Viele bekannte und einige (noch) unbekannte Autorinnen und Autoren erzählen Ihnen Geschichten, die Sie nicht mehr loslassen werden: phantastisch-morbide-skurril-mystisch-gruselig. Es erwarten Sie aber auch ein paar Minuten Besinnlichkeit, Humor und Satire in der neuen VirPriV-Reihe
Dunkle Stunden In dieser Ausgabe »Tod eines Satanisten« – Band II sorgen für schlaflose Nächte: Kuno Liesegang * Ingo Löchel (Morgan de Clerk) * Timothy McNeal Stefan Melneczuk * Gerald Meyer * Michael Mittelbach Jens Neuling * Curtis Nike * Stephan Peters * Robsie Richter Irene Salzmann * Malte S. Sembten Michael Siefener mit Marien Munsonius * Christel Scheja Karl-Heinz Schreiber * C. J. Walkin (Christian Reul) Peggy Wehmeier * Monika Wunderlich * Wolfgang Zimmer Und noch mehr gibt es in »Tod eines Satanisten« – Band I ISBN 3-935327-13-7 Hans-Joachim Alpers * Alexander Amberg * Eddie M. Angerhuber Dieter J. Baumgart * Rhys Simon Beck * Alfred Bekker Ines Bouhannani * Kai Engelke * Monika Fischer * Irene Fleiss Andreas Gruber * Ronald M. Hahn * Frank W. Haubold Antje Ippensen * Greta Kadereit * Markus Kastenholz Boris Koch * Hildegard Kohnen
Tod eines Satanisten – Band II … und andere phantastischmorbide-skurrile Stories
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Tod eines Satanisten: … und andere phantastisch-morbide-skurrile Stories - Bad Oeynhausen: VirPriV-Verl. (VirPriV-Reihe Dunkle Stunden) Bd. 2.- 1. Aufl. – 2001 ISBN 3-935327-14-5
1. Auflage August 2001 „Tod eines Satanisten – Band II … und andere phantastisch-morbide-skurrile Stories“ aus der VirPriV-Reihe Dunkle Stunden © bei allen Autorinnen und Autoren © Monika Wunderlich VirPriV Verlag, 32549 Bad Oeynhausen eMail:
[email protected] Fax: 05731 755491 www.virpriv.de Umschlaggestaltung: Rainer Schorm 79114 Freyburg Fax: 0761 4703775 eMail:
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[email protected] Es wird auf Wunsch der Autorinnen und Autoren die alte und die neue Rechtschreibung berücksichtigt. Printed in Germany ISBN 3-935327-14-5
Vorwort Als ich Ende Februar/Anfang März 2001 die ersten Briefe auf die Reise schickte, hatte ich ja keine Ahnung, ob ich überhaupt genügend Texte erhalten würde. Ich wollte für eine Anthologie Autorinnen und Autoren gewinnen, aber ich wollte sie mir selbst aussuchen – sie sollten „handverlesen“ sein. Und zu meiner großen Freude haben fast alle geantwortet und mir eine reiche Auswahl zum breiten Thema „Mystik-Horror-Utopie-Phantastik“ geschickt, so daß ich statt einer schmalen Broschüre nun mit einer zweibändigen neuen VirPriV-Reihe DUNKLE STUNDEN starte. Dafür möchte ich mich bei allen ganz herzlich bedanken. Nach Durchsicht aller Unterlagen war ich aber dann doch der Meinung, daß die Leserinnen und Leser einfach ab und zu einmal durchatmen, sich beruhigen und zurücklehnen sollten. So habe ich zwischen den vielen nervenaufreibenden Stories ein wenig blutdrucksenkenden Humor, Nachdenkliches und auch Satire eingeflochten. Damit sich keine Autorin und kein Autor benachteiligt fühlen sollten, wählte ich die alphabetische Reihenfolge beim Setzen der Texte. Den vorgesehenen Erscheinungstermin konnte ich erstmals nicht einhalten: Mein Umzug (fast 700 Kilometer von Bayern nach Bad Oeynhausen) war nicht in dieser Eile geplant, eine langwierige Erkrankung kam dazwischen, mein Computer und der Bildschirm protestierten nach der langen Umzugsfahrt etc. Im neuen Reich herrschte das Chaos – alles passend zur Horror-Anthologie. Für diese Verspätung möchte ich mich bei meinen Autorinnen und Autoren entschuldigen und mich für Ihr Verständnis bedanken. Ihre Monika Wunderlich
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort Inhaltsverzeichnis
5 6
Kuno Liesegang SCHATTEN, DIE DER WIND ZERTEILT
8
Ingo Löchel (Morgan de Clerk) LONE WOLF
16
Timothy McNeal LETZTER AUFRUF SAISONBEGINN II
24
Stefan Melneczuk HARDSONS LETZTER SONG
30
Gerald Meyer DER TUMOR-MANN
51
Michael Mittelbach ALPTRÄUME
60
Jens Neuling TOD EINES SATANISTEN
67
Curtis Nike FLEISCHWERDUNG
70
Stephan Peters COOL JAZZ
74
Stephan Peters DARKROOM
80
Robsie Richter LIEBE GEHT DURCH DEN MAGEN
87
Irene Salzmann DREH DICH NICHT UM, DER VLADY GEHT UM
95
Malte S. Sembten KINDERBESCHERUNG
103
Michael Siefener Marten Munsonius LASS DICH VOM BÖSEN NICHT GLAUBEN MACHEN…
115
Christel Scheja DIE SAGE VOM GOLDENEN NIET
125
Karl-Heinz Schreiber DIE STATIONÄRE PROVOKATION
132
C. J. Walkin (Christian Reul) DER RADLERKÖNIG
139
Peggy Wehmeier GEDANKEN EINER FAST PERFEKTEN (HAUS)FRAU
144
Wolfgang Zimmer SHOPPING
151
Monika Wunderlich ICH WÜNSCHTE…
156
Kuno Liesegang Geboren 1960 in Koblenz, wohne als freier Autor, Journalist, Herausgeber und Lektor seitdem in einem Vorort von Köln – mit meiner Katze Monta. Von 1993 bis 1996 Herausgeber des monatlichen erscheinenden Magazins FACTS AND VISIONS. Außerdem veröffentlichte ich mit ALBEDO 0,39 eine SF- und Fantasy-Anthologie, mit Beyond eine Storysammlung mit HorrorErzählungen und zwei Ausgaben der Lyrikreihe SCHATTENSPLITTER. Erzählungen von mir erschienen in IRRLICHTER 3 UND NOCTURNO, Lyrics in SCHATTENSPLITTER und in TÄNZER. Für die Comicpage SPLASHPAGES (www.splashpages.de) schreibe ich regelmäßig Artikel und Rezensionen für den Manga-Bereich, den ich auch redaktionell betreue. In ÄON INTERN veröffentlichte ich mehrere Artikel zu den Themen Comic und Film. In Planung ist ein Lexikon zum Thema Manga. Im Jahr 2000 war ich nominiert für den ÄON-Preis für Kreativität als Layouter, Verfasser von Internet-Artikeln und Lektor. Privat liegen meine Interessen vorwiegend bei allem, was mit Phantastik in Film, Buch und Comic zu tun hat. Ein Schwerpunkt liegt aber bei Mangas und Animes, den japanischen Comics, Filmen und TVSerien. Auch die japanische Kultur fasziniert mich sehr. Webdesign ist ein weiteres Thema, das mich beschäftigt. 2000 absolvierte ich einen sechsmonatigen Webdesign-Kurs.
Beim Arbeiten am Computer und beim Lesen brauche ich immer Musik; bevorzugt höre ich Hardrock, Funk, Soul, aber auch Klassik, Free Jazz und Filmmusiken, aber auch viele andere Musikrichtungen. Ich schätze hin und wieder eine gute Flasche Rotwein, die Zeichnungen von Sara Moon, die Romane und Erzählungen von Tanith Lee, Alan Dean Foster, Akif Pirincci, Whitley Strieber, Clive Cussler, Elizabeth Scarborough, John Brunner, Patrick Süskind und Clive Barker, um nur einige zu nennen.
Kuno Liesegang SCHATTEN, DIE DER WIND ZERTEILT
Die Dunkelheit lag wie ein dichtgewebtes Tuch über der kaum beleuchteten Straße und dem Wald, der die Straße zu beiden Seiten säumte. Die Finsternis zeigte ihr melancholisches Antlitz und griff mit klammer Hand nach dem jungen Mann, führte ihn die Grenze entlang zwischen Wald und Asphalt. Aus der tiefen Nacht unter den Baumwipfeln drang klare, frische Luft in seine Atemwege, vertrieb die Alkoholnebel und legte die Erinnerung an einen schönen Abend frei. Er lächelte. Der letzte Bus war auch deshalb ohne ihn gefahren, da er die ihn immer wieder reizende Atmosphäre seiner Stammkneipe diesmal länger hatte genießen wollen. Nun ging er durch die einsame Landschaft nach Hause; er kannte den Weg auch im Dunkeln gut, ab und zu wurde es eben später, als er es sich ausgemalt hatte. In unregelmäßigen Abständen durchschnitten Scheinwerferkegel die Nacht, bewegten sich schnell in die Richtung, in die er seine Schritte lenkte. Dann hob er den Daumen in die kurz aufgehellte Finsternis, doch das Licht huschte vorbei und zwei rote Fixpunkte verloren sich vor ihm in der Ferne, während er schon weiterging. Die Wagen, die in der folgenden Stunde diese Einbahnstraße ins Nichts – denn so sah er
die Asphaltstrecke, die Nacht impfte ihm seltsame, erschreckende und freudige Gedanken ein – benutzten, hielten auch nicht an und er glaubte die Abneigung der Menschen in den Autos zu spüren. Und diese Abneigung roch interessanterweise wie die Ausdünstungen der Blechkarossen, und bei diesem Gedanken wurde ihm ein wenig übel und die Alkoholnebel wallten wieder auf, wurden aber von der klaren Luft schnell vertrieben. Er besaß kein Auto, denn die Abgase zerstörten zu einem großen Teil die Umwelt, meinte er. Doch manchmal mußte er sich eben überwinden, und wenn jetzt jemand anhalten würde, gäbe es kein Zögern, er würde einsteigen und mitfahren, denn er hatte noch lange zu gehen. Das statische Geräusch des Windes, der durch die Baumwipfel strich, wirkte ermüdend auf ihn, langsamer wurden seine Schritte, seine schmerzenden Füße erzählten von den schon zurückgelegten Kilometern. In das zarte Rauschen des Windes drängte sich plötzlich und unerwartet ein neues Geräusch, stetig ansteigend, zwei helle Punkte durchteilten die schimärengleiche Finsternis, kamen rasch näher. Der junge Mann aber reagierte nicht, die Hoffnung war gegangen, davongeweht von dem schmutzigen Geruch der menschlichen Abneigungen. Er ging weiter, das Auto – ein Sportwagen mit zurückgeklapptem Stoffverdeck – überholte ihn und blieb dann gut dreißig Meter weiter stehen. Er beschleunigte seine Schritte und als er die Stelle erreichte, wo das Fahrzeug angehalten hatte, fragte eine Stimme aus dem Wageninneren: „Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?“ Überraschung zeichnete klar erkennbare Linien auf seinem Gesicht, denn die anmutigen Augen einer Frau sahen ihn an.
Als sie über die Brücke aus der Stadt hinausfuhr, schien sie freier atmen zu können, ein diffuser, auf ihr lastender Druck wich nach und nach und verschwand schließlich. Sie genoß den sie erfrischenden Fahrtwind und den würzigen Duft des Waldes, als sie in ihrem schnellen Sportflitzer die nachtdunkle Straße befuhr. Und dann bemerkte sie im Licht ihrer Scheinwerfer den Mann, der am Fahrbahnrand in die gleiche Richtung ging, der sie e-
benfalls zustrebte. Sie hielt an, nachdem sie den nächtlichen Wanderer schon überholt hatte, an und wartete, bis er sie einholte. „Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?“ fragte sie dann den jungen Mann und sah ihn dabei an. Mit leiser innerer Belustigung erkannte sie die Überraschung auf dem Gesicht ihres Gegenübers.
Nun sahen die stummen Augen des an der Frontscheibe zerschellenden Fahrtwindes zwei einsame Gesichter, und seine schnell verwehenden (Zonen der Apokalypse) und sich wieder manifestierenden (Zonen der verklärten Ruhe) Ohren lauschten den Fetzen einer zähflüssigen und mühsam geführten Unterhaltung. „Es war ein schöner Abend.“ Die Worte des Mannes schienen Feststellung und Frage zugleich zu sein, die Laute transformierten zu einem unhörbaren, ekliptischen Echo. Die Frau nickte. „Ja.“ Sie hat den trägen Versuch einer Konversation also als Frage aufgefaßt, dachte der Wind und lächelte. „Ja, es war gut heute“, tropfte es müde von den Lippen des Beifahrers. Die Frau schenkte ihm einen kurzen Blick und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. Der Mann bemerkte es. Sieht echt gut aus, dachte er und dieser Gedanke trieb eine leichte Hitze in seine Lenden. Und mit Erstaunen registrierte er, daß er überlegte, wie er die Frau zum Anhalten bewegen könnte. Das Bedürfnis zu urinieren stellte sich nicht ein, obwohl er es sich wünschte. Der Wind las die Gedanken des Mannes in dessen Gesicht. Der Wind ahnte, was geschehen würde, und er beobachtete, manifestierte seine imaginären Augen mal vor dem Wagen, mal zwischen den Bäumen. Plötzlich huschte ein flüchtiger Schatten aus der Finsternis des Waldes hervor auf die Straße, wurde von dem Licht der Scheinwerfer aus der Umhüllung der Nacht gerissen. Die Frau reagierte instinktiv,
bremste und die Reifen hauchten einen Teil ihrer Substanz auf den Asphalt. Dann stand der Wagen und die Frau und der Mann blickten dem Schatten, der eben kurz ein Reh gewesen war, nach, wie er auf der anderen Seite der Fahrbahn wieder in der Finsternis des Waldes verschwand. Sie war erleichtert, er dankbar. „Jetzt brauche ich aber eine Zigarette.“ Sie nickte. „Rauchen Sie?“ Wieder ein Nicken, und der Mann bot ihr eine Zigarette an und gab ihr dann Feuer. Auch seine Glut flammte auf. Sie stieg aus und ging ein wenig hin und her, um ruhig zu werden. Sie fühlte die Spannung, die in der Luft lag. Er stieg auch aus. Die Qualmwolken, die sie in die klare Nacht ausstießen, trieben dem Wind Tränen in die imaginären Augen. Aber er beobachtete weiter. Sie rauchten schweigend, dann fielen zwei glutene Fixpunkte zu Boden und erhitzten kurz den Asphalt, dort wo sie lagen. Die Frau und der Mann atmeten die erfrischende leichte Kühle ein, umhüllt von den nebulösen Auren widersprüchlicher Erwartungen. Über die Glutflecken zu ihren Füßen breitete sich ein dunkles Leichentuch. Der Wind spürte die steigende Spannung immer stärker. Jetzt mußte es geschehen. Und der Voyeur wurde nicht enttäuscht. Der Mann griff nach der Frau, zog sie heftig an sich, preßte seine Lippen auf die ihren und ließ seine freie Hand über den Körper gleiten, fühlte die sanften Erhebungen der Brüste durch den Stoff der Bluse. Aha, es ist soweit, dachte sie und spielte von nun an ihre Rolle in dem Spiel. Knöpfe rissen ab, als die Hand des Mannes den Weg zu ihren Brüsten suchte. Dann streichelte er die nackte Haut, massierte die Brustwarzen, spürte, wie sie hart wurden.
Tu so, als wehrst du dich ein wenig, und sie wand sich in der Umklammerung, die sich daraufhin verstärkte. Sie gab auf, weil es die Regeln so verlangten. Der Mann zog sie in das Dunkel des Waldes, mit entschlossenem Griff, der keine Gegenwehr duldete. Und nur das Auto der Frau zeigte dem Voyeur Wind, der seine Augen wieder öffnete, daß die Menschen noch da waren. Seine Ohren hörten die eindeutigen Geräusche zwischen den Bäumen hervordringen und der Wind lächelte, schloß seine verwehenden Augen. Als er in sie hineinstieß, rhythmisch und fordernd, begann die nächste Runde des Spiels. Und sie würde die Regeln bestimmen. Sie senkte die Lider und ließ es einfach geschehen. Und aus den Zweigen eines nahen Baumes sah der Wind neugierig und lüstern zu. Die Zeit dehnte sich für die Frau zu einer Ewigkeit. Dann – irgendwann – spürte sie den Erguß des Mannes und wie er schließlich aus ihr herausglitt. Sie blieb leicht benommen auf dem Waldboden liegen, dann stand sie auf, brachte ihre Kleidung notdürftig in Ordnung, schloß die Bluse mit den noch vorhandenen Knöpfen. Der Mann stand gegen einen Baum geleimt, sein Atem ging heftig und stoßweise. Sie ging an ihm vorbei zu ihrem Wagen, lächelte ihn dabei an. Sie holte ihre Zigaretten aus der Handtasche, zündete sich eine an und genoß den ersten tiefen Zug. Er stand immer noch an dem Baum und fragte sich, warum sie ihn angelächelt hatte. Das war nicht normal, dachte er. Neu aufkommende Müdigkeit drückte seine Lider herab, doch plötzlich spürte er ihre unmittelbare Nähe und riß die Augen auf. Die Frau hielt ihm eine brennende Zigarette entgegen und er nahm sie, inhalierte tief und verstand ihr Verhalten immer weniger. Und sie lächelte immer noch. „Ich werde jetzt weiterfahren“, sagte sie schließlich, und ihre Worte hallten hohl in die Nacht. „Alleine! Es dürfte dir wohl klar sein, daß ich dich nicht weiter mitnehmen werde. Wenn du die Kraft hattest, mich zu vergewaltigen, dann hast du auch bestimmt noch genug Energie, um zu Fuß weiterzugehen.“
Sie hatte zu einer vertraulicheren Form der Anrede gewechselt, was den Mann noch mehr verwirrte. Auch das gehörte zum Spiel. Sie wandte sich ab und sah aus den Augenwinkeln, daß der Mann nickte. Er stand immer noch an dem Baum, zerschmolz mit den Schatten, die das Mondlicht, das durch das Blätterdach des Waldes sickerte, entwarf. Der Mann schien eine diffuse Ahnung zu sein in der hölzernen Weite, die nur durch das Asphaltband durchschnitten wurde. Als sie ihren Wagen erreichte, blickte sie kurz zurück. „Es war schön.“ Die Worte und ihr Lächeln erreichten den Mann, zeichneten Verwirrung in sein Gesicht. Die Nachtluft fächelte ihr Entspannung zu, kühlte ihre Gedanken. Sie startete, sah noch einmal kurz zu dem Schatten, der sich jetzt langsam in Richtung Straße bewegte, dann fuhr sie los.
