappen und diskursiv zu durchdringen beginnen (starker Modus der Interdiskursivität). Solche transnationalen Interdiskursivitätsmodi bezeichnen eine Form der horizontalen Europäisierung. Lässt sich transnationale Interdiskursivität im Kommunikationsraum Europa nachweisen, ist dies ein Beleg dafür, dass zwischen den nationalen Öffentlichkeitsarenen untereinander und im Verkehr mit den supranationalen Arenen bereits transnationale Diskurse existieren. Wiederum gilt auch auf dieser zweiten Stufe, dass Europäisierung nicht gegen deren Maximalwert streben muss. Kommunikative Austauschprozesse beispielsweise nur unter europäischen und ohne Partizipation von nationalen Akteuren sind weder eine realistische noch normativ wünschenswerte Vorstellung. Allerdings wird man die Existenz transnationaler Interdiskursivität noch nicht mit einer europäischen Öffentlichkeit gleichsetzen wollen. Diese erfordert auf der dritten Stufe per definitionem, dass transnationale Diskurse nicht nur auf Dauer gestellt sind, sondern dass sich die nationalen Sprecher auch als Teilneh-
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mer einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft wahrnehmen und adressieren. Eine europäische Öffentlichkeit verlangt aus normativen Gründen ein Mindestmass an kollektiver Identität, damit sich eine transnationale Kommunikationsgemeinschaft als Trägerin einer transnationalen Demokratie im institutionellen Rahmen der Europäischen Union ausbilden kann. Wie viel Identifikation mit der Europäischen Union oder Europa ist normativ nötig, damit eine transnationale Demokratie funktionieren kann? Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Identifikation mit der eigenen Nation oder dem Nationalstaat nicht einfach in dem Mass erlischt, wie die Identifikation mit Europa steigt. Entscheidender scheint vielmehr, dass sich diese beiden Identifikationsmuster wechselseitig ergänzen und nicht ausschliessen, wie die Identifikation mit der Nation in der Identifikation mit der Region und umgekehrt enthalten ist. Wenn sich beispielsweise Deutsche und Franzosen, Dänen und Portugiesen gleichermassen als Europäer oder als Bürger der Europäischen Union wahrnehmen und adressieren, verschwindet zwar die nationale Differenzsemantik nicht, sie geht aber in einer europäischen Identitätskonstruktion beispielsweise als zweckrational oder wertrational basierte Problemlösungsgemeinschaft auf. Dass eine Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten entlang der skizzierten Stufen und Dimensionen, wenn überhaupt, nicht von heute auf morgen zu einer Europäischen Öffentlichkeit im Singular führt, ist offensichtlich. Gemessen an der Genese nationaler Öffentlichkeiten kann dieser Prozess mehrere Jahrzehnte und länger dauern. Dabei sind wohl Phasen einer beschleunigenden von Phasen retardierender oder gar erodierender Europäisierung zu unterscheiden. 3.2.3 Integrations- und Medienhypothese Auf eine Darstellung des empirischen Forschungsstandes wird in dieser Arbeit verzichtet. Einerseits sind viele Ergebnisse zu detailspezifisch, zu wenig repräsentativ und widersprüchlich, andererseits wurde bereits mehrfach eine gute Übersicht über den Forschungsstand geleistet (Kantner 2004, 130ff.; Langenbucher / Latzer 2006; Adam 2006, 19ff.; Saurwein 2006, 25ff.; Wimmel 2006, 59ff.). Aus bisherigen Forschungsergebnissen lassen sich nun aber gerade auch vor dem Hintergrund der Studie von Wessler et al. (2008) und neueren Arbeiten von Ruud Koopmans sowie Barbara Pfetsch zwei Hypothese formulieren, die bestimmte Zusammenhänge doch recht gut zu erklären scheinen. Integrationshypothese Aus normativen Überlegungen wurde postuliert, dass die Berichterstattung über die EU-Politik mit zunehmender Vergemeinschaftung steigen sollte. Die Integra-
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tionshypothese beschreibt nun diesen Zusammenhang. Mit Blick auf einen Zeitraum, der die Europaberichterstattung seit den 1980er-Jahren untersucht, bestätigen vorhandene Studien einen solchen Zusammenhang der steigenden EUBerichterstattung bei zunehmender Integration. Als Folge des Integrationsprozesses steigt die Berichterstattung über die EU-Polity, und zwar in jenen Ländern etwas mehr, wo die EU-Skepsis grösser ist, und gleichfalls über EU-Policies, und in diesem Bereich umso mehr, je früher und umfassender ein Land der EU beigetreten ist (siehe auch Pfetsch / Adam / Eschner 2008). Wenngleich auf tiefem Level lässt sich ähnliches wie für die EU-Policies für die kollektive Identität beobachten. Die Berichterstattung über die EU ist zudem nicht gleichmässig verteilt über alle Politikfelder. Sie ist am stärksten dort, wo es sich um vergemeinschaftete Politikfelder handelt, die in der Entscheidungskompetenz der EU und nicht der Nationalstaaten liegen (siehe auch Koopmans 2004b). Je grösser die Kompetenz der EU ist, desto mehr konvergieren die nationalen Sprecherensembles und die nationalen Deutungsperspektiven. Der europäische Integrationsprozess scheint somit ein Katalysator für Diskurskonvergenz zu sein (Wessler et al. 2008, 176). Hingegen lassen sich auf der Basis der Studie von Wessler und Mitarbeitenden für die Dimension des kommunikativen Austauschs kaum Europäisierungseffekte nachweisen: Weder wurden andere europäische Länder über die Zeit stärker beobachtet, noch haben Sprecher aus anderen EU-Staaten stärkere Resonanz in den Öffentlichkeiten anderer EU-Staaten erfahren. Medienhypothese Die Medienhypothese bezieht sich auf den Umstand, dass Medien nicht einfach ein Wirklichkeit abbildender Spiegel, sondern Akteure sind, welche soziale Wirklichkeit konstruieren. In diesem Sinn können Medien den Trend der Europäisierung der Öffentlichkeit im eigenen Land verstärken oder hemmen. Untersuchungen von Koopmans und Pfetsch (2006) im Rahmen des Forschungsprojekts europub haben ergeben, dass Medien im Konstruktionsprozess Europas als „Motor“ gelten. Einen ähnlichen Befund kann auch die Studie von Wessler und Mitarbeitende belegen. Wie gross der Anteil der EU-Berichterstattung in einer Zeitung ist, hängt aber in erster Linie vom reservierten Raum für EU-Berichterstattung, der redaktionellen Linie und der Anzahl in Brüssel oder anderen europäischen Hauptstädten domizilierter Korrespondenten ab.
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3.3 Konstitutionsbedingungen europäischer Öffentlichkeit Wie kann sich eine transnationale Öffentlichkeit im europäischen Geltungsbereich unter Bedingungen fehlender oder mangelhaft vorhandener Strukturelemente einer paneuropäischen Öffentlichkeit – keine europäische Medien, rudimentär vorhandenes intermediäres System europäischer Akteure, kein europäisch integriertes Publikum – überhaupt ausbilden? An dieser Stelle könnte die Diskussion wieder aufgenommen werden, wie sie im Rahmen der Trilemmabeschreibung des Demokratie-, Identitäts- und Öffentlichkeitsdefizits geführt wurde und man könnte sich fragen, wie die Interdependenzverhältnisse zwischen Medien, Akteuren und Publikum im Hinblick auf eine Demokratisierung der Europäischen Union so gesteuert werden könnten, damit sich die drei Faktoren wechselseitig positiv beeinflussen würden (vgl. Eder / Trenz 2003; Wessler et al. 2008, 187ff.). Diesen Faden werde ich allerdings nicht aufnehmen. Stattdessen gelangt der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und öffentlicher Kommunikation in den Blick und es wird die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen gesellschaftliche Entwicklungen dazu führen, dass die Öffentlichkeit gleichzeitig in mehreren Ländern anspringt. Zur Beantwortung dieser Frage wird es nötig sein, die bisher eingenommene Strukturperspektive mit einer Prozessperspektive zu verknüpfen, wobei an die Überlegungen in Kapitel 2.2.3 zur Dynamik von „Öffentlichkeit im Krisenbewusstsein“ und „Öffentlichkeit im Ruhezustand“ angeknüpft wird. Im Rahmen einer öffentlichkeitssoziologisch fundierten Theorie sozialen Wandels lässt sich argumentieren, weshalb es immer wieder zu konfliktinduzierten Kommunikationsverdichtungen kommt, während derer sich aktive Öffentlichkeiten formieren. Mit Blick auf Europa wird argumentiert, dass es in der Logik des europäischen Integrationsprozesses begründet liegt, dass Probleme in Europa zunehmend als Probleme für die Europäische Union wahrgenommen und als solche adressiert werden. Da sich die Europäische Union aufgrund ihrer wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Verflochtenheit bereits in einem beträchtlichen Mass als Problemgemeinschaft oder gar als „Schicksalsgemeinschaft“ wahrnimmt, steigt im Fall grenzüberschreitender Problemwahrnehmung der Druck auf die Institutionen der Europäischen Union, die Probleme zu lösen oder wenigsten Problemlösungen gemeinsam zu koordinieren. Und je stärker sich Betroffenheit oder öffentlicher Druck manifestiert, desto grösser ist das Potenzial für konfliktinduzierte transnationale Verdichtungen der öffentlichen Kommunikation.
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Dieser Argumentationszusammenhang wird in zwei Schritten entfaltet. In seinen späteren Arbeiten über Öffentlichkeit geht Jürgen Habermas65 von einem Revitalisierungspotenzial politischer Öffentlichkeit aus und sieht trotz Ausdifferenzierung eines von Massenmedien beherrschten öffentlichen Raums zeithistorische Phasen im sozialen Wandel, während derer sich aktive Öffentlichkeiten im Krisenbewusstsein formieren. Auf der Basis einer öffentlichkeitssoziologisch begründeten Theorie sozialen Wandels lassen sich in einem ersten Schritt solche Formationen als krisen- und konfliktinduzierte Kommunikationsverdichtungen einführen (3.3.1). Im zweiten Schritt wird dieser Ansatz auf den politischen Geltungsbereich der Europäischen Union bezogen und argumentiert, dass mit dem europäischen Integrationsprozess gemeinsamer Märkte und supranationaler Governance-Strukturen ein Transformationsprozess in Gang gesetzt wurde, bei dem sich die Europäischen Union über die Wahrnehmung und öffentliche Thematisierung gleicher Bezugsprobleme von einer Problemgemeinschaft zur einer Problemlösungsgemeinschaft entwickelt. Damit ist ein Identitätsbildungsprozess angesprochen, der sich in Phasen wahrgenommener Krisen und Konflikte besonders akzentuiert. Ob aber grenzüberschreitende Konfliktsituationen kollektive Identitätsbildung mit einem europäischen Bezug zulassen oder eher das Nationale akzentuieren, ist die entscheidende Frage. Entlang einer Konflikttypologie lassen sich theoretisch Antworten benennen (3.3.2). Das Subkapitel schliesst mit der Formulierung einer Konflikthypothese (3.3.3). 3.3.1 Aktive und passive Öffentlichkeiten im sozialen Wandel Im STRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT hat Jürgen Habermas noch einen linearen Verfallsprozess der politischen Öffentlichkeit beschrieben. Rund dreissig Jahre später sieht er in FAKTIZITÄT UND GELTUNG eine revitalisierte Öffentlichkeit und entkräftet seine frühere pessimistische Verfallsdiagnose unter Rekurs auf zivilgesellschaftlich initiierte Debatten doch erheblich. An die Stelle einer „vermachteten Öffentlichkeit“ ist die Unterscheidung einer aktiven Öffentlichkeit im Krisenbewusstsein und einer passiven Öffentlichkeit im Ruhezustand bzw. in der Routine getreten. Unter normativen Gesichtspunkten wird entscheidend, dass eine Öffentlichkeit, die das normative Prädikat einer „guten Öffentlichkeit“ noch verdient, wenigstens in Momenten wahrgenommener Krisen und Konflikte anspringt und die konventionell eingespielten Kommunikationskreis65
Jürgen Habermas schält dieses Potenzial erstmals in seinem 1989 erschienenen Aufsatz VOLKSeine Einsicht formuliert, die in die Revision des führt und im Entwurf einer zivilgesellschaftlich verankerten Öffentlichkeit seinen beredten Ausdruck in FAKTIZITÄT UND GELTUNG (1992) erfährt.
SOUVERÄNITÄT ALS VERFAHREN heraus. Hier wird STRUKTURWANDELS DER ÖFFENTLICHKEIT (1990)
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läufe umzukehren vermag (vgl. Habermas 1992, 459ff.). Aber eine gesellschaftstheoretische Begründung, weshalb und unter welchen Bedingungen es zur Formierung aktiver Öffentlichkeiten kommt, hat Habermas m. E. nicht erbracht. Indem man eine Prozessperspektive öffentlicher Kommunikation mit einer krisen- und konfliktsoziologischen Theorie sozialen Wandels verknüpft, kann dieses Desiderat eingelöst werden. Kern einer solchen von Kurt Imhof und Gaetano Romano (1996) beschriebenen Theorie bildet die doppelte Prämisse der prinzipiellen Konstruiertheit sozialer Wirklichkeit und der Krisenhaftigkeit moderner Gesellschaften zum einen und der Diskontinuität sozialen Wandels als Abfolge von Gesellschaftsmodellen zum anderen. Da Kommunikationsereignisse Ausdruck sozialer Wirklichkeitskonstruktionen sind, lässt sich der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und der Formation von Öffentlichkeit unmittelbar im Medium der öffentlichen Kommunikation sowohl handlungstheoretisch auf der Ebene der Akteure sowie hermeneutisch auf der Ebene der Me66 dieninhalte untersuchen. Während vormoderne Gesellschaften noch in transzendenten, Letztgewissheiten verbürgenden Weltbildern verankert und Herrschaft im Namen Gottes und der Tradition legitimiert waren, verfügen aufgeklärte Gesellschaften über keine überzeitliche und veränderungsresistente Ideensysteme mehr und sind daher grundsätzlich orientierungsbedürftig. An die Stelle religiös legitimierter Weltbilder sind Ideologie-basierte Gesellschaftsmodelle getreten, die den Kontingenzspielraum beliebig möglicher Entwicklungspfade moderner Gesellschaften auf eine epochenspezifische Formation beschränken. Gesellschaftsmodelle basieren auf der Lösung der seit Thomas Hobbes im Rahmen von Gesellschaftsverträgen geregelten sozialen Frage und sind auf eine soziale Ordnung guten und gerechten Zusammenlebens ausgerichtet (Bornschier 1988). Die Karriere von erfolgreichen Gesellschaftsmodellen hängt entsprechend von der demokratisch legitimierten Lösung des Gerechtigkeitsproblems ab, was im Basiskonsens der etablierten Sinnzirkel-Akteure über die Leitbilder einer guten und gerechten sozialen Ordnung festgeschrieben ist. Als solches sind Leitbilder nichts anders als eine in die Zukunft projizierte soziale Konstruktion der Gesellschaft über Gesellschaft in spe. In ihnen gelangen die ideologischen Weltanschauungen, moralischen Überzeugungen und kognitiven Regelsysteme zum Ausdruck und sie finden als gesatztes Recht, politische Spielregeln und soziale Verhaltensnormen ihre institutionelle Entsprechung.
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Die folgenden Ausführungen zur Theorie sozialen Wandels beziehen sich massgebend auf Imhof / Romano 1996; Siegenthaler 1993 und Bornschier 1988, 2002. Eine zusammenfassende Darstellung der Hintergründe, die zur Entwicklung dieser Theorie geführt haben, findet sich bei Imhof 2003b. Beispiele für die Anwendung der Theorie finden sich bei Eisenegger 2005 und Schranz 2007.
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Indem gesellschaftliche Leitbilder somit nicht nur in die Zukunft verweisen, sondern die Zukunft auch durchschau- und berechenbar erscheinen lassen, reduziert sich die Komplexität alternativer Weltinterpretationen auf einen kleinen Ausschnitt vertrauenswürdiger Ursache-und-Wirkungszusammenhänge. Solchermassen erlangte Zukunftsgewissheit erlaubt Unternehmen und privaten Haushalten die Tätigung irreversibler Investitionen, was sich in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als wirtschaftliches Wachstum mit hoher Beschäftigungsrate bemerkbar macht. Umgekehrt führt fundamentale Unsicherheit betreffend die Durchschaubarkeit und Berechenbarkeit künftiger Entwicklungen zu Liquiditätspräferenzen und Desinvestitionen, was Wachstumseinbrüche und steigende Arbeitslosenraten zeitigt. Die zentrale Leistung von Leitbildern liegt somit in der Stiftung von gesellschaftlicher Orientierung, der Bündelung von Erwartungsstrukturen und der Ausbildung von Regelvertrauen, was überhaupt als Grundvoraussetzung für wirtschaftliches Wachstum gilt. Weil damit aber gleichzeitig schon der Boden für nicht beabsichtigte Folgen absichtsvollen Handelns gelegt wird, birgt erwartungsstrukturzentriertes Wirtschaftswachstum den Keim künftiger Orientierungskrisen und sozialer Konflikte per se in sich, weshalb Gesellschaftsmodelle eben nur auf Zeit wirksam sind und sozialer Wandel letztlich als diskontinuierliches Phänomen zu beschreiben ist. Weshalb kommt es regelmässig zu wachstumsinduzierten Krisen? Für die Erklärung dieses Phänomens kennen die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften das Konstrukt der nicht beabsichtigen Folgen absichtsvollen Handelns (Siegenthaler 1993, 149ff; Hoffmann-Nowotny 1978; Imhof 1996a, 292). Diesem Konstrukt zufolge begünstigen rasches Wirtschaftswachstum und technologische Innovationen zum einen einen Strukturwandel auf den Arbeits- und Gütermärkten, der über Innovationen und Produktivitätssteigerungen mit einer Entwertung von bislang nützlichen Gütern und nachgefragtem Wissen sowie persönlichen Fähigkeitskapitalien einhergeht. Zum anderen erhöht sich die soziale wie geografische Mobilität der Individuen wie auch ganzer sozialer Gruppen, die in Übereinstimmung mit den gesellschaftlich etablierten Erwartungsstrukturen neue Opportunitäten auszunutzen beginnen. Solcher Strukturwandel wird aber erst dann zum Problem, wenn individuelle wie unternehmerische Ziele mit den verfügbaren Mitteln nicht mehr zu erreichen sind, etwa weil sich im Prozess wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts die herkömmlichen Ressourcen, Fähigkeitskapitalien oder Produktionstechniken als überholt erweisen oder wenn sich die verfolgten Ziele selbst entwerten – etwa, weil infolge gewinnverspre-
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chender Zukunftsaussichten alle meinen, gleiche Opportunitäten nutzen zu müssen.67 Sehen sich dann sehr viele Einzelne einer Situation gegenüber, die ihnen verweigert so zu sein, wie sie erst noch glaubten werden zu müssen, dann schlagen die einstigen Erwartungen in Enttäuschungen um, wobei sich bei den enttäuschten Wachstumsverlierer anomische Spannungen breit machen (Siegenthaler 1993, Hoffmann-Nowotny 1978): Das Vertrauen in die Zukunft beginnt zu erodieren; gleichzeitig sehen sich die Wachstumsverlierer anderen Bezugsgruppen gegenüber benachteiligt und das Gerechtigkeitsproblem wird wieder virulent. Je mehr Leute von solcher Unsicherheit befallen werden, desto ausgeprägter entfaltet sich auf der gesellschaftlichen Ebene in Form eines Zerfalls der Reputation von etablierten Organisationen, Institutionen und Personen eine Orientierungskrise (Eisenegger 2005). Dabei werden nun jene Koordinationsmechanismen zum Problem, die das bislang in den geteilten Leitbildern zentrierte Gesellschaftsmodell begründet haben: die kognitiven Regelsysteme und die institutionellen Regeln. An dieser Stelle bedarf es nun zur Begründung, weshalb solche Krisenphasen regelmässig von Kommunikationsverdichtungen und letztlich von Formationen aktiver Öffentlichkeiten begleitet sind, einer kommunikationstheoretischen Einfärbung der bisherigen Argumentation. Wie bereits angesprochen, gelten Leitbilder als gesellschaftliche Konstruktionen, die überhaupt nur über öffentli67
Einige illustrative Beispiele sollen diesen Sachverhalt kurz verdeutlichen: In den späten 1960erJahren einigte man sich in der Schweizer Bildungspolitik auf eine Verbesserung des Zugangs zu universitären Einrichtungen auch für Personen aus Unterschichten mit der Absicht, die Chancen auf eine berufliche Karriere zu erhöhen. Im Verlauf der folgenden Jahre stieg die Zahl der Studienabgänger rapide an. Gleichzeitig kam es infolge dieses Anstiegs aber zu einer Entwertung des universitären Bildungszertifikats seitens der Privatwirtschaft und die Studienabgänger sahen sich beim Aufkommen der Wirtschaftskrise in ihren Erwartungen enttäuscht. Prompt entlud sich die Enttäuschung anlässlich der Zürcher Studentenkrawalle. Ein weiteres Beispiel ist die unter dem Klimawandel stehende Verordnung der Produktion von Biodiesel mit der Absicht des Abbaus von klimaschädigenden Treibstoffen. Als Folge dieser Verordnung ist die Nachfrage nach solchen Rohstoffen stark gestiegen, was zu einem massiven Preisanstieg geführt hat. Als nicht intendierten Effekt sehen sich nun zahlreiche Entwicklungsländer mit Nahrungsmittelengpässen konfrontiert, die als Auslöser für Aufstände und Unruhen zu betrachten sind. Ein letztes Beispiel ist Hartz IV. Um die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu senken, wurde mit Hartz IV ein Programm geschaffen, das der Wirtschaft einen Anreiz gibt, billige Arbeitsplätze zu schaffen. Wer als Erwerbsloser einen solchen Billig-Job annimmt, erhält vom Staat einen Aufpreis auf den Lohn, womit man mehr schlecht als recht seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Da nun im Osten Deutschlands infolge der spät einsetzenden Industrialisierung nach 1989 mehr Arbeitsplätze gestrichen als neue geschaffen werden, nimmt nicht nur die Zahl der Erwerbslosen zu. Als nicht intendierte Folge von Hartz IV nimmt darüber hinaus in nicht intendierter Weise die Armut zu, weil erwerbslosen Familien und Alleinstehenden die Lohnzuschüsse verwehrt bleiben. Auf diese Weise baut sich erneut anomisches Potenzial auf.
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che Kommunikation ihre Wirkmächtigkeit erlangen können. Gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzungen über die Geltung von Leitbildern stehen ja nicht nur zu Beginn eines neuen Gesellschaftsmodells, gleichzeitig markieren Leitbilddebatten stets auch das Ende eines alten Gesellschaftsmodells.68 Wenn infolge enttäuschter Erwartungen in die einst versprochenen Wohlstandsziele und Gerechtigkeitspostulate das Vertrauen in die bislang handlungsanleitenden institutionellen Regeln und orientierungsstiftenden Leitbilder zu erodieren beginnt, dann entwertet sich auch der moralische Massstab, mit dem bislang gültige Verhaltensweisen beurteilt wurden. Bisher mit den hegemonialen Leitwerten moralisch kompatibles Handeln in Wirtschaft und Politik wird nun als verwerflich skandalisierbar (Imhof 2005). Diese Empörungsbewirtschaftung findet ihren publizistischen Niederschlag in einer sprunghaften Zunahme von gleichgearteten Kommunikationsereignissen. Was beispielsweise bei der Subprime-Krise 2007 noch als Kritik an einzelnen US-Banken begonnen hat, breitet sich in der Folge als Skandalisierung einer ganzen Branche rund über den Erdball aus und löst jene schwere globale Finanz- und Wirtschaftskrise aus.69 In diesem Stadium der Krise angelangt, hat sich nicht nur beträchtliches Protestpotenzial gegen die fehlbaren Personen und Organisationen in der Öffentlichkeit aufgebaut, es werden auch immer lauter Forderungen an die Politik adressiert, die rasches und entschlossenes Handeln oder gar den Rücktritt der Regierung oder einzelner Regierungsmitglieder verlangen. Mit der kumulativen Ausbreitung der Krise auf die gesamte Gesellschaft verlieren sukzessive auch diejenigen Akteure ihr Vertrauen in die bislang gültigen Regeln und Organisationen, die bislang gar nicht von der Krise betroffen waren. Und je grösser bei den etablierten Akteuren die Ungewissheit über die richtige Rezeptur zur Lösung der Krise ist, desto eher beginnen vormals marginalisierte Weltinterpretationen und alternative Realitätskonstruktionen zu diffundieren und die Definitionsmacht
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So durchlebte die Schweiz seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vier fundamentale Krisenphasen. Ausgehend vom konservativ-liberalen Konkordanzmodell geriet die Schweiz ausgangs des Ersten Weltkriegs in eine klassenantagonistische Krise, woraus das Bürgerblockregime entstand. Dieses Gesellschaftsmodell zerfiel bereits wieder in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Aus dieser Krisenphase, die durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen wurde, entstand das sozialmarktwirtschaftliche Gesellschaftsmodell, das dann in der Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre erodierte. Im Gefolge der Thatcher-Regierung 1979 und der Reagan-Administration 1980 nahm auch in der Schweiz zu Beginn der 1980er-Jahre das neoliberale Gesellschaftsmodell sein Take-off. Dieses Modell leidet um die Jahrtausendwende an ersten Krisensymptomen, ehe es mit der globalen Finanzkrise endgültig zu erodieren scheint. (Vgl. zur Periodisierung und Charakterisierung der Gesellschaftsmodelle in der Schweiz Imhof 2007). 69 Eine ganz ähnliche Entwicklung konnte man bereits während der Dot.com-Krise beobachten, als die Bilanzskandale von Enron oder Worldcom dazu führten, dass immer weitere Bilanzskandale entdeckt wurden, was mit dem Begriff „Enronitis“ verdeutlicht wird (Tobler 2004).
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nicht-etablierter Akteure wie soziale Bewegungen, Protestparteien oder alternative Expertenkulturen steigt (Imhof 1996a, 274). Skandalisierungswellen und Protestaktionen sind bereits Zeichen einer sich formierenden aktiven Öffentlichkeit. Auf allen Ebenen der Öffentlichkeit, aber zentral in den Massenmedien setzt ein Kampf um die Definitionsmacht über die „richtige“ Sicht der Dinge ein. Dabei gelangen womöglich alle Akteursgruppen mit Stellungnahmen und Lösungsvorschlägen an die Öffentlichkeit, was sich an einem deutlich forcierten Ereignismanagement belegen lässt.70 Bestimmte Akteure benutzen diese, andere Akteure jene Medien, um mit ihren Positionen in der Öffentlichkeit Resonanz zu erzeugen und den Zuspruch von anderen zu erhalten. Dabei kritisieren sie die einen oder anderen Akteure, erheben Geltungsansprüche und beziehen sich in verstärktem Mass auf geäusserte Positionen, Lösungsvorschläge und Meinungen anderer. Gut möglich, dass sie auch nur einen Vorschlag öffentlich einbringen, um die Reaktionen der Gegenspieler zu testen. Auch die Journalisten bringen sich aktiv in die Auseinandersetzung ein und entschlüpfen dem Gewand der distanzierten Chronisten. Sie verstärken die Anliegen der einen, kritisieren die Positionen der anderen oder bringen selbst eigene Ansichten in die Auseinandersetzung ein. Das führt dann nicht nur zu einer stärkeren wechselseitigen Beobachtung und Referenzialität der Berichterstattung. Insgesamt gelangt eine ausgeprägt interdiskursive Struktur der massenmedial vermittelten Auseinandersetzung zum Vorschein und die öffentliche Kommunikation nimmt bisweilen Züge einer virtuellen Versammlungsöffentlichkeit an, wobei das sonst in unterschiedliche Segmente zerstreute Publikum über massenmedial vermittelte Kommunikation in eine gemeinsame Konfliktarena 71 integriert wird. Diese Fundamentaldebatte beginnt erst dann wieder zu verebben, wenn sich im öffentlichen Diskurs eine anschlussfähige Sicht der Dinge gegenüber alternativen Deutungen durchzusetzen beginnt, somit den Kontingenzspielraum möglicher Entwicklungen begrenzt und auf diese Weise allmählich wieder Vertrauen in die Fähigkeit zur Durchschaubarkeit der Verhältnisse aufkommen lässt. Verhallt die Auseinandersetzung, kehrt die im Modus der Krise vibrierende aktive Öffentlichkeit wieder in den Modus der Routine zurück und wieder erlangtes Vertrauen begründet aufs Neue ein in einem gesellschaftli-
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In meiner Lizentiatsarbeit konnte ich nachweisen, dass das Ereignismanagement während Kommunikationsverdichtungen durchschnittlich mehr als sechs Mal höher war als in niederschwelligen Resonanzphasen (Tobler 2001, 84-91). 71 Dieser sozialintegrative Mechanismus von Kommunikationsverdichtungen zeigt sich nicht zuletzt in der durch die medienvermittelte Kommunikation ausgelösten Anschlusskommunikation in beliebigen Alltagssituationen. In wohl einmaliger Art und Weise konnte dies jeder im Anschluss an 9/11 selbst erfahren: Wo auch immer man hinhörte, alles redete nur noch vom Terroranschlag.
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chen Leitbild fundiertes Gesellschaftsmodell.72 Dabei gehört es zur Typik solcher kriseninduzierter Reorientierungsphasen, dass die öffentlichen Auseinandersetzungen um neue Regeln und Leitbilder in identitätsstiftenden Differenzsemantiken geführt werden und gleichsam auf das nationale Sonderfallverständnis abstellen. Je stärker solche Auseinandersetzung im Perzeptionsmodus einer Bedrohung geführt werden, desto rigider sind die Abgrenzungssemantiken zwischen dem Eigenen und dem Fremden / Anderen. Aber nicht jede Kommunikationsverdichtung hat ihren Ursprung in endogenen Krisen. Von kriseninduzierten Kommunikationsverdichtungen, wie sie für Umbruchperioden im sozialen Wandel typisch sind, lassen sich konfliktinduzierte Kommunikationsverdichtungen unterscheiden, wie sie während strukturzentrierter Wachstumsphasen immer wieder vorkommen. Zu diesem Typus zählen erstens externe Schocks bzw. überraschende Ereignisse wie der Mauerfall 1989 oder „9/11“, welche die Rahmenbedingungen oder die Leitbilder von Gesellschaften in nicht antizipierbarer Weise zur Disposition stellen können. Dazu zählen zweitens politische Entwicklungen im Ausland, die zunehmend als bedrohlich für die Sicherheit und die Freiheit von Land und Leuten, den Wohlstand 73 der Nation oder die vertrauten Lebensformen wahrgenommen werden. Drittens fallen unter diesen Typus konfliktinduzierter Kommunikationsverdichtungen unmittelbare ausländische Interventionen handels- und wirtschaftspolitischer, diplomatischer oder militärischer Natur.74 Viertens können Kommunikationsverdichtungen unterschieden werden, die aus innenpolitischen Fundamentalkonflik-
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Die Kristallisation eines neuen Leitbilds muss man sich vorstellen als Ergebnis eines „evolutionary learning“ von neuen Regeln, die nicht in alten Wissensbeständen begründet sind (Siegenthaler 1993, 2003). Obwohl sich dieser Lernprozess nicht ohne öffentliche Kommunikation entfalten kann, so darf man die Genese neuer Leitbilder nicht als das konsensuell erzielte Ergebnis einer in der Öffentlichkeit „diskursiv abgeschliffenen Mehrheitsmeinung“ (Habermas 1989) verstehen. Dazu ist die massenmediale Öffentlichkeitsarena aus Gründen ihrer Systemrationalität und Operationsweise schlicht nicht in der Lage. Gemäss Siegenthaler (1999, 2000) vollzieht sich fundamentales Lernen in medienfernen Hinterbühnen und zwar durchaus im Modus verstehens- und verständigungsorientierter Gespräche. Dabei werden neue Ideen und Überzeugungen ventiliert und durch Mobilisierung von Irrtum auf ihre Anschlussfähigkeit hin getestet. In den massenmedialen Vorderbühnen lässt sich dieses Lernen dann als Selektionsprozess von Versuch und Irrtum beobachten: Immer mehr Akteure beginnen die gleiche Sicht der Dinge einzunehmen und verhelfen dem neuen Deutungskonstrukt zu immer weiterer Anschlussfähigkeit, während alternative Ideen und Lösungsvorschläge allmählich verstummen und nicht weiter propagiert werden. 73 Beispielsweise haben die sukzessive Machtergreifung faschistischer und nationalsozialistischer Regimes in den 1930er-Jahren oder die kommunistische Gleichschaltung im Osten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz zu Kommunikationsverdichtungen geführt (Imhof 1993b, 1996e). 74 Eine für die Schweiz markante Auseinandersetzung dieses Typs war die konfliktreiche Debatte über die nachrichtenlosen Vermögen und das Raubgold Mitte der 1990er-Jahre (Maissen 2005).
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ten wie Bürgerkriegen oder bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen resultieren.75 Was letztlich für die kriseninduzierten wie für die strukturzentrierten Kommunikationsverdichtungen gleichermassen gilt: Sie formieren aktive Öffentlichkeiten, während derer in einer öffentlich installierten Konfliktarena der Handlungsspielraum normativ begrenzt wird. Abschliessend gilt es nun zu zeigen, dass die beschriebene Logik sozialen Wandels unter Bedingungen zunehmender Transnationalisierung bzw. Globalisierung gesellschaftlichen Handelns insgesamt vermehrt zu Problemkonstellationen führt, die vor nationalen Grenzen nicht Halt machen und mehrere Staaten in gleichartiger Weise gleichzeitig betreffen. Da sich die Europäische Union bereits über einen beträchtlichen acquis communautaire auszeichnet, verfügen länderübergreifende Problemkonstellationen über das Potenzial, dass sie als gemeinsam zu lösende Probleme auf die Agenda der Europäischen Union gelangen. Und weil solche Konstellationen prinzipiell krisen- und konfliktträchtig sind, führen sie zu transnationalen Kommunikationsverdichtungen. 3.3.2 Konfliktinduzierte transnationale Kommunikationsverdichtungen und Konstruktion kollektiver Identität Die Bedeutung nicht intendierter Folgen absichtsvollen Handels gilt als wesentlicher Treiber sozialen Wandels. Unter Bedingungen sich transnational oder global verflechtender Handlungssysteme steigt indes nicht nur die Reichweite von intendierten wie nichtintendierten Folgen kompatibler Handlungsvollzüge, es nehmen auch die Interferenzen zwischen den Folgen verschiedener Handlungssysteme zu und konfrontieren die einzelnen nationalstaatlichen Politiksys76 teme mit ähnlichen oder gleichen Problemen. Auf diese neuen Herausforderungen wird mit zwei entgegengesetzten Paradigmen geantwortet. Neorealismus und Neofunktionalismus sprechen von einer neuen Staatsräson bzw. einem Systemimperativ, an den sich die nationalen Politiksysteme im Rahmen eines Standortwettbewerbs anpassen müssen (Wolf 1999, Luhmann 1988). Politische Konstruktivisten und normative Theoretiker dagegen sichten Weltprobleme, die nicht 75
Dazu gilt es allerdings in Betracht zu ziehen, dass bürgerkriegsähnliche Zustände auch eine weitere Eskalationsstufe im Verlauf endogener Wirtschaftskrisen darstellen und dass sich folglich die beiden Typen kriseninduzierter und bürgerkriegsinduzierter Kommunikationsverdichtungen vermengen. 76 Das Bespiel der globalen Finanzkrise zeigt dies ganz eindrücklich: Eine ursprünglich in einem bestimmten Marktsegment (Subprime) in den USA ausgebrochene Krise hat sich über die internationale Verflechtung der Banken global ausgeweitet und unter vielem anderen zum Konkurs der isländischen Banken mit dem Risiko eines Staatsbankrotts und somit zu argentinischen Zuständen auf der Insel geführt.
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vor Landesgrenzen Halt machen und im Schosse multilateraler oder supranationaler Organisationen gemeinsam gelöst werden müssen (Habermas 1998; Schmalz-Bruns 1999). Insgesamt steigt in Folge der globalisierten Wachstumsund Interdependenzprozesse die Bedeutung internationaler Organisationen bzw. supranationaler Verhandlungsarenen wie UNO, WTO, IMF, G20, FSB und erst recht der EU als Adressaten für immer mehr gemeinsam zu lösende Probleme (Beck 1997; Kettner / Schneider 2000; Gusy 2000). Damit jedoch gemeinsam geteilte Probleme zu einer Problemlösung beispielsweise in Form internationaler Standards oder gar „internationaler Verrechtlichung“ (Wolf / Zürn 1993) führen, müssen sie zuerst institutionalisiert, also auf die Agenda einer internationalen oder supranationalen Organisation gesetzt werden. Nun scheint es naheliegend, dass sich die Europäische Union infolge ihres vorangeschrittenen Integrationsstadiums und der vorhandenen Expertise auf 77 zahlreichen Politikfeldern nicht nur als Problemgemeinschaft wahrnimmt, sondern auch als Problemlösungsgemeinschaft versteht. Ob und wie identifizierte Probleme institutionalisiert werden, ist wiederum eine empirische Frage. Der idealtypische Prozess von der Kristallisation bis zur gelingenden Implementierung von Lösungen gemeinsamer Probleme lässt sich rein formal in Anlehnung an die Policy-Forschung in unterschiedliche Phasen unterteilen, die Bezugsprobleme bzw. Policies78 als Kommunikationsgegenstände durchlaufen. Hierzu werden Phasen der Identifikation und Problematisierung eines Gegenstands, der Formulierung von Problemlösungen, der Verabschiedung einer Lösungsalternative, der Politikimplementierung sowie der Evaluation unterschieden (dazu Windhoff-Héritier 1987; Schubert 1991; Héritier 1993; Schmidt 1995. Dieses Phasenmodell wird für sich genommen als wenig erklärungskräftige Heuristik allerdings kritisiert. Viel mehr sind es „Advocacy-Koalitionen“, die den Verlauf von Politikgestaltungsprozessen bestimmen (Sabatier 1993). Institutionalisierung wie Problemlösung werden umso wahrscheinlicher, je eher Probleme von definitionsmächtigen Koalitionen bewirtschaftet werden, die aus unterschiedlichen Motiven ein gemeinsames Interesse an einer Lösung haben. Solche Koalitionen können sich entweder als Folge interner, manchmal langwieriger Lernprozesse ergeben, oder aber aufgrund externer Ereignisse wie Regierungs- und Parlamentswahlen oder unerwarteter Schocks wie Krisen, Katastrophen oder Gewaltereignisse.
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Wessels zählt für die EU im Jahr 2001 700 Sachverständigengruppen (Kommission), 300 Arbeitsgruppen und Ausschüsse (COREPER I & II) sowie 244 Komitologieausschüsse (Kommission). Als Policy werden im angelsächsischen Sprachgebrauch die konkreten Inhalte von Politik bezeichnet. Windhoff-Héritier definiert diese entsprechend als „politischer Entwurf, Plan oder Programm und Einzelentscheidungen zur Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse“ (1987, 18).
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Die Policy-Forschung hat sich bis vor Kurzem auf die am politischen Entscheidungsprozess direkt beteiligten Akteure beschränkt und Medien als aktive Akteure weitgehend ausgeblendet (Héritier-Windhoff 1993). In der Erweiterung des Advocacy-Koalition-Konzepts um Medienakteure wird diesem Mangel mit dem Element der „Diskurskoalition“ (Kriesi 2001, 10) Rechnung getragen.79 Die analytische Unterscheidung von „Advokativkoalition“ und „Diskurskoalition“ verweist somit auf unterschiedliche Typen von Öffentlichkeitsarenen: Verfahrensöffentlichkeit einerseits und Medienöffentlichkeit andererseits. Indem in solcher Weise das Konzept der Policy-Analyse kommunikationstheoretisch als Zusammenspiel medialisierter Konfliktarenen und publizitätsabgeschotteter Verhandlungsarenen modelliert wird, lässt sich sowohl der Zusammenhang zwischen politischem Entscheidungshandeln und öffentlicher Kommunikation wie auch die Frage untersuchen, ob und wie konfliktinduzierte Politikgestaltung in Europa zur Ausbildung eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins und einer Identifikation mit dem europäischen Polity beitragen oder nicht. Konfliktraum Konfliktform
EU-interne Konflikte
Konflikte mit Drittstaaten
Zivilisierte Konflikte
(A) Zweckgemeinschaft / Problemlösungsgemeinschaft
Fundamentalkonflikte
(C) Fragmentierung / Auflösung
(B) Wertrationale Zweckgemeinschaft (D) Wertintegrierte Solidargemeinschaft
Tabelle 5: Konflikttypologie und Muster europäischer Identitätsbildung Theoretisch lässt sich die Identitätsfrage im Rahmen einer Vierfeldertabelle diskutieren, die entlang einer Konfliktraum-Dimension zwischen EU-internen Konflikten und Konflikten mit Drittstaaten und entlang einer KonfliktformDimension zwischen zivilisierten und Fundamentalkonflikten unterscheidet. In der Raumdimension lassen sich dichotom Konflikte unterscheiden, die ausschliesslich die EU-Mitgliedstaaten betreffen, also EU-interne Konflikte, und solche, die die Europäische Union mit Drittstaaten führt, also DrittstaatenKonflikte. Diese Konflikte gelten ausserdem als zivilisierte Konflikte, wenn sie im Rahmen des Völkerrechts und innerhalb gemeinsam festgelegter Verfahren ausgetragen werden; sie sind als Fundamentalkonflikte zu bezeichnen, wenn
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Andere Autoren sprechen dabei von „Tendenzkoalitionen“ (Wessler 1999) oder „Disputkoalitionen“ (Adam 2006). Beide Begriffe meinen jedoch das Gleiche und schliessen Medien als Sprecher in Koalitionen mit ein.
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Erpressung, Betrug oder Gewalt Politik und Recht als Mittel der Konfliktaustragung ersetzt (vgl. Wessler 2002a). Zivilisierte EU-interne Konflikte bilden wohl mit grossem Abstand den häufigsten Konflikttyp. Dieser wird bestimmt sein von Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung europäischer Entscheidungsregeln80 und Fragen über gerechte Lastenverteilung unter den EU-Mitgliedstaaten.81 Aufgrund der Polarität solcher Streitfragen stehen sich bei solchen Konfliktkonstellationen Akteure gegenüber, die auf der einen Seite im Namen europäischer Interessen und Werte Druck ausüben und von der Gegenseite Handlungsbereitschaft einfordern. Auf der anderen Seite dürften die unter Druck stehenden Akteure ihre Positionen in nationalstaatlichen Perspektiven zu verteidigen versuchen. Dieser Konflikttypus scheint insgesamt wenig geeignet zu sein, oberhalb der nationalen Ebene kollektive europäische Identitäten auszubilden, die mehr sind als ein in gemeinsamen Zwecken gründendes Zusammengehörigkeitsbewusstsein. Da sich infolge der Intergouvernementalität der Europäischen Union alle Länder gelegentlich in der nationalen Defensive sehen, könnte bestenfalls in dem Mass, wie der EU die Vermeidung einer nachhaltig asymmetrischen Produktion von Verlierern und die Förderung der Einsicht in die supranationale Problemlösungskompetenz gelingt, eine zweckrational begründete Problemlösungsgemeinschaft konstruiert werden, mit der sich die Bürger Europas à la longe identifizieren können (Feld A). Ein Spezialfall zivilisierter EU-interner Konflikte sind Konflikte zwischen der EU und einem Mitglied über die inneren Angelegenheiten desjenigen EULandes. Dieser Konflikttypus, der in Gestalt der „Haider-Debatte“82 exemplarisch verdeutlicht wird, ist mit zivilisierten Drittstaaten-Konflikten vergleichbar (B). In solchen Fällen liegt eine Konfliktkonstellation vor, bei der die Konfliktakteure stärker europäische Werte aktualisieren. Während die Druck ausübende Koalition der EU, wie im Fall der „Haider-Debatte“ einen unterstellten europäischen Wertekanon bemüht, wird umgekehrt im unter Druck stehenden Konfliktland die EU negativ wahrgenommen und kritisiert sowie der Wert der nationalen Souveränität hochgehalten. Für den Fall, dass die Auseinandersetzung in der Perzeption einer Bedrohung für die europäischen Angelegenheiten geführt wird, besteht ein Potenzial zur Konstruktion einer wertrational begründeten Zweckund Handlungsgemeinschaft. 80
Dazu zählen etwa Debatten über die Konstitution von europäischen Gremien oder deren Reform, Debatten über die Stimmengewichtung in den Räten, über die Kompetenzverteilung der Gewalten, Debatten über Umfang und Grenzen der nationalen Kompetenzen etc. 81 Dies betrifft zum einen Debatten über die Zahlungen der Mitgliedstaaten an die EU (Budgetdebatten) sowie Debatten über die Verteilung und Verwendung der Gelder (Subventionsdebatten). 82 Mit der „Haider-Debatte“ ist die konfliktreiche Auseinandersetzung zwischen den 14 EU-Staaten und Österreich bezeichnet, nachdem die FPÖ unter dem Rechtspopulisten Jörg mit der ÖVP die Regierung gebildet hat.
Europäische Öffentlichkeit
99
Je stärker sich zivilisierte Konflikte zwischen der EU und Drittstaaten in Richtung Fundamentalkonflikte entwickeln, desto rigider werden wohl nicht nur die in der öffentlichen Kommunikation geäusserten Differenzsemantiken ausfallen, sondern ebenso wahrscheinlich könnte der innereuropäische Diskurs verstärkt in der Perspektive europäischer Gemeinschaftssemantik geführt werden, die zwischen unseren bedrohten europäischen Ressourcen und Werten sowie bösen Feinden unterscheidet (D). Eine Konfliktkonstellation, die solche Identitätskonstruktionen zulässt, setzt allerdings ein bereits vorhandenes zweckrational begründetes Zusammengehörigkeitsbewusstsein einer Problemlösungsgemeinschaft voraus. Der letzte Typus fundamentaler Konflikte innerhalb Europas bzw. zwischen den Mitgliedstaaten der EU (C) würde zu einer Fragmentierung in unterschiedliche Allianzen oder zu einem Zusammenbruch der Europäischen Union führen und fällt aus naheliegenden Gründen als Bedingung für eine Nationen verbindende europäische Identitätskonstruktion weg. 3.3.3 Konflikthypothese Die in diesem Kapitel in unterschiedlichen Kontexten entfaltete Konfliktargumentation lässt sich abschliessend als Konflikthypothese formulieren und der Integrationshypothese als Alternativhypothese gegenüberstellen. Die Konflikthypothese postuliert einen Zusammenhang zwischen Konfliktkonstellationen und öffentlicher Kommunikation in der Weise, dass Öffentlichkeit im Fall wahrgenommener Konflikte anspringt, wogegen bei Politikgestaltung im Modus der Routine Publizität ausfällt oder sehr klein ist. Dieser allgemeine Zusammenhang lässt sich weiter spezifizieren: Nicht jeder wahrgenommene Konflikt löst gleich viel Resonanz aus. Wie stark Konflikte medial ausgetragen werden, hängt letztlich davon ab, ob Konflikte als Bedrohung wahrgenommen werden oder nicht. Konfliktinduzierte Bedrohungsperzeptionen sind eine theoretische Erklärung für Kommunikationsverdichtungen. Damit verweist dieser Argumentationsstrang letztlich auf den phänomenologischen Hintergrund der eingeführten Theorie sozialen Wandels, der sich in den zeithistorischen Aufmerksamkeits- und Relevanzstrukturen beobachten und vermessen lässt. Gemäss diesem Ansatz sind Vorgänge gesamtgesellschaftlich von Relevanz, wenn sie die Aufmerksamkeit der Massenmedien gleichgerichtet zu steuern vermögen. Dies ist genau dann der Fall, wenn unerwartete oder als bedrohlich wahrgenommene Ereignisse und Vorgänge in den Aufmerksamkeitshorizont der Gesellschaft gelangen, die erst dann keine Aufmerksamkeit mehr beanspruchen, wenn das Unerwartete und Bedrohliche wieder eine Weltbearbeitung im Modus der Selbstverständlichkeit
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und Gewissheit zulassen (Schütz 1982). Man kann diesen Mechanismus als eine anthropologische Konstante bezeichnen.
4 Methodologie und Operationalisierung
Das empirische Fundament dieser Arbeit bilden inhaltsanalytisch gewonnene Daten83 der Debatte über die Einführung einer europäischen Zinsbesteuerung sowie der jährlich je zwanzig grössten Kommunikationsereignisse von vier (fünf) Deutschschweizer Leitmedien im Zeitraum 1945 bis 2006. Die erste Untersuchung ist diachron konzipiert und erlaubt die Bestimmung von Trends und Regularitäten mit Bezug auf eine etwaige „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“. Ausserdem gewinnt man mit dieser Längsschnittstudie eine Vergleichsbasis zu Zeitreihen-basierten Ergebnissen anderer Studien (Kap. 5). Indem die zweite Untersuchung der Berichterstattung britischer, deutscher, französischer und schweizerischer Medien synchron angelegt ist, ermöglicht sie die Beantwortung von Fragen, die auf einen Vergleich empirisch messbarer Europäisierungsmuster zwischen der Schweiz und den EU-Ländern ausgerichtet sind (Kap. 6). Dieses Kapitel beginnt mit der Einführung der Kommunikationsereignisanalytik als einem inhaltsanalytischen Verfahren, wie es dem Forschungsdesign zur Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit zugrunde liegt. Es wird gezeigt, wie aus dem Universum unterschiedlicher Kommunikationsereignisse europäische Kommunikationsereignisse gewonnen werden können und wie sich diese nach Politik- und Themenfelder spezifizieren lassen. Ausserdem wird das Untersuchungssample beschrieben und werden Überlegungen zu dessen Repräsentativität angestellt. Dies geschieht, indem die Berichterstattung der NZZ mit jener der FAZ für den jüngsten Zeitraum von 2005-07 verglichen wird (4.1). Es folgt die Darstellung einer modultechnischen Inhaltsanalyse, wie sie für die Erfassung der Debatte über die Einführung einer europäischen Zinsbesteuerung zur Anwendung gelangt ist (4.2). Das Kapitel endet mit der Besprechung der Operationalisierung der vier Dimensionen europäischer Kommunikation anhand eines Kranzes von 15 verschiedenen Indikatoren (4.3).
83
Im Anhang unter C1 finden sich weiter führende Überlegungen zur Leistungsfähigkeit und Grenzen inhaltsanalytischer Verfahren. Dieser Anhang kann unter OnlinePlus auf http://www.vsverlag.de runtergeladen werden.
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Methodologie und Operationalisierung
4.1 Forschungsdesign zur Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit 4.1.1 Kommunikationsereignisanalytik Öffentlichkeit ist unter normativen Gesichtspunkten eingeführt worden als Raum für kommunikative Auseinandersetzung über gemeinsame Angelegenheiten, wobei die im Medium öffentlicher Kommunikation erzeugte öffentliche Meinung Meinungs- und Willensbildung der Bürger ermöglichen soll. Aus einer kommunikationstheoretischen Sichtweise auf Gesellschaft wurde öffentliche Meinung im Anschluss an Luhmanns Begriff der „institutionalisierten Themenstruktur“84 (1971, 29) funktionalistisch definiert als zeithistorisch variables Spektrum öffentlich debattierter Probleme und darauf bezogener Problemlösungen. Dieses Spektrum kommt infolge der privilegierten Stellung, welche die Medienarena innerhalb der Sozialstruktur nationaler Kommunikationsräume für die Konstruktion sozialer Realität hat, vor allem in der massenmedialen Produktion von Kommunikationsereignissen zur Geltung. Kommunikationsereignisse sind deshalb auch als thematisch zentrierte Sinneinheiten der massenmedialen Berichterstattung bezeichnet worden (Imhof 1993a; Eisenegger 2003, 2005, 137ff.; Kamber 1995). In dieser phänomenologischen Perspektive sind sie nichts anderes als die publizistischen Leistungen von Journalisten, Korrespondenten oder Redakteuren, die in ihrer Rolle als Chronisten und Kommentatoren aus dem prinzipiell unendlichen Ereignisstrom der sozialen Wirklichkeit berichtenswerte Themen auswählen und auf eine Weise deuten und darstellen, dass ihre publizistischen Produkte vom Publikum wahrgenommen und benutzt werden. Operationalisierbar sind Kommunikationsereignisse als Berichterstattungsabfolgen zum gleichen Thema und als solche lassen sie sich entlang einer Sach-, Zeit-, Sozial- und Raumdimension unterscheiden (Eiseneg85 ger 2005, 137ff.):
84
Unter einem Thema versteht er, dabei in einer phänomenologischen Tradition stehend, „mehr oder weniger unbestimmte und entwicklungsfähige Sinnkomplexe, über die man reden und gleiche, aber auch verschiedene Meinungen haben kann. […] Sie ermöglichen ein gemeinsames Sichbeziehen auf identischen Sinn (und) liegen als Struktur jeder Kommunikation zugrunde“ (Luhmann 1971, 13). 85 Kommunikationsereignisse können letztlich auch auf der Basis von Medien gebildet werden, die nicht der nationalen Leitmedienarena, sondern spezifischen Teilarenen zuzuweisen sind. Beispielsweise können Kommunikationsereignisse einer Wirtschafts- und Finanzarena, einer Sportarena, einer linksalternativen Öffentlichkeit etc. erfasst werden. Selbst innerhalb des politischen Systems lassen sich anhand der parlamentarischen Bulletins die Kommunikationsereignisse der parlamentarischen Arena erfassen.
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86
87
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Sachdimension: Kommunikationsereignisse entzünden sich an Themen bzw. Gegenständen, die zum Ausdruck bringen, worum es jeweils geht und sind in der Regel durch eine Leitdifferenz geprägt, welche die am Diskurs beteiligten Akteure entlang dieser Leitdifferenz in zwei Lager respektive „Diskurskoalitionen“ (Kriesi 2001)86 trennt. Je nach Abstraktionsgrad beziehen sich diese Gegenstände auf singuläre Ereignisse, auf Ereignisketten oder Vorgänge, auf kontroverse Auseinandersetzungen oder auf abstrakte Bezugsprobleme. Zeitdimension: Zeitlich werden vergangene und künftige Ereignisse zu einer laufenden Geschichte verknüpft und erstrecken sich über einen mehr oder weniger lang dauernden Zeitraum. Singuläre Einzelereignisse, seien es symbolische, nur für Medien inszenierte Ereignisse wie Pressekonferenzen oder spektakuläre Protestaktionen und Ähnliches mehr oder seien es institutionelle Ereignisse wie Parlamentsdebatten, Verhandlungsrunden zwischen Regierungen, Gerichtsbeschlüsse oder ordentliche Parteitage und Generalversammlungen von Unternehmen usw. (Schmitt-Beck / Pfetsch 1994; Imhof / Eisenegger 1999), generieren jenen Kommunikationsereignisverlauf, wie ihn schon Luhmann in Form von Themenkarrieren87 vor Augen hatte und wie er auch von Downs (1972) im Rahmen seiner Theorie der „IssueAttention-Cycle“ beschrieben wurde. Umfangreichere und langlebige Kommunikationsereignisse sind ausserdem vielfach geprägt von Dramaturgien Ähnlich auch Wessler (1999), der den Begriff der „Tendenzkoalition“ dazu verwendet; oder auch Adam (2006), die von „Disputkoalitionen“ spricht. Viele Themen – obwohl Eingeweihten und Interessierten schon lange bekannt – bleiben latent, so Luhmann (1971, 17ff.), weil ihnen beispielsweise ein prominenter Absender fehlt, der allein kraft seiner Prominenz das öffentliche Interesse am Thema entzünden könnte, oder weil sie zu abstrakt, zu allgemein sind und sich nicht für eine konfliktive Stilisierung in den Medien eignen. Gelingt einem Thema jedoch der mediale Durchbruch, dann erfüllt es für die öffentliche Auseinandersetzung die Funktion einer strukturbildenden Komponente: „Nicht mehr das Thema selbst, nur noch die Meinungen und Entscheidungen über das Thema stehen zur Verfügung“ (ebd., 18). In diesem Stadium seiner „Lebensgeschichte“ hat sich das Thema „institutionalisiert“, es erreicht selbst einen Nachrichtenwert, da sich gerade politische Akteure eine Verneinung der ihnen unterstellten Kenntnisnahme ohne Glaubwürdigkeitsverlust nicht leisten können und öffentlich entsprechend eine Meinung dazu haben müssen, auch wenn diese nicht fundiert ist. Das Thema übernimmt damit die „Funktion eines Steuerungsmechanismus des politischen Systems, der zwar Herrschaftsausübung und Meinungsbildung nicht determiniert, aber die Grenzen des jeweils Möglichen festlegt“ (ebd., 20). Seinen Kulminationspunkt hat das Thema überschritten, wenn es die Aufmerksamkeit des politischen Systems als Problemadressaten erreicht hat und dort intern Anschlusskommunikation auslöst. Geschieht dort nichts mit dem Thema, wenden sich seine Kenner ab und es verliert seine werbende Kraft. Übrig bleiben möglicherweise die ursprünglichen Agenten, die sich – wenn sie das Thema weiterhin in der Öffentlichkeit problematisieren wollen – bald selbst unglaubwürdig machen. Hat das Thema sein Problem nicht gelöst, so Luhmann, muss es als neues Thema wieder entdeckt und neu bewirtschaftet werden. Ähnlich Hilgartner / Bosk 1988.
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Methodologie und Operationalisierung bestehend aus Kommunikationsverdichtungen und niederschwelligen Resonanzphasen. Sozialdimension: Kommunikationsereignisse beziehen sich auf ein bestimmtes Akteurfeld, das entlang der Leitdifferenz aufgespannt ist. Für die Dynamik und Dramaturgie sind antagonistische Diskurskoalitionen, die an einer aktiven Bewirtschaftung ein Interesse haben, ganz entscheidend. Anhand der Teilnehmerzahl erweist sich ein Akteurfeld von weit, wenn sich alle gesellschaftlichen Sprechergruppen beteiligen, bis eng – und ist womöglich auf zwei Konfliktparteien wie in einem juristischen Prozess beschränkt. Raumdimension: Kommunikationsereignisse beziehen sich schliesslich auf einen Geltungsbereich, der sich meist an einem geografischen Bezugsraum festmachen lässt, der in der Regel identisch ist mit dem Ort des Geschehens, dem Schauplatz der Auseinandersetzung. Dieser Raum kann sich entlang eines Kontinuums auf einen lokalen, nationalen oder transnationalen (z. B. europäischen, globalen) Geltungsbereich beziehen.
In der Kombinatorik dieser Dimensionen lassen sich drei Typen von Kommunikationsereignissen spezifizieren: Der empirisch häufigste Typ bilden kontroverse Kommunikationsereignisse. Sie definieren sich über strittige Kommunikationsgegenstände oder Leitdifferenzen, die von Akteurensembles mit unterschiedlichen Positionen, Lösungsvorschlägen und Meinungen bewirtschaftet werden. Der häufigste Untertypus bildet das Policy-Kommunikationsereignis, das eine politische Debatte zum Ausdruck bringt und mit der Agenda des politischen 88 Systems korrespondiert. Liegen kontroverse Kommunikationsereignisse hinsichtlich ihres Abstraktionsgrades in der Mitte eines Kontinuums, so besetzen episodische Kommunikationsereignisse als zweiter Typus den einen Pol. Charakteristisch für diesen Typ ist das Verhaftet-sein im Ereignisstrom. Die Karriere von episodischen Kommunikationsereignissen verläuft weitgehend parallel zur Karriere der beobachteten Vorgänge bzw. Ereignisse der beobachteten ‚äusseren Welt‘. Dabei zeichnen sich diese durch eine narrative, deskriptive und deutungsarme Berichterstattung aus.89 Am anderen Pol liegen reflexive Kommunikationsereignisse, die sich durch eine gewisse Ferne zur Aktualität und zum Ereignis88
Nebst den kontroversen politikbezogenen Kommunikationsereignissen gibt es kontroverse Kommunikationsereignisse mit Bezug auf die Teilsysteme der Wirtschaft (z. B. die Debatte über Managerlöhne), der Wissenschaft (z. B. die Debatte über die Ursachen des Klimawandels), der Religion (z. B. die Debatte über das Zölibat), der Kunst (z. B. die Debatte über den Schweizer Beitrag an der Weltausstellung in Sevilla 1992), des Sports (z. B. die Debatte über Massnahmen gegen Doping an der Tour de France) etc. 89 Z. B. Konjunkturverläufe, Unglücksfälle und Katastrophen, plötzlicher Tod eines Statusträgers, Sport- und Kulturanlässe.
Methodologie und Operationalisierung
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strom auszeichnen. Im Extremfall machen diese ideologische Ressourcen und Weltanschauungen zum Thema.90 In der Regel synthetisieren reflexive Kommunikationsereignisse jedoch verschiedene gleichgeartete Vorgänge und Vorkommnisse zu einer orientierungsstiftenden Zeitgeistperspektive.91 E p is o d is c h e s K o m m u n ik a tio n s E r e ig n is
K o n tr o v e r s e s K o m m u n ik a tio n s E r e ig n is
R e fle x iv e s K o m m u n ik a tio n s E r e ig n is
R e fle x io n
N a r r a tio n
S y n th e s e
E r e ig n is b e z o g e n h e it D e s k r ip tiv e B e ric h te r s ta ttu n g
P r o b le m b e z o g e n h e it D e u tu n g s r e ic h e B e r ic h te r s ta ttu n g
In K o m m u n ik a tio n s e r e ig n is s e n fo k u s s ie r te s W e ltg e s c h e h e n
S a c h d im e n s io n Z e itd im e n s io n
k o n k re t e p is o d is c h
S o z ia ld im e n s io n
eng
R a u m d im e n s io n
lo k a l
Abbildung 2:
Them a K a r r ie r e A k te u r s fe ld G e ltu n g s r a u m
a b s tr a k t la n g fr is tig w e it g lo b a l
Dimensionen und Typologie von Kommunikationsereignissen
Quelle: fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft, Universität Zürich
Diese Kommunikationsereignisanalytik wird mittlerweile am fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich seit rund zwanzig Jahren unter der Leitung von Kurt Imhof durch eine Dutzendschaft von Studentinnen und Studenten betrieben, die die massenmediale Berichterstattung in der beschriebenen Weise zu Kommunikationsereignissen verarbeitet und in der Datenbank MEDIATOOL speichert. Mit Ausnahme des Sportteils bzw. der ereignishaften Sportberichterstattung92 werden so Zeitungen sowie Nachrichtensendungen von Radio und Fernsehen täglich integral und nach einem induktiven Verfahren93 erhoben. Die gesichteten Beiträge werden zu Kommunikationsereignis90
Z. B. die Gefahr des Islamismus, Kommunismus nach dem „Ende der Geschichte“. Z. B. die Vertrauenskrise der Wirtschaft, Dopingproblematik, Globalisierungsdebatte. 92 Ausgeschlossen sind ebenfalls medienspezifische Sonderbünde wie „Auto“, „Vermögensverwaltung“, „Immobilien“ und dergleichen. 93 Jedes zu erfassende Medium (Zeitung, Nachrichtensendungen von TV und Radio) wird von einem Erfasser täglich gelesen und die Beiträge entsprechenden Kommunikationsereignissen zugeordnet. 91
106
Methodologie und Operationalisierung
sen gebündelt und am Ende eines Jahres wird für jedes Medium eine Kommunikationsereignishitliste erstellt. Für die zehn respektive zwanzig grössten Kommunikationsereignisse werden ausserdem medienspezifische Beschriebe erstellt, welche die erfassten Debatten nach bestimmten Deskriptoren wie Gegenstand der Auseinandersetzung, Verlauf der Debatte, Akteure, Personen und geografische Räume zusammenfassen. Ein solches Erhebungsverfahren sichert nicht nur die Rekonstruktion der Beobachtung der sozialen Wirklichkeit durch Journalisten und Medienschaffende; indem die umfangmässig grössten Kommunikationsereignisse erfasst werden, gewinnt die Forschung zudem einen inhaltsanalytischen Zugriff auf die zeithistorischen Aufmerksamkeits- und Relevanzstrukturen der Schweizer Öffentlichkeit (Imhof 1993a). Mittlerweile besteht die Datenbank aus einer seit 1910 durchgehenden Erhebung der jährlich zwanzig grössten Kommunikationsereignisse für ausgewählte politische Leitmedien.94 4.1.2 Europäische Kommunikationsereignisse Die nach diesem induktiv-hermeneutischen Verfahren gewonnenen Kommunikationsereignisse stellen eine Art Forschungsrohstoff dar, den es auf spezifische Fragestellungen hin zu rekategorisieren gilt. Zur Beantwortung stehen mit dieser Arbeit bekanntlich Fragen, ob und wie sich die Schweizer Berichterstattung europäisiert und auf welchen Politik- oder Themenfeldern eine solche Europäisierung allenfalls stattgefunden hat. Das erfordert zum einen eine Kategorisierung nach geografischen oder sozialräumlichen und zum anderen eine nach sachlichen Kriterien. Was die geografische Kategorisierung betrifft, ist zunächst eine Unterscheidung zwischen einer auf das Inland (Innenfokus) und einer auf das Ausland (Aussenfokus) bezogenen Berichterstattung getroffen worden. Gemessen an der Gesamtberichterstattung kann die Auslandberichterstattung zu- oder abnehmen. Nimmt sie zu, dann würde sich die Schweizer Öffentlichkeit transnationalisieren; nimmt sie umgekehrt ab, wäre dies ein Zeichen für eine Nationalisierung. Das Ausland betreffende Kommunikationsereignisse wurden entsprechend danach codiert, auf welches Land ein Kommunikationsereignis zentral fokussiert. Erstreckt sich dabei der Geltungsbereich über mehrere Länder, beispielsweise weil zwei Staaten miteinander im Krieg sind, dann wurde das KomJede Woche findet unter den Erfassern eine Intersubjektivierungssitzung statt, an der Abgrezungsproblematiken, Fragen zur Eröffnung neuer Kommunikationsereignisse usw. besprochen werden. 94 Bis 1920 sind es lediglich die zehn grössten. Für einzelne Jahrgänge sind zum Teil etwas weniger als die zwanzig grössten Kommunikationsereignisse codiert worden. Seit 1998 wurde das Sample zusätzlich auf weitere Medien ausgeweitet und ausserdem werden seither sämtliche Kommunikationsereignisse erfasst, die mindestens aus drei Beiträgen bestehen.
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munikationsereignis mit jenem Land codiert, in dem der Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung liegt. Erstreckt sich der Geltungsbereich womöglich über eine gesamte Region, beispielsweise über den Konfliktherd Naher Osten oder über Europa, dann wurde die entsprechende Region codiert. Bezieht sich ein Kommunikationsereignis auf den Geltungsbereich der Europäischen Union respektive auf deren Vorläuferorganisationen, dann wurde hier „EU“ vergeben.95 Die nach Ländern bzw. Regionen codierten Kommunikationsereignisse wurden weiter zu Subregionen und diese wiederum zu sieben Weltregionen aggregiert: Europa, Amerika, Afrika, Naher und Mittlerer Osten, Südasien sowie Ostasien / Pazifik.96 Mit Blick auf die Auslandberichterstattung zeigt sich somit, dass Europäisierung als Teilmenge der Transnationalisierung zu beschreiben sein wird. Alle Kommunikationsereignisse (KE) mit einem Innenfokus wurden mit „Schweiz“ codiert. Dabei galt es aber zu unterscheiden, ob sich der Geltungsbereich nur und allein auf die Schweiz bezog oder auch noch andere Länder mit einschloss. Bezieht sich der Geltungsbereich auf die Schweiz plus andere Länder, dann gilt die Inlandberichterstattung als transnationalisiert; bezieht er sich auf die Schweiz plus die Europäische Union, dann gilt er als europäisiert. Im Fadenkreuz dieser beiden Geografiedimensionen sind zehn unterschiedliche Typen europäischer Kommunikationsereignisse zu unterscheiden (Tabelle 6). Richtung der Weltbeobachtung Sozialraumbezug
Innenfokus
Aussenfokus 2.
Ein Land
Mehrere Länder
1.
KE betreffend CH mit Europathema*
4.
KE betreffend CH und EU* KE betreffend CH und mehrere europäische Länder ohne EUThema***
5.
KE betreffend europäisches Land mit Europa- / EU-Thema* 3. KE betreffend europäisches Land ohne Europa- / EU-Thema** 6. EU-interne KE* 7. KE betreffend EU und Mitgliedstaat(en)* 8. KE betreffend EU und Drittstaaten* 9. KE betreffend mehrere europäische Länder ohne EU-Thema*** 10. KE betreffend europäische Länder und aussereuropäische Länder***
Tabelle 6: Typologie europäischer Kommunikationsereignisse 95 96
Vgl. hierzu die ausführlichen Codierregeln im Codierbuch. In Ergänzung dazu habe ich noch eine Ausprägung Welt / Internationale Organisationen eingeführt. Diese Einteilung der Länder in Weltregionen erfolgt nach der Klassifizierung der Welttourismusorganisation WTO (http://www.tourism-watch.de/fix/23/regionen.pdf).