Die Frau schüttelte die Erinnerung ab. Sie würde jetzt ihre Dienststelle aufsuchen, die vorgeschriebene Untersuchung über sich ergehen lassen. Schwanger konnte sie nicht werden und gegen Krankheiten war sie auch immun; die Untersuchung war nur Routine, um eventuelle Verletzungen festzustellen. Dann würde sie noch ihren Bericht schreiben, das vorgeschriebene Gespräch mit der Psychologin führen. Sie dachte kurz an den Mann. Er wurde verdächtigt, mehrere Frauen vergewaltigt zu haben. Sie hatte sich ihm zur Verfügung gestellt. Besser, er verging sich an ihr, als an einer anderen Frau. Sie würde ihn weiter beobachten. Sie lebte ein ganz normales Leben in dieser Stadt, und doch unterschied es sich so sehr von den Menschen, die hier wohnten. Die Polizistin beschleunigte den Wagen, die Reifen fraßen Kilometer um Kilometer. Schließlich erreichte die Androidin ihre Dienststelle.
Der Mann ging mittlerweile wieder auf der Grenze zwischen Wald und Asphalt entlang. In seinen Augen nistete immer noch leichte Verwirrung. Er blieb stehen, befreit lachte er und der Wald verschluckte das Geräusch. Der Wind beobachtete die Szene und schüttelte seinen nichtexistenten Kopf Dann verschwand er. Windstille.
Ingo Löchel (Morgan de Clerk) Geboren am 16.07.1968 im Zeichen des Krebses begeisterte ich mich schon als kleiner Junge für das Lesen sowie für Archäologie und Geschichte, was mir später beim Schreiben meiner Kurzgeschichten sehr zugute kam. Im Jahre 1978 ergriff mich durch den Fantasy-Klassiker „Der Herr der Ringe“ von J. R. R. Tolkien sowie den Autor Robert E. Howard die Fantasy-Leidenschaft, die mich seit dieser Zeit nicht mehr losgelassen hat. Etwas später kam ich auch mit dem Horror-Genre in Berührung. Seit dieser Zeit zählen Autoren wie Edgar Allen Poe, H. P. Lovecraft oder Clark Ashton Smith zu meinen Lieblingsschriftstellern. Später kamen Autoren wie David Gemmel, Dean R. Koontz, David Eddings, sowie R. A. Salvatore, und auch genreabweichende Autoren wie Colin Forbes, Jack Higgins, Mickey Spillane oder Paul Harding hinzu. Mit 16 schrieb ich meine ersten beiden Kurzgeschichten, die ich aber leider nicht mehr besitze. 1990 begann dann meine eigentliche Phase des Schreibens, die bis heute anhält. Vorwiegend schreibe ich Fantasy- und Horror-Stories. Doch dieses Jahr habe ich auch meinen ersten Krimi verfaßt. Wenn ich in meiner Freizeit nicht schreibe, gebe ich mich der Leidenschaft des Lesens oder des Malens (Ölfarben) hin und versuche jeden Tag ein bißchen Sport zu treiben als Ausgleich zu meinem Bürojob in der Rechtsabteilung eines Factoring-Unternehmens. Meine Internetadresse: www.online-horror.de
Ingo Löchel (Morgan de Clerk) LONE WOLF
Über das Indianerdorf hatte der Sensenmann bereits sein Todesurteil gesprochen, noch bevor die ersten Einwohner erwachten. Als die Sonne über den Bergen aufging, umstellten etwa 50 Mann, mit langen dunklen Mänteln bekleidet, jeder von ihnen ein Repetiergewehr in Händen, das Dorf. Eine halbe Stunde später war der Ort dem Erdboden gleichgemacht. Keine Menschenseele hatte das Massaker überlebt. Die Schlächter hatten weder Kinder, Babies noch Frauen und Alte verschont. Die Mäntel der Soldaten waren mit dem Blut ihrer Opfer nur so getränkt. Ihre Hände, die Säbel und Bowiemesser umfaßt hielten, waren über und über mit Blut besudelt. Nachdem sie ihr Werk vollbracht hatten, zogen die Männer ihre Mäntel aus, stapelten sie auf einen Haufen und entzündeten ihn. Wie ein Mahnmal zog Sekunden später der Rauch gen Himmel. Doch ihre Opfer hatten die Soldaten bereits vergessen. Die TODESSCHWADRON, wie die Einheit genannt wurde, hatte bereits ihren nächsten Auftrag, den sie mit Freuden ausführen würde.
John Tecumseh Logan besah sich mit einem Anflug des Grauens das zerstörte Dorf. Überall lagen die zerstückelten Leichen der Einwohner am Boden. Kein schöner Anblick. Selbst McErc, der im Bürgerkrieg schon viel erlebt hatte, hatte so ein Gemetzel noch nie vorher gesehen, obwohl die Schlachten zwischen dem Norden und Süden mit erbitterter Härte auf beiden Seiten geführt worden waren. „So eine Schweinerei“, murmelte der Schotte. „Wer hat das getan?“, fragte er Logan.
„Das war die TODESSCHWADRON!“ „Die was?“ „Die TODESSCHWADRON. Eine Eliteeinheit der Nordstaaten, die auf die Vernichtung von Indianerdörfern spezialisiert ist…“ Bevor Logan seinen Satz beenden konnte, bohrte sich plötzlich ein Pfeil nur wenige Zentimeter neben ihn in den Boden. Dann tauchten etwa zwei Dutzend Gestalten auf, die sich als indianische Krieger in voller Kriegsbemalung entpuppten, aus den nahegelegenen Wald. „Sind das Freunde von dir?“ bemerkte McErc. Logan nickte. „Ich hoffe nur, daß sie das noch wissen. Denn ich glaube, im Moment sind sie auf Weiße nicht sehr gut zu sprechen.“ „Kann man ihnen auch nicht übelnehmen, wenn man sich diese Schweinerei betrachtet. Da muß man sich ja schämen, ein Weißer zu sein!“
Lone
Wolf, der Anführer der Überlebenden des Indianerdorfes, schaute die beiden Weißen mit starrer Miene an. Er hatte eine schwere Entscheidung zu fällen. Sollte er sie, die nichts mit dem Massaker auf sein Dorf zu tun hatten töten oder am Leben lassen? Er wußte, daß Tecumseh Logan ein gerechter und ehrlicher Mann und ein Freund der Indianer war, denn schon einige Male hatte er Seite an Seite mit ihnen gekämpft. Nachdem er mit seinen Kriegern beraten hatte, fällte er schließlich eine schwere Entscheidung.
Die Indianer hatten die Verfolgung der weißen Schlächter aufgenommen und sie bis zu ihrem Lager verfolgt. Dort kam es schließlich wie es kommen mußte – ein Kampf auf Leben und Tod entbrannte. Die Weißen, die zwar von den Indianer überrascht worden waren, setzen sich vehement zur Wehr und waren Lone Wolf und seinen Mannen zahlenmäßig weit überlegen. Doch ihre Minderzahl machten die Indianer durch ihren Kampfesmut wett.
Doch während des blutigen Kampfes wurde Lone Wolf gleich von mehreren Kugeln getroffen, die ihn verwundet zu Boden schleuderten. Logan und McErc, die Seite an Seite mit den Indianern gegen die Soldaten der TODESSCHWADRON kämpften, erschossen den Mörder, der im Begriff war einen weiteren indianischen Krieger hinterrücks zu töten. Einem anderen spaltete der Trapper mit seinem Tomahawk den Schädel. Aber auch Angus McErc kannte kein Pardon. Als sein Gewehr leer geschossen war, zog er sein Bowiemesser, stieß es einem der Soldaten in Brust und schleuderte es, nachdem er es aus dem Körper des Toten gezogen hatte, in den Rücken eines weiteren Gegners, der im Begriff war einem Indianer den Schädel mit einem Gewehrkolben zu spalten. Minuten später war der blutige Kampf vorbei. Die TODESSCHWADRON war bis auf den letzten Mann ausgelöscht worden. Keiner der Mörder hatte den Kampf überlebt. Aber auch die Indianer hatten einen hohen Blutzoll bezahlen müssen und ihr Anführer Lone Wolf lag in seinem Blut am Boden.
Noch immer hing Lone Wolfs Leben am seidenen Faden. Der Medizinmann konnte nichts mehr für ihn tun. Schließlich entschlossen sich die indianischen Krieger zu einem gefährlichen Ritual, das seit Jahrzehnten verboten war. Die überlebenden Krieger stellten sich im Kreis um ihren sterbenden Anführer. Dann begannen sie zu singen. Mit der Zeit ging ihr Singen in ein monotones Murmeln über, und sie setzen sich im Schneidersitz um Lone Wolf auf den Boden. „Was machen die da?“ „Ich habe keine Ahnung“, erwiderte Logan. „Aber wir sollten sie nicht stören!“ McErc nickte stumm, und beide Männer verließen die Stätte des seltsamen Rituals.
Als
die beiden Weißen am nächsten Morgen zum Ort des Rituals zurückkehrten, saßen die Indianer immer noch im Schneidersitz. Der Trapper stutzte, als er keinen Laut hörte und die Indianer sich keinen Deut bewegten. Als McErc und Logan die Krieger näher untersuchten, stellten sie überrascht fest, daß deren Körper bereits steif waren. Sie waren alle tot. Doch einer war verschwunden: LONE WOLF. 150 Jahre später
Sean McErc, Polizist a. D. beobachtete wie sein Freund Brian nach und nach die Bücher in den Kartons verstaute. Es waren alles Werke, die sich mit Okkultismus und Magie beschäftigten. „Soll ich dir nicht doch beim Einpacken helfen?“ Der alte Mann schüttelte vehement mit seinem Kopf. „Nein, danke, Sean, aber meine Bücher packe ich lieber selbst in die Kartons. Hast du deine Koffer schon gepackt?“ McErc nickte. „Ja, heute morgen. Von mir aus kann der Umzug nach London beginnen.“ B. M. Lodge grinste. „Ja, aber bevor wir Amerika den Rücken kehren, müssen wir uns noch um etwas kümmern. Ich habe da einen Fall…“ Sean winkte ab. „Nein, danke. Keine übersinnlichen Fälle mehr. Davon habe ich im Moment die Nase voll. Seit ich mit der Schwarzen Bruderschaft zu tun hatte, scheinen die Leute zu meinen, ich müßte mich um jeden Mist kümmern.“ Lodge hielt für einen Moment in seiner Arbeit inne. „Ach, du armer Kerl. Du tust mir ja richtig leid“, scherzte er und heimste einen bösen Blick von McErc ein.
Nachdem Sean mit seinem Freund die vollbepackten Kisten in den Lieferwagen geschafft hatte, fuhr Lodge zum Flughafen, um dafür zu sorgen, daß die Bücher auch sicher nach London kamen. McErc fuhr unterdessen zu seiner Wohnung zurück und gönnte sich einen Drink. Doch lange sollte er seinen schottischen Whisky nicht genießen können, denn plötzlich klingelte es an der Wohnungstür. Der Nachfahre schottischer Einwanderer fluchte, stellte sein noch halbvolles Glas auf den Tisch und ging zur Tür. „Sie wünschen?“ fragte er die hochgewachsene Gestalt, nachdem er die Tür geöffnet hatte. Das Gesicht des Besuchers war im Zwielicht des Hausflures nicht zu erkennen. „Sind Sie Sean McErc?“ „Ja, steht doch an der Tür. Oder können Sie nicht lesen?“, erwiderte er mißgelaunt. „Dann sind Sie der McErc, der sich mit übersinnlichen Fällen beschäftigt.“ „So ist es. Aber meine Detektei ist geschlossen. Ich verlege mein Büro nach Europa und…“ „Das ist mir bekannt, Mr. McErc.“ Plötzlich trat die Gestalt ins Licht, das durch die geöffnete Wohnungstür schien, und McErc erkannte einen mittelgroßen Mann, dessen schmales, asketisches und aschfahles Gesicht von langen, dunklen Haaren umrahmt wurde. In der rechten Hand hielt der Mann einen silbernen Spazierstock. „Mein Name ist Grail, Anthony Grail. Ich glaube, Mister McErc, Sie haben bestimmt bereits von mir gehört.“ Hätte McErc eine Pistole bei sich gehabt, er hätte sie augenblicklich gezogen. So nickte er: „Das kann man wohl sagen. Was wollen Sie von mir?“ „Ich brauche Ihre Hilfe.“ Sean glaubte sich zu verhören. „Sie brauchen meine Hilfe. Sie, einer der mächtigsten Adepten der schwarzen Künste. Sie belieben wohl zu scherzen, Mister Grail.“
„Nein, das tue ich nicht. Ein Rachegeist ist hinter mir her und Sie sind der einzige, der mir helfen kann…“
Die schattenhaften Gestalten beobachteten wie Grail das Haus betrat und folgten ihm lautlos. Dann verharrten sie einen Moment und horchten wie Grail die Treppen hinauf ging. Mit huschenden Bewegungen hefteten sie sich an seine Fersen.
Sean reichte Grail ein Glas Whiskey. Er beobachtete den Mann mit einigem Abscheu, was dem Adepten der schwarzen Künste nicht entging. „Sie mögen mich wohl nicht, oder, Mr. McErc?“ „Sie stehen nicht unbedingt auf meiner Liste der beliebtesten Leute, Mister Grail. Also, wer und was ist hinter Ihnen her und wieso kommen Sie gerade zu mir?“
Die Gestalten erreichten die Haustür zu McErcs Wohnung und verharrten. Sie spürten die Aura von zwei Personen. Einer war der Gesuchte. Sie kannten ihren Auftrag. Vernichtet Grail!
Bevor Grail antworten konnte, wurde mit immenser Gewalt die Tür von McErcs Wohnung aus den Angeln gerissen, und vier Gestalten stürzten herein. Sean wollte nicht glauben was da geschah. Er sah sich plötzlich mit vier Indianern konfrontiert, die aus einem Western entsprungen zu sein schienen, sah man von ihren weiten Trenchcoats ab, und sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Grail sprang auf und zog den Degen aus seinen Spazierstock und das nicht zu spät, denn zwei Indianer griffen ihn augenblicklich an. Unterdessen sah sich Sean zwei anderen Indianern gegenüber, die ihn starr anglotzten, aber keine Anstalten machten ihn anzugreifen.
Erst als McErc zu einem der beiden Schwerter griff, die an der Wand hingen, knurrten die beiden und griffen ihn ebenfalls an. Sean duckte sich, als ein Tomahawk auf ihn niedersauste und durchbohrte seinen Gegner mit dem Schwert. Die Klinge drang tief in den Körper, doch die schwere Verletzung schien dem Indianer nicht im geringsten etwas auszumachen. Außerdem bemerkte McErc, daß kein Blut aus der Wunde floß, als hätte er es mit einem Zombie zu tun. Unterdessen vernichtete Grail seine beiden Gegner mit seinem Degen und rettete McErc davor, von einem Messer durchbohrt zu werden. Dem letzten Gegner schlug Sean mit seinem Schwert dem Kopf vom Rumpf, der sich Sekunden später in Luft auflöste. „Sie schulden mir was, McErc“, meinte Grail. „Beschützen Sie mich vor dem Rachegeist…“ „Nicht nötig, Grail!“ Der Adept der schwarzen Künste fuhr herum und wurde mit einer durchscheinenden hochgewachsenen Gestalt konfrontiert. „Die Waffen sollen ruhen. Mit einem McErc habe ich keinen Streit. Solltest du aber irgendwann einen Fuß aus der Stadt setzen, Grail, werde ich dich finden und vernichten!“ „Und Grail verschwand, als der Kampf beendet war?“ fragte Lodge. McErc nickte. „Ja, er ging, als wäre nichts geschehen.“ „Und dieser Rachegeist?“ „Keine Ahnung. Grail nannte ihn – Lone Wolf. Mehr weiß ich auch nicht…“
Timothy McNeal Geboren 1944 / Russland – Anglist Kontakt unter:
[email protected] www.phantastik-autoren.de Veröffentlichungen: „VON EREWHON NACH XANADU“ (Gedichte/A/1981) „SAISONALE EINWÜRFE“ (Gedichte/D 1991) „ALBEDO“ (Gedichte-Poems/D/1993) „TWILIGHT“ (Poems/USA/1996) „BENSONS NACHLASS“ (SF-Novelette/D/1996/CD-ROM) „DIE FARBE DES SCHWEFELS“ (SF-Novella/D/1997) „DER TOD DER PHYSIKER“ (Science-Thriller/D/1998) „DAS GRAB DES FÜRSTEN“ (Fantasy-Thriller/D/1999) „DIE CHRONOS CHRONIK“ (SF-Novella/D/2000) „ZWISCHEN ZWEI ZÜGEN“ (KurzgeschichtenKollektion/D/2000/eBook) „PARALYRlCS“(Gedichte-Poems/D/2000/eBook) Featured Poet 1995 – Sparrowgrass Poetry Newsletter (USA) Freiburger Geschichtenpreis 1997 (D) Featured International Writer 1997 – Verses (USA) DSFP-Nominierung 1998/1999 (D) Kurd-Laßwitz-Preis-Nominierung 1999 (D) Anthologie-Lyrik-Preis 2000 – literature.de (D)
Timothy McNeal LETZTER AUFRUF
Auffällig unterschiedlich war beider Gang, obwohl sie etwa gleich alt schienen. Während sich der Mann schleppenden Schrittes bewegte, hüpfte die Frau ihm voraus, blieb stehen, um sich dann wieder einholen zu lassen; ein paar Meter nur gingen sie Hand in Hand. Sie trennten sich am Aufgang; der Mann wählte die Rolltreppe, während die Frau die Stufen hinaufeilte. Vor dem Warteraum sah der Mann die Frau an, bevor er den Koffer abstellte. Weithin sichtbar war der große Button an ihrer Bluse – blaue Buchstaben auf weißem Grund: I LOVE NYC. Er legte seine Ellenbogen auf die Absperrung und blickte geradeaus. Die Frau hakte sich bei ihm ein. „Ich freue mich auf die Reise“, sagte sie. Der Mann antwortete nicht. Unmittelbar nachdem der Flug zum ersten Mal aufgerufen worden war, durchquerten schon einige Passagiere die Sperre. Die Frau schaute ihnen nach, sah den Mann an, einmal, zweimal; dann blickte sie zu Boden. „Ich freue mich für dich“, sagte er, „es ist eine Chance; ich wünschte nur, es wäre nicht gerade jetzt. Du bist genau solange weg, wie wir uns kennen, weißt du das?“ „Nur ein paar Wochen.“ Sie legte ihre Arme um seinen Hals und schloss die Augen. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn küssen zu können. Der Flug wurde zum zweiten Mal aufgerufen. „Weißt du…“ begann der Mann. „Ja?“
„Ach, das hat Zeit, bis du wieder da bist.“ „Ich versuche, regelmäßig zu schreiben, telefonieren werde ich auf jeden Fall.“ „Vergiss nicht die Zeitdifferenz.“ „Darf ich dich nicht aufwecken?“ Nur noch wenige Passagiere gingen an ihnen vorbei. Als der Flug zum dritten Mal aufgerufen worden war, schien das Paar nicht zu reagieren. Der Mann ergriff schließlich den Koffer, hielt ihn der Frau hin, nickte in Richtung Sperre. Die Frau sah ihn an. Sie lächelte nicht mehr. Sie nahm den Koffer und ging langsam rückwärts zum Check-In-Desk. „Wenn du zurück bist“, sagte er, zögerte, schüttelte den Kopf. „Du wirst schon sehen.“ Er sah ihr nach, wie sie ohne sich noch einmal umzudrehen zum Gate ging. Sie blieb stehen, stellte den Koffer ab, nestelte an ihrer Handtasche herum, dann an ihrer Bluse. Sie kam zur Absperrung zurück, sagte nichts. Unübersehbar war die vorgenommene Änderung auf dem Button. Mit breitem Lippenstiftstrich hatte sie das „N“ von NYC durchgestrichen, das „C“ zu einem O umgeformt, ein u ergänzt. „Ich habe diese drei Worte noch nie ausgesprochen“, sagte der Mann, „habe bislang stets nur schwächere Formulierungen benutzt.“ Er besah sich nochmals den Button und las laut vor: „I love you.“ Die Frau blickte ihn an, aber er sagte nichts mehr. Sie ging zurück zu ihrem Koffer. Als sie ihn erreicht hatte, rief der Mann, „Ich liebe dich! Ich bin so glücklich, ich könnte jetzt sterben und wäre nicht böse drum. Ich liebe dich!“ Nachdem die Frau verschwunden war, entfernte sich der Mann schnellen Schrittes. Es sah so aus, als ob er hüpfte.
Timothy McNeal SAISONBEGINN II
Auf
dem Bürgersteig vor dem Haus an der Ecke Bleichstraße/Friedrichstraße – letztere wird, im Gedenken an die ehemalige Gaststätte und ihren honorigen Club, von den älteren Einheimischen immer noch CASINOBERG genannt – tändelten drei junge Burschen herum. Der erste Tag des dritten Quartals hatte die Erwartungen fast übererfüllt, die man an diese Jahreszeit knüpfte; wolkenloser Himmel mit Temperaturen weit über zwanzig Grad. Selbst jetzt noch, da die ersten Straßenlampen schon unnötigerweise Licht verströmten, geriet man nach einigen Schritten ins Schwitzen. Das Eckhaus war vor geraumer Zeit renoviert worden; bis zur Höhe des ersten Stockwerks bestanden seine Außenwände aus großen, blass-roten Sandsteinquadern, darüber aus ockerfarbenen Ziegelsteinen. Zu beiden Straßenseiten war ein Schild angebracht, dessen Farbe kaum einen Kontrast zur Hauswand bildete. Die drei Burschen bewegten sich zunehmend hektischer vor dem Haus, beanspruchten zeitweise nicht nur den gesamten Bürgersteig, sondern auch Teile der Straße für sich. Sie trugen die Uniform ihrer Zeit, Jeans und T-Shirts, schienen unschlüssig, was sie anstellen sollten, ähnelten Schattenboxern, spielenden Hunden; einige Male musterten sie verstohlenabschätzend das Haus und dessen hohen, schmiedeeisernen Staketenzaun. Ein Polizeiwagen rollte langsam die Friedrichstraße hinunter. Sofort beschränkten die drei ihre Aktivitäten auf den Bürgersteig, wurden gemäßigter in ihren Bewegungen. Die Ordnungshüter schienen jedoch nicht an ihnen interessiert. Kaum war der Peterwagen in die Spießgasse eingebogen, belebte sich die Szene wieder.
Eine lautstarke Diskussion brach sich bahn. Anscheinend bestand stand eine Unstimmigkeit unter den dreien. Einer riss sich das T-Shirt vom Leib, schwenkte es wie eine Fahne über dem Kopf. Die Physiognomie dieses Burschen entsprach nicht gerade der eines Athleten; er hatte – wie man im Osten sagte – ein Kreuz wie ein Hering zwischen den Augen. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung schien erreicht, als zwei plötzlich Werkzeuge aus ihren Nietenhosen zogen, einen Hammer der eine, Meißel und Kneifzange der andere. Satzfetzen wurden an der gegenüberliegenden Tankstelle vernommen: „… Im Namen des Volkes“ sowie „… Schande für die Stadt“. Sie schrien im lokalen Dialekt; offenbar gehörten sie nicht zu den Schülern des Internats am Ende des CASINOBERGS. Schließlich ging alles sehr schnell. Mit gegenseitiger Unterstützung überwanden die beiden mit den Werkzeugen den Zaun und schlugen das Schild zur Friedrichstraße ab, während der dritte auf dem Bürgersteig patrouillierte. Das Schild fiel auf den Rasen des Vorgartens. Ohne es eines weiteren Blickes zu würdigen, kletterten die zwei zurück; dann liefen alle drei in die HEXENBLEICHE. Einige Spaziergänger und Kunden der Tankstelle waren Zeugen der Aktion gewesen. Sie schienen nicht recht zu wissen, wie sie sie bewerten sollten. Offensichtlich war auch niemand willens oder fähig, die Verfolgung der drei aufzunehmen. „Was haben die da eigentlich abgeschlagen?“ „Ein Schild.“ „Was für ‘n Schild?“ Man ging hinüber. Ein alter Mann langte mit seinem Krückstock durch den Zaun und zog das Schild, das ansonsten vollständig unbeschädigt geblieben war, langsam zu sich. Er ergriff es und hielt es in das Licht der Peitschenlampe; er schien bestürzt, drehte sich zu den Umstehenden. Auf dem Schild stand:
Geburtshaus der Dichterin Elisabeth Langgässer geb. 23. 2. 1899 gest. 25. 7. 1950
Stefan Melneczuk Der Autor, Jahrgang 1970, lebt in Hattingen an der Ruhr und arbeitet als Journalist. Abgeschlossenes Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Bochum. Er schreibt seit 1985 Short-Storys und kann auf Veröffentlichungen bei Verlagen und Zeitschriften zurückblicken. - 1987 Einladung zum Treffen Junger Autoren in Berlin. 1993 Literaturpreis der Stadt Hattingen. - 1997 Auszeichnung beim Ruhr-Futur-Wettbewerb an der Universität in Bochum. - 1998 Veröffentlichung der ersten Sammlung schwarzer Kurzgeschichten unter dem Titel SCHATTENLAND, Klaus BielefeldVerlag – ISBN 3-932325-52-4. - 1999 Veröffentlichung des unheimlichen Romans ELAINE, ISBN 3-932325-84-2 – ebenfalls beim Klaus Bielefeld Verlag in Friedland. In Vorbereitung befindet sich dort die unheimliche Geschichtensammlung NACHTWELT, ISBN 3-89833-027-3. - HARDSONS LETZTER SONG stammt aus den SCHATTENLAND-Manuskripten und ist bislang unveröffentlicht. - Stefan Melneczuk steht seit Anfang der 90er Jahre über seinen spirituellen Meister Edgar Allan Poe in engem Kontakt mit dem Schattenreich. Außerdem ist er im Besitz des Originaltapes mit HARDSONS LETZTEM SONG, der in Chicago seine Spuren hinterlassen hat. - Kontakt über das Internet unter www.darkthoughts.de. Und er rockt weiter.
Stefan Melneczuk HARDSONS LETZTER SONG
Der Himmel weinte an jenem verregneten Tag im August, als Geoffrey Paul Hardson mir zum ersten Mal begegnete. Das ist jetzt einige Jahre her – sieben oder acht werden seitdem vergangen sein. Damals war ich abgebrannt, betrunken, entstellt und um ein paar Illusionen ärmer – vor allem, was das hämmernde Ding hinter meinem Brustkorb betraf. Paulker servierte mir Whiskey um Whiskey in seiner verrauchten Vorstadtpinte, und während ich halbtot am Tresen hing, hatten meine Augen jenen Mann, der sich trotz der Fahne neben mich gesetzt hatte, völlig übersehen. „Mann, sehen Sie fertig aus.“ Was mir noch in glasiger Erinnerung geblieben ist, waren Hardsons prüfende Blicke, als ich nur eine lallende, unverständliche Antwort zustande brachte. „Scherdichdochzummmteufffeldugottverd…“ „Weiß jemand, wo der Kerl wohnt?“ fragte der Fremde unbeeindruckt. „Hören Sie“, sprach Paulker aus sicherer Entfernung. „Tom ist Stammkunde. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, wirklich.“ „Aber der sieht fertig aus“, beharrte Hardson, damals noch völlig unbekannt und ebenso pleite wie ich in meinen schlimmsten Trinkertagen. „Wenn Sie mir sagen könnten, aus welcher Mülltonne es den Kerl hierher verschlagen hat, wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar, Barkeeper.“ „Sind Sie von der Heilsarmee?“ erwiderte Finn Paulker spöttisch unter dem Gelächter der anderen Tresensitzer. „Nein“, sprach Geoffrey Paul Hardson, stieg mit einem Satz über die Anrichte, fasste den Barmann am Hemdskragen, zog ihn gut zwanzig
Zentimeter himmelwärts und lächelte das wohl seltsamste Lächeln, das Finn Paulker jemals zu Gesicht bekommen hatte. „Wie kommen Sie denn darauf?“ „Ape“, stöhnte der schwebende Paulker, schob verzweifelt seinen Kopf nach links und stammelte aufgeregt weiter. „Sag’ diesem Mistkerl hier wo Tom wohnt.“ Ape kam herbeigeeilt. „Lassen Sie ihn los, Mister“, flehte er den Fremden an. „Finn hat ‘n schwaches Herz.“ Sekunden später verriet er ihm meine Adresse. „Danke“, nickte Hardson inmitten der trägen Menschentraube, die sich um meinen angehenden Kadaver, Paulker und ihn versammelt hatte. „Warum waren Sie nicht sofort vernünftig? Sie sehen doch, daß es dem Mann hier schlecht geht.“ Und wieder zeigte Hardson auf mich. „Der da hat genug getrunken.“ Wie zur Untermalung spielten sie im Radio gerade HIGHWAY TO HELL. Noch bevor ich vom Hocker poltern konnte, hatte Geoffrey mich langsam aber sicher gepackt, zu Boden und dann über seine gewaltigen Schultern gezogen. „Es geht jetzt nach Hause“, rief er mir zu. „Wer hat Sie gesch… ah… werhatsiegeschickt?“ lallte ich dem Delirium nahe, während Angus Youngs Gitarrensolo durch die Lautsprecher über der Flaschengalerie flitzte. Ich weiß noch, daß mich Hardsons ruhige Antwort trotz allen Fusels damals verblüfft hatte. „Das Schicksal“, sprach der Riese zu mir. „Ich glaube, mich hat das Schicksal hierher geschickt.“
Als ich zwei Tage später aus meinem Vollrausch erwachte, lag ich wohlgebettet in meinem kleinen, verkommenen und modrig riechenden Appartement am anderen Ende der Stadt. Das erste, was mir auffiel, war, daß ich einen frischen Pyjama trug und jemand neben meinem Bett in weiser Vorahnung gleich drei Eimer (links, rechts und einen am Fußende) in Position gebracht hatte. Auf dem Nachttisch
stand ein Glas Mineralwasser, und auf dem Alka-Seltzer-Päckchen las ich eine mit Kugelschreiber gekritzelte Botschaft.
Schlafen Sie aus. Gute Besserung. Jeff Hardson
Daneben stand eine Telefonnummer. Nach einer Stunde und einem umfangreichen Katerfrühstück rief ich ihn an. „Hallo?“ tönte es vom anderen Ende, und auf Anhieb erinnerte ich mich an die Stimme meines Retters. „Tom Spark am Apparat. Wie um alles in der Welt haben Sie mich nach Hause bekommen?“ Für eine Sekunde folgte Schweigen. „Ach so“, erwiderte Hardson. „Der Trunkenbold. Alles überstanden?“ „In etwa.“ „Wissen Sie, Mister“, begann der Fremde. „Es ging eigentlich ohne Probleme mit dem Schlüsselbund in Ihrer Manteltasche. Ihr Chevro braucht irgendwann mal eine neue Kupplung. Das Ding fährt sich ja wie’n Schützenpanzer.“ „Ich muß Ihnen wohl danken.“ Ich las noch einmal auf der Schachtel nach. „Mr. Hardson.“ „Nicht der Rede wert“, antwortete er gleichgültig. „Sie sollten beim nächsten Mal besser aufpassen. Ich war nah dran, Sie ins Krankenhaus zu bringen.“ „Ist sonst nicht meine Art.“ „Eben. Hätte ich Ihnen das in diesem verdammten Schuppen nicht sofort angesehen, dann hätten Sie von mir aus auch blau anlaufen können – es wäre egal gewesen.“ Der Mann am anderen Ende schien kurz zu überlegen. „Ich habe ein paar Ihrer Klamotten in die Reinigung gegeben. Die Bons finden Sie in Ihrer Manteltasche.“
„Nochmals vielen Dank“, wiederholte ich. „Da bin ich Ihnen wohl etwas schuldig?“ „Stimmt.“ Hardsons schnelle Reaktion irritierte mich nun auch mit nüchternem Kopf „Ich habe auch schon eine Idee, Mr. Spark.“ „Tom ist okay.“ „Gut, Tom. Mein Name ist Geoffrey. Besser Jeff.“ Ich nickte. „Was gibt’s?“ „Ich habe gesehen, daß Sie für eine Zeitung schreiben.“ Hardson musste bei der Suche nach den Schlüsseln meine PUBLIC NEWS – Visitenkarten gefunden haben. „Stimmt.“ „Demnach sind Sie wortgewandt.“ „Die NEWS sind eine ganz kleine Zeitung.“ „Spielt keine Rolle“, gab mein Retter zurück. „Mir ist nur wichtig, daß Sie schreiben können.“ „Sie wollen, daß ich einen Job für Sie mache?“ „Nichts Großes. Nur ein Bandinfo. Ich hab’ gesehen, daß Sie einen Computer haben.“ „Dann sind Sie Musiker?“ „Ja. Seit fünfzehn Jahren.“ „Was für eine Richtung?“ „Rock natürlich“, sagte Hardson mit verständnisloser Stimme. „Rock mit ein paar Bluessachen.“ „Sie brauchen eine Bandinformation?“ gab ich zurück. „Vor drei Wochen haben wir unsere erste Platte eingespielt. Wenn Sie wünschen, bekommen Sie die CD.“ „Wenn ich ein Bandinfo schreiben soll…“ „Sie sind der richtige Mann, Tom – keine Sorge!“ wandte das andere Ende ein, so, als könne es Gedanken lesen. „Es wäre schön, wenn Sie uns mal besuchen könnten. Wir haben einen Proberaum. Ist nicht weit von Ihnen aus.“
Ich notierte mir die Adresse und vereinbarte einen Termin für das kommende Wochenende. „Ich werde sehen, was ich machen kann, okay?“ „Für ‘ne Agentur haben wir im Moment nicht genug Asche.“ „Ich werde Ihnen helfen.“ „Sehr gut“, antwortete Hardson erfreut. „Sehr gut.“ Damit nahm alles seinen Anfang.