108 1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Methodologie und Operationalisierung KE betreffend CH mit Europathema: Diese Kommunikationsereignisse beziehen sich auf schweizerische Debatten über die Europapolitik der Schweiz. KE betreffend europäisches Land mit Europa- / EU-Thema: Diese Kommunikationsereignisse beziehen sich auf ein europäisches Land, in dem eine Debatte über ein Europathema geführt wird. Als aktuelle Beispiele: EUBeitrittsdebatte in Island oder die Abstimmung über den Reformvertrag von Lissabon in Irland. KE betreffend europäisches Land ohne Europa- / EU-Thema: Diese Kommunikationsereignisse betreffen die klassische Auslandberichterstattung über innere Angelegenheiten eines europäischen Landes wie Regierungsund Parlamentswahlen. KE betreffend CH und EU: Diese Kommunikationsereignisse beziehen sich auf gemeinsame Angelegenheiten zwischen der Schweiz und der EU. Zum Beispiel: EWR-Verhandlung, „Zinsbesteuerungsdebatte“. KE betreffend CH und mehrere europäische Länder ohne EU-Thema: Diese Kommunikationsereignisse beziehen sich auf europäische Angelegenheiten, die nicht unmittelbar Gegenstand der EU sind und an denen auch die Schweiz beteiligt ist. Zum Beispiel: European Song Contest, Fussballeuropameisterschaft in der Schweiz, Flucht und Verhaftung des Kurdenführers Öcalan. EU-interne KE: Diese Kommunikationsereignisse betreffend EU-interne Angelegenheiten mit Bezug auf die EU-Polity oder EU-Policies mit oder ohne Einschluss ihrer Mitgliedstaaten. Zum Beispiel: EU-Verhandlungen über Verfassungsvertrag, EU-Haushaltsdebatte, EU-Parlamentswahlen, Korruptionsaffäre EU-Kommission. KE betreffend EU und Mitgliedstaat(en): Darunter fallen Kommunikationsereignisse, welche Angelegenheiten zwischen der EU und einem Mitgliedstaat betreffen. Zum Beispiel: „Haider-Debatte“. KE betreffend EU und Drittstaaten: Wie unter Ziffer 4, ohne Einschluss der Schweiz. Zum Beispiel: Auseinandersetzung zwischen der EU und den USA über WTO-Bestimmungen. KE betreffend mehrere europäische Länder ohne EU-Thema: Wie unter Ziffer 5, ohne Einschluss der Schweiz. Zum Beispiel: BSE-Krise. Dieser Typ ist allerdings gegenüber dem unter Ziffer 6 benannten Typ kaum je trennscharf abzugrenzen, da europäische Themen früher oder später EUinterne Themen werden. Als Spezialfall dieses Typus ist auch die Berichterstattung über die Gründung der NATO codiert worden, da die NATO aus
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Sicht der Schweiz ganz klar in der Perspektive eines Schutzes Westeuropas thematisiert wurde. Dazu dann aber mehr bei der Darstellung der Ergebnisse in Kapitel 5. 10. KE betreffend europäische Länder und ein europäisches Land oder mehrere aussereuropäische Länder: Diese Kommunikationsereignisse betreffen Angelegenheiten zwischen mehreren europäischen Ländern und Akteuren oder Ländern ausserhalb Europas und ohne Einbezug der EU-Ebene. Zum Beispiel: „Streit über Mohammed-Karikaturen“. Auch dieser Typ ist nicht immer trennscharf, da solche Angelegenheiten auch die EU-Ebene betreffen können. Diese zehn Typen europäischer Kommunikationsereignisse bilden die Menge, anhand derer festgestellt wird, ob sich die Schweizer Öffentlichkeit europäisiert hat oder nicht. Legt man hierzu die von Koopmans / Erbe (2003) eingeführte Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Europäisierung zugrunde, dann betrifft die horizontale Europäisierung jene Teilmenge von Kommunikationsereignissen, die unter Ziffer 3 mit „**“ bezeichnet sind. Unter vertikale Europäisierung fällt die Teilmenge aller europäischer Kommunikationsereignisse („*“), welche die supranationale Ebene (6) direkt, das Verhältnis zwischen supranationaler und nationaler Ebene (4, 7 ,8) oder die nationale Ebene mit einem EU-Bezug (1, 2) betreffen. Durch dieses Raster fällt allerdings eine dritte Teilmenge europäischer Kommunikationsereignisse durch (5, 9, 10). Diese Gruppe („***“) betrifft europäische Kommunikationsereignisse ohne Einschluss der supranationalen Ebene der EU. Aber wie die Kategorie der Kommunikationsereignisse mit vertikaler Europäisierung ist auch diese Kategorie bestimmt durch die implizite Annahme, dass zwischen den beteiligten nationalen Kommunikationsräumen kommunikative Austauschprozesse stattfinden – ganz im Unterschied zur Kategorie der horizontalen Europäisierung. Soll man diese dritte Teilmenge als eigene Kategorie einführen oder sie der vertikalen Kategorie zuschlagen? Sofern sich die Kategorie der vertikalen Europäisierung explizit auf politische Prozesse der EU-Ebene beziehen, dann würde man besser von „Unionisierung“ sprechen. So könnte terminologisch zwischen „vertikaler Unionisierung“ und „vertikaler Europäisierung“ unterschieden werden. Allerdings ist der Begriff der „vertikalen Europäisierung“ semantisch bereits besetzt. Für die dritte Kategorie der europäischen Debatten könnte man deshalb auch den Begriff der transnationalen Europäisierung verwenden.
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4.1.3 Politik- und Themenfelder Die nach sozialräumlichen Kriterien erfassten Kommunikationsereignisse wurden im gleichen Codierungsprozess auch hinsichtlich ihres Politikfelds codiert. Damit verbindet sich die Frage, ob vergemeinschaftete Politikfelder mehr Resonanz erzeugen als Politikfelder, die in der Kompetenz der Nationalstaaten verblieben sind. Als Grundlage für diese Codierung wurde die Politikfeldeinteilung übernommen, wie sie von Eilders (2004) für Deutschland vorgenommen wurde; für die Beschreibung des politischen Systems der Schweiz musste sie aber leicht modifiziert werden. Da die Kommunikationsereignisanalytik auch die nicht-politische Berichterstattung erschliesst, galt es für diesen Teil der Berichterstattung passende Themenfelder zu klassifizieren. Auf diese Weise konnten insgesamt 249 Politik- und Themenfelder unterschieden werden, die zu 64 Politikfeld- und Themenaggregaten zusammengezogen und schliesslich zu 14 Aufmerksamkeitsbereichen verdichtet wurden. Dabei orientierte sich die Einteilung der Aufmerksamkeitsbereiche an die systemtheoretische Unterteilung der Gesellschaft in gesellschaftliche Teilsysteme (Luhmann 1986). Da auf diese Weise der Bereich der Politik zu gross und unterkomplex geblieben wäre, wurde dieser wieder in sechs Unterbereiche differenziert. Daraus resultiert schliesslich eine Einteilung der öffentlichen Aufmerksamkeitsstrukturen nach folgenden Bereichen, aufgezählt nach der Grösse ihres Berichterstattungsvolumens: Polity / Wahlen, Aussen- und Sicherheitspolitik, Wirtschaftsbereich, Bereich der Infrastruktur, Bereich der Gesellschaft, Innere Sicherheit / Justiz, Finanz- und Steuerpolitik, Soziales und Gesundheit, Ausländer, Religion, Wissenschaft, Medien, 97 Kultur / Unterhaltung, Sport. Sofern es sich um ein europäisches Kommunikationsereignis mit einem Aussenfokus handelt, wurde zudem dichotom unterschieden, ob auf den Bereich der EU-Polity (Institutionen), EU-Politics (Prozesse) oder auf EU-Policies (Politikfelder) fokussiert wurde. 4.1.4 Untersuchungssample und Repräsentativität Diese Untersuchung rekurriert in der beschriebenen Weise auf die umfangreiche Datenbank des fög und nimmt anhand der jeweils zwanzig grössten Kommunikationsereignisse pro Jahrgang und Zeitung eine Rekonstruktion der „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“ für den Zeitraum von 1945 bis 2006 vor. Insgesamt liegt der Auswertung somit eine Gesamteinheit von 5456 Kommuni-
97
Eine ausführliche Liste aller Politik- und Themenfelder findet sich im Codierbuch unter B1.5.
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kationsereignissen zugrunde.98 Da die einzelnen Jahrgänge zum Teil aus einer unterschiedlichen Anzahl erhobener Medien bestehen, werden die erfassten Kommunikationsereignisse in Prozentwerten ihrer Jahrgänge ausgewiesen. So belegt beispielsweise die „Mondlandung von Apollo“ im Jahr 1969 den sechsten Rang in der Hitliste dieses Jahres, wobei dieses Ereignis einen Anteil von 4.12% an der Berichterstattung der je zwanzig grössten Kommunikationsereignisse für die 1969 erhobenen fünf Zeitungen aufweist.99 Tabelle 7 gibt einen Überblick über die erfassten Medien.
Tabelle 7: Mediensample zur Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit Die Wahl für diese Medien orientiert sich an deren Repräsentativität als Leitmedien während der Ära der Parteipresse. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) galt als das wirtschaftsliberale Medium, das dem Schweizer Freisinn nahesteht. Die NZZ gilt auch heute noch als wirtschaftsliberal und als die Schweizer Qualitätszeitung schlechthin. Das Vaterland galt als das Leitmedium des politisch katholisch-konservativen Milieus der Schweiz. Dessen Nachfolgezeitungen, die Luzerner Zeitung und die Neue Luzerner Zeitung, haben diesen Anstrich weitgehend verloren und gelten als führende Regionalzeitungen der Innerschweiz. Die Berner Tagwacht galt als Leitmedium des sozialdemokratischen Milieus in der Schweiz. 1992 musste die Zeitung aus finanziellen Gründen eingestellt werden. Anstelle der Tagwacht wurden Der Bund und zwischenzeitlich die Berner Zeitung erhoben. Beides sind regionale Zeitungen, die aber, insbesondere Der Bund, stark auf das politische Geschehen in der Bundeshauptstadt Bern konzentriert sind. Der Tages-Anzeiger ist neben der Boulevardzeitung Blick die grösste überregionale Zeitung der Schweiz. Er war in der Ära der Parteipresse keinem politischen Milieu zuzuordnen. Erst im Verlauf der 1960er-Jahre wird eine sozialliberale redak98
Für die Jahrgänge 1998 bis 2006 wurde die Erhebung zudem ausgedehnt auf die hundert grössten Kommunikationsereignisse, was einer Anzahl von 3400 entspricht (vgl. dazu die Darstellung der Ergebnisse im Anhang unter Ziffer A1.4). 99 Für eine genauere Erläuterung der Berechnung dieses Wertes wird auf das Codierbuch zur Kommunikationsereignisanalytik im Anhang unter B1.6 verwiesen.
112
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tionelle Linie erkennbar. Der Blick schliesslich ist die einzige Boulevardzeitung der Deutschschweiz und zugleich grösste Tageszeitung100 der Schweiz. In seinen Anfangsjahren betrieb der Blick eher eine apolitische Berichterstattung, was sich an den vielen Sex&Crime-Kommunikationsereignissen zeigt. Im Verlauf der 1970er-Jahre wurde die Berichterstattung aber politischer, zuerst eher rechts, seit den 1990er-Jahren eher links.
0%
2%
4%
6%
8%
10%
12%
Top-20
12.0%
NZZ
Top-50
10.8%
Top-100 KE-Einbindung
7.1% 6.3%
FAZ
Top-20
12.9%
Top-50
10.5%
Top-100 KE-Einbindung
14%
9.1% 7.8%
%-Anteile der Europaberichterstattung an den Top-20, Top-50, Top-100 sowie KE-Einbindung, 2005 - 2007, KE mit vertikaler und transnationaler Europäisierung
Abbildung 3:
Europäisierte Berichterstattung der NZZ und FAZ im Vergleich
Lesehilfe: Die Balken repräsentieren den Anteil der Europaberichterstattung an der Gesamtberichterstattung der 20, 50 und 100 grössten Kommunikationsereignisse sowie an einem Gesamttotal, das alle Kommunikationsereignisse mit mindestens drei Artikeln enthält.
Ein Vergleich zwischen der NZZ und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) für die Jahre 2005-07 soll Auskunft über das Europäisierungsgefälle zwischen der Schweiz und Deutschland geben (Abbildung 3). Dabei ist zu vermerken, dass die NZZ infolge ihrer umfangreichen Auslandberichterstattung die Zeitung mit dem höchsten Europäisierungsgrad in der Schweiz ist, während die 100
Mit dem Aufkommen der Gratiszeitungen ist der Blick von 20 Minuten abgelöst worden (vgl. jährlich erscheinende WEMF-Zahlen).
Methodologie und Operationalisierung
113
FAZ, wie verschiedene Studien nahelegen (z. B. Trenz 2006) die am meisten europäisierte Zeitung Deutschlands ist. Abbildung 3 belegt, dass der Level der Europäisierung für beide Zeitungen – zumindest für das Zeitfenster 2005-07 – etwa gleich hoch ist. Gemessen an den zwanzig grössten Kommunikationsereignissen beträgt der Europäisierungsgrad in der NZZ 12 Prozent, während er in der FAZ knapp 13 Prozent beträgt. Er sinkt in beiden Zeitungen auf etwas mehr als 10 Prozent ab, wenn die grössten 50 Kommunikationsereignisse als Bewertungsbasis herangezogen werden. Der Europäisierungsgrad fällt dann am tiefsten aus, wenn alle Kommunikationsereignisse gezählt werden, die mindestens drei Beiträge enthalten.101 Der Europäisierungsgrad beträgt dann noch etwa 6 Prozent in der NZZ und knapp 8 Prozent in der FAZ. In diesen Vergleichen wird eine klare Tendenz erkennbar: Je grösser die Grundgesamtheit, desto tiefer der Level der Europäisierung. Das bedeutet, dass europäische Kommunikationsereignisse, die auf den ersten zwanzig Rängen figurieren, stärker ins Gewicht fallen als die vielen kleinen in einem grossen Sample. Aufmerksamkeitsphänomenologisch interpretierend ist daraus zu schliessen, dass Europa über konfliktinduzierte Auseinandersetzungen wahrgenommen wird, weil es in erster Linie die konfliktreichen Auseinandersetzungen sind, die auf den ersten zwanzig Rängen figurieren, während Politikgestaltung im Modus der Routine im Rauschen des Blätterwaldes geräusch-, kontur- und gestaltlos untergeht. Studien wie jene von Trenz (2006), die auf der Basis von Wortauszählungen einen hohen Europäisierungsgrad meinen ausweisen zu können, sind deshalb mit Vorsicht zu interpretieren. 4.2 Forschungsdesign zur „Zinsbesteuerungsdebatte“ 4.2.1 Modultechnische Inhaltsanalyse Modultechnische Verfahren der Inhaltsanalyse haben sich vor allem aus der Weiterentwicklung relativ einfacher inhaltsanalytischer Verfahren ergeben, die noch mit dem Artikel als Codiereinheit operiert haben. Obwohl ein Artikel immer von einem Journalisten geschrieben ist und es deshalb die Konstruktionsleistung dieses Journalisten ist, kann die soziale Wirklichkeit kommunikativer Handlungsvollzüge und Sprechakte nicht sinnadäquat erfasst werden, wenn die Inhaltsanalyse bloss auf die Ebene Artikel abstellen würde. Ein Journalist berichtet ja seinem Berufsverständnis entsprechend über Vorgänge, die zwar unterschiedlich beschrieben, interpretiert und kommentiert werden können, die sich 101
Für das Zeitfenster 2005-07 ergibt das für beide Zeitungen im Schnitt je rund 16‘000 zu Kommunikationsereignissen gebündelte Artikel pro Jahr. Dabei sind Agentur- und Kurzmeldungen nicht berücksichtigt.
114
Methodologie und Operationalisierung
aber trotz dieser Interpretationsleistung realiter in der sozialen Wirklichkeit ereignen, indem sich je nach Thema unterschiedliche Sprecher äussern und auf diese Weise in einen Diskurs treten. Ist man an diesem Diskurs interessiert, wird eine Erfassung medial vermittelter Sprecheräusserung unabdingbar. Modultechnisch basierte Inhaltsanalysen operieren deshalb mit verschiedenen Analyseebenen als Codiereinheit und mit verschiedenen Modulen, was die Erfassung komplexer Zusammenhänge erlaubt (Mathes 1988; Gerhards / Lindgens 1995). 4.2.2 Analyseeinheit „Artikel“ und „Sprecheräusserung“ Analyseeinheit Artikel VARIABLEN ZUR BEDROHUNGSPERZEPTION
FORMALE VARIABLEN
Analyseeinheit Sprecheräusserung WIR-BEZÜGE
SPRECHER
Sprecher
ÄUSSERUNGEN
Bezugs akteur
FRAME SUB-
FREMD-BEZÜGE
FRAMES
ALS ADRESSAT FÜR GELTUNGSANSPRÜCHE ALS ADRESSAT FÜR LOB UND KRITIK
NATIONALES WIR EUROPÄISCHES WIR
ALS REFERENZ FÜR EIGENE ÄUSSERUNGEN
IDEEELEMENTE
LÖSUNGSMODELL
AKTEUR/ LÄNDER-KRITIK
ALS OBJEKT VON TYPISIERUNGEN
ALLGEMEINES WIR
IN WESSEN NAMEN
Abbildung 4:
WER
WAS
ZU WEM
IN WELCHER WEISE
Analyseeinheiten der Codierung der „Zinsbesteuerungsdebatte“
Die Analyseeinheit Artikel besteht einerseits aus formalen Variablen wie Arena (CH, D, F, GB), Zeitung (vgl. Liste unter 4.2.3), Datum, Textsorte (Bericht, Kommentar / Leitartikel, Agentur- / Kurzmeldung, Interview, anderes), Autor (Redaktion, Agentur, Gast). Diese Variablen bilden das Modul der formalen Kategorien. Die Analyseeinheit Artikel weist andererseits ein Modul Bedro-
Methodologie und Operationalisierung
115
hungsperzeption mit entsprechen Variablen aus (Bedrohungsintensität, bedrohter Gegenstand).102 Von der Analyseeinheit Artikel werden Sprecheräusserungen unterschieden. Als Sprecheräusserung gilt, wenn ein Akteur als Sprecher in direkter oder indirekter Rede im Artikeltext zu Wort kommt. Äusserungen von Journalisten werden nur dann codiert, wenn sie sich nicht in ihrer Rolle als Chronisten sachverhaltbeschreibend äussern, sondern interpretierend, was immer heisst wertend, kommentierend oder handlungsauffordernd, in die Debatte eingreifen. Einzelne Sprecheräusserungen werden in normalen Berichteten dadurch abgegrenzt, indem sich ein neuer Akteur zu Wort meldet oder der gleiche Sprecher ein neues Argument vorbringt. Bei Kommentaren oder Interviews gilt die Einführung eines neuen Arguments als neue Sprecheräusserung. Zur Erfassung von Sprecheräusserung sind in der jüngsten Zeit zwei interessante und an der Empirie mehrfach getestete Verfahren entwickelt worden. Zum einen handelt es sich um einen Ansatz zur Erfassung des semantischen Gehalts, wie er von Gerhards / Lindgens (1995) entwickelt und an der Berichterstattung über den Abtreibungsdiskurs in Deutschland und den USA getestet wur103 de. Dieser Ansatz geht davon aus, dass öffentliche Debatten entlang von Leitdifferenzen oder Konfliktlinien geführt werden, die das am Diskurs beteiligte Akteurensemble in der Regel in zwei verschiedene Lager oder Diskurskoalitionen trennt. Da öffentliche Debatten normalerweise nicht als Selbstzweck inszeniert werden, sondern auf eine Veränderung realer Verhältnisse wie die Änderung oder Schaffung von Gesetzen und somit der Herbeiführung kollektiv bindender Entscheide abzielen, sind gerade Policy-Kommunikationsereignisse mit einem Angebot unterschiedlicher, durch die Konfliktlinie getrennter Regelungsmodelle konfrontiert. In ihren öffentlichen Statements können sich Sprecher somit in Form von Ja- / Nein-Stellungnahmen äussern und sich für oder gegen ein Regelungsmodell (Lösungsmodell) aussprechen. Zusätzlich zur Positionierung der Akteure gegenüber Regelungsmodellen organisiert die Konfliktline auch die semantische Struktur öffentlicher Debatten. Akteure äussern sich innerhalb konkreter Frames (Deutungsrahmen), wobei solche Frames auf beiden Seiten der Konfliktlinie bespielt werden können. Für die Erfassung des semantischen Gehalts von Aussagen hat dies eine Zweiteilung in Ideen-Elemente, die auf beiden Seiten einer Konfliktlinie verschieden sind sowie höherstufige, auf beiden Seiten der Konfliktlinie identische Frames zur 102
Im Anhang unter B2 findet sich das Codierbuch mit allen Variablen und Codierregeln. Auf eine detaillierte Besprechung der einzelnen Variablen wird deshalb an dieser Stelle verzichtet. Auf der Ebene Artikel wurden ausserdem noch Variablen zum Anlass der Berichterstattung erhoben, die in der Auswertung und Besprechung der Ergebnisse aber keine Berücksichtigung fanden. 103 Auf diese Weise hat auch Wessler (1999) den Drogendiskurs in Deutschland erfasst.
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Methodologie und Operationalisierung
Folge. Schliesslich äussern sich Sprecher in ihren öffentlichen Stellungnahmen auch über Dritte (Objektakteure), machen Vorwürfe, kritisieren oder loben auch ab und zu. Zum anderen existiert mit der Claim-Analyse eine von Koopmans / Statham (1999)104 entwickelte Methode, die bei Sprecheräusserungen über Objektakteure ansetzt, darüber jedoch hinausgeht. Im Kern dieses Ansatzes steht die Überlegung, dass sich Sprecher nicht nur über die Welt (Dinge, Personen) äussern, sondern dass sie in ihren Sprechakten Forderungen an Dritte adressieren und dass sie diese Forderungen im Namen eines inkludierenden sozialen Kollektivs erheben können, mit dem sie sich identifizieren. Die Claim-Analyse erlaubt auf diese Weise die Erfassung der sozialen Beziehungsstruktur öffentlicher Diskurse. In dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, beide Ansätze zu integrieren, was in Abbildung 4 veranschaulicht wird. Die Analyseeinheit Sprecheräusserung umfasst fünf Codiermodule, die sich durch verschiedene Frageperspektiven charakterisieren und durch folgende Fragestellung zusammenfassen lassen: Wer sagt was (wie) zu wem in welcher Weise und in wessen Namen?
104
WER (Modul Sprecher): Der Sprecher einer Äusserung ist eine namentlich genannte Person, die entweder als Sprecher einer Organisation auftritt, die sie vertritt, oder die für sich als Einzelpersonen spricht. Als Urheber einer 105 Sprecheräusserung kann indes auch ein kollektiver Akteur zeichnen. In späteren Schritten galt es dann, den Sprecher nach weiteren Merkmalen zu codieren (Herkunft, Sprechertyp, EU-Status). WAS (Modul Aussage): Gemäss der oben eingeführten Unterscheidung kann sich ein Sprecher äussern zu einem Regelungsmodell (Lösungsmodell), über einen Akteur oder ein Land, oder er äussert sich problematisierend und interpretierend. Dazu wurden 348 Ideen-Elemente erfasst, die 61 Subframes zugeordnet werden – wobei gewisse Ideen-Elemente unter verschiedenen Subframes geäussert werden können. Diese Subframes wurden schliesslich zu neun Oberframes zusammengezogen: Steuerwettbewerb, Steuerhinterziehung, Staat-Bürger, Souveränität, Volkswirtschaft, Finanzkriminalität, europäischer Integrationsprozess, Praktikabilität und Verhandlungstaktik.106 ZU WEM (Modul Fremdbezug): Sprecher können ihre Aussagen an Dritte adressieren oder sich über sie äussern. Als Dritte gelten Personen, Organisa-
Vgl. dazu vor allem die Operationalisierung des Projekts europub (Koopmans 2004b). Äusserungen wie „Wie aus bankennahen Kreisen zu vernehmen war“ können nicht einem Sprecher zugewiesen werden und werden nicht codiert. 106 Auf eine Erläuterung der Frames wird an dieser Stelle verzichtet. Sie erfolgt im Zusammenhang mit der Darstellung der Ergebnisse unter 6.1.3. 105
Methodologie und Operationalisierung
117
tionen und darüber hinaus Länder oder Hauptstädte, die vielfach auch als Metonyme für die Regierung verwendet werden. Für diese Drittobjekte wurde ausserdem deren Bewertung codiert. Zu einem späteren Zeitpunkt sind auch solche „Bezugsakteure“ in gleicher Weise wie die Sprecher nach verschiedenen Merkmalen codiert worden (Herkunft, Sprechtyp, EUStatus). AUF WELCHE WEISE (Modul Bezugsmodus): Sprecher können sich über Drittakteure grundsätzlich auf vier verschiedene Weisen äussern. Ein Sprecher bezieht sich auf einen Drittakteur, indem er diesen erstens in der Rolle einer Referenz für die eigene Argumentation (Referenzierung), zweitens in der Rolle eines Adressaten von Geltungsansprüchen (Anspruchsadressierung), drittens in der Rolle eines Bewertungsobjekts, somit kritisierend oder lobend (Kritikadressierung), und viertens in der Rolle eines Interaktionspartners anspricht. Eine Bewertung kann zudem in typisierender Weise erfolgen.107 IN WESSEN NAMEN (Modul WIR-Bezug). Sprecher stellen in der Regel Forderungen auf oder äussern Kritik im Namen derjenigen Organisation, der sie angehören. Indem sie solche Aussagen in einer WIR- oder UNSERForm zum Ausdruck bringen, konstruieren sie kollektive Identitäten und ziehen soziale Grenzen. Für Prozesse nationaler oder europäischer Identitätsbildung von Bedeutung sind jedoch WIR-Bezüge, die auf die eigene Nation respektive auf Europa als gemeinsamen Herkunftsbezug verweisen.
Das komplexe Forschungsdesign stellt den Codierer vor eine erhebliche Herausforderung im Codierprozess. Dabei gilt es, sich an einen exakten Ablauf zu halten. In einem ersten Schritt muss der Codierer eine Sprecheräusserung identifizieren. Sodann muss er sich überlegen, in welchem Frame die Äusserung gemacht wird und welches Ideen-Element zu vergeben ist. Dabei gilt es weiter zu entscheiden, ob ebenfalls ein Lösungsmodell mit artikuliert ist oder nicht. In einem nächsten Schritt ist zu fragen, ob die gemachte Äusserungen an Dritte adressiert ist, und wenn ja, in welchem Modus. Bezieht sich die Äusserung in Form einer Bewertung auf ein Land, gilt es darüber hinaus zu fragen, ob die 107
Ein Beispiel für eine Referenzierung: „Mit Bundesrat Villiger bin ich der Meinung, dass…“; ein Beispiel für eine Anspruchsadressierung: „Der Bundesrat muss in den Verhandlungen pickelhart bleiben“; ein Beispiel für eine Kritikadressierung: „Hut ab vor den Briten! Sie haben in schwieriger Lage gut verhandelt“; ein Beispiel für einen Bezug auf eine Drittakteur in der Rolle eines Interaktionsobjekts: „Die Verhandlungen mit der Schweiz laufen schlecht“. Dieser letzte Modus der Interaktionsobjekte wurde nicht codiert. Typisierungen wurden nur vergeben, wenn auf ein Land als Bewertungsobjekt Bezug genommen wurde. Weitere führende Erläuterungen finden sich im Codierbuch unter B2.4.
118
Methodologie und Operationalisierung
Bewertung in typisierender Weise vorgenommen wurde und falls ja, nach welchen Typisierungen. Im letzten Schritt muss der Codierer sich fragen, in wessen Namen eine Äusserung gemacht wird, und falls ein WIR-Bezug vorliegt, gilt es zu entscheiden, ob er sich auf die eigene Organisation bezieht oder auf ein anderes WIR und wenn ja, auf welches. Ich habe diese Codierung zusammen mit fünf Studierenden entwickelt und für die Analyse der Berichterstattung der Schweizer Medien durchgeführt. Die grössten Probleme bekundeten wir bei der Vergabe der Ideen-Elemente. Da viele Ideen-Elemente ähnlich und somit nicht genügend trennscharf waren, wurden zu einem späteren Zeitpunkt ähnlich lautende Ideen-Elemente zusammengezogen und vereinheitlicht. Die britischen, deutschen und französischen Medien habe ich zusammen mit einem Studenten der ersten Runde codiert, der unter einem anderen Gesichtspunkt eine Arbeit über die „Zinsbesteuerungsdebatte“ geschrieben hat (Gisler 2009). Der Intersubjektivierungsbedarf blieb aber auch so noch gross genug. Die häufigen Testcodierungen auch während des Codierprozesses haben aber insgesamt eine recht grosse Übereinstimmung hinsichtlich aller Variablen ergeben, so dass auch ohne Reliabilitätstest von einer genügend hohen Reliabilität der Daten ausgegangen werden darf. 4.2.3 Gegenstand der „Zinsbesteuerungsdebatte“ und Untersuchungssample Mit der „Zinsbesteuerungsdebatte“ wird vereinfacht gesagt die Frage berührt, ob und wie Zinserträge auf Obligationen für Privatpersonen besteuert werden sollen, die nicht in ihren Domizilstaaten, sondern in Drittstaaten ausbezahlt werden 108 (vgl. Pigozzo 2006). Da viele Staaten vor der Einführung keine Steuern auf Zinserträge von Obligationen ausländischer Schuldner erhoben hatten, bestand ein erheblicher Anreiz, im Ausland in steuerbefreite Bonds und Obligationen anzulegen. Viele Staaten gewährten ausländischen Anlegern zudem nahezu Nullsteuersätze auf inländische Quellen, was einen weiteren Anreiz darstellt, sein Vermögen im Ausland anzulegen. Damit entgeht vor allem denjenigen Staaten, welche einen vergleichsweise hohen Steuersatz erheben, zum Teil viel Steuersubstrat. Dieses Problem verschärft sich noch zusätzlich durch die Existenz von Bankgeheimnissen, die ausländische Steuerhinterzieher schützen, weil im Fall der grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung keine Amtshilfe gewährt wird. Da Fiskalangelegenheiten in der Kompetenz der Nationalstaaten liegen, kann die Europäische Union dieses Problem nur lösen, wenn alle Staaten einer entsprechenden Richtlinie zustimmen. 108
Zusätzliche Informationen finden sich im Anhang unter B2.6.
Methodologie und Operationalisierung
119
Beim vorliegenden Issue war es vor allem Grossbritannien (und Luxemburg), das sich aus konkurrenzpolitischen Gründen gegen den Vorschlag eines Koexistenzmodells ausgesprochen hatte. Gemäss diesem Modell hatten die Länder die Wahl zwischen der Einführung einer einheitlichen Besteuerung (Reglungsmodell einer harmonisierten Quellensteuer) oder einem automatischen Austausch von Bankinformationen (Abschaffung Bankgeheimnis). Grossbritannien hat sich gegen jegliche Form einer Steuerharmonisierung ausgesprochen, weil dies in britischen Augen zu einer Abwanderung des in London domizilierten Eurobondmarkts geführt hätte. Stattdessen plädierte Grossbritannien für die Einführung eines automatischen Informationsaustauschs für alle Mitgliedstaaten, weil dies jedem Staat die Möglichkeit zur Besteuerung nach seinen eigenen Gesetzen geben würde. Dieser Vorschlag wurde indes von Luxemburg abgelehnt, weil dies zur Aufgabe des Bankgeheimnisses führen und den in Luxemburg domizilierten Markt für Fonds gefährden würde. Aber auch andere Länder wie Österreich und Belgien waren aus Gründen des Bankgeheimnisses gegen den automatischen Informationsaustausch und zeigten sich, wie übrigens Luxemburg auch, überhaupt nur konzessionsbereit, wenn andere Mitgliedstaaten wie etwa Irland, die Niederlande oder auch Deutschland auf Steuerprivilegien im Bereich der Unternehmensbesteuerung verzichten würden. Neben diesem EU-internen Amalgam widerstrebender Interessen stand einer Lösung noch die Gefahr im Weg, dass eine Regelung ohne Einbezug von Drittstaaten mit wichtigen Finanzplätzen zu einem Abfluss der verwalteten Vermögen aus der EU führen könnte. Insbesondere die Schweiz, aber auch weitere Drittstaaten wie Monaco und Liechtenstein sowie die abhängigen und assoziierten Gebiete der EU-Mitgliedstaaten wie die Kanalinseln und andere als Steueroasen bekannte Jurisdiktionen, sollten zur Implementierung einer europäischen Zinsbesteuerung bewegt werden. Damit sahen sich die treibenden Kräfte in dieser Angelegenheit – allen voran Deutschland und Frankreich, aber auch Italien und die skandinavischen Län109 der sowie die Europäische Kommission – praktisch einer unlösbaren Situation oder zumindest einem Verhandlungsprozess mit beträchtlichem Konfliktpotenzial gegenüber. Und in der Tat führte dieses Issue nicht nur zu heftigen Konflikten auf den diplomatischen Hinterbühnen, sondern ebenso zu Eruptionen der öffentlichen Kommunikation: zunächst unter den EU-Mitgliedstaaten und dann mit Drittstaaten, vor allem der Schweiz. Es handelt sich somit um ein europäisches Kommunikationsereignis, dessen Verlauf sich im Wesentlichen in zwei Phasen
109
Die Motive für eine europäische Lösung sind bei den genannten Ländern in erster Linie fiskalpolitischer Art, gelten sie doch als die Hochsteuerländer Europas. Dagegen argumentiert die Europäische Kommission für eine europäische Steuerharmonisierung aus Gründen eines reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts.
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Methodologie und Operationalisierung
unterteilen lässt: in eine EU-interne Verhandlungsphase und eine Verhandlungsphase der EU mit Drittstaaten, insbesondere der Schweiz.
Deutschland
Frankreich
Grossbritannien
Schweiz
Gesamt
Berliner Zeitung Börsen-Zeitung FAZ Der Spiegel Stuttgarter Zeitung Süddeutsche Zeitung taz total La Libération La Tribune Le Figaro Le Monde Les Echos total Daily Mail Daily Telegraph Economist Financial Times Guardian Independent Independent on Sunday Mail on Sunday Sunday Telegraph Sunday Times Times total Blick Cash Der Bund Finanz und Wirtschaft Le Temps Neue Zürcher Zeitung SonntagsBlick SonntagsZeitung Tages-Anzeiger total
Artikel (Anteil in %)
Idee-Elemente (Anteil in %)
73 (9) 167 (20) 267 (32) 27 (3) 78 (9) 164 (20) 54 (7) 830 28 (4) 180 (28) 135 (21) 103 (16) 186 (29) 632 79 (7) 171 (15) 26 (2) 414 (37) 72 (7) 108 (10) 24 (2) 24 (2) 41 (4) 26 (2) 149 (13) 1134 62 (4) 89 (6) 212 (14) 158 (11) 365 (25) 304 (21) 19 (1) 21 (1) 239 (16) 1469 4065
171 (12) 268 (18) 441 (30) 62 (4) 180 (12) 270 (18) 87 (6) 1479 69 (8) 244 (28) 206 (24) 155 (18) 201 (23) 875 225 (9) 403 (17) 72 (3) 671 (28) 201 (8) 250 (10) 73 (3) 55 (2) 80 (3) 44 (2) 365 (15) 2439 60 (3) 89 (4) 308 (15) 178 (8) 494 (24) 532 (25) 41 (2) 49 (2) 349 (17) 2100 6893
Tabelle 8: Mediensample zur „Zinsbesteuerungsdebatte“
Methodologie und Operationalisierung
121
Dieser kursorische Beschrieb der Konfliktkonstellation verdeutlicht, dass die wesentlichen Protagonisten dieser Auseinandersetzung in Deutschland und Frankreich einerseits und Grossbritannien, Luxemburg und der Schweiz andererseits liegen. Aus Gründen der Verfügbarkeit konnte auf luxemburgische Medien nicht zugegriffen werden. Das Sample beschränkt sich somit auf die anderen vier nationalen Öffentlichkeiten. Die Zusammensetzung der nationalen Samples war geleitet von der Absicht, neben Qualitätszeitungen auch die Finanzpresse und Boulevardzeitungen zu berücksichtigen. In den grossen Mediendatenbanken Factiva und Lexis-Nexis sind Boulevardmedien mit Ausnahme der britischen aber nicht digital verfügbar. Die einzelnen Mediensamples sind deshalb etwas unterschiedlich zusammengestellt, was einen länderübergreifenden Vergleich zwischen Mediengenres leider verhindert. Tabelle 8 bietet einen Überblick über die nationalen Samples. Die Artikel zur „Zinsbesteuerungsdebatte“ wurden nach einem fünfstufigen Verfahren gezogen. In einem ersten Schritt wurde das Kommunikationsereignis, das für gewisse Schweizer Medien bereits in der Datenbank MEDIATOOL des fög vorlag, hinsichtlich der relevanten Schlagworte durchgelesen. In einem zweiten Schritt wurde nach diesen Begriffen in den ausgewählten Zeitungen in den Mediendatenbanken von factiva und lexis-nexis gesucht. In einem dritten Schritt wird ein Teil der Artikel gelesen und nach weiteren möglichen Schlagworten abgesucht, da die Debatte in den einzelnen Ländern zum Teil begrifflich etwas anders abgesteckt war. Im vierten Schritt wurde gemäss der erweiterten Liste von Suchbegriffen nochmals in den elektronischen Mediendatenbanken Artikel gezogen. Am Schluss wurden alle Artikel gelesen und diejenigen, die zentral die Zinsbesteuerung110 betrafen, wurden schliesslich ausgewählt und codiert. 4.3 Operationalisierung der Dimensionen europäischer Kommunikation Abschliessend werden die im theoretischen Kapitel vorgestellten vier Dimensionen europäischer Kommunikation entlang von Indikatoren operationalisiert. In Tabelle 9 sind Dimensionen und Subdimensionen mit den entsprechenden Indikatoren zusammengefasst.
110
Zu Beginn der Debatte war das thematische Feld etwas weiter abgesteckt und umfasste ein dreiteiliges Steuerpaket der Europäischen Union, das eine Steuerharmonisierung auf verschiedenen Feldern vorgesehen hat, worunter die Einführung einer Quellensteuer für Zinserträge ein Teil des Pakets war. Im Verlauf der Zeit verengte sich die Debatte auf die Zinsbesteuerung. Artikel zu einer Steuerharmonisierung, welche nicht das Steuerpaket betrafen, wurden nicht erhoben.
122
Methodologie und Operationalisierung
Dimension EUPolitikbeobachtung
Diskurskonvergenz
Zins
CH
Beobachtung EU-Polity
Subdimension
KE zu EU-Akteuren, EUPolity, EU-Politics
(n)
(j)
Beobachtung EUPolicies
KE zu EU-Policies, europäischen Angelegenheiten
(n)
(j)
Politikphasenbezug Issue-Aufmerksamkeit
Politikphasenresonanz Synchronität der Berichterstattung
(j) (j)
(n) (n)
Sprecherensembles
Sprechertypen Diskurskoalitionen
(j) (j)
(n) (n)
Semantik
Frames Begründungen Auslandberichterstattung über andere Länder
(j) (j) (n)
(n) (n) (j)
Transnationalisierung Inlandberichterstattung
(n)
(j)
Resonanz ausländischer Sprecher
(j)
(n)
(j) (j) (j)
(n) (n) (n)
Identitätssemantik
Adressierungen Referenzierungen Thematisierung bedrohter Ressourcen
Fremdsemantik
WIR-Bezüge
(j)
(n)
Typisierungen
(j)
(n)
Beobachtung europäischer Länder
Kommunikativer Austausch
Interdiskursivität
Bedrohungsperzeption
Kollektive Identität
Indikator
Tabelle 9: Indikatoren europäischer Kommunikation Die Spalten Zins und CH geben an, ob die Indikatoren bei der Analyse über die „Zinsbesteuerungsdebatte“ respektive über die „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“ zur Anwendung gelangt sind. Konkretere Ausführungen finden sich zum Teil im Zusammenhang mit der Besprechung der empirischen Ergebnisse. 4.3.1 Indikatoren zur EU-Politikbeobachtung Diese Dimension verweist auf die Frage, ob die mediale Aufmerksamkeit für EU-Angelegenheiten im Verlauf der Zeit zunimmt oder nicht.
Beobachtung EU-Polity / EU-Policies: Europäisierung der Öffentlichkeit ist zu messen als Anteil der Berichterstattung über europäische Angelegenheiten an einer Grundgesamteinheit. Der Europäisierungsgrad bezieht sich ei-
Methodologie und Operationalisierung
123
nerseits auf die vertikale Europäisierung und betrifft somit die unmittelbaren EU-Angelegenheiten, also die EU-Institutionen und die EU-Politik; sie kann sich andererseits aber auch auf das beziehen, was als transnationale Europäisierung eingeführt worden ist. Diese beiden Subdimensionen lassen sich über die in Kapitel 4.1.2 vorgestellten Typen europäischer Kommunikationsereignisse operationalisieren. Politikphasenbezug: Mit dem Politikphasenbezug verbindet sich die Vorstellung, dass EU-Politik nicht erst bei ihrer Verkündigung Resonanz erzeugen sollte. Die Karriere von Policies kann entlang des in der Policy-Analyse üblichen Stadienmodells beschrieben und mit einer Politikphasenresonanz in Beziehung gesetzt werden.
4.3.2 Indikatoren zur Diskurskonvergenz Diskurskonvergenz bezieht sich auf die Frage, ob sich die nationalen Aufmerksamkeitsstrukturen, Diskurskoalitionen und Semantiken im Verlauf der Zeit angleichen oder nicht bzw. ob zu einem beliebigen Zeitpunkt bereits eine Übereinstimmung vorhanden ist. Konvergenzen lassen sich mittels Variationsanalysen messen, indem die Streuungen (Variationen) unterschiedlicher Populationen im Mass des Variationskoeffizienten verglichen werden. Variationskoeffizienten drücken den Grad der Variation respektive Konvergenz aus: Je grösser die Varia111 tion, desto kleiner die Konvergenz und umgekehrt.
111
Konvergenz nationaler Issue-Aufmerksamkeit: Konvergenz der IssueAufmerksamkeit bedeutet eine übereinstimmende Problemwahrnehmung und verweist auf eine zeitgleiche Thematisierung des Gleichen in mehreren Medienarenen. Dies lässt sich anhand der Synchronität der nationalen Berichterstattung messen. Weil in der Regel die Mediensamples mit einer unterschiedlichen Anzahl Medien bestückt sind, gilt es die einzelnen Medienarenen zu gewichten. Eine Möglichkeit, wie sie für die Analyse der „Zinsbesteuerungsdebatte“ angewendet wird, besteht in der Gewichtung nach Anzahl Publikationstagen für eine Berichterstattungswoche.112
Der Variationskoeffizient (VK) ist definiert durch die Standardabweichung der Elemente einer Population dividiert durch den Mittelwert dieser Elemente. Die Elemente zweier Populationen sind identisch verteilt, wenn der VK null beträgt. Werte über 1 zeigen keine Übereinstimmung zwischen den Elementen der unterschiedlichen Populationen mehr an. 112 Die neun Schweizer Medien erreichen zusammen 35 Publikationstage, wogegen die britischen 41, die deutschen 37 und die französischen 28 Publikationstage erzielen. Gemessen am Schweizer Sample ist das britische und das deutsche übervertreten, wogegen das französische Sample unter-
124
Methodologie und Operationalisierung Konvergenz nationaler Sprecherensembles: Um feststellen zu können, ob sich die nationalen Sprecherensembles in Europa angleichen, werden die Zusammensetzung und die relative Stärke der Sprecherensembles anhand der Indikatoren Sprechertypen und Diskurskoalitionen gemessen. Nationale Sprecherensembles sind ähnlich zusammengesetzt, wenn sie zu ähnlichen Teilen aus den verschiedenen Sprechertypen (Journalisten, Regierungsakteure, Parteien, Experten usw.) bestehen. Entlang der Konfliktlinie können sich die Sprechertypen aufteilen in verschiedene Diskurskoalitionen. Nationale Sprecherensembles sind konvergent, wenn sich die durch eine Konfliktlinie geteilten nationalen Diskurskoalitionen ähnlich sind und somit kaum variieren. Konvergenz der Semantik: Um festzustellen, ob sich die Deutungsperspektiven und Begründungen zu Lösungsmodellen in den nationalen Debatten angleichen oder ob sie schon konvergent sind, werden ebenfalls zwei Indikatoren angewendet: Mit dem Indikator Frame wird gemessen, wie stark die nationalen Deutungsperspektiven im Sinn von Deutungsrahmen, innerhalb derer Debatten geführt werden, konvergieren oder divergieren. Der zweite Indikator der Begründungen zielt darauf ab, ob innerhalb der einzelnen Frames auch beide Seiten der Konfliktlinien sichtbar werden oder ob hier sozusagen aneinander vorbeigeredet wird, weil Diskurskoalitionen jeweils nur eine Seite der Frames bewirtschaften.
4.3.3 Indikatoren zum kommunikativen Austausch Mit der Dimension des kommunikativen Austauschs wird die Frage untersucht, ob sich die verschiedenen nationalen Kommunikationsräume und die supranationalen Arenen diskursiv verschränken und durchdringen, ob also zwischen diesen ein Austausch von Meinungen, Positionen und Argumenten besteht.
Beobachtung anderer Länder: Die Beobachtung anderer europäischer Länder erfolgt mit dem Indikator Auslandberichterstattung über europäische Länder, was dem Typ der horizontal europäisierten Kommunikationsereignissen entspricht. Interdiskursivität: Der kommunikative Austausch zwischen Sprechern unterschiedlicher Kommunikationsräume und Öffentlichkeitsarenen lässt sich vertreten ist. Nimmt man das Schweizer Sample als Referenzwert, dann beträgt der Gewichtungsfaktor für das britische 0.85 (35 / 41), für das deutsche 0.95 (35 / 37) und für das französische 1.25 (35 / 28).
Methodologie und Operationalisierung
125
als Interdiskursivität beschreiben und anhand vierer Indikatoren messen. Auf der Ebene von Kommunikationsereignissen findet Interdiskursivität statt, wenn sich die Inlandberichterstattung über transnationalisierte Geltungsbereiche erstreckt. Die Interdiskursivität gilt als europäisch, wenn dabei der Geltungsbereich der EU oder Europas eingeschlossen ist. Der zweite Indikator betrifft die Resonanz ausländischer Sprecher in heimischen Arenen. Interdiskursivität gilt als europäisch, wenn europäische Sprecher als auswärtige Sprecher in heimischen Arenen Resonanz erhalten. Der dritte Indikator besteht in der Adressierung von Drittakteuren. Wiederum gilt auch hier, dass Interdiskursivität europäisch ist, wenn die adressierten Drittakteure Europäer sind. Schliesslich wird kommunikativer Austausch mit dem Indikator der Referenzierung gemessen. Interdiskursivität ist europäisch, wenn sich Sprecher auf Aussagen anderer europäischer Sprecher beziehen. 4.3.4 Indikatoren zur kollektiven Identität Die Dimension der kollektiven Identität verweist auf die Frage, ob bzw. inwieweit sich in öffentlichen Auseinandersetzungen bereits schon ein Bewusstsein einer europäischen Zusammengehörigkeit ausgebildet hat.
Bedrohungsperzeption: Ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein wird sichtbar, wenn europäische Ressourcen als bedroht wahrgenommen und entsprechend thematisiert werden. Identitätssemantik: Eine europäische Kommunikationsgemeinschaft mit einer kollektiven Identität oder einem Zusammengehörigkeitsbewusstsein wird sichtbar, wenn verschiedene Sprecher in Form von WIR-Bezügen im Namen europäischer Angelegenheiten respektive in einer europäischen Perspektive sprechen. Differenzsemantik: Ein Indikator für eine kollektive europäische Identitätskonstruktion besteht in gemeinsam verwendeten positiven Typisierungen der EU oder Europas bzw. gemeinsamen negativen Typisierungen anderer Bezugsgruppen.
5 Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit (1945-2006)
Öffentlichkeit wurde definiert und operationalisiert als Raum für Auseinandersetzungen über gemeinsame Angelegenheiten, der sich bisher nur innerhalb der Sozialstrukturen demokratischer Nationalstaaten voll zur Blüte hat entfalten können. Dies ist der Grund, weshalb nationale Öffentlichkeiten als segmentär differenzierte Kommunikationsräume parallel nebeneinander existieren. Unter solchen Strukturbedingungen ist eine europäische Öffentlichkeit modelliert worden als Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeiten. Aus einer europäischen Perspektive bedeutet Transnationalisierung eine zeitgleiche Resonanz europäischer Themen in verschiedenen nationalen Medienarenen. Dabei kann sich transnationale Interdiskursivität einstellen, wobei solche kommunikativen Austauschprozesse zudem in einer europäischen Perspektive geführt werden können. Aus einer nationalen Perspektive unterteilt sich die beobachtete soziale Wirklichkeit in einen inländischen und einen ausländischen Objektbereich. Diese Dualität findet ihr publizistisches Korrelat in der Unterscheidung von Inlandund Auslandberichterstattung. Dabei entspricht die Auslandberichterstattung der Beobachtung anderer Länder und dem ersten Indikator kommunikativer Austauschprozesse. Auf der Makroebene medialer Aufmerksamkeitsstrukturen transnationalisiert sich eine nationale Öffentlichkeit, wenn der Anteil der Auslandberichterstattung gegenüber der Inlandberichterstattung über die Zeit zunimmt. Umgekehrt würde sie sich nationalisieren, wenn der Anteil der Inlandberichterstattung im Verlauf der Zeit grösser würde. Eine nationale Öffentlichkeit kann sich aber auch über die Inlandberichterstattung transnationalisieren. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die heimischen Medien verstärkt über die Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik des eigenen Landes oder über die Auslandstätigkeiten heimischer Unternehmen, Sportler, Künstler usw. berichten. Im Unterschied zur Auslandberichterstattung, die Vorgänge in oder zwischen anderen Ländern beobachtet, verweist die Transnationalisierung der Inlandberichterstattung auf unmittelbare kommunikative Austauschprozesse zwischen Akteuren der heimischen und ausländischen Öffentlichkeitsarenen.
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Mit Blick auf Europa hat man zwischen einer horizontalen und vertikalen Europäisierung unterschieden (Koopmans / Erbe 2003). Eine nationale Öffentlichkeit europäisiert sich in horizontaler Richtung, wenn im Verhältnis zu einer Grundeinheit (gesamte Auslandberichterstattung, Berichterstattung insgesamt) über die Zeit vermehrt über andere europäische Länder berichtet wird; sie europäisiert sich in vertikaler Richtung, wenn im Verhältnis zur Grundeinheit vermehrt EUPolitik respektive Themen, welche die EU und ihre Mitgliedstaaten betreffen, in den Fokus geraten. Werden die beiden Richtungen von Europäisierung mit der Unterscheidung von Inland- und Auslandberichterstattung kombiniert, so kann man aus Sicht der Schweiz als Drittstaat und Nicht-EU-Mitglied vier Typen europäischer Kommunikationsereignisse unterscheiden: erstens interne EUKommunikationsereignisse, welche nur die EU und ihre Mitgliedstaaten betreffen (vertikale Europäisierung der Auslandberichterstattung); zweitens Kommunikationsereignisse, welche die inneren Angelegenheiten sowie die Aussenpolitik eines europäischen Landes betreffen (horizontale Europäisierung der Auslandberichterstattung); drittens nationale Kommunikationsereignisse, welche die Schweiz in ihrer Europapolitik für sich oder im bilateralen Verhältnis mit der EU und deren Mitgliedstaaten betreffen (vertikale Europäisierung der Inlandberichterstattung) und viertens nationale Kommunikationsereignisse mit einem Bezug zu einem anderen europäischen Land (horizontale Europäisierung der Inlandberichterstattung). Schliesslich können sich sowohl die Inland- als auch die Auslandberichterstattung über den Bezug zu Europa hinaus sozialräumlich noch weiter transnationalisieren, womit die Europäisierung als Teilmenge der Transnationalisierung insgesamt zu sehen ist. Anstatt zu europäisieren, könnte sich eine nationale Öffentlichkeit mit Bezug auf geografische Weltregionen auch arabisieren, afrikanisieren, westernisieren etc. Hat sich die Schweizer Öffentlichkeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs europäisiert? Beobachten wir womöglich eine Nationalisierung oder ein anderes geografisches Muster der Transnationalisierung? Dies sind die Leitfragen, die in diesem Kapitel geklärt werden. Sie leiten sich von theoretischen Überlegungen ab und lassen sich normativ bewerten. Im Rahmen der europabezogenen Öffentlichkeitsforschung im ersten Teil dieser Arbeit wurde das europäische Öffentlichkeitsdefizit entfaltet als Inkongruenz zwischen der Entscheidungskompetenz der EU und der Berichterstattung über EU-Politik: Während der politische Output auf der supranationalen Ebene immer grösser werde, hinke die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit diesem Prozess hinterher (Gerhards 1993, Gerhards 2000). Aus demokratietheoretischen Überlegungen ist ein solches Öffentlichkeitsdefizit schlecht, weil Herrschaftskontrolle und politische Selbstbestimmung so nicht möglich sind. Empirische Befunde zeigen indes, dass im Zug des voranschreitenden europäischen Integrationsprozesses trotz Öffent-
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
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lichkeitsdefizit mehr EU-Berichterstattung beobachtbar ist, was eine Spezifizierung der Diagnose eines generellen Defizits erfordert und in der Formulierung einer Integrationshypothese zu leisten ist. Gemäss dieser Hypothese sind zwei Zusammenhänge anzusprechen: Der erste besagt, dass die Berichterstattung über die EU mit der Entscheidungskompetenz der EU korreliert: Je mehr Entscheidungskompetenz die EU hat, desto umfangreicher wird auch die Europaberichterstattung. Dies lässt sich einerseits an der Berichterstattung über die EU (vertikale Europäisierung) und andererseits an der Berichterstattung über europäische Mitgliedstaaten (horizontale Europäisierung) nachweisen. Die zweite besagt, dass die Berichterstattung vor allem auf jenen Politikfeldern europäisiert ist, die in der Entscheidungskompetenz der EU liegen, während sich Politikfelder mit nationaler Kompetenz weniger europäisieren. Diese Zusammenhänge sind aus Sicht der Schweiz als Nicht-EU-Mitglied freilich zu nuancieren. Da der acquis communautaire der Europäischen Union für die Schweiz rechtlich nicht bindend ist, ist nicht unmittelbar einsehbar, weshalb Berichterstattung über EU-Politik in vergleichbarer Weise auch von Schweizer Medien geboten sein soll. Zwei Gründe sind anzusprechen, die dennoch dafür argumentieren, dass sich auch die Schweizer Medien mit dem europäischen Integrationsprozess europäisieren sollten. Erstens ist es für die Schweiz 113 infolge der starken wirtschaftlichen Verflechtung mit den Ländern der EU aus wettbewerbspolitischen und regulatorischen Gründen wichtig zu wissen, was in der EU läuft. Zweitens würde es der Schweiz jeder Zeit freistehen, der EU als Mitglied beizutreten. Da sie dies aus unterschiedlichen Gründen aber bis heute nicht will, bedeutet jede weitere Integrationsstufe der EU eine relative Veränderung des bilateralen Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU, was von Seiten der Schweiz eine Reflexion über die Vor- und Nachteile des Status quo gegenüber jeweiligen EU-Integrationsschritten rechtfertigen würde. Diese beiden Begründungen verweisen auf die Unterscheidung von Ausland- und Inlandberichterstattung. Die erste Begründung lässt sich anhand der Europäisierung der Auslandberichterstattung untersuchen. So wie EU-Mitgliedstaaten andere EUMitgliedstaaten beobachten und sich fragen, welche Implikationen Entscheidungen in anderen Staaten für das eigene Land haben, beobachtet das Drittland Schweiz die inneren Angelegenheiten der EU und ihrer Mitgliedstaaten (interne EU-Kommunikationsereignisse). Die zweite Begründung verweist auf die Inlandberichterstattung und auf den dritten Typus europäischer Kommunikations-
113
Gemäss der Abstimmungsbroschüre zum Personenverkehrsabkommen vom 25. September 2005 des Dachverbands der Schweizer Wirtschaft, economiesuisse, exportiert die Schweiz von einem Total von CHF 141‘735 Mio. rund 62 Prozent in die EU und importiert von einem Total von CHF 132‘432 Mio. rund 84 Prozent (siehe Online-Publikation ,Facts der Wirtschaft‘, Juni 2005, 5).
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
ereignisse, nämlich jene, die die Schweiz in ihrer Europapolitik für sich oder im bilateralen Verhältnis mit der EU und deren Mitgliedstaaten betreffen. Aber weder ist es plausibel anzunehmen, dass jeder, die EU mit zusätzlichen Kompetenzen ausstattender, Integrationsschritt zu einer nationalen Europadebatte über die richtige Europapolitik der Schweiz führt, noch, dass sich das quantitative Niveau der Berichterstattung über EU-Politik nach einem Kompetenzzuwachs für die EU gleichsam automatisch erhöht. Es gilt die Integrationshypothese mit der Konflikthypothese zu konfrontieren: Ob und wie stark Europa und die Europäische Union zum Thema öffentlicher Beobachtung und Gegenstand öffentlicher Debatten werden, hängt wesentlich von zeithistorischen Relevanzstrukturen ab, die bestimmen, als wie bedeutsam und brisant ein Europathema für die Zeitgenossen jeweils rezipiert und eingestuft wird. Führt man beide Hypothesen zusammen, ist zu erwarten, dass die Berichterstattung über Europa zwar in der Tendenz mit der Zunahme von EU-Kompetenzen steigt, die Varianz der Europafokussierung aber erklärt wird durch im sozialen Wandel diskontinuierlich auftretende Bedrohungsperzeptionen und Konfliktkonstellationen. Genau dies gilt es in diesem Kapitel zu untersuchen. Dieses Kapitel gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil werden die zentralen Befunde zur Nachrichtengeografie der Schweizer Öffentlichkeit in Form allgemeiner Trends beschrieben (5.1). Im zweiten Teil wird die „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“ entlang des europäischen Integrationsprozesses nachgezeichnet. Dabei gilt es zu prüfen, wie sich die Schweizer Berichterstattung im Spannungsfeld zunehmender Entscheidungskompetenz der EU und sich im sozialen Wandel diskontinuierlich entwickelnder Konfliktsituationen und Bedrohungsperzeptionen europäisiert (5.2). Im dritten Teil gibt eine politikfeldspezifische Analyse Auskunft über die beobachteten Tendenzen der Europäisierung entlang unterschiedlicher Politikfelder. Damit lässt sich erstens zeigen, ob die EU, wie normativ gefordert, vor allem auf vergemeinschafteten Politikfeldern wahrgenommen wird. Zweitens kann bestimmt werden, auf welchen Politikfeldern überhaupt kommunikative Austauschprozesse und folglich mehr oder weniger stark ausgeprägte transnationale bzw. europäische Diskurse zu erwarten sind (5.3). Im abschliessenden Teil werden die Erkenntnisse aus empirischen, analytischen und normativen Gesichtspunkten bilanziert (5.4.). 5.1 Nachrichtengeografie der Schweizer Öffentlichkeit seit 1945 Von den insgesamt 5456 Kommunikationsereignissen, die im Zeitraum von 1945 bis 2006 erhoben wurden, entfallen gute 46 Prozent auf die Auslandberichterstat-
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tung, die einen Resonanzanteil von 48 Prozent an den zwanzig grössten Kommunikationsereignissen pro Jahrgang und Zeitung ausmachen. Anteil an Gesamtberichterstattung in % 100
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50
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1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
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Auslandberichterstattung
Abbildung 5:
transnationalisierte Inlandberichterstattung
Inlandberichterstattung
Gesamttrends der Berichterstattung in der (Deutsch)Schweizer Öffentlichkeit
Lesehilfe: Die graue Linie bildet den Anteil der Auslandberichterstattung an der Gesamtberichterstattung ab. Die gestrichelte Linie entspricht dem prozentualen Anteil der Inlandberichterstattung. Die schwarze Linie misst den Anteil der transnationalisierten Inlandberichterstattung an der gesamten Inlandberichterstattung. Alle Jahreswerte sind gleitende Durchschnittswerte (ti-2+ti-1+ti0+ti+1+ti+2)ൊ5. Der erste (und letzte) Wert (1945, 2006) ergibt sich aus (t1945+t1946)ൊ2; der zweite Wert (und zweitletzte) Wert (1946, 2005) ergibt sich aus (t1945+t1946+t1947)ൊ3.
Im Vergleich mit Öffentlichkeiten anderer Länder ist der Anteil der Auslandberichterstattung bemerkenswert hoch.114 Ein wesentlicher Grund für die ausge114
In der Sekundäranalyse, die Gerhards (2000) zu einer von Kepplinger durchgeführten Studie mit dem Politikteil als Grundgesamtheit für die drei deutschen Zeitungen FAZ, Süddeutsche Zeitung und Welt durchgeführt hat, findet er einen Auslandanteil von fast 40 Prozent. Mit Verweis auf eine von Karl Deutsch bereits 1959 durchgeführten Studie, die einen durchschnittlichen Anteil von 9 Prozent Aufmerksamkeit für Internationales feststellt, weist Gerhards die Resultate von Kepplinger für den Grad der Transnationalisierung als nicht gut zu interpretieren zurück. Zu einem Anteil von
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
sprochen starke Aussenorientierung der Schweiz hängt mit der geopolitischen Stellung als einem der Neutralität verpflichteten Kleinstaat zusammen (Imhof / Ettinger 2000). Über die Zeit betrachtet nimmt die Auslandberichterstattung gegenüber der Inlandberichterstattung jedoch leicht ab, wobei anfangs der 1970er-Jahre ein eigentlicher Einbruch zu beobachten ist, dem zeitgleich eine frappante Zunahme der Inlandberichterstattung entspricht. War zuvor die Aufmerksamkeit, geprägt durch die Relevanzstrukturen im Kalten Krieg, stärker aussenpolitisch fokussiert, richtet sich mit der auch die Schweiz erfassende Weltwirtschaftskrise in den 70er-Jahren dann der Blick nach innen, ehe die Aufmerksamkeit für Aussenvorgänge seit „9/11“ und der damit verknüpften USAussenpolitik wieder leicht angestiegen ist. Unterstützt wird die anhaltende stärkere Hinwendung auf innenpolitische Vorgänge durch die in den 1960er-Jahren einsetzende Entkoppelung der Medien vom politischen System, was sich an einer massiven Zunahme der regionalen Berichterstattung seit den 1970er-Jahren able115 sen lässt. Mit Blick auf die Inlandberichterstattung lässt sich ein gegenteiliger Trend beobachten. Rund 11 Prozent der Inlandberichterstattung (6 Prozent an der Gesamtberichterstattung) wird von nationalen Kommunikationsereignissen gebildet, die aber, wie beispielsweise die „Debatte über die nachrichtenlosen Vermögen“ in den 1990er-Jahren, einen transnationalen Bezug aufweisen. Seit der Zeitenwende mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Mauerfall ist dieser Anteil stark gestiegen. 5.1.1 Nachrichtengeografie der Auslandberichterstattung Die intensive Beobachtung des Auslands durch Schweizer Medien machen diese zu einem geeigneten Kandidaten für die Emergenz einer transnationalen Öffentlichkeit. Ob jedoch auch die Schweiz von Medien anderer Länder in gleichem 116 Ausmass beobachtet wird, darf mit guten Gründen bezweifelt werden. Bei der bisherigen Darstellung ist noch offen geblieben, welche geografischen Bezugsräume im Fokus der Schweizer Medien stehen und ob sich hier entsprechende Trends abzeichnen. Gemessen an der Auslandberichterstattung beträgt der Anteil der Europaberichterstattung (vertikal und horizontal) 49.1 Prozent. Der Rest teilt fast 50 Prozent Auslandberichterstattung kommt allerdings auch Saurwein et al. (2006, 84) im Rahmen einer Erhebung der ZIB-Nachrichtenbeiträge des ORF. 115 Vgl. dazu die Abbildungen im Anhang unter A1.1. 116 Eine Vollerhebung des ORF-Nachrichtenmagazins ZIB im Zeitraum von 1995 bis 2004 zeigt, dass der Anteil der Schweiz an der Berichterstattung über das Ausland gerade mal 1.7 Prozent ausmacht (Saurwein et al. 2006, 85).
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sich wie folgt auf: Naher und Mittlerer Osten (17.2 Prozent), Amerika (10.9 Prozent), Welt / Internationale Organisationen (10.8 Prozent), Ostasien / Pazifik (5.8 Prozent), Afrika (4.4 Prozent) und Südasien (1.8 Prozent).117 Anteil an der Auslandberichterstattung in % 100%
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1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
20%
Europa
Abbildung 6:
USA
Welt / Internationale Organisationen
Rest
Naher / Mittlerer Osten
Entwicklung der Auslandberichterstattung nach Weltregionen
Lesehilfe: Die Säulen bilden die Resonanzanteile der einzelnen Weltregionen an der auf 100 Prozent hochgerechneten Auslandberichterstattung ab. Datengrundlage bilden alle Kommunikationsereignisse mit einem Auslandfokus (N: 2546 KE; Resonanzanteil: 48.2 Prozent). Die Werte sind gleitende Durchschnittswerte, berechnet wie in Abb. 2.
Bricht man den Beachtungsgrad der Weltregionen auf einzelne Länder hinunter, erzielt Deutschland mit 10.4 Prozent am meisten Resonanz. Es folgen die Grossmächte USA (8.6 Prozent) und Russland / UdSSR (5.1 Prozent). Noch vor Frankreich (4.2 Prozent) und Italien (2.9 Prozent) folgen auf dem vierten Rang Israel / Palästina mit zusammen 4.8 Prozent.118 117
Die Einteilung der Länder in Weltregionen erfolgt nach der Klassifizierung der Welttourismusorganisation WTO (http://www.tourism-watch.de/fix/23/regionen.pdf). Im Anhang unter B1.4 befindet sich eine Liste mit Resonanzzahlen sämtlicher Länder. 118 Würde man die Region Israel, Palästina, Libanon, Syrien und Jordanien als eine in den NahostKonflikt verwickelte Einheit zählen, steigt deren Berichterstattungsanteil auf über 11 Prozent an.
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Ein Blick auf Abbildung 6 zeigt eine tendenzielle Ent-Europäisierung zugunsten der Beobachtung anderer Weltregionen. Liegt der Anteil der Europaberichterstattung an der Auslandberichterstattung anfangs der 1950er-Jahre noch bei über 60 Prozent, nimmt er bis zur Mitte der 1980er-Jahre stetig auf unter 30 Prozent ab. Im Zug der Transformationsphase im Osten und der verschiedenen Balkankriege in den 1990er-Jahren steigt die Europaberichterstattung zwischenzeitlich zwar wieder auf Werte von über 60 Prozent an, sie fällt nach den Terroranschlägen auf die USA im Jahr 2001 schliesslich auf ein neues Tief von noch guten 20 Prozent. Saurwein et al. (2006, 85) belegen anhand der Erhebung der ZIB-Nachrichtenbeiträge des ORF eine ähnliche Entwicklung wie in der Schweiz. Die Vermutung ist nicht unberechtigt, „9/11“ als ein „Schlüsselkommunikationsereignis“ (Eisenegger 2007; Brosius / Eps 1993) zu bezeichnen, das die Verteilung der medialen Aufmerksamkeit neu organisiert und die USA mit ihrer Politik im Nahen und Mittleren Osten noch stärker ins mediale Aufmerksamkeitszentrum gebracht 119 hat. Parallel zur Ent-Europäisierung lässt sich am kurzen Ende der Zeitachse eine „Arabisierung“ der Schweizer Auslandberichterstattung beobachten, sofern man dieses Prädikat lediglich am geografischen Fokus und nicht an der Semantik der Berichterstattung festmacht (Ettinger 2008). Mit Ausnahme der Suez-Krise 1956 stand diese Region bis zum Sechstagekrieg 1967 vergleichsweise wenig im öffentlichen Fokus. Seither erzielt der „Nahost-Konflikt“ aber mehr als zwanzig Prozent der Auslandberichterstattung. Und seit der Revolution im Iran 1979 und insbesondere seit dem Golfkrieg 1990/91 erlangt auch der Mittlere Osten vermehrt mediale Aufmerksamkeit. Ab dem Jahr 2000 übertrifft die Berichterstattung über den Nahen und Mittleren Osten die Europaberichterstattung ganz deutlich und trägt über 40 Prozent zur gesamten Auslandberichterstattung bei.120 Die Nachrichtengeografie-Analyse bestätigt ausserdem den auch von Wessler et al. gemachten Befund einer ausbleibenden „Westernisierung“. Die Berichterstat-
119
In der Entwicklung am kurzen Ende der Zeitachse besteht ein Widerspruch zu den empirischen Befunden von Wessler und Mitarbeitende. Ihre Untersuchung zeigt, dass die Terroranschläge von 2001 nicht zu einem Einbruch der Europaberichterstattung geführt haben (2008, 42). Dieser Widerspruch gegenüber den vorliegenden Daten für die Schweizer Öffentlichkeit und für das ORF mag möglicherweise der Erhebungsmethode von Wessler et al. geschuldet sein. Wessler et al. untersuchen im Rhythmus von sieben Jahren (1982, 1989, 1996, 2003) zwei künstliche Berichterstattungswochen für je eine Qualitätszeitung von fünf europäischen Ländern (FAZ für Deutschland, Die Presse für Österreich, Le Monde für Frankreich, The Times für Grossbritannien und Politiken für Dänemark). 120 Diese Entwicklung geht insbesondere auf eine intensive Berichterstattung über den sich verschärfenden Israel-Palästina-Konflikt, den Irak-Krieg sowie den Libanon-Israel-Konflikt zurück.
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
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tung über die USA erzielt um 1970 die höchsten Werte.121 Im Anschluss an die Terroranschläge haben die Anteile der US-Berichterstattung zwar wieder zugenommen und dürften im Zug der globalen Finanzkrise und dem Politikwechsel mit Obama wahrscheinlich weiter zulegen. Andere mit der „Arabisierung“ vergleichbare Trends lassen sich nicht belegen. In die Kategorie Rest fällt die Berichterstattung über Afrika, Amerika ohne USA, Asien und Japan sowie Australien. Der Verlauf dieser Kategorie zeigt kurzfristige Wellen geografischer Aufmerksamkeitsfokussierungen an, die mit Phasen erhöhter Kriegsberichterstattung korrelieren. Besonders hohe Resonanz erzielen die Entkolonialisierungskriege in Afrika.122 Eine zweite, aber bereits deutlich abgeschwächte Welle erlebt die Schweizer Öffentlichkeit in den 1980erJahren mit dem Einmarsch der UdSSR in Afghanistan (1980) sowie den Auseinandersetzungen der USA in Zentralamerika (1981-1987). Die dritte Welle nach dem Ende des Kalten Kriegs umfasst zum ersten Mal auch Ereignisse ohne kriegerischen Hintergrund wie die Asienkrise 1998 oder die Berichterstattung über den Tsunami von 2005. Die Kategorie Welt / Internationale Organisationen umfasst zahlreiche Kommunikationsereignisse über den Kalten Krieg, die nicht einem spezifischen Land zuzuordnen sind, sondern die die Gegenüberstellung der beiden Systeme im Ost-West-Dualismus sowohl in der Konfrontation wie auch in der Entspannung zum Gegenstand haben. Nach der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes haben Kommunikationsereignisse mit einem globalen Weltbezug zwar immer noch kriegerische Auseinandersetzungen wie die internationale Bekämpfung des Terrorismus zum Thema. Neu sind hingegen vor allem ökonomische, ökologische, aber auch die Gesundheit betreffende Themen wie die Berichterstattung über die Seuchen SARS (2003) oder die Vogelgrippe (2005, 2006). Diese kursorische Darstellung der Auslandberichterstattung scheint einer klaren Logik zu folgen: der Logik der Kriegsberichterstattung (Imhof 1995, Wilke 1995). Am meisten Resonanz erzielen jeweils geografische Räume, die von Konflikten, Kriegen und Bürgerkriegen heimgesucht werden (vgl. Abbildung 7). Mit dem Ausbruch des Kalten Kriegs gelangt der Konflikt um die Aufteilung Europas zwischen den USA und der Sowjetunion in den Fokus der Auslandberichterstattung. Mit der Verlagerung des Epizentrums der Ost-West121
Dazu zählen vor allem die folgenden Kommunikationsereignisse: Ermordung Kennedys 1968 und die anschliessenden Präsidentschaftswahlen, Mondlandung 1969, Wirtschaftskrise 1971 sowie Watergate 1973/74. Auffällig ist ausserdem die zyklische Berichterstattung über die US-Präsidentschaftswahlen alle vier Jahre, ein Vorgang, der immer wieder unter die zwanzig grössten Kommunikationsereignisse fällt. 122 Vor allem die Berichterstattung über die Befreiungskriege in Algerien (1957-1963) und Kongo (1961-1965).
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Auseinandersetzungen in den südasiatischen Raum wird die Europaberichterstattung allmählich von der medialen Agenda gedrängt. Dieser Trend setzt sich in den 1970er- und 80er-Jahren fort. Während Europa in dieser Zeit relativ konfliktfrei war, verlagert sich der Kalte Krieg der zweiten Phase auf Afghanistan und Zentralamerika. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Mauerfall gelangt zwar Europa wieder stärker in den Mittelpunkt der Auslandberichterstattung, aber erst die zahlreichen Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien lassen andere Weltregionen wieder etwas in den Hintergrund treten, ehe Europa mit dem verheerenden Terroranschlag auf die USA im Jahr 2001 und den anschliessenden Kriegen gegen den Terrorismus und den Irak wieder aus dem Fokus der Öffentlichkeit entschwindet. Differenz Europaberichterstattung zu einem gemittelten Verhältnis der Europaberichterstattung / Auslandberichterstattung 40% 30%
Kalter Krieg mit Epizentrum in Europa
9/11, Krieg gegen Terror, Irak-Krieg
Kalter Krieg mit Epizentrum Südasien
Bürgerkrieg auf Balkan
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PalästinaKonflikt
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-40%
Mauerfall
Afghanistan-Konflikt, Falklandkrieg, Zentralamerika
-30%
Verhältnis Europa- zu Auslandberichterstattung
Abbildung 7:
Ent-Europäisierung der Auslandberichterstattung
Lesehilfe: Die Säulen bilden die Differenz zwischen der Europaberichterstattung und dem durchschnittlichen Berichterstattungsverhältnis zwischen Europaberichterstattung und Auslandberichterstattung in Prozentwerten ab. Datengrundlage bilden alle Kommunikationsereignisse mit einem Auslandfokus (N: 2546 KE; Resonanzanteil: 48.2 Prozent). Die Werte sind gleitende Durchschnittswerte, berechnet wie in Abb. 2.
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
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Der gemachte Befund einer Ent-Europäisierung korreliert deutlich mit der Kriegsberichterstattung: Wo Krieg herrscht, da sind auch die Medien und es wird darüber berichtet, weil Kriege und gewalttätige Konflikte die Menschen fesseln und wie eine anthropologische Konstante in ihren Bann der Aufmerksamkeit ziehen. Ist Europa frei von Krieg und bedrohungsähnlichen Zuständen, so der Umkehrschluss, ist die Berichterstattung der Schweiz über Europa zwar immer noch hoch, aber Europa spielt nicht mehr die erste Geige im Konzert der Schweizer Auslandjournalisten. Dem Trend der Ent-Europäisierung fallen in erster Linie die grossen Nachbarstaaten der Schweiz zum Opfer, was mit der schwindenden Bedeutung der Aussen- und Sicherheitspolitik dieser Länder für die Schweiz im Zug der abnehmenden Bedrohungsperzeption im Kalten Krieg erklärt werden kann.123 Ob dieser Trend auch die supranationale Ebene der Europäischen Union mit einschliesst oder nicht, wird im Anschluss an die kurze Darstellung der Transnationalisierung der Inlandberichterstattung im Zusammenhang mit der Besprechung der medialen Aufmerksamkeit für den europäischen Integrationsprozess geklärt. 5.1.2 Transnationalisierung der Inlandberichterstattung Einleitend zu diesem Kapitel wurde bereits festgehalten, dass sich bei der Inlandberichterstattung im Unterschied zur Auslandberichterstattung ein Transnationalisierungstrend beobachten lässt. Die Inlandberichterstattung thematisiert zwar immer noch mit Abstand am häufigsten innere Angelegenheiten der Schweiz, aber in zunehmendem Mass sind das Angelegenheiten, die nicht die Schweiz allein betreffen, sondern an denen auch andere Staaten und Akteure beteiligt sind. Es handelt sich somit um transnationale Kommunikationsereignisse, die aus Sicht des anderen beteiligten Landes ebenfalls Resonanz erzeugen müssen, wenn auch nicht unbedingt gleich stark wie in der Schweiz. Ein deutlicher Anstieg einer Transnationalisierung der schweizerischen Inlandberichterstattung ist seit dem Ende des Kalten Kriegs zu beobachten, wobei dieser Anstieg in erster Linie auf eine intensivierte Europaberichterstattung zurückzuführen ist, worüber gleich ausführlicher berichtet wird. Mit Bezug auf die geografische Verteilung zeigt sich, dass Kommunikationsereignisse mit einem EU-Bezug am häufigsten vorkommen (42 Prozent), gefolgt von Kommunikationsereignissen mit einem Bezug zu europäischen Ländern (22 Prozent), der Welt (21 Prozent) und den USA (14 Prozent). Aus der sozialräumlichen Verteilung im zeitli123
Eine Abbildung, welche die Entwicklung der Berichterstattung über die einzelnen europäischen Subregionen misst, findet sich im Anhang unter A1.2.
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
chen Verlauf lässt sich folgern, dass sich die schweizerische Inlandberichterstattung in vertikaler Richtung europäisiert hat (Abbildung 8).
Abbildung 8:
Transnationalisierung der Inlandberichterstattung
Lesehilfe. Die Säulen bilden den Anteil von Kommunikationsereignissen an der Inlandberichterstattung ab, die sich über den Geltungsbereich der Schweiz noch zusätzlich auf einen oder weitere Geltungsbereiche anderer Länder erstrecken. (N: 289 KE; Resonanzanteil: 10.9 Prozent). Die Werte sind gleitende Durchschnittswerte, berechnet wie in Abb. 2.
5.2 Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit im Integrationsprozess der EU Nimmt man die Entwicklungen der Inland- und Auslandberichterstattung zusammen, zeigt sich eine Scherenbewegung: Während sich die Inlandberichterstattung nicht nur transnationalisiert, sondern auch stark europäisiert hat, nimmt die Auslandberichterstattung vor allem mit Bezug auf Europa ab. Die Frage ist allerdings, ob die beobachtete Ent-Europäisierung auch auf das Konto einer EUBerichterstattung bzw. einer Berichterstattung geht, die Europa als Ganzes thematisiert, oder ob sie auf die Abnahme einer Berichterstattung über einzelne
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europäische Länder beschränkt bleibt. In den Blick gerät hierbei der europäische Integrationsprozess selbst und die damit verbundenen Fragen, ob und wie stark dieser Prozess wahrgenommen und thematisiert wird; ob mit steigenden Niveau der Integration auch die Berichterstattung über „europäische Angelegenheiten“ steigt oder ob, wie die Konflikthypothese postuliert, die Europaberichterstattung nicht eher von zeithistorischen Relevanzstrukturen abhängig ist. Die Beantwortung dieser Fragen verweist so in Richtung einer vertikalen Europäisierung. Dabei bezeichnet vertikal die supranationale Politik-Ebene der Europäischen Union im engeren Sinn und umfasst Kommunikationsereignisse, welche die EUPolity, EU-Policy, EU-Angelegenheiten mit Drittstaaten sowie die Schweizer Europapolitik betreffen. Nun gibt es darüber hinaus europäische Kommunikationsereignisse, die sich nicht umstandslos dieser vertikalen Dimension supranationaler EU-Politik zuordnen lassen und schon gar nicht der horizontalen Europäisierung zuzurechnen sind. Dazu zählen erstens europäische Angelegenheiten, die nicht in erster Linie in den Institutionen der EU verhandelt werden, sondern andere europäische Institutionen oder dann andere gesellschaftliche Teilsysteme als die Politik betreffen. Zum ersten Typ zählt beispielsweise die Berichterstattung über die Befriedung Europas im Rahmen der Konferenzen für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE). Der zweite Typ umfasst beispielsweise Berichterstattungen über Anlässe wie den European Song Contest oder über wirtschaftliche Entwicklungen, die Europa als einheitlichen Konjunkturraum thematisieren. Mit diesem Typ verwandt sind schliesslich Berichterstattungen über europäische Angelegenheiten, die politisch werden und möglicherweise später auch auf die Agenda der Europäischen Union gesetzt werden, so wie bei der BSE-Krise oder den europäischen Sicherheitsdiskussionen nach dem Terroranschlag in Madrid 2004. Diese drei Typen bilden eine eigene Kategorie der transnationalen Europäisierung, wie vorgängig im Methodenkapitel eingeführt wurde (vgl. 4.1.2), und sie verweisen auf paneuropäische Debatten. Es gilt schliesslich noch eine separate Unterkategorie der vertikalen Europäisierung zu unterscheiden, wozu die Berichterstattung über die Gründung der NATO gezählt wird, die aus Schweizer Perspektive im Deutungsrahmen der Sicherung Westeuropas verhaftet wahrgenommen wurde. Diese Unterkategorie der vertikalen Dimension wird als transat124 lantische Europäisierung bezeichnet. Nachfolgend wird der europäische Integrationsprozess in vier Integrationsstadien unterteilt und mit dem Level der Europaberichterstattung verglichen. Auf dem Hintergrund einer Theorie sozialen 124
Man kann diese Berichterstattung freilich auch unter dem Gesichtspunkt einer „Westernisierung“ (Wessler 2008) ausweisen. Da diese Kategorie separat ausgewiesen wird, ist dies denn auch möglich.
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Wandels wird zu klären versucht, wie die Aufmerksamkeit für „europäische Angelegenheiten“ mit dem Integrationsprozess zusammenhängt. 5.2.1 Phasen des europäischen Integrationsprozesses Eine einheitliche Unterteilung des europäischen Integrationsprozesses in klar datierbare Phasen hat sich in der Fachliteratur nicht etabliert und hängt davon ab, ob eher institutionelle Aspekte oder Marktorganisationsformen betrachtet werden (vgl. etwa Höpner / Schäfer 2007). Andere wiederum rücken stärker eine Unterscheidung zwischen Integrationsphasen und Krisenphasen in den Vordergrund (Giersch 1986). Danach wird unterschieden, ob die EU Integrationsschritte macht oder stagniert. Für die mit dieser Arbeit unter anderem verfolgte Fragestellung nach dem Zusammenhang von Europaberichterstattung und Integrationsstufe scheint dieser Vorschlag ein gangbarer Weg zu sein. Obwohl der Grün125 dungstag der EU offiziell mit dem 9. Mai 1950 angegeben wird, setze ich die Gründungsphase bereits vorher an – und zwar mit der so berühmten wie zukunftsweisenden Zürcher Rede Winston Churchills 1946. Diese Phase endet 1957 mit den Römer Verträgen, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG begründen. Die nächste Integrationsphase ist geprägt von der Entstehung einer auf Sachgebiete beschränkten institutionalisierten westeuropäischen Staatengemeinschaft (1967) und deren Fortentwicklung zu einem allgemeinen Integrationsverband (1987). Diese Phase verläuft allerdings nicht geradlinig, sondern wird bestimmt durch zahlreiche Rückschritte, die dann 1973 in die „Eurosklerose“ münden. Deshalb wird diese Phase unterteilt in eine Phase der Konsolidierung, die sich von 1958 bis 1972 erstreckt und in die von 1973 bis 1986 dauernde Phase der Eurosklerose. Mit dem Amtsantritt des neuen und tatkräftigen Kommissionspräsidenten Jacques Delors gewinnt der Integrationsprozess wieder deutlich an Schwung und es beginnt 1987 jene Phase, die ich als Supranationalisierungsphase bezeichne und die 1993 zur Inkraftsetzung des Vertrags von Maastricht geführt hat. Ob diese Phase möglicherweise mit den abgelehnten Referenden zum europäischen Verfassungsvertrag durch Frankreich und die Niederlande sowie in einer Neuauflage durch Irland schon wieder beendet ist und von einer neuen Stagnations- oder Krisenphase abgelöst wird, ist eine empirisch noch offene Frage. 125
Als Gründungstag für die EU gilt der 9. Mai 1950, als der französische Aussenminister Robert Schuman den von Jean Monnet entwickelten Plan einer Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschlands mit der Gründung einer entsprechenden supranationalen Organisation, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bzw. Montanunion, vorstellte (vgl. Portal der Europäischen Union).
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Gründungsphase
Konsolidierungsphase
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Phase Eurosklerose
Supranationalisierungsphase
100%
0%
1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
50%
Inlandberichterstattung ohne Europabezug Auslandberichterstattung ohne Europabezug Europaberichterstattung ohne NATO-Kommunikationsereignisse
Auslandberichterstattung vertikal Anteil vertikal an Auslandb. transnational-europäisch transatlantisch Europäisierung total Anteil an Auslandbericht Inlandberichterstattung vertikal Anteil vertikal an Inlandb. transnational-europäisch Europäisierung total Anteil an Inlandbericht. Vertikal total Europaberichter. ohne NATO Europaberichter. mit NATO
Abbildung 9:
Gründung 1946-57
Konsolidierung 1958-1972
Eurosklerose 1973-1986
Supranat. 1987-06
Ø
53.6 6.6 12.3 4.2 10.8 20.1 46.4 0.4 0.01 0.1 0.5 1.1 7.0 7.1 11.3
55.0 3.9 7.1 0.2 0.7 4.8 8.6 45.0 3.1 7.0 3.1 6.9 7.0 7.2 7.9
42.4 0.7 0.02 0.8 1.5 3.5 57.6 0 0.1 0.1 0.1 0.7 1.6 1.6
44.1 1.9 4.3 1.2 0.4 3.5 7.8 55.9 5.4 9.7 0.8 6.2 10.9 7.3 9.3 9.7
48.3 2.9 6.0 0.6 1.1 4.6 9.6 51.7 2.6 5.0 0.3 2.9 5.6 5.5 6.4 7.5
Europaberichterstattung nach Phasen des Integrationsprozesses
Lesehilfe: Die Zeilen der Ausland- respektive Inlandberichterstattung zeigen die Anteile an der Gesamtberichterstattung pro Phase an. Vertikal bezieht sich auf den Anteil derjenigen Europaberichterstattung, die auf die Ebene der Europäischen Union inklusive Mitgliedstaaten respektive Drittstaaten fokussiert. Transnational bezieht sich auf Kommunikationsereignisse, die paneuropäische Debatten ohne unmittelbaren Einbezug der EU repräsentieren. Transatlantisch bezieht sich auf eine europäisierte NATO-Berichterstattung. Europäisierung total umfasst diese drei Formen der vertikalen Europäisierung. Europäisierung ohne NATO umfasst lediglich die vertikale und transnationale Europäisierung. Die Werte sind gleitende Durchschnittswerte, berechnet wie in Abb. 2.
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Mit Blick auf Abbildung 9 und die untenstehenden Werte zeigt sich, dass der Europäisierungsgrad der Berichterstattung zu keiner Zeit grösser war als während der Gründungsphase. 6.6 Prozent des Berichterstattungsvolumens der zwanzig grössten Kommunikationsereignisse thematisieren diverse Gründungen und Gründungsversuche von europäischen Institutionen. Zählt man die Kommunikationsereignisse zur Gründung der NATO dazu, erreicht die Europaberichterstattung mit einem Auslandfokus (vertikale Europäisierung der Auslandberichterstattung) einen Europäisierungsgrad von 10.8 Prozent oder rund einen Fünftel der Auslandberichterstattung der zwanzig grössten Kommunikationsereignisse. Dagegen ist die Europaberichterstattung mit Inlandfokus (vertikale Europäisierung der Inlandberichterstattung) marginal und macht nur ein Prozent der massgeblichen Inlandberichterstattung aus. In der Phase der Konsolidierung reduziert sich der Europäisierungsanteil der Auslandberichterstattung um mehr als die Hälfte auf noch 4.8 Prozent. Dafür steigt umgekehrt die Europaberichterstattung mit Inlandfokus stark an und beträgt 3.1 Prozent des Berichterstattungsvolumens oder fast 7 Prozent der Inlandberichterstattung der zwanzig grössten Kommunikationsereignisse. In der Phase der Eurosklerose werden institutionelle Vorgänge, die der Kategorie der vertikalen Europäisierung zugeordnet sind, praktisch nicht mehr medial thematisiert. Dafür haben, wenngleich auf tiefem Niveau, transnational europäisierte Kommunikationsereignisse etwas an Resonanz gewonnen. In der Supranationalisierungsphase ist die Europaberichterstattung mit Inlandfokus zum ersten Mal grösser als jene mit Auslandfokus. Fast 11 Prozent der Inlandberichterstattung ist in dieser Phase europäisiert, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass die EU in der Schweiz als relevanter Akteur angekommen ist. Trotz erheblichem Integrationsfortschritt der EU und Kompetenzdelegation an die supranationale Ebene erzielt die Europaberichterstattung mit Auslandfokus nicht einmal mehr drei Mal so viel Resonanz wie noch in der Gründungsphase und erlangt mit Blick auf die supranationale Ebene einen Europäisierungsgrad von 1.9 Prozent des gesamten Berichterstattungsvolumens der erfassten zwanzig grössten Kommunikationsereignisse pro Jahr und Medium. Werden die einzelnen Phasenwerte zu einem Durchschnitt berechnet, erreicht die vertikale Auslandberichterstattung mit Bezug auf die supranationale Ebene einen Europäisierungsgrad von 2.9, jene der Inlandberichterstattung von 2.6. Die schweizerische Berichterstattung ist mit Fokus auf die enger umschriebene EU-Ebene zu einem Anteil von 5.5 Prozent europäisiert. Zählt man die paneuropäischen Debatten hinzu, steigt der durchschnittliche Europäisierungsanteil auf 6.4 Prozent. Er wird nochmals leicht höher (7.5 Prozent), wenn auch noch die europäisierte NATO-Berichterstattung dazu gezählt wird. Wie verhalten sich diese Werte im Vergleich mit der Europäisierung anderer nationaler Öffentlichkeiten? Vorab gilt es festzuhalten, dass ausser der Unter-
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suchung von Jürgen Gerhards (2000) über die Europäisierung der deutschen Öffentlichkeit von 1951 bis 1995 überhaupt keine Studie mit einem ähnlich langen Zeithorizont vorliegt. Studien, wie diejenige von Wessler und seinen Mitarbeitenden (2008), decken immerhin noch einen Zeitraum von 1982 bis 2003 ab, wobei hier bei jedem siebten Jahr Stichproben gezogen wurden. Alle anderen Studien beschränken sich auf kürzere Zeiträume oder sind als Einzelfallstudien konzipiert. Die Ähnlichkeit von Level und Verlauf der Europaberichterstattung zwischen der schweizerischen und deutschen Öffentlichkeit ist frappant! Infolge der doch etwas anderen Erhebungsmethode sollte zwar die Ähnlichkeit des Levels nicht allzu sehr überinterpretiert werden.126 Wichtiger und aufschlussreicher scheint mir die Ähnlichkeit des Verlaufs zu sein. Wie in der Schweizer Öffentlichkeit werden auch in der deutschen Öffentlichkeit die höchsten Europawerte mit rund 13 Prozent in der Anfangsphase zwischen 1951 und 1955 erzielt. Danach kommen sie bis etwa 1980 auf relativ konstant 7 bis 8 Prozent zu liegen und fallen in der Phase der Eurosklerose bis 1990 auf Werte von unter 5 Prozent. Mit der Supranationalisierungsphase steigen sie wieder gegen 10 Prozent an. Damit ist der Verlauf der deutschen Europaberichterstattung praktisch identisch mit jenem für die Schweizer Öffentlichkeit. Auch Wessler et al. (2008) erhalten die tiefsten Werte von etwa 2 Prozent in der Phase der Eurosklerose. Danach steigt der Europäisierungsgrad in der Supranationalisierungsphase ebenfalls wieder deutlich an und erreicht 2003 einen Level von knapp 10 Prozent. Eine zur Europäisierung der österreichischen Öffentlichkeit durchgeführte Studie, die einen Zeitraum zwischen 1995 und 2004 untersucht, kommt auf einen durchschnittlichen Europäisierungsgrad von 7.6 Prozent, wobei EU-Politik im Verlauf 127 der Zeit zunehmend mehr Resonanz erzielt (Saurwein et al., 2006). Mit Bezug auf die leitende Fragestellung ist ein erstes Zwischenfazit zu ziehen. Die Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit vollzieht sich nicht linear zum Integrationsprozess in dem Sinn, dass mehr EU-Kompetenz automatisch auch mehr Berichterstattung über die EU zur Folge hätte. Stattdessen ist sie als ein diskontinuierliches Phänomen zu bezeichnen. Es sind einzelne Phasen erkennbar, in denen sich die öffentliche Kommunikation der Schweiz stärker europäisiert: um die 1950er-Jahre in der Gründungsphase, zu Beginn und am Ende der Konsolidierungsphase, dann seit den 1990er-Jahren. Man könnte allerdings geneigt sein zu argumentieren, dass diese diskontinuierlich auftretenden Befunde 126
Während diese Studie einen durchschnittlichen Europäisierungswert von 6.4 für die Schweizer Öffentlichkeit ermittelt, kommt Gerhards für die deutsche Öffentlichkeit auf 6.9 Prozent. Während der Europäisierungsgrad zu Beginn der Erhebung 1994 bloss 2.6 Prozent beträgt, beläuft er sich, nach einem zwischenzeitlichen Hoch von 12.6 Prozent im Jahr 2000 („Haider-Debatte“), 2004 auf 9.9 Prozent (vgl. Saurwein et al. 2006, 77).
127
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die Integrationshypothese bestätigen: In Phasen, in denen die Integrationsbemühungen wie zu Beginn und dann wieder seit Maastricht gross sind, ist auch die Berichterstattung stärker europäisiert als in Phasen, die eher durch eine Integrationskrise geprägt sind. Bei genauerem Hinsehen gilt es jedoch zu differenzieren. Es ist richtig, dass sich die Schweizer Öffentlichkeit immer dann besonders stark europäisiert, wenn die EU weitere Integrationsschritte plant oder vollzieht. Aber die Varianz der Europäisierung ist nicht nur beträchtlich, sondern auch Auslandund Inlandberichterstattung durchlaufen ganz unterschiedliche Entwicklungen. Während die Europäisierung der Inlandberichterstattung anfänglich praktisch inexistent war, zwischenzeitlich auf 7 Prozent Inlandanteil angestiegen ist, danach wieder absackte und am Schluss 11 Prozent der Inlandberichterstattung ausmacht, verläuft die Europäisierung der Auslandberichterstattung genau umgekehrt: Obwohl die EU am Schluss über sehr hohe Entscheidungskompetenzen verfügt, wird sie drei Mal weniger häufig beachtet als während der Gründungsphase. Warum? Auf dem Hintergrund der zeithistorischen Relevanzstrukturen im sozialen Wandel wird nachfolgend nach einer Erklärung und Plausibilisierung für dieses Europäisierungsmuster gesucht. 5.2.2 Die Europaberichterstattung im Kontext des EU-Integrationsprozesses Gründungsphase Die Gründungsphase, die 1946 mit der besagten Zürcher Rede Churchills beginnt, in der dieser die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ als grosse Friedensvision skizziert, ist geprägt von einer Reihe von Kommunikationsereignissen, die verschiedene supranationale bzw. internationale Zusammenschlüsse auf europäischer Ebene zum Gegenstand haben: So die Diskussion über ein Europaparlament 1947, die Gründung der OECD 1948, die Gründung des Europarats 1949, die Gründung der Europäischen Zahlungsunion 1950, die Gründung einer Montanunion 1951 sowie die Gründung der Europäischen Wirtschaftsge128 meinschaft EWG 1957 auf der Basis der Römer Verträge. Wir finden hier also eine starke Korrelation zwischen der politischen Agenda der Schaffung von europäischen Institutionen und der medialen Aufmerksamkeit für diesen europäischen Integrationsprozess. All diese Ereignisse zusammen finden aber nicht annähernd soviel Resonanz wie die über mehrere Jahre andauernde Diskussion über die Verteidigung Westeuropas bzw. die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG / WEU, die dann trotz Befürwor128
Im Anhang findet sich unter A1.3 eine Liste aller vertikalen, transnational-europäisierten und transatlantisch-europäisierten Kommunikationsereignisse.
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tung der in der Montanunion vereinigten europäischen Staatsminister 1954 vom französischen Parlament abgelehnt wird. Zählt man die Kommunikationsereignisse zur NATO und die Frage der Integration Deutschlands in die NATO dazu, erreicht die schweizerische Berichterstattung über die Verteidigung Westeuropas in der Zeit von 1947 bis 1955 einen durchschnittlichen Berichterstattungsanteil von mehr als 10 Prozent pro Jahr.129 Wie ist dieser hohe Anteil der Europäisierung zu erklären?
Abbildung 10: Ereignisse und Debatten im europäischen Integrationsprozess Lesehilfe: Die Säulen unterscheiden farblich die unterschiedlichen Europäisierungsformen nach Ausland- (blau) und Inlandberichterstattung (rot) und bilden die prozentualen Anteile an der Gesamtberichterstattung ab.
Mit Blick auf die Medienberichterstattung des katholisch-konservativen Vaterlands, der liberalen NZZ, der sozialdemokratischen Tagwacht und der Forumszeitung Tages-Anzeiger stellt man für die Gründungszeit der europäischen Integ129
Die Kommunikationsereignisse zur Gründung der NATO, der Marshall-Plan sowie die Integration Deutschlands in die NATO wurden nicht als „vertikal europäisiert“, sondern als „transatlantisch europäisiert“ codiert.
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ration nach dem Zweiten Weltkrieg fest, dass die Schweizer Öffentlichkeit zwischen 1946 und 1952 geradezu dämonisch von einer sowjetkommunistischen Bedrohungsperzeption durchsetzt ist. Entlang von zahlreichen Kommunikationsereignissen, die den aufkommenden Ost-West-Gegensatz thematisieren,130 verdinglichen sich Antikommunismus und sowjetische Perhorreszierung zu einer wirklichkeitsstrukturierenden Perzeption, die innenpolitisch zur „Wiedergeburt der geistigen Landesverteidigung“ (Imhof 1996f) und zur Konstruktion jener Volksgemeinschaft führt, die in der Widerstandsmythologie des Schweizer Sonderfallverständnisses131 als „Willens- und Schicksalsgemeinschaft“ gründet. In diesem Wahrnehmungsklima einer durch die Sowjetunion potenziell bedrohten Schweiz erlangen nun nicht nur Debatten über die Schweizer Verteidigungspolitik grosse Bedeutung, für die Schweiz wird überhaupt die Verteidigung Westeuropas zu einem zentralen Gegenstand der öffentlichen Kommunikation. Sämtliche europäischen oder transatlantisch-europäischen Debatten dieser Zeit – über den Marshall-Plan, die Gründung der OEEC (OECD), des Europarats, der Montanunion, der NATO, dann vor allem der gescheiterte Versuch der Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) – waren durch die Semantik eines durch den Osten bedrohten Westen getrieben. Es ist diese mit Händen zu greifende Bedrohungsperzeption, welche die Aufmerksamkeit von Schweizer Medien auf europäische Vorgänge der Verteidigung Westeuropas zugewendet hat. Und es ist der während dieser Episode der „Wiedergeburt der geistigen Landesverteidigung“ wiederbelebte Diskurs über den Sonderfall Schweiz, der eine Partizipation der Schweiz am europäischen Integrationsprozess nicht einmal ansatzweise als Option der Aussenpolitik zur Disposition gestellt hat. Man hat als „schizophrene Identität“ (Romano 1999, 61) bezeichnet, dass die Schweiz jede Aufrüstung des Westens flammend begrüsst hat, während sie gleichzeitig die Unhinterfragbarkeit ihres historisch-mythisch verankerten und neutralitätspolitisch aufgeladenen Sonderfallverständnisses zelebriert. Diese Schizophrenität erklärt, weshalb sich die Inlandberichterstattung während dieser Zeit in keiner Weise europäisiert, während die Auslandberichterstattung den grössten Grad der vertikalen Europäisierung überhaupt aufweist. Die Gründungsphase endet vergleichsweise nüchtern mit der Unterzeichnung der Römer Verträge und der dadurch erfolgten Gründung der Europäischen Wirt130
Debatten über die Ost-Westspannungen im Zusammenhang mit der Friedenssicherung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (1946), die „Gleichschaltung“ in Osteuropa (1947), über den Umsturz in der Tschechoslowakei (1948), die Kirchenverfolgungen im Osten, die Berlin-Krise (1948/49), die atomare Bewaffnung der Sowjetunion und über den Koreakrieg (1950-1952). 131 Kernelemente dieses Sonderfallverständnisses bilden die immerwährende bewaffnete Neutralität, der Föderalismus, die direkte Demokratie, die Freiheit, kurz: ein in der Bauern- und Widerstandsmythologie gründender Wille zur Unabhängigkeit (vgl. auch Imhof 2007).
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schaftsgemeinschaft (EWG) 1957. Obwohl dieses Ereignis aus integrationspolitischer Sicht der EU von historischer Relevanz ist, erhält es indes nicht mehr annähernd so viel Resonanz wie die verteidigungs- und sicherheitspolitischen Debatten zuvor. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG 1957 erscheint letztlich als logischer Schritt eines aus militärischer Bedrohung resultierenden europäischen Zusammenrückens der in der Montanunion vereinten Staaten, die angesichts der aus der Schweizer Sicht wahrgenommenen Bedrohungslage das Richtige tun, ohne dass die Schweiz einen Anlass hätte, ihre Position zum europäischen Integrationsprozess hinterfragen zu müssen. Konsolidierungsphase Die zweite Phase setzt unmittelbar nach der Gründung der EWG mit der Debatte über die Errichtung einer grossen Freihandelszone der damaligen OECD-Staaten ein und ist bis Ende der 1960er-Jahre geprägt von der Perzeption einer wirtschaftlichen Spaltung Westeuropas in die zwei europäischen Blöcke EWG und EFTA und einer wirtschaftspolitischen Isolationsfurcht der Schweiz. Nachdem 1958 die Errichtung einer grossen Freihandelszone Europas zwischen damaligen OECD-Staaten am Widerstand Frankreichs erstmals scheiterte, stehen 1959 die Gründung der EFTA und 1960 die Bemühungen der EWG zur verstärkten wirtschaftspolitischen Integration im Vordergrund. Doch diese europäischen Integrationsbemühungen werden durch die schroffe Zurückweisung des britischen Beitrittsgesuchs zur EWG 1963 durch Frankreich ein weiteres Mal enttäuscht. Die in den Schweizer Medien als „europäische Integrationskrise“ bezeichnete Situation spitzt sich 1966 mit dem Austritt des Gründungsmitglieds Frankreich aus der NATO in Form einer „Politik des leeren Stuhls“ im europäischen Ministerrat gar noch zu. Erst der Rücktritt des französischen Ministers de Gaulle 1970 ebnet den Weg für eine Erweiterungsrunde der EWG durch Grossbritannien, Irland 132 und Dänemark, womit die Perspektive der Integrationskrise einer kurzzeitigen Aufbruchsstimmung weicht (1971-72), ehe der europäische Integrationsprozess in der ausbrechenden Weltwirtschaftskrise an einer Eurosklerose erkrankt. Abbildung 10 zeigt, dass sich zu Beginn dieser Phase zum ersten Mal überhaupt die Inlandberichterstattung europäisiert, was als Indiz für eine schweizerische Europadebatte zu werten ist. Das Scheitern einer auf zwischenstaatlichen Zollliberalisierungsverträgen basierenden grossen Freihandelszone und die Gefahr eines durch die Integrationsbemühungen der EWG-Länder plus Grossbritannien induzierten Bedeutungsverlusts der 1959 aus der Taufe gehobenen kleinen Freihandelszone EFTA lassen den leitmedialen Konsens in der Europafrage 132
Auch Norwegen gehörte zu den Kandidaten der Norderweiterung von 1972. Das norwegische Volk lehnte einen Beitritt jedoch an der Urne ab.
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zum ersten Mal erodieren, was die Schweiz unerwartet vor erhebliche Entscheidungsprobleme stellt. Mit der Zielsetzung der EWG, „über die wirtschaftliche Integration zu einer politischen Föderation zu gelangen“, so das Verdikt einer erheblich verunsicherten Neuen Zürcher Zeitung im Jahr 1960, „haben die europäischen Integrationsbestrebungen jedoch eine Richtung eingeschlagen, die uns erstmals seit langem wieder vor grundsätzliche Fragen unserer Aussenpolitik, der eigenstaatlichen Souveränität, der politischen Lebensform und der staatlichen Struktur stellt und ein blosses ‚Stillsitzen‘ unmöglich macht“ (NZZ, 3.2.1960). Für den Tages-Anzeiger steht die Schweiz gar vor der „schwersten Entscheidung seit Marignano“ (Tages-Anzeiger, 28.6.1962). Die Suche nach der für die Schweiz richtigen Europapolitik mündet 1961 in ein Assoziierungsgesuch133 und 1962 zu ersten exploratorischen Gesprächen zwischen der Schweiz und der EWG. Die ablehnende Haltung de Gaulles 1963 gegenüber der Integration Grossbritanniens in die EWG hat sowohl zum Abbruch der schweizerischen Integrationsbemühungen und zum abrupten Erlischen der schweizerischen Europadebatte wie auch zu einem vorübergehenden integrationspolitischen Stillstand auf der Ebene der EWG geführt. Aber bereits 1970 sieht man sich wieder an einem „kritischen Wendepunkt“; gemäss dem Tages-Anzeiger gar am „kritischsten, an dem wir jemals standen“ (TA, 2.5.1970). Die Schweiz könne nicht mehr wählen zwischen Unabhängigkeit und Anschluss, sondern „nur noch zwischen freiwilligen oder weniger freiwilligen Formen des Anschlusses“ (Tages-Anzeiger, 26.9.1970). Während sich auf europäischer Ebene eine Erweiterungsrunde durch die drei EFTAStaaten Grossbritannien, Irland und Dänemark abzuzeichnen beginnt, versperren Neutralität, Föderalismus, direkte Demokratie und das Souveränitätsverständnis der Schweiz einen Vollbeitritt zur EWG. Stattdessen drängen vor allem Wirtschaftskreise auf den Abschluss eines umfassenden Freihandelsabkommens, das Ende 1972 vom Schweizer Volk mit deutlicher Mehrheit angenommen wird. Damit endet die zweite Phase des europäischen Integrationsprozesses und die Europäische Union erkrankt an einer Eurosklerose. Was ist passiert? Phase der Eurosklerose Es liegt in der Logik der hier entfalteten Argumentationsweise, dass die Abwesenheit der EU bzw. des europäischen Integrationsprozesses im öffentlichen Diskurs nicht mit einem stagnierenden Integrationsprozess auf der institutionellen Ebene erklärt werden kann. Obschon der Begriff der „Eurosklerose“ im Kern 133
Gemäss NZZ handelt es sich um „eine Assoziierungskonzeption, die das ehrliche Bestreben unseres Landes zur möglichst weitgehenden wirtschaftlichen Teilnahme am grossen europäischen Markt ebenso erkennen lässt wie die unverrückbaren Grenzen, die uns aus politischen Gründen für unsere Integrationsfähigkeit gesteckt sind.“ (NZZ, 25.9.1962)
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auf eine Abwendung der EWG-Staaten von den bereits geschaffenen Gemeinsamkeiten insbesondere auf den Feldern Warenverkehr und der Agrarwirtschaft hin zu Protektionismus und Subventionswirtschaft als Reaktion nationalstaatlicher Krisenlösungen verweist (Giersch 1985), hätte man ja durchaus auch ein öffentliches Beklagen über solchen Protektionismus erwarten können. Stattdessen sind die Gründe einer ausbleibenden Europadebatte wiederum in zeithistorischen Relevanzstrukturen zu suchen, die in den 1970er-Jahren fundamental umschlagen, deren Veränderung sich aber bereits in den 1960er-Jahren abzuzeichnen beginnt. Dieses Umschlagen lässt sich am deutlichsten an zwei tektonischen Verschiebungen in den Relevanzstrukturen belegen: Zum einen verliert die Semantik des Kalten Kriegs an Rigidität, zum anderen erodieren die Überzeugungen und Gewissheiten, die seit etwa 1948 die westlichen Gesellschaften im Rahmen des sozialmarktwirtschaftlichen Gesellschaftsmodells zentriert haben, in der Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre und verlieren ihre Gültigkeit. Die noch in der Hochphase des Kalten Kriegs bis 1963 dominierende Bedrohungsperzeption bleibt zwar als Ost-West-Gegensatz in zahlreichen Diskursen weiter erhalten, sie hat aber seit der Kuba-Krise 1962, dem Bruderkonflikt zwischen Moskau und Peking 1963/64 und dann mit dem Einmarsch der USA in Vietnam 1964/65 deutlich an Rigidität verloren. Die Aufmerksamkeit strukturierende Bedrohungsperzeption verliert zudem auch an argumentativer Plausibilität, wenn sich die verfeindeten Systemmächte über eine atomare Abrüstung verständigen (1967/68), wenn das grösste Nachbarland der Schweiz seine Ostpolitik neu freundschaftlich definiert (1966-1972) und wenn Europa im Rahmen der KSZE seinen Ost-West-Gegensatz zu überwinden beginnt (seit 1972). Mit der Erosion der sowjetkommunistischen Bedrohungsperzeption verliert das sozialmarktwirtschaftliche Gesellschaftsmodell seinen integrationspolitischen Kitt und Zweifel, gar Kritik an der bestehenden Ordnung wird resonanzfähig. 134 Was sich in der Schweiz als „Helvetisches Malaise“ Ausdruck verschafft – ein „Unbehagen“ und eine „Skepsis gegenüber der politischen Führung“, eine „Krise der Institutionen“, ein „Ungenügen der Regierungsgewalt“, eine „Entfremdung zwischen dem Volk und seinen Institutionen“, eine „Aufwertung der extrakonstitutionellen Instanzen“ gegenüber einer „Abwertung der Parteien und Parlamen134
Der Begriff geht auf das gleichnamige Buch von Max Imboden aus dem Jahr 1964 zurück und bezeichnet in der NZZ ein Kommunikationsereignis aus dem Jahr 1967, zu dem die NZZ insbesondere die Gegensätze und Entfremdung zwischen der Deutschschweiz und der Romandie, den „Juraseperatismus“, die „Überfremdungsangst“, die Kämpfe der Linksintellektuellen gegen die „Reaktionären“, den Streit um die „Neutralität“ im Zusammenhang mit dem ungeklärten Verhältnis der Schweiz zur „EWG“ und zu den „Vereinten Nationen“, den „Gesinnungsterror und die Gesinnungsschnüffelei“, das Misstrauen zwischen Volk und Behörden und die Diskussionen um das „Frauenstimmrecht“ (vgl. Imhof 1999, 35).
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te“, kurz: eine „politische Entfremdung“135 –, äussert sich ähnlich auch im nahen Ausland (Frankreich und Deutschland) und in den USA in Formen von Protesten und Studentenrevolten.136 Mit der sich nach zwei Jahrzehnten raschen Wachstums deutlich abkühlenden Konjunktur, was infolge des Erdölschocks sowie dem Zusammenbruch von Bretton Woods 1973 in eine Weltwirtschaftskrise umschlägt, verstetigt und intensiviert sich die Kritik in der Schweiz von links wie von rechts: Überfremdungsinitiativen von rechter Seite (1970, 1974), Volksinitiativen zur Verstaatlichung internationaler Konzerne durch die Linke (1973-1976) sowie eine ausgeprägt konfliktreiche innenpolitische Auseinandersetzung über die Neugestaltung der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ordnung prägen die 1970erJahre.137 Erst mit dem Durchbruch eines als neoliberal bezeichneten Politikverständnisses in Grossbritannien und den USA 1979/80 (Tobler / Alder 2005) erhält das Projekt der europäischen Integration einen neuen Orientierungsrahmen. Aber dieser Erneuerungsprozess wird erst in der nächsten Phase medial sichtbar werden. Noch ist die Schweiz vor allem mit sich selbst beschäftigt. Der ausgangs der 1970er-Jahre eingeschlagene Pfad zur Krisenüberwindung gleicht viel mehr einer konservativen Restabilisierung (Siegenthaler 1987), die sich, um die 1980er-Jahre, erneut in eine Krise entlädt, wie die ausserordentlich polarisierenden Parlamentswahlen (1979, 1983), die Zürcher Unruhen (1980/81), die Wirtschaftskrisendebatte (1983) und die Debatte über den Austritt der Sozialdemokratischen Partei aus dem Bundesrat (1984) belegen. Lediglich der 1976 erschienene Tindemann-Bericht über die Integrationskrise, die ersten europäischen Parlamentswahlen 1979 sowie die Süderweiterung durch Spanien und Portugal 1985 fallen vereinzelt unter die zwanzig grössten Kommunikationsereignisse dieser Zeit. Supranationalisierungsphase Ironischerweise ist es ein französischer Neoliberaler, der die Europäische Union aus der Eurosklerose hinaus wieder zu revitalisieren versteht. Unter der Herr135
Begriff aus NZZ, 10.3.1967, vgl. Imhof 1999, 36. Zu erwähnen sind etwa die Studentenrevolten in Frankreich und Deutschland sowie die Proteste gegen die USA im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg als Keimzellen der 68er-Bewegung. 137 In diese Krisenzeit fällt auch die Geburt der postmaterialistischen Themen der Energie- und Umweltpolitik, die später in der Atom- (1975-1984), der Waldsterbens- (1984/85) sowie der Tschernobyldebatte (1985/86) ihre vorläufigen Höhepunkte erleben werden. Wie Abbildung 5 zeigt, verlagert sich – mit der Erosion der sowjetkommunistischen Bedrohungsperzeption am Ende der 1960er-Jahre und dem Zusammenbruch des sozialmarktwirtschaftlichen Gesellschaftsmodells in der Krisenzeit der 1970er-Jahre – die mediale Aufmerksamkeit stärker auf Vorgänge in der Schweiz. 136
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schaft von Jacques Delors wird mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1987138 die Grundlage für die Vollendung des Binnenmarkts und der europäischen Währungsunion gelegt. Die hier als Supranationalisierungsphase bezeichnete Periode von 1987 bis 2006 zeichnet sich souveränitätspolitisch durch eine enorme Kompetenzverlagerung von den Nationalstaaten auf die supranationale Ebene aus. Allerdings zeigen die erfassten Kommunikationsereignisse, dass die zukunftsweisenden institutionellen Errungenschaften zu Beginn dieser Phase, insbesondere der Vertrag von Maastricht 1992139, gemessen an der politischen Bedeutung relativ wenig Resonanz erzeugt haben. Die Aufmerksamkeit der Schweizer Öffentlichkeit für die europäische Integration auf europäischer Ebene steigt erst danach an: Kontinuierlich wird über die Errichtung der Währungsunion (19951999), die Osterweiterung (1997-2004) sowie über den institutionellen Reformprozess berichtet, der 2005 in die Verwerfungen von Frankreich und den Niederlanden mündet. Am meisten Aufmerksamkeit erhält aus Schweizer Sicht jedoch die „Haider-Debatte“ im Jahr 2000, als die vierzehn Mitgliedstaaten Österreich wegen der Aufnahme des umstrittenen Rechtspopulisten Jörg Haider in die Regierung Österreichs unter politische Quarantäne setzen. Aber gemessen an der vertikalen Europäisierung der Auslandberichterstattung zu Zeiten der Gründungsphase liegen die Werte der jüngsten Zeit rund dreimal tiefer, obwohl die EU noch nie über mehr Kompetenzen verfügt hat. Dafür erhalten paneuropäische Debatten, die nicht unmittelbar den Geltungsbereich der Europäischen Union, sondern den europäischen Raum überhaupt betreffen, vermehrt Resonanz. Diese Entwicklung, die sich bereits während der Phase der Eurosklerose abzuzeichnen beginnt, indiziert einen neuen Typ von europäischen oder europäisierten Debatten. Zu diesem Typ zählen etwa paneuropäische Gesundheitsthemen wie der „Rinderwahnsinn“ 1996, die „BSEKrise“ 2000/01 oder die „Maul- und Klauenseuche“ 2001. Als eine gesamteuropäische Angelegenheit diskutiert werden auch die „Flucht des Kurdenführers Öcalans und dessen Verhaftung“, die europaweit zu massiven Protesten geführt hat (1999). Von einem vergleichbaren Muster sind die „Auslieferung und der Prozess gegen Miloševiü“ (2001) oder die europaweite Diskussion über die in einer dänischen Zeitung publizierten religionskritischen „Mohammed-Karika138
Mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) wird der europäische Binnenmarkt als einen Raum ohne Binnengrenzen definiert, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. 139 Der Vertrag über die Europäische Union wurde am 7. Februar 1992 im niederländischen Maastricht vom Europäischen Rat unterzeichnet und stellt die bis dahin grösste Änderung der Verträge seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften dar. Mit diesem Vertragswerk wurde die Europäische Union (EU) als übergeordneter Verbund für die Europäischen Gemeinschaften, die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gegründet. Er tritt am 1. November 1993 in Kraft.
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
turen“ (2006). Aus solchen paneuropäisch-transnationalen Kommunikationsereignissen kann man ablesen, dass sich Europa in gewissen Fragen der Moral und Gerechtigkeit als gemeinsamen Kulturraum zu begreifen beginnt. Schliesslich findet auch die Konjunkturentwicklung in der Eurozone zunehmend Resonanz, was ein Indiz dafür darstellt, dass der europäische Währungs- und Wirtschaftsraum zunehmend als eine Einheit wahrgenommen wird. Es ist indes die zunehmende Europäisierung der Inlandberichterstattung, welche eine Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit in dieser Zeit vor allem auszeichnet. Der Europäisierungsgrad ist gegenüber der europapolitisch aktiven Periode 1958-1972, als die Schweiz 1959 der EFTA beigetreten ist, sich um eine Assoziierung mit der EWG bemüht und schliesslich 1972 ein Freihandelsabkommen mit der EG abgeschlossen hat, fast doppelt so hoch. Er ist zehn Mal höher als während der Gründungsphase und gar über hundert Mal höher als während der Phase der Eurosklerose. Dreh- und Angelpunkt der neusten Zeit ist die Frage, wie die Schweiz ihr Verhältnis zur Europäischen Union regeln will, nachdem der Kalte Krieg überwunden ist und die EU weitreichende Integrations140 schritte vollzogen hat. Herausragendes Kommunikationsereignis dieser Zeit ist die „Debatte über den EWR-Beitritt der Schweiz“, der 1992 nur ganz knapp vom Schweizer Volk abgelehnt wird, obwohl eine überwiegende Mehrheit der Schweizer Medien, Politik und Wirtschaft für einen Beitritt votiert hat (Saxer 2006).141 Diese Debatte bildet im gesamten Untersuchungszeitraum überhaupt das grösste Kommunikationsereignis mit einem Anteil von 28.3 Prozent an der Berichterstattung der zwanzig grössten Kommunikationsereignisse im Jahr 1992 und steht rückblickend, wie der Tages-Anzeiger richtig erkannt hat, „am Anfang des Anfangs einer Europadiskussion“ (TA, 27.8.1992). Seither ist das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU bestimmt durch einen Bilateralismus in Gestalt sektorieller Vertragsabschlüsse. Wie lässt sich erklären, dass die Auseinandersetzungen um einen Beitritt der Schweiz zum EWR und seither die Debatten über das Verhältnis zur Europäischen Union im Vergleich zu früheren Phasen anfangs der 1960er- und 1970erJahren derart grosse mediale Aufmerksamkeit erfahren haben? In den Europadebatten der 1960er- und frühen 1970er-Jahre hat die Schweiz mit internationalen bzw. bilateralen Handelsverträgen auf Integrationsschritte der EU reagiert, weil ein integraler Beitritt in die EU wegen des Schweizer Sonderfallverständnisses 140
Das zeigt sich an zahlreichen Verhandlungen (EWR: 1989-91, Bilaterale I: 1993-1999, Bilaterale II: 2001-05), Abstimmungen (EWR: 1992, Bilaterale I: 2000, Ja zu Europa: 2001, Schengen / Dublin 2005, Erweiterung Personenfreizügigkeit 2005, Kohäsionsmilliarde 2006) sowie reflexiven Debatten über die ‚richtige‘ Europapolitik. 141 Die Vorlage wurde mit 50.3 Prozent Nein-Stimmen bei einer sehr hohen Stimmbeteiligung von 78.74 Prozent abgelehnt.
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nicht möglich gewesen ist. Dieses Muster der Reaktion der Schweiz auf Integrationsschritte der EU verliert seine Gültigkeit auch dieses Mal nicht. Im Prinzip sind die EWR-Verhandlungen nichts anderes als eine Antwort der Schweiz auf die hinsichtlich des Vertrags von Maastricht angestrebten Integrationsschritte der EU. Was sich aber gegenüber den früheren Europadebatten verändert hat, ist die geopolitische Grundkonstellation, die bisher die Europadebatten in der Schweiz geframt haben. Was in der Umbruchperiode 1989/90 weltweit als Sieg für die Freiheit und mit Blick auf den fast 45 Jahre dauernden Kalten Krieg als „Ende der Geschichte“ gefeiert wird, bedeutet für die Schweiz einen gewaltigen Orientierungsverlust und der Beginn einer Suche nach der passenden Rolle in einer sich verändernden Welt und einem weiter zusammenrückenden Europa. Das Ende des Kalten Kriegs fällt denn auch in der Schweiz zeitlich zusammen mit einer fundamentalen Identitätskrise, was sich exemplarisch an einer Reihe von Kommunikationsereignissen zeigen lässt, die allesamt das Sonderfallverständnis 142 bemühen. Während Intellektuelle sowie führende Politiker aus der Deutschschweiz und mehr oder weniger die geschlossene Elite der Romandie aus dem „Gefängnis Schweiz“, wie Dürrenmatt die Schweiz anlässlich eines Besuchs des tschechischen Präsidenten Havel 1990 bezeichnet hat, auszubrechen und sich Europa zuzuwenden versuchen, beschwören rechtskonservative Kreise das alte Schweizer Sonderfallverständnis und feiern 1989 im Jahr des Mauerfalls das 50jährige Jubiläum der Generalmobilmachung der Schweiz! In diese Phase einer verunsicherten und zweigeteilten Schweiz fällt die ausserordentlich polarisierende und mobilisierende Debatte über den EWR (Longchamps 1993). Damit schlägt die Stunde des nationalkonservativen Oppositionspolitikers Christoph Blocher, der es im Verbund mit der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) versteht, eine grosse Mehrheit der verunsicherten Deutschschweiz hinter seine Anti-EWR / EG-Kampagne zu versammeln. Indem Blocher dem Sonderfall Schweiz einer „freiheitlichen Bürgergesellschaft mit dem Willen zur Eigenverantwortung“ eine zentralistische und bürokratische EU gegenüberstellt, wird das vormalige sowjetkommunistische Schreckgespenst substituiert durch ein europäisches Bürokratiemonster, das der Schweiz ihre Freiheit, Unabhängigkeit und 143 ihr Vermögen rauben will. Der Dämon, der noch wenige Jahre zuvor vom Kreml aus die Welt zu verknechten versucht hatte, treibt nun sein Unwesen von 142
Zu nennen ist etwa der unfreiwillige Rücktritt der FDP-Bundesrätin Kopp 1989, die Armeeabschaffungsinitiative und die Diamant-Feiern 1989, der Fichenskandal 1990 und die von intellektuellen Kreisen boykottierte 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft 1991. Vgl. auch Liehr, Dorothee in der WOZ, 19.11.2009, „Etwas mehr Fragemut in diesem bangen Land“. 143 Dieses historische Weltdeutungsparadigma lässt sich in der zeitgenössisch-international benutzten Anti-EU-Formel bzw. -Parole „EUdSSR“ plastisch fassen.
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Brüssel aus, weshalb die nationalkonservative Rechte den EWR-Vertrag schlichtweg als einen „Kolonialvertrag“144 desavouiert. Die Abstimmung über den EWR hinterlässt einen innenpolitischen Scherbenhaufen. Auf der Verliererseite stehen Bundesrat, Parlament, Kantonsregierungen, Parteien, Gewerkschaften und ein Grossteil der Wirtschaft und Medien, die noch nie eine so schwere Niederlage erlitten haben. Aber verloren hat auch die Romandie, die mit Anteilen von teileweise 80 Prozent Ja-Stimmen von einer mit Ausnahme der beiden Basel geschlossenen Deutschschweiz überstimmt wird. Was man seither in der Schweiz beobachten kann, sind recht eindrückliche Verschiebungen der politischen Gewichte einerseits und eine Annäherung der Landesteile sowie der relevanten politischen Kräfte in der Europapolitik. Innerhalb weniger Jahre verdoppelt die SVP ihren Wähleranteil und wird zur europapolitisch definitionsmächtigsten Partei. Sie diktiert Bundesrat und Parlament den bilateralen Weg, also das Aushandeln von sektoriellen, im Interesse einer integrationspolitisch unwilligen Schweiz liegenden Verträgen mit der EU – ein Weg notabene, der seither von derselben Partei bei jeder Gelegenheit an der Urne wieder bekämpft wird.145 Was zudem besonders erstaunt ist die Annäherung der Romandie an das verbrämte Europabild der rechtskonservativen Kräfte der Deutschschweiz146 und deren Abkehr vom EU-Beitritt als Zielsetzung der Schweizer Europapolitik. Wie Roger Müller und Nicola Ruffo (2007) in ihrer Lizentiatsarbeit aufgezeigt haben, steigt die nationale Kohäsion zwischen den Landesteilen in dem Mass, wie die EU als Bedrohung für den Finanzplatz Schweiz und das Schweizer Bankgeheimnis wahrgenommen wird und Europa dadurch als Spaltkraft zwischen den Landesteilen an Bedeutung zu verlieren beginnt. In der Folge findet die Romandie zu einem positiveren Schweizbild, während die EU negativer und insbesondere als „schlechter Hegemon“ mit „unwirschem Gebaren“ im Umgang mit Klein- und Drittstaaten wahrgenommen und kritisiert wird, was mitunter auch an der Kommentierung der etwa zeitgleich stattfindenden „Haider-Debatte“ ablesbar ist.
144
Vergleiche etwa das Interview Blochers in der Mythen Post im September 1992. Zum Sonderfallverständnis Blochers vergleiche seine Rede anlässlich einer Albisgüetli-Tagung im Jahr 2000 unter dem Titel „Den Sonderfall Schweiz begreifen. Gedanken zum Geheimnis eines erstaunlichen Erfolgs“. Ebenso seine Bilanz „Zehn Jahre nach den Nein zum EWR-Vertrag. Eine Standortbestimmung mit Ausblick“. 145 Die SVP bekämpfte die Verträge im Rahmen der Bilateralen I (2000), die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die zehn neuen EU-Mitgliedstaaten 2005 sowie auf Bulgarien und Rumänien 2009; sie bezeichnete die Verträge zu den Bilateralen II als „schlechte“ Verträge und lehnte das Abkommen über Schengen / Dublin 2005 ab. 146 Die Analyse der Fremdtypisierung der EU durch Schweizer Akteure im Rahmen der Zinsbesteuerungsdebatte wird diesen Befund bestätigen.
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Bei dieser allmählichen Negativperzeption der EU in der Romandie spielt der Druck auf den Finanzplatz eine zentrale Rolle. Anders als in der Deutschschweiz, wo eine Kritik an Finanzplatz und Bankgeheimnis eine gewisse Tradition hat, verbindet man im calvinistischen Genf mit dem Bankgeheimnis und dem Schutz der Privatsphäre eine „stärkere moralisch-identitäre Komponente“. Diese starke Identifikation der Romandie mit dem Finanzplatz und der Tatsache, dass sich mit dem nationalkonservativen Milieu der Deutschschweiz schon seit Beginn der 1990er-Jahre eine Speerspitze gegen Europa etabliert hat, hat die Anschlussfähigkeit und stärkere Resonanz des traditionalistischen Schweizbilds in der Romandie begünstigt. Parallel einher geht auch eine deutliche Entspannung des seit der EWR-Abstimmung angespannten Verhältnisses der Romandie zur Deutschschweiz (Wegfall „Röstigraben“) sowie ein Vormarsch der SVP in sämtlichen welschen Kantonen ab 1999 und insbesondere 2003. Trotz dieser Annäherung bleibt ein wesentlicher Unterschied in den unterschiedlichen Selbstverständnissen bestehen: Während sich die Romandie als Teil der europäischen Wertegemeinschaft versteht und im föderalen Bundesstaat von 1848 ein leuchtendes Vorbild für Europa sieht, erkennt die Deutschschweiz in der EU (Europa) vorwiegend ein Binnenmarkt, an dem die Schweiz unter Wahrung völkerrechtlicher Verträge profitieren soll, ohne aber ihre Unabhängigkeit und Souveränität preisgeben zu müssen. Fasst man die „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“ der jüngsten Zeit zusammen, dann ist zunächst auf den Umstand hinzuweisen, dass die Schweiz mit dem Wegfall des Ost-West-Dualismus und der darin eingeschriebenen Bedrohungsperzeption in eine fundamentale Orientierungskrise geraten ist, die zu einer Spaltung der schweizerischen Gesellschaft geführt hat. Diese Spaltung kommt u. a. in unterschiedlichen Versionen des Sonderfallverständnisses und darin angelegter europapolitischer Entwicklungspfade zum Ausdruck (vgl. dazu auch Imhof 2007). Im Mass der Überwindung der europapolitischen Gegensätze in der Schweiz durch die Diffusion eines nationalkonservativ aufgeladenen Sonderfallverständnisses wächst die Entfremdung zwischen der Schweiz und der EU, und zwar um so mehr, je stärker die EU als machtpolitisch relevanter und den Sonderfall Schweiz bedrohender Akteur wahrgenommen wird. Da die Schweiz auf die EU als wichtigsten Wirtschaftspartner jedoch angewiesen bleibt, besteht für sie ein permanenter Zwang, politisch auf die Entwicklungen in der EU zu reagieren. Solange das nationalkonservative Sonderfallverständnis die europapolitische Sichtweise bestimmt und einen Beitritt der Schweiz zur EU verunmöglicht, bleibt das Verhältnis der Schweiz zur EU spannungsreich und vor dem Hintergrund der voranschreitenden europäischen Integration äusserst konfliktreich (Tobler / Gisler 2007). Es sind diese Relevanzstrukturen, welche
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
die hohe Aufmerksamkeit für europäische Diskurse in der Schweizer Öffentlichkeit aktuell und in der nächsten Zeit bestimmen werden. 5.3 Politikfeldspezifische Besonderheiten Die bisherigen Ergebnisse haben eine Diskontinuität der medialen Aufmerksamkeit für Europapolitik und die europäische Integration ergeben. Zwar sind Integrationsschritte der EU in der Regel durch eine Phase verstärkter Resonanz begleitet, aber nicht immer gleich stark; und nicht immer ist es bei der blossen Beobachtung und Kommentierung solcher Integrationsschritte im Rahmen der Auslandberichterstattung geblieben. Die Untersuchung hat klar gezeigt, dass es um die 1960er-, anfangs der 70er- und dann seit den 90er-Jahren zu ausgeprägten innenpolitischen Debatten über die schweizerische Europapolitik gekommen ist. Bei all diesen Debatten ist es zentral immer wieder um die Frage gegangen, wie die Schweiz vor dem Hintergrund einer neuen Integrationsstufe der EU ihr Verhältnis zur EU regeln soll. Die Integrationshypothese, wonach mit fortschreitender europäischer Integration die EU mehr Resonanz erzielt (vertikale Europäisierung der Auslandberichterstattung), gilt in dieser pauschalen Art für die Schweizer Öffentlichkeit nicht, gleichwohl die supranationale Ebene in der letzten Phase im Vergleich zur Phase der Eurosklerose wieder deutlich mehr beobachtet wird. Stattdessen erklärt die Konflikthypothese die Varianz der medialen Aufmerksamkeit für „europäische Angelegenheiten“, indem es die in den zeithistorischen Relevanzstrukturen angelegten Bedrohungsperzeptionen sind, welche die mediale Themenselektion und die Deutungsperspektiven steuern. Gleichzeitig hat die EU mit jedem Integrationsschritt mehr Kompetenzen auf immer neuen Politikfeldern erhalten und so stellt sich jetzt die Frage, ob und gegebenenfalls wie sich dieser Kompetenzzuwachs auf die Europaberichterstattung ausgewirkt hat. Im Zusammenhang mit dem Öffentlichkeitsdefizit der EU wurde aus normativen Erwägungen argumentiert, dass wenigstens diejenigen Politikfelder in den Massenmedien der Länder der Europäischen Union sichtbar sein sollten, auf denen die EU über hohe Kompetenzen verfügt. Entsprechend hat man Politikfelder nach dem Grad ihrer Vergemeinschaftung unterschieden und mit deren öffentlicher Beachtung in Beziehung gebracht. Erste Studien belegen einen positiven Zusammenhang zwischen hohem Vergemeinschaftungsgrad und medialer Resonanz (Koopmans / Erbe 2003; Koopmans / Pfetsch 2006; Saurwein et al. 2006; Pfetsch / Adam / Eschner 2008; Wessler et al. 2008). Für die schweizerische Öffentlichkeit macht ein solcher Korrelationszusammenhang unmittelbar wenig Sinn, da die Schweiz kein Mitglied der Europäischen Union ist und in souveränitätspolitischer und völkerrechtlicher Hinsicht EU-Recht nicht
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
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über Schweizer Recht steht. Die Bedeutung der EU liegt für die Schweiz vielleicht sogar in Politikfeldern begründet, die in der EU intergouvernemental geregelt sind und bei denen die einzelnen Mitgliedstaaten über ein Vetorecht verfügen. Ob so oder anders, eine systematische Beobachtung der europäischen Politikebene durch die Schweiz ist infolge der starken wirtschaftlichen Verflechtung der Schweiz mit der EU und den Ländern der Europäischen Union normativ geboten – zumal die Europäische Union gegenüber der Schweiz festhält, dass sich ein Land, das derart stark vom europäischen Binnenmarkt profitiert, auch an die Spielregeln der EU zu halten habe.147 Eine Analyse der Politikfelder soll deshalb Auskunft geben, ob und in welchen Bereichen die Schweiz die EU als relevanten politischen Akteur wahrnimmt. 5.3.1 Europäisierung der Politik- und Themenbereiche Politikfelder oder Policies bezeichnen im Unterschied zur Polity (Institutionen) und Politics (Prozesse) in der Politikwissenschaft sachlich unterscheidbare Themengebiete der Politikgestaltung (Rohe 1993). Politikfelder wie Krankenversicherung, Bildungspolitik, law and order, Fürsorge und Sozialversicherung sowie Steuern (Moravcsik 2002, 615) zählen zu nationalstaatlichen Souveränitätsdomänen, bei denen die europäischen Nationalstaaten bis heute nicht bereit sind, Kompetenzen vollständig oder auch nur teilweise an die EU abzutreten. Bei anderen Politikfeldern wie der Wirtschafts- und Währungspolitik, zunehmend auch im Bereich der inneren Sicherheit und Rechtspolitik, verfügt die EU indes bereits über beträchtliche und zum Teil unteilbare Kompetenzen.148 Indem die erfassten Kommunikationsereignisse entsprechenden Politikfeldern zugeordnet und diese wiederum auf einer höheren Ebene zu Aufmerksamkeitsbereichen aggregiert werden, lässt sich ein thematisch differenziertes Profil politikfeldspe147
Vgl. dazu die Überlegungen des Rats der Europäischen Union, 2008. Die Europäische Union basiert auf drei Säulen der Vergemeinschaftung, denen unterschiedliche Politikfelder zugeordnet sind. Zur ersten Säule der gemeinsamen Politik zählen die Agrarpolitik, die Fischerei, der Binnenmarkt, die Handelspolitik, die Wettbewerbspolitik sowie die Wirtschaftsund Währungspolitik. Diese vergemeinschafteten Politikfelder werden durch flankierende Politikfelder ergänzt, auf denen die EU dann tätig wird, wenn angestrebte Massnahmen besser auf der supranationalen Ebene erreicht werden können. Dazu zählen die Beschäftigungspolitik, Bildungspolitik, Energiepolitik, Entwicklungspolitik, Forschungspolitik, Gesundheitspolitik, IT- / Infogesellschaft, Jugendpolitik, Kulturpolitik, Lebensmittelsicherheit, Medienpolitik, Menschenrechtspolitik, Regionalpolitik, Sozialpolitik, Umweltpolitik, Verbraucherpolitik und Verkehrspolitik. Neben der ersten Säule kennt die EU zwei Säulen der Intergouvernementalität. Es handelt sich um die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (JI). Vgl. dazu http://www.europa-digital.de/dschungelbuch/polfeld/.
148
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
zifischer Aufmerksamkeitsstrukturen gewinnen.149 Abbildung 11 stellt für den Zeitraum von 1945 bis 2006 die durchschnittliche Aufmerksamkeit dieser Bereiche für die Inland- und Auslandberichterstattung dar.
0%
5%
10%
15%
20%
25%
30%
Polity / Wahlen Aussen- und Sicherheitspolitik Wirtschaft Infrastruktur Gesellschaft Innere Sicherheit/ Justiz Finanz- und Steuern Soziales und Gesundheit Ausländer Religion Wissenschaft Medien Kultur/ Unterhaltung Sport
Auslandberichterstattung
Inlandberichterstattung
Abbildung 11: Mediale Resonanz der Politik- und Themenbereiche Lesehilfe: Die Balken bilden die prozentualen Resonanzanteile für die 14 Politik- und Themenbereichen nach Ausland- (weiss) und Inlandberichterstattung (schwarz) ab. Datengrundlage bilden alle 5456 Kommunikationsereignisse.
Mehr als die Hälfte (54 Prozent) des gesamten Berichterstattungsvolumens der jährlich zwanzig grössten Kommunikationsereignisse pro Zeitung entfallen auf 149
Die Politikfeldanalyse orientiert sich an ein von Eilders (2004, 398 ff.) entwickeltes Raster, das sie im Rahmen einer Analyse von Kommentaren deutscher Zeitungen angewandt hat. In der vorliegenden Untersuchung wurden die Kommunikationsereignisse nach einem Katalog von 277 Subpolitikfelder codiert, die in einem nächsten Schritt zu 64 Politikfelder zusammengezogen wurden.149 Da Kommunikationsereignisse auch apolitische Themen zum Gegenstand haben, sind die Politikund Subpolitikfelder um entsprechende Themenfelder erweitert worden. In einem letzten Schritt wurden dann die 64 Politik- und Themenfelder zu 14 Politik- und Themenbereichen aggregiert, die der systemtheoretischen Unterscheidung der Gesellschaft in ihre Teilsysteme entsprechen, wobei der politische Themenbereich wieder in verschiedene Subbereiche aufgeteilt wurde.