Mein erster Eindruck war katastrophal. Jeff Hardson – ich hatte ihn aus jener durchzechten Nacht viel größer und erhabener in Erinnerung – begrüßte mich in einer Montur, die mit Cowboyweste, Stiefeln und einem entsprechenden Hut eher auf einen Jahrmarkt als auf die harten Bretter einer Rockbühne passte. Am schlimmsten traf mich gleich bei der Begrüßung der Band, daß alle in diesem Aufzug erschienen waren. Nur Tess Harper, gerade mal dreiundzwanzig und für die Backingvocals zuständig, unterschied sich durch eine knallenge Lederkluft vom Rest der Mannschaft. „Und der soll uns helfen?“ plärrte die hübsche junge Frau kaugummikauend, und hätte ich damals gewusst, daß sie keine zwölf Monate später in einem Hotelzimmer irgendwo in Brooklyn einen qualvollen Tod sterben sollte, dann hätte meine Antwort an diesem Tag anders geklungen. „Ich kann auch wieder gehen“, erwiderte ich ungehalten. „Überhaupt kein Problem.“ „Tess“, rief Jeff Hardson. „Vielleicht solltest du dein hübsches Köpfchen anstrengen und erst einmal abwarten, was Tom vorzuschlagen hat.“ Schnell wandte er sich an mich. „Sie meint es nicht so.“ Hardson stellte mir seine fünfköpfige Band namens AEROPLANE vor, und ich drückte jedem der Männer – und natürlich auch Tess – die Hand. „Vielleicht sollten wir dir mal was vorspielen.“
Ich nickte höflich, durchquerte die verkommene Lagerhalle, in der es von Nagern nur so wimmelte, setzte mich auf einen der abgesessenen Polsterstühle, beobachtete, wie sich Aeroplane mit Instrumenten versorgte, die Verstärkeranlage einschaltete, und hoffte, daß es nicht so lange dauern würde. „Du bekommst nachher unsere CD“, rief Hardson vom anderen Ende aus. „Wir spielen jetzt mein Lieblingsstück.“ Ich sah, daß Tess im dünnen Licht des Bühnenstrahlers die Augen verdrehte und sich über Hardsons Entscheidung lauthals beschwerte. „Warum immer TAKE ME TO YOUR HEART, Jeff? Warum immer diese Nummer? Du weißt doch…“ „Daß ich sie grauenhaft finde“, plärrte Schlagzeuger Rick von seinem Podest aus, und er traf Tess’ Tonfall unglaublich genau. „Keine Widerrede“, donnerte Hardson in seiner Eigenschaft als Bandleader, ging ans Mikro und machte eine Sprechprobe. „Eins, eins, eins, Test, ich mache einen Test, Test, Test, Tom – kommt das an?“ Wieder nickte ich. Es ging los. „Was?“ Ich hörte, daß Tony sich am anderen Ende auf die Schenkel klopfte. Da er nicht zum ersten Mal so reagierte, maß ich dem keine besondere Bedeutung bei. „Tu’ jetzt nicht so.“ sagte ich nur. „Was sagst du da?“ lachte er immer noch. „Du bist jetzt ein Rockand-Roll-Manager?“ „Unsinn“, widersprach ich. „Ich helfe ihnen nur ein wenig bei ihrer PR.“ „Du bist ja verrückt“, sagte Tony Clarke. „Ausgerechnet Tom Spark, der noch nie eine Gitarre in den Händen gehalten hat und in seinen eigenen vier Wänden nichts anderes als Debussy hört.“
„Sie sind gut, verdammt“, antwortete ich böse. „Was du nicht sagst“, seufzte Tony. „Nicht schlecht. Seitdem du single bist, brauchst du ohnehin nichts dringender als ein verrücktes Hobby. Und sie haben schon einmal im Studio gestanden? Das ist kein Scherz?“ „Sie hatten Glück, Tony. Sie hatten einfach nur Glück und zur richtigen Zeit zweitausend Mäuse parat.“ „Für die ist das ein Vermögen“, gab Clarke zurück. „Es klingt unsinnig, Tony, das gebe ich zu. Aber als ich Hardson und seine Leute heute nachmittag erlebt habe, da wusste ich, daß ich ihnen helfen kann. Sie müssen sich nur…“ „Verändern“, platzte Tony mir dazwischen und traf den Nagel auf den Kopf. „Nur ein wenig verändern?“ „Richtig. Du mußt dir ihre CD unbedingt mal anhören.“ „Wie heißt die Platte?“ „IN LOVE WITH MARILYN. Die haben ein Monroe-Foto auf das Cover gepackt Das erste Stück ist eine Coverversion von I WANNA BE LOVED BY YOU.“ „Wie originell. SEX WITH MARILYN wäre besser. Du weißt ja, daß Skandale das Geschäft beleben.“ „Ich habe ihnen AFFAIR WITH MARILYN vorgeschlagen.“ Jetzt lachten wir beide. „Meinst du nicht, daß du etwas zu weit gehst? Der Kerl hat dich schließlich nur vor einem Absturz von Paulkers Theke bewahrt. Nicht, daß du einen bleibenden Schaden davongetragen hast.“ „Tony“, gab ich zurück. „Das klingt echt abgefahren, oder?“ Clarke wechselte das Thema, und als er mich zwei Tage später besuchte und sich IN LOVE WITH MARILYN anhörte, nickte er zustimmend, was bei ihm schon eine Menge zu bedeuten hatte.
Es verging kaum ein Tag, an dem Jeff Hardson und ich nicht miteinander telefonierten. Langsam, ganz langsam brachte ich das Schiff auf Kurs. Was mich in jener Zeit am meisten wunderte, war die Tatsache, daß keiner meiner Vorschläge unter den Mitgliedern von AEROPLANE kritisiert, geschweigedenn abgelehnt wurde. Selbst Tess Harper erschien mir gegenüber immer freundlicher. Das Bandinfo – ein schlichtes Faltblatt mit sechs Seiten und einem beigelegten Schwarzweißfoto – war nach zwei Wochen fertig. Für das Bild hatte ich einen alten Bekannten, der in Los Angeles ein angesehenes Atelier betreibt, gewinnen können. Er machte den Job für dreihundert Dollar und schaffte es sogar, Tess und ihre Mitstreiter in ein gepflegtes Bühnenoutfit irgendwo zwischen Leder und Jeans zu stecken. Zur selben Zeit gab ich dreißig CD-Pakete zur Post, die ich an größere und kleinere Radiosender von Virginia bis nach Nevada adressiert hatte. Hardson steckte mir in regelmäßigen Abständen – meistens sonntags oder montags – ein paar Hundertdollar-Noten zu. Ich frage mich bis heute, woher er das Geld beschafft hat. In der alten Lagerhalle gingen die Proben unentwegt weiter. Nachdem nach zwei Auftritten in einem miserablen Club in Washington die Startauflage von IN LOVE WITH MARILYN ausverkauft war – es gab davon insgesamt nur zweihundert CD’s, die auf Plattenbörsen und Versteigerungen ein paar Monate später bereits für 500 Dollar das Stück den Besitzer wechselten – wurde eine zweite Auflage gepresst. „Was?“ fragte Tony abermals. „Du hast richtig gehört“, sagte ich. „Die CD heißt jetzt SEX WITH MARILYN. In der vergangenen Woche hat sie ein Sender in Nebraska rauf und runter gespielt. Ich bekomme pausenlos Anfragen, wo man das Ding kaufen kann.“ „Und du erledigst den Versand?“ „Ja.“ „Verrückt. Bleibt dir da überhaupt noch Zeit für richtige Arbeit?“
„Warum machst du dir deshalb Sorgen? Ich sagte doch, es ist nur ein Hobby. AEROPLANE hat in zwei Wochen ihr erstes Radiointerview, und ich denke, es wird eine Katastrophe.“
Meine Befürchtungen wurden Wirklichkeit. Eine Methodistenzeitung in Richmond plädierte zwei Tage nach dem Interview für die Vernichtung aller SEX-WITH-MARlLYNCD’s, während I WANNA BE LOVED BY YOU es auf Anhieb auf Platz drei der sendereigenen Hörercharts brachte. Nur Bruce Springsteen und Whitney Houston lagen in Richmond noch vor dem Remake. „Ich glaube, wir waren ganz überzeugend“, meinte Hardson während der Heimfahrt in einem VW-Bus, dessen verbeulte Karosserie den Eindruck machte, als habe ein Einsatzkommando nordirischer Terroristen sie soeben unter Feuer genommen. „Tess, und du hältst beim nächsten Mal die Klappe.“ Jeff sah sie finster an. „Ich glaube wirklich nicht, daß sich jemand dafür interessiert, wo du es schon überall – ach verdammt – ist ja auch egal!“ Mittlerweile waren 10.000 SEX WITH MARILYN-Scheiben verkauft, und zum allerersten Mal warf die AEROPLANE-Musik Gewinn ab – wenn auch nur ein paar Dollar. Selbst in New York begannen sich Plattengeschäfte, Discjockeys und Radiostationen für Jeff Hardson und seine Band zu interessieren. Seit einigen Tagen wickelte eine Agentur den CD-Versand ab. Hardson hatte dies angeordnet und Geld für diesen Zweck zusammengekratzt. „Du hast schon genug für uns getan“, erklärte er mir eines Abends, keine zwei Wochen vor jenem schicksalhaften Montagmittag, als sich bei mir eine Dame meldete und sagte, sie arbeite für DAVOSRECORDS und wolle AEROPLANE unter Vertrag nehmen. „Ich glaube, ihr seid auf dem richtigen Weg.“ Mittlerweile duzte ich mich mit jedem Bandmitglied. „Vielleicht ist es an der Zeit, eine Tournee zu planen.“
„Nein“, warf Hardson plötzlich ein und orderte noch zwei Drinks. „Ich glaube nicht, daß wir das machen müssen. Wir schaffen es auch so.“ Ein zweifelndes „Hm“ war alles, womit ich antworten konnte. Der Barkeeper brachte unterdessen die Martinis, während Tess gemeinsam mit den anderen Aeroplanes am Nebentisch schmutzige Sprüche klopfte. „Ich spüre, daß etwas in der Luft liegt, Tom. Und es ist bei Gott ein gutes Gefühl“, sagte Hardson. „Das müsst ihr wissen. Die CD jedenfalls läuft ausgezeichnet.“ „Nur in Chicago nicht.“
Chicago. Die Stadt war für Jeff Hardson, damals vierunddreißig Jahre alt, ein Reizwort. Nach einem Gig in Detroit hatte Tess mir einmal gestanden, wann sie Jeff zum ersten Mal getroffen hatte. Hardson war in Chica (so nannte sie die Stadt, wenn sie einen über den Durst getrunken hatte) aufgewachsen. Schon in ihrer Schulzeit hatten Jeff und Tess miteinander geschlafen, wenn sie nicht gerade in irgendeiner Band für mehr oder minder gute Töne sorgten. Es war nie etwas Ernstes aus dieser Beziehung geworden, wie Tess lallend betonte. „Die haben Jeff in der Schule ziemlich fertig gemacht – Tommy – weißt du? Sogar seinen Hund haben sie vergiftet – zwei Irre aus dem Baseballteam, die dafür von der Penne flogen – aber Jeff? Der hat’s niemals richtig überwunden. Er war der Typ, den man an irgendwelche Kleiderhaken hängt oder in die Mülltonne stellt – so zierlich, weißt du? Manchmal tat er mir sehr leid, und Kinder können verdammt grausam sein, wenn sie jemanden nicht mögen. Ich habe ihm geholfen, Franky zu begraben. Und da fing es an mit uns beiden. Weißt du, Jeff hasst Chicago. Hat aber nicht verhindert, daß er im Bett nach wie vor…“ „Tess!“ ermahnte ich Harper, und bevor sie an der Theke zusammensackte, verließen noch ein paar schnelle Worte ihren Mund.
„Wenn ich jemandem Erfolg wünsche, dann ihm, gottverdammt!“ „Alles nur eine Frage der Zeit“, sagte ich wenig später zu Hardson, und er lächelte geheimnisvoll. „Richtig, Tom. Alles nur eine Frage der Zeit.“
Thalia Devonport arbeitete seit sechs Jahren bei DAVOS, war ständig auf Talentsuche und nur durch Zufall auf Hardson und seine Band gestoßen. Als wir sie in einer Hotelanlage in Richmond trafen und sie jedem von uns eine Flasche besten Champagner spendierte, ahnte ich, wohin die Reise gehen würde. Ich ließ einen Anwalt alle Vertragsklauseln vor der Unterzeichnung prüfen. Demnach bekam DAVOS die Rechte an SEX WITH MARILYN, durfte die CD in AFFAIR WITH MARILYN umtaufen, gleichzeitig zwei Singles auskoppeln und die Band zu einer ausgedehnten Hallentournee durch Nordamerika an einen Konzertveranstalter weiter vermitteln. Die nächsten drei Studio-CD’s, die innerhalb von sechs Jahren einzuspielen waren, blieben ebenfalls bei der Firma. Im Gegenzug erhielt jeder der AROPLANES dreitausend Dollar Vorschuß, bis der Plattenverkauf und alle Promotion-Aktionen angelaufen waren. Auch mein Konto kam mit einem Schlag aus den roten Zahlen, und ich zog in eine andere Wohnung in der Vorstadt. „Ich frage mich, wo der Haken liegt, Tom“, sagte Jeff mir während der CD-Präsentationsparty im New Yorker Mega-Store. „Sieh’ dir doch die ganzen Affen an, verdammt! Sieh’ dir diese Affen an in ihren schicken Klamotten. Ich weiß nicht, ob das alles richtig war.“ „Es war eure Entscheidung, Jeff“, gab ich verlegen zurück, während ich nach Tony, den ich an den Security-Leuten vorbeigeschleust hatte, Ausschau hielt. „Ihr werdet das Kind schon schaukeln.“ I WANNA BE LOVED BY YOU stieg gleich in der zweiten Woche in die Billboardcharts ein. DAVOS setzte eine Werbeagentur auf AEROPLANE an, ließ in Nevada einen Videoclip drehen, während die Single von Platz 39 bis auf 14 kletterte. Hardson und die anderen wurden über Nacht reich, feierten neben den Tourneeproben ausgedehnte Groupie-Parties und bekamen sogar ein Interview im ROL-
LING STONE. Ich glaube, daß Tess schon in jener Zeit immer exzessiver zu Drogen, Männern und Schlaftabletten griff. Während MTV das AEROPLANE-Video auch in Europa rauf und runter spielte und für eine Nummer zwei in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien sorgte, lud Thalia Devonport mich zu sich ein und offenbarte mir, daß AEROPLANE von nun an professionell gepusht werde und ich mit fünfzigtausend Dollar Abfindung eigentlich sehr zufrieden sein könne. „Sie wissen doch gar nicht, wie es mit den Leuten weitergeht“, erklärte sie mir durch ihre dichte Make-up-Fassade und versuchte dabei zu lächeln. „Für einen Anfänger haben Sie Ihre Sache gut gemacht.“ Dann sah sie mich an. „Wir beide sind uns wohl einig, daß diese Leute ohne Sie niemals so weit gekommen wären.“ Diese Leute. Dann fügte sie noch etwas hinzu: „Natürlich werden Sie an allen weiteren MARILYN-Verkäufen anteilsmäßig beteiligt. Der Vertrag behalt seine Gültigkeit, Mr. Spark.“ Das war mein Abschied von der Band, und er fiel mir seltsamerweise nicht schwer. „Okay“, murmelte Jeff, nachdem ich es ihm gestanden hatte. „Ich habe damit gerechnet.“ Inzwischen lebte jeder von Aeroplane in einem schicken Hotelzimmer und erhielt pausenlos Maklerangebote. „Keine Sorge, Mann“, klopfte er mir auf die Schultern. „Wir werden das Kind schon schaukeln. Und wenn uns der Manager nicht zusagt, geben wir ihm eben einen Tritt in den Arsch.“ Doch wir wußten beide, daß es nicht so kommen würde. TAKE ME TO YOUR HEART, Hardsons Lieblingssong, eine ziemlich rauhbeinige Nummer mit harten Bluesgitarren, wurde zur zweiten Single gemacht und landete in den Vereinigten Staaten ein paar Wochen nach Veröffentlichung auf Platz eins. Dies erfuhr ich bereits nur noch aus der Zeitung und den Fernsehkanälen. Hardson gab pausenlos Interviews und spielte nur vor ausverkauften Hallen. Die Plattenfirma
gefiel sich in der Entdeckerrolle und ließ den MARILYN-Nachfolger für den kommenden Sommer ankündigen. Inzwischen hatte ich mich wieder in die Arbeit bei den PUBLIC NEWS gestürzt, fuhr einen neuen Wagen und gönnte mir einen Australien-Urlaub. Jeff und ich telefonierten hin und wieder miteinander, doch der Abstand zwischen den Gesprächen wurde größer. Von meinen MARILYN-Einnahmen lebte ich nicht schlecht und ließ es mir auch fortan nicht nehmen, die Berichte über den Erfolg von AEROPLANE zu archivieren. So wurde mir die Nachricht von Tess Harpers Tod ebenfalls durch den Zeitungsboten überbracht. Nach einem Konzert in Brooklyn hatte sie sich eine Überdosis gespritzt und damit begonnen, ihre Pulsadern mit Längsschnitten zu öffnen. Einige Blätter lieferten Bilder von einem Hotelzimmer, das aussah wie ein möbliertes Schlachthaus. Die Zeitungen wurden verklagt und von AEROPLANE fortan boykottiert. Ich weiß nicht, warum ich damals nicht zur Beerdigung gefahren bin und stattdessen mein Wochenende mit einer Frau namens Lucy verbracht habe. Mag sein, daß Jeff und ich uns dort über den Weg gelaufen und einem Gespräch erlegen wären, das einen Schatten auf die kommende Katastrophe hätte werfen können. Mag sein.
Zwei Jahre später, inzwischen hatte Hardsons Folge-CD die ZweiMillionen-Marke erreicht, sah ich ein Fernsehinterview mit ihm. Es war eine Aufzeichnung. Ich habe mir das das Videoband schicken lassen und das Gespräch Wort für Wort aufgeschrieben. INTERVIEWER: „Hallo, Mr. Hardson. Wie geht es Ihnen?“ HARDSON: „Muß ich auf so eine Frage antworten?“ INTERVIEWER {gespielt gelassen): „War immerhin ein Einstieg, oder? Ihre aktuelle Single READ MY THOUGHTS hat es wieder einmal auf Platz eins gebracht. Sie ist ungewöhnlich ruhig für Ihren sonstigen Stil.“ HARDSON: „Finden Sie?“ INTERVIEWER: „Finde ich. Rennen Ihnen die Fans eigentlich immer noch die Bude ein?“
HARDSON: „Ich habe gelernt, damit zu leben.“ INTERVIEWER: „READ MY THOUGHTS ist Ihrer vor zwei Jahren verstorbenen Backgroundsängerin Tess Harper gewidmet. Haben Sie ihren Tod überwunden?“ HARDSON: „Nein. Ich weiß nur, daß es Tess jetzt besser geht da oben.“ INTERVIEWER (lächelnd): „Da oben?“ HARDSON (ernst): „Da oben. Ja.“ INTERVIEWER: „Dann glauben Sie an den Himmel?“ HARDSON: „Hat das etwas mit meiner Musik zu tun? Ich bin hierher gekommen, um über die CD zu reden und nicht über das verdammte Zeug, das die Zeitungen schreiben.“ INTERVIEWER: „Was die Medien angeht, sind Sie – “ HARDSON: „Ein gebranntes Kind, das ist wahr. Warum das so ist, sollten Sie besser die Bürohengste am anderen Ende fragen. Ich denke, die halten mich einfach nur für einen dummen Jungen, der es durch Zufall nach oben geschafft hat.“ INTERVIEWER: „Stört es Sie, daß Sie kaum noch Privatleben haben?“ HARDSON: „Nein.“ INTERVIEWER: „Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten in beinahe allen großen Hallen gespielt. Warum nicht auch in Chicago, wo Sie aufgewachsen sind?“ HARDSON: „An Chicago hatte ich noch niemals gute Erinnerungen, und ich glaube, ich habe zehntausendmal vor aller Welt beteuert, daß es wirklich nichts mit meinen Fans dort zu tun hat. Ich denke, ich kann ihnen zumuten, mir zuliebe ins Auto zu steigen und fünfzig Meilen zum nächstgelegenen Saal zu fahren, oder?“ INTERVIEWER (aufgesetzt nachdenklich): „Aber warum?“ HARDSON (zornig): „Das ist allein meine Sache.“ INTERVIEWER: „Wie lange werden Sie – Ihrer Meinung nach – noch auf der Bühne stehen?“
HARDSON: „Bis ich Tess da oben Gesellschaft leiste.“ INTERVIEWER: „Es gibt Gerüchte, daß Sie gemeinsam mit Bruce Springsteen an einem Album arbeiten.“ HARDSON: „Ja, die gibt es.“ INTERVIEWER: „Und was ist dran?“ HARDSON: „Das fragen Sie lieber Bruce Springsteen.“ INTERVIEWER: „Gibt es etwas, wovor Sie Angst haben?“ HARDSON: „Sehe ich so aus?“ INTERVIEWER (betont scherzhaft): „Ich stelle die Fragen.“ HARDSON: „Natürlich habe ich Angst.“ INTERVIEWER (ungeduldig): „Wovor?“ HARDSON: „Ich fürchte mich vor den Dämonen in mir.“ INTERVIEWER (irritiert): „Was?“ HARDSON: „Angst habe ich vor den Dämonen, die tief in mir sitzen, und nur darauf warten, wieder einmal auf Landgang geschickt zu werden.“ INTERVIEWER (stutzt): „Äh – “ HARDSON: „Noch Fragen?“ „Wie hat er denn das gemeint, Tom?“ „Wenn ich das wüßte, hätte ich dir das Band kaum vorgespielt, Tony.“ „Meine Güte, sieht der müde aus. Meinst du, Hardson nimmt Drogen?“ „Es würde mich sehr wundern, sollte er keine nehmen. Daran liegt es aber nicht“, gab ich zurück. „Hardson scheint krank zu sein. Ernsthaft krank. Sieh’ ihn dir doch nur an.“ Als hätte ich es damals geahnt. Jenes Interview war der Beginn eines langen, tragischen Weges. Und mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, daß ich der Allererste war, dem diese dunkle Vorahnung in den Sinn kam.
Doch was nutzt es mir jetzt? Was in aller Welt?
Fünf Jahre waren vergangen. Der MIRROR brachte die Schlagzeilen an einem Mittwoch, und am Donnerstag darauf zogen alle Blätter nach: Jeff Hardson in Klinik. Europa-Tournee abgesagt. Der Sänger und Songwriter bereitet sich in Santa Barbara auf sein Sterben vor. Er wiegt nur noch vierzig Kilo. Ob es Groupies waren oder mehrere Bluttransfusionen, die er vor Jahren bekommen hatte: Hardson machte aus seiner Krankheit kein Geheimnis und stellte sich tapfer dem Trommelfeuer. Den Assistenzarzt, der seine Krankenakte kopiert und verkauft hatte, ließ er dennoch in Grund und Boden klagen. So weit ich weiß, war der junge Mann in Chicago, als sie dort Hardsons letzten Song im Radio spielten. Eine gerechte wenn auch grausame Strafe.
Es war im Mai, als ich Post erhielt. Jeff Hardsons Name stand im Absenderfeld des Päckchens, und als ich es öffnete, fiel mir ein handgeschriebener Brief und ein verschlossener Umschlag, auf dem jemand in krakeliger Schrift „nicht öffnen“ gekritzelt hatte, in die Hände. Der Umschlag enthielt einen kleinen aber schweren Gegenstand, und als ich ihn schüttelte, hörte ich, daß es sich um eine Cassette handelte.
Lieber Tom, Ich hätte mich früher melden sollen, denn Du bist der Richtige für einen Job, der mir sehr am Herzen liegt. Ich hoffe, es geht Dir gut. Wie es um mich steht, wirst du wissen. Von allen, die sich um Aeroplane gekümmert haben, warst Du der Ehrlichste. In den nächsten Tagen wirst Du Dich wundern, wenn Di Deinen Kontoauszug liest, und ich
will, dass Du alles gut anlegst. Es dürfte reichen. Nur einen kleinen Gefallen erwarte ich als Gegenleistung. Ich war noch einmal im Studio. Ganz allein, ohne Rick und die anderen. Ich habe ein Lied eingespielt, das mir schon vor langer Zeit in den Sinn gekommen ist, ich wegen der Krankenhaussache aber nicht in Angriff nehmen konnte. Tom, ich möchte, dass Du das Band an einen Radiosender in Chicago schickst – aber erst, wenn in den Zeitungen steht, dass ich nicht mehr bin – verstanden? Auf keinen Fall früher! Auf keinen Fall in eine andere Stadt! Natürlich wirst Du Dir den Song vorher anhören wollen. Als Dein Freund rate ich Dir, es nicht zu tun. Und halte Dich aus Chicago fern, wenn das Band da ist. Du hast immer an uns geglaubt. Dafür danke ich Dir. Alles Gute Jeff Vernichte diesen Brief, wenn Du ihn gelesen hast. „Zwei Millionen? Er hat dir zwei Millionen überwiesen?“ „Ja, Tony, du hörst richtig“, sagte ich immer noch im Taumel. „Und das Band? Hast du es dir mal angehört?“ „Nein“, sagte ich. „Ich halte meine Versprechen.“ „Das war kein Versprechen.“ „Ich höre es mir trotzdem nicht an.“ „Warum macht er das?“ „Wenn ich es wüßte, wäre mir wohler, das kannst du glauben.“
„Dann steht es schlecht um ihn.“ „Davon ist auszugehen.“
Zwei oder drei Tage später meldeten die Nachrichtenagenturen, daß der Rocksänger Jeff Hardson, Komponist von Welterfolgen wie TAKE ME TO YOUR HEART und READ MY THOUGHTS, im Alter von 43 Jahren an den Folgen der Immunschwäche Aids in einem Sanatorium in Santa Barbara gestorben war. Der Rest ist Geschichte. Hardsons Beerdigung war beinahe so etwas wie ein Staatsbegräbnis, und selbst Michael Jackson befand sich unter den Trauergästen. Ich schickte das Band einen Tag später an Chicagos größten Musiksender, der sich über die Sensation sehr gefreut haben muß. Alles andere erfuhr ich aus den Nachrichten.
Der HYPER CHANNEL schickte schon zwei Tage vor dem offiziellen Sendetermin Programmspots ins Rennen, mit der Ankündigung, am Samstagnachmittag Zeuge einer absoluten Weltpremiere werden zu können. Wir spielen Jeffs letzten Song exclusiv für Sie. Selbst wir kennen ihn nicht nicht. Das scheint gestimmt zu haben. Hätte auch nur einer der Programm-Macher vor der Sendung in das Band hineingehört, wäre alles zu verhindern gewesen. Der
Radiojockey, der die Ballade CHICAGO MY LOVE spielen durfte, hieß William Daffner. „Toller Song“, soll er noch ins Mikro gesprochen haben, nachdem die letzten Gitarrentakte verklungen waren. „Nur Jeff Hardson und seine fabelhafte Klampfe. Er ruhe in Frieden. Und jetzt ruft an und sagt, wie’s euch gefallen hat – Leute, ruft an!“ Doch William Daffner kam nicht mehr dazu, zum Telefonhörer zu greifen, als es klingelte. Ein unscheinbarer Mann in einem ArmaniAnzug betrat das Studio um kurz nach zwei, gab lächelnd an, gerade eben Hardsons letzten Song gehört zu haben und feuerte danach zwei
Magazinladungen in die Radiocrew, bevor er sich selbst mit einem Schuß in den Kopf richtete.
An
diesem Nachmittag kamen in Chicago beim größten SpontanBlutbad aller Zeiten mehr als 800 Menschen ums Leben. Zwischen 14 und 20 Uhr zogen 124 Amokläufer durch die Straßen der Stadt, summten die seltsame Melodie von CHICAGO MY LOVE und schossen selbst hoch oben auf dem Sears Tower auf alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Bankiers und Konzernmanager gehörten ebenso zu den Todesschützen wie Hausfrauen, Studenten, Arbeitslose oder Rentner. Bibliothekare standen gleichermaßen von ihren Radioplätzen auf wie Polizisten und Bauarbeiter, um Revolver und Gewehre sprechen zu lassen. Sie alle hatten gemeinsam, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein und einen kurzen Weg zum Waffenschrank zu haben. „Rocksong versetzt Chicago in einen Blutrausch“ titelten Zeitungen in aller Welt am folgenden Tag. Man hatte auf Verbände der Nationalgarde und hastig eingeflogene Scharfschützen zurückgreifen müssen, um die wahnsinnig Gewordenen auszuschalten, wie es in den Sondersendungen genannt wurde. Nur zwei von ihnen sollen sie lebend bekommen haben – an ihnen wird jetzt angeblich studiert, was der Song in ihren Köpfen so plötzlich verändert hat. Das Band mit Hardsons letztem Lied ist seit jenem Tag spurlos verschwunden. Es kursieren Gerüchte, daß die Cassette hinter einer Panzerschranktür im Pentagon auf Wissenschaftler wartet, um unter größten Sicherheitsvorkehrungen analysiert zu werden. In einer Zeitung war zu lesen, daß die Musik streng geheim an fünf Affen getestet worden ist. Die Tiere sollen sich in ihren Laborkäfigen gegenseitig zerfleischt haben.
Natürlich wirst Du Dir den Song vorher anhören wollen. Als Dein Freund rate ich Dir, es nicht zu tun. Und halte Dich aus Chicago fern, wenn das Band da ist.
Die Regierung hat unter Androhung drakonischer Gefängnisstrafen alle Besitzer von Radiokopien aufgefordert, die Cassetten umgehend bei der Polizei abzuliefern. Selbst in Frankreich, England und Deutschland sind Bänder beschlagnahmt worden, die Geschäftemacher aus dem Land geschmuggelt haben. In Paris gab es vier Tote in einem Studentenwohnheim, als bei einer Party eine Cassette mit dem Mitschnitt von CHICAGO MY LOVE gespielt wurde. Der Song wirkt also nicht nur in jener Stadt, der Jeff Hardsons Feldzug galt. Tess Harpers Worte kommen mir wieder in den Sinn. Er war einfach der Typ, den man an irgendwelche Kleiderhaken hängt oder in die Mülltonne stellt – so zierlich, weißt du? Manchmal tat er mir sehr leid, und Kinder können verdammt grausam sein, wenn sie jemanden nicht mögen.
In
einem Berliner Szeneclub hat ein Sondereinsatzkommando der NATO einen Tag später ein ähnliches Blutbad im letzten Moment verhindern können, indem es einen zwanzigjährigen Discjockey kurzerhand von den Füßen schoß, der gerade im Begriff war, ein DATBand aus den USA in den Recorder zu legen. Der Vatikan soll Exorzisten von Rom aus nach Chicago geschickt haben, um den Fall zu untersuchen, und es kursiert seit Wochen die Geschichte eines irren Tonbandforschers aus Milwaukee, der beim Rückwärts-Abspielen von CHICAGO MY LOVE Stimmen gehört haben will, die ihre Hörer zum Anzünden von Kirchen auffordern. Der Mann ist wenig später in seiner Badewanne ertrunken. Nach seinen Aufzeichnungen sucht man bis heute. Und das ist alles, was ich erzählen kann. Ich hoffe, daß die durchgeladene Magnum, die vor mir auf dem Schreibtisch liegt, alle weiteren Fragen beantwortet. Wieder höre ich das Echo in mir, daß es kein Versprechen zu halten gab und daß ich die Möglichkeit gehabt hätte, alles zu verhindern. Ich hätte die Katastrophe abwenden können – damals, als ich Jeff Hardson in der Fabrikhalle gegenüberstand, ihm für einen Moment in die Augen blickte und ahnte, woher ihre Kraft in so mancher dunklen Stunde wirklich kam.
Gerald Meyer Gerald Meyer – gelernter Offesetdrucker und Krankenpfleger – veröffentlichte Kurzgeschichten und Lyrik bei diversen Verlagen, unter anderem sechs Kurzgeschichten bei Bastei. Zur Zeit Studium Multimedia-Design, weil „Maschinen unberechenbarer sind als Menschen, Windows 98 niemals abstürzt und Bill Gates einst der reichste Mann der Welt war.“ Meyer ist äußerst sorgfältig bei seiner Bier- und Weinauswahl, ansonsten chaotisch-gut, macht keinen Urlaub, sondern schiebt viel lieber Nachtdienste auf der Onkologie:-)) (Ähnlichkeiten zur Storie ausgeschlossen!), und geißelt sich mehrmals täglich für das Wohlbefinden der Menschheit. Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute irgendwo, vergessen in einem Hinterzimmer, brütend über den wahren Sinn des Lebens… „Und Danke für den Fisch.“ Kontaktadresse:
[email protected] www.g-meyer.de oder Telefon: 06181 28366
Gerald Meyer DER TUMOR-MANN
Nachtwache. Claude hatte seinen ersten Durchgang auf der Onkologie-Station der Städtischen Klinik beendet und schwamm im Schweiß. Die Luft kam ihm trocken und verbraucht vor; er spürte ein Kratzen im Hals und die Vorzeichen einer beginnenden Erkältung. Kein Wunder bei den ständigen Wetterumbrüchen. Er ging in die Küche, um beim geöffneten Fenster eine Zigarette zu rauchen und einen Kaffee zu trinken, doch in dieser drückenden und schwülen Sommernacht wehte partout kein Lüftchen. Nach den ersten drei Schlucken bekam er einen weiteren Schweißausbruch, und er verfluchte mal wieder die Last seiner Arbeit hinter diesen schweigenden Mauern. Es war nicht nur ein schematisches Abarbeiten von zwei stündlichen Durchgängen, Tabletten stellen, Befunden einheften, den Vorbereitungen für die täglichen Blutzucker- und Blutentnahmen, zu den frühen Morgenstunden vier Kaffeebehälter und Tee aufsetzen, Berichte schreiben – es war der Unberechenbarkeitsfaktor Mensch, der seine – nach außen hin noch immer loyalen und freundlichen – Dienste mit einem mürrischen Knurren quittierte. Claude hatte sich verändert in den letzten Jahren. Er fühlte keine Verantwortung mehr, keine Bereitschaft, hatte sich früh aus der Helfersyndrom- und Mitleidsphase befreit. Er war roh und gefühlsarm geworden. Er haßte diese ständige Pisserei und mitternächtlichen Stuhlgangorgien (andere hingegen liebten sie), sie brachten mehr Scherereien als ein Sack verlorener Seelen. Manchmal wollte er den Übeltätern ins Gesicht schreien: „Stirb! Stirb doch endlich!“ Doch der Tod war nicht käuflich, und schon gar nicht reagierte er auf einen verzweifelten Hilfeschrei. (Allerdings hatte Claude sich im Verdacht, bereits gemordet zu haben.) Es war diese elende Verreckerei zwischen dem erbärmlichen Klammern am Leben und dem Mutmachen beziehungsweise den
Schuldzuweisungen untereinander, die ihn zerrieben hatte. (Und noch viel mehr.) Die wenigsten würden es jemals schaffen – waren sie sich dessen nicht bewußt? Ihr Vertrauen auf ihre Selbstheilungskräfte und die Ärzteschaft war enorm, aber vergebens. Er hatte es immer und immer wieder erlebt. Begriffen sie denn nicht? Es gab keine Heilung! Alles andere war eine Krankheit des Geistes. Denn letztendlich wich die Euphorie der Niedergeschlagenheit oder dem Tod. „Ich habe den Krebs besiegt!“ Der Krebs hat euch besiegt. (Schon zu Lebzeiten.) Von Wundern einmal abgesehen. Dieses fromme Anbeten der Behandelnden war einfach widerlich. Sie ließen die über kurz oder lang Sterbenden in den letzten Minuten noch Verträge unterschreiben, in denen festgehalten war, daß sie sich bereit erklärten, nicht zugelassene Medikamente und Chemotherapien auszutesten – denn, meine Freunde: „Das wird schon wieder.“ Blendung bis zum letzten, beinah berechenbaren Atemzug. Claude bedeuteten die allermeisten ihm anvertrauten Schützlinge der Nacht naiver Konstellation nichts, und schon gar nicht bedeuteten ihm die Behandelnden etwas. Sie spielten Krieg und Frieden, Eitelkeit und Frohsinn. Der zerreißende Klassenkampf untereinander fraß den Großteil ihrer Kräfte, so daß sie nur noch in lächelnden Phrasen agieren konnten. Die Distanz zu allem in ihm war gewachsen, potenzierte sich. Hoffnung? War nur ein Wort. Leben? Irgendwann vergeben. Der Sinn war Sklaverei – sein Verstand funktionierte ausgezeichnet, aber der Wille, sich zu befreien, war gebrochen. Er spürte, wie sein Magen rebellierte, sein Puls hochschoß und sich seine Kiefer fest aufeinanderpreßten. Was für eine Welt! Ein Spieltisch für Scheinheilige, die Leben und Krankenbettentagessätze verkauften. Er mußte sich beruhigen, spürte den Drang nach einem Schluck Alkohol. Er entnahm seinem Rucksack ein Büchsenbier und stellte es, nachdem er hastig getrunken hatte, in den Kühlschrank. Da er nicht
wußte, wann die Hauptnachtwache kam, um ihn zu prognostizieren, warf er sich ein Menthiol-Bonbon ein. Die Nacht war lang und voller Tücken. Er mußte sich überreden und zwingen, die Arbeit fortzuführen. Je eher er sein reguläres Quantum geschafft hatte, um so befreiter konnte er sich dem Unvorhersehbaren widmen… Was lebte er doch für ein Leben voller Zwänge (aus erster Hand); ein Leben zwischen schwachsinnigen Vorgaben, nie begriffenen Verirrungen und selbst zugefügten Niederlagen… Das beständige zwischenmenschliche, unbewältigte Input hatte seine Neuronen zu einem (hilf-)losen, untermächtigen Brei der Ignoranz verschmolzen; seine Idole und Ikonen waren längst zu einer Farce geworden. Oh, selige, nie wiederkehrende Kindheitsträume! Aber lassen wir seine hoheitsvolle Mutter in ihrem Schaukelstuhl zu Worte kommen: „Er ist ein sensibles Kerlchen, ein Träumer, ein Phantast, ein Hilfreicher – aber kein erfolgreicher Kaufmann und manchmal sogar ein Seelenverkäufer“, ihre Runzeln lachten, „wie mein Gatte… Gott hab ihn selig. – Claude wird es nie zu etwas anderem bringen, als zu einem Tumor der Familie und Gesellschaft.“
Er stellte die Tabletten, und er brauchte länger als sonst. Mehrmals drohte er einzuschlafen, jedoch war er sich der Gefahr bewußt. Er griff automatisch nach den Packungen, drückte die Pillen in den Dispenser und reihte sie nach und nach auf das Tablett. Dann richtete er die Blutentnahmen, heftete lethargisch die Befunde ab und warf wiederholt einen Blick auf die Uhr. Diese Nacht würde wohl nie enden. Übrigens kam er nur selten seiner zweistündigen Durchgangspflicht nach. Während sich die Welt beschönigte (es versprach tatsächlich eine ruhige Nacht zu werden) und alles hinter einem ständig dichteren Schleier verbarg (er ging zügigen Schrittes oftmals in die Küche, um eine Zigarette zu rauchen und einen Schluck Bier zu trinken), rückten
die Zeiger der Uhr immer langsamer voran. Oft fragte er sich, wie er diese zehnstündige Tortur überstehen sollte, aber er hatte ihrer schon viele überstanden – also, wo lag das Problem? Sich zurücklehnen und warten. Nach einem weiteren Kaffee, einer Zigarette und einem großzügigen Schluck Bier fühlte er sich berufen, auf die Liege im Aufenthaltsraum auszuweichen. Nur ein Viertel Stündchen, nur ein Viertelstündchen der Ruhe.