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
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die beiden Bereiche der Polity / Wahlen und Aussen- und Sicherheitspolitik, wobei diese beiden Bereiche zusammen knapp 81 Prozent der Auslandberichterstattung gegenüber 29 Prozent der Inlandberichterstattung verbuchen. Wenn die Schweizer Öffentlichkeit im Zeitraum von 1945 bis 2006 im Rahmen ihrer Auslandberichterstattung über die Welt berichtet, dann berichtet sie in erster Linie über Krieg und Frieden, über den Ost-West-Konflikt im Kalten Krieg, über Bürgerkriege und soziale Unruhen, über Krisen und Transformationsprozesse ausländischer Regimes sowie über ausländische Parlaments- und Regierungswahlen. Die restlichen zwanzig Prozent der Auslandberichterstattung entfallen auf die Wirtschaft mit 6 Prozent, wobei hier vor allem Wirtschafts- und Währungskrisen Resonanz erzeugen; dann auf die Gesellschaft mit 4.5 Prozent und den Bereich der inneren Sicherheit und Justiz mit 4 Prozent, wobei hier Terroranschläge am meisten Resonanz erzielt haben. Die verbleibenden neun Aufmerksamkeitsbereiche spielen unter den zwanzig grössten Kommunikationsereignissen praktisch 150 keine Rolle und verbuchen zusammen gerade mal knapp fünf Prozent. Mit Blick auf die Schweiz (Inlandberichterstattung) ist die Aufmerksamkeit für die vierzehn Aufmerksamkeitsbereiche deutlich gleichmässiger verteilt. Rund 20 Prozent entfallen auf den Bereich Polity / Wahlen, wobei hier insbesondere die nationalen Parlaments- und Regierungswahlen (Bundesrat) ins Gewicht fallen. Es folgen die Wirtschaft mit 15 Prozent und der Bereich der Infrastruktur mit 13 Prozent, vor der Aussen- und Sicherheitspolitik mit 9 Prozent und der Gesellschaft, Finanz- und Steuerpolitik, Innere Sicherheit und Justiz mit jeweils rund 8 Prozent. Alle anderen Bereiche liegen unter vier Prozent. Im Unterschied zur Auslandberichterstattung werden die jeweiligen Bereiche aber nicht von einzelnen Politikfeldern dominiert. Im Bereich der Wirtschaft erzielt die Berichterstattung über Konjunkturentwicklungen und Konjunkturpolitik am meisten Resonanz. Im Bereich der Infrastruktur sind es die Verkehrspolitik und die Berichterstattungen über Verkehrsunfälle, im Bereich der Aussen- und Sicherheitspolitik die Verteidigungspolitik und die Europapolitik, welche die Liste anführen. Der Gesellschaftsbereich wird angeführt von Berichterstattungen über nationale Landesausstellungen. Vergleichsweise hohe Beachtung erhalten schliesslich Finanz- und Fiskalpolitik, Gesundheitspolitik, Sozialpolitik sowie die Ausländerund Asylpolitik. Die mediale Aufmerksamkeit für die einzelnen Bereiche ist selbstredend nicht gleichmässig über die Zeit verteilt, sondern unterliegt diskontinuierlichen, den sozialen Wandel aufzeigenden Konjunkturen.
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Es gilt anzumerken, dass die resultateorientierte Sportberichterstattung nicht in die Erhebung einbezogen wurde. Würde die Analyse nicht auf Kommunikationsereignisse, sondern auf die einzelnen Artikel abstellen, der Anteil des Sportbereichs wäre natürlich deutlich höher.
Die Tabelle stellt für jede Phase des europäischen Integrationsprozesses die Resonanzanteile der Politik- und Themenbereiche auf 100 Prozent dar und differenziert dabei nach Aussen- und Inlandberichterstattung (jeweils erste und dritte Spalte). In den zweiten und vierten Spalten ist der Europäisierungsanteil am entsprechenden Politik- und Thematisierungsbereich angegeben.
151
Tabelle 10: Europäisierung der Politik- und Themenbereiche im europäischen Integrationsprozess151
16 0 Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
161
Aus der Fülle der in Tabelle 10 dargestellten Werte lässt sich anhand der Aussen- und Sicherheitspolitik, anhand der Entwicklung der Wirtschaftspolitik und anhand der sprunghaften Zunahme europäisierter Aufmerksamkeitsbereiche in der Supranationalisierungsphase eine Entwicklung herausstellen, die aufzeigt, dass die Bedeutung der EU als geopolitisch relevanter Akteur abnimmt, während umgekehrt deren Relevanz für die Innenpolitik der Schweiz in mehreren Bereichen steigt. Abbildung 12 stellt je für das Ausland und das Inland die Berichterstattung über die Sicherheits-, Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik dar und verbindet diese Resonanzen mit deren Europäisierungsgraden. Betrachtet man die Auslandberichterstattung (12a), wird die These der konfliktinduzierten Aufmerksamkeit nochmals eindrücklich illustriert: Nachdem die Aufmerksamkeit für konfliktreiche Auseinandersetzung mit dem Ausbruch des Kalten Kriegs extrem hoch war, nimmt mit zunehmender Erosion der kommunistischen Bedrohungsperzeption die Relevanz von sicherheitspolitischen Diskursen seit den 1970er-Jahren ab, ehe sie mit der Diffusion einer neuen Bedrohungsperzeption global agierender fundamental-islamistischer Terroristen nach der Jahrtausendwende wieder stark ansteigt. Mit dem Aufkommen der kommunistischen Bedrohungsperzeption und der, ob zu recht oder unrecht, medial diffundierten Furcht vor den russischen Panzerdivisionen und Atombombengeschwadern nach dem Zweiten Weltkrieg wächst in der Schweiz die Sorge eines ausgesetzten und auf sich gestellten Landes. Unter dem Gesichtspunkt dieser Perzeption erwächst sicherheits- und verteidigungspolitischen Bemühungen Westeuropas inklusive der NATO fundamentale Bedeutung. Nicht, dass die EU bzw. deren Vorläuferorganisationen etwa eine geopolitisch relevante Rolle im Sicherheitsbereich gespielt hätten – es war eher das Gegenteil der Fall. Aber genau deshalb wünschte man sich aus Schweizer Sicht ein starkes Verteidigungsbündnis Europas, das dann gleichsam als Schutzschirm über dem neutralen und deshalb beitrittsverhinderten Kleinstaat aufgespannt würde. So beträgt der Europäisierungsanteil an der auf das Ausland bezogenen Berichterstattung über die Sicherheits-, Aussenund Aussenwirtschaftspolitik in der Gründungsphase 32 Prozent. Wie die Abbildung eindrücklich zeigt, nimmt dann mit der Erosion der kommunistischen Bedrohungsperzeption nicht nur die Berichterstattung ab, sondern es fällt auch der Europäisierungsanteil in der Phase der Eurosklerose auf nur noch 6 Prozent. Dieser Anteil vermag sich nicht mehr gross zu steigern, nachdem nach dem Ende des Kalten Kriegs die Bürgerkriege in Exjugoslawien und die US-Kriege gegen den internationalen Terrorismus und den Irak die Aufmerksamkeit auf Konfliktgeschehen wieder stark ansteigen lassen. Aus dieser Entwicklung lässt sich schliessen, dass aus Sicht der Schweiz die EU nicht als relevanter sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen wird.
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Gründungsphase
Konsolidierungsphase
Phase Eurosklerose
Supranationalisierungsphase
40%
30%
20%
10% europäisiert: 17%
europäisiert: 6%
europäisiert: 9%
1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
europäisiert: 32% 0%
Auslandberichterstattung über Aussen- und Sicherheitspolitik ohne Europäisierung Europäisierte Auslanderichterstattung über Aussen- und Sicherheitspolitik
Gründungsphase
Konsolidierungsphase
Phase Eurosklerose
Supranationalisierungsphase
20% europäisiert: 6%
europäisiert: 41%
europäisiert: 0%
europäisiert: 64%
15%
10%
0%
1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
5%
Inlandberichterstattung über Aussen- und Sicherheitspolitik ohne Europäisierung Europäisierte Inlanderichterstattung über Aussen- und Sicherheitspolitik
Abbildung 12: Sicherheits-, Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik europäisiert Lesehilfe: Die Zeitreihen basieren auf Kommunikationsereignissen zur Sicherheits- und Ausseninklusive Aussenwirtschaftspolitik und bilden deren Resonanzanteil an der Gesamtberichterstattung ab. Als europäisiert gezählt wurden alle Kommunikationsereignisse, die vertikal, transnational oder transatlantisch europäisiert sind. Als Folge der Darstellung von über fünf Jahre gemittelter Durchschnitte scheinen für die Inlandberichterstattung in der Phase der Eurosklerose „europäisierte“ Jahre auf. Effektiv beträgt der Europäisierungsgrad aber null. Die Werte sind gleitende Durchschnittswerte, berechnet wie in Abb. 2.
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
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Fast spiegelbildlich verläuft die Europäisierung der Inlandberichterstattung über die schweizerische Sicherheits-, Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik (Abbildung 12b). Der Europäisierungsanteil der Inlandberichterstattung ist in der Gründungsphase der EU mit 6 Prozent bescheiden. Die schweizerische Aussenund Sicherheitspolitik ist stattdessen massgeblich geprägt durch Verhandlungen mit den Siegermächten über das Raubgold im Rahmen des Washingtoner Abkommens und durch innenpolitische Verteidigungs- und Rüstungsdebatten angesichts der kommunistischen Bedrohungsperzeption. Der Europäisierungsgrad steigt erst an, als in der Schweiz nach dem Abschluss der Römer Verträge 1957 immer deutlicher wurde, dass die Schweiz wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten würde, falls sie ihr Verhältnis zur EWG nicht neu regelt. Mit 41 Prozent fällt der Europäisierungsgrad in dieser Phase entsprechend hoch aus. Danach fällt nicht nur die Schweizer Europapolitik in ein schwarzes Loch, sondern es verschwindet die Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik aus der öffentlichen Kommunikation insgesamt. Dies ändert sich mit der Zeitenwende 1989 und dem grossen Integrationsschritt der EU seit Maastricht 1992 ganz deutlich. Man kann es nicht anders ausdrücken: Seither besteht die Schweizer Aussenpolitik in der öffentlichen Kommunikation vor allem aus Europapolitik. So beträgt der Europäisierungsgrad der Aussen- und Sicherheitspolitik in der jüngsten Zeit 64 Prozent. Würde man nur die Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik zählen, käme man gar auf einen Europäisierungsgrad von 96 Prozent! Diese stark gewonnene Bedeutung der EU für die Schweizer Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik zeigt sich ebenfalls in der Berichterstattung über die Wirtschaft. Abbildung 13 bildet die kumulierte Inland- und Auslandberichterstattung über den Wirtschafsbereich ab. Gut sichtbar ist die Zunahme der Wirtschaftsberichterstattung während der Krise in den 1970er-Jahren. Wird die Aussenwirtschaftspolitik aus dem Wirtschaftsbereich ausgeklammert, dann zeigt sich ein relativ geringer Europäisierungsgrad bis etwa Mitte der 1990er-Jahre. Danach steigt nicht nur der Umfang der Wirtschaftsberichterstattung deutlich an, sondern es nimmt auch der Europäisierungsgrad der Wirtschaftsberichterstattung 152 auf immerhin 14 Prozent zu. Dass nun eine Europäisierung vor allem in der zweiten Hälfte der Supranationalisierungsphase zu beobachten ist, kann nur damit erklärt werden, dass die EU im Bereich Wirtschaft für die Schweiz ein 152
Diese Zunahme der Wirtschaftsberichterstattung geht einerseits auf Medialisierungseffekte des „neuen“ Strukturwandel der Öffentlichkeit zurück, als dessen Folge die Wirtschaft vor allem über Unternehmen mit ihren Führungspersönlichkeiten wahrgenommen und skandalisierbar wird (Imhof 2005; Schranz / Vonwil 2006; Schranz 2007; Tobler 2005). Andererseits ist sie Ausdruck der Ökonomisierung der Gesellschaft im Zug der Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung der Wirtschaftspolitik im Rahmen des neoliberalen Gesellschaftsmodells (Eisenegger 2005, 79-86, Schranz 2007; Imhof 2009).
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
relevanter Akteur geworden ist, weil sie in diesem Politikfeld über die grössten Kompetenzen verfügt und weil sie, wie bereits angeführt, der wichtigste Exportraum für die Schweiz darstellt.
Gründungsphase
Konsolidierungsphase
Phase Eurosklerose
Supranationalisierungsphase
25% europäisiert: 1.5%
europäisiert: 5%
europäisiert: 3%
europäisiert: 14%
20%
15%
10%
0%
1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
5%
Nicht europäisierte Wirtschaftsberichterstattung Europäisierte Wirtschaftsberichterstattung
Abbildung 13: Europäisierung der Wirtschaftsberichterstattung Lesehilfe: Die Säulen bilden den Anteil der Wirtschaftsberichterstattung (ohne Aussenwirtschaft) an der Gesamtberichterstattung ab. Als europäisiert gelten Kommunikationsereignisse mit einer vertikalen oder transnationalen Form der Europaberichterstattung. Die Werte sind gleitende Durchschnittswerte, berechnet wie in Abb. 2.
Der Trend eines zunehmenden Bedeutungsgewinns der EU als relevanter Akteur für die Schweiz lässt sich aber auch noch auf eine dritte Weise belegen. Im Vergleich zu allen früheren Integrationsphasen haben sich in der Supranationalisierungsphase nicht nur die Bereiche der Wirtschaft und Aussenpolitik europäisiert, sondern insgesamt 11 von 14 Politik- und Themenbereichen. Mit Blick auf die Auslandberichterstattung (Tabelle 10), welche den Geltungsbereich der Europäischen Union selbst betrifft, wird die Liste angeführt vom Wirtschaftsbereich mit 30.6 Prozent, vor dem Gesellschaftsbereich mit 7.9 Prozent, der Aussen- und Sicherheitspolitik mit 7.8 Prozent, dem Bereich der Religion mit 6.9 Prozent, den Bereichen Innere Sicherheit / Justiz und Polity / Wahlen mit je rund 2 Prozent.
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
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Was noch mehr ins Auge springt ist das Faktum, dass auch die Inlandberichterstattung über fast das gesamte Spektrum der Politikbereiche hinweg bereits europäisiert ist. Angeführt wird die Liste verständlicherweise und wie bereits deutlich erwähnt von der Aussen- und Sicherheitspolitik mit 66 Prozent. Dann folgt der Bereich der Inneren Sicherheit / Justiz (10.5 Prozent), der Finanz- und Steuerbereich (6.4 Prozent), der Wirtschaftsbereich (6.3 Prozent), der Sozial- und Gesundheitsbereich (5.1 Prozent), der Gesellschaftsbereich (5 Prozent), Kulturbereich (3.8 Prozent), Sportbereich (3.7 Prozent) und Infrastrukturbereich (2.1 Prozent). Nur die Ausländerpolitik, die Bereiche Polity / Wahlen, Medien, Religion und Wissenschaft sind auf der Basis eines Samples der zwanzig grössten Kommunikationsereignisse nicht europäisiert. Daraus gilt es den zwingenden Schluss zu ziehen, dass aus Sicht der Schweizer Öffentlichkeit die EU auf ganz verschiedenen Feldern eine eminente Rolle zu spielen begonnen hat. Dieser Befund lässt sich auch darstellen, wenn die den einzelnen Politikbereichen zugewiesenen europäisierten Kommunikationsereignisse dichotom nach Polity und Policies unterschieden werden. Während unter Polity also Kommunikationsereignisse mit Themen zu Institutionen, Verfahren, Wahlen, Akteuren 153 sowie zum Integrationsprozess subsumiert werden, fallen unter die Kategorie Policies Kommunikationsereignisse, welche Gesetzgebungsprozesse, Regierungshandeln wie beispielsweise anlässlich Währungskrisen, Sicherheitskonferenzen der KSZE oder dann Wirtschaftsentwicklungen sowie gesellschaftliche und kulturelle Anlässe zum Gegenstand haben. Die Analyse zeigt nun deutlich, dass der europäische Integrationsprozess zunächst und vor allem als Prozess der Institutionenbildung wahrgenommen wird (Abbildung 14). Dass dagegen die Europäische Union auch über gesetzgeberische und exekutive Kompetenzen verfügt, hat lange Zeit kaum Beachtung in Form medienvermittelter Auseinandersetzungen über EU-Policies gefunden. Erst in jüngster Zeit ist der Anteil bei steigender Resonanz auf 38 Prozent gestiegen. Wenn Schweizer Medien EUPolitik beobachten und darüber berichten, dann vor allem über das, was Wessler als „polity-making“ (ebd., 44) bezeichnet hat. Gleichzeitig gilt es aber festzuhalten, dass die EU längst nicht mehr nur als ein Projekt wahrgenommen wird, das der Friedenssicherung oder der Schaffung eines gemeinsamen Markts dient. Vielmehr werden auch in der Schweizer Öffentlichkeit vermehrt europäische, von der Europäischen Union orchestrierte Policies identifiziert, mit denen es 154 nicht nur die EU-Mitgliedstaaten, sondern auch die Schweiz zu tun hat. 153
Dazu zählen auch die Bemühungen der europäischen Länder, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG zu gründen. Diese Analyse wurde auf ein Sample der 100 grössten Kommunikationsereignisse ausgeweitet und auf die einzelnen Politikfelder herunter gebrochen. Dazu findet sich eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten Befunde im Anhang unter A1.4.
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Gründungsphase
Konsolidierungsphase
Anteil Policy = 4 %
Anteil Policy = 6 %
Phase Eurosklerose
Supranationalisierungsphase
20
Anteil Policy = 58 %
Anteil Policy = 38 %
15
10
5
1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
0
Auslandberichterstattung mit Bezug auf EU-Politiy Auslandberichterstattung mit Bezug auf EU-Policies Inlandberichterstattung mit einem Europabezug
Abbildung 14: Berichterstattung über EU-Polity und EU-Policies Lesehilfe: Die Linien bilden die Europäisierungsanteile an der Gesamtberichterstattung ab. Für den Auslandbereich wurde zwischen EU-Polity und EU-Policies unterschieden. Da diese Unterscheidung im innenpolitischen Kontext keinen Sinn macht, wird hier die Inlandberichterstattung mit einem Europabezug abgebildet. Die Daten der Auslandberichterstattung basieren auf allen europäischen Kommunikationsereignissen ohne europäisierte NATO-Berichterstattung. Die Werte entsprechen gleitenden Durchschnittswerten, berechnet wie in Abb. 2.
5.4 Zusammenfassende Zwischenbilanz I Mit Blick auf den Kommunikationsraum Schweiz stellte sich dieses Kapitel die Frage, ob und wie sich die Schweizer Öffentlichkeit im Zeitraum von 1945 bis 2006 europäisiert hat, wobei diese Frage auf der Makroebene medialer Aufmerksamkeitsstrukturen in Gestalt von Kommunikationsereignissen zu klären versucht wurde. Dabei sind zwei Indikatoren zur Anwendung gelangt: Beobachtung anderer Länder anhand der Auslandberichterstattung und Interdiskursivität anhand der Transnationalisierung der Inlandberichterstattung. Angeleitet war diese allgemein formulierte Fragestellung durch eine normative Perspektive, die im Spannungsfeld zweier Hypothesen entfaltet worden ist. Unter normativen
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
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Gesichtspunkten soll Öffentlichkeit bzw. die im Medium öffentlicher Kommunikation erzeugte öffentliche Meinung Meinungs- und Willensbildung der Bürger, letztlich Herrschaftskontrolle und politische Selbstbestimmung ermöglichen. In dem Mass, wie der Europäischen Union Entscheidungskompetenzen von der nationalen auf die supranationale Ebene übertragen wird, ist es normativ geboten, dass über europäische Angelegenheiten berichtet wird. Dies gilt für EUMitgliedstaaten unmittelbar, da für diese EU-Recht über nationalem Recht steht; es gilt in abgewandelter Form aber auch für den europäischen Drittstaat Schweiz: Die Europäische Union stellt für die Schweiz nämlich nicht nur den mit Abstand wichtigsten Exportraum für die Wirtschaft dar, sondern die Schweiz ist über ein Freihandelsabkommen von 1972 und zahlreiche sektorielle Abkommen auch in rechtlicher Hinsicht in beträchtlichem Ausmass an den acquis communautaire der EU gekoppelt.155 Eine systematische Beobachtung und Berichterstattung über Entwicklungen in der EU kann somit auch für die Schweiz als normativ geboten bezeichnet werden. Unter empirischen Gesichtspunkten interessiert auf diesem normativen Hintergrund die Frage, ob die Berichterstattung über Europa und die EU in dem Mass steigt, wie der EU Kompetenzen übertragen werden. Erste empirische Studien zu dieser vermuteten Wechselwirkung können einen solchen Zusammenhang nachweisen und zugleich spezifizieren: Die Berichterstattung über europäische Angelegenheiten ist erstens in jenen Ländern am grössten, die schon lange und umfassend in der EU integriert sind, und sie ist zweitens vor allem auf vergemeinschafteten Politikfeldern ausgeprägt (zum Stand der Forschung vgl. Langebucher / Latzer 2006; Wessler et. al 2008). Beide Zusammenhänge lassen sich dahingehend interpretieren, dass die EU eher dort als relevanter Akteur angesehen wird, wo sie Entscheidungskompetenzen hat und wo man als Mitgliedstaat schon lange dabei ist und die Dinge entscheidend mitgestalten kann. Auf die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied umgemünzt, lässt sich fragen, ob auch hierzulande die EU mit fortschreitender Integration als zunehmend relevanter Akteur wahrgenommen wird oder nicht. Diese Integrationshypothese wurde mit einer Alternativhypothese konfrontiert: Öffentliche Kommunikation verdichtet sich dann, wenn eine transnationale Konfliktkonstellation vorliegt, die als bedrohlich wahrgenommen wird, wobei solche Konfliktkonstellationen dem sozialen Wandel unterliegen. Wird diese Konflikthypothese auf die Europaberichterstattung entlang des europäischen Integrationsprozesses bezogen, gewinnt man mit dem Konstrukt der konfliktinduzierten Bedrohungsperzeption eine Erklärung für die Varianzen medialer Aufmerksamkeit für „europäische Angelegenheiten“. 155
Die staatsvertraglichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind über zwanzig Hauptabkommen und rund 100 Sekundärabkommen geregelt. Vgl. dazu der Aussenpolitische Bericht 2009 des Bundesrats.
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
Abschliessend gilt es die wesentlichen Erkenntnisse der Untersuchung unter drei verschiedenen Gesichtspunkten zu bilanzieren. Unter einem empirischen Gesichtspunkt werden die wichtigsten empirischen Befunde der „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“ resümiert. Diese Befunde lassen sich sodann im Licht der beiden Hypothesen zu analytischen Regularitäten verdichten. Sodann bleibt, die Frage des Zusammenhangs zwischen fortschreitendem Integrationsprozess und Europaberichterstattung unter normativen Gesichtspunkten aus der Sicht der Schweiz zu beantworten. 5.4.1 Bilanz unter empirischen Gesichtspunkten
Die Schweizer Öffentlichkeit ist generell charakterisiert durch einen hohen Anteil von Aufmerksamkeit für Vorgänge, die im Ausland stattfinden. Diese starke Weltorientierung verweist auf eine ausserordentlich hohe Transnationalität der Schweizer Öffentlichkeit. Knapp die Hälfte der Berichterstattung der zwanzig grössten Kommunikationsereignisse bezieht sich auf das Ausland. Von dieser Auslandberichterstattung entfällt wiederum knapp die Hälfte auf europäische Vorgänge, was anhand der horizontalen Europäisierung der Auslandberichterstattung feststellbar ist. Gemessen am Ausmass der Auslandberichterstattung nimmt der Anteil der Europaberichterstattung im Verlauf der Zeit deutlich ab. Dieser als EntEuropäisierung der Schweizer Berichterstattung bezeichnete Trend geht in erster Linie auf eine starke Abnahme der Berichterstattung über die grossen Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich und Italien zurück. Mit Blick auf die vertikale Europäisierung der Auslandberichterstattung, worunter die Berichterstattung über EU-interne Angelegenheiten sowie paneuropäische Debatten ohne Einbezug der Schweiz gezählt wurde, gilt es drei Befunde herauszustreichen: - Die Aufmerksamkeit für EU-Politik verläuft erstens diskontinuierlich. Sie ist in der Gründungsphase am grössten und erlischt in den 1980erJahren fast vollständig, ehe sie seit den 1990er-Jahren, wenngleich auf tiefem Niveau, wieder zunimmt. - Zweitens gelangt, nachdem zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses fast ausschliesslich das „polity-making“ der EU-Staaten, also die Institutionenbildung, die Europaberichterstattung dominiert hat, ebenfalls seit den 1990er-Jahren das „policy-making“ in den Blick. - Damit einher geht drittens eine Ausdehnung der Europaberichterstattung auf immer zahlreichere Politikfelder der Europäischen Union,
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
169
wobei die Berichterstattung über vergemeinschaftete Politikfelder (Binnenmarkt, Währungsunion, Gesundheitspolitik) am grössten ist. In Hinsicht auf die vertikale Europäisierung der Inlandberichterstattung lassen sich ebenfalls drei Punkte festhalten: - Auch die Berichterstattung über das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union verläuft diskontinuierlich. Bleibt dieses Verhältnis in der Gründungsphase der EU unthematisiert, gelangt es in Form unterschiedlicher Kommunikationsereignisse seit den 1990er-Jahren praktisch jedes Jahr unter die Liste der zwanzig grössten Kommunikationsereignisse und erreicht vergleichsweise grosse Berichterstattungsanteile. Dazwischen hat sich die inländische Europaberichterstattung um die 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre verdichtet. - Zweitens besteht in der öffentlichen Wahrnehmung seit der EWRDebatte von 1992 die schweizerische Aussenpolitik fast ausschliesslich als Europapolitik. - Drittens findet auch neben der Schweizer Aussenpolitik zunehmend eine Europäisierung auf verschiedensten Politikfeldern (Steuern, Arbeitsmarkt, Verkehr, Gesundheit, Recht und Justiz) statt. Führt man diese beiden Formen der vertikalen Europäisierung zusammen, fällt trotz aller Diskontinuität eine eigentliche Scherenbewegung in der Entwicklung der Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit auf: Während der Anteil der vertikalen Europäisierung an der Auslandberichterstattung über die Phasen im Integrationsprozess tendenziell abnimmt, steigt umgekehrt der Anteil der vertikalen Europäisierung an der Inlandberichterstattung deutlich an. Seit den 1980er-Jahren gewinnt mit dem, was als paneuropäische Debatten bezeichnet wird, zudem ein neuer Typ europäischer Kommunikationsereignisse an Bedeutung.
5.4.2 Bilanz unter analytischen Gesichtspunkten Möchte man nun diese Befunde zu analytischen Regularitäten verdichten, dann gilt es vier spezifische Regularitäten zur „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“ im langfristigen Zeithorizont von 1946 bis 2006 festzuhalten:
Wird erstens die Diskontinuität der „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“ auf den institutionellen Integrationsprozess der Europäischen Union bezogen, dann europäisiert sich die Berichterstattung zwar immer dann, wenn die EU weitereichende Integrationsschritte plant oder effektiv unter-
170
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit nimmt, Varianz und Perspektive der Europäisierung lassen sich indes nicht durch die institutionelle Bedeutung des Integrationsprozesses erklären, sondern ergeben sich aus den zeithistorischen Relevanzstrukturen. Dabei zeigt die Analyse zweitens ganz deutlich, dass insbesondere konfliktinduzierte Bedrohungsperzeptionen als die zentrale Determinante für die Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit zu bezeichnen sind. Die wahrgenommene und öffentlich thematisierte Bedrohung durch die Sowjetunion und den Kommunismus begünstig in der Gründungsphase eine Europaberichterstattung, welche die Aufmerksamkeit auf verteidigungs- und sicherheitspolitische Abwehrmassnahmen der frühen EU-Mitgliedstaaten hinlenkt. In der Konsolidierungsphase wird die sich abschwächende Bedrohungsperzeption im Kalten Krieg von einer wirtschaftspolitischen Isolationsfurcht überlagert. Die Befürchtung der Schweiz, durch die Integrationsbemühungen der damaligen EWG-Staaten wirtschaftspolitisch ins Hintertreffen zu geraten, hat wesentlich die Europaberichtung dieser Zeit bestimmt. Dieses Motiv steht auch Pate bei den Verhandlungen der Schweiz mit der EG / EU über einen Beitritt zum EWR. Aber das Ende des Kalten Kriegs hat in der Schweiz nicht zum Abstreifen der Perzeption angeblicher Bedrohungen als aufmerksamkeitsstrukturierender Frame geführt, vielmehr ist die sowjetkommunistische Bedrohungsperzeption durch die Perzeption eines zentralistischen, alle Lebensbereiche nach unten nivellierenden und die schweizerische Freiheit und Unabhängigkeit bedrohenden EUHegemons substituiert worden. Mit der polarisierenden Debatte über einen EWR-Beitritt der Schweiz beginnt diese Perzeption in der Europaberichterstattung der Deutschschweiz wirkmächtig zu werden. Sie diffundiert dann zunehmend auch in der Romandie, nachdem die EU und die europäischen Staaten begonnen haben, ihren Druck auf den Finanzplatz Schweiz und das Bankgeheimnis zu erhöhen (vgl. dazu auch die Untersuchung über die „Zinsbesteuerungsdebatte“ im nächsten Kapitel). Man kommt drittens nicht umhin, die Europaberichterstattung mit dem Sonderfallverständnis der Schweiz in Beziehung zu bringen. So erzählt bereits die bäuerliche Widerstandsmythologie der Schweiz von ständigen Bedrohungen von aussen und oben, denen sich die freien Eidgenossen zur Wehr haben setzen müssen. Und es ist diese zum Nationalbewusstsein verdinglichte Bedrohungssemantik (Imhof 2007, 28 ff.), welche immer wieder zur Imagination der schweizerischen Volksgemeinschaft führt. Sowohl zu Beginn wie auch am Ende des Kalten Kriegs stehen Orientierungskrisen der Schweiz, aus welchen die Schweiz jeweils über ihre Bedrohungssemantik einen Weg heraus gefunden hat, die aber im Licht der Aktualisierung des Besonderen einen Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union als unmög-
Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
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lich erscheinen lassen. Je mehr sich die EU in ihrer geografischen und institutionellen Dimension entwickeln wird, desto mehr wird das Sonderfallverständnis der Schweiz – zumal in seiner nationalkonservativen Variante – die Beziehung der Schweiz zur Europäischen Union belasten und zu weiteren und immer häufigeren konfliktinduzierten Auseinandersetzungen führen (Tobler / Gisler 2007). Viertens folgt aus der Verlagerung der Europäisierung von der Ausland- auf die Inlandberichterstattung, dass die Europäische Union in der Schweizer Öffentlichkeit spätestens seit Maastricht 1992 als relevanter Akteur wahrgenommen wird, der zunehmend auf ganz unterschiedlichen Politikfeldern gegen Drittstaaten aktiv vorgeht. Man könnte deshalb anstatt von „Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit“ auch von der unfreiwilligen Domestizierung Europas in der öffentlichen Kommunikation der Schweiz sprechen.
5.4.3 Bilanz unter normativen Gesichtspunkten Die normative Erwartung, dass mit zunehmendem EU-Kompetenzzuwachs auch die Berichterstattung über EU-Politik steigen soll, verlangt angesichts der empirischen Befunde und analytischen Regularitäten eine differenzierte Betrachtungsweise. Generell gilt es zunächst einmal festzuhalten, dass die Berichterstattung über die EU-Polity im Verlauf der Zeit abnimmt, während die Berichterstattung über die EU-Policy vor allem in der Supranationalisierungsphase zunimmt. Ebenfalls bestätigt hat sich die normative Erwartung, dass die Berichterstattung über vergemeinschaftete Politikfelder höher ausfällt als über Politikfelder, die in nationaler Kompetenz verblieben sind. Das bedeutet, dass dem EU-Kompetenzzuwachs tendenziell Rechnung getragen wird, obwohl das quantitative Niveau dieser Berichterstattung auch gegen Schluss des Integrationsprozesses vergleichsweise niedrig ist. Wäre die Schweiz Mitglied der Europäischen Union, müsste dieser Europäisierungsgrad gemessen am Politik-Output der EU als zu tief beurteilt werden. Nun ist aber die Schweiz kein Mitgliedstaat der Europäischen Union und so stellt sich die normative Frage bekanntlich etwas anders. Infolge ihrer geografischen Lage und der starken Verflochtenheit in wirtschaftlicher, politischer, kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht besteht aus Sicht der Schweiz durchaus ein normativ gebotenes Interesse an einer dauerhaften und im Vergleich zu aussereuropäischen Ländern intensiveren Beobachtung der Europäischen Union. Die Schweiz müsste mit anderen Worten also genau beobachten und reflektieren, wie sich die Europäische Union institutionell entwickelt, welche Implikationen dies für das Verhältnis Schweiz-EU hat und welche Konsequenzen daraus zu ziehen
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Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit
sind. Bringt man die vier relevanten Integrationsetappen der EU – 1950-54, 1957-63, 1969-72, 1987-92 – in Anschlag, gilt es doch zu bemerken, dass sich die Inlandberichterstattung mit Ausnahme der Gründungsphase jeweils stark europäisiert hat: Zu Beginn der 1960er-Jahre reagierte die Schweiz mit einem Assoziierungsgesuch auf die Integrationsbemühungen, anfangs der 1970er-Jahre gelang der Schweiz im zeitlichen Kontext der EU-Norderweiterung den Abschluss eines umfassenden Freihandelsabkommen mit der EU und 1992 stimmte das Schweizer Volk über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum ab, den es allerdings knapp verwarf. Seither ist das Verhältnis Schweiz-EU permanenter Gegenstand öffentlicher Kontroversen und es vergeht kein Jahr, ohne dass eine europapolitische Debatte unter den zwanzig grössten Kommunikationsereignissen figuriert. Die im Zusammenhang mit dem nationalkonservativ gefärbten Sonderfallverständnis der Schweiz gemachten Ausführungen legen dabei natürlich nahe, dass diese europapolitischen Debatten in einer schweizerischen und nicht europäischen Perspektive geführt werden. Dies ist aber noch lange kein Grund anzunehmen, dass es zwischen der Schweiz und der EU bzw. deren Mitgliedstaaten nicht auch zu transnationalen Diskursen kommt und dass sich die nationale Perspektive nicht auch für eine europäische Perspektive öffnen könnte.
6 Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse: Zinsbesteuerungsdebatte
Europäische Öffentlichkeit, so verlangt es das entwickelte Konstrukt, entsteht aus der Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeiten und lässt sich beschreiben entlang verschiedener Dimensionen europäischer Kommunikation, die sozial zunehmend voraussetzungsreicher werden. Diese Transnationalisierung wurde mit der Modellvorstellung gleichgesetzt, es entstehe infolge solcher Prozesse kommunikativer Überlappung, wechselseitiger diskursiver Verschränkung und Durchdringung der verschiedenen nationalen und supranationalen Öffentlichkeitsarenen eine transnational verdichtete Kommunikationszone. Auf der untersten Stufe liegt eine derartige Kommunikationszone vor, wenn Staaten durch die Medien anderer Länder beobachtet werden und diese berichten, was in den beobachteten Staaten abgeht. Findet solche Beobachtung zeitgleich in mehreren nationalen Medienarenen statt, ist dies in Gestalt transnationaler Kommunikationsereignisse sichtbar. Auf der zweiten Stufe liegen entsprechend europäische Kommunikationsereignisse vor, wenn zeitgleich in verschiedenen nationalen Ländern über gleiche europäische Angelegenheiten berichtet und diskutiert wird. Die Existenz europäischer Kommunikationsereignisse gilt als notwendige Bedingung, damit aus den nationalen Kommunikationsstrukturen überhaupt eine europäische Öffentlichkeit emergieren kann. Aber zeitgleiche Resonanz europäischer Angelegenheiten in den verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten der europäischen Länder impliziert noch nicht, dass zwischen diesen ein kommunikativer Austausch (dritte Stufe) besteht, geschweige denn, dass solche transnationale Interdiskursivität von einer europäischen Perspektive getragen wäre, die sich aus Gemeinschaftsbezügen eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins und kollektiven Identitätsgefühls speisen würde (vierte Stufe). Die bisherigen Befunde empirischer Untersuchungen lassen keine allgemeingültigen Antworten zu. Je nach Forschungsdesign existiert zumindest zeitgleiche Thematisierung europäischer Angelegenheiten bereits mehr oder weniger stark. Aus der Summe aller diachron angelegten Studien lässt sich aber entnehmen, dass der Grad der Europäisierung, sofern er sich auf die Resonanz von europäischen Angelegenheiten im vertikalen und transnationalen Sinn bezieht, seit den 1980er-Jahren zum Teil deutlich gestiegen ist (Gerhards 2000, Saurwein
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
2006, Wessler et al. 2008, vgl. auch die erste empirische Teilstudie dieser Arbeit). Mit Bezug auf die erste Dimension europäischer Kommunikation und den ersten Indikator europäischer Diskurskonvergenz lässt sich eine Integrationshypothese formulieren: Mit zunehmender Vergemeinschaftung der Europäischen Union steigt auch die Berichterstattung über europäische Angelegenheiten in den nationalen Öffentlichkeiten, und zwar in jenen Ländern stärker, die schon lange und umfassend zur Europäischen Union gehören. Diese Integrationshypothese gilt unabhängig davon, wie gross das europäische Öffentlichkeitsdefizit im jeweiligen Land ist. Mit Bezug auf die Dimension des diskursiven Austauschs sind die empirischen Befunde weit weniger deutlich und weisen bei der Untersuchung von Wessler und Mitarbeitenden (2008) klare Defizite auf, die auch nicht durch einen konstatierten Trend zu mehr europäischer Interdiskursivität aufgefangen worden wären. Allerdings belegen andere Studien, dass durchaus bereits ein beträchtliches Ausmass an europäischer Interdiskursivität existiert (Wimmel 2006). Mit Blick auf die Dimension der kollektiven Identität bestätigen alle Studien, die sich überhaupt mit dieser Dimension europäischer Kommunikation befassen, dass in öffentlichen Debatten bisher ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein oder eine irgendwie definierte europäische kollektive Identität weitgehend 156 inexistent ist (Wessler et al. 2008; Lucht / Tréfás 2006, 2008). Wessler und Mitarbeitende erkennen immerhin einen minimalen Trend zu mehr europäischer kollektiver Identität. Dafür sprechen auch die im letzten Kapitel angeführten paneuropäischen Debatten zu Fragen der Ethik, die sich mittlerweile zu häufen beginnen. Was würde die Integrationshypothese mit Bezug auf diese beiden Dimensionen postulieren? Es ist zu erwarten, dass auch hier gilt, dass sich ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein eher dort artikuliert, wo man schon lange dabei ist und dass andere europäische Sprecher ebenfalls eher dort Resonanz erhalten als in Ländern, die noch nicht lange in der Europäischen Union sind. Dieses Kapitel rekurriert auf eine vergleichende Analyse der Berichterstattung über die Einführung einer Zinsbesteuerung in den Öffentlichkeiten Deutschlands, Frankreichs, Grossbritanniens und der Schweiz. Wie im Forschungsdesign zur „Zinsbesteuerungsdebatte“ beschrieben, handelt es sich um eine konfliktrei156
Zum Zeitpunkt des Abfassens dieser Arbeit sind dem Autor die Resultate aus der empirischen Untersuchung zur Konstruktion europäischer Identität von Cathleen Kantner und Mitarbeitende nicht bekannt (vgl. Kanter 2006a, 2006b; Kantner / Renfordt 2007). Es dürfte aber überraschen und wäre erklärungsbedürftig, wenn völlig andere Ergebnisse erzielt würden, als sie Wessler und Mitarbeitende oder Lucht / Tréfás in ihren Untersuchungen herausgefunden haben, zumal beide dieser Forschungsgruppen ebenfalls Kriegs- und militärische Interventionskommunikation analysiert haben.
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
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che Auseinandersetzung, die sich in zwei Phasen unterschiedlicher Konfliktkonstellationen unterteilen lässt. In einer ersten Phase befanden sich die EU-Staaten untereinander in einem internen Konflikt und die Auseinandersetzung war geprägt durch eine Konfrontation zwischen Grossbritannien (plus Luxemburg) auf der einen Seite und vor allem von Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite. Nachdem sich die EU-Staaten auf einen Kompromiss geeinigt hatten, kam die Konfliktlinie in einer zweiten Phase zwischen die EU und die Schweiz plus weitere Drittstaaten zu liegen. Diese beschriebene Konfliktdramaturgie erlaubt es in hervorragender Weise, die Integrationshypothese für die beiden Dimensionen der Interdiskursivität und kollektiven Identität zu überprüfen. Gemäss der Integrationshypothese ist eigentlich zu erwarten, dass erstens Interdiskursivität zwischen den europäischen Sprechern grösser ist als im Verhältnis mit der Schweiz und dass zweitens europäische Identitätskonstruktionen in den Öffentlichkeiten der EU-Staaten ausgeprägter sind als in der Schweiz – zumindest in jener zweiten Phase, als die EU im Konflikt mit der Schweiz lag. Solche Fragen, die sich aus der Integrationshypothese ableiten, lassen sich darüber hinaus auch für die Dimension der Diskurskonvergenz untersuchen. Die Untersuchung wird darüber hinaus einen Schritt weitergehen und die Integrationsfragen mit einer Konflikthypothese konfrontieren. Gemäss der Konflikthypothese erzeugen Auseinandersetzungen, gleichgültig auf welches gesellschaftliche Teilsystem sie bezogen sein mögen, vor allem dann Resonanz, wenn sie den Modus der Routine abstreifen und im Modus des Konflikts ausgetragen werden. Die Konflikthypothese lässt sich noch weiter spezifizieren: Auseinandersetzungen im Modus des Konflikts führen besonders dort zu Verdichtungen der öffentlichen Kommunikation, wo sie als Bedrohung wahrgenommen werden. Damit stellen sich gegenüber der Integrationshypothese neue Fragen: Welchen Einfluss übt die Art der Konfliktwahrnehmung auf die Formation europäischer Diskurskoalitionen aus? Lassen Konflikte über nationale Kompetenzen die Ausbildung eines über Massenmedien vermittelten europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins überhaupt zu? Dieses Kapitel ist so aufgebaut, dass zunächst die Ergebnisse der Analyse zu den drei Dimensionen Diskurskonvergenz (6.1), kommunikativer Austausch (6.2) und kollektive Identität (6.3) entlang der operationalisierten Indikatoren in drei Subkapiteln vorgestellt werden. Jeweils am Schluss werden die zentralen empirischen Befunde zu den oben skizzierten Fragestellungen in Form von Regularitäten kurz und bündig zusammengefasst. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass nicht jeder Indikator gleich gut in der Lage ist, Antworten auf die Fragen zu geben. Es wird deshalb eingangs jedes Subkapitels genau expliziert, was im Zentrum der Teilanalyse steht. Das Kapitel schliesst mit dem Versuch einer Synthese der Regularitäten (6.4). Im Zentrum dieser Synthese stehen drei Fragen.
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
Erstens: Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen öffentlicher Debatte und politischem Verhandlungsprozess unter dem Gesichtspunkt von Herrschaftskontrolle und Selbststeuerung beschreiben? Zweitens: Welcher Zusammenhang besteht zwischen konfliktinduzierter transnationaler Kommunikationsverdichtung und der Konstruktion kollektiver europäischer Identität? Drittens: Welche Rolle spielen die einzelnen Sprechertypen in der sozialen Konstruktion Europas? 6.1 Zeitgleiche Thematisierung des Gleichen in gleicher Weise Eine transnational verdichtete Kommunikationszone ist auf der untersten Ebene in Anlehnung dessen, was Eder und Kantner (2000) als Kriterium für eine transnationale Öffentlichkeit definiert haben, durch eine zeitgleiche Thematisierung des Gleichen in gleicher Weise bestimmt, womit sie sich abgrenzt von anderen Kommunikationszonen, in denen während der gleichen Zeit anderes thematisiert wird. Sicht- und hörbar wird zeitgleiche Thematisierung des Gleichen in Gestalt transnationaler Kommunikationsereignisse – also zeitlich synchron laufender Berichterstattungsabfolgen zum Gleichen in unterschiedlichen nationalen Medienarenen. Je grösser dabei die Schnittmenge gleicher Kommunikationsereignisse ist, desto ähnlicher und deshalb transnationalisierter sind die entsprechenden nationalen Kommunikationsräume auf der Makroebene medialer Relevanzund Aufmerksamkeitsstrukturen. In gleicher oder vergleichbarer Weise wird über das Gleiche berichtet, wenn a) die Issue-Aufmerksamkeit, b) die Sprecherensembles und c) die Semantiken ähnlich sind. Gleiche oder ähnliche Issue-Aufmerksamkeit verweist auf ähnliche Problemwahrnehmungen und Relevanzstrukturen, wogegen ungleich verteilte Issue-Aufmerksamkeit und asynchrone Kommunikationsereignisverläufe (Issue-Attention-Cycles) nationale Besonderheiten, etwa in Form spezifischer Betroffenheiten, Traditionen oder historischer Opportunitäten anzeigen. Ähnlichkeit der Sprecherensembles – Sprechertypen und Diskurskoalitionen – verweist auf einen hohen Transnationalisierungsgrad der Kommunikationsstruktur, wogegen hohe Variationen ein Indiz für national geführte Debatten sind. Übereinstimmung der Semantik – Frames und Begründungen – gilt als Indiz für transnationale Anschlussfähigkeit nationaler Deutungsperspektiven und Argumentationsmodi, wogegen hohe Variation der Semantik auf gegeneinander abgeschottete Deutungsuniversen bzw. nationale Kommunikationsräume hinweist. Im theoretischen Teil dieser Arbeit wurde begründet, dass aus normativer Sicht nicht jeder Konvergenzindikator seinen maximalen Übereinstimmungswert (Variationskoeffizient = 0) annehmen muss. Aufmerksamkeit für ein Issue soll variieren, wenn das damit thematisierte Problem für das eine Land, aus welchen
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Gründen auch immer, grössere Relevanz und Dringlichkeit hat als für das andere. Aber europäische Angelegenheiten, welche vereinfacht gesagt die Europäische Union oder die europäischen Ländern betreffen, sollten doch in jeder nationalen Öffentlichkeit als europäische Kommunikationsereignisse Resonanz erzeugen. Ähnliches kann für die Sprecherensembles und die Semantik gesagt werden. Nicht jeder Sprecher muss in jeder Öffentlichkeit gleich hohe Resonanz erzeugen. Wichtiger ist eine Reziprozität der Resonanz im Konflikt stehender Diskurskoalitionen respektive nationaler Sprecherensembles. Entsprechend sollte die Konfliktlinie oder Leitdifferenz einer Debatte, welche die Sprecherensembles in antagonistische Diskurskoalitionen trennt, in jeder nationalen Öffentlichkeit in vergleichbarer Weise erkennbar sein und Zurechenbarkeiten der unterschiedlichen Positionen und Meinungen zu den jeweiligen Konfliktparteien erlauben. Deshalb ist es auch nicht zwingend erforderlich, dass in jedem Land jeder Frame oder jede Deutungsperspektive gleich stark bewirtschaftet sein muss, wogegen kategoriale Vollständigkeit der national unterschiedlich zirkulierenden Deutungsangebote aus Gründen der Konfliktrationalisierung und Ermöglichung von Bedingungen kollektiven Lernens normativ wünschbar ist (Peters / Wessler 2006; Siegenthaler 2003). 6.1.1 Issue-Aufmerksamkeit: Politikkongruenz, transnationale Synchronität und nationale Relevanz Die Frage nach der Übereinstimmung der Aufmerksamkeit für ein Issue lässt sich anhand eines Vergleichs der nationalen Kommunikationsereignisverläufe beantworten. Diese Frage wird nachfolgend unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten geprüft: Zunächst interessiert, wann bzw. zu welchen Zeitpunkten im Politikgestaltungsprozess die Zinsbesteuerung und das damit verknüpfte dreiteilige Steuerpaket überhaupt zu einem Thema in den nationalen Öffentlichkeiten geworden sind. Diese Erörterung erfolgt auf dem Hintergrund einer Einteilung des Politikzyklus in unterschiedliche Stadien und Berichterstattungsperioden und führt somit nicht nur materiell in die Auseinandersetzung zwischen den Konfliktparteien ein, sondern erlaubt auch eine Überprüfung der Kongruenz zwischen Politikverlauf und Kommunikationsereignisverlauf (a). Mittels einer Variationsanalyse der nationalen Kommunikationsereignisverläufe wird zweitens untersucht, ob diese unter den EU-Staaten synchroner verlaufen als im Vergleich mit der Schweiz. Dabei gilt es die Frage zu klären, ob sich nationale Unterschiede der Issue-Aufmerksamkeit durch unterschiedliche Konfliktwahrnehmung erklären lassen (b).
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
a) Zur Kongruenz von Issue-Attention-Cycle und Policy-Cycle Der Politikgestaltungsprozess ist in Anlehnung an die Policy-Forschung in drei Stadien unterteilt worden (Windhoff-Héritier 1987). Im Stadium der Problemdefinition / Agendagestaltung geht es darum, ein wahrgenommenes Problem zu institutionalisieren, damit es anschliessend vom zuständigen Ministerrat behandelt (Politikformulierung) und verabschiedet werden kann (Verabschiedung Politikalternative / Lösungsmodell). Der Politikzyklus wird durch das Stadium der Implementierung und Umsetzung des beschlossenen Lösungsmodells abgeschlossen, wozu auch noch die Evaluation zählt. Aus einer normativen Sicht, welche die Vermeidung von Irrtümern ins Zentrum stellt, ist wünschbar, dass Lösungsmodelle nicht erst dann bekannt gegeben werden und somit Resonanz erzeugen, wenn sie als beschlossen gelten. Dies würde erfordern, dass eine Debatte auch schon in früheren Phasen sichtbar sein sollte. Allerdings ist genau dies bei EU-Angelegenheiten nicht zu erwarten, weil die Kommission, die in der Anfangsphase eines Politikzyklus über ein Vorschlags- und Gestaltungsmonopol von Richtlinien verfügt, aus Gründen der Akzeptanz eines Vorschlags seitens der Mitgliedstaaten wenig Interesse an Publizität hat (Wessels 2008). Man könnte nun mit Habermas einwenden, dass dies solange auch aus normativen Gründen verkraftbar ist, wie es sich sozusagen um unproblematische Routineentscheidungen handelt. Aber Politikgestaltung im Modus des Konflikts muss nicht zuletzt aus Gründen der Zurechenbarkeit von Verantwortung sichtbar und über die Herstellung von Öffentlichkeit auch korrigierbar sein. CH (1469) Agendagestaltung Politikformulierung Umsetzung
D (830)
F (632)
GB (1134)
Total (4065)
2%
6%
11%
7%
7%
EU-intern
35%
55%
60%
76%
56%
mit Drittstaaten
55%
31%
25%
15%
32%
8%
8%
4%
2%
5%
Tabelle 11: Issue-Aufmerksamkeit im Politikzyklus Lesehilfe: Die Werte in der Spalte Total ergeben sich als gemittelte Werte aus den Spalten CH, D, F, GB. Das Stadium der Agendagestaltung dauert vom 1.1.96-31.12.97; die EU-interne Phase der Politikformulierung vom 1.1.98-31.12.00; die Schweiz-Phase der Politikformulierung vom 1.1.0231.5.04 und das Stadium der Umsetzung vom 1.6.04-31.12.05.
Die Unterteilung der Phase der Politikformulierung in eine EU-interne Verhandlungsphase und eine Verhandlungsphase der EU mit Drittstaaten berücksichtigt die zwei unterschiedlichen Konfliktkonstellationen im Prozess der Politikgestaltung. Aggregiert man nun das Artikelaufkommen entlang der drei Stadien im
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
179
Politikzyklus, zeigt sich ganz deutlich, dass die mediale Aufmerksamkeit mit 88 Prozent fast vollkommen auf die beiden Phasen der Politikformulierung beschränkt ist, wobei die EU-interne Phase der Politikformulierung durchschnittlich 56 Prozent der gesamten Berichterstattung auf sich vereint, während es in der Drittstaaten-Phase durchschnittlich 32 Prozent sind (Tabelle 11). Dagegen bleiben die Stadien der Agendagestaltung und Umsetzung medial kaum beachtet, und zwar selbst in den Öffentlichkeiten der EU-Staaten, wo das Issue auf die Agenda gesetzt wurde. Nicht einmal der Beschluss der europäischen Finanzminister am EU-Gipfel in Luxemburg Ende 1997 zur Ausarbeitung eines dreiteiligen Steuerpakets zur Bekämpfung schädlichen Steuerwettbewerbs innerhalb der Europäischen Union157 wurde gross in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, obwohl hier ein weitreichender und wichtiger Entscheid gefallen ist. Damit wird die Politik im Stadium des Agenda-Setting sozusagen hinter dem Rücken der nationalen Öffentlichkeiten und ohne Widerspruch seitens nationaler Akteure gestaltet, was das Öffentlichkeitsdefizit der EU an der Input-Seite von Politikgestaltungsprozessen gut belegt. Trotz dieses für die Inputphase des Politikzyklus diagnostizierten Öffentlichkeitsdefizits bewegt sich die mediale Aufmerksamkeit im Rhythmus institutionell orchestrierter Ereignisse158 wie Zusammenkünfte des Ecofin, des Ministerrats oder Kommissionserlasse (symbolisiert durch die blauen Pfeile in Abbildung 15). Dies scheint ein besonderes Muster nationaler Europaberichterstattungen nahezulegen: Europäische Themen an sich vermögen die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen und verfügen über geringen Nachrichtenwert; erst in Kombination mit den EU-Grossveranstaltungen gelangen europäische Themen in den Aufmerksamkeitshorizont nationaler Öffentlichkeiten. Die entscheidende Frage aber ist, weshalb sich die öffentliche Kommunikation zwar entlang solcher EUEreignisse fortbewegt, sich jeweils aber in völlig unterschiedlicher Weise verdichtet. Indem nachfolgend kursorisch der Politikgestaltungsprozess geschildert wird, soll die These plausibilisiert werden, dass es die Art der Konfliktwahrnehmung ist, die zu gesteigerter Resonanz in den nationalen Medienarenen führt. Die mediale Aufmerksamkeit für das Issue beginnt anfangs 1996 mit der Veröffentlichung eines Papiers der Europäischen Kommission (COM96, 487) zur gemeinsamen Steuerpolitik und der Ankündigung von Vorschlägen zur Be157
Das Steuerpaket umfasst die Zinsbesteuerung, einen Verhaltenskodex im Bereich der Unternehmensbesteuerung sowie eine Regelung für die Besteuerung von Zinsen und Dividenden im Verhältnis von Mutter und Tochterunternehmen. 158 Unter institutionellen Ereignissen werden in Anlehnung an eine Unterscheidung von Schmitt-Beck / Pfetsch (1994) Ereignisse des politischen Systems verstanden, die stattfinden unabhängig davon, ob sich Medien dafür interessieren. Davon zu unterscheiden sind „Pseudoereignisse“ oder "symbolische Ereignisse", die einzig und allein für Medienaufmerksamkeit inszeniert werden. Vgl. auch Imhof / Eisenegger 1999.
180
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
kämpfung schädlichen Steuerwettbewerbs (1). In der Folge bleibt das Projekt allerdings ohne nennenswerte mediale Beachtung. Dennoch ist die Argumentationsweise der Kommission159 definitionsmächtig geworden, denn am EU-Gipfel Ende 1997 in Luxemburg (2) stimmten die Finanzminister unter britischer Ratspräsidentschaft den Zielsetzungen eines dreiteiligen Steuerpakets zu und beauftragten die Kommission zur Ausformulierung von Richtlinien (COM97, 495).
Abbildung 15: Politikphasen und nationale Berichterstattungsverläufe Lesehilfe: Die Linien bilden die über fünf Wochen gleitenden Mittelwerte der wöchentlichen Arenaresonanzen ab. Das heisst, dass für jeden beliebigen Zeitpunkt ti gilt, dass jedes Medium einer erfassten Arena für jeden Zeitpunkt des Intervalls t-2 bis t+2 eine der rechten Skala entsprechende Anzahl Artikel publiziert. Die 11 britischen Medien publizieren zum Zeitpunkt Dezember t49/1998 (Kreis 4) 11x4.4=48 Artikel, was auf die Zeitspanne von fünf Wochen hochgerechnet 242 Artikel sind. Gemessen an der arenengewichteten Gesamtberichterstattung erzielen die Schweizer Medien mit 36 Prozent den grössten Anteil, gefolgt von den britischen mit 24 Prozent und je 19 Prozent der deutschen und französischen. Die blauen Pfeile markieren institutionelle Ereignisse im Politikgestaltungsprozess wie EU-Gipfeltreffen, Ministerratssitzungen oder Verhandlungsrunden. Die Nummerierungen kennzeichnen Ereignisse im Politikgestaltungsprozess, die in der Beschreibung besprochen werden. Im Anhang findet sich die genaue Berechnung für das Mass der Arenaresonanz.
159
Im Anhang unter B2.6 wird die Argumentationslogik der Europäischen Kommission zur Umdeutung des Steuerwettbewerbs als schädlich und somit die Begründung zu einer Koordinierung bzw. Harmonisierung der Steuerpolitik aufgezeigt.
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
181
Am 20. Mai 1998 legt die Kommission ihren ersten Richtlinienentwurf „zur Gewährung eines Minimums an effektiver Besteuerung von Zinserträgen innerhalb der Gemeinschaft“ vor, der sich auf ein flexibles Koexistenzmodell stützt, indem jeder Mitgliedstaat die Wahl zwischen der Einführung einer Quellensteuer oder eines Informationsaustauschs hat. Wie in Abbildung 15 dargestellt, führt diese Ankündigung zum ersten Mal zu einer gleichzeitigen Resonanz in allen vier Öffentlichkeiten, wenngleich diese von geringer Intensität ist (3). Im Vorfeld des EU-Gipfels in Wien Ende 1998 explodiert dann aber die öffentliche Kommunikation in der britischen Öffentlichkeit förmlich (4), nachdem die britische Times am 18. November berichtet hat, dass die sozialistischen Regierungen Europas ein Manifest mit umfassenden Harmonisierungsbestrebungen, unter anderem auch in der Steuerpolitik, verabschiedet haben. Hinter dieser Harmonisierungsagenda erkennen die britischen Medien den deutschen Finanzminister Oskar Lafontaine als die eigentlich treibende Figur und das Boulevardblatt The Sun fragt am 25. November auf seiner Frontseite: „Is this the most dangerous man in Europe?“ Wie aus heiterem Himmel kristallisiert sich in der britischen Öffentlichkeit die Perzeption einer „German menace“ (Daily Telegraph, 1.12.1998). Diese breit diffundierte Sichtweise bringt zum Ausdruck, dass Deutschland zusammen mit den „Gauleiters of Europe“ (Daily Mail, 27.11.1998) über die Brüsseler Bürokratie den europäischen Superstaat zu errichten und den britischen Steuerzahlern dazu das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche. In dieser Phase einer medialen Eskalation versucht die Europäische Kommission die erhitzten britischen Gemüter zu beschwichtigen, indem sie aufzuzeigen versucht, dass es ihr nicht um eine umfassende Steuerharmonisierung gehe, wie die britischen Medien suggerieren, sondern um eine Bekämpfung von Steuerflucht und schädlichem Steuerwettbewerb in Europa. Gleichzeitig kündigt die Kommission erstmals öffentlich den erforderlichen Einbezug von Drittstaaten in eine europäische Lösung an, um einem möglichen Abfluss von Geldern aus dem EU-Raum vorzubeugen. Aber erst eine gemeinsame Erklärung durch die beiden Staats- und Regierungsminister Schröder und Blair sowie die Dementierung einer Steuerharmonisierungsagenda durch die Finanzminister am EU-Gipfel in Wien (11./12. Dezember) lassen die Kommunikationsverdichtung mit Epizentrum in der britischen Öffentlichkeit wieder abklingen. Trotz des Rücktritts des deutschen Finanzministers Lafontaine anfangs 1999 von allen Ämtern und der Beschwichtigungen der Staatschefs erlangt die Frage einer europäischen Steuerharmonisierung mit der Zinsbesteuerung als zentralem Projekt immer regelmässigere Resonanz in den nationalen Medienarenen. Der Antagonismus Grossbritannien contra Kontinentaleuropa hat sich in dieser Phase als diskursstrukturierende Leitdifferenz in der öffentlichen Wahrnehmung etabliert. Mit der Ankündigung des Einbezugs von Drittstaaten beginnt sich
182
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
vermehrt auch die Schweizer Öffentlichkeit für die Fortschritte dieses bislang noch EU-internen Issues zu interessieren. Nachdem Bemühungen für einen Kompromiss an der unnachgiebigen Haltung Grossbritanniens im September 1999 gescheitert waren, verdichtet sich die öffentliche Kommunikation angesichts eines angedrohten Vetos der britischen Regierung auf den EU-Gipfel von Helsinki Ende 1999 hin erneut (5). Doch alle Druckversuche von Seiten Deutschlands, Frankreichs und weiteren Staaten sowie auch die von der Europäischen Kommission gemeinsam mit dem finnischen EU-Ratsvorsitz erarbeiteten Kompromissvorschläge lassen die britische Regierung vom Gebrauch ihres Vetorechts nicht abbringen.160 Anlässlich des EU-Gipfels in Feira im Juni 2000 (6) verdichtet sich Kommunikation in allen vier Öffentlichkeiten erneut, doch im Unterschied zu „Helsinki“ hat sich die Konfliktkonstellation fundamental verändert: War Grossbritannien ein halbes Jahr zuvor noch völlig isoliert und legte gegen den gemeinsamen Willen von 14 Mitgliedstaaten das Veto ein, stehen die Briten nun Schulter an Schulter mit den Deutschen, Franzosen, der Kommission und dem EURatsvorsitz, während auf einmal die Bankgeheimnisstaaten Luxemburg und Österreich den Schwarzen Peter in den Händen halten. Wie ist dieser Umschwung erfolgt? Ganz einfach: Grossbritannien hat in der Zwischenzeit durchgesetzt, dass den EU-Finanzministern ein neuer Vorschlag zur Abstimmung unterbreitet wird. Gemäss dieser Lösungsalternative soll das Koexistenzmodell fallengelassen und der automatische Informationsaustausch als Endziel einge161 führt werden. Die Richtlinie sollte allerdings nur dann in Kraft treten, und das war die Konzession an Luxemburg und Österreich, wenn die EU bis Ende 2002 ausreichende Kooperationszusicherungen seitens Drittstaaten wie der Schweiz in Form von „gleichwertigen Massnahmen“ ausgehandelt haben sollte. Am Gipfel von Nizza Ende 2000 (7) erteilten die europäischen Finanzminister der Kommission schliesslich das Mandat zur Aufnahme von Verhandlungen mit Drittstaaten. 160
Hätte die britische Regierung ebenfalls ihr Veto eingelegt, wenn in der britischen Öffentlichkeit der Druck der heimischen Akteure auf Gordon Brown und Tony Blair zur standhaften Verteidigung „britischer Interessen“ ausgeblieben wäre? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, denn es gab im Vorfeld des Helsinki-Gipfels doch erhebliche Bemühungen des britischen Aussenministeriums wie auch von Dowing Street, dass Brown den ausgearbeiteten Kompromiss zur Wahrung der neu erlangten Reputation Grossbritanniens als „Good European“ im Ecofin sozusagen in letzter Minute akzeptieren möge (vgl. Daily Telegraph, 1.7.2000, „Dig in hard on the UK paper“). Sicher ist auf jeden Fall, dass in der britischen Öffentlichkeit eine konfliktinduzierte Auseinandersetzung zwischen Kontinentaleuropa und Grossbritannien über europäische Steuerpolitik stattgefunden hat und dass sich eine kristallklare und unmissverständliche öffentliche Meinung zur Verteidigung britischer Interessen artikuliert hat. 161 In einer Übergangszeit bis 2009 dürften die EU-Bankgeheimnisstaaten die Zinserträge noch nach einer Quellensteuer besteuern. Für die restlichen Mitglieder gilt von Beginn weg aber der automatische Informationsaustausch als verbindlich.
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
183
Wie der Abbildung 15 weiter zu entnehmen ist, verebbt in der britischen Öffentlichkeit mit dem Feira-Beschluss die Aufmerksamkeit weitestgehend.162 „Feira“ markiert deshalb einen Wendepunkt im Issue-Attention-Cycle und trennt den Debattenverlauf in eine britische und eine schweizerische Phase. Gleichzeitig trennt „Nizza“ die EU-interne Verhandlungsphase von der Verhandlungsphase mit der Schweiz und weiteren Drittstaaten. Nach ersten exploratorischen Gesprächen zwischen der Schweiz und der EU auf Expertenebene beginnen die Verhandlungen über die Zinsbesteuerung formell am 18. Juni 2002. Gleichzeitig verhandelte die Schweiz mit der EU über acht weitere Dossiers im Rahmen der Bilateralen II.163 Als die Verhandlungen aus Sicht der EU nicht die gewünschten Fortschritte bringen, denkt nicht nur der EU-Finanzminister Frits Bolkestein in der Financial Times164 laut über „Begleitmassnahmen“ nach, sondern fordern auch zahlreiche EU-Regierungen unverblümt Sanktionen gegen die Schweiz. Damit beginnt sich die öffentliche Kommunikation insbesondere in der Schweiz ein weiteres Mal und über eine vergleichsweise längere Zeit zu verdichten (8). Eine breite Koalition von Schweizer Akteuren, einschliesslich derjenigen, welche sonst Finanzplatz und Bankgeheimnis eher kritisieren, verurteilten das Vorgehen der EU und gewisser Exponenten aufs Schärfste. Selbst der luxemburgische Staatsminister Juncker verteidigte die Schweiz und ermahnte seine Finanzministerkollegen, dass es nicht angehe, ein befreundetes Land wie ein Schurkenstaat, ja wie der „Irak der Alpen“ zu behandeln.165 Trotz dieses öffentlichen Drucks auf die Schweiz lehnte die Schweizer Regierung die Einführung eines automatischen Informationsaustauschs in den Verhandlungen ab. Ein erster Kompromiss zwischen der Schweiz und der EU scheiterte noch im Ecofin Ende 2002 an Luxemburg und Österreich (9), doch bereits im Januar 162
Eine Ausnahme bildet die Financial Times, welche die Berichterstattung auch nachher recht hoch hält. Gemäss der Berichterstattung der Financial Times (21.6.2000) soll der britische Finanzminister Brown im Rahmen des „breakfest club“ den deutschen Finanzminister Eichel überzeugt haben, dass eine Quellensteuer nicht nur schlecht für Deutschland, sondern für ganz Europa sei und dass sich nur mit dem automatischen Informationsaustausch Steuerhinterziehung und Steuerflucht effektiv bekämpfen lasse. 163 Aus Sicht des Finanzplatzes Schweiz zählten die Verhandlungen über den Betrug sowie über einen Beitritt der Schweiz zu Schengen / Dublin zu den wichtigen Dossiers, weil auch bei diesen beiden das Bankgeheimnis diskutiert wurde. Die Verhandlungen über diese Dossiers sowie über die Bilateralen II als Gesamtpaket bilden eigene Kommunikationsereignisse, die hier nicht erfasst sind. 164 „I cannot stand Switzerland cheating on tax“, Financial Times, 7.10.2002. 165 Die empörte Abwehrreaktion auf die Drohungen bleibt nicht aus; es titeln Der Bund, 12.10.2002, „Die Schweiz als ,Irak der Alpen‘?“; Tages-Anzeiger, 12.10.2002, „Schurkenstaat Schweiz?“; NZZ, 9.10.2002, „Die Schweiz – keine EU-Kolonie“; Der Bund, 10.10.2002, „Wir sind kein Kanton der EU“; Basler Zeitung, 15.10.2002, „Vasallenstaat?“.
184
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
2003 konnten die beiden Parteien eine auch von den europäischen Finanzministern akzeptierte Verhandlungslösung erzielen (10). Man einigte sich auf die Einführung einer Quellensteuer, die es der Schweiz erlaubt, am Bankgeheimnis festzuhalten. Gleichzeitig sollten auch Luxemburg, Österreich und Belgien ihr Bankgeheimnis behalten können. Damit ist die EU im Prinzip auf das ursprünglich bevorzugte Koexistenzmodell zurückgekehrt, wenn auch in etwas modifizierter Form.166 Weil jedoch Italien seine Zustimmung zu diesem Kompromiss unerwartet von sachfremden Konzessionen (Ermöglichung der Subvention italienischer Milchkühe) abhängig machte, dauerte es schliesslich bis zum 3. Juni 2003, ehe das Zinsbesteuerungsabkommen paraphiert werden konnte (11). Noch war das Zinsabkommen aber nicht definitiv unter Dach und Fach. Weil die Schweiz die Ratifizierung des Zinsbesteuerungsabkommens von der Ausgewogenheit der Verhandlungsresultate aller im Rahmen der Bilateralen II verhandelten Dossiers abhängig gemacht hatte, musste zuerst ein beidseitig zufriedenstellender Verhandlungsabschluss in allen Dossiers abgewartet werden, was schliesslich am 20. Mai 2004 erfolgte (12) und vor allem in Deutschland und der Schweiz nochmals zu einem Anstieg der Berichterstattung führte. Damit wurde das Stadium der Politikformulierung abgeschlossen und es folgte die Phase der Implementierung, die aber praktisch keine Resonanz mehr erzeugt hat, so dass die Richtlinie am 1. Juli 2005 in Kraft treten konnte (13). Mit Blick auf den Politikzyklus verdichtet sich die öffentliche Kommunikation vier Mal mehr oder weniger stark: Ein erstes Mal in Grossbritannien Ende 1998 („Wien“), als eine kontinentaleuropäische Koalition sozialistischer und sozialdemokratischer Regierungen unter Führung Deutschlands eine umfassende Harmonisierungsagenda unter Einschluss der Fiskalpolitik auf die Agenda setzen wollte. Das zweite Mal ein Jahr später anlässlich des EU-Gipfels in Helsinki Ende 1999 („Helsinki“), als die britische Regierung das Veto gegen die Zinsbesteuerung ergriffen hatte. Anlässlich eines weiteren EU-Gipfels Mitte 2000 verdichtete sich die Kommunikation ein drittes Mal, als die europäischen Finanzminister in überraschender Weise dem automatischen Informationsaustausch als Lösungsmodell zugestimmt hatten („Feira“). Eine längere vierte Phase gesteigerter medialer Aufmerksamkeit kommt auf die zweite Hälfte des Jahres 2002 zu liegen, als die EU versucht hat, die Schweiz zur Übernahme des automatischen Informationsaustauschs zu drängen („Schweiz“). Es sind diese vier Phasen verdichteter Kommunikation, die als Stichproben der Analyse der Sprecheräusserungen zugrunde gelegt werden. 166
So müssen die Bankgeheimnisstaaten mit 35 Prozent gleichsam als Preis für das Bankgeheimnis einen höheren Steuersatz erheben als er in den EU-Ländern sonst üblich ist. Der Kompromiss sieht ausserdem eine Überprüfungsklausel vor, die den Vertragsparteien eine Neuverhandlung des Abkommens nach 2013 erlauben sollte.
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
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b) Transnationale Synchronität und nationale Relevanz Die kursorische Darstellung der Berichterstattung entlang des Politikgestaltungsprozesses hat nicht nur eindrücklich belegt, dass sich die Einführung einer europäischen Zinsbesteuerung als äussert konfliktreich erwiesen hat. Ebenso wird deutlich, dass sich die öffentliche Kommunikation in Grossbritannien und der Schweiz während bestimmter Phasen stärker verdichtet als in Deutschland und Frankreich (Abbildung 16). Anteil der Berichterstattung (Artikel in %) 100% 14%
14%
80%
12% 23%
21% 37%
16% 37%
20%
27%
29% 14%
60%
40%
12%
19%
19%
26%
53% 30%
29%
18%
37%
30% 18%
0% P1
P2
Wien
P4
Arena GB
Helsinki
52%
P6
Arena BRD
Feira
Arena F
13%
16% 12%
22% 39%
50%
12%
19%
31%
56%
23%
24%
57% 20%
64%
24%
21%
15%
17%
8%
9%
10%
P8
P9
14%
Schweiz P11
28%
7% P12
Arena Schweiz
Abbildung 16: Synchronität der nationalen Berichterstattungsverläufe Lesehilfe: Die Abbildung misst die prozentualen nationalen Berichterstattungsanteile pro Berichterstattungsperiode. Ersichtlich wird dabei das kommunikative Epizentrum in der britischen (erste Phase) und der schweizerischen Öffentlichkeit (zweite Phase).
Misst man für diese beiden Phasen die Übereinstimmungsgrade der nationalen Berichterstattungsaufkommen, zeigen sich erhebliche Unterschiede: Während die Übereinstimmung in der britischen Phase gross ist (VK = 0.22), ist sie in der schweizerischen Phase mit einem Variationskoeffizienten von 0.76 nur noch klein (Tabelle 12, Spalte VKD-F-GB-CH).167 Ein Vergleich dieser beiden Variations167
Der Variationskoeffizient (VK) misst den Grad der Übereinstimmung bzw. der Variation zwischen gleichen Merkmalen unterschiedlicher Einheiten. Er ergibt sich aus der Division der Standardabweichung durch den Mittelwert. Dabei kann der Grad der Übereinstimmung wie folgt be-
186
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
koeffizienten sagt aus, dass die nationale Aufmerksamkeit für die „Zinsbesteuerungsdebatte“ in den vier nationalen Öffentlichkeiten während der britischen Phase fast vier Mal gleichmässiger verteilt war als während der schweizerischen Phase, obwohl die Übereinstimmungsgrade für die einzelnen Berichterstattungsperioden wie „Wien“ mit einem VK von 0.75 zum Teil ebenfalls klein sind. VKD-F-GB-CH
VKD-F-GB
VKD-F
VKCH-GB
VKCH-D-F
Phase 1
0.22
0.21
0.08
0.19
0.07
Phase 2
0.76
0.20
0.1
0.69
0.66
Total
0.28
0.10
0.0
0.21
0.32
Tabelle 12: Konvergenz der Issue-Aufmerksamkeit nach Debattenphasen Lesehilfe: Der Variationskoeffizient (VK) misst den Grad der Übereinstimmung bzw. der Variation zwischen gleichen Merkmalen unterschiedlicher Populationen. Er ergibt sich aus der Division der Standardabweichung durch den Mittelwert. Dabei kann der Grad der Übereinstimmung wie folgt bewertet werden: Sehr gross (0 - 0.2), gross (0.2 - 0.4), mittel (0.4 - 0.6), klein (0.6 - 0.8), sehr klein (0.8 - 1.0), keine Übereinstimmung (> 1).
Was einen Vergleich zwischen den Phasen besonders aufschlussreich macht, ist ein Quervergleich zwischen unterschiedlichen Paaren nationaler Öffentlichkeiten. So zeigt sich, dass die Übereinstimmung zwischen allen vier untersuchten Öffentlichkeiten mit einem VK von 0.22 praktisch gleich gross ist wie jener der Öffentlichkeiten der drei EU-Länder (VK = 0.21). Diese Verhältnisse bleiben in etwa die gleichen, wenn die Samples der zu vergleichenden Öffentlichkeiten variiert werden (vgl. Tabelle 12, Zeile Phase 1). Aus diesen Zahlen lässt sich nicht folgern, dass die mediale Aufmerksamkeit für die Auseinandersetzung in den EU-Öffentlichkeiten eher übereinstimmt als im Vergleich mit der Schweiz. Die Integrationshypothese trifft für die Phase 1 nicht zu. Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn die zweite Phase analysiert wird. Gegenüber der ersten Phase ist die Übereinstimmung in allen Samples, welche die Schweiz enthalten, deutlich tiefer (0.66 bis 0.76), während sie in den EU-Samples in etwa gleich gross geblieben sind (vgl. Tabelle 12, Zeile Phase 2). Der soeben gezogene Schluss, wonach die Integrationshypothese nicht gelte, ist damit wieder in Frage gestellt. Gilt die Integrationshypothese nun doch? Um diese Frage beantworten zu können, muss zuerst eine andere Frage geklärt werden, auf deren Antwort dann die Beantwortung der ersten Frage aufwertet werden: sehr gross (0 - 0.19), gross (0.2 - 0.39), mittel (0.4 - 0.59), klein (0.6 - 0.79), sehr klein (0.8 – 0.99), keine Übereinstimmung (> 1).
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
187
baut. Wie bereits mehrfach hingewiesen wurde, zeichnet sich die Debatte bekanntlich durch ein kommunikatives Epizentrum in der britischen und einem in der schweizerischen Öffentlichkeit aus, wobei diese Epizentren jeweils in jenen Ländern lokalisiert sind, auf die Druck ausgeübt wird. Weshalb aber verdichtet sich in Konfliktkonstellationen die Kommunikation in jenen Öffentlichkeiten stärker, auf die Druck ausgeübt wird als in den Öffentlichkeiten der Druck ausübenden Staaten? Zur Beantwortung dieser Frage wurde für die vier Perioden „Wien“, „Helsinki“, „Feira“ und „Schweiz“ die Berichterstattung dahingehend untersucht, ob sich in der Medienberichterstattung eine Bedrohungsperzeption etabliert hat und falls ja, was als bedroht (nationale, europäische, allgemeine Ressourcen) wahrgenommen wurde. Berichterstattungsanteil mit Bedrohungsperzeption in Prozent 50%
46%
40%
36%
30%
20%
10%
7% 1%
1%
4%
3%
0%
Arena D
Arena F
Das eigene Land
0%
Arena GB
EU
0% Arena CH
Welt
Abbildung 17: Wahrnehmung bedrohter Ressourcen Lesehilfe: Die linke Abbildung zeigt die Intensität der Bedrohungsperzeption nach Ressourcen (national, europäisch, allgemein) an. (N: 598 CH, 326 D, 256 F, 520 GB).
Die Auswertung zeigt nun, dass in der britischen Öffentlichkeit 46 Prozent und in der schweizerischen 36 Prozent aller Artikel eine Bedrohung nationaler Ressourcen wahrnimmt, während der Anteil in Deutschland lediglich ein Prozent und in Frankreich gar null beträgt (Abbildung 17). Stattdessen wurden in der deutschen und französischen Öffentlichkeit, allerdings nur auf niedrigem Level, Befürchtungen geäussert, wonach die Funktionsweise des europäischen Binnen-
188
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
markts gefährdet sei, wenn die nationalen Steuerpolitiken nicht koordiniert würden. Diese auf Europa bezogenen Befürchtungen kontrastierten mit einer befürchteten Abwanderung des in London domizilierten Markts für Eurobonds und einem damit verbundenen Verlust an Arbeitsplätzen und Wohlstand in Grossbritannien einerseits und der Befürchtung einer Abschaffung des Bankgeheimnisses und damit verbundener negativer Implikationen für das lukrative Vermögensverwaltungsgeschäft in der Schweiz andererseits. Für diese beiden Länder lässt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Intensität der Bedrohung und des Berichterstattungsvolumens nachweisen (Abbildung 18).168 Anzahl Artikel
Berichterstattungsanteil mit Bedrohungsperzeption in Prozent
300 200 100
72% 70%
66%
0
60%
-100
51%
-200 -300
28%
29%
-400
20% 8%
14% 7%
0%
-500 -600 -700
Wien
Helsinki
Feira
Bedrohungswahrnehmung in GB Resonanz in GB
Schweiz (Sep/Okt)
Schweiz (Nov/Dez)
Schweiz (Jan/Feb)
Bedrohungswahrnehmung in CH Resonanz in CH
Abbildung 18: Bedrohungsperzeption und Berichterstattungsvolumen Die Abbildung gibt die Bedrohungsintensität in der britischen und schweizerischen Öffentlichkeit nach Phasen (unterer Bereich) und das entsprechende Berichterstattungsvolumen (oberer Bereich) wieder.
Zieht man nun diesen Befund zur Beantwortung der ersten Frage herbei, dann führt wahrgenommener Druck im unter Druck stehenden Land zwar deutlich zu mehr Resonanz, die Vehemenz oder Intransigenz aber, mit welcher die Briten auf diesen Druck von aussen reagiert haben, wirkte im Vergleich zur defensiven Kommunikation der Schweiz in einer Weise konfliktverschärfend, dass sich in 168
Der Korrelationskoeffizient beträgt r = 0.71 bei einer Signifikanz von 0.99
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Deutschland und Frankreich die Kommunikation in den heissen britischen Phasen stärker verdichtete als in den Konfliktphasen mit der Schweiz. Zu erinnern ist einerseits an die Boulevardkampagne der Sun gegen Lafontaine – „Is this the most dangerous man in Europe?“ –, die von der gesamten euroskeptischen Presse mitgetragen wurde; aber andererseits auch an die ständige Wiederholung der Drohung der Briten mit dem Veto, das die Regierung dann auch eingesetzt hat. Umgekehrt hat die Schweiz von Beginn weg Kooperation signalisiert und sich auf die doch eher defensive Verhandlungsmaxime festgelegt, wonach das Bankgeheimnis nicht verhandelbar ist. Daraus lässt sich nun folgern, dass ein Konflikt unter EU-Staaten deren Öffentlichkeiten eher im Gleichschritt zu takten vermag als ein Konflikt mit der Schweiz. Es ist hier also die Kombination von EUMitgliedstatus und Konflikt, welche die nationale Issue-Relevanz erklärt. Das könnte sich natürlich ändern, wenn der Drittstaat nicht die Schweiz, sondern ein mächtiger Akteur wie die USA oder Russland wäre. Dann würde nicht die Integrationshypothese, sondern die Konflikthypothese die Issue-Relevanz erklären. *** Die empirischen Ergebnisse lassen sich zu fünf Erkenntnissen verdichten. Was erstens den Rhythmus der Berichterstattung über EU-Angelegenheiten mit oder ohne Einbezug von Drittstaaten steuert, sind institutionell festgelegte Ereignisse, auf die hin sich die öffentliche Kommunikation jeweils verdichtet. Solche Verdichtungen, auch auf niedrigem Level, erstrecken sich zweitens in sozialräumlicher Hinsicht nicht gleichmässig über alle Öffentlichkeiten. Das bedeutet mit Bezug auf die unterste Ebene einer transnational verdichteten Kommunikationszone, dass sich diese durch kommunikative Epizentren auszeichnet, die in nationale Kommunikationsräume zu liegen kommen. Die Varianz nationaler IssueAufmerksamkeit erklärt sich drittens durch konfliktinduzierte Bedrohungsperzeptionen, was sich an der Korrelation zwischen Bedrohungsintensität und Berichterstattungsvolumen zeigen lässt. Damit kann die Konflikthypothese die Issue-Relevanz erklären. Der Grad der Variation der Issue-Aufmerksamkeit wird viertens durch die Integrationshypothese im Sinn einer intervenierenden Variablen miterklärt: Konflikte unter EU-Staaten führen eher zu einer Angleichung der nationalen Berichterstattungen als Konflikte der EU mit (kleinen) Drittstaaten wie die Schweiz. Fünftes zeigt die EU vor allem an ihrer Input-Seite ein beträchtliches Öffentlichkeitsdefizit. Es ist nicht sicher, ob ohne das konfliktreiche Vorgehen des deutschen Finanzministers Lafontaine die Zinsbesteuerung zu späteren Zeitpunkten zu gleichen transnationalen Resonanzen geführt hätte. Es wird nun im Weiteren zu zeigen sein, ob diese Erkenntnisse in fortlaufender Untersuchung bestätigt werden oder ob sie revidiert werden müssen.
190
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
6.1.2 Sprecherensembles: Sprechertypen und Diskurskoalitionen Öffentliche Auseinandersetzungen zeichnen sich in der Regel aus durch eine zentrale Leitdifferenz bzw. Konfliktlinie, die das Spektrum des an der Auseinandersetzung beteiligten Sprecherensembles in zwei Diskurskoalitionen mit je unterschiedlichen Positionen und Meinungen zur Streitfrage trennt (Wessler et al. 2008; Wessler 1999; Kriesi 2001; Sabatier 1993). Solchen Diskurskoalitionen gehören unterschiedliche Sprechertypen an: Journalisten, Parteien, Experten, Verbände, Regierungsakteure, zivilgesellschaftliche Akteure usw., wobei je nach Gegenstand der Auseinandersetzung die Zusammensetzung der Sprechertypen variiert. Eine Variationsanalyse der nationalen Sprecherensembles soll Aufschluss darüber geben, ob die Kommunikationsstruktur dieser transnational diffundierten Debatte in gleicher oder ähnlicher Weise wahrgenommen wird oder ob je nationale Sprecherprofile dominieren. Zudem interessiert auch hier die Frage, ob die Übereinstimmung in den EU-Öffentlichkeiten ähnlicher ist als im Vergleich mit dem europäischen Drittstaat Schweiz. Zur Klärung dieser Fragen gelangen die Indikatoren „Sprechertypen“ und „Diskurskoalitionen“ zur Anwendung. a) Sprechertypen In allen vier untersuchten Medienarenen stechen vier Sprechertypen hervor, die insgesamt zwischen 80 Prozent (Schweiz) und 95 Prozent (Deutschland) an der Gesamtresonanz aller Sprecher in einer Öffentlichkeit ausmachen (Abbildung 19). Dabei handelt es sich in dieser Reihenfolge um Akteure anderer Länder (36 Prozent), Journalisten (22 Prozent), die eigene Regierung (16 Prozent) und EUAkteure (15 Prozent). Unter der Berücksichtigung, dass in die Kategorie „ausländische Akteure“ in erster Linie Sprecher ausländischer Regierungen fallen, machen Sprecher aus dem politisch-administrativen System insgesamt in den jeweiligen Medienarenen einen Anteil zwischen 57 Prozent (Grossbritannien) und 66 Prozent (Frankreich) aus. Andere Sprechertypen wie Experten (2 Prozent), Parteien (2 Prozent), Unternehmen (1 Prozent), Verbände (3 Prozent) und weitere (3 Prozent) sind in der öffentlichen Kommunikation dagegen wenig stark vernehmbar. Die Dominanz von Regierungsakteuren verdeutlicht, dass es sich bei der Auseinandersetzung um einen intergouvernementalen Konflikt (horizontale Richtung der Europäisierung) bei starker Beteiligung von EU-Akteuren (vertikale Richtung der Europäisierung) handelt. Die Variationsanalyse für alle vier Öffentlichkeiten ergibt einen durchschnittlichen Variationskoeffizienten von 0.47, was eine mittlere Übereinstimmung anzeigt. Im Vergleich dazu ist die Übereinstimmung für die drei EUÖffentlichkeiten mit einem durchschnittlichen VK von 0.38 leicht höher. In die-
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191
sem Befund kommt zum Ausdruck, dass in der Schweiz Sprechertypen wie Verbände und Unternehmen stärkere Aufmerksamkeit in der Auseinandersetzung erlangen, wenngleich deren Resonanzanteile, wie bereits erwähnt, klein bleiben. Diese Analyse berücksichtigt allerdings die relativen Resonanzstärken der einzelnen Sprechertypen nicht. Wird nämlich jeder Teilvariationskoeffizient mit seinem Resonanzanteil gewichtet, nimmt nicht nur die Übereinstimmung für beide Samples zu (0.27 resp. 0.28), es existiert dann auch kein Unterschied mehr zwischen dem EU-Sample und dem Schweiz-Sample. Anteil der Sprecheräusserungen
60% HeimischeSprecher
Auswärtige Sprecher
50% CH
D
F
GB
40%
30%
20%
10%
0% Experten
a 0.24 b 0.28
Journalisten
0.18 0.22
Parteien
0.86 0.72
Unternehmen
0.29 0.64
Verbände
Regierung
Behörden
0.10 0.86
0.38 0.34
0.92 0.74
Int. Organisation 0.49 0.47
EU-Akteure Ausländische Akteure (Rest) 0.16 0.14
0.23 0.25
Abbildung 19: Konvergenz der Sprechertypen Lesehilfe: Die Säulen der jeweiligen Sprechertypen repräsentieren die prozentualen Resonanzanteile am Total aller Äusserungen heimischer Sprecher pro Arena. Die letzten drei Sprechertypen beziehen sich auf auswärtige Sprecher. Für jeden Sprechertyp sind zwei Variationskoeffizienten angegeben. Der erste Wert a bezieht sich auf die drei EU-Länder D, F, GB; der zweite Wert b umfasst auch noch die Schweiz. (N: 2100 CH, 1479 D, 875 F, 2439 GB).
Von allen Sprechertypen ist die Resonanz der EU-Akteure am gleichmässigsten verteilt (VK = 0.14). Auch Journalisten (0.22) und ausländische Akteure (0.25) erzielen noch eine grosse Übereinstimmung. Die eigenen Regierungen (0.34) werden bereits etwas weniger übersteinstimmend wahrgenommen. Aus Sicht des Publikums wird somit in allen vier untersuchten Öffentlichkeiten eine Debatte wahrgenommen, die sich zu ähnlichen Teilen aus diesen vier Sprechertypen
192
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
zusammensetzt, wobei der Anteil der eigenen Regierung in der Schweiz und Grossbritannien stärker und vice versa der Anteil ausländischer Sprecher schwächer ausfällt als in Deutschland und Frankreich. Diese Besonderheit gilt als weiteres Indiz dafür, dass die transnationale Debatte in Grossbritannien und der Schweiz stärkere innenpolitische Bezüge hat. Geringe bzw. marginale Übereinstimmung findet sich bei den Unternehmen (0.64), Parteien (0.72) und Verbänden (0.86). b) Konfliktlinien, Diskurskoalitionen und Länderkoalitionen Streitfragen zum Verhältnis Markt-Staat werden in den meisten Industrienationen entlang der klassischen Links-rechts-Konfliktlinie ausgetragen (Dalton 1996). Auch Steuerfragen verlaufen normalerweise entlang dieser Konfliktlinie (Kriesi et al. 2006) und so finden wir bei der Streitfrage einer EU-Zinsbesteuerung ebenfalls eine Links-rechts-Konfliktlinie, die sich entlang der Leitdifferenz Steuerharmonisierung versus Steuerwettbewerb operationalisieren lässt. Geheimhaltung der finanziellen Privatsphäre
Markt (regulierungsfeindlich)
Pro Bankgeheimnis / pro Steuerwettbewerb
Pro Bankgeheimnis / pro Steuerharmonisierung
Pro Informationsaustausch / pro Steuerwettbewerb
Pro Informationsaustausch / pro Steuerharmonisierung
Staat (regulierungsfreundlich)
Steuertransparenz Tabelle 13: Theoretische Diskurskoalitionen in der „Zinsbesteuerungsdebatte“ Darüber hinaus ist der Steuerkonflikt aber noch durch eine zweite Konfliktlinie geprägt, die sich aus der Leitdifferenz Steuertransparenz gegenüber Staat versus Geheimhaltung der finanziellen Privatsphäre ableitet. Somit ergeben sich im Fadenkreuz dieser beiden Konfliktlinien vier theoretisch mögliche Diskurskoalitionen (Tabelle 13). Anhand der codierten Äusserungen lässt sich für jeden Sprecher berechnen, wie er sich gegenüber den beiden Leitdifferenzen positioniert.169 169
Gegenüber Steuerwettbewerb kann man sich zustimmend, ablehnend oder kontrovers äussern und ebenso umgekehrt gegenüber Steuerharmonisierung. Wer so für Steuerwettbewerb ist, ist gegen Steuerharmonisierung. Das gleiche Schema beim Bankgeheimnis: Gegenüber dem Bankgeheimnis
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
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Werden die Positionen aller Sprecher des gleichen Landes aggregiert, erhält man die Stellung eines Landes im Koordinatensystem. Wie Abbildung 20 zeigt, können auf diese Weise drei verschiedene Länderkoalitionen identifiziert werden.
Abbildung 20: Länderkoalitionen in der „Zinsbesteuerungsdebatte“ Lesehilfe: Die Abbildung verortet die an der „Zinsbesteuerungsdebatte“ beteiligten Ländern entlang eines Regulierungs- sowie eines Transparenz-Indexes im Koordinatensystem der beiden Konfliktlinien. Länder, die im Quadranten links oben liegen, bilden die Bankgeheimniskoalition. Ihr diametral gegenüber gestellt liegt die kontinentaleuropäische Koalition im Quadranten unten rechts. Dazwischen liegt im Quadranten unten links die angelsächsische Koalition. Die Grösse der Kugeln repräsentiert die aggregierten Sprecheräusserungen aller Sprecher der gleichen Nation. Zwecks Vergleichbarkeit der länderspezifischen Resonanzstärke sind ausschliesslich Sprecheräusserungen gezählt worden, welche Sprecher in auswärtigen Medienarenen erzielt haben. Die beiden Indices für Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Schweiz sind auf der Basis von Sprecheräusserungen in der Heimatarena berechnet worden, für alle anderen Länder auf der Basis von im Ausland erzielten Sprecheräusserungen. Die Erläuterung zur Berechnung findet sich im Anhang unter A2.3.
kann man sich ebenso zustimmend (ablehnend gegenüber Informationsaustausch und zustimmend für Privatsphärenschutz in finanziellen Angelegenheiten), ablehnend (zustimmend zum Informationsaustausch und ablehnend gegenüber Geheimnissphäre der Steuerverhältnisse) oder kontrovers äussern. Auf dieser Basis lassen sich ein Transparenzindex und ein Regulierungsindex berechnen. Zur genauen Berechnung der Indices vgl. die Operationalisierung im Anhang unter A2.1.
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
Eine erste von der Schweiz, Luxemburg, Österreich und Belgien170 angeführte Koalition spricht sich für das Bankgeheimnis (bzw. gegen den Informationsaustausch) und für Steuerwettbewerb (bzw. gegen Steuerharmonisierung) aus. Zu dieser Bankgeheimniskoalition zählen im Wesentlichen von der OECD als „Steueroasen“ bezeichnete Jurisdiktionen wie die Kanalinseln, die Cayman Islands, Monaco, Liechtenstein und weitere. Auch die USA fallen in den Quadranten dieser Koalition, obwohl sich die US-Regierung für einen Informationsaustausch und gegen das Bankgeheimnis ausgesprochen hat und zur weiter unten vorgestellten angelsächsischen Koalition zählt.171 Der Bankgeheimniskoalition gleich in doppelter Weise diametral entgegengesetzt ist die kontinentaleuropäische Koalition, die von der EU, Deutschland und Frankreich angeführt wird. Diese Koalition spricht sich für eine Harmonisierung der nationalen Steuerpolitik auf supranationaler Ebene (bzw. gegen „schädlichen“ Steuerwettbewerb) und für einen Informationsaustausch (bzw. gegen das Bankgeheimnis in Steuerfragen) aus. Ihr gehören weitere EU-Länder wie Italien, die Niederlande, Dänemark, Schweden sowie die in Steuerfragen massgeblichen internationalen Organisationen wie die OECD an. Eine dritte und mengenmässige kleinere Koalition wird angeführt von Grossbritannien und wird als angelsächsische Koalition172 bezeichnet. Diese noch Irland und Spanien umfassende Koalition ist für Steuerwettbewerb (bzw. gegen Steuerharmonisierung) und für einen Informationsaustausch (bzw. gegen das Bankgeheimnis in Steuerfragen)173. Damit bildet die Bankgeheimniskoalition mit der angelsächsischen Koa170
Entgegen der Regelung des Zinsbesteuerungsabkommens, wonach die drei EU-Staaten Luxemburg, Österreich und Belgien an ihrem Bankgeheimnis für eine Übergangsfrist festhalten dürfen, ist Belgien aufgrund der medial vernehmbaren Äusserungen im Quadranten der kontinentaleuropäischen Koalition gelandet. 171 Ein Grund, weshalb die USA ins Feld der Bankgeheimniskoalition und nicht in jenes mit Grossbritannien fällt, ist dem Umstand geschuldet, dass sich mehr Akteure aus der Zivilgesellschaft äussern, die sich für „financial privacy“ aussprechen und dass die USA nur am Rand von der Zinsbesteuerung tangiert war, obwohl die EU die USA als Drittstaat ursprünglich in das Regime miteinbeziehen wollte. In der Auseinandersetzung der USA gegen Steueroasen im Rahmen der G20 zeigt sich jedoch deutlich, dass die US-Regierung sowie die Mehrzahl der US-Medien vehemente Gegner des Bankgeheimnisses in Fiskalangelegenheiten und ganz generell sind. 172 Wären die USA stärker an der Auseinandersetzung beteiligt gewesen, so wie sie dies etwa im Rahmen der zeitgleich geführten OECD-Debatte waren, würden sie in den Quadranten der angelsächsischen Koalition fallen. 173 Dies nicht ohne Doppelmoral, angesichts der steuerpolitisch-juristisch opaken und somit fragwürdigen Finanzplatzkonstruktionen (Trustgesetzgebung, Scheinfirmen) der jeweiligen Länder, onshore (Delaware, Nevada u. a. US-Bundesstaaten, Gibraltar) und offshore (Kanalinseln, Cayman Islands, Bermudas u. a.). – Einer derartigen Koalition einer „hidden agenda“ kann man auch Frankreich und die Niederlande mit ihren postkolonialen Herrschaftsüberresten in Form zwar kleiner, aber finanz- bzw. steuerpolitisch umso grösserer Inselstaaten (Mauritius, Vanuatu, Niederländische Antillen u. a.) zurechnen.
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
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lition eine Allianz in Fragen der Regulierung der Steuerpolitik (gegen Steuerharmonisierung), während die kontinentaleuropäische Koalition mit der angelsächsischen Koalition eine Allianz in Fragen der Steuertransparenz (für automatischen Informationsaustausch) bildet. Verteilen sich nun die Sprechertypen ebenso ähnlich auf die drei Diskurskoalitionen, wie sie sich auf die vier nationalen Öffentlichkeiten haben verteilen lassen? Arena-gewichteter Anteil von Sprecheräusserungen in Prozent nach Sprechertypen; in Klammern: Variationskoeffizient
Angelsächsische Koalition
Kontinentaleuropäische Koalition
Bankgeheimnis-Koalition
0%
10%
20%
30%
40%
Nat. Regierung / Verwaltung / EU (0.09) Journalisten (0.25) andere staatliche Akteure (0.71) Unternehmen (> 1)
50%
60%
70%
80%
90% 100%
Parteien (0.16) Experten (0.42) Verbände / Interessengruppen (0.85) Intergouvernementale Institutionen (> 1)
Abbildung 21: Sprechertypen nach Koalitionen Lesehilfe: Dargestellt sind für jede Koalition die Sprechertypen in Prozent. Die Zahlen hinter den Sprechertypen in der Legende sind die Variationskoeffizienten, welche den Übereinstimmungsgrad zwischen den Koalitionen für jeden Sprechertyp messen. Bankgeheimniskoalition (N: 2258); Kontinentaleuropäische Koalition (N: 2814); Angelsächsische Koalition (N: 1436). Die „N“ sind arenengewichtet.
Die kontinentaleuropäische Koalition ist mit 2814 codierten Äusserungen am umfangreichsten, gefolgt von der Bankgeheimniskoalition (2258) und der angelsächsischen Koalition (1436). Trotz dieser Grössenunterschiede ist die Übereinstimmung der Sprechertypenanteile überaus gross (Abbildung 21). Der nach den Resonanzanteilen gewichtete mittlere Variationskoeffizient beträgt 0.23.174 Kon174
Dagegen ist die Übereinstimmung gemäss durchschnittlichem Variationskoeffizienten klein (VK = 0.61).
196
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
kret zeigt sich die grösste Übereinstimmung bei den staatlichen ExekutivAkteuren, also den nationalen Regierungen und den zu diesem Typus mitgezählten EU-Akteuren (0.09). Ebenso verteilen sich die Parteien (0.16) etwa zu gleich grossen Anteilen auf die drei Koalitionen, wenngleich zu quantitativ deutlich tieferen Anteilen. Die Journalisten erreichen ebenfalls eine hohe Übereinstimmung (0.25), während die Variation bei den Experten (0.42) schon höher ist und noch eine mittlere Übereinstimmung anzeigt. Diese vier Sprechertypen haben in der angelsächsischen und der kontinentaleuropäischen Koalition einen Sprecheranteil von jeweils 95 Prozent, während sie in der Bankgeheimniskoalition immerhin einen Anteil von 80 Prozent erreichen. Die Übereinstimmung bei den anderen Sprechertypen ist sehr klein bis nicht mehr vorhanden (>1). Mit Blick auf die Übereinstimmung der Resonanzverteilung ergeben sich somit weder länderspezifische noch koalitionsspezifische Zusammensetzungen der Sprechertypen: In allen vier untersuchten Öffentlichkeiten beteiligen sich zu sehr ähnlichen Resonanzanteilen gleiche Sprechertypen und diese Sprechertypen verteilen sich auch recht ähnlich auf die drei Diskurskoalitionen. Aber diese drei Diskurskoalitionen haben einen starken nationalen Bias (vgl. Abbildung 22, oberer Teil). Da die heimischen Sprecher in der Schweiz mehrheitlich der Bankgeheimniskoalition, die heimischen Sprecher in Grossbritannien mehrheitlich der angelsächsischen Koalition und die heimischen Sprecher in Deutschland und Frankreich je mehrheitlich der kontinentaleuropäischen Koalition angehören, sind jeweils inländische Sprecher, die je einer der beiden anderen als der dominierenden Inländerkoalition angehören, deutlich in der Minderheit. So gehen in der britischen Öffentlichkeit 93 Prozent aller Äusserungen britischer Sprecher auf das Konto der angelsächsischen Koalition. In der Schweiz sind es 88 Prozent aller von Schweizern gemachten Äusserungen, die der Bankgeheimniskoalition zuzuschlagen sind, während 70 Prozent der deutschen und 76 Prozent der französischen Sprecher, die sich je in ihrer Heimöffentlichkeit äussern, der kontinentaleuropäischen Koalition angehören. Entsprechend liegen die Variationskoeffizienten über 1 und nur mit Bezug auf die kontinentaleuropäische Koalition gibt es noch eine marginale Übereinstimmung (0.84). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich die öffentliche Wahrnehmung der Konfliktkonstellation etwas angleicht, wenn auch die auswärtigen Sprecher in der heimischen Arena mitberücksichtig werden. Die Variationsanalyse zu den Diskurskoalitionen zeigt, dass sich die Resonanzanteilverhältnisse in allen vier Öffentlichkeiten angleichen, wobei immer noch die Koalition am meisten Beachtung findet, die im eigenen Land als die dominierende Inländerkoalition gilt. Die Übereinstimmung ist bei der kontinentaleuropäischen Koalition mit einem Variationskoeffizienten von 0.27 am grössten, während der Grad der Übereinstimmung bei der Bankgeheimniskoalition
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(0.57) mittel und jener bei der angelsächsischen Koalition (0.81) praktisch nicht mehr vorhanden ist. Während die kontinentaleuropäische Koalition in allen vier untersuchten Öffentlichkeiten zu recht ähnlichen Anteilen Resonanz erzielt, ist die Beachtungsvariation der angelsächsische Koalition am grössten. Anteil der Sprecheräusserungen nach Koalitionen >1
Inländische Sprecher
>1
2%4%
3%
70%
26%
D
6%
76%
18%
F
10% 1%
88%
CH 0.57
Alle Sprecher
0.84
93%
GB
0.81
10%
GB
10%
0%
9%
10%
20%
30%
40%
Bankgeheimnis-Koalition Kontinentaleuropäische Koalition
3%
51%
61%
CH
4%
52%
20% 36%
D
3%
30%
57% 24%
F
0.27
50%
60%
1%
29% 70%
80%
90%
100%
Angelsächsische Koalition unbestimmbar
Abbildung 22: Sichtbarkeit der Konfliktlinien nach nationalen Öffentlichkeiten Lesehilfe: Die Spalten im oberen Bereich bilden für jede Öffentlichkeit die Anteile der inländischen Sprecheräusserungen nach Koalitionen in Prozent ab. Jede nationale Öffentlichkeit wird von einem inländischen, der gleichen Koalition angehörenden Sprecherensemble deutlich dominiert. (N: 1176 CH, 686 D, 267 F, 1432 GB). Die Spalten im unteren Bereich schliessen auch die ausländischen Sprecher in einer Öffentlichkeit ein. (N: 2100 CH, 1479 D, 875 F, 2439 GB).
Daraus lässt sich mit Bezug auf die Vergleichbarkeit der Konfliktkonstellationsperzeption ein vorläufiger Schluss ziehen: In Grossbritannien wird die Auseinandersetzung vor allem wahrgenommen als Auseinandersetzung zwischen der kontinentaleuropäischen Koalition und Grossbritannien, also als eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Vorstellungen über die richtige Fiskalpolitik in der Europäischen Union (Steuerwettbewerb contra Steuerharmonisierung). Die zweite Konfliktlinie (Bankgeheimnis contra Informationsaustausch) ist von untergeordneter Bedeutung. Gerade umgekehrt verhält es sich in der Schweiz. Hier wird die Auseinandersetzung wahrgenommen als ein Konflikt zwischen der Bankgeheimniskoalition und in erster Linie der kontinentaleuropäi-
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
schen Koalition über das Bankgeheimnis. Gegengleich zur Schweiz wird in Deutschland die Debatte wahrgenommen als eine Auseinandersetzung zwischen der kontinentaleuropäischen Koalition und der Bankgeheimniskoalition, während die angelsächsische Koalition deutlich weniger registriert wird. In Frankreich verhält es sich ähnlich. Allerdings ist der Resonanzanteil der Bankgeheimniskoalition im Unterschied zu Deutschland kleiner, während dafür der Anteil der angelsächsischen Koalition leicht grösser ist.175 Anteil der Sprecheräusserungen nach Koalitionen (alle Sprecher)
100%
0.42 0.41
90% 80%
0.30 0.18
70%
0.24 0.22
0.26 0.26
60%
0.27 0.22
0.93 0.89
50%
>1 0.90
40% 30%
0.81 0.69
0.61 0.59
0.34 0.30
0.20 0.12
20% 10% >1 0.68
0% CH
D
F Wien
GB
0.52 0.38
0.89 0.90
CH
D
F
GB
Helsinki
Bankgeheimnis-Koalition kontinentaleuropäische Koalition
CH
D
F Feira
GB
0.57 0.46
CH
D
F
GB
CH
Schweiz
D
F
GB
Total
Angelsächsische Koalition unbestimmbar
Abbildung 23: Diskurskoalitionen nach Ländern im Debattenverlauf Lesehilfe: Die Säulen bilden für jede Öffentlichkeit die Resonanzanteile der Diskurskoalitionen pro untersuchte Kommunikationsverdichtung in Prozent ab. Die erste Zahl in den Kästchen rechts einer Diskurskoalition stehend entspricht dem Variationskoeffizienten für alle vier Öffentlichkeiten, die zweite Zahl demjenigen für die drei EU-Öffentlichkeiten.
Diese pauschalisierenden Schlussfolgerungen gilt es allerdings etwas zu präzisieren. Betrachten wir die vier im Kommunikationsereignisverlauf identifizierten und in dieser Arbeit untersuchten Kommunikationsverdichtungen, erkennen wir anlässlich „Wiens“ insbesondere unter den drei EU-Staaten nicht nur eine grosse Übereinstimmung der Resonanzanteile sowohl bei der kontinentaleuropäischen 175
Dieser Unterschied ist möglicherweise dadurch erklärbar, dass die FAZ zur Bankgeheimniskoalition, Le Figaro hingegen zur angelsächsischen Koalition zugeschlagen wurden.
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(0.18) wie auch bei der angelsächsischen Diskurskoalition (0.34), sondern auch eine sehr hohe Beachtung dieser beiden Koalitionen in den Öffentlichkeiten der untersuchten EU-Länder mit Anteilen zwischen 76 und 92 Prozent (Abbildung 23). In den Öffentlichkeiten dieser drei Länder wird die Auseinandersetzung in dieser Phase mit grosser Übereinstimmung als ein Steuerstreit zwischen Grossbritannien und der kontinentaleuropäischen Koalition wahrgenommen. Dagegen erzielt die Bankgeheimniskoalition in diesen drei EU-Öffentlichkeiten zu Beginn praktisch keine Resonanz und auch wenig Übereinstimmung (0.68). Diese Konstellation wiederholt sich ein Jahr später anlässlich „Helsinkis“ noch einmal, wenngleich die Übereinstimmungsgrade nicht mehr ganz so hoch wie noch ein Jahr zuvor sind (VKKK = 0.26, VKAK = 0.59). Mit „Feira“ ändert sich dann die Wahrnehmung der Konfliktkonstellation fundamental. Nicht nur nimmt die mediale Aufmerksamkeit für die Bankgeheimniskoalition in allen Öffentlichkeiten zum Teil sehr deutlich zu, während umgekehrt die angelsächsische Koalition an Resonanz verliert, mit Ausnahme in der britischen Öffentlichkeit. Die Übereinstimmung des Beachtungsgrads für die Bankgeheimniskoalition wird in den EU-Öffentlichkeiten auch deutlich grösser (VKBK = 0.38), während für die angelsächsische Koalition umgekehrt keine Übereinstimmung mehr auszumachen ist (VKAK = 0.9). Mit Blick auf die drei kontinentaleuropäischen Öffentlichkeiten (CH, D, F) zeichnet sich eine Auseinandersetzung ab, die überall gleichermassen als Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern eines Bankgeheimnisses in Steuerangelegenheiten wahrgenommen wird. Diese Entwicklung gelangt während der als „Schweiz“ bezeichneten Kommunikationsverdichtung zur vollen Ausprägung. In dieser Phase wird die Auseinandersetzung in allen vier untersuchten Öffentlichkeiten mit sehr grosser Übereinstimmung wahrgenommen als Konflikt zwischen der Bankgeheimniskoalition (VKBK = 0.20) und der kontinentaleuropäischen Koalition (VKKK = 0.24). Dass sich zu dieser Zeit die Briten an der Seite der EU, Deutschlands und Frankreichs für einen Informationsaustausch stark machen, wird hingegen sehr unterschiedlich stark beachtet, was zu einem Variationskoeffizienten ohne Übereinstimmungsbeleg führt (VKAK = 0.93). Die Sprechervariationsanalyse bringt ganz deutlich die zwei Gesichter zum Vorschein, durch welche der Zinssteuerstreit in Europa geprägt ist. Die erste Phase wird in allen vier Öffentlichkeiten in recht grosser Übereinstimmung als eine Auseinandersetzung zwischen der kontinentaleuropäischen Koalition mit ihrer Position für eine Steuerharmonisierung (regulierungsfreundlich) und der angelsächsischen Koalition mit ihrer Position für Steuerwettbewerb (regulierungsfeindlich) wahrgenommen. Die zweite Phase bringt dann ihrerseits in grosser Übereinstimmung der öffentlichen Wahrnehmung zum Ausdruck, dass sich die Konfliktlinie gedreht hat und dass jetzt die Bankgeheimniskoalition im Streit
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vor allem mit der kontinentaleuropäischen und, etwas weniger ausgeprägt, mit der angelsächsischen Koalition liegt. Die Übereinstimmung ist, wie die Variationskoeffizienten in Abbildung 22 zeigen, in den drei EU-Öffentlichkeiten leicht grösser als in einem Sample mit der Schweiz. Dennoch scheint die EU-Mitgliedschaft nicht die zentrale Erklärung für den Grad der Übereinstimmung zu liefern. Vergleicht man nämlich die Übereinstimmungswerte, wie sie zwischen der deutschen und französischen im Unterschied zwischen der britischen und schweizerischen Öffentlichkeit erzielt werden, stellt man fest, dass die Übereinstimmung in den Öffentlichkeiten der kontinentaleuropäischen Koalition (D, F) um fast den Faktor drei höher ist. Was also die Wahrnehmung der Konfliktkonstellation bzw. die Sichtbarkeit der Konfliktlinien determiniert, scheint die Koalitionszugehörigkeit zu sein. Wer mit anderen Worten auf der gleichen Seite der Konfliktlinie positioniert ist und entsprechend zur gleichen Diskurskoalition gehört, sieht die Welt ähnlicher als solche, die unterschiedlichen Koalitionen angehören und somit auf verschiedenen Seiten der Konfliktlinie liegen. *** Aus den empirischen Befunden zur Analyse der Diskurskonvergenz als Übereinstimmung von Sprechertypen und Diskurskoalitionen lassen sich drei Erkenntnisse synthetisieren. Erstens scheint weder die Konflikthypothese noch die Integrationshypothese die hohe Übereinstimmung der nationalen Sprechertypen zu erklären. Dass in allen nationalen Öffentlichkeiten die „Zinsbesteuerungsdebatte“ in erster Linie als Auseinandersetzung zwischen nationalen Regierungen und der Europäischen Union, also EU-Akteuren, wahrgenommen wird, ergibt sich aus der Streitfrage selbst. Es handelt sich ja in erster Linie um eine Frage, ob und wie das in nationalen Regelungskompetenzen liegende Problem der grenzüberschreitenden Steuerflucht auf einer zwischenstaatlichen oder gar supranationalen Ebene zu lösen ist. Aus dieser Leitdifferenz ergibt sich die Konfliktkonstellation, welche das Feld der Konfliktakteure entlang von Exit-Faktoren (unattraktives Steuerregime) und Voice-Faktoren (attraktives Steuerregime) in nationalstaatlich geprägte Diskurskoalitionen teilt. Solche nationalstaatlich geprägten Konfliktkonstellationen führen dann zweitens dazu, dass sich die national ähnlich verteilten Sprechertypen auf unterschiedliche nationale Diskurskoalitionen verteilen, was deren sehr grosse Variation zu erklären scheint. Drittens und ganz entscheidend beginnt sich die nationale Wahrnehmung der Konfliktstruktur wieder anzugleichen, sobald nicht nur heimische, sondern auch auswärtige, in der eigenen Öffentlichkeit Resonanz erzielende, Akteure berücksichtigt werden, und dies umso mehr, je eher die Auseinandersetzung von der gleichen Seite der Konflikt-
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linie aus wahrgenommen wird. Damit ist es die Konflikthypothese, welche die Wahrnehmung der Konfliktstruktur erklärt. Möglicherweise ist der Übereinstimmungsgrad zwischen Ländern, die wie Deutschland und Frankreich nicht nur der gleichen Länderkoalition angehören, sondern auch schon lange und weitreichend integriert sind, ähnlicher als zwischen Ländern, die zwar der gleichen Koalition angehören, jedoch einen historisch unterschiedlichen Integrationshintergrund aufweisen. 6.1.3 Semantik – Kernbestand gemeinsam bewirtschafteter Frames und Vollständigkeit unterschiedlich begründeter Positionen Eine transnational verdichtete Kommunikationszone erfordert eine gewisse Konvergenz der Semantik. Die Thematisierung von Streitfragen in völlig unterschiedlichen Deutungsperspektiven indiziert eine Inkommensurabilität nationaler Deutungshorizonte und verunmöglicht wechselseitige Verständigung und kollektives Lernen (Kantner 2002a; Siegenthaler 2003). Verlangt wird indes nicht, dass in allen nationalen Öffentlichkeiten die gleichen Frames auch gleich stark bewirtschaftet werden müssten. Unterschiedliche nationale Kulturen, historische Erfahrungen oder spezifische Betroffenheitsgrade lassen nicht nur verschiedene nationale Gewichtungen der Problemperspektiven, Relevanzgesichtspunkte und Deutungen erwarten, sondern machen eine solche auch normativ wünschbar (Peters / Wessler 2006, 134). Normativ gefordert sind nur, aber immerhin ein transnational geteilter Kernbestand gemeinsam bewirtschafteter Frames sowie eine kategoriale Vollständigkeit der unterschiedlich begründeten Positionen und Meinungen. Erst dann, wenn die Frames in allen am Konflikt beteiligten Öffentlichkeiten auf beiden Seiten der Konfliktlinien anklingen und auf diese Weise die von den Diskurskoalitionen unterschiedlich gedeuteten Problem- und Problemlösungsperspektiven vernehmbar sind, werden wechselseitiges Verständnis und somit Konfliktrationalisierung sowie kollektives Lernen möglich. Nachfolgend werden die empirischen Befunde zu diesen beiden Teilaspekten der Deutungsstrukturen öffentlicher Debatten vorgestellt. Dies erfolgt wiederum unter dem leitenden Gesichtspunkt, ob die semantische Struktur in den EU-Öffentlichkeiten eher übereinstimmt als im Vergleich mit dem Drittstaat Schweiz oder ob vielleicht die Konfliktkonstellation einen Einfluss auf den Übereinstimmungsgrad der Semantik ausübt. Am Ende dieses Subkapitels wird gezeigt, wie die „Zinsbesteuerungsdebatte“ im Verlauf der Auseinandersetzung umgedeutet und wie der Frame des „schädlichen“ Steuerwettbewerbs durch denjenigen der Steuerhinterziehungsbekämpfung abgelöst wurde. Hierzu stellt sich die Frage, ob mit dieser
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
Umdeutung der Debatte auch ein kollektiver Lernprozess der zentralen Protagonisten beobachtbar ist oder nicht. a) Kernbestand gemeinsam bewirtschafteter Frames Sprecher artikulieren in der Regel ihre Aussagen zu Streitfragen und Problemen innerhalb von Frames, also von interpretativen Schemas, wie Probleme und Problemlösungen zu deuten sind.176 Die Fiskaldebatte zeichnet sich insgesamt durch neun generalisierte Frames aus, die jeweils in eine unterschiedliche Anzahl von Sub-Frames unterteilt sind.177 Betrachten wir zunächst die relative Häufigkeit der bewirtschafteten Frames und deren Bedeutungen (Abbildung 24). Anteil der Sprecheräusserungen 0%
10%
20%
30%
40%
50%
Verhandlungstaktik Steuerwettbewerb Steuerhinterziehung Europäische Integration Souveränität Volkswirtschaft Staat-Bürger Finanzkriminalität Praktikabilität Heimische Sprecher
Alle Sprecher
Abbildung 24: Relative Häufigkeit der bewirtschafteten Frames Lesehilfe: Die Balken bilden die relative Häufigkeit der in der Steuerdebatte bewirtschaften Frames für inländische Sprecher (schwarz) und alle Sprecher (grau) ab. Heimische Sprecher N: 3561, alle Sprecher N: 6868. – Die Differenz zum Total aller Sprecheräusserung 6893 ergibt sich aus dem Weglassen der Kategorie kein Frame / andere. Die Prozentwerte sind arenengewichtet.
176
Der Begriff Frame wird im Sinn von Rein / Schon (1994, 263) verwendet, die unter Frame eine Perspektive verstehen, in der eine amorphe, undefinierte Problemsituation sinnvoll gedeutet wird, um entsprechend strukturiert handeln zu können. Framing als eine Strategie kommunikativen Handelns umfasst die Selektion, Organisation und Interpretation einer komplexen Realität, um im Licht dieser bestimmten Sinnkonstruktion die Realität zu verstehen und zu erklären, andere zu überzeugen und selbst zu handeln. 177 Eine Auflistung der Subframes unter die Frames ist dem Codierbuch zu entnehmen.
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Mit 36 Prozent bewirtschaften inländische Sprecher am häufigsten den Frame der Verhandlungstaktik. Der Anteil dieses Frames steigt gar auf 46 Prozent an, wenn alle Sprecher als Basis genommen werden. Mit diesem Frame drücken die Sprecher die Bedingungen ihrer Konzessions- und Handlungsbereitschaft aus, äussern sich über Erwartungen bezüglich Verhandlungsfortschritt oder stellen Forderungen an andere Akteure.178 Ein Grund für die ausserordentlich starke Bewirtschaftung dieses Frames lässt sich durch die Prozesslogik und das diplomatische Sprachspiel internationaler Verhandlungen erklären. Am zweit häufigsten mit 21 Prozent äussern sich die inländischen Sprecher im Rahmen des Steuerwettbewerbs (18 Prozent bei allen Sprechern). In diesem sachthematischen Kernframe der Debatte wird die Frage erörtert, ob das gute Funktionieren des gemeinsamen Binnenmarkts durch das, was vor allem die Kommission als „schädlichen“ Steuerwettbewerb definiert hat,179 beschränkt wird und ob deshalb eine Harmonisierung der nationalen Steuerregimes angezeigt ist. Dahinter folgt der Frame der Steuerhinterziehung mit durchschnittlich 13 Prozent (alle: 10 Prozent) Resonanzanteil. In diesem zweiten sachbezogenen Kernframe der Debatte werden Problembezug und Problemlösungen im Licht der grenzüberschreitenden Steuerflucht und Steuerhinterziehung erörtert. An vierter Stelle mit einem Anteil von 12 Prozent (alle: 9 Prozent) thematisieren inländische Sprecher die Steuerproblematik im Kontext der europäischen Integration. Hier steht vor allem das Verhältnis des eigenen Landes zur Europäischen Union bzw. das Zusammenspiel der Länder untereinander im Vordergrund. Diese vier Frames machen im Durchschnitt 82 Prozent (alle: 83 Prozent) der Gesamtdebatte aus. Es folgt mit 6 Prozent der Frame der Steuersouveränität (alle: 6 Prozent). Hier steht zum einen die Frage im Zentrum, ob die Kompetenzen in Fiskalangelegenheiten weiterhin den Nationalstaaten obliegen sollen oder ob die EU mehr Kompetenzen erhalten soll. Zum anderen geht es um die Frage der Legitimität von nationalen 178
Drei Beispiele sollen illustrieren, wie sich Regierungen besonders gerne äussern: Der Schweizer Finanzminister Kaspar Villiger prägte die Verhandlungsmaxime, wonach „das Bankgeheimnis nicht verhandelbar“ sei, womit er an die innenpolitische Front ein Beruhigungszeichen aussandte und nach aussen Kooperationsbereitschaft, aber auf anderen Gebieten signalisierte. Der britische Finanzminister Gordon Brown erklärte auf Drängen der EU für die Einführung einer Quellensteuer, dass „Lösungen nicht auf regionaler, sondern auf globaler Ebene“ zu suchen seien. Damit schlägt er nicht die Idee einer Kooperation zwischen Regierungen an sich in den Wind, sondern eine Kooperationslösung, die nur die EU betrifft. Der luxemburgische Staats- und Finanzminister Juncker wiederum betont bei jeder Gelegenheit, dass Luxemburg einer Lösung schon zustimmen werde, sofern auch Drittstaaten das gleiche Lösungsmodell einführen. So signalisiert auch Luxemburg gegen Aussen Kooperationsbereitschaft, ohne konkret Nein sagen zu müssen. Daneben gibt es zahlreiche Äusserungen, welche sich auf die Chance eines möglichen Verhandlungsfortschritts beziehen. 179 Im Anhang findet sich eine Rekonstruktion der Umdeutung des Steuerwettbewerbs als „schädlich“ unter B2.6.
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
Steuerregimes, die den Vollzug der nationalen Steuergesetzgebung erschweren oder verunmöglichen. Mit durchschnittlich je 4 Prozent folgen die Frames Volkswirtschaft (alle: 3 Prozent) und Staat-Bürger (alle: 3 Prozent). Während unter der Volkswirtschaftsperspektive Produktivitäts- und Arbeitsplatzfragen thematisiert werden, geht es beim Frame Staat-Bürger um die Legitimität des Geheimnisschutzes der Privatsphäre in finanziellen Angelegenheiten. Die Debatte wird abgerundet mit dem Frame Finanzkriminalität mit 2 Prozent (alle: 2 Prozent) und Praktikabilität mit ebenfalls 2 Prozent (alle: 2 Prozent). Im Frame Finanzkriminalität wird die Fiskaldebatte verknüpft mit Aspekten der Geldwäscherei, Korruption oder Terrorismusfinanzierung, wogegen es bei der Praktikabilität mehr um technische Aspekte möglicher Problemlösungen geht.
Abbildung 25: Konvergenz der Frames Lesehilfe: Die Säulen repräsentieren die prozentualen Resonanzanteile der Frames am Total aller Sprecheräusserungen von Inländern einer Öffentlichkeit (=100%). Der erste Variationskoeffizient a misst die Übereinstimmung unter den EU-Öffentlichkeiten, die zweite Zahl b misst jene aller vier Öffentlichkeiten (N: 1176 CH, 686 D, 267 F, 1432 GB).
Nun stellt sich die Frage, ob und bei welchen Frames eine Übereinstimmung vorliegt oder ob vor allem in nationalpartikulärer Deutungsperspektive argumentiert wurde. Die Variationsanalyse der Frames ergibt einen durchschnittlichen VK von 0.46 pro Frame, was noch eine mittlere Übereinstimmung anzeigt. Wer-
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den die Teilvariationskoeffizienten mit ihren Resonanzanteilen gewichtet, nimmt die Übereinstimmung leicht zu (VKresonanzgewichtet = 0.39). Wie Abbildung 25 zu entnehmen ist, ist die Übereinstimmung gross (0.2 bis 0.39) bei den Frames Souveränität (0.21), Verhandlungstaktik (0.28), Steuerwettbewerb (0.33) und Volkswirtschaft (0.34); sie ist mittel bei den Frames Finanzkriminalität (0.46) und Steuerhinterziehung (0.52); sie ist klein bei den Frames Praktikabilität (0.61) und Europäische Integration (0.62) und gar sehr klein beim Frame Staat-Bürger (0.8). Insbesondere die beiden letztgenannten Frames verweisen mit ihrem hohen Variationskoeffizient auf spezifische national-partikularistische Deutungsperspektiven. Äusserungen im Frame der europäischen Integration werden am häufigsten von britischen Sprechern artikuliert. Vor allem die euroskeptische Presse und die konservative Tory sehen in den Harmonisierungsbemühungen der kontinentaleuropäischen Koalition Anzeichen der Errichtung eines europäischen Superstaats, weshalb der Anspruch des ehemaligen Premierministers Blair, in Europa eine Führungsrolle zu spielen, vor dem Hintergrund des Steuerstreits ausgeschlachtet worden ist. Aber auch in der Schweiz hat dieser Frame einen innenpolitischen Bezug. Für eine Zeitlang versuchte die nationalkonservative Rechte in der Schweiz mit der Formel „Je mehr EU, desto weniger Finanzplatz“ Stimmung gegen einen EU-Beitritt zu machen, während umgekehrt die Linke das Bankgeheimnis als eine abzubauende Hürde auf dem Weg zu einer EU-Mitgliedschaft kritisierte (vgl. Tobler / Gisler 2006 u. Kapitel 5.2.2 dieser Arbeit). Geringe Übereinstimmung und somit viel nationale Idiosynkrasie erfährt die Steuerdebatte, wenn sie im Frame Staat-Bürger geführt wird. Hier geht es um die Legitimität der Geheimhaltung der finanziellen Privatsphäre auch vor dem Staat und um ein Staatsverständnis, das diese Geheimhaltung so wie auch das fiskalische Bankgeheimnis als Ausdruck einer freiheitlichen Ordnung zu begründen versucht. Vor allem in der Schweiz, wo ein solches republikanisches Verhältnis und Verständnis zwischen Staat und Bürgern eine feste Tradition hat, wird dieser Frame bewirtschaftet, während er in Grossbritannien und Frankreich kaum eine Rolle spielt. Erstaunlich oft wird dieser Frame indes auch von deutschen Sprechern bemüht. Dies geht zum einen auf jene Phase zwischen Helsinki 1999 und Feira 2000 zurück, in welcher der deutsche Finanzminister Eichel beim Bankgeheimnis eine Kehrtwende vollzieht und ein solches nur noch für Deutsche in Deutschland gemäss einer Inländerregelung legitimiert sieht (vgl. die Ausführungen unter Ziffer c in diesem Subkapitel). Zum anderen ist es vor allem die FAZ, die in Deutschland eine Lanze für das Bankgeheimnis bricht und sich in Absetzung zur sozialdemokratischen Regierung Schröder für eine liberale Freiheitsordnung ausspricht. Vergleichsweise gering ist die Übereinstimmung auch beim Frame der Steuerhinterziehung. Insbesondere deutsche Sprecher bemühen
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diesen Deutungsrahmen. Die deutsche Öffentlichkeit kann somit als Speerspitze im Kampf gegen grenzüberschreitende Steuerflucht bezeichnet werden. Um nun zu beurteilen, ob sich die Debatte durch eine mehr oder weniger grosse Übereinstimmung bei den Kernframes auszeichnet, wird die Variationsanalyse ausgeweitet auf ein Sample, das zusätzlich alle Sprecher umfasst. Dabei werden die Frame-spezifischen Variationskoeffizienten ihren entsprechenden Resonanzanteilen gegenübergestellt. Der Kernbestand gemeinsam bewirtschafteter Frames ist umso breiter, je grösser die Übereinstimmung auf den materiell zentralen Frames ausfällt. Aus der Tabelle 14 geht hervor, dass die beiden materiell zentralen Frames Steuerwettbewerb (0.3) und Steuerhinterziehung (0.33) hohe Übereinstimmungswerte erzielen, sofern alle Sprecher berücksichtigt werden. Der quantitativ am häufigsten bewirtschaftete Frame der Verhandlungstaktik zeitigt gar noch einen höheren Übereinstimmungswert (0.23). Diese Befunde legen die Schlussfolgerung nahe, dass doch ein recht grosser Kernbestand gemeinsam geteilter Frames vorhanden ist. Die transnational verdichtete Kommunikationszone zeichnet sich auf der Ebene ihrer Framestruktur nicht durch gegeneinander abgeschottete nationale Öffentlichkeiten aus. Wird die Framebezogene Variationsanalyse nach unterschiedlichen Paarbeziehungen und Sprechertypen spezifiziert, lassen sich einige interessante Regularitäten herausdestillieren.
Verhandlungstaktik Steuerwettbewerb Steuerhinterziehung Europäische Integration Souveränität Volkswirtschaft Staat-Bürger Finanzkriminalität Praktikabilität
Resonanz
VK (heimische Sprecher)
VK (alle Sprecher) 0.23
> 30%
0.28
20 - 30%
0.33
0.3
10 - 20%
0.52
0.33
10 - 20%
0.62
0.65
5 - 10%
0.21
0.34
< 5%
0.34
0.18
< 5%
0.8
0.53
< 5%
0.46
0.34
< 5%
0.61
0.27
Tabelle 14: Kernbestand gemeinsamer Frames Lesehilfe: Die Übereinstimmung ist umso grösser, je tiefer die Variationskoeffizienten bei hohen Resonanzanteilen sind.
Ein Vergleich zwischen den inländischen Sprechern (VKarithmetisch = 0.46 / VKreso= 0.39) und allen Sprechern (0.35 / 0.31) zeigt, dass die Übereinstimmung grösser ist, wenn alle Sprecheräusserungen berücksichtigt werden. Das nanzgewichtet
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bedeutet, dass sich die nationalen Deutungsstrukturen anzugleichen beginnen, wenn auswärtige Sprecher Resonanz erhalten. Da in diesem Fall die auswärtigen Sprecher jeweils zu einem grossen Teil identisch sind mit den Sprechern der beiden anderen Koalitionen, hängt ein gemeinsam geteilter Deutungsbestand in einer transnational verdichteten Kommunikationszone letztlich davon ab, wie offen die nationalen Medien für die Positionen gegnerischer Koalitionen sind. Diese Frame-Variationsanalyse kann die These der Medien als Motoren einer Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten auf der Ebene der Semantik bestätigen (Koopmans / Pfetsch 2006; Pfetsch / Adam / Eschner 2008). Während nämlich die Überstimmung zwischen den Journalisten grösser (0.39 / 0.36) ist als die Übereinstimmung aller inländischer Sprecher (0.46 / 0.39), erzielen die nationalen Regierungen überaus tiefe Übereinstimmungswerte (0.73 / 0.46). Nach diesem Befund macht es den Anschein, dass die ausländischen Sprecher und die heimischen Medien dafür sorgen, dass der gemeinsam geteilte Deutungsbestand grösser wird, während sich die nationalen Regierungen eher an den tradierten Einstellungen des nationalen Publikums orientieren. Dies mag damit erklärt werden, dass die nationalen Regierungen ihre Legitimation von „ihren“ Bürgern beschaffen müssen. Dagegen leisten die heimischen Journalisten für „ihr“ nationales Publikum eine transkulturelle Verständigung, indem sie die nationalen Deutungsstrukturen stärker ineinander verschränken (vgl. Anhang unter A2.2). Unterschiede zwischen den EU-Öffentlichkeiten und der Schweiz gibt es praktisch keine, weder auf der Basis aller Sprecher (VKEU-Öffentlichkeiten = 0.3 / VKalle Öffentlichkeiten = 0.31) noch auch auf der Basis lediglich der heimischen Sprecher (0.34 / 0.39). Vergleicht man die Öffentlichkeiten paarweise, dann lassen sich die nachfolgenden Übereinstimmungswerte ermitteln: VKD-F = 0.21; VKD-GB = 0.3; VKD-CH = 0.12; VKF-GB = 0.2; VKF-CH = 0.12; VKGB-CH = 0.36. Daraus lässt sich auch nicht eindeutig der Schluss ableiten, dass die Frame-Struktur in verbündeten Ländern ähnlicher ist als zwischen gegnerischen. Es kann aber gezeigt werden, dass die durchschnittliche Übereinstimmung am tiefsten in Kombinationen mit der britischen Öffentlichkeit (0.29) ist, während sie für Kombinationen der drei anderen Länder etwa gleich ist (0.18 bis 0.21). Aus diesen nicht weiter statistisch geprüften Befunden lässt sich schliessen, dass die nationale Framestruktur durch historisch gewachsene Traditionen bestimmt sind, dass also die „diskursiven Gelegenheitsstrukturen“ (Ferree et al. 2002) den Grad der Übereinstimmung erklären könnten.
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
b) Vollständigkeit der unterschiedlich begründeten Positionen und Meinungen Ein breiter Bestand gemeinsam bewirtschafteter Frames gibt noch keine Auskunft darüber, ob die einzelnen Frames in den nationalen Öffentlichkeiten auch auf beiden Seiten einer Konfliktlinie Resonanz erzeugen, ob also auf beiden Seiten der Leitdifferenz die Diskurskoalitionen mit ihren antagonistischen Positionen und Meinungen wahrgenommen werden oder ob dies nur einseitig geschieht. Es könnte ja durchaus sein, dass gewisse Frames in ausländischen Öffentlichkeiten nur im Zusammenhang mit der einen, andere nur im Zusammenhang mit der anderen Koalition Resonanz erhalten, obwohl sie in der Heimatöffentlichkeit stark bewirtschaftet werden. Da Diskurskoalitionen per definitionem über gleiche Positionen zu Streitfragen bestimmt sind und da die Diskurskoalitionen in diesem Fall entlang der nationalen Grenzen verlaufen, wäre eine einseitige Resonanz der Frames in den verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten gleichbedeutend mit einem Aneinander-Vorbeireden der Diskurskoalitionen. Man hätte es dann gerade nicht mit einer Vollständigkeit unterschiedlich begründeter Positionen und Meinungen zur Streitfrage in den jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten zu tun. Selbstverständlich ist normativ nicht gefordert, dass jede Koalition in jedem Frame und in jeder nationalen Medienarena gleich grosse Resonanz erzielt, gefordert ist lediglich eine kategoriale Vollständigkeit. Die Frame-Resonanz-Analyse bestätigt den bisherigen Befund, wonach ein Frame in einer nationalen Öffentlichkeit am stärksten von jener Koalition bewirtschaftet wird, zu der die Mehrheit der heimischen Sprecher gehört (Abbildung 26). So werden in der schweizerischen Öffentlichkeit die Frames jeweils am stärksten von der Bankgeheimniskoalition bewirtschaftet, in Grossbritannien am stärksten von der angelsächsischen und es ist entsprechend in der deutschen respektive französischen Öffentlichkeit die kontinentaleuropäische Koalition, welche die Frames jeweils am stärksten zu besetzen vermag. Trotz der Dominanz der jeweiligen Inländerkoalition gelingt es den beiden anderen Diskuskoalitionen in sämtlichen Frames, ebenfalls mit ihren Positionen und Meinungen wahrgenommen zu werden. Das Vollständigkeitspostulat kann somit als erfüllt betrach180 tet werden.
180
Keine Resonanz erzielt die angelsächsische Koalition in der deutschen Öffentlichkeit zum Frame Staat-Bürger. Dies ist aber nicht weiter von Belang, weil dieser Frame ohnehin vor allem von schweizerischen und deutschen Sprechern aktiv ins die Diskussion getragen wurde.
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Frames nach Koalitionen in länderspezifischen Resonanzanteilen (in Prozent)
100%
80%
60%
40%
20%
0% CH D F GB CH D F GB CH D F GB CH D F GB CH D F GB CH D F GB CH D F GB CH D F GB CH D F GB 84 100 55 463 80 74 37 230 240 219 163 621 88 85 17 33 244 219 55 189 62 17 17 43 77 34 28 92 1174 698 470 695 34 32 12 67 Europäische Integration
Souveränität
Bankgeheimnis-Koalition
Steuerwettbewerb
Staat-Bürger
Steuerhinterziehung Finanzkriminalität
Angelsächsische Koalition
Volkswirtschaft
Kontinentaleuropäische Koalition
Verhandlungstaktik
Praktikabilität
unbestimmbar
Abbildung 26: Koalitionen nach Frames und Öffentlichkeiten Lesehilfe: Die Säulen bilden die prozentualen Resonanzanteile der von den drei Diskurskoalitionen vorgebrachten Äusserungen pro Frame in jeder der vier Öffentlichkeiten ab. Die Zahlen unterhalb der Länderangabe in den Frames entsprechen der Anzahl Äusserungen für jede nationale Öffentlichkeit. Ein Beispiel: Der Frame Europäische Integration wird in der Schweizer Öffentlichkeit zu 44% von der Bankgeheimniskoalition bewirtschaftet, während er in Grossbritannien zu 69% aus der Perspektive der angelsächsischen Koalition wahrgenommen wird. (N: 6868).
Dennoch gibt es beträchtliche Unterschiede hinsichtlich der Diskurskoalitionen betreffenden Frame-Resonanz. Gemessen am durchschnittlichen Resonanzanteil,181 welche die Bankgeheimniskoalition pro Frame und Öffentlichkeit erzielt, ist sie in den Frames Staat-Bürger, Finanzkriminalität und Volkswirtschaft überdurchschnittlich stark präsent, und zwar in allen Öffentlichkeiten. Allerdings betrifft dies allesamt Frames, die resonanzmässig von untergeordneter Bedeutung sind und gerade mal 8 Prozent an der Gesamtdebatte ausmachen. In den materiell zentralen Frames Steuerwettbewerb und Steuerhinterziehung, aber auch 181
Gemessen an der durchschnittlichen Resonanz pro Frame erzielt die Bankgeheimniskoalition in der Schweiz einen Anteil von 63 Prozent, in Deutschland einen Anteil von 38 Prozent, in Frankreich von 25 Prozent und in Grossbritannien von 18 Prozent. Die angelsächsische Koalition erzielt einen durchschnittlichen Resonanzanteil pro Frame in Grossbritannien von 54 Prozent, in der Schweiz von 11 Prozent, in Deutschland von 13 Prozent und in Frankreich von 23 Prozent. Die kontinentaleuropäische Koalition schliesslich erreicht einen durchschnittlichen Anteil der Resonanz pro Frame von 24 Prozent in der Schweiz und 25 Prozent in Grossbritannien bzw. 45 Prozent in Deutschland und 48 Prozent in Frankreich.