Er mußte eingeschlafen sein, denn er schreckte benommen auf, als er glaubte, eisige Kälte bemerkt und ein leises Kichern gehört zu haben. Aufmerksam lauschte er, doch auf der Station war es totenstill. So stand er auf und schaute auf die große Uhr am Ende des Ganges (ihm kam seine Ex-Frau mit ihrem Faible für Uhren-Uhren-Uhren in den Sinn, in jedem Zimmer zwei bis drei, manchmal mehr, manche funktional, manche tot. Sie glaubte daran.) Er mußte gut eine halbe Stunde weggedöst sein. Nun ja, sei’s drum. Er wollte in die Küche abbiegen, als er eine seltsame, dunkel, geschlängelte Linie bemerkte, die sich unterhalb einer Tür gen Gang erstreckte. Er schritt heran, stockte, ging dann noch näher, eine dunkle Vorahnung überfiel ihn. Seine Augen weiteten sich vor Schrecken (wie in den alten Horrorfilmen), als sich der dunkle Streifen näher an seine Turnschuhe heranschob. Kein Zweifel, das war Blut! Im nächsten Moment stürzte er in das Zimmer. „Der Doktor ist gekommen“, raunte ihm eine sonore Stimme aus der Dunkelheit zu. Eine eisige Hand packte ihn am Nacken und schleppte ihn aus dem hereinfallenden Dämmerlicht des Ganges ins Dunkel, warf ihn auf den Boden. Er faßte in etwas Klebriges.
„Danke, Schwester Stefanie“, säuselte dieselbe Stimme ironisch. „Schließen Sie die Tür, damit wir uns unserer eigentlichen Arbeit zuwenden können.“ Claude, wie ein Tier auf allen Vieren, hob den Kopf und versuchte irgend etwas in der Dunkelheit zu erspähen. Doch er konnte nur Silhouetten ausmachen, die sich um das Bett einer Patientin versammelt hatten. Engelschläger, fiel Claude ihr Name ein. Komischer Name. Blasphemisch. Er warf einen vorsichtigen Blick nach hinten, wo er seinen starken, weiblichen Gegner Schwester Stefanie vermutete; aber nichts erkennen konnte außer der Finsternis. Er rappelte sich vorsichtig auf und bemerkte zitternd: „Was, zum Teufel…?“ „Sein Werk“, unterbrach ihn dieselbe Stimme, die ihn empfangen hatte. Nach einer kurzen Pause: „Wir operieren. Bitte verhalten Sie sich ruhig.“ Dann waren einige schmatzende und reißende Geräusche und ein leises Schwappen zu vernehmen. „Es ist vollbracht. Schwester Stefanie, darf ich Sie jetzt bitten, ein wenig Licht in die Angelegenheit zu bringen?“ Heller Schein flutete von hinten gegen die Decke und erleuchtete das Arrangement. Claude brachte keinen Ton hervor. Er war kreidebleich. Vor ihm – bis auf die Rippen entblößt und ausgeweidet – Frau Engelschläger auf einem roten Teppich, dessen Ausläufer sich quer im ganzen Zimmer verteilten. Blut, überall tröpfelndes oder gerinnendes Blut! Claude brachte nur einen kehligen Laut der Überraschung hervor. „Genieren Sie sich nicht“, verkündete der Blutbeschmierte. „Unsere Arbeitsweise ist manchmal etwas – ungewöhnlich. Zumindest für menschliche Augen“, und hielt ihm eines, das ihn zu fokussieren schien, in der ausgestreckten Hand entgegen. Claude würgte. Professor Stephan Frank trat hinter dem Bett hervor, ließ ihn außer acht, winkte seinen Gesellen und ging zum nächsten
Bett. Die Patientin schlief tief und fest, ebenso wie die anderen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich nur schwach. „Diese Menschen. Hoffnungslose Fälle. Basteln an ihrer Medizin herum, als wollten sie mit Gott in Konkurrenz treten.“ Claude kotzte eine Lache auf den Fußboden. Als er wieder aufsah, entdeckte er Schwester S. in ihrer Ecke hinter der Tür in vollkommener Leichenstarre, ihre lichtstrahlenden Augen wie eine Stehlampe gegen die Decke gerichtet. Als er sich umwandte, war Professor Stephan Frank am Fußende des nächsten Bettes dabei, neue Anweisungen zu geben. „Hier ist Bestrahlung angesagt. Assistenzarzt Schwarzwald – wenn ich bitten darf.“ Der Angeredete trat mit vorgeneigtem Kopf und geschlossenen Augen an die Seite des Patientenbettes. Als Schwarzwald die Augen öffnete, durchschmorten rote Feuerblitze das Herz der Patientin. Sie starb ohne einen Ton oder ein Aufbegehren. „Was für ein Betrug, den Menschen ihre Hoffnungen oder gar ihren Willen zu lassen“, stimmte Professor Frank seine Hymne an. „Die Zeit ist reif, dem Tod zu geben, was ihm gebührt.“ Die bleiche Ärzteschar machte eine zügige Kehrtwendung, marschierte an Claude vorbei, für den das alles unfaßbar, obskur, ja dämonisch war, zur nächsten Leichenschau. Professor Stephan Frank brauchte nicht lange, um seine Therapie zu stellen. „Hormontherapie. Bitte, Oberarzt, nehmen Sie sich dieses ungnädigen und äußerst böswilligen Befalles an.“ Der Genannte trat hervor, riß die zirka Fünfundfünfzigjährige auf dem Bett herum und fickte sie nach einem rohen Entkleidungsritual mit roboterhaften Bewegungen. „Nekrosplast injiziert“, vermeldete er nach einigen störrischen, orgastischen Bewegungen. Fast augenblicklich war das Ergebnis ersichtlich. Die stumme Puppenfrau löste sich vom Unterbauch heraus in braunen, zähen Schlamm auf.
„Hier sehen wir das Paradebeispiel menschlichen Vertrauens und menschlicher Hingabe.“ Danach wandten sie sich dem Fenster zu und schritten in Reihe durch es hindurch in ihre Welt zurück. Sie verblaßten bis zur vollkommenen Transparenz. Doch sollte Claude nicht ohne einen letzten Gruß in seine Fremde zurückgeschickt werden. Der letzte in der Reihe wandte sich um, als die anderen hinter dem wabernden Blau der Fenster verschwunden waren. Aus seinem Mund (nichts als Glaubwürdigkeit) schoß ein Schleimprojektil, welches sich wie ein verschlungenes Kettchen um sein Handgelenk wickelte. Es verschmolz mit seiner Haut. „Vielleicht wäre dein Leben damit glücklicher verlaufen – mit einer Schleimspur“, hohnlachte das Monstrum. „Ein Tumor kommt selten allein – oder: Wahre Schönheit kommt von innen.“ Damit verschwand es, und mit Claude ging eine ungeheure Verwandlung vor sich. Sein Unterarm fühlte sich zuerst an, als hätte er ihn in Säure gebadet, dann nahm er abnorme Formen an. Er plusterte sich zu einer Schlegelform auf, überall sprossen kleine und große, förmige und unförmige, unterhautnah rasende Kugeln, die seinen Mantel durchreißen wollten. Sie waren in ständiger Arbeit, verdrängten die anderen Geschwulste wie in einem befremdlichen Murmelspiel und pflanzten sich in seinem gesamten Körper fort, bliesen ihn zu einem amorphen Monstrum auf. Sein Körper war ein verschiebbares Puzzlewerk geworden. Nach einem nur kurzen Kampf brach Claude zusammen.
Es herrschte eine unheimliche, traurige Stille im Zimmer, bis er sich wenige Minuten später wieder zu regen begann. Es war kein Traum gewesen! (Natürlich nicht.)
Er fühlte sich aufgeblasen und bis zum Zerreißen gespannt. Als er an sich heruntersah, wurde ihm nur zum Teil bewußt, daß er nackt war – spielte es doch in Anbetracht der „Umstände“ keine Rolle mehr. Einige Fetzen seiner Kleidung, die der Verwandlung nicht hatten standhalten können, lagen zu seinen schaufelartig aufgeblähten Füßen. Eine blutige Träne quoll ob des inneren Druckes aus seinem Augenwinkel und fiel von seinem Antlitz. Er schleppte sich röchelnd und ungelenk aus dem Zimmer und flüchtete in die gehäutete Nacht, noch die Worte in den Ohren: „Ein Tumor kommt selten allein – oder: Wahre Schönheit kommt von innen.“
Michael Mittelbach Zur Vita: Puh, fällt mir gar nicht so viel ein. Aber nun denn: Geboren 01.10.1968, Gießen, Zeichner und Gelegenheitsschreiber, leidenschaftlicher Spielfreak und Musikfreak, Death-Metal und Black Metal bevorzugt, ebenso Klassik und Trance, ebenso Space und Soundtrack, Lovecraft-Fan, Leser von Stephen King und Clive Barker, ebenso Fan von Fritz Leiber und J.G.Ballard, künstlerisch bevorzugt sind H.R. Giger, Helnwein, Dali, Comiczeichner und manchmal auch Vincent van Gogh. Sporttreibender Fahrradler und gerne wandernd durch das mittelhessische Hinterland. Schmeißt gerne seine Zeichnungen und Texte in den Müll. So, ich hoffe, das reicht, bin wohl kein guter Vitaschreiber. Tiefseetaucher bin ich leider nicht, weiße Mäuse finde ich ziemlich eklig, aber ehrlich, was ich gut finde, ist Freefalltowerfahren, also mit einem Aufzug in etwa hundert Meter in die Höhe geschossen werden, um dann im freien Fall runterzufallen. Außerdem fahre ich gerne Auto, zugegebenermaßen. Was ich gerne machen würde, ist Mountainclimbing. Aber ob ich so sportlich bin, weiß ich nicht. Zudem würde ich gerne einen Roman schreiben, zwei habe ich schon verfaßt und weggeworfen, Bastei hat abgelehnt, aber irgendwie ruhen in mir immer noch und weiterhin die Ideen für einige Romane, Horror natürlich, vielleicht auch ein wenig SF. Aber vor allem Horror und ein bisschen psychedelisch. Vielleicht bist du ja bei Vorlage in zwei Jahren sogar mal an einer Veröffentlichung interessiert. Nur, bei mir ist das mit dem Schreiben wirklich nur manchmal dringendst wichtig. Zeichnen und Bilder sind mir irgendwie wichtiger. Aber…
Mittelbach Michael ALPTRÄUME
Wenn
er nachts aufwachte, fragte er sich manchmal, wie es sein mochte, in einer anderen Welt zu leben. Nicht die hiesige Welt, nein, eine Welt in irgend einem anderen Universum, die er noch nicht kannte, die ihn aber manchmal tief in seinem Unterbewusstsein zu erreichen schien. Er träumte oft von weiten Landschaften, die sich schier endlos vor ihm ausbreiteten. Landschaften, die kein Menschenauge jemals gesehen hatte. Dann tauchten in diesen Landschaften wieder Gesichter auf, sich verformende Seinsformen, die manchmal ganz in seine Nähe kamen, um ihn zu betrachten, um dann wieder in rasender Geschwindigkeit an ihm vorbeizuziehen. Er hatte in diesen Gesichtern niemals etwas gesehen, das er kannte. Es waren die Physiognomien seiner erschreckten Seele, die sich teilweise durch die Nächte quälte, um ihm von einem anderen Dasein zu berichten. Er wachte meistens im frühen Morgengrauen auf, häufig schweißgebadet, um sich von seinen alptraumhaften Irrfahrten durch sein Unterbewusstsein zu erholen. Einmal stand er morgens auf und sah, das auf seinem Schreibtisch ein Zettel lag, den er nicht dort hingelegt hatte. Der Zettel war schon älter, und auf ihm war mit schwarzer Tinte geschrieben worden. Eine beinahe unleserliche Schrift, er brauchte zehn Versuche, um sie wenigstens einigermaßen entziffern zu können. Dort stand in etwa: „Kommen – Sie – um – Mitternacht ~ zu – der – alten – Brücke – in – der – Nähe – des – großen – Bahnhofsgebäudes – Es – eilt – “ Er hoffte, daß er die Schrift richtig entziffert hatte, da er den Worten nachkommen wollte. Bisher hatte er noch niemals etwas in dieser Handschrift erhalten, und er hatte ebenso keine Ahnung, ob er ange-
sprochen werden sollte. Jedenfalls musste er herausfinden, was diese Worte zu bedeuten hatten. Er wartete an dem Tag bis in die Nacht, um sich bereit zu machen, und verließ dann in aller Ruhe das Haus. Er wusste, wo er hin musste, schließlich war er einigermaßen vertraut mit der alten Stadt, in der er lebte. Etwa eine Stunde ging er zu Fuß, dann erreichte er die alte Brücke. Er sah sie schon von weitem, wie ein Tier aus uralten Zeiten stand sie dort in der Ödnis der Stadtlandschaft. Irgendwo weiter dahinter sah er das Bahnhofsgebäude in die Luft ragen, das wie ein Wesen von einem anderen Planeten aussah. Er musste kurz an Sharam denken. Sharam war für ihn der Spruch seiner Kindheit gewesen, um sich vor bösen Geistern zu bewahren. Sharam hatte ihm meistens geholfen, sich in einen heilsamen Schlaf zu retten. Aber er wusste, dass ihm das heute nicht mehr weiterhalf. Er ging näher an die Brücke heran, wo er zuerst nur finstere Schatten sah, die einen merkwürdigen Tanz zu tanzen schienen. Dann sah er eine Gestalt, die sich dort in den dunklen Ecken verborgen hatte. Als er näherkam, trat sie hervor. „Ich wusste, dass Sie kommen würden… Sie haben meine Nachricht also gefunden.“ „Ja, auch wenn ich nicht weiß, warum Sie sie auf meinem Schreibtisch hinterlegt haben…“ „Nun, ich weiß von Ihren Träumen. Deshalb habe ich Sie gebeten, hierher zu kommen.“ „Ja, jetzt bin ich hier. Was wollen Sie von mir?“ „Haben Sie schon einmal etwas von Sharam gehört?“ wollte die Gestalt wissen. Sie trat jetzt noch weiter aus den Schatten heraus. Ein älterer Mann zeigte sich, der leicht gebeugt war, und sein Gesicht unter einer Schärpe verhüllt hatte. „Sharam? Ja, ich kenne Sharam. Warum fragen Sie danach?“ Etwas gereizt. „Sharam hat mich gebeten, mit Ihnen in Verbindung zu treten.“
„Sie gebeten, mit mir in Verbindung zu treten…?“ „Ja, ich glaube, Sharam will Sie vor irgend etwas warnen. Und zwar ganz dringend. Wahrscheinlich hat es mit Ihren Träumen zu tun. Sie müssen stark träumen in der letzten Zeit, hat Sharam recht?“ Er zögerte jetzt zu antworten, irgend etwas berührte ihn tief. Und er hatte keine Ahnung, wo die schrecklichen Träume der letzten Zeit hergekommen waren. Er hatte sie einfach als Überdrehtheit seiner Psyche eingestuft, aber wie es aussah, hatten sie doch mehr zu sagen, als angenommen hatte. Er wandte sich dem gebeugten Mann zu. „Ja, Sharam hat Recht. – Ich träume, und die Träume sind schrecklich. Ich verbringe kaum noch eine Nacht, in der ich nicht schweißgebadet erwache…“ „Also hat Sharam Recht.“ „Wie es aussieht…“ „Sharam hat mich gebeten, Ihnen das hier zu geben.“ Der ältere Mann zog aus seinem Mantel ein Buch hervor, dass er ihm hinüberreichte. Er nahm das Buch und wog es in seiner Hand. Es hatte ein für ein Buch nicht unbeträchtliches Gewicht. „Ich muss jetzt wieder los, ich wünsche Ihnen alles Gute. Sei Sharam mit Ihnen.“
Er kehrte danach wieder zurück in seine Wohnung. Das Gewicht des Buches ließ er nicht aus seiner Hand fallen. Vor seinem Schreibtisch sitzend blätterte er in den Seiten, um herauszufinden, was darin stand. Er sah gleich, daß die Schrift eine ganz alte war, die Sprache dagegen schien ungleich moderner, so, als habe man das Buch in den letzten zehn Jahren verfasst. Er begann zu lesen. Zunächst verstand er gar nichts. Da war die Rede von fremden Welten und eigenartigen Wesen, die dort lebten. Irgendwelche verrückten Phantasien. Doch dann sprach der Erzähler von einem göttlichen We-
sen namens Sharam, das auf diese beschriebene Welt kommen würde, um sie von allem Übel zu befreien. Er musste kurz an seine Träume denken. Hatte er etwa in seinen Träumen Kontakt mit einer fremden Welt gehabt, die irgendwo anders in einer verborgenen Dimension lag? Er ahnte, daß da irgend eine Wahrheit verborgen lag, die er noch nicht kannte. Er ging am frühen Morgen schlafen, diesmal träumte er nicht mehr. Scheinbar hatte die Lektüre dieses Buches seine verwirrten Sinne etwas erhellt. Als er am späten Vormittag erwachte, fühlte er sich einigermaßen erholt und komischerweise sehr ruhig und ausgeglichen. Wahrscheinlich war das auf den traumlosen Schlaf zurückzuführen. Er musste wieder kurz an das Buch denken, und daran, daß er an dem Tag etwas Wichtiges zu erledigen hatte. Deshalb legte er den Band auf den Schreibtisch, um später, am Abend, weiter darin lesen zu können. Doch als er zurückkam, war er ziemlich müde und nicht mehr sehr an dem Buch interessiert. Als er in das Zimmer kam, in dem der Schreibtisch stand, sah er, dass das Buch verschwunden war. Es lag nicht mehr an seinem Platz. Er ging hin und schaute überall nach, aber er konnte nichts entdecken. Das Buch war nicht zu finden. Er hatte keine Ahnung, wer es hier weggenommen haben konnte. Vielleicht war jemand in die Wohnung eingedrungen. Er wusste es nicht. Aber er wollte auch keine weiteren Unternehmungen machen, dem Buch nachzuforschen. Es war verschwunden. Als er in dieser Nacht schlafend im Bett lag, wurde er plötzlich von einem Geräusch aufgeweckt. Er schlug die Augen auf und horchte in die Dunkelheit des Zimmers hinein. Irgend jemand schien anwesend zu sein. Er stand auf und drückte auf den Lichtschalter. Dann sah er in der Ecke des Zimmers auf einem Stuhl sitzend den älteren Mann, der ihm unter der Brücke das Buch gegeben hatte. „Was machen Sie hier? Wie kommen Sie hierher?“
„Bitte, beruhigen Sie sich. Ich bin wegen des Buches hier. Ich weiß, dass es nicht mehr hier ist. Sharam hat mir den Auftrag gegeben, Sie aufzusuchen…“ „Wissen Sie – ich weiß nicht, wo das Buch ist. Es ist verschwunden. Einfach so. Ich war gestern unterwegs, als ich wiederkam, war das Buch weg.“ Der ältere Mann schaute ihn stirnrunzelnd an. So, als bezweifelte er die Richtigkeit des Gesagten. Dann erwiderte er: „Ich hoffe, Sie wissen, dass Sharam Ihnen helfen will, Sie von diesen Träumen zu befreien. Und das Buch ist der Schlüssel dazu. Wenn Sie es nicht wiederfinden, werden Sie vielleicht nie wieder von den Träumen befreit werden. Ich komme morgen wieder, vielleicht haben Sie das Buch dann wiedergefunden. Ich hoffe es für Sie…“ Am nächsten Abend erschien der ältere Mann wieder. Diesmal klingelte er normal an der Wohnungstür und trat mit flinken Schritten ein. Er schien nervös und in Eile zu sein. „Und, haben Sie das Buch wiedergefunden?“ „Nein, ich habe es nicht. Es ist und bleibt verschwunden…“ „Dann hoffe ich, dass Sharam Ihrer armen Seele gnädig ist und Sie von Ihren Träumen erlöst. – Ich muß jetzt weiter, vielleicht werden wir uns nie wieder begegnen.“
An diesem Abend, in der Nacht und in den nächsten Nächten träumte er nicht mehr. Er schlief tief, fest, vielleicht war all das nur eine Einbildung gewesen, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte. Nach drei Wochen hatte er ein merkwürdiges Erlebnis. Er war zu Fuß zu seiner Wohnung unterwegs, als ihm ein junger Mann in den Weg trat. Er sah etwas mitgenommen aus, aber in seiner Hand hielt er ein Buch, das er sofort erkannte. Es war der gesuchte Band, der vor Wochen aus seiner Wohnung verschwunden war. „Hier, nehmen Sie das, ich glaube, es gehört Ihnen. Ich habe es gefunden, aber Ihr Name stand darin…“
„Woher kennen Sie meinen Namen?“ „Das spielt keine Rolle, aber ich denke, es ist besser, wenn Sie das Buch besitzen. Darin stehen Dinge, die besser niemand erfahrt. Ich habe darin gelesen, und bin seitdem nicht mehr ich selbst… ich wünschte, ich hätte es nie getan. Und jetzt – nehmen Sie es…“ Er drückte ihm das Buch in die Hand und verschwand dann einfach hinter der nächsten Straßenecke. Mit dem Buch in der Hand kehrte er in seine Wohnung zurück. Was für Dinge standen darin geschrieben, dass seine Leser es nicht lesen konnten, ohne daran zu verzweifeln? Er hoffte, dass er es nie herausfinden würde.
Jens Neuling man sagte mir, ich sei in einer apotheke gezeugt worden, was das für meine leben bedeutet werde ich vielleicht herausfinden, eindeutige prägungen kann ich (noch) nicht feststellen, und apotheker bin ich auch keiner. wann und wo ich geboren wurde? unehelich an einem samstag gegen acht am 01.06.1968 im schönen koblenz am rhein. genetisch künstlerisch geschädigt, da meine vorfahren (mütterlicherseits inkl. mutter) aus dem bereich der klassischen musik stammen. nach einer von unlangweiligen bis turbulenten kindheit und jugend entpuppte ich mich zu einem gesellschaftlichen versager, was ich als sehr positiv ansehe. bevor ich meine berufliche heimat in der literatur- und kunstszene fand, war ich meist selbstständig in vertrieblich- oder kaufmännischer funktion unterwegs, dabei traf und bearbeitete ich branchen wie: erotik, finzanzdienstleistungen und esoterik, aber auch der ganz normale wahnsinn wie sanitär oder sicherheitstechnik waren dabei. ein paar stopps legte ich noch in der szene persönlichkeitsbildung- und trainings ein. seit anfang 1998 bin ich herausgeber der monatlich erscheinenden zeitschrift maskenball, die es sich zur aufgabe gemacht hat künstler und autoren zu veröffentlichen und zu fördern. meine texte werden und wurden veröffentlicht in literaturzeitschriften, selbstherausgebrachten broschüren, in anthologien und natürlich im virpriv verlag. nun bin ich noch mitherausgeber einer zeitschrift für phanasie und horror, und herausgeber von anthologien. in zukunft wird das eine oder andere projekt mit sicherheit noch dazustoßen.
Jens Neuling TOD EINES SATANISTEN
Das Fühlen übers Herz, die Anteilnahme, Trauer und der Schmerz des Anderen. Liebe zu etwas, jemanden. Was hatte mich das immer angewidert. Es war das Gesetz für mich…. alles Illusion, eine Frage der Wahrnehmung, Schmerz, Leid, du mußtest nur kurz an Knöpfchen drehen und schon hattest du die Frequenz verändert, schießt dir einer in den Arm, richte deine Wahrnehmung, dein Gehirn auf etwas anderes. Schmerz – eine Einbildung, eine Art Logik die vom Gehirn gesteuert wird, ein Mechanismus, den es im Training galt selbst zu steuern. Das Gehirn bist du, und du bist der Boss deiner Selbst. Hunderte Mal praktiziert Schmerz abzuschalten, Ekel zu besiegen, Überwindung und Selbststeuerung zu leben, jegliche Art eigener Hemmschwellen zu überspringen. Aus dem Auge/der Wahrnehmung – aus dem Sinn – Angst, Schmerz, Wut, Ekel und Mitleid existieren nicht, eine Einbildung – Programme aufoktroyiert von Nichts-Wissenden, unwichtigen Menschen, die nur Masse und Fußvolk darstellten, auf einem Schachbrett nur Bauern, wo es egal war ob Weiß oder Schwarz gewinnt. Es gibt genügend Schachbretter; Mütter und Väter die Moral weitergeben in der Hoffnung ihr Kind wird gut und anständig. Hoffnung, die immer wieder zerbrechen muß, weil das Mitgegebene zum Scheitern verurteilt ist. Das war immer mein Denken gewesen. Was für ein Jammertal, dachte ich, in dem sich Menschen bewegen müssen, weil sie sich abhängig machen von Gut und Schlecht, Liebe und Hass und von einer Obrigkeit. Sie funktionieren immer gleich, sind so leicht zu fangen, zu lenken und auszunutzen, da sie irgendwelchen Illusionen hinterherrennen, in der Hoffnung, ein wenig Liebe abzubekommen.
Liebe… ja… was war es? Eine Energie, das Geheimnis des Kosmos…? Nein! Liebe ist hier das falsche Wort, war ich der Meinung, der Kosmos stellt hier gar nicht die Frage, was ist was, es ist einfach und ich kann bestimmen. Ich bin der Motor, der Schöpfer meiner Realität. Es war jetzt auch nicht die Zeit etwas in Frage zu stellen, ich wußte wie es funktioniert… das System. Es war jetzt die Zeit, mich körperlich wieder herzustellen. Es hatte mich genau in den Rücken getroffen; ein schwerer Gegenstand rammte sich mit einer hohen Geschwindigkeit in meinen Rücken. Ich fiel schlagartig zu Boden. Nachdem ich nach kurzer Benommenheit die Situation analysiert hatte, entzog ich meiner Verletzung jegliche Wahrnehmung, mein Gehirn sollte nicht in die Versuchung kommen, zu denken und zu vergleichen, jetzt nicht mehr analysieren; es würde sonst zum Ergebnis – Sterben – kommen. Solange du nicht denkst – irgendwas ist anders – dann ist es auch nicht so. In solchen Situationen war mein Körper mein Werkzeug, ein Fortbewegungsmittel, welches einen Blechschaden hat; Schmerzen gibt es nicht, ein Auto empfindet auch nichts, Atom bleibt Atom, und ich bin vom Teilchenaufbau her genauso strukturiert. Schmerz, Leid, Freude und Liebe – eine erfundene Gefühlswelt der Menschen – es beeinträchtigt und verlangsamt unser Vorankommen. Ich dachte mir, wo wäre ich denn heute, wenn ich mich mit niederen Gefühlen aufgehalten hätte?
Ich lag noch eine Weile so da, bevor ich verblutete.
Curtis Nike
Curtis Nike wollte eigentlich immer Astronautin werden. Allerdings stellte sich schon früh heraus, daß die einzigen Zustände der Schwerelosigkeit, die sie je erreichen sollte, sich in luziden Traumzuständen abspielen sollten. So orientierte sie sich schnell um, konsumierte Science Fiction, Horror und Phantastik aller Art, wurde Religionswissenschaftlerin und freischaffende Schriftstellerin – beides Jobs mit Zukunft und Perspektive – und gründete einen kleinen Verlag. Niedergelassen hat sie sich dann – nach einer Deutschlandtournee vom Ruhrgebiet ins Rheinland mit Zwischenstop Brandenburg – mit Mann und Kater in Berlin Kreuzberg, wo sie nun gelassen ihrem Lebensabend entgegen sieht. Kontakt:
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Curtis Nike FLEISCHWERDUNG
Er strich über die kühle Hautoberfläche des Geschöpfes und spürte wie ein Schauer über seinen Körper lief. Das hatte er nicht vermutet. Natürlich hätte er nicht sagen können, ob er überhaupt etwas erwartet hatte, eigentlich, so gestand er sich ein, hatte er damit gerechnet nichts zu finden. Ihm war gar nicht klar, weshalb er dem seltsamen Geräusch eigentlich gefolgt war, normalerweise mied er die Gassen und Hinterhöfe in diesem Teil der Stadt. Jeder vernünftige Mensch tat dies!
Er lehnte sich an die kühle, feuchte Häuserwand und inhalierte tief den Rauch seiner Zigarette. Von der Straße her fiel nur das verwaschene, unnatürliche Licht einer Straßenlaterne in die Gasse und spendete unzureichend Licht. Der graue, verwaschene Nachthimmel ließ das Mondenlicht schon lange nicht mehr durch seine bewölkten Schichten aus Dreck, Abgasen und Smog dringen. Er hätte gehen sollen, hätte die Kreatur einfach da liegen lassen sollen, aber etwas hielt ihn zurück. Es war faszinierend und er gestand es sich ungern ein, aber dieses Geschöpf hatte etwas Außergewöhnliches an sich, es schien wie eine Aura aus unsichtbarem Schimmern um ihn zu liegen. Diese Strahlung war auf befremdliche Art erotisch. Das Wesen regte sich. Unwillkürlich zuckte er zusammen, seine Kippe glitt aus seiner Hand und erlosch zischend in einer öligen Pfütze. Er hockte sich neben diese kauernde Masse aus Leben. Es war humanoid, das hatte er sofort erkannt, aber so ein Geschöpf war ihm dennoch noch nie unter die Augen gekommen (und er hatte wahrlich schon verdammt viel gesehen). Kleidung schien es nicht zu tragen, auf jeden Fall keine erkennbare, und auch sonst konnte er nur wenig an ihm erkennen. Es wirkte irgendwie unvollendet und formlos. Ein Zittern durchfuhr den Leib des Fremden und es versuchte sich wankend aufzurichten, dabei stützte es sich auf fingerlose Handflächen, die schmal und elegant wirkten. Sein ganzer Körper war sehr schlank, es war langgliedrig und graziös. Das, was wohl seine Haut war, schimmerte in einem seltsamen Farbspiel, als habe es Öl auf der Körperoberfläche. Immer wieder bildeten sich auf ihm neue Muster und Mosaike, die sich permanent wieder verformten, nur um sich neu zu bilden. Es roch wie eine alte Kindheitserinnerung. Er seufzte, ohne sich dessen gewahr zu werden. Es war wunderschön. Seine Hand strich erneut über den kühlen, ansprechenden Körper. In ihm wurde ein Feuer entfacht, das er für erloschen gehalten hatte. Er sehnte sich einfach danach das Geschöpf in seine Arme zu nehmen –
in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß er einen Engel gefunden haben mußte. Es wandte ihm den Kopf zu, augenlos, mundlos, formlos. Scheinbar nahm es ihn dennoch wahr, denn es schien ihn lange zu mustern. Die Farben in seiner Gesichtsfläche wurden intensiver, kreisten schneller und bildeten dann bekannte Muster. Augen, deren Blau so tief war, wie es einst das Blau der Ozeane gewesen sein muß, formten sich und blickten ihm entgegen; blasse, schmale Lippen nahmen Gestalt an, öffneten sich und sogen tief die Nachtluft, die nach Benzin und Moder roch, in sich hinein. Es richtete sich nun vollständig auf, langsam und bedacht, schwankte auf seinen zwei Beinen und stützte sich an der Häuserwand ab. Der Mensch hockte am Boden und blickte zu seinem flügellosen Engel hinauf. Ehrfurcht und Verlangen glühten gleichermaßen in seinen Augen, aber das Wesen konnte das nicht erkennen. „Wo haben sie mich hingeworfen?“ fragte es, und seine Stimme waren Rasierklingen im Fleisch des Menschen. Er schluckte. Seine Lippen zitterten, und er schüttelte langsam und unmerklich den Kopf. Sein Verstand konnte nicht mehr verarbeiten was er sah, was er hörte, was er verspürte. Der Schmerz in seiner Seele drohte ihn zu zerreißen. Das Geschöpf wartete nicht länger auf eine Antwort, seine tentakelartigen Arme schossen blitzschnell vor und packten den Menschen. „Auch egal.“ Und diesmal war die Stimme wie ein Windhauch im Geist des Mannes. Und dieser Windhauch stahl ihm seine Erinnerungen. Alles, was er noch kannte, war das Gegenüber. Er hatte vergessen, daß er einmal geboren worden war und unter Menschen gelebt hatte, er hatte vergessen, daß er sterblich war und selbst das er lebte war ihm nicht mehr bewußt. Seine Seele kannte nur noch Begehren und Verlangen nach dem Einen. Hätte er noch einen Hauch an Erinnerungen gehabt, so hätte er erkennen können das er in sein eigenes Gesicht schaute, er hätte sein strähniges, schwarz gefärbtes Haar erkannt, seine bleiche Haut, seine roten vollen Lippen (die
immer zu grell geschminkt waren) und seine wässrigen, traurigen Augen erkannt. Aber das konnte er nicht mehr. Das Geschöpf, das sein Engel war, warf den leblosen Körper von sich und schüttelte verächtlich den Kopf. Es war seine achte Fleischwerdung und es war immer die gleiche Tortur für ihn. Er kniete sich vor die vergehende Materie, die sich zusehends zersetzte und zusammenfloß, sich mit dem schlierigen Ölwasser am Boden vermischte. Der neue Mensch nahm den Ledermantel und die abgetretenen Stiefel des Vergehenden an sich, er zog den Mantel über seinen hageren, nackten Körper. In der Tasche waren Zigaretten und ein Feuerzeug und er nahm sich eine der Kippen. Vorsichtig entzündete er sie und inhalierte den Rauch tief in seine neugeformten Lungen. Vielleicht stand für einen Moment Bedauern in seinen Augen, gewiß aber nicht für den, der einmal ein Mensch gewesen war. Der Neugeformte hatte Schmerzen und als er auf die Oberfläche der Pfütze blickte, in der sich ölige Muster, die sich langsam ineinander verwirbelten, bildeten, traten ihm Tränen in die Augen. Er seufzte. „Ich hoffe Du hast mein Geschenk verdient.“ Langsam, noch etwas schwankend, ging er seinem neuen Leben entgegen.
Stephan Peters (Fragebogen für ein Interview) Frage: In welcher Zeit würden Sie am liebsten leben? Antwort: Um 1900 in Paris. Mein Name wäre Baron de Charlus, und ich würde mit Jeremy Irons und Alain Delon in anrüchige Salons gehen. Frage: Aber Sie leben doch… Antwort:… in Düsseldorf, leider, und ich heiße Stephan Peters. Dafür ist mein Beruf ebenso selten wie exotisch – Verwaltungsangestellter im Öffentlichen Dienst. Okay, gelernt habe ich Schauwerbegestalter, nebenbei drummte ich in einer Rhythm and Blues Band. Es war zur Zeit der Punischen Kriege. Frage: So alt sind Sie doch gar nicht? Antwort: So alt wie Thomas Gottschalk und Wolfgang Niedeggen. Aber nicht beide zusammen! Frage: Welches Sternzeichen sind Sie? Antwort: Doppelter Wassermann, was alle obigen und untigen Antworten erklärt. Frage: Ihre Lieblingsautoren? Antwort: Lieblingsautoren: Mystiker, lese viel Philosophie und Psychologie. Dann: Ruth Rendell, Martha Grimes, Bret Easton Ellis, Henning Mankell, H.P. Lovecraft. Micky Maus. Frage: Und Musik? Antwort: Barock, Dark Metal, Frank Sinatra, Sade, Trance. Frage: Was lieben Sie? Antwort: Die Nordseeinseln, Ruhe, Lesen, Rauchen, gut geschriebenen Psychokrimis, also keine aufgeblähten Kurzgeschichten über SF und Fantasy. Ersteres mag ich nicht, da ich keine Glühbirne einschrauben kann, letzteres sind zu viele Personen drin. Liebe mehr Bücher mit 2 bis 3 Protagonisten. Frage: Was hassen Sie?