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
im materiell bedeutenden Frame der Souveränität ist die Bankgeheimniskoalition zum Teil deutlich unterrepräsentiert. Spiegelbildlich verhält es sich bei der kontinentaleuropäischen Koalition: Diese ist überdurchschnittlich stark präsent in den Frames Steuerwettbewerb, Steuerhinterziehung, Souveränität und Verhandlungstaktik, während sie zum Teil grosse Präsenzdefizite bei den Frames Volkswirtschaft und Finanzkriminalität zu verzeichnen hat. Die angelsächsische Koalition ihrerseits ist überaus stark präsent im Frame der europäischen Integration, wie dies – im Unterschied zur Bankgeheimniskoalition – die kontinentaleuropäische Koalition übrigens auch ist. Dabei zeigt sich klar, dass dieser Frame von den Mitgliedern der EU deutlich stärker bewirtschaftet wird als vom Drittstaat Schweiz. Gemessen an den Durchschnittswerten ist die angelsächsische Koalition auch überrepräsentiert im Frame Steuerwettbewerb und ganz besonders beim quantitativ marginalen Frame der Praktikabilität. c)
Semantische Verschiebungen in der Deutungsstruktur und Positionswandel zentraler Akteure
Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass „Feira“ gewissermassen ein Umschlagspunkt in der Debatte markiert: An diesem EU-Gipfel haben die Finanzminister der EU entgegen des ursprünglich favorisierten Koexistenzmodells beschlossen, den automatischen Informationsaustausch als einzige Lösungsalternative für eine europäische Zinsbesteuerung einzuführen. Dies hätte bedeutet, dass Länder wie Luxemburg oder die Schweiz ihr Bankgeheimnis hätten aufgeben müssen, was beide Staaten aus verschiedenen Gründen abgelehnt haben. Bekanntlich hat sich die Schweiz in den Verhandlungen mit der EU durchgesetzt und die EU ist am Ende des Politikgestaltungsprozesses wieder zum ursprünglichen, aber leicht modifizierten Koexistenzmodell zurückgekehrt. Lässt sich nun dieser mehrfache Wechsel von Lösungsalternativen in der semantischen Struktur der öffentlichen Kommunikation nachweisen und schlägt er sich in möglicherweise veränderten Akteurspositionen nieder? Lässt sich mit anderen Worten ein „Policy-Lernen“ (Sabatier 1993) beobachten und welche Rolle spielt dabei der Prozess der öffentlichen Auseinandersetzung? Für die Beantwortung dieser Frage wurden die vier zentralen materiellen Frames dieser Debatte – Steuerwettbewerb, Steuerhinterziehung, Souveränität sowie Staat-Bürger – im zeitlichen Verlauf in ihren prozentualen Anteilen darge182 stellt und mit dem Anteil der Bankgeheimnisberichterstattung in Verbindung gebracht. Das sagt zwar noch nichts darüber aus, wie über das Bankgeheimnis 182
Auf der Basis einer Begriffsabsuche im Artikelinhalt und im Titel kann ermittelt werden, wie oft der Begriff Bankgeheimnis (in den verschiedenen Sprachen und Begriffsderivaten) vorkommt.
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berichtet wurde, es zeigt aber, dass und wie stark das Bankgeheimnis in den Fokus der öffentlichen und politischen Debatte gerückt ist. Zusätzlich wird für die zentralen Konfliktakteure – deutsche Regierung, britische Regierung, Europäische Kommission, luxemburgische Regierung und schweizerische Regierung – gemessen, ob und wie sich ihre Positionen mit Bezug auf die beiden Konfliktlinien über die Zeit verändern.
Abbildung 27: Semantische Verschiebungen im Debattenverlauf Lesehilfe: Die Säulen bilden die prozentualen Anteile der vier zentralen Frames in Prozent ab und zeigen die relativen Veränderungen von deren Resonanzanteilen im Zeitverlauf. Die Linie entspricht dem Anteil der Bankgeheimnisthematisierung in Prozenten an der Gesamtberichterstattung pro Arena (Anzahl Artikel mit Nennung Bankgeheimnis ÷ Anzahl Artikel).
Mit Blick auf die erste Kommunikationsverdichtung anlässlich „Wiens“ fällt auf, dass die Debatte in den drei EU-Öffentlichkeiten zu fast gleich grossen Anteilen im Frame des Steuerwettbewerbs geführt wurde (Abbildung 27). Während die kontinentaleuropäische Koalition zum Zweck eines reibungslosen Funktionierens des gemeinsamen Binnenmarkts gegenüber Grossbritannien auf eine Harmonisierung oder wenigstens Koordinierung der nationalen Steuerpolitik auf EU-Ebene pochte und ausser der Zinsbesteuerung einen Kodex gegen „schädlichen“ Steuerwettbewerb im Unternehmensbereich forderte, stellten sich die
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britische Öffentlichkeit und mit ihr die meisten britischen Akteure fundamental gegen dieses Ansinnen. Angesichts dieser britischen Widerborstigkeit stellten Deutschland, Frankreich und die Kommission das Einstimmigkeitsprinzip in Steuerfragen erstmals in Frage und regten auch für dieses Politikfeld Abstimmungen nach qualifizierter Mehrheit an – eine Entscheidung notabene, die selbst wiederum nur einstimmig hätte gefällt werden können und am Reformgipfel der EU in Nizza Ende 2000 deshalb abgelehnt wurde. Erkennbar ist dieser Argumentationsstrang an der relativ starken Bewirtschaftung des Frames Souveränität. Hingegen spielten Überlegungen zur Steuerhinterziehung oder zum Verhältnis Staat-Bürger bis dato praktisch keine Rolle. Es ging um eine Regelung dessen, was als „schädlicher“ Steuerwettbewerb bezeichnet wurde und nicht um das Bankgeheimnis in Steuerangelegenheiten, was der tiefe Anteil der Berichterstattung mit Bankgeheimnisthematisierung eindrücklich belegt. Die Schweizer Öffentlichkeit, die in dieser Zeit Beobachterin eines EU-internen Vorgangs war, reflektiert diesen Sachverhalt weitestgehend, wenngleich der Anteil der Bankgeheimnisthematisierung für die Perioden P1 bis „Wien“ zwischen 25 und 40 Prozent lag, womit in der Schweiz eine mögliche, für das Bankgeheimnis ungünstige Entwicklung schon früh antizipiert und teilweise auch perhorresziert wurde, was an einer früh sich entwickelnden Bedrohungsperzeption gezeigt werden kann. Während der Kommunikationsverdichtung „Helsinki“ eskalierte der Konflikt zwischen Grossbritannien und der kontinentaleuropäischen Koalition und die britische Regierung legte ihr Veto gegen das Koexistenzmodell ein. Noch immer debattierte man innerhalb der gleichen Deutungsstrukturen wie ein Jahr zuvor. Doch beginnen sich bereits Veränderungen in der semantischen Struktur der Debatte abzuzeichnen. Während in der französischen Öffentlichkeit die Deutungsverhältnisse gegenüber „Wien“ stabil blieben, wird in der britischen Öffentlichkeit die Frage der Zinsbesteuerung verstärkt im Frame der Steuerhinterziehung diskutiert. So hatte die britische Regierung in einem Positionspapier im Herbst 1999 festgehalten, dass Grossbritannien nur eine Lösung unterstützen werde, die auf globaler Ebene, also im Rahmen der OECD, umgesetzt werde, allerdings ausschliesslich auf der Basis eines automatischen Informationsaustauschs – denn einzig auf diese Weise, so die britische Argumentation, lasse sich das Problem der grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung und Steuerflucht effektiv lösen. Gleichzeitig plädierte Grossbritannien für umfangreiche Ausnahmen, was den Einbezug von Steuerzahlern in das Zinsbesteuerungsregime überhaupt anbelangte. Zeitgleich beginnt auch die deutsche Öffentlichkeit die Debatte stärker im Frame der Steuerhinterziehung zu führen, aber im Unterschied zu Grossbritannien wurde hier die von der britischen Regierung angestossene Sonderregelung des Markts für Eurobonds als Frage der Gleichbehandlung aller
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Steuerzahler im Frame Staat-Bürger diskutiert und abgelehnt. Aber weder in Grossbritannien noch in Deutschland hat diese leichte semantische Verschiebung zu einer stärkeren Bankgeheimnisberichterstattung geführt. Mit „Feira“ ändert sich die gesamte semantische Diskursstruktur hingegen fundamental. In allen vier Öffentlichkeiten schnellt der Anteil der Bankgeheimnisberichterstattung auf 60 Prozent (Grossbritannien) bis hin zu über 90 Prozent (Schweiz) hoch. Ausserdem wird der Frame Steuerwettbewerb in allen Öffentlichkeiten durch den Frame der Steuerhinterziehung weiter zurückgedrängt, was auf eine semantische Umdeutung der Steuerdebatte verweist: was als „schädlich“ im Steuerwettbewerb gilt, ist das, was Steuerhinterziehung ermöglicht – nämlich das Bankgeheimnis befürwortende und verteidigende und den automatischen Informationsaustausch erschwerende oder verunmöglichende Regimes.183 Diese Umdeutung vollzieht sich am deutlichsten in der deutschen Öffentlichkeit im Frame Staat-Bürger: Hatte die deutsche Regierung anlässlich „Helsinkis“ noch die Gleichheit aller Steuerzahler bekräftigt, so rückt sie nun von diesem Grundsatz ab und erwägt den Geltungsbereich des Bankgeheimnisses auf deutsche Bürger in Deutschland zu beschränken und es für Ausländer abzuschaffen. Im weiteren Debattenverlauf bleibt das Bankgeheimnis in allen drei kontinentaleuropäischen Öffentlichkeiten mit Werten von deutlich über 50 Prozent im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, wobei es in besonders starker Weise im Frame der Steuerhinterziehung thematisiert wird. Dabei dominiert in den drei EU-Öffentlichkeiten die Deutung, dass das Bankgeheimnis Steuerhinterziehung fördere und Steuerflüchtlingen so erlaube, steuerpflichtiges Vermögen vor ihrem Fiskus zu verstecken. In der Schweiz als jenem Land, an das die Kritik in erster Linie gerichtet ist, steht die Bankgeheimniskoalition mit ihrer Argumentation in diesem Frame in der Defensive: Dass Steuerhinterziehung vor allem dort verursacht wird, wo Steuern hoch und die Bürger mit den Leistungen des Staats unzufrieden sind, und dass Lösungen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung deshalb im Ursprungsland (Exit) und nicht im Fluchtland (Voice) zu suchen sind, ist in den europäischen Öffentlichkeiten nicht anschlussfähig und wird kaum gehört. Die grösste Diskrepanz zwischen den Schweizer Bankgeheimnisbefürwortern und den europäischen Steuerhinterziehungsbekämpfern besteht jedoch in den unterschiedlichen Begründungen zur Ablehnung respektive Einführung des automatischen Informationsaustauschs als Mittel zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung im transnationalen Kontext. In der Schweiz besteht die mit dem Liberalismus eng verknüpfte Überzeugung, dass es ein Recht auf Schutz der finanziellen Privatsphäre gibt, das nicht nur gegenüber der Neugier Dritter sondern 183
Auf dieser Argumentationslinie wird die Diskussion in der OECD seit 1998 bereits geführt (OECD 1998, 2000).
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auch gegenüber dem Staat gelten soll. Dieses Recht leitet sich von einem antietatistischen Staatsverständnis ab: Es ist der Staat, der seinen Bürgern zu dienen hat und nicht die Bürger dem Staat. Im Begriff des „Bankkundengeheimnisses“ wird dieses Recht auf Schutz der finanziellen Privatsphäre als Ausdruck dieses liberalen Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern verwirkt. Der automatische Informationsaustausch würde hingegen dieses Recht aushebeln. Umgekehrt argumentieren die Europäer mit der Pflicht eines jeden Steuerzahlers, seine gesetzlich geschuldeten Steuern zu zahlen und dem Recht des Staats, diese Steuern einfordern zu können. Weil das „Steuerhinterziehungsgeheimnis“ die Regierungen daran hindert, ihre nationalen Steuergesetze gegenüber ihren Bürgern auch im transnationalen Verhältnis durchzusetzen, sehen sie ihre Souveränität in Steuerfragen in Frage gestellt (Tobler / Gisler 2007). Da eine materielle Harmonisierung der Steuern, wie diese Debatte ja beweist, nur schon auf EU-Ebene nicht durchsetzbar ist, verbleibt in der Perspektive nationaler Steuersouveränität als einzige Möglichkeit die Einführung eines automatischen Informationsaustauschs. So geht es in dieser Debatte zu dem Zeitpunkt, in dem die EU im Konflikt mit der Schweiz und anderen Drittstaaten steht, längst nicht mehr um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts, zu dessen Zweck die Einführung einer Zinsbesteuerung unter anderem ursprünglich konzipiert wurde; stattdessen wird die Einführung einer Zinsbesteuerung nun mit dem Argument der internationalen Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht ermöglichender Steueroasen begründet. Wie hängen nun diese semantischen Verschiebungen in der Deutungsstruktur der Debatte mit den Positionen der wichtigsten Konfliktakteure im Koordinatensystem der beiden Konfliktlinien zusammen? Erklären womöglich veränderte Positionsbezüge der Regierungen den skizzierten Wandel der Deutungsstrukturen? Aufgrund der überragenden Resonanz, welche die fünf zentralen Konfliktakteure in Person der britischen, deutschen, luxemburgischen und schweizerischen Regierung sowie der EU-Kommission in der öffentlichen Kommunikation erzielt haben, gilt es diese Frage zu bejahen. Auf dem Hintergrund der Frame-Verschiebung zeigt Abbildung 28, wie sich die Positionen dieser fünf Konfliktakteure bezüglich Regulation und Steuertransparenz im Zeitverlauf entwickelt haben. Dabei wird eine deutliche Konvergenzentwicklung zwischen der kontinentaleuropäischen und der angelsächsischen Koalition ersichtlich. Was das Bankgeheimnis betrifft, so landen die britische und deutsche Regierung sowie die Kommission am Ende allesamt ganz deutlich im negativen Bereich. Während sich die britische Regierung immer schon negativ gegen das Bankgeheimnis geäussert hat, hat sich die Kommission zu Beginn sogar noch leicht positiv ausgedrückt und bei der deutschen Regierung war die Haltung neutral. Aber bereits am Gipfel von Helsinki äusserten sich
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die Kommission wie die deutsche Regierung im Zusammenhang mit Steuerhinterziehung negativ über das Bankgeheimnis. Dieser Trend verfestigte sich seither nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ, indem die Anzahl Äusserungen gegen das Bankgeheimnis bzw. für den automatischen Informationsaustausch stark zugenommen haben.
Abbildung 28: Konvergenz zwischen der kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Koalition Lesehilfe: Die Säulen zeigen wie in Abbildung 26 die relative Veränderung der vier zentralen Frames im Durchschnitt aller vier Öffentlichkeiten. Die durchgezogenen Linien entsprechen dem Regulationsindex (für oder gegen Regulierung der Steuerfrage), die gestrichelten Linien entsprechen dem Bankgeheimnisindex (für oder gegen Einführung eines Informationsaustauschs). Zur Berechnung der Indices vgl. A2.3.
Eine zweite Konvergenzentwicklung betrifft die Regulationsfrage. Noch am Gipfel von Helsinki hat sich die britische Regierung deutlich gegen eine Regulation im Sinn einer Steuerharmonisierung bzw. einer Begrenzung des Steuerwettbewerbs ausgesprochen. Als sich jedoch im Vorfeld des EU-Gipfels in Feira abzuzeichnen beginnt, dass nicht mehr eine auf Gemeinschaftsebene harmonisierte Quellensteuer, sondern eine gemeinsame Regelung der grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung in Form des automatischen Informationsaustauschs angestrebt wird, beginnt sich die britische Regierung für diese Form der Regulie-
216
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rung auszusprechen. Damit gleichen sich auch hier die Positionen von Kommission, deutscher und britischer Regierung an. Umgekehrt verharren die Positionen der schweizerischen und luxemburgischen Regierung zu den beiden Fragen über die gesamte Debatte im jeweils gegenüberliegenden Bereich, obwohl Luxemburg seine befürwortende harte Haltung zum Bankgeheimnis am Schluss etwas aufgeweicht hat. Trotz dieser Konvergenzentwicklung zwischen der angelsächsischen und der kontinentaleuropäischen Koalition ist es am Schluss aber dennoch nicht zur Einführung des automatischen Informationsaustauschs für alle gekommen: Luxemburg, Österreich, Belgien und die Drittstaaten Schweiz, Liechtenstein, Monaco, Andorra und San Marino konnten an ihrem Bankgeheimnis festhalten und haben stattdessen eine Quellensteuer auf Zinserträge aus ausländischen Quellen eingeführt. Das Ergebnis scheint ein Resultat von Kompromissen und PolicyLernen zu sein: Die konfliktreiche Auseinandersetzung mit Grossbritannien in der ersten Phase hat gezeigt, dass die ursprünglich geplante Form einer Steuerharmonisierung gegen den Willen der Briten nicht durchzusetzen ist. Die konfliktreiche Auseinandersetzung gegen die Schweiz in der zweiten Phase hat ihrerseits gezeigt, dass die Schweiz ihr Bankgeheimnis nicht abschaffen wird. Da Luxemburg und Österreich ihre Zustimmung zu einem automatischen Informationsaustausch von einem Mitziehen der Schweiz abhängig gemacht haben, bleibt der EU, sofern sie weiterhin den Pfad zivilisierter Konfliktführung beschreiten will, gar nichts anderes übrig, als wieder auf eine Form des ursprünglich geplanten Koexistenzmodells zurückzukommen. Man darf darob aber nicht den Eindruck erhalten, dass nach Verhandlungsabschluss mit der Schweiz sozusagen vor Verhandlungsaufnahme mit der Schweiz ist. Trotz des winkelreichen Kompromisses hat Policy-Lernen (Sabatier 1993) stattgefunden, das die Fortsetzung dieser Debatte massgeblich determinieren wird. Das Koexistenzmodell, das am Schluss implementiert wurde, mag zwar eine grosse Übereinstimmung haben mit dem Koexistenzmodell, das Grossbritannien per Veto noch bekämpft hat. Dennoch wird es seitens der EU nur als Übergangslösung hin zum Endziel automatischer Informationsaustausch gesehen. Was die Konfliktakteure der EU bei dieser Debatte ja erkannt haben, ist, dass Steuerwettbewerb gut ist und akzeptiert wird, solange dieser den Vollzug der eigenen Steuergesetzgebung nicht beeinträchtigt. Da die Staaten aber zugleich nicht bereit sind, Kompetenzen in Steuerangelegenheiten an die EU zu delegieren, wird der automatische Informationsaustausch als das einzige Instrument angesehen, mittels dessen sich die national legitimierte Steuergesetzgebung auch tatsächlich für alle Steuersubjekte vollziehen und somit Steuergerechtigkeit im Sinn des Gesetzesvollzugs verwirklichen lässt.
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217
*** Aus den Ausführungen zu den Indikatoren betreffend semantische Konvergenz in transnationalen Debatten lassen sich sechs Regularitäten generieren: Erstens ist die semantische Struktur in den drei EU-Öffentlichkeiten nicht ähnlicher oder unähnlicher als im Vergleich mit der Schweiz. Sie ist auch nicht ähnlicher zwischen Ländern der gleichen Koalition. Was den Unterschied erklären könnte, sind stattdessen national unterschiedliche „diskursive Gelegenheitsstrukturen“ (Ferree et al. 2002). Zweitens sind in allen Öffentlichkeiten alle Frames, und zwar stets auf beiden Seiten der Konfliktlinien, sichtbar. Das Vollständigkeitspostulat gilt als erfüllt, die Diskurskoalitionen haben mit ihren unterschiedlich interpretierten Positionen mehr oder – in der Regel – weniger stark in den Öffentlichkeiten der gegnerischen Diskurskoalition Resonanz erzielt. Drittens tragen Journalisten und ausländische Akteure zu dieser Vollständigkeit wesentlich bei, während die eigenen Regierungen stärker je eigene Perspektiven bewirtschaften. Damit kann in dieser Hinsicht die These der Medien als Motoren im europäischen Konstruktionsprozess (Koopmans / Pfetsch 2006) bestätigt werden. Viertens sind Diskurskoalitionen in gegnerischen Öffentlichkeiten mit denjenigen Frames stärker vertreten, die sie schon in ihren Heimatöffentlichkeiten überdurchschnittlich bespielen. Das führt dann umgekehrt dazu, dass sie in auswärtigen Öffentlichkeiten bei Frames, die von anderen Koalitionen in deren Heimatöffentlichkeiten stark thematisiert werden, unterrepräsentiert sind. Die Analyse legt fünftens den Schluss nahe, dass es grossen EU-Staaten besser als kleinen gelingt, die relevanten Deutungsfelder zu bestimmen und mit ihren Positionen und Meinungen zu besetzen. Sechstens und ganz zentral: Die öffentlichen Auseinandersetzungen mit Epizentrum in Grossbritannien und der Schweiz haben den Verhandlungsprozess normativ darauf hin festgelegt, was angesichts kontroverser Positionen überhaupt als Kompromiss möglich ist. Die öffentlichen Auseinandersetzungen sind somit nicht ohne Folgen für den Verhandlungsprozess geblieben, obwohl der Politik-Output nicht als Einsicht in ein besseres Argument und somit als konsensuell erzieltes Ergebnis bezeichnet werden darf. 6.2 Transnationale Interdiskursivität Eine transnational verdichtete Kommunikationszone zeichnet sich auf der zweiten Ebene durch kommunikative Austauschprozesse zwischen den Sprechern der verschiedenen nationalen und supranationalen Arenen aus. Die einfachste Form solcher Austauschprozesse besteht in der wechselseitigen Beobachtung: man beobachtet, was sich in anderen Ländern ereignet. Diese Form der Transnationalisierung ist als horizontale Europäisierung beschrieben worden, sofern die Beo-
218
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bachtung auf andere europäische Länder fokussiert ist und korrespondiert mit der klassischen Auslandberichterstattung. Auf eine Darstellung der Ergebnisse dieses Indikators wird hier allerdings verzichtet.184 Stattdessen setzt diese Arbeit am Kern dessen an, was als transnationale Interdiskursivität bezeichnet wird: Resonanz auswärtiger Sprecher und wechselseitige Verweissysteme. So sind kommunikative Austauschprozesse im transnationalen Kontext nicht nur durch zwei Richtungen der Kommunikation (Inland ļ Ausland) bestimmt, es gilt auch zu unterscheiden, ob Kommunikationsinhalte (Propositionen) gehört oder ob sie ausgesprochen werden. Gehört werden Kommunikationsinhalte auswärtiger Sprecher in der heimischen Öffentlichkeit, wenn diese mit ihren Sprecheräusserungen Resonanz erzielen. Dies geschieht im Modus der direkten oder indirekten Rede (Zitationen in Berichterstattungen) oder im Modus der direkten Äusserung via Gastbeiträge und Interviews. Mit dem Indikator Resonanz auswärtiger Sprecher lässt sich messen, wie stark der Anteil auswärtiger im Verhältnis zu heimischer Sprecher ist. Je grösser dabei der Anteil ausländischer Sprecher ausfällt, desto höher ist der Grad der transnationalen Interdiskursivität auf der rezipierenden Seite des Hörens. Dabei kann transnationale Interdiskursivität eher ein einseitiges oder reziprokes Muster annehmen. Auf der Seite des Sprechens sind Äusserungen interdiskursiv, wenn sie einen Drittakteur adressieren oder wenn sie auf Äusserungen von Dritten Bezug nehmen. Adressierung von Geltungsansprüchen und Kritik an Dritten kann gegenüber heimischen wie auswärtigen Akteuren erfolgen. Äusserungen gelten ausserdem als interdiskursiv, wenn sich Sprecher mit ihren Äusserungen auf Äusserungen Dritter beziehen, die sie bestätigen oder ablehnen. Referenzierung auf Äusserungen Dritter kann wiederum gegenüber heimischer oder auswärtiger Sprecher erfolgen. Interdiskursivität im Sinn dieser wechselseitigen Referenzierungsmodi steigt im dem Mass, wie Adressierungen und Referenzierungen insgesamt zunehmen. Die Interdiskursivität ist dabei umso transnationaler, je grösser der Anteil auswärtiger Akteure ist, die entweder adressiert werden oder auf die referenziert wird. Auch im Zusammenhang mit den Indikatoren der Interdiskursivitätsdimension brauchen die Werte nicht bis zu ihrem Maximum zu gehen, damit aus normativer Sicht von signifikanter Transnationalität gesprochen werden kann. Wichtiger als ein willkürlich festgelegter Schwellenwert ist, dass zwischen Konfliktakteuren überhaupt ein kommunikativer Austausch stattfindet – dass also gehört wird, was auswärtige Akteure sagen und dass auf sie in Sprechakten Be184
Dieser Indikator ist im ersten Teil der Empirie zur Anwendung gelangt, als es um die diachrone Vermessung der Schweizer Öffentlichkeit von 1945 bis 2006 ging. Im vorliegenden Fallbeispiel der Zinsbesteuerungsdebatte wäre der Aussagegehalt beschränkt, weil sich die Debatte ohnehin auf ein paar zentrale Konfliktländer beschränkt hat.
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zug genommen wird. Unter normativen Gesichtspunkten kann die Forderung aufgestellt werden, dass alle massgeblich am Konflikt beteiligten Akteure oder Länder jeweils auch in allen Öffentlichkeiten gehört werden sollten, und zwar auch dann, wenn es sich um kleine Länder handelt. Adressierungen von und Referenzierungen auf auswärtige Akteure gelten letztlich auch als Voraussetzung dafür, dass angesichts gemeinsamer Problemlagen das Bewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl für eine transnationale bzw. europäische Problemlösungsgemeinschaft entstehen kann. Freilich ist dies mit Bezug auf den europäischen Raum auch eine Voraussetzung für das Gegenteil einer sozialräumlichen Integration der nationalen Gesellschaften in eine europäische Kommunikationsgemeinschaft – nämlich für eine Segregation Europas. Dieses Subkapitel stellt zunächst die Ergebnisse zur Resonanz auswärtiger Sprecher dar und beantwortet somit die Frage, wie stark auswärtige Sprecher im Verhältnis zu heimischen Sprechern gehört werden. Danach werden die Befunde zur Adressierung und Referenzierung beleuchtet und wird die Frage beantwortet, wie gross die transnationale Interdiskursivität im Sprechen der Akteure ist. Leitend für die Darstellung der Ergebnisse ist wiederum die übergeordnete Frageperspektive, ob kommunikative Austauschprozesse zwischen Sprechern der EUMitgliedstaaten ausgeprägter sind als im Verhältnis zur Drittstaaten. 6.2.1 Resonanz auswärtiger Sprecher Das Kernmerkmal transnationaler Diskurse liegt im kommunikativen Austausch zwischen Sprechern unterschiedlicher nationaler Öffentlichkeitsarenen. Transnationale Interdiskursivität lässt sich zunächst unter dem Gesichtspunkt untersuchen, wie stark auswärtige Akteure in heimischen Öffentlichkeiten gehört werden. Dabei ist diese Frage anhand der Bestimmung des Resonanzverhältnisses von heimischen und auswärtigen Sprechern hinsichtlich des Levels und Musters zu beantworten. Anhand des Indikators „Resonanz auswärtiger Sprecher“ werden im Wesentlichen folgende Fragestellungen untersucht: Wie hoch ist der Level für die Resonanz auswärtiger Sprecher? Gibt es Unterschiede zwischen nationalen Öffentlichkeiten? Welche Muster der Transnationalisierung lassen sich erkennen hinsichtlich horizontaler und vertikaler Europäisierung einerseits und einseitiger respektive reziproker Transnationalisierung andererseits? Und gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprechertypen hinsichtlich deren Transnationalisierungsfähigkeit? Aus der Sprecherresonanzanalyse resultiert ein Resonanzanteil auswärtiger Sprecher von durchschnittlich 52 Prozent an der Gesamtdebatte (Abbildung 29). Damit stimmt dieses Ergebnis mit den Befunden, die Wessler und Mitarbeitende
220
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
eruiert haben, praktisch eins zu eins überein.185 Deutliche Anteilsunterschiede gibt es jedoch zwischen den nationalen Öffentlichkeiten: Während die Anteile auswärtiger Sprecher in der britischen (41 Prozent) und der schweizerischen (44 Prozent) Öffentlichkeit unter dem Mittelwert liegen, sind sie in Deutschland (54 Prozent) und in Frankreich (69 Prozent) zum Teil deutlich darüber. Anteil Sprecheräusserungen
100%
75%
54%
25%
35%
39%
41%
31% 46%
47%
59%
60%
63%
56%
57%
25%
52%
52%
50% 65%
61% 46%
75% 59%
69% 54%
53% 40%
37%
41%
44%
GB 2439
CH 2100
0% D 566 F 342
GB CH 313 1770
Britische Phase
D 913 F 533 GB 669 CH 1787 Schweizerische Phase ausländisch
D 1479 F 875
Total
inländisch
Abbildung 29: Resonanzverhältnisse heimischer und auswärtiger Sprechern Lesehilfe. Der weisse Teil der Säulen stellt den Anteil auswärtiger Sprecher an der Gesamtresonanz aller Sprecher in der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit dar. Umgekehrt zeigt der schwarze Teil der Säule den Anteil heimischer Sprecher an. Die Linien markieren den arenengewichteten Durchschnitt. Zur britischen Phase zählen die Kommunikationsverdichtungen Wien und Helsinki, zur schweizerischen Feira und Schweiz.
Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Eine mögliche Erklärung für diesen Befund liegt im Umstand begründet, dass in Öffentlichkeiten, deren Länder unter Druck geraten, ein grösseres Mobilisierungspotenzial von heimischen Akteuren besteht als in Ländern, die Druck ausüben. Ein Vergleich der Resonanzanteile für die beiden Debattenphasen lässt diese Vermutung überprüfen. Dabei zeigt sich, dass der Anteil heimischer Sprecher in der britischen Öffentlichkeit in jener 185
Für die Zeitungen FAZ, Le Monde, The Times sowie Die Presse (A) und Politiken (DK) ergibt sich für die Stichprobenjahre 1982, 1989, 1996 und 2003 ein durchschnittlicher Resonanzwert für auswärtige Sprecher von annähernd 50 Prozent (Wessler et al. 2008, 47f.).
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
221
Phase, als Grossbritannien unter Druck stand, bei 63 Prozent liegt, während er in der Schweiz zur gleichen Zeit lediglich 35 Prozent beträgt. Umgekehrt liegt der Anteil heimischer Sprecher in der Schweizer Öffentlichkeit, als die Schweiz unter Druck geraten ist, bei 60 Prozent, während er in der gleichen Zeit in Grossbritannien nur noch bei 47 Prozent liegt. Damit kann die Annahme bestätigt werden: Der Anteil der heimischen Sprecher ist somit in jenen beiden Öffentlichkeiten grösser, auf die Druck ausgeübt wird als in jenen, die Druck ausüben.186 a) Horizontale und vertikale Europäisierung Spezifiziert man in einem nächsten Schritt die Kategorie der auswärtigen Sprecher in Sprecher aus anderen europäischen Ländern, der EU und nicht europäischen Ländern, lassen sich für jede nationale Öffentlichkeit die Levels der horizontalen und vertikalen Europäisierung bestimmen. Die Sprecherresonanzanalyse zeigt, dass der Level der horizontalen Europäisierung bei einem durchschnittlichen Anteil von 34 Prozent liegt, während EU-Sprecher187 auf einen Anteil von knapp 16 Prozent aller Sprecheräusserungen kommen. Wie der Abbildung 30 zu entnehmen, bestehen aber auch hier deutliche Unterschiede zwischen den nationalen Öffentlichkeiten und auch zwischen den verschiedenen Medien gleicher Medienarenen. So ist die französische Öffentlichkeit nicht nur am stärksten horizontal europäisiert (47 Prozent), sondern sie weist auch noch den grössten Anteil an supranationaler Europäisierung (19 Prozent) aus. Mit anderen Worten: fast 50 Prozent aller Sprecher in den fünf untersuchten französischen Medien stammen aus anderen europäischen Ländern, während fast ein Fünftel aller Sprecher den supranationalen oder intergouvernementalen Institutionen der EU angehören. Am anderen Ende der Europäisierungsskala liegt Grossbritannien mit einem Anteil an supranationaler Europäisierung von 12 Prozent und einer horizontalen Europäisierung von 24 Prozent. Ein ähnliches Muster der Europäisierung charakterisiert die Schweizer Öffentlichkeit: Während die supranationale Europäisierung 14 Prozent beträgt, macht sie in der horizontalen Richtung 21 Prozent aus. Zwischen Grossbritannien und der Schweiz einerseits und Frankreich andererseits liegt die deutsche Öffentlichkeit. Ihr Anteil an der supranationalen Europäisierung ist mit 14 Prozent gleich hoch 186
Der Korrelationskoeffizient zwischen Konfliktstatus (0 = Druck ausübender Staat; 1 = unter Druck stehender Staat) und Resonanzanteil heimischer Sprecher liegt bei r = 0.76. 187 Unter die Kategorie EU-Sprecher fallen die Europäische Kommission, der Ecofin und andere Ministerzusammenschlüsse, das Europäische Parlament sowie EU-Diplomaten und die EU als generalisierter Sprecher.
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
wie jener der Schweiz, der Anteil der horizontalen Europäisierung liegt mit 38 Prozent jedoch deutlich höher.
Abbildung 30: Horizontale und vertikale Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten Lesehilfe: Die horizontale Achse stellt den Anteil aller europäischer Sprecher (ohne EU-Akteure) an der Gesamtresonanz aller Sprecher dar (horizontale Europäisierung). Die vertikale Achse misst den Anteil der EU-Akteure am Sprechertotal (vertikale Europäisierung) Die Mittelwerte von 30 Prozent (horizontal) und 14 Prozent (vertikal) entsprechen den Mittelwerten der Zeitungen. Diese unterscheiden sich leicht von den Mittelwerten, die auf der Basis der Sprecheräusserungen berechnet wurden (34 Prozent, 16 Prozent), da einige Zeitungen deutlich mehr berichtet haben als andere.
Was das Europäisierungsprofil der einzelnen Medien betrifft, zeigt sich, dass die grossen Qualitätszeitungen mit Ausnahme der britischen Times am stärksten europäisiert sind: Le Monde, FAZ, Figaro, Financial Times, The Guardian und die NZZ liegen zum Teil deutlich über den Mittelwerten. Umgekehrt erzielen Boulevardzeitungen und die Sonntagspresse wie Mail on Sunday, Sunday Telegraph, SonntagsZeitung, Sonntags-Blick, Blick, aber auch die linke taz, die höchsten Anteile an nationalen Sprechern. Beide Levels, sowohl der horizontalen wie der vertikalen Europäisierung, liegen somit fast doppelt und mehr über den Werten, die Wessler und Mitarbei-
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
223
tende für diese beiden Formen der Europäisierung in ihrer Studie eruiert haben.188 Für diese frappanten Unterschiede der Resultate sehe ich im Wesentlichen drei Gründe im Bereich der Untersuchungsanlage. Der erste und wichtigste liegt im unterschiedlichen Stichprobenverfahren: Im Unterschied zu Wessler und Mitarbeitenden, die ohne thematische Beschränkung auf Europa jeweils anhand von zwei künstlich konstruierten Wochen für die Jahre 1982, 1989, 1996, 2003 Artikel gezogen haben, liegt dieser Studie ein europäisches Kommunikationsereignis zugrunde. Aus dem Vergleich dieser unterschiedlichen Stichproben kann der Schluss gezogen werden, dass der Europäisierungsgrad bei europäischen Debatten generell höher ist als bei der durchschnittlichen Berichterstattung ohne spezifischen Europabezug. Zweitens umfasst die Kategorie EU-Sprecher auch intergouvernementale Akteure wie der Ministerrat oder generell Sprecher, die mit dem Brüsseler Diplomatencorps in Verbindung gebracht werden. Würde lediglich auf die Kommission oder genuin supranationale Akteure abgestellt, würde sich der Anteil der vertikalen Europäisierung in etwa halbieren. Resonanzanteile Bericht Kurzmeldung / Agentur Kommentar / Leitartikel Andere / unbestimmbar Interview
Grad der Transnationalisierung
Artikel
Äusserungen
60%
68%
0.6
18%
7%
0.59
17%
20%
0.18
4%
2%
0.61
3%
4%
0.69
Tabelle 15: Transnationalisierungsgrad nach Textsorten Lesehilfe: Der Transnationalisierungsgrad berechnet sich als Division der auswärtigen Sprecherresonanz geteilt durch die gesamte Sprecherresonanz.
Drittens ist ein messtechnischer Artefakt nicht auszuschliessen. Während die Stichprobe bei Wessler und Mitarbeitende nur diskursive Textsorten wie Kommentare, Leitartikel, Gastbeiträge und Interviews enthält, umfasst diese Studie alle Textsorten, also auch den klassischen Berichterstattungsbeitrag sowie Kurzmeldungen und Agenturberichte. Werden einzelnen Textsorten auf ihren Transnationalisierungsrad hin verglichen (Tabelle 15), stellt man fest, dass der Anteil auswärtiger Sprecher bei Kommentaren und Leitartikeln (18 Prozent) deutlich tiefer liegt als bei den Berichten (60 Prozent). Im Unterschied zu Be188
Für die vertikale Europäisierung ermitteln sie einen Anteil von rund 5 Prozent und für die horizontale Europäisierung einen durchschnittlichen Anteil von 17 Prozent am Total aller Sprecheräusserungen (Wessler et al. 2008, 47f.).
224
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richten, in denen Sprecher direkt oder indirekt zitiert werden, vertreten in Kommentaren und Leitartikeln hingegen Journalisten als Sprecher ihre Meinung und lassen andere Sprecher im Verhältnis deutlich weniger (indirekt) zu Wort kommen. Da aber die Textsorte Bericht drei Fünftel des gesamten Artikelaufkommens respektive 68 Prozent aller Sprecheräusserungen enthält, wohingegen Kommentare und Interviews zusammen lediglich einen Fünftel aller Artikel respektive einen Viertel aller Äusserungen ausmachen, liegt der Anteil der Transnationalisierung bei Wessler et al. zusätzlich noch aus diesem Grund tiefer. b) Interdiskursivitätsmuster Transnationale Interdiskursivität kann durch ein einseitiges oder reziprokes Resonanzmuster geprägt sein. Ausserdem kann die Resonanz auswärtiger Sprecher einseitig zugunsten von Akteuren aus grossen und mächtigen Ländern ausfallen, während Sprecher kleiner Länder unterrepräsentiert bleiben. Indem die Kategorie der auswärtigen Sprecher auf ihre Herkunftsländer hin aufgeschlüsselt wird, lässt sich beides ermitteln (Abbildung 31). Die Resonanzanalyse auswärtiger Sprecher lässt erkennen, dass EU-Akteure mit durchschnittlich 28 Prozent deutlich am meisten Resonanz von allen auswär189 Es folgen Sprecher aus Grossbritannien (16 Protigen Sprechern erhalten. zent), Deutschland (13 Prozent), der Schweiz (12 Prozent) und Luxemburg (11 Prozent) mit noch Anteilen über zehn Prozent. Sprecher aus anderen Herkunftsländern erzielen deutlich weniger Resonanz und erreichen noch einen Anteil von 20 Prozent. Sprecher aus nicht-europäischen Ländern machen gerade mal 2 Prozent aus, wobei hier die USA den grössten Anteil aufweisen. Obwohl deutsche und britische Sprecher die Rangliste auswärtiger Sprecher anführen, lässt sich die Behauptung, wonach Sprecher aus grossen Ländern mehr Resonanz erhalten als Sprecher aus kleinen, nicht aufrecht erhalten. So erzielen Sprecher aus den beiden kleinen Ländern Schweiz und Luxemburg nur ungleich weniger Resonanz als Sprecher aus den beiden grossen Grossbritannien und Deutschland, dafür deutlich mehr als Sprecher aus Frankreich und Italien oder aus anderen EU-Staaten. Mit Ausnahme von Frankreich sind somit die Sprecher von den massgeblich am Konflikt beteiligten Ländern auch am stärksten in den auswärtigen Öffentlichkeiten sichtbar. Im Vergleich zu den EU-Bankgeheimnisstaaten Luxemburg, Österreich und Belgien, die wie die Schweiz der Bankgeheimniskoalition angehören, erhalten Sprecher aus der Schweiz zum Teil deutlich mehr 189
Weil in der entsprechenden Öffentlichkeit jeweils die heimischen Sprecher nicht mitgezählt sind (z. B. deutsche Sprecher nicht in Deutschland), sind die Durchschnittswerte gewichtet und variieren leicht von ihrem effektiven Durchschnitt.
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
225
Resonanz. Vergleicht man nur diese Ländergruppe, so muss in diesem Fall die Hypothese, wonach Sprecher aus EU-Staaten mehr Resonanz in Öffentlichkeiten von EU-Ländern erzielen als Sprecher aus europäischen Drittstaaten, deutlich verworfen werden. Anteil der ausländischen Sprecher in %
40%
CH
D
F
GB
35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% EU
28%
GB
16%
D
CH
13%
12%
Lux
11%
Ö
F
4%
3%
Rest-EU Steueroasen
3%
2%
Rest
2%
Italien
Belgien
Int. Org.
2%
2%
1%
Abbildung 31: Resonanz auswärtiger Sprecher nach Herkunft Lesehilfe: Die Säulen zeigen den prozentualen Anteil der Herkunftsklassen am Total ausländischer Sprecher. Die Prozentwerte in den Kästchen unterhalb der Herkunftsklassen entsprechen den arenengewichteten Durchschnittswerten.
Bemerkenswert ist ein weiterer Befund, der sich aus diesen Zahlen herauslesen lässt: Obwohl der Grad der vertikalen Europäisierung in Grossbritannien und der Schweiz am tiefsten ist (vgl. Abbildung 30), ist der Anteil der Resonanz von EUAkteuren am Total aller auswärtigen Sprecher in diesen beiden Öffentlichkeiten am grössten (Abbildung 31). Dieser Umstand lässt sich nur durch die Konfliktkonstellation erklären: In der britischen Phase wird der Konflikt in Grossbritannien wahrgenommen als Konflikt zwischen dem Königreich und einer kontinentaleuropäischen Koalition, die von Deutschland und der EU angeführt wurde. So zeigen die Werte für die Resonanz dieser beiden Herkunftsgruppen in der britischen Öffentlichkeit für diese Phase Anteile von 36 Prozent für die EU und gar 38 Prozent für Deutschland. In ähnlicher Weise wird in der zweiten Debattenphase der Konflikt in der Schweiz wahrgenommen als Konflikt zwischen der
226
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
Schweiz und der EU in Gestalt von Kommission und Ecofin, die Resonanzanteile von 41 Prozent erzielt hat.190
aļb CH ļ D CH ļ F CH ļ GB DļF D ļ GB F ļ GB
Britische Phase b in a a in b VK ĸ ĺ (a ļ b)
Schweizerische Phase b in a a in b VK ĸ ĺ (a ļ b)
0.14
0.05
0.51
0.08
0.24
0.48
0.05
0.00
1.00
0.02
0.21
0.83
0.35
0.00
0.98
0.12
0.28
0.41
0.07
0.22
0.49
0.01
0.03
0.39
0.43
0.38
0.06
0.00
0.02
1.00
0.46
0.12
0.58
0.07
0.01
0.72
Tabelle 16: Reziprozität der Resonanz auswärtiger Sprecher Lesehilfe: Die jeweilig beiden ersten Spalten einer Phase messen den Anteil, den Sprecher aus einem bestimmten Land am Total der Resonanz aller auswärtiger Sprecher in der Arena des andern Landes aufweisen. In der britischen Phase gehen 14 Prozent aller Äusserungen auswärtiger Sprecher in der Arena Schweiz auf das Konto deutscher Sprecher, während Schweizer Sprecher einen Anteil von 5 Prozent der auswärtigen Sprecherresonanz in Deutschland erzielen. Die jeweils dritte Spalte misst den Variationskoeffizienten der Werte der ersten und zweiten Spalte (Mass für die Reziprozität).
Was nun die Frage der Reziprozität der Resonanz auswärtiger Sprecher anbelangt, so ist auch hier wiederum nach den beiden Debattenphasen zu unterscheiden, um aussagekräftige Resultate zu erhalten. Gemessen an den Variationskoeffizienten besteht zwischen den nationalen Diskursensembles ausser zwischen Deutschland und Grossbritannien während der britischen Phase praktisch keine oder nur geringe Reziprozität (Tabelle 16). In den meisten Paarbeziehungen verlaufen die kommunikativen Austauschprozesse vorwiegend in eine Richtung. Dabei zeigt sich als durchgehende Regularität, dass Sprecher von Ländern, die unter Druck sind, in den Druck ausübenden Ländern grössere Resonanz erhalten als umgekehrt die Druck ausübenden Sprecher in den unter Druck stehenden Länder. Für eine Erklärung für diesen Sachverhalt ist es noch zu früh. Wie unter Kap. 6.2.2.a aber noch gezeigt wird, besteht ein Zusammenhang zwischen Adressierung durch auswärtige Sprecher und Resonanz in den Heimatarenen dieser Sprecher: Je stärker ein Land bzw. dessen Akteure durch Sprecher eines anderen Landes mit Forderungen oder Kritik adressiert bzw. konfrontiert werden, desto mehr Resonanz erhalten die Adressaten als auswärtige Sprecher in der Öffentlichkeit des kritisierenden Landes. 190
Vgl. dazu auch die entsprechenden Abbildungen im Anhang unter A2.6.
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse c)
227
Transnationalisierungspotenzial von Sprechertypen
Abschliessend wird noch gezeigt, welche Sprechertypen das grösste Potenzial für auswärtige Resonanz besitzen und somit über einen Status von Transnationalität verfügen.191 Wie Abbildung 28 klar illustriert, verfügen Regierungsakteure, gefolgt von Unternehmen und Verbänden, über das grösste Potenzial. Die relative Resonanzstärke, welche Regierungsakteure im Verhältnis zu den restlichen Sprechertypen eines nationalen Sprecherensembles in der Heimatöffentlichkeit haben, ist gegenüber einem Mittelwert um 118 Prozent höher, dasjenige der Unternehmen um 95 Prozent und der Verbände um 10 Prozent. Umgekehrt nimmt die relative Resonanzstärke aller anderen Sprechertypen gegenüber dem Rest der nationalen Sprecherensembles im Ausland ab. Insbesondere die Journalisten und die Parteien werden im Ausland gegenüber einem Mittelwert um 87 respektive 78 Prozent weniger oft gehört als im Inland. Damit verfügen gerade die beiden wichtigsten intermediären Akteure einer Demokratie – Parteien und Journalisten – über den tiefsten Status der Transnationalität. Wie lässt sich dieses unterschiedliche Transnationalisierungspotenzial der verschiedenen Sprechertypen erklären? Ein gewisser Teil lässt sich wahrscheinlich durch den Typ der Debatte erklären. Es handelt sich bekanntlich um einen Konflikt zwischen Staaten, wobei dieser Konflikt im Rahmen institutionalisierter EU-Verhandlungsprozeduren geregelt wird, was die Chance für die Exekutive (Regierung und Diplomatie), im Ausland gehört zu werden, gegenüber anderen Sprechertypen wohl erhöht. Ausserdem scheint die bereits im Inland beobachtbare mediale Fixierung auf die Exekutive (Imhof / Kamber 2001) gegenüber ausländischen Regierungen gar noch stärker ausgeprägt zu sein, was insbesondere zulasten der anderen politischen Sprechertypen gehen dürfte (Koopmans 2004b). Schliesslich verweist das höhere Transnationalisierungspotenzial von Unternehmen und Verbänden gegenüber Parteien und Medien auch auf unterschiedliche Kommunikationsressourcen: Während insbesondere grosse Unternehmen über Tochtergesellschaften auch in ausländischen Märkten operieren und somit ihre Kommunikation nicht nur an die Stakeholder im Heimatmarkt adressieren, richten sich Parteien und Medien mit Ausnahme einiger weniger transnationaler Medien wie die Financial Times an ein Heimatpublikum, von dem sie gewählt respektive gekauft werden.
191
Dazu wurde in einem ersten Schritt für jedes nationale Sprecherensemble errechnet, wie gross die Resonanzanteile der einzelnen Sprechertypen im Inland und im Ausland sind. In einem zweiten Schritt wurden die vier nationalen Sprechertypenanteile jeweils für das Inland und für das Ausland gemittelt. In einem dritten Schritt werden die beiden Verhältnisse zueinander in Beziehung gesetzt. Dadurch erhält man Werte, die anzeigen, zu welchem Faktor ein Sprechertypus im Verhältnis zu den anderen Sprechertypen im Ausland mehr Resonanz erzielt als in der Heimatöffentlichkeit.
228
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
Nat. Regierung / Verwaltung
118%
Unternehmen
99%
Verbände / Interessengruppen
11%
andere staatliche Akteure
-24%
Experten Parteien Journalisten -100%
-38% -79% -87% -50%
0%
50%
100%
150%
Abbildung 32: Transnationalität der Sprechertypen Lesehilfe: Transnationalität misst die Chance, dass Sprechertypen im Vergleich zu den anderen Sprechertypen im Ausland mehr Resonanz erzielen als in der Heimat-Öffentlichkeit. Die Balken messen entsprechend die Differenz zum Mittelwert. Eine Erläuterung der Berechnung findet sich im Anhang unter A2.5.
*** Die empirischen Befunde lassen sich zu fünf Regularitäten verdichten. Für die „Zinsbesteuerungsdebatte“ lässt sich ein hoher Europäisierungsanteil von 34 Prozent in horizontaler und 16 Prozent in vertikaler Richtung ermitteln. Im Vergleich zu Studien, die ohne Restriktion auf europäische Themen die Berichterstattung untersuchen, kann erstens der Schluss gezogen werden, dass europäische Sprecher zu grossen Anteilen Resonanz erzeugen, wenn Auseinandersetzungen über europäische Angelegenheiten, also europäische Kommunikationsereignisse, untersucht werden. Die Resonanz von europäischen Sprechern ist jedoch zweitens in unter Druck stehenden Ländern kleiner als in Druck ausübenden Ländern, da infolge der Konfliktkonstellation in der erstgenannten Kategorie ein Mobilisierungspotenzial von inländischen Akteuren besteht. Die empirische Untersuchung bestätigt drittens die These, dass Qualitätszeitungen stärker europäisiert sind als Boulevardmedien und die Sonntagspresse. Viertens zeigt sich, dass der Anteil der Resonanz von auswärtigen Sprechern nicht mit dem EU-Mit-
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
229
gliedstatus erklärt werden kann. Die Resonanzstärke lässt sich dagegen mit der Konflikthypothese erklären: Mit Ausnahme von Frankreich sind alle zentralen Konfliktakteure mit hoher Resonanz vertreten. Entsprechend erzielt die Schweiz nicht weniger Resonanz als vergleichbare EU-Mitgliedstaaten. Dies führt fünftens dazu, dass kleine Länder nicht unterrepräsentiert sind. Das normative Postulat, wonach wenigstens die am Konflikt massgeblich beteiligten Länder in auswärtigen Öffentlichkeiten mit ihren Positionen Resonanz erzielen sollten, kann als erfüllt bezeichnet werden. 6.2.2 Interdiskursive Beziehungsstrukturen – Adressierung und Referenzierung Das zweite Merkmal transnationaler Interdiskursivität besteht in wechselseitigen Verweisen und Bezügen auf Akteure anderer Länder oder auf diese Länder selbst. Im Unterschied zum ersten Indikator, bei dem kommunikative Austauschprozesse über das „Gehört-werden“ auswärtiger Sprecher gemessen werden, knüpft dieser Indikator bei der diskursiv hergestellten Beziehung zwischen Sprechenden und Bezugsakteuren in Form von Adressierungen und Referenzierungen an. Dabei wird in Anlehnung an die von Koopmans / Statham entwickelte Claim-Theorie (vgl. Koopmans 2004, 13f.) unter Adressierung die Formulierung von Geltungsansprüchen wie Handlungsaufforderungen sowie die Formulierung von bewertender Kritik im Sinn von Lob und Tadel an die Adresse Dritter – Akteure oder Länder – verstanden. Unter Referenzierung wird dagegen der explizite und reaktive Bezug von Sprechenden auf Äusserungen Dritter verstanden. Eine Analyse dieser diskursiven Verweisstrukturen ist somit unter drei verschiedenen Gesichtspunkten möglich: Eine erste Perspektive interessiert sich für diejenigen Sprecher, die mit ihren Äusserungen auf Dritte Bezug nehmen (analog zum „Claimant“). Eine zweite Perspektive nimmt diejenigen Akteure in den Blick, auf die sich Sprechende beziehen (Adressat, Bezugsakteur). Die dritte Perspektive interessiert sich schliesslich für die Beziehungen zwischen Sprechern (Claimants) und Adressaten respektive Bezugsakteuren. Die Darstellung der Ergebnisse wird sich vor allem auf die dritte Perspektive konzentrieren und zu klären versuchen, nach welcher Logik die Beziehungsstruktur geknüpft ist. Dies geschieht zunächst für die Adressierungen a), dann für die Referenzierungen b). Dabei interessiert für beide Verweisungstypen die Frage, ob auf die an der Debatte beteiligten Länder gleichmässig verwiesen wird oder ob es bestimmte Länder gibt, die stärker Adressaten oder Referenten sind als andere. Diese Frage wird in diesem Zusammenhang auch unter den beiden Gesichtspunkten zu beantworten sein, ob die diskursive Beziehungsstruktur unter EU-Staaten enger geknüpft ist als im Verhältnis mit Drittstaaten oder ob die Art
230
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
der Konfliktbeziehung entscheidend ist. Damit verbunden ist zudem die Frage nach dem oben angesprochenen Zusammenhang zwischen Adressierung und Resonanz der adressierten Sprecher in ausländischen Öffentlichkeiten. Zu guter Letzt interessiert, ob zwischen den Sprechertypen ein Gefälle hinsichtlich Diskursivität zum einen und Definitionsmacht zum anderen besteht. a) Adressierung von Geltungsansprüchen und Kritik In medial vermittelten Debatten erhalten Sprecher Resonanz, indem sie sich zu Gegenständen äussern, ihre Position vertreten und gegebenenfalls auch begründen. Solcherlei können sie indes auch tun, indem sie andere adressieren, sie mit Forderungen und Geltungsansprüchen, Lob und Tadel konfrontieren. Indem Sprecher in dieser Weise Dritte adressieren, wird moralische Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit hergestellt und eine Voraussetzung für die Konstruktion von kollektiven Identitäts- und Differenzsemantiken geschaffen. Betrachten wir zunächst, wie Sprecher adressieren, indem einerseits unterschieden wird zwischen Adressierungen von konkreten Personen und Organisationen oder generalisierten Adressaten wie Länder192 sowie andererseits zwischen Adressierungen, die sie als heimische Sprecher in ihrer Heimatöffentlichkeit oder als auswärtige Sprecher in ausländischen Öffentlichkeiten machen. Die Analyse der Sprecheradressierungen hat ergeben, dass in 30 Prozent aller Äusserungen zugleich eine Adressierung gemacht wird (Abbildung 33). Dabei sind generalisierte Adressierungen um den Faktor 1.5 häufiger als an Personen und Organisationen adressierte Geltungsansprüche oder Kritiken.193 Unterscheidet man darüber hinaus zwischen heimischen und auswärtigen Sprechern, dann lässt sich eine Tendenz erkennen, wonach auswärtige Sprecher Dritte leicht stärker als heimische Sprecher in generalisierter Weise adressieren.194 Mit anderen Worten: Vor dem eigenen Publikum benennen heimische Sprecher verantwortliche Adressaten eher beim konkreten Namen als dies auswärtige Sprecher tun. Gemessen an der Adressierung, die Sprecher in ihren Heimatöffentlichkeiten äussern (heimische Sprecher = 29 Prozent), treten sie erstaunlich oft als Adressierer in auswärtigen Öffentlichkeiten auf (auswärtige Sprecher = 30 Prozent). Das bedeutet, dass nationale Grenzen keine Hindernisse darstellen, 192
Dies kommt etwa in Äusserungen vor wie: „Es ist an der Zeit, dass sich die Schweiz zu bewegen beginnt“. „Schweiz“ steht hier als Metonym für die Schweizer Landesregierung. Es ist somit eine implizite Handlungsaufforderung an die Adresse des Bundesrats, ohne diesen aber konkret zu nennen. 193 Der Faktor ergibt sich aus einer Division Anzahl generalisierter Adressierung geteilt durch Anzahl konkreter Adressierung. 194 Der Faktor bei auswärtigen Sprechern beträgt 1.7, bei heimischen Sprechern 1.2.
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
231
wenn es darum geht, Akteure aus anderen Ländern mit Geltungsansprüchen oder Kritik zu konfrontieren. Über nationale Grenzen hinweg wird auf diese Weise Verantwortung und Zuständigkeit, Schuld und Moral konstruiert. Die in politischen Diskursen oft gemachte Behauptung, an auswärtige Dritte formulierte Kritik sei lediglich für das eigene Heimatpublikum gemacht, erzählt deshalb nur die eine Seite der Wahrheit, weil nämlich auf der anderen Seite die Kritik beim Adressierten als eine an ihn adressierte Kritik gehört wird.195 Anteil von Sprecheräusserungen mit einer Adressierung eines Geltungsanspruchs oder einer Kritik an Dritte
100%
80%
60%
40%
20%
13%
11%
12%
16%
19%
18%
heimische Sprecher
auswärtige Sprecher
alle Sprecher
0%
generalisierte Adressierung an Staat / Land
konkrete Adressierung an Akteure
Abbildung 33: Adressierungen Lesehilfe: Die Säulen zeigen den arenengewichteten Anteil von Sprecheräusserungen mit Adressierungen am Total aller Äusserungen nach unterschiedlichen Sprecherklassen. (N: 3379 heimische Sprecher, 3293 auswärtige Sprecher).
Möchte man wissen, ob die Kritik lobend oder tadelnd bzw. ob die mit Geltungsansprüchen adressierten Äusserungen in einem positiven oder negativen Unterton formuliert wurden, so gibt die Auswertung der entsprechenden Bewertungs195
Wenn Peer Steinbrück die Schweizer als Indianer typisiert und ihnen mit der Kavallerie und der Peitsche droht oder wenn Franz Müntefering daran erinnert, dass man früher bei gewissem Verhalten ausländischer Staaten Soldaten an die Grenze geschickt hätte, dann stimmt es schon, dass solche Äusserungen im Kontext des deutschen Wahlkampfs für die eigenen Wähler bestimmt sind. Nur werden sie auch beim Adressierten gehört – mit dem kleinen, aber feinen Unterscheid, dass deren Ohren nicht auf die Tonalität eines deutschen Wahlkampfs eingestimmt sind.
232
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
variable196 Auskunft. Grundsätzlich zeigt sich, dass positive Adressierungen oder lobende Kritik (16 Prozent) gegenüber negativen und tadelnden Bewertungen (53 Prozent) deutlich in der Unterzahl sind. Selbst unter Sprechern gleicher Länder oder gleicher Koalitionen kommen negative Adressierungen immer noch häufiger vor als positive. Umgekehrt zeigt sich allerdings ganz deutlich, dass das Gefälle von positiven und negativen Bewertungen zwischen Sprechern verschiedener Länder und verschiedener Koalitionen weitaus grösser ist. Dieser Negativismus mag ein Medialisierungsprodukt sein: Medien berichten bevorzugt über Dinge, die sich konfliktstilisierend darstellen lassen (Imhof 2003d). Gleichzeitig drückt dieser Befund auch die Logik des Politischen aus: Politische Konkurrenten werden in der Regel nicht gelobt, man spricht über sie, wenn es etwas zu kritisieren gibt. Wenn die Annahme richtig ist, dass zwischen der Konstruktion eines Zusammengehörigkeitsgefühls und der diskursiv hergestellten Verweisstruktur unter Akteuren ein Zusammenhang besteht, dann muss dieser Befund mit Bezug auf die Entstehung eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins doch eher nachdenklich stimmen.
Total (n = 2092) Unter Sprechern gleicher Länder (n = 562) Zwischen Sprechern verschiedener Länder (n = 1530) Unter Sprechern gleicher Koalitionen (n = 740) Zwischen Sprechern verschiedener Koalitionen (n = 1310)
Positiv
Negativ
16%
53%
34%
44%
10%
57%
29%
40%
9%
63%
Tabelle 17: Bewertungen adressierter Akteure Indem im nächsten Schritt die sozialräumliche Verweisungsstruktur untersucht wird, lässt sich die Frage beantworten, ob die zentralen Akteure bzw. Länder gleichmässig oder asymmetrisch adressiert werden. Dieser Analyse wurden alle Adressierungen, die heimische Sprecher an auswärtige Akteure / Länder richten (Fremdadressierung), zugrunde gelegt – und die Selbstadressierungen somit von den untersuchten Fremdadressierungen geschieden.197 Auf der Basis der Fremdadressierungen erhält man ein sehr komplexes, aber auch unübersichtliches Beziehungsgeflecht, das zwischen den massgeblichen Konfliktakteuren die stärksten Verbindungen ausweist.198 Werden dabei die Anzahl Adressierungsverweise, die 196
Zusätzlich zum adressierten Bezugsakteur wurde auch dessen Bewertung durch den Sprechenden miterhoben. Diese Bewertung hat vier Ausprägungen: positiv, negativ, ambivalent und neutral. Insgesamt wurden 1628 Fremdadressierungen im Unterschied zu 464 Selbstadressierungen gezählt. 198 Diese Abbildung findet sich im Anhang unter A2.8. 197
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
233
EU-Sprecher in den Öffentlichkeiten der drei untersuchten EU-Ländern an andere EU-Akteure / EU-Länder richten, ins Verhältnis zu Adressierungen an Drittstaaten und Akteuren aus Nicht-EU-Ländern gesetzt, so ergibt sich ein Verhältnis von 65 zu 35 Prozent. In der Schweizer Öffentlichkeit sieht das Verhältnis anders aus: Hier adressieren EU-Akteure die Schweiz als generalisierten Adressaten bzw. schweizerische Akteure stärker (67 Prozent) als EU-Akteure und EULänder (33 Prozent). Auf der Basis dieser absoluten Zahlen kristallisiert sich eine diskursive Beziehungsstruktur, wonach sich EU-Länder in den Öffentlichkeiten der EU-Mitgliedstaaten unter sich häufiger adressieren als gegenüber Drittstaaten, wogegen in der Schweizer Öffentlichkeit EU-Akteure als Sprecher wahrgenommen werden, die sich stärker an die Schweiz denn an andere EUMitgliedstaaten richten.199 Trotzdem scheint auch bei diesem Indikator der EUMitgliedstatus nicht die zentrale Rolle für die Wahrnehmung der sozialräumlichen Beziehungsstruktur zu spielen; entscheidender ist auch hier wiederum die Konfliktkonstellation zwischen den verschiedenen Ländern und Akteuren. So unterscheiden sich die Adressierungsgeflechte zwischen den beiden Debattenphasen, wie Abbildung 34 eindrücklich belegt, fundamental. Während in der ersten Debattenphase Grossbritannien rund 50 Prozent aller Adressierungen auf sich vereint, ist es in der zweiten Phase die Schweiz mit fast 45 Prozent. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich für die britische Phase ein wechselseitiges Adressierungsgeflecht zwischen Grossbritannien, Deutschland, Frankreich und der EU. Einerseits wird Grossbritannien mit Geltungsansprüchen der drei anderen zentralen Akteure konfrontiert, andererseits ist es vor allem Deutschland und die EU, welche von Grossbritannien mit Kritik und Forderungen eingedeckt werden. In dieser Phase spielen Drittstaaten wie die Schweiz praktisch keine Rolle. Das Verhältnis zwischen EU-Adressaten und Nicht-EUAdressaten beträgt 95 zu 5 Prozent. Selbst in der Schweizer Öffentlichkeit werden Akteure aus der EU bzw. EU-Staaten vorwiegend als Sprecher wahrgenommen, die andere EU-Akteure oder EU-Länder adressieren. Völlig verändert zeigt sich die sozialräumliche Verweisstruktur in der zweiten Debattenphase, als die EU vereint gegen Drittstaaten angetreten ist. Im Fokus der Adressierungen steht die Schweiz, die von der EU, Grossbritannien, Deutschland, aber auch von den verbündeten Staaten der Bankgeheimniskoalition, Luxemburg und Österreich, kritisiert oder mit Geltungsansprüchen konfrontiert worden ist. Umgekehrt verweist die Schweiz vor allem auf die EU und 199
Allerdings sind diese absoluten Zahlen auch mit Vorsicht zu interpretieren, weil infolge der stärkeren Beteiligung von EU-Akteuren an der Debatte die Wahrscheinlichkeit einer Adressierung grösser wird. Würde man die Adressierungen nach den Resonanzanteilen gewichten, würden nämlich EU-Akteure Drittstaaten (insbesondere die Schweiz), im Verhältnis, stärker adressieren als EU-Mitglieder.
234
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
Grossbritannien. So wird die Schweiz als Adressat mit 54 Prozent mehr von den EU-Akteuren angesprochen, als diese sich selbst adressieren (46 Prozent). Deutlich zum Ausdruck kommt dieser Richtungswechsel im Adressierungstransfer in der Schweizer Öffentlichkeit: Zu drei Vierteln adressieren EU-Akteure Drittstaaten, wobei die Schweiz ganz deutlich im Zentrum steht.
Abbildung 34: Adressierungsbeziehungen nach Debattenphasen Lesehilfe: Die Balken messen den prozentualen Anteil aller Fremdadressierungen pro adressiertem Land. Die unterschiedlichen Farben repräsentieren die Adressierer nach ihren Herkunftsländern. (N: 517 britische Phase, 1042 schweizerische Phase). Die zweite Zeile in der untenstehenden Tabelle zeigt das prozentuale Verhältnis zwischen den von Sprechern aus den EU-Ländern adressierten Sprechern aus anderen EU-Ländern und Nicht-EU-Ländern in den drei Öffentlichkeiten der EULänder. Die dritte Zeile zeigt das analoge Verhältnis für die Arena Schweiz. Die unterste Zeile zeigt den Anteil der Selbstadressierung am Total aller Adresssierungen. In der britischen Phase beträgt der durchschnittliche Selbstadressierungsanteil 24 Prozent, während Grossbritannien mit 43 Prozent deutlich darüber liegt.
In diesem Licht lässt sich nun auch erklären, weshalb im gleichen Kommunikationsereignisverlauf Akteure, gemessen an ihren prozentualen Anteilen als auswärtige Sprecher, während bestimmter Phasen mehr Resonanz erzielen als in anderen. Zwischen der Adressierung ausländischer Akteure / Länder und der Resonanz dieser Akteure in den Öffentlichkeiten der adressierenden Sprecher besteht ein positiver Zusammenhang: Je häufiger sie kritisiert oder mit Gel-
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
235
tungsansprüchen konfrontiert werden, desto grösser wird deren Resonanz als auswärtige Sprecher.200 Diese Adressierung zeitigt jedoch noch einen weiteren Effekt. Nicht nur steigt deren Resonanz als auswärtige Sprecher, es nimmt auch noch die Selbstadressierung in der inländischen Öffentlichkeit stark zu (vgl. unterste Zeile in Abb. 34). Bei einem Mittelwert von 24 Prozent beträgt die Selbstadressierungsrate der britischen Akteure in der ersten Debattenphase 43 Prozent.201 In der zweiten Phase erreicht der Selbstadressierungsanteil der schweizerischen Akteure einen Wert von 46 Prozent bei einem Mittelwert von 20 Prozent. Fremdadressierung durch ausländische Akteure bewirkt also auch eine innenpolitische Mobilisierung, wobei sich heimische Akteure, die unter Druck von aussen stehen, vermehrt untereinander mit Forderungen und Kritik zu konfrontieren beginnen.202 b) Referenzierung auf Äusserungen Dritter Referenzierungen auf Äusserungen Dritter lassen sich auf zwei verschiedene Arten interpretieren. Wenn diejenigen Akteure in den Blick genommen werden, auf die Sprecher sich beziehen (Bezugsakteure), dann kann Referenzierung als Mass für die Definitionsmacht von Akteuren in öffentlichen Debatten eingeführt werden. Werden dagegen die sich referenzierenden Sprecher fokussiert, dann ist Referenzierung ein Mass für die Diskursivität von Debatten im Sinn des diskurstheoretischen Öffentlichkeitsmodells, wonach sich Sprecher diskursiv verhalten, wenn sie sich auf Äusserungen Dritter zustimmend oder ablehnend beziehen. zustimmend
ablehnend
65%
25%
75%
18%
58%
30%
76%
16%
57%
26%
Total (n = 414) Unter Sprechern gleicher Länder (n = 184) Zwischen Sprechern verschiedener Länder (n=241) Unter Sprechern gleicher Koalitionen (n = 225) Zwischen Sprechern verschiedener Koalitionen (n = 189) Tabelle 18: Bewertungstendenzen zu Äusserungen Dritter
Der Korrelationskoeffizient r beträgt 0.70, Signifikanz von 0.99. Die Selbstadressierungsrate errechnet sich aus einer Division der Selbstadressierung dividiert durch die Summe von Selbst- und Fremdadressierung. 202 Zu beobachten ist etwa eine Kritik an der Regierung, wonach bemängelt wird, dass diese die nationalen Interessen zu wenig gut verteidige. 200 201
236
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
Die Analyse hat ergeben, dass sich Sprecher deutlich weniger referenzieren als adressieren. In nur gerade 6 Prozent aller Äusserungen wird Bezug auf eine Aussage eines anderen Akteurs genommen. Dabei beziehen sich Sprecher fast doppelt so häufig auf Sprecher der gleichen Nation (7 Prozent) als auf auswärtige Sprecher (4 Prozent). Gemessen am ohnehin schon tiefen Diskursivitätsgrad medial vermittelter Debatten ist die Diskursivität im transnationalen Kontext nochmals deutlich tiefer als im nationalen Kontext, zumindest dann, wenn Diskursivität mit Referenzialität operationalisiert wird. Möchte man auch für die Referenzierungen wissen, ob Sprecher eher zustimmend oder ablehnend auf Äusserungen anderer Sprecher Bezug nehmen, so gibt auch hier die Bewertungsvariable Auskunft. Dabei zeigt sich, dass Sprecher deutlich häufiger in zustimmender Weise auf Aussagen anderer Bezug nehmen (Tabelle 18). In 65 Prozent aller Referenzierungen beziehen sich Sprecher zustimmend auf Aussagen Dritter, nur in 25 Prozent beziehen sie sich in ablehnender Weise darauf. Dieses Muster lässt sich selbst zwischen Sprechern verschiedener Länder oder Koalitionen feststellen, wenngleich auf tieferem Level als bei Sprechern gleicher Länder oder gleicher Koalitionen. Aus dieser deutlich höheren Rate zustimmender Referenzierungen kann gefolgert werden, dass sich Sprecher vor allem dann auf Äusserungen Dritter beziehen, wenn sie ihre eigenen Aussagen durch Verweis auf Dritte autorisieren und ihnen somit höhere Glaubwürdigkeit verschaffen wollen. Referenzierte EU-Sprecher in EUÖffentlichkeiten EU-Sprecher in CHÖffentlichkeit Selbstreferenzierung
Britische Phase NichtEU EU 0.95
0.05
1
0 Ø = 0.34
Schweizerische Phase Adressierte NichtEU EU EU-Sprecher in EU0.57 0.43 Öffentlichkeiten EU-Sprecher in CH0.35 0.65 Öffentlichkeit Ø = 0.32 Selbstadressierung
Tabelle 19: Referenzierungsbeziehungen nach Debattenphasen Lesehilfe: Die zweite Zeile zeigt das prozentuale Verhältnis zwischen den von Sprechern aus den EU-Ländern referenzierten Sprechern aus anderen EU-Ländern und Nicht-EU-Ländern in den drei Öffentlichkeiten der EU-Länder. Die dritte Zeile stellt das analoge Verhältnis für die Arena Schweiz dar. Die unterste Zeile zeigt den Anteil der Selbstreferenzierung am Total aller Referenzierungen an. In der britischen Phase beträgt der durchschnittliche Selbstadressierungsanteil 34 Prozent, während er in der schweizerischen Phase 32 Prozent ausmacht.
Sprecher aus EU-Mitgliedstaaten referenzieren deutlich häufiger auf Sprecher aus anderen EU-Mitgliedstaaten (83 Prozent) als auf Sprecher aus Drittstaaten
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
237
(17 Prozent).203 Gleichwohl gilt auch für die Referenzierung wie für die Adressierung, dass im Fall einer Konfliktverschärfung zwischen der EU und Drittstaaten die Referenzierungen auf Sprecher aus diesen Drittstaaten stark ansteigen (Tabelle 19). Gemessen an den jeweiligen Resonanzen sind die Referenzierungen unter Sprechern gleicher Länder oder gleicher Koalitionen leicht höher als zwischen solchen unterschiedlicher Länder und Koalitionen. Definitionsmacht
Diskursivität Journalisten
Unternehmen
77%
Parteien Experten
100%
Exekutive
40%
60%
EU-Akteure/ OECD
1%
47%
andere
Unternehmen
-18%
EU-Akteure/ Int. Org
-23%
Nat. Regierungen
-100%
Experten
Verbände / Interessengruppen Journalisten
-42% -50%
0%
-10%
Parteien
-35%
Verbände
5%
50%
100%
-100%
-43% -73% -85% -50%
0%
50%
100%
Abbildung 35: Diskursivität und Definitionsmacht der Sprechertypen Lesehilfe: Diskursivität bezieht sich auf das Faktum, dass sich Sprechertypen im Vergleich zu anderen Sprechertypen mehr auf Äusserungen Dritter beziehen. Definitionsmacht bedeutet die Chance, dass auf Äusserungen von Sprechertypen im Vergleich zu Äusserungen anderer Sprechertypen mehr Bezug genommen wird. Die Balken messen entsprechend die Differenz zum Mittelwert. Eine Erläuterung der Berechnung findet sich im Anhang unter A2.5.
Anhand dieses Referenzierungsindikators lässt sich abschliessend bestimmen, welche Sprechertypen einerseits besonders diskursiv in Erscheinung treten und welche andererseits über hohe Definitionsmacht verfügen. Als diskursiv gelten, wie gesagt, Akteure, die besonders häufig auf Äusserungen Dritter Bezug nehmen. Das impliziert, dass sie sich mit Argumenten anderer auseinandersetzen, auf die sie sich dann in der öffentlichen Debatte zustimmend oder ablehnend beziehen. Journalisten und Parteien sind nun diejenigen Akteure, die relational am häufigsten auf Äusserungen Dritter verweisen, wogegen Verbände und Regierungen am wenigsten auf Argumente anderer Bezug nehmen und somit als am wenigsten diskursiv gelten. Fast spiegelbildlich verhält es sich bei der Frage, welche Sprechertypen über besonders hohe Definitionsmacht verfügen, wobei über hohe Definitionsmacht verfügt, auf den besonders häufig als Sprecher Be203
Werden die Adressierungsanteile mit einem Faktor gewichtet, der die Resonanzverhältnisse zwischen Nicht-EU-Sprechern und Sprechern aus anderen EU-Ländern in EU-Öffentlichkeiten berücksichtigt, dann beziehen sich EU-Sprecher nur noch wenig mehr auf andere EU-Sprecher (54 Prozent).
238
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
zug genommen wird. Als besonders definitionsmächtig erweisen sich Unternehmen, EU-Akteure und Internationale Organisationen sowie die nationalen Regierungen, auf die, gemessen an ihrer relativen Resonanz, überdurchschnittlich häufig Bezug genommen wird. Am anderen Ende liegen die Journalisten, auf die, gemessen an ihrer Resonanzstärke, am wenigsten Bezug genommen wird. Auch auf Verbände und Parteien wird deutlich weniger Bezug genommen. *** Aus den empirischen Ergebnissen zur kommunikativ hergestellten Verweisstruktur lassen sich acht Regularitäten formulieren. Die Untersuchung zeigt erstens, dass Sprecher in auswärtigen Öffentlichkeiten Dritte eher in generalisierter Weise adressieren als sie dies in ihrer Heimatöffentlichkeit tun. Heimische Akteure nennen entsprechend verantwortliche Dritte eher beim Namen als auswärtige. Zweitens sind die Adressierungen nicht auf den eigenen nationalen Kommunikationsraum beschränkt, sondern finden sogar noch leicht stärker in auswärtigen Medienarenen statt, indem Akteure aus anderen Ländern oder diese Länder als generalisierter Adressat mit Geltungsansprüchen konfrontiert oder kritisiert werden. Dabei dominieren drittens in starker Weise negative Bewertungen der Adressaten, und zwar im transnationalen Verhältnis ausgeprägter als unter gleichen nationalen Sprechern oder Sprechern der gleichen Koalition. Die Analyse legt viertens nahe, dass die sozialräumliche Adressierungsstruktur nicht durch die Integrationshypothese erklärbar ist: EU-Akteure adressieren sich nicht stärker untereinander. Stattdessen ist sie determiniert durch die Konfliktkonstellation. Je stärker fünftes ein Land als Adressat mit Kritik und Geltungsansprüchen von auswärtigen Sprechern konfrontiert wird, desto grösser ist die Resonanz der adressierten Sprecher in der Öffentlichkeit des Absenders der Adressierung. Sechstens führt eine von mehreren Staaten gefahrene Fremdadressierung zu einer erhöhten Selbstadressierung in der Öffentlichkeit des Adressierten. Was siebtens die Referenzierung betrifft, so ist diese unter nationalen Sprechern fast doppelt so hoch wie im transnationalen Verhältnis, wobei sie sich mehrheitlich in Form zustimmender Bezugsnahmen manifestiert; insgesamt wird aber deutlich weniger referenziert als adressiert. Achtens scheinen sich EU-Sprecher stärker auf Sprecher aus anderen EU-Staaten als auf Sprecher aus Drittstaaten zu beziehen. Trotzdem wird im Konflikt stärker Bezug auf Sprecher genommen, mit deren Ländern ein Konflikt besteht. Das führt dazu, dass unter diesen Bedingungen auch EU-Sprecher mehr auf Sprecher aus Drittstaaten Bezug nehmen als auf Sprecher anderer EU-Staaten, womit auch die Referenzierung in erster Linie konfliktdeterminiert ist.
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
239
6.3 Konstruktion kollektiver Identitäten Segmentär differenzierte nationale Öffentlichkeiten begründen eine transnational verdichtete Kommunikationszone, wenn erstens in den Medienarenen dieser Länder zur gleichen Zeit über das Gleiche in ähnlicher Weise berichtet wird und wenn zweitens zwischen den Sprechern dieser Arenen ein kommunikativer Austausch in Form wechselseitiger Interdiskursivität besteht. Aber kommunikative Verschränkung, Überlappung oder Durchdringung ist mit Bezug auf den geografischen Raum Europa noch nicht mit einer europäischen Öffentlichkeit im normativ starken Sinn gleichzusetzen. Politische Öffentlichkeiten demokratisch organisierter Staaten bzw. Staatenzusammenschlüsse wie die Europäische Union erfordern darüber hinaus ein kollektives Identifikationspotenzial mit der Polity und ein Zusammengehörigkeitsbewusstsein respektive einen Gemeinsamkeitsglauben der Bürger und Akteure. Wo sich ein Gemeinsamkeitsglauben innerhalb politischer Strukturen aktualisieren lässt, existieren die für demokratische Mehrheitsentscheidungen notwendigen Solidaritätsdispositionen insbesondere in Fragen der Redistribution und der militärischen Sicherheit. Beides, Identifikationspotenzial mit einer Polity und Zusammengehörigkeitsbewusstsein unter Fremden, ist bisher nur im Nationalstaat hinreichend zur Geltung gekommen: In den nationalen Öffentlichkeiten werden Identitätsdiskurse geführt; in ihnen mobilisieren sich Diskursformationen und Kommunikationsgemeinschaften, die das Eigene immer wieder identitätsstiftend aktualisieren und das Andere, das Fremde, davon abgrenzen. Dabei kann nun die Europäische Union als das Andere gegenüber dem Eigenen abgegrenzt und sowohl mit positiven als auch negativen Begriffen und Stereotypen attribuiert werden. Zugleich kann die EU aber auch in einen sozial erweiterten WIR-Begriff inkludiert werden. Nationale Sprecher können ihre Äusserungen, Forderungen und Kritiken nämlich auch aussprechen im Namen eines europäischen Kollektivs, mit dem sie sich im Moment des Sprechakts identifizieren. Zu erwarten, dass die EU als das Andere bereits in einem breit diffundierten europäischen WIR-Begriff aufgegangen wäre, scheint angesichts der überragenden Bedeutung des Nationalstaats für kollektive Identitätsprozesse allerdings reichlich überzogen zu sein (Wessler et al. 2006; Lucht / Tréfás 2006). Aber eine Koexistenz einer national und einer europäisch definierten kollektiven Identität wäre das, was sich im Rahmen transnationaler Debatten über europäische Angelegenheiten eigentlich ausbilden sollte. Denn als ökonomisch, rechtlich und auch politisch bereits stark integrierte Gemeinschaft konstituieren die Mitglieder der EU nicht nur eine Problemgemeinschaft; indem sie damit verbundene Konflikte und Auseinandersetzungen gemeinsam und erfolgreich regeln, kann sich in den nationalen Öffentlichkeiten das Bild der EU als einer kompetenten Problemlö-
240
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
sungsgemeinschaft entwickeln. Im Licht einer auf diese Weise positiv konnotierten EU dürfte es dann auch für die Sprechenden einfacher werden, sich mit der Europäischen Union zu identifizieren und sie in einen erweiterten WIR-Begriff zu inkludieren, wodurch über Prozesse öffentlicher Kommunikation ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein konstruiert würde. Nachfolgend wird für die beiden Identitätsindikatoren der Fremdtypisierung und des WIR-Bezugs untersucht, ob und wie sich europäische kollektive Identität bereits ausgebildet hat und wie sie sich gegenüber nationalen Identitäten abgrenzt. Da sich die Debatte über die Einführung einer europäischen Zinsbesteuerung in eine EU-interne Verhandlungsphase und eine Verhandlungsphase mit Drittstaaten unterteilen lässt, lässt sie sich auch auf zwei unterschiedliche Konflikttypen zurückführen: auf einen zivilisierten Konflikt unter EU-Staaten und einen zivilisierten Konflikt der EU mit Drittstaaten. Die bisherigen Ergebnisse lassen erwarten, dass sich die erste Phase durch starke nationale Differenzsemantiken zwischen den EU-Staaten auszeichnet. Hierzu stellt sich die Frage, ob dieser Konflikt seitens der kontinentaleuropäischen Koalition mit Rekurs auf europäische Identitätsbezüge geführt wird oder nicht. Die zweite Konfliktphase ist geprägt durch eine Konfrontation zwischen der Schweiz und einer Allianz aus kontinentaleuropäischer und angelsächsischer Koalition. Die kardinale Frage ist hier, ob sich die vorher ausgebildeten Differenzsemantiken zwischen der kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Koalitionen abzuschwächen und sich die europäischen Typisierungen anzugleichen beginnen, als die grossen EUStaaten mit der Kommission gemeinsam Drittstaaten unter Druck setzen. 6.3.1 Fremdtypisierungen Sprecher formulieren nicht nur auf Sachverhalte bezogene Aussagen, sie können ihre Aussagen auch an Personen, Organisationen oder auch Länder und Gebietskörperschaften adressieren. Sofern sich Adressierungen auf Letzteres beziehen, ist – sofern vorhanden – zusätzlich codiert worden, wie ein Land bzw. die EU typisiert wurde. Von den insgesamt 277 codierten Fremdtypisierungen entfallen 26 Prozent auf die Schweiz, 25 Prozent auf die EU, 15 Prozent auf Grossbritannien, 10 Prozent auf Luxemburg sowie je 6 Prozent auf Deutschland und die Kanalinseln. Die restlichen 12 Prozent teilen sich auf weitere zwölf Gebietskörperschaften auf. Selbsttypisierungen wurden nur für jene vier Länder codiert, deren Medienberichterstattung untersucht wurde. Dabei fällt auf, dass nur schweizerische (n = 49) und britische (n = 37) Sprecher je ihr Land typisiert haben (Abbildung 36).
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse Fremdtypisierung EU
241
Fremdtypisierung Deutschland
Bürokratische Fehlkonstruktion
Hochsteuerland
40%
70% 60%
Neoliberale Fehlkonstruktion
Freiheit unterdrückender Superstaat
50% 40% 30%
30% 20% Solidarität lebendes Land
Obrigkeitsgläubiger Beamtenstaat
10%
20% 10%
Fremdtypisierung (n=17)
0%
0%
Kartell der Hochsteuerländer
Steueroase
Bankgeheimnis-Koalition (n=25) Angelsächsische Koalition (n=35) Kontinentaleuropäische Koalition (n=6) Hort des Friedens und der Stabilität
Wilhelminischverbissener Imperator
Verbündeter Wirtschaftspartner
Wirtschaftspartner
Typisierung Grossbritannien
Typisierungen Schweiz Steuerfluchtburg
Rosinenpicker
50%
60%
Hochsteuerland
50% 40%
Steuerfluchtburg
Musterschüler
Save Haven
10% 0%
Kolonialistischer Imperator
Selbsttypisierung (n=37) Fremdtypisierung (n=42) Land mit reputiertem Finanzplatz
Hort der Freiheit
Rosinenpicker
20%
20%
Tragendes Mitglied der europäischen Gemeinschaft
40% 30%
30%
Steuerparadies
Selbsttypisierung (n=49)
10% 0%
Land mit kriminellem Finanzplatz
Fremdtypisierung (n=70) Steuerparadies
Verbündeter Wirtschaftspartner
Land mit reputiertem Finanzplatz Hort der Freiheit, Demokratie und Stabilität
Abbildung 36: Typisierungen Lesehilfe: Die Abbildungen zeigen die Fremdtypisierungen für die EU, Deutschland, Grossbritannien und die Schweiz und zudem die Selbsttypisierungen für Grossbritannien und die Schweiz.
Betrachten wir zunächst die beiden Länder, die am meisten unter Druck standen: Grossbritannien und die Schweiz. In beiden Ländern besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbsttypisierung. Ausländische Sprecher sehen Grossbritannien fast ausschliesslich als egoistisches, Rosinen pickendes Mitglied der EU, das zugleich als eine Steuerfluchtburg und als ein mit kleineren Ländern kolonialistisch umgehender Imperator gilt. Dagegen assoziieren die Briten Grossbritannien mit einem positiv konnotierten Steuerparadies und einem renommierten Finanzplatz von Weltruf. Auch die Schweiz wird von ausländischen Sprechern in extrem starker Weise als Steuerfluchtburg, und zwar, wie die Debatte gezeigt hat, als die Steuerfluchtburg schlechthin, typisiert. Sie wird zudem mit einem dubiosen Finanzplatz assoziiert, der nebst Steuerfluchtgeldern auch kriminelle Gelder aus Geldwäscherei, Korruption oder Terrorismus hortet. Im Unterschied zu Grossbritannien wird die Schweiz ebenso von ausländischen Sprechern positiv typisiert, wenn sie etwa die Schweiz als Vorbild für Freiheit und Demokratie oder für ihre vergleichsweise tiefen Steuern als Steuerparadies rühmen. Im Kontext dieser Steuerdebatte assoziieren umgekehrt schweizerische
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Sprecher die Schweiz mit einem gut regulierten Finanzplatz von Weltruf und betonen ebenso ihre freiheitliche und demokratische Staatskultur. Inländische Kritiker des Bankgeheimnisses sehen hingegen die Schweiz wie das Ausland in erster Linie als Steuerfluchtburg. Wie wird nun die Europäische Union typisiert? Auffällig ist, dass die kontinentaleuropäische Koalition im Unterschied zu den beiden anderen Koalitionen die EU praktisch nicht typisiert. Aber selbst aus diesem Lager wird die EU nicht vorbehaltlos positiv konnotiert (Hort des Friedens und der Stabilität), sondern auch als neoliberale Fehlkonstruktion bezeichnet. Dagegen ist die EU vor allem in den Augen der angelsächsischen Koalition eine bürokratische Fehlkonstruktion und ein Freiheit unterdrückender Superstaat, der seine Ordnungsvorstellungen anderen aufzwingen will. Diese beiden Typisierungen werden in umgekehrter Reihenfolge auch von der Bankgeheimniskoalition am häufigsten ins Feld geführt. Zudem verkörpert die EU vor allem aus Sicht der Schweiz ein Kartell der Hochsteuerländer. In ähnlicher Weise wie die EU wird auch Deutschland hauptsächlich von den Briten typisiert als Hochsteuerland mit aufgeblähtem Beamtentum, das anderen in wilhelminischer Manier seine Ordnungsvorstellungen aufzwingen will. Was diese Analyse von Fremdtypisierungen eindrücklich vor Augen führt, ist die Erkenntnis, dass die zentralen Konfliktakteure, nicht aber die übrigen, 204 Von Seiten der Schweiz durch scharfe Differenzsemantiken getrennt sind. richtet sich die identitätssichernde Abgrenzung vor allem gegen die EU und etwas weniger stark gegen Grossbritannien als Land mit einem konkurrierenden Finanzplatz, während Deutschland deutlich weniger oft typisiert wurde. Dies mag vielleicht damit zusammenhängen, dass der ehemalige deutsche Finanzminister Hans Eichel etwas moderater aufgetreten ist als gewisse Exponenten des Inselreichs.205 Umgekehrt sind es vor allem Sprecher aus der EU, Deutschland und Grossbritannien, welche die Schweiz als Steuerfluchtburg kritisieren. In der Hochphase des Konflikts zwischen der Schweiz und der EU und ihren grossen 204
Dies geht zumindest aus der Erhebung der Berichterstattung der vier Medienarenen hervor. Andere EU-Staaten wie etwa die Niederlande, Dänemark, Belgien oder Schweden wurden hingegen von den drei grossen EU-Staaten kaum typisiert. Würden zusätzlich weitere Medienarenen erhoben, so wäre nicht zu erwarten, dass andere als die genannten Länder typisiert würden. Zu erwarten wäre, dass auch in der dänischen, belgischen oder holländischen Öffentlichkeit Grossbritannien und die Schweiz am häufigsten und in vergleichbarer Weise, dagegen die EU weniger häufig, wenngleich möglicherweise auch anders, typisiert würden. 205 Diesen Eindruck gilt es jedoch bei der Neuauflage des Steuerstreits zwischen der Schweiz und der EU bzw. der G20-Länder angesichts der martialischen Worte von Peer Steinbrück und Franz Müntefering deutlich zu korrigieren. Die gegenseitigen Typisierungen waren gar so heftig, dass es zu einer deutsch-schweizerischen Kulturdebatte im Feuilletonteil gewisser Qualitätszeitungen gekommen ist (vgl. etwa den Artikel von Thomas Hürlimann in der FAZ vom 25.3.2009, „Herr Steinbrück, Sie haben Mundgeruch“.
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Mitgliedstaaten war es der luxemburgische Staats- und Ministerpräsident JeanClaude Juncker, der seine Ratskollegen ermahnen musste, dass es nicht angehe, ein befreundetes Land wie der „Irak der Alpen“ zu behandeln. Typisierende Abgrenzungen gegenüber Grossbritannien sind vor allem von Seiten Deutschlands und etwas weniger stark von Frankreich zu vernehmen. Die Kommission selbst zeigt sich gegenüber EU-Mitgliedstaaten eher zurückhaltend. Einzig gegenüber dem Drittstaat Schweiz äusserte sich die Kommission vergleichsweise häufig in typisierender Art negativ.
Bürokratische Fehlkonstruktion Phase 1
Freiheit unterdrückender Superstaat Kartell der Hochsteuerländer Neoliberale Fehlkonstruktion Hort des Friedens und der Stabilität
Phase 2
Freiheit unterdrückender Superstaat Bürokratische Fehlkonstruktion Kartell der Hochsteuerländer Wirtschaftspartner Hort des Friedens und der Stabilität 0%
Arena BRD
Arena F
4%
8%
Arena GB
12% 16% 20% 24% 28%
Arena Schweiz
Abbildung 37: EU-Fremdtypisierungen nach Debattenphasen Lesehilfe: Die Abbildung zeigt für die beiden Debattenphasen die Fremdtypisierung der EU nach Arenen. (N: 43 britische Phase, 23 schweizerische Phase).
Aus diesen Befunden geht zusammenfassend hervor, dass die Europäische Union vorwiegend negativ und nicht als kompetente Problemlösungsgemeinschaft typisiert worden ist, wobei in den untersuchten nationalen Öffentlichkeiten kein einheitliches Typisierungsprofil ersichtlich ist (Abbildung 37). Am meisten verbreitet scheint die vor allem von britischer Seite bewirtschaftete Typisierung der bürokratischen Fehlkonstruktion und des Freiheit unterdrückenden Superstaats. Positiv anschlussfähig ist sicher auch die aus anderen Debatten und Zusammenhängen bekannte Typisierung der EU als ein Hort des Friedens und der Stabilität. Abbildung 37 macht zudem deutlich, dass Akteure aus den EU-Staaten die
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EU praktisch nicht mehr typisiert haben, als diese im Konflikt mit der Schweiz und weiteren Drittstaaten stand. Die Konfliktkonstellation mit der Schweiz hat nicht dazu geführt, dass die EU von Seiten seiner Mitgliedstaaten vermehrt positiv typisiert worden wäre, viel mehr ist sie bis auf wenige Ausnahmen gar nicht mehr typisiert worden. Ob sich dies bei den WIR-Bezügen gleich verhält, wird im nächsten Abschnitt geklärt. 6.3.2 Inklusion in ein europäisches „Wir“ Sofern nicht ausdrücklich erwähnt, äussern sich Sprecher im Namen derjenigen Organisation, der sie angehören und vertreten somit deren Meinung. Ein Sprecher eines Organisationskollektivs kann indes auch seine persönliche Meinung206 äussern oder er spricht im Namen eines grösseren Kollektivs, in das er sich inkludiert. So sprechen Akteure beispielsweise im Namen nationaler Interessen, die es zu verteidigen gilt und inkludieren sich somit in ein nationales WIR (nationale WIR-Bezüge) oder sie äussern sich mit Bezug auf ein europäisches WIR (europäische Bezüge). Schliesslich können Sprecher gar im Namen der Allgemeinheit auftreten (Allgemeinheitsbezüge). Neben dieser sozialräumlichen Klassifizierung in nationale, europäische und Allgemeinheitsbezüge können Sprecher eine Zusammengehörigkeit mit einem Kollektiv explizit ausdrücken etwa als „wir Europäer“, „wir Briten“ etc., am häufigsten tun sie es jedoch implizit.207 Die Analyse hat ergeben, dass sich Sprecher in rund 12 Prozent aller Äusserungen implizit oder explizit auf ein übergeordnetes kollektives „Wir“ beziehen, wobei in 30 Prozent auf die EU und in knapp 70 Prozent auf die eigene Nation Bezug genommen wird.208 Mit Blick auf die unterschiedlichen Sprechertypen fällt auf, dass sich die nationalen Regierungen gegenüber einem Mittelwert deutlich häufiger auf ein europäisches „Wir“ beziehen als andere Sprechertypen. Auch die Journalisten zählen zu jener Sprechergruppe, die vergleichsweise oft einen europäischen WIR-Bezug herstellten. Umgekehrt fehlt dieser WIR-Bezug bei den Parteien ganz deutlich. Gar keinen Bezug zu einem europäischen Kollektiv haben die Unternehmen geäussert. Noch deutlicher als diese Unterschiede 206
So hat sich beispielsweise der Schweizer Bundesrat Moritz Leuenberger öffentlich gegen das Bankgeheimnis ausgesprochen, obwohl der Bundesrat offiziell stets verkündet hat, dass das Schweizer Bankgeheimnis nicht verhandelbar sei. 207 Beispielsweise sagt ein Schweizer Sprecher: „Wir müssen pickelhart bleiben und die Interessen der Schweiz besser wahrnehmen.“ Oder es sagt ein französischer Finanzminister: „Für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts ist es absolut zwingend, dass wir uns für eine Harmonisierung der nationalen Steuern einsetzen.“ In der Darstellung der Ergebnisse sind die expliziten und impliziten WIR-Bezüge zusammengezählt. 208 Allgemeinheitsbezüge werden in weniger als einem Prozent gemacht.
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bei den Sprechertypen fallen die nationalen Unterschiede aus: Während sich vor allem deutsche (88 Prozent) und französische (65 Prozent) Sprecher im Namen der EU äussern, sind es umgekehrt Briten (88 Prozent) und Schweizer (95 Prozent), die sich im Namen ihrer Nation zu Wort melden. Man könnte geneigt sein, diesen frappanten Unterschied mit der deutlich grösseren EU-Skepsis der schweizerischen und britischen Öffentlichkeit erklären zu wollen. So waren es ja vor allem Sprecher aus diesen beiden Ländern, welche die EU hauptsächlich negativ typisiert haben. Doch verdeckt diese Erklärung einen etwas tiefer liegenden Mechanismus, der durch die Konfliktkonstellation determiniert ist. WIR-Bezüge nach Sprechertypen
Wir-Bezüge nach Länder GB-Sprecher (20%)
88%
12%
andere*
125%
Nat. Regierungen F-Sprecher (7%)
D-Sprecher (12%)
35%
65%
11%
88%
CH-Sprecher (13%)
95% 0%
20%
40%
2% 60%
Wir-Bezüge auf Kollektive der eigenen Nation Wir-Bezüge auf die EU Wir-Bezüge auf die Allgemeinheit
80%
100%
73%
EU-Akteure
18%
Journalisten
15%
Verbände / Interessengruppen
-32%
Experten
-46%
Parteien
-54%
Unternehmen
-100%
-100%
-50%
0%
50%
100%
Abbildung 38: WIR-Bezüge nach Länder und Sprechertypen Lesehilfe: Die Abbildung links unterscheidet für die Sprecher der vier untersuchten Arenen die kollektiven WIR-Bezüge nach nationalen, europäischen und allgemeinen WIR-Bezügen. In Klammern ist der Anteil von Sprecheräusserungen mit einem WIR-Bezug am Total aller Sprecheräusserungen angegeben. (N: 853 WIR-Bezüge, 257 europäische WIR-Bezüge). Die Abbildung rechts misst die Konstruktionsleistung einer europäischen Zusammengehörigkeit der Sprechertypen im Verhältnis zu den anderen Sprechertypen. Die Balken messen entsprechend die Differenz zum Mittelwert. Eine Erläuterung der Berechnung findet sich im Anhang unter A2.5. Unter andere* fallen die OECD, nationale Notenbanken, die EZB sowie Lokalregierunen.
Vergleicht man die beiden Konfliktphasen miteinander (Tabelle 20), so stellt man für die Kategorie aller Sprecher aus EU-Mitgliedstaaten inklusive EUAkteure fest, dass diese 84 Prozent aller WIR-Bezüge in jener Phase äussern, in der sich die EU-Mitgliedstaaten untereinander im Konflikt befanden. Nur 16 Prozent der WIR-Bezüge fallen in die Phase, als die EU im Konflikt mit Drittstaaten stand. Gemessen an der Resonanz, welche diese Sprecher in den entsprechenden Phasen erzielen, beläuft sich die Rate der WIR-Bezüge in der ersten Konfliktphase auf 18.7 und in der zweiten Phase auf noch 4.1 Prozent. Differenziert man die WIR-Bezüge nach europäischen und nationalen Bezügen, so zeigt sich ein in der Tendenz gleiches Verhältnis. Wiederum sind die Raten in der EUinternen Konfliktphase deutlich höher als in der zweiten Konfliktphase mit Dritt-
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
staaten. Gegenüber einem Mittelwert, der das Verhältnis von WIR-Bezügen und Sprecheräusserungen über die gesamte Debattenphase hinweg misst, sprechen Akteure aus den EU-Staaten in der zweiten Konfliktphase um 65 Prozent weniger häufig im Namen eines europäischen Kollektivs als in der ersten. Diese Reduktion geht indes nicht auf eine Zunahme der nationalen WIR-Bezüge zurück, denn auch diese verringern sich in der zweiten Phase um 69 Prozent. Somit kann der Nachweis, wonach sich EU-Staaten im Fall von Konflikten mit Drittstaaten eher auf ein europäisches „Wir“ beziehen, als wenn sie untereinander im Konflikt liegen, nicht erbracht werden. EU-interne Konfliktphase Anteil Gemessen an Bezüge Resonanz
Alle WIR-Bezüge Europäische Bezüge Nationale Bezüge
Konfliktphase mit Drittstaaten Anteil Gemessen an Bezüge Resonanz
84%
Rate 18.7
ǻ zu Ø +55%
16%
Rate 4.1
ǻ zu Ø -66%
84%
7.5
+54%
16%
1.7
-65%
86%
11.1
+58%
14%
2.2
-69%
Tabelle 20: WIR-Bezüge nach Konfliktphasen Lesehilfe: Berechnungsgrundlage sind alle Äusserungen von Sprechenden aus EU-Ländern inklusive EU-Akteure sowie deren WIR-Bezüge. Die jeweils erste Spalte zeigt den Anteil der WIR-Bezüge für die Debattenphase in Prozent an. Die zweiten Spalten messen die Anteile von Sprecheräusserungen mit einem WIR-Bezug. Die dritten Spalten verweisen auf die Differenz der WIR-Bezugsanteile zu einem Mittelwert. Zum Beispiel ist der Anteil europäischer WIR-Bezüge in der britischen Phase 54 Prozent höher als im Durchschnitt, wogegen er in der Konfliktphase mit der Schweiz 65 Prozent tiefer liegt.
*** Auch mit Bezug auf die Identitätsindikatoren lassen sich generalisierende Regularitäten formulieren. Die Analyse zeigt erstens, dass die Identitäts- und Abgrenzungskonstruktionen konfliktdeterminiert sind. Wer mit der EU in Konflikt steht, typisiert diese negativ; wer im Namen der EU für eine Sache kämpft, typisiert die EU nicht oder kaum, auch nicht positiv. Zweitens wird die EU länderübergreifend negativ typisiert als „bürokratische Fehlkonstruktion“, „Freiheit unterdrückender Superstaat“ und „Kartell der Hochsteuerländer“. Einzig die Typisierung der EU als „Hort des Friedens und der Stabilität“ ist auch in den unter Druck gesetzten Ländern als positive Typisierung anschlussfähig. Drittens existieren zwischen den Konfliktparteien scharfe Differenzsemantiken, die im Hinblick auf den Gegenstand der Auseinandersetzung aktualisiert werden. So wer-
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den die Schweiz wie Grossbritannien in etwas unterschiedlicher Gewichtung als „Steuerfluchtburgen“ und „egoistische Rosinenpicker“ konnotiert. Umgekehrt typisieren die unter Druck gesetzten Länder sich selbst gegengleich als „Länder mit reputierten Finanzplätzen“, als „positiv konnotierte Steuerparadiese“ oder als „Hort der Freiheit“. Viertens werden europäische WIR-Bezüge praktisch nur von Sprechern hergestellt, die andere Länder im Namen einer europäischen Angelegenheit unter Druck setzen. Auf der anderen Seite des Konfliktfelds führt das umgekehrt zur Formierung von aktiven Öffentlichkeiten zur Verteidigung nationaler Interessen. Fünftens, und dies gilt wohl als grösste Erkenntnis, nehmen die Rekurse auf ein europäisches Kollektiv ab und sind praktisch nicht mehr existent, als die EU die Schweiz unter Druck setzt und von ihr die Abschaffung des Bankgeheimnisses fordert. Europäische Identität, ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein unter den Mitgliedern der Europäischen Union entsteht somit sechstens, wenn die EU-Mitglieder unter sich im Konflikt sind und im Namen europäischer Lösungen in Europa auftretende Probleme auf die gemeinsame Agenda zu setzen versuchen. 6.4 Zusammenfassende Zwischenbilanz II Diesem Kapitel liegt eine vergleichende Analyse der Berichterstattung von vier Ländern über ein Issue zugrunde, das durch einen intergouvernementalen Entscheidungsmechanismus geprägt ist. Das bedeutet, dass Lösungen nur erzielt werden, wenn unter den betroffenen Konfliktparteien Einstimmigkeit erzielt wird. Im Kern ist es dabei um die Frage gegangen, ob und wie die in nationaler Kompetenz liegende Steuerpolitik für den engen Bereich der Besteuerung von Zinserträgen auf Obligationen natürlicher Personen geregelt werden kann, um grenzüberschreitende Steuerflucht erfolgreich einzudämmen und zu bekämpfen. Bei dieser Frage standen sich verschiedene Länderkoalitionen gegenüber. Auf der einen Seite wurde das Issue getrieben von einer kontinentaleuropäischen Koalition unter Führung Deutschlands, Frankreichs und der Europäischen Kommission, die zur Lösung des Problems ein Koexistenzmodell vorgeschlagen hat, das die Länder vor die Wahl zwischen der Einführung einer Quellensteuer oder eines Informationsaustauschs zwischen Steuerbehörden gestellt hat. Dieser Koalition gegenüber stand einerseits Grossbritannien, das sich gegen jegliche Form von Steuerharmonisierung ausgesprochen hatte und stattdessen für einen Informationsaustausch auf breiter Front plädiert hat. Anderseits stand der kontinentaleuropäischen Koalition eine Bankgeheimniskoalition von Luxemburg, Österreich und Drittstaaten wie die Schweiz gegenüber, die sich aus Gründen des Bankgeheimnisses gegen einen Informationsaustausch ausgesprochen und stattdessen
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
für eine Quellensteuer optiert hatte. Die Komplexität der Konfliktstruktur war durch den Umstand, dass auch Drittstaaten in eine Lösung eingebunden werden sollten, zusätzlich gesteigert. Damit bestanden mehrere Konfliktgefälle und mögliche Allianzen zwischen den drei Koalitionen, was zu einem langen und konfliktreichen Verhandlungsprozess geführt hat. Dieses Issue schien für eine Untersuchung von Transnationalisierungsphänomenen nationaler Öffentlichkeiten gleich in mehrfacher Hinsicht vielversprechend und aufschlussreich zu sein. Erstens liegt ein Fall der Politikgestaltung im Modus des Konflikts vor; nicht nur ist die Chance für zeitgleiche Resonanzen in verschiedenen nationalen Medienarenen damit ungleich höher als bei Politikvorgängen im Modus der Routine, es stellt sich dann überhaupt erst die Frage, ob unter Bedingungen EU-interner Konflikte europäische Identitätskonstruktionen möglich sind. Zweitens lässt sich durch die Zusammensetzung der zentralen Konfliktakteure ein Vergleich zwischen EU-Mitgliedstaaten und einem Drittstaat anstellen. Drittens bestehen durch den Antagonismus wechselnder Allianzen von Druck ausübender und unter Druck stehender Staaten weitere Vergleichsmöglichkeiten. Diese drei Grundkonstellationen eröffnen ein weites Feld von spezifischen und allgemeineren Forschungsfragen, das durch eine Integrationshypothese auf der einen und einer Konflikthypothese auf der anderen Seite eingegrenzt wurde. Die Integrationshypothese postulierte, dass sich Öffentlichkeiten von bereits lange und weitreichend integrierten EU-Staaten stärker europäisieren als Öffentlichkeiten von Ländern, die noch nicht lange und umfassend in der Europäischen Union integriert sind. Da die Schweiz nicht Mitglied ist, sollten sich die drei Öffentlichkeiten der EU-Länder eigentlich stärker europäisieren als jene der Schweiz. Die Konflikthypothese dagegen nahm an, dass sich öffentliche Kommunikation konfliktinduziert verdichtet und die Art der Europäisierung von der Konfliktwahrnehmung abhängig ist. Da sich Europäisierung als spezifische Form der Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeiten entlang verschiedener Dimensionen operationalisieren und messen lässt, kann anhand passender Indikatoren gezeigt werden, wie sich die nationalen Öffentlichkeiten der untersuchten Länder unter welchen Bedingungen im Politikgestaltungsprozess jeweils europäisiert haben. In dieser zusammenfassenden Zwischenbilanz wird es nun aber nicht darum gehen, die jeweils am Schluss eines Subkapitels zur Kenntnis gebrachten Regularitäten nochmals zu repetieren. Dieses Resümee erfolgt in der zusammenfassenden Schlussbilanz. Stattdessen werden die empirischen Befunde unter dem Blickwinkel von drei verschiedenen Fragestellungen verdichtet. Zunächst interessiert unter dem Gesichtspunkt von Herrschaftskontrolle und Selbststeuerung das Zusammenspiel zwischen dem nach institutionellen Regeln und Prozeduren festgelegten Entscheidungsmechanismus politischen Handelns und der öffentlichen
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Kommunikation (6.4.1). Sodann interessiert unter dem Aspekt europäischer Identität, wie der Zusammenhang zwischen Konfliktkommunikation und der Konstruktion eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins analytisch zu beschreiben ist (6.4.2). Abschliessend wird die Rolle der verschiedenen Sprechertypen in der sozialen Konstruktion Europas dargelegt und diskutiert (6.4.3). 6.4.1 Öffentliche Kommunikation und Entscheidungshandeln in normativer Hinsicht Einer Öffentlichkeit im normativen Sinn liegt die Vorstellung zugrunde, dass sie Herrschaftskontrolle und Selbststeuerung ermöglichen soll. Dies kann dem Spiegelmodell gemäss erfolgen, wenn Politik sichtbar wird und die Bürgerinnen und Bürger auf diese Weise eine Meinung über die Herrschaftsträger bilden und diese an Wahlen entsprechend (ab)wählen können. Gemäss dem Diskursmodell sollten öffentliche Auseinandersetzungen im Modus von Argumenten und Gegenargumenten geführt werden, damit die verschiedenen Diskursteilnehmer am Schluss dem besseren Argument zusammenstimmen können und dadurch die Herrschaftsträger mit guten Gründen für ihre Entscheidungen versorgen. Zwischen diesen beiden Modellen liegt die Vorstellung des antagonistischen Interaktionsmodells, demgemäss Konfliktkommunikation die Elimination von Irrtümern und somit kollektives Lernen ermöglichen soll. Wenn man Referenzierung als Indikator für Diskursivität heranzieht, dann hat sich die öffentliche Auseinandersetzung nicht nach der normativen Vorgabe des Diskursmodells vollzogen. Dagegen können die Bedingungen des Spiegelmodells im Anspruch auf Vollständigkeit von Sprechern und positionsbezogenen Begründungen und Interpretationen weitgehend als erfüllt bezeichnet werden. So erhalten die Diskurskoalition-spezifischen Sichtweisen in allen vier Öffentlichkeiten Resonanz und der Anteil auswärtiger Sprecher gilt insgesamt als hoch. Doch sagt dies noch nichts darüber aus, ob Sprecher lediglich parallel nebeneinander her reden oder ob sie auch miteinander interagieren. Sind diese Bedingungen des Interaktionsmodells erfüllt? Diesem Modell liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich Diskursteilnehmer gerade auch als Antagonisten wechselseitig adressieren und dass derartige Konfrontation zu öffentlichen Auseinandersetzungen führt. Indem dabei wechselseitig Geltungsansprüche und Kritik formuliert werden, wird sozusagen jener Pfad abgesteckt, jenseits dessen Grenzen Lösungen für adressierte Probleme nicht möglich sind und der somit den Entscheidungsspielraum normativ begrenzt, indem er anzeigt, was angesichts konträrer Geltungsansprüche überhaupt machbar ist. Wird Adressierung als Indikator für Interdiskursivität genommen, zeigt die Analyse, dass die „Zinsbesteuerungs-
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Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
debatte“ mit fast 30 Prozent einen hohen Interaktionsgrad aufweist. Allerdings bietet dies noch keine Auskunft darüber, ob und wie die öffentliche Auseinandersetzung solchen Entscheidungsspielraum begrenzt hat oder nicht. Dazu gilt es, den Kommunikationsereignisverlauf nochmals mit Bezug auf den Verhandlungsprozess zu charakterisieren. Die öffentlichen Auseinandersetzungen, die sich in Gestalt konfliktinduzierter Kommunikationsverdichtungen festmachen lassen, springen nicht nur von EU-Gipfel zu EU-Gipfel – von Wien zu Helsinki zu Feira usw. –, sie wandern auch quer über nationale Kommunikationsräume hinweg – von Grossbritannien in die Schweiz. Die Zinsbesteuerungsfrage erzielt in den untersuchten nationalen Öffentlichkeiten deshalb unterschiedlich starke Resonanz, weil sie an unterschiedliche Perzeptionen geknüpft ist. Solange damit eine Bedrohung nationaler Ressourcen verbunden ist, lassen sich nationale Betroffenheiten seitens medialer wie auch politischer und anderer Akteure öffentlichkeitswirksam mobilisieren und es formieren sich aktive Öffentlichkeiten. Dass sich die öffentliche Kommunikation jeweils auf die Zeitpunkte von EU-Gipfeln oder Ministerratssitzungen hin verdichtet, liegt einerseits in der institutionell bestimmten Prozesslogik und andererseits in den Nachrichtenfaktoren begründet. An solchen institutionalisierten Zusammenkünften von Ministerräten wird über traktandierte Issues entschieden. Wenn spezielle Fragen jedoch durch nationale Interessenlagen besonders stark Veto-gefährdet erscheinen, so ist auch das Konfliktpotenzial besonders hoch. Im Vorfeld solcher Verhandlungen setzen dann konfliktinduzierte öffentliche Auseinandersetzungen ein, wobei auf die fraglichen Veto-Player sowohl seitens der nationalen Akteure wie seitens gegnerischer Koalitionen öffentlicher Druck zu erzeugen versucht wird. Solche Konfliktkonstellationen verfügen über hohen Nachrichtenwert und lassen sich medial besonders gut bewirtschaften. Im Zeitverlauf bezieht sich die öffentliche Kommunikation auf politisches Entscheidungshandeln gelegentlich in einer Weise, dass sich konfliktinduzierte aktive Öffentlichkeiten formieren, sie sich dadurch auszeichnen, dass sich die Konfliktparteien besonders häufig wechselseitig adressieren, referenzieren und darüber streiten, ob und wie das Problem überhaupt verhandelt und allenfalls gelöst werden soll. Solche öffentlichen Schlagabtausche diffundieren sozialräumlich aber nicht gleichmässig über alle nationalen Öffentlichkeiten hinweg. Sie geschehen stattdessen in nationalen Kommunikationsräumen, innerhalb derer die an der Streitfrage beteiligte transnationale Akteurskonfiguration ihre Auseinandersetzung führt. Entlang der Zeitdimension wandert das kommunikative Epizentrum räumlich von Grossbritannien zur Schweiz, ohne dass sich die Zusammensetzung der Akteurskonfiguration verändert hätte. Die in den nationalen Kommunikationsräumen geführten Auseinandersetzungen über eine europäische Angelegenheit legen den weiteren Politikverlauf jeweils normativ daraufhin fest,
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was angesichts konträrer Geltungsansprüche und Interessen überhaupt noch als möglich erscheint. Die im nationalen Kontext geführte öffentliche Auseinandersetzung wirkt somit gewissermassen als Selektor für den politischen Prozess europäischen Entscheidungshandelns. Indem jeweils innenpolitisch 1998/99 in der britischen Öffentlichkeit die Position gegen eine Quellensteuer und in der schweizerischen Öffentlichkeit nach „Feira“ die Unverhandelbarkeit des Bankgeheimnisses festgelegt wurde, wurde das Feld möglicher Lösungen begrenzt und den Pfad für Kompromissbildung und Policy-Lernen vorgezeichnet. Herrschaftskontrolle und Selbststeuerung haben also in nationalen Veto-Öffentlichkeiten unter Beteiligung sämtlicher Konfliktakteure stattgefunden und dazu beigetragen, dass aus den konfliktinduzierten Auseinandersetzungen auf den medienfernen Hinterbühnen der Diplomatie gelernt und eine Kompromisslösung gefunden wurde. 6.4.2 Konfliktkommunikation und Konstruktion europäischer Identität Indem die „Zinsbesteuerungsdebatte“ durch zwei verschiedene, aber gleichgelagerte Konfliktkonstellationen bestimmt ist, konnte untersucht werden, ob jene Konfliktsituation, bei der die kontinentaleuropäische und angelsächsische Koalition vereint Druck auf die Schweiz ausgeübt hatten, eher zur Konstruktion europäischer Identität führte als die erste Phase, die durch einen EU-internen Konflikt bestimmt war. Die Auswertung hat gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Stattdessen konnten viel mehr europäische WIR-Bezüge gemessen werden, als die EUStaaten untereinander im Streit lagen. Die nachfolgenden Überlegungen versuchen zu klären, weshalb das so ist und was dies für die Konstruktion eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins bedeuten könnte. Vergleichen wir deshalb die beiden Konfliktkonstellationen noch einmal miteinander und halten ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen fest (Abbildung 39). Beide Konfliktphasen waren gemeinsam geprägt durch einen Antagonismus zwischen Druck ausübenden und unter Druck gesetzten Staaten. Dieser Antagonismus hat jeweils dazu geführt, dass sich im unter Druck stehenden Land bei stark steigender Berichterstattung eine Bedrohungsperzeption entwickelt hat, während im Druck ausübenden Land eine Wahrnehmung von bedrohten nationalen Ressourcen ausgeblieben ist (Grösse der Kugeln!). Beide Konfliktphasen waren ausserdem jeweils dadurch geprägt, dass die Druck ausübenden Staaten andere Länder mit Kritik und Geltungsansprüchen adressiert hatten, was sich anhand der geäusserten Fremdadressierungen in Richtung Grossbritannien und
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der Schweiz nachweisen lässt (vertikale Dimension).209 Mit dieser Fremdadressierung einher ging auch eine Fremdtypisierung der Adressierten, wobei sich dies nicht nur in einer sich entwickelnden Bedrohungsperzeption in den Öffentlichkeiten der adressierten Ländern niedergeschlagen, sondern auch noch zu einer konfliktinduzierten Mobilisierung nationaler Akteure geführt hat.
Abbildung 39: Interdiskursive Konfliktkonstellation Lesehilfe: Die Abbildung verortet die Länder in einem Koordinatensystem, das zwischen Druck ausübenden und unter Druck stehenden Ländern unterscheidet, indem zwischen Art und Weise der Adressierung (vertikale Achse) und Art und Weise der WIR-Bezugsvergabe (horizontale Achse) differenziert wird. Die Grösse der Kugeln misst die Bedrohungsperzeption nationaler Ressourcen als Division der Anzahl Artikel mit Bedrohungsperzeption durch alle Artikel. Da in Frankreich kein einziger Artikel eine Bedrohung nationaler Ressourcen thematisiert hat, ist zwecks Berechnung ein imaginärer Artikel mit einer Bedrohungsperzeption zugrunde gelegt worden.
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Vergleiche dazu die Positionierung von Frankreich und Deutschland im unteren Bereich der vertikalen Dimension. Druck ausübende Staaten adressieren andere im Verhältnis deutlich stärker als sich selbst, während in Ländern, auf die Druck ausgeübt wird, der Anteil der Selbstadressierung gemessen an allen Adressierungen steigt.
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Diese sich formierenden aktiven Öffentlichkeiten sind erstens charakterisiert durch eine massive Zunahme der Selbstadressierung und zweitens durch einen nationalpartikulären Kommunikationsmodus, der im Namen eines nationalen „Wir“ argumentiert und nationale Interessen kommunikativ zu verteidigen sucht (horizontale Dimension).210 Was sich zwischen diesen beiden Konfliktkonstellationen aber fundamental unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Druck ausübende kontinentaleuropäische Koalition im EU-internen Streit mit Grossbritannien ausserordentlich stark im Namen eines europäischen „Wir“ argumentiert hat, während die Allianz von kontinentaleuropäischer und angelsächsischer Koalition in der Konfliktphase mit der Schweiz auf WIR-Bezüge weitgehend verzichtet hat. Mit anderen Worten: Europäische Sprecher rekurrieren vor allem dann auf ein europäisches WIR, wenn sie in dessen Namen von anderen Mitgliedstaaten etwas fordern. Damit schliesst sich der Kreis bei den in der deutschen und französischen Öffentlichkeit als bedroht wahrgenommenen Ressourcen. Hier werden nicht, wie erwähnt, nationale Ressourcen als bedroht wahrgenommen, sondern der Steuerwettbewerb zwischen den Ländern wird als „schädlich“ definiert, weil er in der Argumentationslogik der kontinentaleuropäischen Koalition Steuerflucht begünstigt und 211 damit das reibungslose Funktionieren des europäischen Binnenmarkts bedroht. Erstaunlicherweise fehlt indes eine Perzeption, welche angesichts grenzüberschreitender Steuerflucht die nationalen Steuersubstrate als bedroht thematisiert hat. Diese Perzeption wird sich erst im Zug der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu einer dominierenden Sichtweise ausbilden, obwohl dieses fiskalpolitische Motiv für die Hochsteuerländer der Europäischen Union immer schon entscheidender war als die ordnungspolitische und letztlich neoliberale Argumentation der Hüter des europäischen Binnenmarkts. Deutsche und Franzosen argumentieren letztlich in einer europäischen Perspektive, weil sie ein nationales Problem – das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel spricht mit Blick auf die eigentliche Thematik der Steuerflucht von einem „nationalen Drama“ (31.12.1999) – europäisch geregelt haben wollen. Wird dieser konfliktinduzierte Mechanismus von Interdiskursivität und Konstruktion von Differenz- und Identitätssemantiken als plausibel betrachtet, ist aus dem beschriebenen empirischen Befund zur kollektiven Identitätsbildung zu abduzieren, dass zivilisierte Konflikte unter EU-Staaten über das grössere Potenzial zur Auslösung von europäischen Identitätsbildungsprozessen haben als vergleichbare zivilisierte Konflikte mit (kleineren) Drittstaaten. Das tönt im 210
Vergleiche dazu die Positionierung von Grossbritannien und der Schweiz, die sich fast vollständig im Bereich der nationalen WIR-Bezüge befinden. 211 Im Anhang unter B2.6 findet sich eine Rekonstruktion der Argumentationslogik der Europäischen Kommission.
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ersten Moment etwas widersprüchlich und paradox, könnte man doch annehmen, dass eine Konfliktkonstellation zwischen einer geeinten EU und einem Drittstaat (oder einer anderen Konfliktpartei) eher zu einer innereuropäischen Diskursformation führen könnte als ein Streit unter EU-Mitgliedstaaten. Ich möchte diese Option denn auch gar nicht in Abrede stellen. Sie setzt jedoch in den nationalen Öffentlichkeiten Europas oder der Europäischen Union eine gleichgerichtete Perzeption bedrohter europäischer Ressourcen voraus, was allerdings kaum je möglich sein wird, solange auf der anderen Seite kein mächtiger und zugleich entschlossener Akteur wahrgenommen wird, auf den hin die Bedrohung ursächlich zurückgeführt werden könnte. Nun ist ein solcher Fundamentalkonflikt empirisch bisher noch nie eingetreten, auch nicht in den Zeiten des Kalten Kriegs, als sich Westeuropa im Schoss des transatlantischen Bündnisses immer wieder durch die Eventualität sowjetischer atomarer Raketensysteme und Panzerdivisionen bedroht sah. Zur konkreten Ausbildung einer innereuropäischen Diskursformation, zu einer aktiven europäischen Öffentlichkeit mit europäischer Identitätskonstruktion, mangelte es ja nicht nur an einer mehr fassbaren auf Europa gezielten Bedrohung durch die Sowjetunion; angesichts der ungleich weniger weit fortgeschrittenen europäischen Integration auf wirtschaftlicher, rechtlicher und auch politischer Ebene existierten zur Zeit des Kalten Kriegs auch keine gemeinsam geteilten europäischen Ressourcen, die als bedroht hätten wahrgenommen werden können. Als bedroht perzipiert wurde der „Westen“ oder allenfalls, von Land zu Land unterschiedlich zwar, das Nationale, nicht das Europäische (Lucht / Tréfás 2006, 2008). Im Unterschied zu Fundamentalkonflikten zählen innereuropäische Konflikte zivilisierten Typs mittlerweile zum politischen Alltag der Europäischen Union. Sie verfügen über das Potenzial, dass die EU in den nationalen Öffentlichkeiten der Mitgliedstaaten nicht nur als Problemgemeinschaft, sondern zunehmend auch als eine Problemlösungsgemeinschaft in Beschlag genommen wird. Weil nun aber gerade im europäischen Kontext Politikgestaltung im Modus der Routine medial nicht beachtet wird, kann eine Konstruktion der EU als Problemlösungsgemeinschaft nur im Modus des Konflikts erfolgen. Im Rahmen solcher innereuropäischer Konflikte zwischen den EU-Mitgliedstaaten sind es stetig wechselnde Allianzen, die versuchen, Probleme in Europa und der Welt als zu regelnde Probleme für die Europäische Union zu machen. Und weil sich die europäische Integration mittlerweile über ein beträchtliches Einzugsgebiet für gemeinsame Probleme erstreckt, nehmen Problemverarbeitungsprozesse und damit verbundene Konflikte zu. Dass sich die EU-Staaten im Rahmen solcher Konflikte wechselseitig negativ typisieren, tut diesem Unterfangen keinen Abbruch. Es sind ja immer wieder andere EU-Mitgliedstaaten, die im Namen europäischer Interessen bzw. eines imaginierten europäischen WIR andere mit Geltungsansprüchen ad-
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ressieren. Neben den national verankerten Identitätskonstruktionen kann sich auf diese Weise parallel ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein entwickeln, das allerdings deutlich schwächer als das nationale sein wird und in entsprechenden Konfliktkonstellationen auch von einem nationalen Gemeinsamkeitsglauben immer wieder überdeckt werden wird. 6.4.3 Konstruktionsleistung der Sprechertypen für ein gemeinsames Europa Abschliessend soll auf dem Hintergrund von Sprechertypenprofilen auf die Frage eingegangen werden, welchen Beitrag die einzelnen Sprechertypen hinsichtlich einer Konstruktion Europas im Rahmen von intergouvernemental geprägten öffentlichen Debatten leisten. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass je nach Gegenstand der Auseinandersetzung die Zusammensetzung des Sprecherensembles und deren Resonanzstärken variieren. Bei gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen wie beispielsweise zur Drogen- oder Abtreibungspolitik sind zivilgesellschaftliche Akteure weitaus stärker vertreten, umgekehrt dürften Unternehmen wohl kaum gross an solchen Debatten partizipieren. Die an der „Zinsbesteuerungsdebatte“ ermittelten Sprechertypenprofile können also lediglich eine Repräsentativität für derartige europäische Debatten beanspruchen, denen ein intergouvernementaler Entscheidungsmechanismus zugrunde liegt, bei denen also die nationalen Regierungen oder Parlamente das letzte Wort haben. Insofern kann die „Zinsbesteuerungsdebatte“ als instruktiver Fall angesehen werden. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen staatlichen Akteuren wie den nationalen Regierungen, den nationalen Behörden, den EU-Akteuren und den internationalen Organisationen, dann den intermediären Akteuren wie den Parteien und Medien, ferner den Wirtschaftsakteuren wie den Verbänden und Unternehmen und 212 schliesslich den Experten. Abbildung 40 fasst für diese Sprechergruppen die bereits besprochenen Aspekte der Resonanz, Transnationalität, Definitionsmacht, europäischen WIR-Bezüge und der Diskursivität zusammen. Als erstes gilt es nochmals die überragende Bedeutung der nationalen Regierungen hervorzuheben, deren Resonanzanteil fast dreimal höher ausfällt als der Mittelwert. In intergouvernementalen Auseinandersetzungen sind es somit in erster Linie die nationalen Regierungen, welche das Bild von und über Europa in den nationalen Öffentlichkeiten prägen, und zwar nicht nur am stärksten in der Heimatöffentlichkeit, sondern auch in den auswärtigen Öffentlichkeiten. Gemessen an einem Mittelwert ist deren Transnationalität nämlich mehr als doppelt so 212
Zivilgesellschaftliche Akteure sind bis auf ein paar wenige vereinzelte Stimmen überhaupt nicht zu Wort gekommen, weshalb sie auch nicht als eigenständige Kategorie geführt werden.
256
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
hoch. Interessanterweise sind es auch die nationalen Regierungen, die, wiederum relativ gesehen, am stärksten europäische WIR-Bezüge bemühen. b) Transnationalität
a) Sprechertypenresonanz nationale Regierungen
292%
Journalisten
Nat. Regierung / Verwaltung
119%
EU-Akteure
118%
Unternehmen
99%
33%
Verbände
Verbände / Interessengruppen
-51% -66%
andere staatliche Akteure
Parteien
-70%
Experten
Unternehmen
-72%
Experten
Behörden
-89%
OECD
-94%
-100%
Parteien Journalisten 0%
100%
200%
c) Definitionsmacht
EU-Akteure/ OECD
47%
andere
5%
Experten
-10%
Parteien
-50%
0%
50%
100%
b)
77%
Experten
1% -18%
c)
-23% -35%
d)
-42% -50%
0%
50%
18%
Journalisten
15%
Parteien
-54%
Unternehmen
-100%
-100%
40%
Verbände
150%
73%
EU-Akteure
-46%
a)
Parteien
Nat. Regierungen
100%
125%
-32%
-85%
Journalisten
EU-Akteure/ Int. Org
50%
Experten
-73%
e) Diskursivität
Unternehmen
0%
Verbände / Interessengruppen
-43%
-100%
-50%
Nat. Regierungen
60%
Journalisten
-87%
andere*
100%
Exekutive
Verbände / Interessengruppen
-38% -79%
d) Europäische Wir-Bezüge
Unternehmen
-100%
-100%
300%
11% -24%
100%
e)
-50%
0%
50%
100%
N = 6893, (6849 gewichtet); Mittelwert = 766 N = 1279 (1229 gewichtet); Mittelwert = 0.39 (nur Sprecher der vier Öffentlichkeiten; Resonanz als auswärtiger Sprecher / Resonanz als heimischer Sprecher) N = 443 (400gewichtet); Mittelwert = 0.054 N = 257 (243 gewichtet); Mittelwert = 0.028 N = 422 (392 gewichtet); Mittelwert = 0.061
Abbildung 40: Sprechertypenprofile Lesehilfe: Die Abbildung fasst alle besprochenen Darstellungen zusammen. Eine Erläuterung der Berechnung findet sich im Anhang unter A2.5
Allerdings hat die Auswertung auch gezeigt, dass es vor allem jene nationalen Regierungen sind, die andere im Namen europäischer Interessen unter Druck setzen, damit sich diese zur Regelung eines Problems bereit erklären. Der Bezug auf ein europäisches „Wir“ erscheint hier als zweckrationaler Legitimationsgrund, aus dem noch nicht eine wertbasierte Solidargemeinschaft spricht. Die
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
257
nationalen Regierungen sind nach den Unternehmen auch derjenige Sprechertyp, auf den andere Sprecher am zweitmeisten Bezug nehmen, was eine grosse Definitionsmacht indiziert. Dafür verhalten sich die nationalen Regierungen vergleichsweise wenig diskursiv, indem sie sich, gemessen an einem Mittelwert, deutlich weniger auf die Argumente anderer Akteure beziehen. Ein komplett anderes Sprecherprofil weisen die Parteien und Journalisten als die beiden wichtigsten intermediären Akteure in einer Demokratie auf. Was nun die Parteien betrifft, gilt es festzuhalten, dass diese reichlich wenig zur Konstruktion Europas beitragen. Sie erzielen verhältnismässig nicht nur geringe Resonanz, sie werden auch in auswärtigen Öffentlichkeiten kaum vernommen und sie sind diejenigen Akteure, die überhaupt am wenigsten von allen auf ein europäisches WIR rekurrieren. Damit sind Parteien immer noch sehr stark auf den nationalen Kommunikationsraum und die nationalen Entscheidungsmechanismen ausgerichtet. Sie stehen im Diskurs mit den nationalen Regierungen, was ihre hohe Diskursivität zeigt, aber nicht im transnationalen Austausch mit Akteuren aus anderen Ländern oder EU-Akteuren. Bei den Journalisten sieht es anders aus. Sie verfügen zwar über die geringste Transnationalität und Definitionsmacht, sie werden also im Ausland kaum als auswärtige Sprecher vernommen und auf sie wird auch am wenigsten referenziert, dafür verfügen sie nach den Regierungen über den grössten Resonanzanteil. Wie an anderer Stelle gezeigt wurde, tragen die Journalisten wesentlich zu einer transkulturellen Vermittlung bei, indem sie Deutungen und Perspektiven, die in anderen Öffentlichkeitsarenen diffundieren, in die Heimatöffentlichkeit importieren. Ausserdem äussern sie sich nach den Regierungen und den EU-Akteuren am stärksten in einer europäischen Perspektive. Nochmals anders zeigen sich die Sprecherprofile der Wirtschaftsakteure Unternehmen und Verbände. Beide verfügen zwar über etwa gleich hohe Resonanz wie die Parteien, aber insbesondere die Unternehmen zeichnen sich durch hohe Transnationalität und Definitionsmacht aus: Sie werden im Ausland gehört und auf sie wird referenziert. Aber Unternehmen beziehen sich überhaupt nicht auf ein europäisches Kollektiv. Ganz offensichtlich kommunizieren gerade transnationale Unternehmen wie Banken nicht europäisch und tragen somit wenig zur Konstruktion Europas bei. Auch die Wirtschaftsverbände als die Lobbyorganisationen von Unternehmen und Branchen argumentieren in ähnlichen Modi wie die Unternehmen. Summa summarum: Europäisch oder gar global vernetzte Akteure wie Unternehmen und Wirtschaftsverbände werden zwar in ausländischen Öffentlichkeiten gehört, sie tragen aber wenig bis nichts zur Konstruktion Europas bei. Parteien, die von ihrer Funktion her als Interessen sammelnde und aggregierende Akteure für europäische Politikprozesse prädestiniert wären, leisten ebenfalls kaum einen Beitrag. Es verbleiben die Journalisten und
258
Konfliktinduzierte Formation europäischer Diskurse
nationalen Regierungen. Die nationalen Regierungen können infolge ihrer hohen Transnationalität und Definitionsmacht eine zentrale Rolle zur Konstruktion Europas spielen. Je nach Interessenlage argumentieren sie auch bereits stark in einer europäischen Perspektive. Allerdings tun sie auch gerade das Gegenteil, so dass die nationalen Regierungen insgesamt eher ambivalent einzuschätzen sind. Es sind wohl am ehesten die Journalisten von Qualitätsmedien, welche den Konstruktionsprozess eines gemeinsamen Europas vorantreiben können. Sie sind aber darauf angewiesen, dass die nationale Regierung keine Fundamentalopposition gegen die Europäische Union betreibt.
7 Zusammenfassende Schlussbilanz
Diese Arbeit befasst sich, ganz allgemein gesprochen, mit der weitreichenden Frage der „(Nicht-)Existenz einer europäischen Öffentlichkeit“ und untersucht diese Fragestellung auf der Basis einer vergleichenden Analyse der Medienberichterstattung in vier verschiedenen Ländern über die „Zinsbesteuerungsdebatte“ im Zeitraum von 1996 bis 2005 sowie einer Analyse der jährlich je zwanzig grössten Kommunikationsereignisse von verschiedenen Schweizer Leitmedien in einem Zeitraum von 1945 bis 2006. Um die Allgemeinheit der Frage erkenntnisfördernd zu spezifizieren, wurde ein weit verzweigtes und nach hierarchischen Ebenen strukturiertes System von Fragestellungen entwickelt, das dem Aufbau der Arbeit zugrunde liegt. Auf der untersten, der heuristischen Ebene, stellt sich die Grundsatzfrage, wie Theoriebildung und Methodologie fortentwickelt werden soll, um „besser“ zu werden, so, dass die vielfältige empirische Wirklichkeit bereits existierender transnationaler Diskurse in Europa adäquat erfasst, beschrieben und erklärt werden kann. Zu diesem Zweck galt es ein entsprechendes theoretisches Konstrukt zu entwickeln, das sich entlang mehrerer Dimensionen und anhand zahlreicher Indikatoren operationalisieren lässt. Auf der empirischen Ebene stellten sich Fragen, nach welchen Mustern sich nationale Öffentlichkeiten europäisieren, welchen Level diese Europäisierung bereits erreicht hat und ob ein Trend in Richtung mehr Europäisierung beobachtbar ist oder nicht. Antworten auf solche Fragestellungen bleiben letztlich aber deskriptiver Natur; sie sind deswegen nicht weniger eine Voraussetzung, um auf einer analytischen Ebene der Erklärung im Licht der entwickelten Theorie und davon abgeleiteter Hypothesen nach Regularitäten und Zusammenhängen zu suchen, die erklären, weshalb die empirische Wirklichkeit gerade so beschaffen ist, wie sie vermessen wurde. Erst von dieser Ebene aus lässt sich sozusagen auf die Spitze des Olymps der europabezogenen Öffentlichkeitsforschung steigen und nach den demokratieund integrationspolitischen Implikationen fragen. Da sich diese Arbeit auf ein europäisches und ein schweizerisches Sample bezieht, lässt sich fragen, was die empirisch gewonnenen Diskursregularitäten für eine weitere Demokratisierung der Europäischen Union sowie für den Bilateralismus der Schweiz bedeuten. In dieser Schlussbilanz werden entlang der ersten drei skizzierten Ebenen die wichtigsten Fragestellungen und Ergebnisse zusammengefasst. Was die vierte Ebene
260
Zusammenfassende Schlussbilanz
der politischen Implikationen betrifft, gilt es in Kenntnis der Befunde und Regularitäten der ersten drei Ebenen neue Fragen zu stellen und Pfade zu benennen, auf welchen nach praktischen Antworten zu suchen ist. Konflikttheoretisch begründete Forschungsdesiderata runden die Arbeit ab. 7.1 Transnationalisierung nationaler Öffentlichkeit als heuristisches Konzept Infolge der Sozialstruktur segmentär differenzierter nationaler Öffentlichkeiten einerseits und der praktischen Nicht-Existenz europäischer Medien sowie europäisch organisierter intermediärer Akteure andererseits ist das Modell einer einheitlichen, die nationalen Kommunikationsräume gleichsam überwölbenden europäischen Öffentlichkeit als nicht realistisch zurückgewiesen worden. Europäische Öffentlichkeit wird stattdessen modelliert als Emergenz transnational verdichteter Kommunikationszonen, die aus der Transnationalisierung, also der kommunikativen Überlappung, Durchdringung und Verschränkung nationaler Öffentlichkeiten und supranationaler Arenen entstehen, wobei solche Transnationalisierung drei Formen annehmen kann und entlang von vier Dimensionen europäischer Kommunikation zu operationalisieren ist. Europäisierung gilt somit als Spezialfall der geografisch offen gehaltenen Transnationalisierung, die in ihrer sozialräumlich umfangreichsten Variante eine Weltöffentlichkeit beschreiben würde. Was nun zum einen die Formen betrifft, so erfolgt Europäisierung wegen des Mehrebenensystems europäischer Governance mit supranationalen und intergouvernementalen Entscheidungsarenen in vertikaler und horizontaler Richtung. Neben diesen beiden Formen der vertikalen und horizontalen Europäisierung ist mit der transnationalen Europäisierung eine weitere Form der Europäisierung unterschieden worden, die sich auf europäische, die verschiedenen Länder gemeinsam, aber nicht unmittelbar die EU betreffende Angelegenheiten bezieht. Das Konstrukt der Transnationalisierung respektive Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten differenziert zum anderen vier Dimensionen europäischer Kommunikation: EU-Beobachtung, Diskurskonvergenz, kommunikativer Austausch und kollektive Identität. Die erste Dimension der EU-Beobachtung bezieht sich auf die mediale Aufmerksamkeit für EU-Angelegenheiten (vertikale Europäisierung) sowie die europäischen Angelegenheiten im Sinn der transnationalen Europäisierung. Mit der zweiten Dimension der Diskurskonvergenz geht es um die Frage nach der Übereinstimmung bzw. Variation der nationalen Aufmerksamkeitsstrukturen, Akteurensembles und Semantiken in öffentlichen Debatten. Die dritte Dimension des kommunikativen Austauschs verweist
Zusammenfassende Schlussbilanz
261
auf Fragen, ob und wie sich die nationalen und supranationalen Öffentlichkeitsarenen wechselseitig kommunikativ durchdringen, ob also zwischen diesen ein Austausch von Meinungen, Positionen und Argumenten stattfindet oder nicht. Mit der vierten Dimension der kollektiven Identität schliesslich sind Fragen der Ausbildung eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins und einer europäischen Identität berührt. Gleichgültig, ob ein europäisches Kommunikationsereignis untersucht wird oder ob sich die Untersuchung ohne thematische Restriktion und in induktiver Weise auf die Gesamtberichterstattung bezieht, ein empirisch gehaltvolles Bild, ob und inwieweit transnationale Diskurse oder nationale Öffentlichkeiten europäisiert sind oder nicht, lässt sich nur gewinnen, wenn stets alle Dimensionen gleichzeitig berücksichtigt werden. Das impliziert, dass europäische Öffentlichkeit nur als multidimensionales und graduelles Phänomen zu beschreiben ist, das sich zugleich über die Zeit mehr oder weniger stark entwickelt. Mit Bezug auf eine solche Prozessperspektive wurde im Rahmen einer krisen- und konfliktsoziologisch argumentierenden Theorie sozialen Wandels die Vorstellung zu begründen versucht, dass es infolge nicht-intendierten Folgen absichtsvollen Handelns einerseits und nicht vorhersehbarer exogener Entwicklungen und Schocks andererseits immer wieder zur Formierung aktiver Öffentlichkeiten kommt, wobei in solch bewegten Phasen grundsätzliche Werte, Normen und Regeln einer Gesellschaft zur Disposition stehen. Diese im Rahmen des 213 Nationalstaats mehrfach bestätigte These lässt sich auf einen transnationalen Kontext übertragen. Indem die Länder der Europäischen Union wirtschaftlich, politisch und rechtlich als Folge des weit fortgeschrittenen Integrationsprozesses in einer Weise mit der Welt konfrontiert sind, dass wahrgenommene Probleme immer mehr als Probleme für die Europäische Union adressiert werden, die gemeinsam gelöst und geregelt werden sollen, wächst das Potenzial, dass es zwischen den EU-Ländern und im Verhältnis mit Drittstaaten zu konfliktinduzierten transnationalen Kommunikationsverdichtungen kommt, während derer sich aktive Öffentlichkeiten formieren. Da sich dieser Prozess beschleunigt und sich immer häufiger an unterschiedlichen Streitfragen öffentliche Auseinandersetzungen entzünden, befindet sich die EU integrationspolitisch und identitätstheoretisch auf einem Pfad, der vom Stadium einer Problemgemeinschaft ins Stadium einer zweckrationalen Problemlösungsgemeinschaft führt. Auf diesem theoretischen Hintergrund stellen sich dann neue und weitreichende Fragen. Ist angesichts konfliktinduzierter transnationaler Kommunikationsverdichtungen überhaupt zu erwarten, dass sich in den nationalen Öffentlich213
Diese These wird unter anderem im Rahmen einer mehrbändigen Reihe unter dem Titel „Krise und sozialer Wandel“ (Imhof et al.) für verschiedene Zeiträume und anhand unterschiedlicher Themen für die Schweiz expliziert.
262
Zusammenfassende Schlussbilanz
keiten der EU-Länder gleichsam länderübergreifend ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein unter Fremden und ein Identitätsgefühl für das politische Gemeinwesen der Europäischen Union ausbilden? Und besteht infolge der Konstruktion neuer Mehrheits- und Minderheitsantagonismen nicht die Gefahr einer Segregation der EU und einer wachsenden Renationalisierung, was den Bestand der EU letztlich bedrohen würde? Solche Fragen lassen sich mit dieser Arbeit freilich weder hinreichend noch abschliessend beantworten, nicht nur, weil es sich um eine Fallstudie handelt, sondern vor allem auch deshalb, weil sich solche Fragen erkenntnisbringend nur transdisziplinär konzeptionalisieren lassen. Dennoch wurde im Spannungsfeld zwischen einer Integrationshypothese und einer Konflikthypothese eine Konfliktdebatte gerade hinsichtlich der Identitätsfrage analysiert, um tentative Antworten zu finden. Überhaupt bilden diese beiden Hypothesen den Kompass, mit dem durch die Untersuchung navigiert und die empirischen Befunde zu den einzelnen Dimensionen und Indikatoren bewertet wurden. Dabei ist mit der Integrationshypothese der Zusammenhang angesprochen, dass die Europäisierung der öffentlichen Kommunikation mit dem Integrationsprozess zunimmt, wobei dies stärker in Ländern erfolgt, die schon länger und umfassend in der Europäischen Union integriert sind sowie auf vergemeinschafteten Politikfeldern. Die Konflikthypothese postuliert, dass Öffentlichkeit in erster Linie unter Konfliktbedingungen anspringt, wobei die Art der Konfliktwahrnehmung Varianz und Muster der Europäisierung der öffentlichen Kommunikation bestimmt. Diese beiden Hypothesen schliessen sich gegenseitig nicht aus, es ist aber eine empirisch offene Frage, wie sie sich wechselseitig bedingen und was sie jeweils zu erklären vermögen. 7.2 Level, Muster und Trends der Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten Nachfolgend wird der Versuch unternommen, die empirischen Befunde zu sämtlichen Indikatoren zusammenfassend zu bilanzieren. Dabei werden, wo möglich, Kennwerte zu Level, Muster und Trend bezeichnet. Zudem wird angegeben, was die Integrationshypothese und Konflikthypothese jeweils zu erklären vermag. Dies sind freilich qualitative Einschätzungen, die sich aus der theoriegeleiteten Interpretation der empirischen Befunde ergeben.
Zusammenfassende Schlussbilanz Subdimension
Indikator
263 Europäisierung
Level Muster Trend Beobachtung EU-Politik / europäische Angelegenheiten Beobachtung EUAuslandberichterstattung Polity über EU-Polity/ Politics 2.9% § Ļ/Ĺ (vertikal) Beobachtung EUAuslandberichterstattung Policies über EU-Policies (vertikal) 0.6% Ł ĹĹ/ĹĹ und europäische Angelegenheiten (transnational) Politikphasenbezug Politikphasenresonanz -,++,Ł Diskurskonvergenz Issue-Aufmerksamkeit Synchronität der Berichter++,~ § stattung Sprecherensembles Sprechertypen + Ɣ Diskurskoalitionen -national Semantik Frames + Ɣ Begründungen ż Kommunikativer Austausch Beobachtung europäiAuslandberichterstattung scher Länder über andere europäische 19.7% § Ļ/ĻĻ Länder (horizontal) Interdiskursivität Europäisierung Inlandberichterstattung (vertikal, 2.8% § Ĺ/ĹĹ transnational) Resonanz europäischer ++ Ɣ Sprecher Adressierungen + ĺ Referenzierungen national Kollektive Identität Bedrohungsperzeption Thematisierung bedrohter ĺĸ Ressourcen Kollektiv gemeinsaWIR-Bezüge ~ ĺĸ mer Identität Typisierung Differenzsemantik ĺĸ
IH
KH
(+)
++
(++)
+
--
++
~
++
-~ ---
-++ ---
(--)
++
(+)
++
-
++
+
++ +
~
++
~
++
~
++
Tabelle 21: Level, Muster und Trends der Europäisierung nationaler Öffentlichkeit Lesehilfe: Die quantitativen Angaben zum Level beziehen sich auf die Kommunikationsereignisanalyse von Schweizer Leitmedien im Zeitraum von 1945 bis 2006 und sind Durchschnittswerte. Überall sonst handelt es sich um qualitative Einschätzungen, die mit Symbolen bezeichnet sind (-- sehr tief, tief, ~ mittel, + hoch, ++ sehr hoch; Ļ abnehmend, ĻĻ stark abnehmend, Ĺ zunehmend, ĹĹ stark zunehmend; § diskontinuierlich, Ł korrespondierend mit Integrationsprozess; ż vollständig, Ɣ Kernbestand, ĺ einseitig, ĺĸ antagonistisch). Die Bestimmung der Trends erfolgt für die gesamte Periode (erster Pfeil) und für die Supranationalisierungsphase des Integrationsprozesses von 1987 bis 2006 (zweiter Pfeil).
264
Zusammenfassende Schlussbilanz
Beobachtung EU-Politik / europäische Angelegenheiten Diese Dimension gibt Auskunft darüber, wie stark auf die EU bezogene Politikangelegenheiten oder auf Europa bezogene Angelegenheiten (ohne Einschluss der Schweiz) in der Medienberichterstattung Resonanz erzeugen. Summa summarum lässt sich seit der Supranationalisierungsphase ein Trend zu mehr EUBerichterstattung beobachten, was die Integrationshypothese in ihrer Pauschalität bestätigt; die Berichterstattungsvarianz ist hingegen durch die Konflikthypothese zu erklären.
EU-Polity: Die Berichterstattung über EU-Institutionen, Erweiterungen, institutionelle Vertiefungen, Akteure und Wahlen erreicht einen durchschnittlichen Resonanzanteil von 2.9 Prozent. Dabei bezieht sich die Berichterstattung regelmässig auf Phasen geplanter, gescheiterter und vollzogener Integrationsschritte der Europäischen Union, weswegen die Integrationshypothese als bestätigt gelten kann. Allerdings führen die Integrationsschritte jeweils zu völlig unterschiedlichen Aufmerksamkeitsintensitäten, die sich durch die zeithistorischen Bedrohungsperzeptionen erklären lassen. Die Varianz der Berichterstattung ist durch die Konflikthypothese determiniert. Die Berichterstattung über den europäischen Integrationsprozess erscheint in diesem Licht als ein diskontinuierliches Phänomen entlang einer Entwicklung, die seit der Gründungsphase abnimmt und seit der Supranationalisierungsphase wieder ansteigt. EU-Policy / europäische Angelegenheiten: Die Berichterstattung über europäische Angelegenheiten, die die Europäische Union oder Europa ohne Einschluss der Schweiz betreffen, erreicht einen Anteil von 0.6 Prozent an der Gesamtberichterstattung der zwanzig grössten Kommunikationsereignisse. Im Unterschied zur Berichterstattung über EU-Polity nimmt die Berichterstattung über EU-Policy seit dem weitreichenden Integrationsschritt von Maastricht stärker zu. Dabei stellt sich heraus, dass Angelegenheiten und Themen zum Binnenmarkt am stärksten beobachtet werden. Seit den 1970er-Jahren lässt sich mit der transnationalen Europäisierung zudem ein 214 neuer Typ europäischer Kommunikationsereignisse erkennen. Die Integrationshypothese erklärt die Befunde sehr gut, während die Konflikthypothese die These der konfliktinduzierten Berichterstattung stützt.
214
Die Kriegsberichterstattung über Europa im Ersten und Zweiten Weltkrieg entspricht dem Typus transnational europäisierter Kommunikationsereignisse. Im Zug der Währungskrise in Europa in den 1970er-Jahren erscheint aber zum ersten Mal eine europäische Angelegenheit in den zwanzig grössten Kommunikationsereignissen, die nicht kriegerischer Natur ist.
Zusammenfassende Schlussbilanz
265
Politikphasenbezug: Wird der Politikgestaltungsprozess in die Stadien der Agendagestaltung, Politikformulierung und Implementierung unterteilt, dann erzielen das erste und dritte Stadium tiefe Resonanzwerte, während im mittleren Stadium die Resonanz ausserordentlich hoch ist, womit das Öffentlichkeitsdefizit der EU an der Input-Seite von Politikgestaltungsprozessen bestätigt wird. Grundsätzlich erstreckt sich die Berichterstattung aber über den gesamten Politikzyklus und obwohl die Schweiz kein Mitglied der EU ist, berichtet sie schon während der Phase der Agendagestaltung gleich stark wie die Medien der EU-Staaten. Die über den gesamten Politikzyklus so festgestellte Übereinstimmung der Berichterstattung von Schweizer Medien mit den ausländischen Medien widerlegt die Integrationshypothese. In der Schweiz wurde bereits in der Anfangsphase ein Konfliktpotenzial antizipiert. Die Neue Zürcher Zeitung war den allermeisten ausländischen und allen untersuchten inländischen Medien zeitlich und in der Einschätzung der Entwicklung zum Teil deutlich voraus und erweist sich als Leitmedium europäischer Debatten.
Diskurskonvergenz Diese Dimension hält Ausmass sowie Art und Weise der Übereinstimmung respektive Variation der nationalen Themenhaushalte, Sprecherensembles und Deutungsperspektiven fest. Da es sich bei der Untersuchung über die „Zinsbesteuerungsdebatte“ um eine Auseinandersetzung handelt, bei der Entscheidungen nach Einstimmigkeitsregeln gefällt werden und das letzte Wort jeweils bei den Nationalstaaten liegt, musste mit nationalen Idiosynkrasien gerechnet werden. Trotzdem lässt sich insgesamt eine recht hohe Übereinstimmung konstatieren, die freilich nicht bei jedem Indikator gleich stark anschlägt.
Synchronität der Berichterstattung: Werden die einzelnen Zeitpunkte verglichen, an denen über die Zinsbesteuerung in den Medien der untersuchten vier Öffentlichkeiten zeitgleich berichtet wird, dann verläuft die Medienaufmerksamkeit extrem synchron und ist weitgehend determiniert durch den institutionellen Sitzungs- und Verhandlungskalender der Politikgestaltung. Fokussiert man dabei auf die einzelnen Ausschläge in den jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten, dann springen grosse Varianzen ins Auge, die sich nur durch konfliktinduzierte Bedrohungsperzeptionen erklären lassen. Dabei verläuft die Berichterstattung in den drei EU-Öffentlichkeiten etwas gleichmässiger. Dies lässt sich nur scheinbar durch den Mitgliedstatus erklären. Es sind Konflikte unter EU-Staaten, die zu stärkeren Ausschlägen
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Zusammenfassende Schlussbilanz der Issue-Aufmerksamkeit führen als Konflikte, die die EU mit (kleineren) Drittstaaten ausficht. Sprechertypen: Die Übereinstimmung der nationalen Sprechertypen ist insgesamt, aber insbesondere mit Blick auf die massgeblich beteiligten Akteure – nationale Regierungen, EU-Akteure und Journalisten – sehr hoch. Dabei gibt es zwischen den drei EU-Staaten und der Schweiz keine Unterschiede; auch zwischen den Druck ausübenden und den unter Druck stehenden Staaten dominieren die Gemeinsamkeiten. Es sind überall die gleichen Sprechertypen, die in ähnlichen Anteilen mediale Resonanz erzielen. Diskurskoalitionen: Da die Konfliktlinien und Leitdifferenzen der Debatte entlang der nationalen Grenzen verlaufen, führen solche Konfliktkonstellationen zu segmentär differenzierten Länderkoalitionen und weniger zu sozial durchmischten Diskurskoalitionen, auf die verschiedene nationale Sprecher gleicher Sprechertypen gleichmässig verteilt wären. Wie die Auseinandersetzung in einer nationalen Öffentlichkeit wahrgenommen wird, ist dann in erster Linie davon abhängig, auf welcher Seite der Konfliktlinie ein Land steht. Länder, die auf der gleichen Seite der Konfliktlinie positioniert sind, nehmen den Konflikt ähnlicher wahr, als Länder, die einander antagonistisch gegenüberstehen. Damit werden die Varianzen durch die Konflikthypothese erklärt. Frames: Trotz Diskurskoalitionen, die länderspezifisch zusammengesetzt sind, besteht eine recht grosse nationale Übereinstimmung zumindest bei denjenigen Kernframes, welche die Debatte materiell prägen. Die Übereinstimmung ist unter den drei Festland-Staaten grösser als im Vergleich mit dem Inselreich. Diese Varianz ist weder mit der Integrations- noch mit der Konflikthypothese zu erklären. Stattdessen scheint das Konzept der „diskursiven Gelegenheitsstrukturen“ (Ferree et al. 2002, 70ff.), das soziokulturelle Besonderheiten hervorhebt, eine Erklärung zu liefern. Begründungen: Ob eine Vollständigkeit der unterschiedlich begründeten Positionen und Meinungen in den verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten besteht oder nicht, wurde daran gemessen, ob die Koalitionen mit ihren Äusserungen jeweils in jedem Frame und jeder Öffentlichkeit Resonanz erzeugen. Das Vollständigkeitspostulat gilt dabei grundsätzlich als erfüllt, wenngleich gewisse Problemperspektiven, Interpretationen und Meinungen zum Teil nur marginal Resonanz erzeugen. Wie schon beim Indikator Frame können die Varianzen auch hier weder mit der Integrations- noch mit der Konflikthypothese erklärt werden. Eine Diskurskoalition erzeugt mit ihren spezifischen Sichtweisen in auswärtigen Öffentlichkeiten vor allem
Zusammenfassende Schlussbilanz
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dann Resonanz, wenn sie diese auch schon in der Heimatöffentlichkeit überdurchschnittlich stark bewirtschaftet. Kommunikativer Austausch Die Dimension des kommunikativen Austauschs verweist auf die Frage, ob und wie sich die verschiedenen nationalen und supranationalen Öffentlichkeitsarenen diskursiv verschränken und durchdringen, ob also zwischen ihnen ein Austausch von Meinungen, Positionen und Argumenten besteht.
Auslandberichterstattung über andere europäische Länder: Über den Zeitraum von 1945 bis 2006 beträgt der jährliche Berichterstattungsanteil über andere europäische Länder durchschnittlich 20 Prozent am Berichterstattungsvolumen der zwanzig grössten Kommunikationsereignisse. Dabei ist ein Trend einer abnehmenden Berichterstattung zu verzeichnen, der sich in der jüngsten Zeit beschleunigt hat. Dieser Trend verläuft indes nicht linear, sondern diskontinuierlich und ist kriegs- und konfliktdeterminiert. Die zunehmende europäische Integration hat nicht dazu beigetragen, dass die Schweiz vermehrt andere europäische Länder, insbesondere jedoch die Nachbarländer, beobachtet. Das, was als horizontale Europäisierung bezeichnet wird, hat stark abgenommen. Europäisierung Inlandberichterstattung: Eine transnationalisierte Inlandberichterstattung im Allgemeinen und eine europäisierte im Besonderen gilt als Indikator, dass auf der Makroebene medialer Aufmerksamkeit ein kommunikativer Austausch zwischen der Schweizer Öffentlichkeit und einer oder mehreren anderen Öffentlichkeiten stattfindet, da sich der Geltungsbereich einer Auseinandersetzung oder eines Themas über verschiedene nationale Kommunikationsräume erstreckt. Dabei erreicht die Europaberichterstattung mit einem Inlandbezug einen durchschnittlichen Anteil von 2.8 Prozent. Über den gesamten Zeitverlauf hat dieser Anteil zugenommen, wobei seit der Supranationalisierungsphase gar ein starker Anstieg zu verzeichnen ist. Insgesamt gesehen korreliert die inlandbezogene Europaberichterstattung stark mit dem europäischen Integrationsprozess: Immer dann, wenn Integrationsdebatten auf europäischer Ebene stattfinden, nehmen auch in der Schweiz Europadebatten zu. Allerdings ist auch in diesem Fall die Erklärungskraft der Konflikthypothese stärker. Die Heftigkeit, mit welcher in der Schweiz über Europa diskutiert wird, ist von der jeweiligen konfliktinduzierten Bedrohungsperzeption abhängig.
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Zusammenfassende Schlussbilanz Resonanz ausländischer Akteure: EU-Akteure sind mit 16 Prozent, europäische Sprecher gar mit 34 Prozent Resonanzanteilen an der Auseinandersetzung sehr stark beteiligt. Von allen Indikatoren zeigt dieser Indikator den stärksten Europäisierungsgrad an. Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Druck ausübenden und den unter Druck stehenden Staaten. Während die Varianz bei den EU-Sprechern zwar noch vergleichsweise klein ist, besteht bei den europäischen Sprechern eine grosse Divergenz in dem Sinn, dass der Resonanzanteil von heimischen Sprechern in unter Druck stehenden Ländern deutlich höher ist als in Druck ausübenden. Die Varianzen sind also konfliktdeterminiert. Grundsätzlich erzielen alle zentralen Konfliktakteure in allen untersuchten Medienarenen deutlich höhere Resonanz als Sprecher aus am Konflikt weniger stark beteiligten Ländern. Adressierung: Sprecher adressieren Dritte mit Geltungsansprüchen oder Kritik in 30 Prozent aller Äusserungen. Die Adressierungen verlaufen indes nicht reziprok in beide Richtungen, sondern stärker von Druck ausübenden Ländern in Richtung Länder und Akteure, von denen etwas verlangt wird und die so unter Druck gesetzt werden. Das führt dazu, dass Sprecher aus EU-Ländern nicht stärker Sprecher aus anderen EU-Ländern adressieren: Es werden jene Länder adressiert, mit denen ein Konflikt besteht. Das sind ein Mal EU-Länder, ein anderes Mal Drittstaaten. Adressierungen sind darüber hinaus nicht auf den eigenen nationalen Kommunikationsraum beschränkt, sondern finden leicht stärker transnational statt, indem auswärtige Sprecher mit Adressierungen in der Heimatöffentlichkeit der Adressierten Resonanz erhalten. Referenzierungen: Sprecher referenzieren Dritte, indem sie sich auf deren Äusserungen beziehen, fünf Mal weniger als sie Dritte adressieren (in rund 6 Prozent aller Sprecheräusserungen). Dabei beziehen sich Sprecher fast doppelt so häufig auf andere Sprecher der gleichen Nation. Der Grad der Transnationalisierung oder Europäisierung fällt entsprechend tief aus. Europäische Sprecher beziehen sich stärker auf andere europäische Sprecher. Allerdings verschiebt sich auch dieses Verhältnis zugunsten Drittstaaten, wenn die EU mit diesen in Konflikt steht.
Kollektive Identität Mit der Dimension der kollektiven Identität geht es um die Klärung der Frage, ob und inwieweit sich in öffentlichen Debatten bereits ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein unter Fremden und eine Identifikation mit der eu-
Zusammenfassende Schlussbilanz
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ropäischen Polity in Abgrenzung zu nationalen (oder anderen) Identitäten ausgebildet hat.
Wahrnehmung bedrohter Ressourcen: Ein Rekurs auf bedrohte europäische Ressourcen lässt sich in der Auseinandersetzung zwar nachweisen, indes ist die Bedrohungsintensität gerade im Vergleich mit nationalen Bedrohungsperzeptionen ausserordentlich gering. Zudem beschränkt sich eine europäische Bedrohungsperzeption auf jene Akteure, die im Namen einer angeblich europäischen Angelegenheit von anderen eine Harmonisierung der nationalen Steuerpolitik fordern. Die bedrohte Ressource betrifft in erster Linie das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts und verweist auf den Identitätsstatus der EU als einer Zweckgemeinschaft, deren Kernstück im gemeinsamen Markt und der gemeinsamen Währung besteht. Was die Varianz der Bedrohungsperzeptionen vor allem erklärt, ist die Zugehörigkeit zur Druck ausübenden Koalition. Wie gut die Integrationshypothese Erklärungen liefert, lässt sich nicht schlüssig beantworten. Anzunehmen und plausibel scheint es aber schon, dass Länder, die schon lange und umfassend Mitglied der EU sind, eher europäische Ressourcen zu erkennen vermögen, die es angesichts einer wahrgenommenen Bedrohung zu verteidigen gilt, als Länder, die noch nicht lange integriert sind. WIR-Bezüge: In rund 12 Prozent aller Äusserungen beziehen sich Sprecher auf ein kollektives WIR, in dessen Namen sie als Organisation oder Einzelperson zu agieren vorgeben. Dabei ist der Anteil von nationalen WIRBezügen mit 70 Prozent gegenüber 30 Prozent europäischen WIR-Bezügen mehr als doppelt so hoch. Dabei zeigt sich ein ganz ähnliches Muster wie bei der Bedrohungsperzeption. WIR-Bezüge werden nicht nur häufiger formuliert von Akteuren, deren Länder unter Druck stehen, diese beziehen sich dann auch fast ausschliesslich auf ein nationales WIR, während die Druck ausübenden Länder häufiger im Namen einer europäischen Sache ihre Forderungen und Kritiken adressieren. Wiederum scheint die Konflikthypothese die bessere Erklärung zu liefern. Fremd- und Selbsttypisierungen: Als Ausdruck eines vorhandenen Identitätsgefühls mit der europäischen Polity gelten die in Konfliktdebatten gemeinsam geäusserten positiven Typisierungen der Europäischen Union. Ein etwas weniger starker Ausdruck wird bezeugt durch gemeinsame negative Typisierungen anderer Länder. Während nun die Übereinstimmung negativer Typisierungen gegenüber Grossbritannien und der Schweiz als zwei Länder, mit denen die EU im Konflikt gestanden ist, auf Seiten der Druck ausübenden Koalition nachgewiesen kann, sind positive Typisierungen der EU von dieser Seite praktisch inexistent, und zwar selbst in jenen Öffent-
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Zusammenfassende Schlussbilanz lichkeiten, die im Namen der EU die Angelegenheit vorangetrieben haben. Dagegen wird die EU in den unter Druck gesetzten Ländern negativ als „bürokratische Fehlkonstruktion“, als „Freiheit unterdrückender Superstaat“ und „Kartell der Hochsteuerländer“ konnotiert, während das eigene Land gegengleich zur EU positiv typisiert wird.
Bei aller Varianz, die sich mit Blick auf die unterschiedliche Berichterstattungsintensität bei der „Zinsbesteuerungsdebatte“ ergibt, lässt sich ein massenmedial vermittelter Diskurs erkennen, der sich durch eine transnationale Interdiskursivität auszeichnet und zudem stark auf den Politikgestaltungsprozess bezogen ist. In Termini der verwendeten Indikatoren existiert eine zeitgleiche Thematisierung einer politischen Auseinandersetzung in verschiedenen nationalen Medienarenen, wobei zwischen den nationalen Kommunikationsräumen und den supranationalen Arenen der EU lebhafte kommunikative Austauschprozesse stattfinden. Dabei wird die Debatte bei hoher Übereinstimmung in den die Streitfrage kennzeichnenden Kernframes zwischen Diskurskoalitionen geführt, die sich vorwiegend aus Sprechern von Ländern zusammensetzen, die auf der gleichen Seite der Konfliktlinie positioniert sind. Im Vergleich zur Interdiskursivität indiziert die Dimension der kollektiven Identität jedoch wenig Europa. Ein solides europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein oder ein Identitätsgefühl mit dem europäischen Gemeinwesen lassen sich kaum ausmachen; zu stark wiegen die nationalen Identitätsbezüge im Fall einer konfliktinduzierten Bedrohungsperzeption. Setzt man jedoch diesen transnationalen Diskurs in die Entwicklung einer seit der Supranationalisierungsphase zunehmenden Europaberichterstattung, die je nach Untersuchungsland und Methode bei einem Europäisierungslevel von bis zu 10 Prozent (Wessler et al. 2008, 42; Saurwein et al. 2006, 77) angelangt ist, dann besteht zwar gemessen am Politik-Output der EU nach wie vor ein be215 trächtliches Öffentlichkeitsdefizit. Wenn aber europäische Angelegenheiten in Gestalt europäischer Kommunikationsereignisse fokussiert werden, dann sind diese Debatten mit Bezug auf Diskurskonvergenz und Interdiskursivität bereits stark transnationalisiert respektive europäisiert. Und da, um diesen Punkt zu wiederholen, infolge des Grads der Vergemeinschaftung der Europäischen Union davon auszugehen ist, dass konfliktinduzierte Auseinandersetzungen über europäische Angelegenheiten auf den diplomatischen Hinterbühnen eher zu- als abnehmen werden, ist zu erwarten, dass sich auch die öffentliche Kommunikation in Medienarenen zeitgleich in einer Weise verdichten wird, wie es exemplarisch anhand der „Zinsbesteuerungsdebatte“ beschrieben wurde und wie es durch die 215
Zwischen 1988 und 2002 erlässt der Europäische Ministerrat durchschnittlich 64 Richtlinien pro Jahr, während in der gleichen Periode im britischen Unterhaus 50 und im deutschen Parlament 130 Gesetze erlassen wurden (Wessler et al. 2008, 240, Fussnote 4; vgl. ebd. 44).
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Zunahme der Europaberichterstattung seit der Supranationalisierungsphase bereits belegt ist. Und weil die wahrgenommenen Probleme in Europa vermehrt als Probleme für die Europäische Union adressiert werden, wandelt sich die Europäische Union von einer Problemgemeinschaft zu einer Problemlösungsgemeinschaft, auch wenn bisherige europäische Identitätsbezüge erst schwach ausgebildet sind. Die kardinale Frage bleibt indes, ob im Fall einer fundamentalen Krise der bisherige Bestand an Gemeinsamkeiten und erreichter kollektiver Identität ausreichend ist, damit die EU nicht in Einzelteile zerfällt. Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen somit für einige der Indikatoren die Integrationshypothese und lassen ihre Trendaussage insgesamt als plausibel erscheinen. Hingegen erklärt die Konflikthypothese die Varianzen im langfristigen Zeitverlauf sowie die Art und Weise der transnationalen Interdiskursivität und der Konstruktion kollektiver Identität. 7.3 Diskursregularitäten Die empirischen Ergebnisse aus den beiden Untersuchungen zur „Zinsbesteuerungsdebatte“ und Europäisierung der Schweizer Öffentlichkeit lassen sich je zu zentralen Diskursregularitäten verdichten, die es zu berücksichtigen gilt, wenn über Möglichkeiten und Grenzen der Demokratisierung der Europäischen Union und über das bilaterale Verhältnis der Schweiz zur EU nachgedacht wird. Ich werde mich zunächst auf die Darstellungen der Regularitäten transnationaler Diskurse in Europa, sodann auf jene der Schweizer Öffentlichkeit beziehen. Diskursregularitäten im Kontext europäischer Öffentlichkeit
Viele Themen mit wenig Resonanz, wenige Themen mit grosser Resonanz: Die Berichterstattung über Europa respektive die Europäische Union ist geprägt von vielen kleinen Kommunikationsereignissen, die insgesamt wenig Resonanz erzeugen und die geringe Bedeutung von EU-Politik im Modus der Routine verdeutlichen. Das politische Routinegeschäft der EU geht so in einem formlosen Rauschen im Blätterwald weniger Qualitätszeitungen unter, wenn es denn überhaupt je Eingang in die Berichterstattung finden sollte. Dagegen finden einige wenige Themen und Auseinandersetzung über europäische Angelegenheiten vergleichsweise grosse Resonanz, sogar im Boulevard. Es sind diese Debatten, in denen Europa und die Europäische Union konstruiert werden und anhand derer die Bürgerinnen und Bürger ihr Bild zu Europa und der Europäischen Union machen.
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Zusammenfassende Schlussbilanz Europäische Politikgestaltung mit Öffentlichkeitsdefizit an der Input-Seite: Europäische Politikgestaltung, die zu medial resonanzförmigen Kommunikationsereignissen verarbeitet wird, zeichnet sich durch ein Öffentlichkeitsdefizit am Anfang des Politikzyklus aus. Somit wird für das Publikum gerade nicht sichtbar, wer was und warum auf die politische Agenda zu bringen versucht; dies nicht zuletzt deshalb, weil die Europäische Kommission über ein Definitionsmonopol über die Lancierung europäischer Gesetzgebungsprozesse verfügt (Wessels 2003, 353ff.). Konfliktinduzierte Formierung transnationaler Diskurse mit Epizentrum in nationalen Öffentlichkeiten: Öffentlichkeit zu europäischen Angelegenheiten springt an, wenn diese konfliktinduziert sind und von Akteuren aktiv medial bewirtschaftet werden. Dabei beginnen aber nicht grenzüberschreitend die Öffentlichkeitsstrukturen aller Länder gleichermassen zu vibrieren, sondern es lokalisiert sich ein kommunikatives Epizentrum in jenem nationalen Kommunikationsraum, in dem sich eine konfliktinduzierte Bedrohungsperzeption ausbildet. Von hier aus wirft die Auseinandersetzung dann transnationale Wellen und diffundiert unterschiedlich stark in andere Kommunikationsräume. Nationale Öffentlichkeiten als Veto-Öffentlichkeiten für europäisches Entscheidungshandeln: Indem der Konflikt innenpolitisch mobilisiert und eine aktive Öffentlichkeit im Modus der Krise formiert, fungieren nationale Öffentlichkeiten für das europäische Entscheidungshandeln als Veto-Öffentlichkeiten. Konfliktinduzierte transnationale Auseinandersetzungen in nationalen Kommunikationsräumen legen auf diese Weise normativ fest, was angesichts national mobilisierten Widerstands auf europäischer Ebene überhaupt möglich ist und wo der Handlungsspielraum begrenzt wird. Antagonismus unterschiedlicher Identitätskonstruktionen: Solche Konfliktdebatten sind ausserdem geprägt durch einen Antagonismus unterschiedlicher Identitätskonstruktionen. Indem eine Koalition von Ländern und Akteuren im Namen europäischer Geltungsansprüche ein oder mehrere andere Länder kritisiert und unter Druck setzt, wird beim unter Druck stehenden Land eine Bedrohungsperzeption ausgelöst, die zur Mobilisierung im Namen nationaler Interessen führt. Beide Konfliktparteien typisieren sich dabei wechselseitig negativ. Dabei scheint der Reflex, die EU negativ zu typisieren, wenn von ihr Druck ausgeht, aber weitaus stärker zu sein als sie umgekehrt positiv zu besetzen, wenn Forderungen und Kritik im Namen der EU adressiert und durchgesetzt werden sollen. Da jedoch Akteure des unter Druck stehenden Landes kräftigere nationale Identitätsbilder aktualisieren und sich viel ausgeprägter auf ein nationales Kollektiv beziehen als die
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Druck ausübende Koalition auf ein europäisches „Wir“, stehen in europäischen Konfliktdebatten rigide nationale Identitätssemantiken relativ schwachen europäischen Identitätsbildern gegenüber. Europäische Identitätskonstruktion unter Bedingungen des Konflikts: Da Europa und die Europäische Union gerade im Modus des Konflikts medial stark beachtet werden, müssen sowohl die Konstruktion einer europäischen Identität wie auch das Zusammengehörigkeitsbewusstsein unter Bedingungen des Konflikts entstehen. Angesichts ständig wechselnder Konfliktkonstellationen werden somit in den verschiedenen europäischen Ländern beide Typen kollektiver Identität zeitgleich konstruiert und bewirtschaftet. Neben einer starken nationalen kollektiven Identität existiert eine bislang nur schwach ausgebildete europäische Identität, die sich jeweils dann wieder verflüchtigt, wenn eine konfliktinduzierte Bedrohungsperzeption von nationalen Ressourcen entsteht. Trotzdem schwingt die latente Vorstellung einer europäischen Zusammengehörigkeit mit, an die eine Konstruktion der Europäischen Union als kompetente Problemlösungsgemeinschaft anknüpfen kann. Nationale Regierungen als zwiespältige Konstrukteure eines gemeinsamen Europas: Von allen Sprechertypen zeichnen sich die nationalen Regierungen als diejenigen mit der grössten medialen Präsenz aus. Sie verfügen entsprechend über die grösste Definitionsmacht und das Potenzial zur Konstruktion eines europäischen Zusammengehörigkeitsbewusstseins sowie eines Identitätsgefühls mit dem politischen Gemeinwesen der Europäischen Union. Andererseits werden nationale Regierungen im nationalen Kontext legitimiert und müssen sich dort auch wieder an Wahlen behaupten, was nahe legt, dass die Art und Weise ihrer Kommunikation über Europa wohl in erster Linie von den Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger über die Europäische Union bestimmt sein wird. Da nun Regierungsakteure nicht nur in der Heimatöffentlichkeit, sondern im Vergleich mit den anderen nationalen Sprechertypen auch in auswärtigen Medienarenen am meisten Resonanz erzielen, neigen die nationalen Regierungen dazu, tendenziell besser über die EU und andere europäische Akteure zu sprechen, als dies andere nationale Akteure tun – wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich ja untereinander von den vielen Treffen persönlich kennen und immer wieder einmal auf der gleichen Seite einer anderen Konfliktlinie stehen. Journalisten als transkulturelle Vermittler: Journalisten bilden denjenigen Sprechertypus, der in den Heimatöffentlichkeiten nach den Regierungen am stärksten an Auseinandersetzungen partizipiert. Darüber verfügen die Journalisten bzw. Redaktionen in ihrer Rolle als Gate-Keeper nicht nur über
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Zusammenfassende Schlussbilanz grosse Entscheidungskompetenz, was überhaupt in ihren Medien publiziert werden soll, sondern auch noch darüber, wie dies gestaltet und vermittelt werden soll. Medien verfügen über ein Monopol, Realität massenmedial zu konstruieren und für ein unbeschränktes Publikum zugänglich zu machen. Dabei treten die Qualitätszeitungen als transkulturelle Vermittler auf, indem sie „andere“ Sichtweisen in die nationalen Aufmerksamkeits- und Relevanzstrukturen einführen und auf diese Weise das Verständnis für die „Anderen“ erhöhen. Es sind denn auch die Journalisten, die am meisten dazu beitragen, dass in den nationalen Medienarenen europäische Hintergründe beleuchtet sowie europäische Anliegen anderer europäischer Staaten auch gegen nationale Erwägungen216 reflektiert werden. Aber Journalisten bleiben letztlich auf jene Geschichten angewiesen, über die sie berichten und die sie kommentieren können. Parteien als „Partikularisten des Nationalen“: Dagegen verhalten sich die Parteien von allen Sprechertypen als am wenigsten europäisiert und werden deswegen, in Anlehnung an eine Bezeichnung von Cathleen Kantner für die Skeptiker der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit, als „Partikularisten des Nationalen“ (2004, 76) bezeichnet. Aber Parteien betonen nicht nur in starker Weise das Nationale, sind erzielen in ausländischen Medienarenen auch praktisch keine Resonanz.
Diskursregularitäten im Kontext der Schweizer Öffentlichkeit
Fokussierung auf Umbrüche im europäischen Integrationsprozess: Die Aufmerksamkeit der Schweiz für die Europäische Union steigt immer dann an, wenn die EU Integrationsschritte plant oder vollzieht. Das war in der Gründungsphase so, an der Wende zu den 1960er-Jahre, an der Wende zu den 1970er, anfangs der 1990er und im Kontext der Einführung des Euro und der Osterweiterung um die Jahrtausendwende. Allerdings variiert die Aufmerksamkeit für solche integrationspolitische Vorgänge der EU im zeithistorischen Verlauf stark. Aufmerksamkeitsvarianzen determiniert durch zeithistorische Bedrohungsperzeptionen: Die unterschiedliche Intensität, mit der über zentrale Integrationsetappen der EU berichtet wird, ergibt sich aus den jeweils unter-
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Ein eindrückliches Beispiel ist der Leitartikel des Chefredaktors der britischen Times, der die Überlegungen des damaligen deutschen Finanzministers Lafontaine als konsistent interpretiert und seinen Lesern eingeräumt hat, dass er gleich argumentieren würde, wenn er für Steuerharmonisierung und gegen Steuerwettbewerb wäre (Times, 3.12.1998, „Listen to Lafontaine“).
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schiedlich ausgeprägten zeithistorischen Bedrohungsperzeptionen, die das Verhältnis zur EU wesentlich mitbestimmt haben. So war die öffentliche Kommunikation der Schweiz während der Gründungsphase der EU durchwirkt von der Perhorreszierung einer sowjetkommunistischen Welteroberungsabsicht, die auch nicht vor Schweizer Grenzen Halt machen würde. Die schweizerische Auslandberichterstattung war am Beginn des Kalten Kriegs entsprechend fokussiert auf ein starkes westeuropäisches Verteidigungsbündnis. Dieser Ost-West-Dualismus, der bis in die 1980er-Jahre als stets zu aktualisierender Frame mal weniger, mal stärker virulent war, wird mit der Zeit überlagert durch eine wirtschaftspolitische Isolationsfurcht. Die europapolitischen Debatten um die 1960er- und 70er-Jahre bekunden die Befürchtung, dass die Schweiz angesichts der wirtschaftspolitischen Integration der EU ins Hintertreffen geraten könnte – auch die Verhandlungen zum EWR waren noch durch dieses Motiv geprägt. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/90 und dem Wegfall des Ost-WestDualismus gerät die Schweiz in eine Identitätskrise. Für die einen wurde die Schweiz zum „Gefängnis“ und sie suchten die Erlösung in einer Annäherung an die oder gar im Beitritt zur Europäischen Union. Für die anderen wurde die EU zu einem „Freiheit unterdrückenden Hegemon“, der es auf den Wohlstand der Schweiz abgesehen hat. Mit zunehmenden Druck von aussen (Holocaust-Debatte, Bankgeheimnisdebatte) begann eine bisher noch gespaltene Schweiz ihre Klüfte allmählich zu überdecken und an der Stelle der einstigen sowjetkommunistischen Bedrohungsperzeption installierte sich die ursprünglich von nationalkonservativer Seite bewirtschaftete und mittlerweile im nationalen Sinnzirkel salonfähig gewordene Koloniali217 sierungsgefahr aus Brüssel. Sonderfallverständnis begründet das bilaterale Verhältnis der Schweiz zur EU: Wenn die EU für die Schweiz sicherheitspolitisch und wirtschaftspolitisch so wichtig war, warum ist sie ihr denn nicht als Mitglied beigetreten? Die Antwort lautet: Weil das Sonderfallverständnis der Schweiz als ein neutraler, aber weltzugewandter, die Dinge jedoch selbst regelnder Kleinstaat, einen Beitritt bis heute nicht zugelassen hat, ohne dieses Selbstverständnis und die diesem Selbstverständnis entspringenden politischen Strukturen des Föderalismus, der Konkordanz und der direkten Demokratie zu gefährden. Die Schweiz verstand sich in diesem Verständnis in den Debatten der 1960er- und 70er-Jahre noch als ein Assoziierter der EU, mit der
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Ein Artikel des Genfer Privatbankiers und späteren Präsidenten der Bankiervereinigung, Pierre Mirabaud, bringt diese definitionsmächtig gewordene Befürchtung auf den Punkt (Finanz und Wirtschaft, 4.5.2002, „Satellisierung der Schweiz?“).
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Zusammenfassende Schlussbilanz man die Eigenständigkeit der Schweiz wahrende Freihandelsverträge schliesst. Auch die europapolitischen Debatten der jüngsten Zeit sind nach wie vor von einer solchen funktionalistischen Sichtweise geprägt. Aber seit dem Aufstieg der nationalkonservativen Rechte und ihrer Dämonisierung der Europäischen Union wird im öffentlichen Diskurs der Schweiz das Bild der EU als ein freundschaftlicher Wirtschaftspartner und Garant für Frieden und Stabilität in Europa durch scharfe Differenzsemantiken überlagert und verdrängt. So wird die EU heute mehrheitlich negativ typisiert als Freiheit und Eigenständigkeit unterdrückende Gleichmacherei, bürokratische Fehlkonstruktion und Kartell der Hochsteuerländer. Gleichzeitig vernimmt die Schweizer Öffentlichkeit, dass auch die Schweiz nicht mehr vorbehaltlos als Insel der Glückseligen vom Ausland typisiert wird und muss in den Auseinandersetzungen mit der EU und den europäischen Ländern mit ansehen und anhören, wie sie als verbrecherische Steuerfluchtburg, unsolidarischer Rosinenpicker, neuer Schurkenstaat und gar als „Irak der Alpen“ gebrandmarkt wird. Solche Differenzsemantiken zementieren den im Sonderfallverständnis angelegten Antagonismus zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. EU ist zum zentralen Akteur in der Wahrnehmung der Schweiz mutiert: Wurde zu Beginn des Kalten Kriegs in der Schweizer Öffentlichkeit noch gehofft, dass die EU bzw. ihre Vorläuferorganisation (EVG, WEU) eine sicherheitspolitische Rolle in Europa spielen würde, von deren Schutzschirm dann auch die Schweiz profitieren könnte, so wird die Europäische Union heute in der öffentlichen Kommunikation der Schweiz wahrgenommen als zentraler Akteur, der auf verschiedenen Politikfeldern kompetent ist und diese Kompetenz auch der Schweiz gegenüber immer häufiger zum Ausdruck bringt.
7.4 Demokratie- und integrationspolitische Implikationen Man müsste diese Diskussion nicht führen und könnte sich zeitintensive Erhebungen der Berichterstattung ersparen, wenn die gewonnenen Erkenntnisse sich nicht auch in einem praktisch-politischen Mehrwert auszahlen würden. Die Diskussion über europäische Öffentlichkeit und Identität ist bekanntlich untrennbar mit der Frage der Demokratisierung der Europäischen Union verknüpft und verweist als Trilemma eines Demokratie-, Öffentlichkeits- und Identitätsdefizits auf die zugrunde liegende Problematik der Legitimität europäischer Governance. Im Kern beschreibt das Trilemma die unglückliche Interdependenz dreier Defizite, wobei die Behebung eines Defizits jeweils nur auf Kosten eines anderen erkauft
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werden kann. So verspricht man sich einen Abbau des Öffentlichkeitsdefizits, wenn die EU über geeignete Verfahren stärker demokratisiert würde. Allerdings könnte dies Mehrheiten- und Minderheitenspannungen provozieren und bis hin zur Segregation der Europäischen Union führen. Man verspricht sich einen Abbau des Identitätsdefizits, wenn europäische Medien gemeinsame Diskurse dem Publikum in einer europäischen Perspektive vermitteln würden. Aber solche Projekte scheitern nicht zuletzt infolge der komplexen und wenig durchschaubaren europäischen Mehrebenenpolitik an einer mangelnden Nachfrage sowohl der Medien wie des Publikums. Und ein Mehr an europäischem Zusammengehörigkeitsbewusstsein und Identifikation mit der europäischen Polity lässt sich selbstredend nicht verordnen. Nichtsdestotrotz steht an der Wurzel einer Lösung des Legitimationsproblems eine gelingende „Demokratisierung der EU“ (Huget 2007). Doch damit wird ein normatives Terrain beschritten, auf dem eine empirische Sozialwissenschaft schnell einmal ihren sicheren Halt zu verlieren droht. Stattdessen werde ich mich auf einige tentative Überlegungen beschränken, die sich von den empirisch gewonnenen Regularitäten transnationaler Kommunikation an eine normative Demokratietheorie überhaupt adressieren lassen. Im Anschluss an diese demokratietheoretischen Überlegungen für die Europäische Union wird gefragt, was dies und die oben skizzierten europapolitischen Diskursregularitäten für das als Bilateralismus bezeichnete Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union zur Folge haben könnten.
Implikationen für die Europäische Union Demokratische Verfahren sind dann optimal, wenn eine Balance zwischen Inputund Output-Legitimation besteht, wenn also Politikgestaltung effizient und lösungsorientiert ist (Akzeptanz) und wenn die Ergebnisse zugleich den Willen der Entscheidungsbetroffenen widerspiegeln (Repräsentanz). Würde man die InputSeite maximieren, dann wäre die Politik zwar rundum direktdemokratisch, dafür nicht mehr effizient; und sie könnte die Komplexität der Problemvielfalt in funktional differenzierten Gesellschafen nicht mehr bewältigen. Würde man umgekehrt die Output-Seite maximieren, würde sich die Politik gegenüber den Bürgerinnen und Bürger verselbständigen, abkoppeln und jeglicher Kontrolle entziehen. Etwas zugespitzt formuliert bestand der Legitimationsmodus der Europäischen Union bis zur unvollendeten institutionellen Reform von Nizza im Jahr 2000 mehrheitlich aus Output-Verfahren. Mit der zunehmenden Machtfülle der supranationalen Ebene seit dem Vertrag von Maastricht wird dieser Legitimati-
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onsmechanismus kritisiert und eine Stärkung von Verfahren der Input-Legitimation gefordert (Greven 2002; Huget 2007, 13ff.). Eine Stärkung der Input-Verfahren bedeutet, dass die europäische Politikgestaltung stärker und unmittelbarer an den Willen der Repräsentierten zurückgebunden wird. Als Folge des europäischen Mehrebenensystems kann dies auf der supranationalen, der nationalen und der regionalen / lokalen Ebene erfolgen. Infolge der Prozesshaftigkeit von Politikgestaltung sind zudem die unterschiedlichen Stadien des Inputs, Throughputs und Outputs zu unterscheiden, bei denen demokratische Verfahren ansetzen können. Eine dritte Unterscheidung betrifft schliesslich die Instrumente respektive Verfahren selbst, die jeweils zur Anwendung gelangen könnten und von Holger Huget (2007, 301ff.) in seiner umfangreichen und gehaltvollen Arbeit besprochen werden. Unter öffentlichkeitssoziologischen Gesichtspunkten sind so Verfahren zu unterscheiden, die parlamentarische Öffentlichkeiten, deliberative Versammlungsöffentlichkeiten oder massenmediale Öffentlichkeiten stärken. Input / Agendagestaltung EU-Ebene
(Initiativrecht Europäisches Parlament)
Nationale Ebene
Initiativrecht nationaler Parlamente
Regionale Ebene
Throughput / Politikformulierung
Output / Umsetzung (Europäische Referenden)
Rückkoppelung Ministerratsentscheide an nationale Parlamente Zivilgesellschaftliche Beteiligung
Tabelle 22: Instrumente zur Demokratisierung der EU nach Politikebenen und Phasen im Prozess der Politikgestaltung Die Überlegungen, in welche Richtung sich nun die Europäische Union demokratisieren liesse, sind nun einerseits vor dem Hintergrund fehlender Strukturelemente einer europäischen Öffentlichkeit (europäische Medien, europäische intermediäre Akteure, europäischer Demos) und anderseits unter Berücksichtigung der oben skizzierten Diskursregularitäten im europäischen Kommunikationsraum (insbesondere strukturelles Öffentlichkeitsdefizit an der Input-Seite, nationale Veto-Öffentlichkeiten, konfliktinduzierter Antagonismus nationaler Widerstandssemantik und europäischer Forderungsrhetorik sowie Dominanz nationaler Identität, Nationalpartikularismus der Parteien sowie ambivalente Regierungskommunikation) zu reflektieren. Als Vektorprodukt all dieser Elemente ergibt sich die Einsicht, dass eine dem Nationalstaat analoge Parlamentarisierung auf der supranationalen Ebene
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nicht in Frage kommt, und zwar vor allem deshalb, weil der europäische Kommunikationsraum in nationale Veto-Öffentlichkeiten segmentär differenziert ist und Parteien am nationalstaatlichen Elektorat orientiert sind. Weitreichende Entscheidungen, die von einem mit mehr Kompetenzen ausgestatteten EUParlament gefällt würden, könnten in Ländern, in denen sich aktive VetoÖffentlichkeiten formieren, nicht mit Akzeptanz rechnen und würden zu Bestand gefährdenden Spannungen mit der Mehrheit führen. Zudem wird das Europäische Parlament von den Medien als Akteur bisher kaum beachtet. Allenfalls könnte überlegt werden, das EP an der Input-Seite der Politikgestaltung zu stärken, indem es mit einem Initiativrecht für Gesetzesvorlagen ausgestattet würde. Dies würde nicht nur die allzu oft leeren Stühle im Parlament wieder stärker besetzen, bei gezielter Konfliktinszenierung würde zudem eine mediale Öffentlichkeit anspringen und europäischer Politikgestaltung bereits in Phasen der Agendagestaltung Publizität verschaffen. Eine weitere Möglichkeit zur Stärkung der Input-Seite auf der supranationalen Ebene könnte in der Einführung von europäischen Referenden für vergemeinschaftete Policies bestehen. Für die Emergenz einer europäischen Öffentlichkeit wäre allerdings entscheidend, dass die nationalen Abstimmungen zeitgleich erfolgen würden. Dazu gilt es allerdings zu bedenken, dass wohl nur wenige Akteure über die nötigen Ressourcen für Abstimmungskampagnen verfügen und dass europäische Referenden in der Tendenz die gut organisierten Interessen der Wirtschaft zulasten zivilgesellschaftlich organisierter Interessen begünstigen würden. Aufgrund der strukturellen Beschaffenheit transnationaler Diskurse über europäische Angelegenheiten sehe ich das grösste Potenzial in der Stärkung von Input-Verfahren auf der nationalen Ebene. Vorauszuschicken gilt es freilich, dass die Einführung der Verfahren und Instrumente hierzu nicht von der EU verordnet werden können, sondern dass dies von den nationalen Instanzen selbst auszugehen hat. Ein europäischer Diskurs darüber wäre aber sicher förderlich. Als Kerngedanke zur Stärkungen von Input-Verfahren auf der nationalen Ebene bildet die Einsicht in das Zusammenspiel zwischen nationalen Veto-Öffentlichkeiten und Policy-Lernen auf der supranationalen bzw. intergouvernementalen Ebene. Wo nationale Regierungen und Parlamente das letzte Wort zu europäischer Politikgestaltung haben, lässt sich innenpolitischer Widerstand mobilisieren, der die eigene Regierung auf eine verbindliche Position programmiert und somit Regierungspositionen an die nationalen Parlamente rückkoppeln lässt. Dieses Verfahren wird heute bereits praktiziert in Dänemark, indem das Parlament die Regierung vor Ministerratssitzungen jeweils mandatiert218 und etwas weniger ausgeprägt in Grossbritannien. Man könnte sich ausserdem überlegen, 218
NZZ am Sonntag, 7.6.2009, „Das EU-Parlament taugt nicht als Bühne der Demokratie“.
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auch die nationalen Parlamente mit einem Initiativrecht für Gesetzesvorlagen auf europäischer Ebene auszustatten, ähnlich wie in der Schweiz Kantone über ein Initiativrecht auf Bundesebene verfügen. Eine letzte Möglichkeit zur stärkeren Anbindung der Entscheidungsbetroffenen an europäische Politikgestaltung, die sich, wie gesagt, unter Bedingungen fehlender Strukturelemente einer europäischen Öffentlichkeit und den beschriebenen Diskursregularitäten, prima vista anbietet, sind partizipative Deliberationsverfahren unter Einschluss der Zivilgesellschaft zur Umsetzung von Richtlinien (Gesetze) auf der Ebene der Regionen und den Gemeinden (Kommunen). Auf diese Weise wird Europa auch im Nahbereich der Lebenswelt gestaltbar, auch wenn es lediglich, aber immerhin um die passende Umsetzung von allgemeinen Richtlinien an die lokalen Gegebenheiten handelt. Das erzeugt Versammlungsöffentlichkeiten und schafft ein Potenzial für eine Identifikation mit dem politischen Gemeinwesen der Europäischen Union. Diese kursorischen Ausführungen sind freilich nur provisorischer und tentativer Natur. Sie geben aber eine Richtung an, wie eine Demokratisierung der EU unter Bedingungen einer limitierten europäischen Öffentlichkeit und einer nur rudimentär ausgebildeten kollektiven europäischen Identität möglich sein und aussehen könnte. Eine umfassende Parlamentarisierung auf der supranationalen Ebene ist nachrangig, sie kann angegangen werden, wenn Demokratie „von unten“ Schritt für Schritt erprobt worden ist und sich bewährt. Dabei gilt es freilich ebenso zu berücksichtigen, dass der Katalog möglicher Streitfragen, die sich auf demokratische Art und Weise überhaupt behandeln lassen, aktuell sehr begrenzt ist. Nur regulatorische Policies oder Fragen, welche die Polity der Europäischen Union betreffen, können überhaupt in Betracht gezogen werden. Distributive und noch viel weniger redistributive Streitfragen können solange nicht Gegenstand einer europäischen Demokratie sein, wie konfliktinduzierte Auseinandersetzungen entlang nationaler Grenzen verlaufen und die nationalen Identitätskonstruktionen europäische dominieren und im Konfliktfall völlig verdrängen. Implikationen für die Schweiz Die Kluft zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ist seit der Supranationalisierungsphase nicht breiter, sondern tiefer geworden. Einerseits sind die Länder der Europäischen Union für die Schweizer Wirtschaft zentral, indem rund zwei Drittel aller Exporte in den Wirtschaftsraum der EU fliessen und fast
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85 Prozent aller Waren von dort importiert werden,219 andererseits bestehen mit dem Freihandelsabkommen von 1972, den bilateralen Verträgen I (1999) und den bilateralen Verträgen II (2004) weitereichende sektorielle Verflechtungen.220 Trotz dieser wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen sind die Differenzen auf der Ebene kollektiver Identitätszuschreibungen grösser geworden. Zum einen besteht eine virulente Perzeption einer Kolonialisierungsgefahr aus Brüssel, die von der nationalkonservativen Rechten immer noch erfolgreich bewirtschaftet wird und zu der bis dato kein definitionsmächtig gewordener und anschlussfähiger Gegenentwurf existiert. Damit verbunden ist eine Negativtypisierung der EU als bürokratische Fehlkonstruktion, Freiheit unterdrückender und gleichmachender Superstaat sowie als Kartell der Hochsteuerländer, die es auf den Wohlstand und Reichtum der Schweiz abgesehen haben. Diese Negativtypisierungen kontrastieren mit einem im Sonderfallverständnis der Schweiz wurzelnden Entwurf einer selbstbestimmten, freiheitsliebenden, aber auch widerspenstigen und introvertierten Berglerrepublik und Willensgemeinschaft, die sich gegen fremde Mächte, Vögte und Richter ständig zur Wehr setzen und behaupten muss. Zum anderen muss die Schweiz zur Kenntnis nehmen, dass die anderen um sie herum immer weniger bemüht sind, die ehemals freundschaftlich gepflegten Beziehungen mit der Schweiz hervorzustreichen. Stattdessen wird der Schweiz vorgehalten, sie sei ein egoistischer Rosinenpicker sowie eine unkooperative und verbrecherische Steuerfluchtburg, die sich auf Kosten der anderen bereichere. Die Analyse eines mehr als sechzig Jahre umfassenden Berichterstattungszeitraums von Schweizer Medien belegt eindrücklich, dass die Schweiz immer dann in Konflikt mit dem Ausland gestanden ist, wenn es um Banken, Bankgeheimnis, Steuerflucht, Geldwäscherei oder Potentaten-Gelder, also irgendwie um den Finanzplatz ging. Vor diesem Hintergrund lässt sich relativ leicht ausmalen, dass der bilaterale Weg der Schweiz nicht nur steiniger und konfliktreicher, sondern auch mit steigenden Opportunitätskosten verbunden sein wird. Erstens entwickelt sich die EU auf dem Pfad ihrer Integration weiter. Bereits heute wird sie in der Schweiz als Akteur auf verschiedensten Politikfeldern wahrgenommen, der über weitreichende Kompetenzen verfügt. Dem Credo des gemeinsamen Binnenmarkts und der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Mitgliedstaaten verpflichtet, wird die EU ein regulatorisches Gefälle gegenüber der Schweiz (und anderen Drittstaaten) errichten, das den Marktzutritt für Schweizer Unternehmen in den europäischen Wirtschaftsraum trotz bilateraler Verträge zunehmend erschweren wird (vgl. 219
Vgl. dazu „Beziehungen Schweiz – EU“, Stand November 2007, Economiesuisse, http://www.economiesuisse.ch/web/de/themen/aussenwirtschaft/schweiz_eu/Seiten/default.aspx. 220 Der Aussenpolitische Bericht des Bundesrats 2009 zählt rund 20 Hauptverträge und etwas mehr als 100 Nebenverträge.
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auch Höpner / Schäfer 2007). Infolge der demografischen Entwicklung und der prekären Finanzierung der Sozialwerke einerseits, aber auch wegen der hohen Neuverschuldung im Zug der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise andererseits wird zweitens der fiskalpolitisch motivierte Kampf gegen Steuerflucht anhalten. Drittens wird sich mit der zunehmenden Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit auch ein europäisches Moralbewusstsein herausbilden, das im Widerspruch zu nationalpartikulären Moralvorstellungen des Sonderfallverständnisses der Schweiz steht. Wie am Beispiel der steuerethisch begründeten Kriminalisierung der Steuerhinterziehung erkennbar, gewinnt diese Moral umso mehr an Gewicht, je mehr sie sich in ein sich globalisierendes Moralbewusstsein einbetten kann. Diese Entwicklungen werden zwangsläufig zu weiteren Konflikteskalationen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union führen, vor allem auf jenen Politikfeldern, die aus Sicht der EU die finanzielle Ertragskraft ihrer Mitgliedstaaten zu schmälern drohen. Da die Schweiz nicht zum Gazastreifen Europas werden will noch kann, wird der Preis, den die Schweiz für den bilateralen Weg zu bezahlen hat, bald schon zu hoch sein.221 Heisst die Alternative zum Bilateralismus deshalb EU-Beitritt? Eine intellektuell redliche Antwort kann nur lauten: Das kann man zum heutigen Zeitpunkt noch gar nicht wissen! Man kann es deshalb nicht wissen, weil in der Schweiz kein ernstzunehmender europapolitischer Diskurs stattfindet, der unterschiedliche Perspektiven und Alternativen überhaupt erst entstehen und weiterentwickeln lässt. Dieser Diskurs müsste in Szenarien angelegt sein und die vielfältigsten Fragen, die sich aus dem Sonderfallverständnis wie aus der pragmatischen Einsicht in gute Wirtschaftsbeziehungen ergeben, kontrovers reflektieren. Die herkulische Herausforderung wird sein, all die Widersprüche und Dissonanzen auszuhalten, weiter zu denken und zu synthetisieren und den Diskurs nicht vorschnell abreissen zu lassen. Aber dieser Diskurs wird kommen. Und mit diesem Diskurs wird die Schweiz in eine fundamentale Identitätskrise geraten. – Was am Ende herauskommt, man kann es heute noch nicht wissen. Vielleicht eine freiheitliche Vision für Europa aus der helvetischen Demokratiewiege Europas? 7.5 Forschungsdesiderata Im Hinblick auf eine Demokratisierung der Europäischen Union scheint mir ein Abbau des kulturalistisch begründeten Öffentlichkeitsdefizits die conditio sine qua non schlechthin zu sein. Ohne europäisches Zusammengehörigkeitsbewusst221
Auch der Bundesrat erkennt im Aussenpolitischen Bericht 2009 die "Grenzen des bilateralen Wegs".
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sein unter Fremden der europäischen Länder und ohne Identifikation der Bürgerinnen und Bürger dieser Länder mit dem politischen Gemeinwesen der Europäischen Union ist eine Demokratisierung der EU im Sinn einer Stärkung des europäischen Parlaments oder der Einführung plebiszitärer Instrumente auf europäischer Ebene nicht möglich, ohne bestandgefährdende Spannungen zu riskieren. Denn ohne einen europäischen Gemeinsamkeitsglauben sind Mehrheitsentscheide für unterlegene Minderheiten selbst dann inakzeptabel, wenn sie über genügend Input-Legitimation verfügen würden. Wie also entsteht ein europäischer Gemeinsamkeitsglauben, ein europäisches Zusammengehörigkeitsbewusstsein oder auch nur eine Identifikation mit der europäischen Polity? Es wurde argumentiert, dass dies möglich sei, wenn Probleme in Europa gemeinsam gelöst werden und dabei die Europäische Union als kompetente Problemlösungsgemeinschaft wahrgenommen werden kann. Aufgrund der fortgeschrittenen Integration und Interdependenz zwischen den Mitgliedern der Europäischen Union scheint die Erwartung nicht unrealistisch, dass Probleme in Europa und der Welt vermehrt als Probleme der Europäischen Union zu institutionalisieren versucht werden. Dies freilich schafft Konflikt, und wie die Untersuchungen dieser Arbeit gezeigt haben, ist es der Konflikt, der Öffentlichkeit anspringen und zugleich kollektive Identitäten konstruieren lässt. Aber solche Identitätskonstruktionen sind ambivalent: Sie provozieren nationale Animositäten dort, wo eine Ursache des Problems oder ein Hindernis einer Problemlösung gesehen wird, und sie befördern einen „European sense of common“ dort, wo ein Problem gemeinsam einer europäischen oder womöglich globalen Lösung zugeführt werden will. Die m. E. neuen Erkenntnisse, die diese Arbeit generiert hat, sind zwar theoriegeleitet, sie sind aber empirisch noch zu wenig breit abgestützt. Was in weiterer Forschungsarbeit angezeigt ist, ist eine Weiterentwicklung und Verfeinerung der These, wonach konfliktinduzierte Auseinandersetzungen in Europa zu ambivalenten Identitätskonstruktionen führen. Dass transnationale Interdiskursivität bereits ausreichend besteht, wenn man europäische Kommunikationsereignisse untersucht, scheint mir hingegen unbestritten zu sein. Aber der Zusammenhang, wie sich europäische Identität unter Konfliktbedingungen ausbilden und auf Dauer neben nationaler Identität entfalten kann, ist noch mehr mit Fragezeichen, denn mit einem Ausrufezeichen versehen. Dies erfordert eine theoretische Konzeptionalisierung und viel empirische Untersuchung. Abschliessend sollen die Eckwerte skizziert werden, wie ein solches Unterfangen aussehen könnte. Die im theoretischen Teil dieser Arbeit entwickelte Konflikttypologie lässt sich unter Berücksichtigung der Sozialstruktur moderner Gesellschaft differenztheoretisch weiterentwickeln und mit dem Konstruktionskonzept von Identitätsund Differenzsemantiken verbinden (vgl. auch Imhof 2009, 147ff.). In nationalen
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Gesellschaften werden nicht nur nationale kollektive Identitäten (re)produziert; infolge der segmentären, funktionalen und stratifikatorischen Differenzierung der Sozialstruktur existieren auch Minderheitenidentitäten ethnischen Typs, kulturell und religiös definierte Identitäten oder spezielle Lebensstilidentitäten, weitere Identitäten, die sich stärker funktional über eine Systemzugehörigkeit definieren und schliesslich Identitäten, die über Schichtzugehörigkeit definiert sind. Entlang dieser Dreifachdifferenzierung lassen sich auch die Konflikttypen differenzierungstheoretisch unterscheiden. Ländersamples misstrauisch zuversichtlich Mitglied Drittstaat westeuropäisch osteuropäisch
Krise
Zivilisierte Konflikte
Wirtschaftskrisen Orientierungskrisen
(EU-intern und mit Drittstaaten) Segmentär Funktional Stratifikatorisch Religionskonflikte, MarktSchichten- und MehrheitenStaatKlassenkonflikte MinderheitenKonflikte Konflikte
Fundamentalkonflikte Bürgerkriege
Zwischenstaatliche Kriege
Tabelle 23: Erweiterte Typologie von Krisen- und Konfliktdebatten Die meisten Auseinandersetzungen in der Europäischen Union sind wohl als zivilisierte Markt-Staat-Konflikte zu bezeichnen, wobei die Konfliktlinie entlang einer Regulierungsfrage verläuft. Auch die „Zinsbesteuerungsdebatte“ ist im Prinzip ein typischer Markt-Staat-Konflikt, der aber entlang nationaler Grenzen zwischen Hochsteuerländer und Steueroasen geführt wird. Das zeigt, dass die Unterscheidung idealtypischer Natur ist, denn in Wirklichkeit dürften die Konfliktdebatten wohl Mischformen sein. Neben Markt-Staat-Konflikte sind Konflikte kulturellen, religiösen und ethnischen Typs zu unterscheiden; ebenso Konflikte, bei denen die Konfliktlinie zwischen verschiedenen Schichten und Klassen verläuft. Entsprechend gilt es nun, europäische Debatten auszuwählen, die sich den verschiedenen Konflikttypen zuordnen lassen und dabei zu untersuchen, ob und wie sich die verschiedenen Identitätstypen europäisieren und in welchen Spannungsverhältnissen sie zur primären Identitätskonstruktion stehen. Ein Beispiel für einen kulturellen-religiösen Konflikt ist der MohammedKarikaturen-Streit von 2006. Beispiele für andere Konfliktdebatten segmentären Typs sind die Debatten über einen EU-Beitritt der Türkei (vgl. Leggewie 2004) oder der Ukraine. Unter stratifikatorische Konflikte fallen beispielsweise die Managerlohndebatten, wo zwischen der Kaste der Manager und den Normalverdienern unterschieden wird (Schranz/ Vonwil 2007). Weitere Debatten, die im
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Hinblick auf die Ausbildung europäischer Identitätskonstruktionen aufschlussreich zu sein versprechen und dem funktionalen Konflikttypus zuzuordnen sind, ist die institutionelle Verfassungsdebatte nach den ablehnenden Verfassungsvertragsreferenden in Frankreich und den Niederlanden. Neben diesen dreifach differenzierten Konflikten im engeren Sinn können Krisendebatten unterschieden werden, bei denen die institutionelle Ordnung wie die zentralen Leitbilder von Gesellschaftsmodellen insgesamt zur Disposition stehen. Hier drängt sich ein Vergleich der Debatten über die Wirtschaftskrisen Mitte der 1970er-Jahre und der aktuellen Finanz- und Wirtschaftkrise geradezu auf. Bekanntlich ist die Europäische Union im Zuge der Wirtschaftkrise der 1970er-Jahre von einer Eurosklerose infiziert worden; nun wäre es interessant zu wissen, wie sich die Situation von heute gegenüber der damaligen unterscheidet. Schliesslich können neben Krisen und zivilisierten Konflikten Fundamentalkonflikte entlang der Unterscheidung Bürgerkriege und zwischenstaatliche Kriege hinsichtlich der Konstruktion europäischer Identität untersucht werden (vgl. Lucht/ Tréfás 2006). Dabei sind Konflikte ins Auge zu fassen, die in Europa stattfinden (oder stattgefunden haben) – wie die Balkankriege oder die Auseinandersetzungen im Kalten Krieg; es können aber auch Kriegsdebatten über Kriege untersucht werden, deren Schauplatz wie im Irak oder in Afghanistan woanders liegt. Dies ist der Fächer einer in der Sozialstruktur moderner Gesellschaften verankerten Typologie von Krisen- und Konfliktdebatten. Dabei versteht es sich von selbst, dass das erweiterte Untersuchungsdesign diachron angelegt sein und weitere synchrone Unterscheidungen auf der Ebene der Ländersamples zulassen muss. Beispielsweise sind Identitätskonstruktionen zu unterscheiden zwischen EU-misstrauischen bzw. -skeptischen und EU-zuversichtlichen Ländern. Eine weitere Unterscheidung besteht in EU-Mitgliedstaaten und europäischen Drittstaaten. Schliesslich kann zwischen westeuropäischen und osteuropäischen Staaten unterschieden werden. In allen Unterscheidungen lassen sich die Konstruktionsleistungen letztlich auf die Ebene der einzelnen Sprechertypen herunter brechen und auf diese Weise die Sprechertypenprofile hinsichtlich deren Leistung zur Konstruktion eines gemeinsamen Europas oder eines auf sich bezogenen Nationalpatriotismus schärfen.
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