Antwort: Fragebögen. – Dann: Flexibilität, Offensein für alles, Spontaneität. Die Leute sind so offen, daß man sie gar nicht mehr sieht und haben keinerlei Rückgrat. Frage: Ihre Krankheiten? Antwort: Rückenbeschwerden, Nervosität. Ich danke Ihnen für das Gespräch! Ich nicht…
Stephan Peters COOL JAZZ
Bin ich das? fragte sich Barbara Steele, als sie in den Spiegel starrte. Ich hasse Überstunden, mein Gott, das bin tatsächlich ich. Dreiunddreißig Jahre alt, aber meine Großmutter sah im Sarg besser aus als ich. „Bye!“ verabschiedete sich Harvey Colefax von ihr. „Bye, Harve! Ich geh auch gleich. Vierzehn Stunden Verbrecherjagd, mit null Ergebnis reichen mir. Du weißt gar nicht, wie ich mich auf meine Badewanne freue! Moschus, Candlelight und Frank Sinatra im Hintergrund, Zigarette in der Schnauze, Whisky auf dem Wannenrand, und…“ „Ich schätze, es würde dir besser gefallen, wenn Robbie Williams in der Wanne wäre und kein Gruftie aus der Konserve.“ „Ciao, Bello, du bist noch sehr jung, und weißt nicht, was einer Frau guttut.“ „Schätze, du hast recht. Zu zweit in der Wanne, na ja, das hört sich immer cool an, aber: Wer sitzt auf dem Stöpsel?“ „Wenn du so weiterredest, kannst du deinen gleich im Spülstein suchen!“
„Okay, okay“, grinste Colefax und wurde wieder ernst. „Du hast tatsächlich gute Arbeit geleistet. Und wenn du nach der fünften Leiche immer noch keine heiße Spur hast, ich meine…“ „Danke, Harve. Aber ich kann keine Fünfe gerade sein lassen, alles klar? Wenn ich wenigstens ein Motiv entdecken könnte. Fünf Opfer, keines hat mit dem anderen Kontakt gehabt, alle grundverschiedene Typen, kein spezifisches Geschlecht, und…“ „Aber alle wurden mit einem Skalpell getötet, und zwar mit ein und demselben. Aber warum?“ „O Harvey, du störst mein Rendezvous mit Frankieboy.“ „Ich wußte – du bist nekrophil; ich geh ja schon.“ Noch auf der Treppe hörte sie ihn sagen: „Und ich bin wesentlich älter, als ich aussehe. Wenn du’s mal mit mir…“ Barbara schloß müde lächelnd die Tür und kramte ihre Sachen zusammen. Vielleicht hat er recht, dachte sie verbittert. Da klingelte das Telefon. Soll ich, oder – soll ich? –, und schon nahm sie ab. „Hallo – ist da die Mordkommission?“ „Ja, was wünschen Sie?“ „Hören Sie, ich muß dringend mit Ihnen sprechen, es geht um die fünf entsetzlichen Morde. Ich glaube, ich habe einen wichtigen Hinweis für Sie!“ Alle Müdigkeit war von Barbara abgefallen. Natürlich hatten sich genügend Spinner gemeldet, aber vielleicht – „Okay – ist es Ihnen möglich, sofort zu uns zu kommen, oder wir…“ „Absolut unmöglich! Wissen Sie, ich hasse jede Art von unpersönlicher Atmosphäre, in einem Lokal zum Beispiel kann man wesentlich lockerer plaudern.“ „Plaudern? Na gut, was – wo schlagen Sie vor?“ „Am Alten Bahnhof. Sie wissen, wo der ist?“ „Ich komme. – Übrigens: Mein Name ist Steele, Inspector Barbara Steele. Sie erkennen mich…“ „Ich erkenne Sie sofort. Bis gleich. Sie werden es nicht bereuen!“
Barbara Steele zog sich an und vergewisserte sich vorher, ob sie bewaffnet war, denn der Alte Bahnhof lag völlig verlassen und ungenutzt an mit Unkraut überwucherten Gleisen. Er diente nur noch einem windigen Lokal mit schlechtem Ruf als Behausung. Zum letzten Mal war Barbara vor zwei Wochen in dieser Gegend, als man die Leiche des fünften Opfers, einer alten Sozialhilfeempfängerin, neben Gleis drei gefunden hatte. Es war Mitte November, und ein eisiger Wind fegte um die wackeligen Mauern des Gebäudes. Eine einzige Laterne warf ihr gelbes Licht auf die schmutzigen Scheiben. Barbara zog fröstelnd den schwarzen Ledermantel zusammen, als sie ihren Ford verließ. Kam der Geruch von altem Schweinefleisch von den Gleisen her, oder direkt aus dem Kneipe? Zu ihrer Verwunderung empfing sie der, den sie eigentlich zu Hause erwartet hatte: Frank Sinatra sang Night and Day; seine Stimme war wie immer so kalt und hart wie die Gleise vor dem Lokal, aber auch so weich wie der Whisky, den sie gleich zu trinken gedachte. Eine der Ex-Geliebten Frankieboys sagte einmal: Wenn er singt, hat er die kältesten Augen der Welt. Und genau so waren die Augen des Fremden, der bereits am Tisch vor der Theke saß und ihr matt zuwinkte. Groß, schlank, um die Vierzig, bleiches Studiertengesicht mit obligatorischem Ladykillerschal von drei Metern Länge um den Hals. „Gestatten, mein Name ist Stewart Polinsky!“ Er hatte sich linkisch erhoben und reichte Barbara seine eiskalte Hand. Wie eine ölige Qualle, dachte sie und nahm Platz. Der Whisky stand schon vor ihr. „Ich weiß, was Sie lieben“, meinte Stewart Polinsky. „Oh –, darf ich Ihnen Feuer anbieten? Wenn es Ihnen recht ist, werde ich mir auch eine…“ „Mr. Polinsky, ich habe nicht viel Zeit. Bitte sagen Sie mir…“ „Oh, natürlich. Ist diese Musik nicht wundervoll? Jeden Abend sitze ich hier, meistens allein und höre mir Jazz an. Cool Jazz nenne ich ihn. Also jede Menge Errol Garner, Aaron Neville, Lena Horne, und – . Ach ja, ich schweife ab. Aber als armer Autor von Horrorstories ist man froh, am Abend ungestört in the mood zu sein, wenn Sie wissen, was ich meine, die Blaue Stunde und so. Tja, und ab und an die Gesellschaft einiger Gleichgesinnter – und Whisky natürlich!“
„Mr. Polinsky, ich darf…“ „Verzeihen Sie. Ich bin ein alter Schwätzer, der schon lange keine Stimme mehr gehört hat, zumal nicht die einer bezaubernden jungen Frau!“ Upps, dachte Barbara – das hat gesessen! Nur jetzt nicht die Fassung bei so einem plumpen, aber zur rechten Zeit gesetzten Kompliment verlieren; das tut gut. „Sie glauben, mir bei den Ermittlungen behilflich sein zu können!“ „Ich denke schon. Vor zwei Wochen saß ich ebenfalls hier und Dinah Washington sang Teach me Tonight. Wie immer standen auf den Gleisen alte Waggons herum, in denen nur noch Ratten die Fahrgäste sind. Es war nebelig, so wie heute, aber trotzdem sah ich die arme alte Frau, die sich wohl verlaufen hatte, auf dem Gelände herumirren – und eine Gestalt hinter ihr!“ „Können Sie diese Person näher beschreiben?“ Die Steele bemerkte, wie ihre Hände zitterten. Schnell trank sie das Glas leer und steckte sich eine neue Zigarette an. „Herr Ober, bitte noch zwei Whisky!“ „Das wollte ich hören!“ sagte der begeisterte Stewart. „Ich denke schon, daß ich eine einigermaßen genaue Beschreibung liefern kann. Wissen Sie, es war schon immer mein Wunsch, von einer Polizistin verhört zu werden. Warum, weiß ich auch nicht so genau. Es hat sowas Prickelndes. Vor allem, wenn man von ihr insgeheim für den Täter gehalten wird, und ich gehe davon aus, daß Sie das tun, was natürlich nicht stimmt. Also – es hat etwas von Macht an sich. Macht über die Polizei! Vor allem, wenn man sagt, man sei Autor von Gruselgeschichten, also da höre ich schon die Handschellen in Ihrer Tasche klappern.“ „Und für Irreführung derselben kann man auch schon bestraft werden. Also, Mr. Polinsky, Sie stehlen meine Zeit, und ich fürchte…“ Nina Simone sang währenddessen ihr melancholisches Love me or leave me. Fast verschwörerisch sagte Stewart: „Was halten Sie von meiner These: Man ist nicht so alt, wie man sich fühlt, sondern wie souverän man ist! Es ist wirklich schön mit Ihnen, obwohl ich Gesellschaften hasse, die aus mehr als einer Person bestehen:“
Der mit Tattoos bewehrte Wirt kam schlurfend an, aber Barbara sagte: „Zahlen!“ „Zirka einsvierundsiebzig groß, dunkler Mantel, schwarzer Hut“, warf Stewart schnell ein. Sie verharrte in der Bewegung, zahlte und blickte ihr Gegenüber ernst an. „Aha, das hört sich schon besser an. Sie sollten mir draußen die Stelle zeigen, wo Sie den Mord beobachtet haben wollen. Wieso kommen Sie erst jetzt damit an?“ „Es tut mir schrecklich leid, aber ich arbeite für den Miracle-Verlag, und für den soll ich von heut auf morgen eine Vier- bis Fünfseitenstory schreiben; so bin ich nicht dazu gekommen, täglich die Nachrichten zu verfolgen, obwohl die Menschen Futter für meine Träume sind.“ Sie standen vor dem Lokal, und Brook Benton sang Rainy Night in Georgia. Barbara rieselte es kalt über den Rücken, wegen der Musik, wegen der eisigen Kälte, und der Nebel ließ alles in seinem gelben Totenlicht versinken. „Es ist nicht weit von hier, lassen Sie uns gehen“, meinte Stewart Polinsky. „Wissen Sie, was ich glaube?“, fügte er hinzu. „Ich glaube, es handelt sich dabei um Morde ohne Motiv. Einfach nur so. Selten, aber wem erzähle ich das? Kein Motiv, keine Verbindung, und…“ „Nur das Skalpell verbindet die Toten“, sagte Barbara hohl. Stewart wiederholte das, was sie gestern und heute mit Harvey Colefax besprochen hatte. „Ich schätze, es handelt sich um einen Täter, der Anerkennung sucht, meinen Sie nicht, Mrs. Steele? Aber was ist, wenn niemand weiß, wer der Killer ist? Da sitzt er ganz schön in der Patsche. – Da sind wir gleich.“ Barbaras Finger umschlossen ihre Waffe. Sie zuckte zusammen, als eine räudige Katze aus einem vergammelten Waggon sprang und kreischend in der Nacht verschwand. Von fern erklang Stormy Weather von Sarah Waughan. It’s raining all the Time… Tatsächlich begann es zu regnen, und kleine Tropfen perlten über Barbaras Ledermantel. „Sie haben recht, Mr. Polinsky: Cool Jazz.“ Sie versuchte, ihr Zittern unter dem Mantel zu verbergen. Ihre Zähne klapperten aufeinander.
Stewart sagte beinahe unhörbar: „Die Menschen sind nicht böse, weil sie töten, sondern sie töten, weil sie böse sind. Der Mörder ist entweder schizophren oder hechelt nach Bestätigung – vielleicht sogar beides?“ Dann hielt er plötzlich inne. „Jetzt, wo wir hier sind, fallen mir noch mehr Einzelheiten ein! Vielleicht kann ich sie für meine Story verwenden? Der Schluß soll hammerhart sein, so ganz überraschend, wissen Sie? Ich brauche nur noch drei Zeilen zu schreiben…“ Auf einmal verstummte er und blickte sein Gegenüber mit weit geöffneten Augen an. Barbara Steele sagte: „Tut mir leid, aber diese Story werden Sie niemals zu Ende schreiben.“ Und der Kopf von Stewart Polinsky kippte nach hinten, als sie das Skalpell aus seinem Hals gezogen hatte.
Stephan Peters DARKROOM
Und ich hastete über den Krankenhausflur, und die Krankenschwester sagte zu mir, er habe nur noch wenige Stunden zu leben, und so öffnete ich die Tür und betrat das Krankenzimmer, und ich sah den Sterbenden, und alles war krank, nur ich nicht. Er röchelte und gab Laute von sich, die ich nur aus Comics kannte, ebenso der Maschinenpark um ihn herum, der mit ihm gemeinsam ein bio-mechanoides Sterbeduett zum Besten gab, so daß ich mir die Ohren zuhielt. Schläuche und Pumpen umgaben ihn, und er lag darin gefangen wie im Netz einer irren Weltraumspinne, die ihn aus Dutzenden von Kontrollaugen ansah, und ich wünschte, sie möge ihn bald verschlingen. Kaltes Licht drang herein, das von schweren Stores gebrochen wurde und auf den Fliesen in sich zusammenfiel wie ein toter Vogel aus Glas. Und die amorphe Lichtskulptur torkelte auf mich zu, um dann endgültig auseinander zu fallen und zu Schatten zu werden.
Ich begab mich in Richtung Sterbelager, und jeder Schritt führte mich dahin, wo ich nicht sein wollte, zu dem, den ich seit vierzehn Jahren suchte zu fliehen wie ein Alki die Flasche, was mir bis jetzt auch gut gelungen war. Die Tür, die ich durchschritten hatte, entfernte sich bedenklich schnell und weit, wie der Punkt in einem Fernseher, den man soeben ausgeschaltet hat. Und ich war allein mit IHM. Und ich, der Gesunde, verlor beinahe den Halt, als ich in das Gesicht des Gemiedenen starrte, und der Gemiedene lächelte mit der Kraft, die er mir entzog, und mein Vater sagte zu mir: „Lange nicht mehr gesehen, mein Sohn.“ „Hi, Vater. Wie geht es d…“ Er lächelte nur, ich weiß, diese Frage war auch viel zu dumm, und so machte er aus einem gestandenen Prokuristen, der ich bin, einen zittrigen Azubi, der den Namen seines Chefs vergessen hat. Genau so wie vor vierzehn Jahren. Und davor und davor. „Hast du immer noch kein Selbstvertrauen, Junge?“ Das Lächeln, das verdammte, zynische Lächeln, und meine in beinahe anderthalb Jahrzehnten antrainierte Haltung verflogen wie mein gekünsteltes Gute-Laune-Gesicht. So versuchte ich, die dicke Qualle aus meinem Hals zu bekommen, wobei ich an meine elf Untergebenen dachte und die Vereine, in denen ich das Sagen habe. Und all die guten Vorsätze, die ich mir seit vier Tagen für Vater auszudenken befohlen hatte, zerplatzten wie eine Weihnachtskugel, die vom Zweig gefallen war. Und noch mehr haßte ich das „Junge“, und ich hielt es nicht für möglich, daß der seit vierzehn Jahren verdrängte Haß auf ihn so schnell wiederkommen konnte und sogar noch ein paar häßliche Welpen aus der Hölle mitbrachte. Sein Gesicht bestand nur noch aus Falten und einem Loch in der Mitte, aus dem alles drang, was mich so verletzt hatte, und diese Worte flossen zwischen wenigen gelblichen Zähnen, die aussahen wie weggeworfene Zigarettenfilter.
„Mir geht es gut“, sagte ich hohl und stellte dabei fest, daß ich mich dabei wahrscheinlich genau so anhörte wie er. „Das ist schön. Und wie geht es deiner Frau? Monika, so heißt sie wohl.“ Seine Anteilnahme an meinem Leben war so falsch wie die Augen, die mich zusammengekniffen anstierten und aus denen es gelblich herausfloß. „Ja. Monika. So heißt sie. Und für sie hast du dich bis heute genau so wenig interessiert, wie für mich und meine beiden Kinder.“ „Robert und Walter. Hab’ ich recht? He – wer kennt heutzutage eigentlich noch seine Söhne?“ Vater wollte lachen, doch ein Hustenanfall unterbrach ihn Gottseidank, und ich kniff die Augen zusammen und überlegte, worauf er hinauswollte. Die Finger meiner gefalteten Hände knackten. „Du haßt mich, hab’ ich recht?“ unterbrachen Worte das Röcheln. „Hey, steh’ doch mal dazu! Du bist immer noch ein Waschlappen!“ Und ich hätte am liebsten einen der Schläuche, die ihn leider noch am Leben erhielten, genommen und ihn damit erwürgt. Dabei dachte ich an meine Firma, die ich fast allein vor dem Konkurs gerettet hatte, so daß mindestens dreißig Menschen – wenn man an die Angehörigen denkt – dankbar sind, eine Tat, die sogar im Regionalfernsehen Anerkennung fand und mir letztlich zwei Monate Kur wegen völliger Überarbeitung eingebracht hatte. Doch ich sagte, Nein, ich hasse dich nicht und nickte dabei mit dem Kopf, und Vater sah nur das Nicken und lachte einfach, und ich wurde rot und dachte wieder an die Schläuche, also unterbrach ich meine Blamage und fragte, Was hast du denn all die Jahre über gemacht? Mein Vater erhob seinen kleinen Kopf und streckte mir die alten Lippen entgegen und wies mich an, mein Ohr daran zu halten, und mich schauderte vor Ekel. „Die Affen hab’ ich geklatscht; verstehst du? Die Tais und die Nigger – mit meinen Jungs natürlich. Mit meinen guten Jungs. Wenn ich in deinem Alter wäre… Aber dafür habe ich sie.“
„Etwa so, wie vor etwa fünfzig Jahren? Damals war deine Weste alles andere als astrein, Mutter hat sowas erwähnt – Genaueres weiß ich nicht…“ „Jaaa…“ röchelte er selig. „Nur nicht so gut, nur nich so hart, nur nich so viele. Man muß sich ja heutzutage sehr vorsehen. Aber in den Jahren des Heils, ja, da hab’ ich täglich zehn von denen, die unseren Herrn ans Kreuz genagelt haben, an ihre scheiß Baracken genagelt – im wahrsten Wortsinne –, verstehst du? Was siehst du mich wie ein toter Fisch an? Das war auch der Grund, weshalb ich nichts mehr von dir wissen wollte; wer will schon einen toten Fisch zum Sohn? Ja, das hast du nicht gewußt, wie?“ So stotterte ich: Ich weiß nur, daß du Mutter immer geschlagen hast, so sehr, daß sie fünf Jahre nach meiner Geburt gestorben ist, und er antwortete verärgert, daß das ist Schnee von gestern sei, und ich sagte, Das mit den Juden ist Schnee von vorgestern, und ich bereue, daß ich gekommen bin, ich bin einfach… Entsetzt! – sagte er gut gelaunt und lachte wieder. Und niemand hat mich erwischt, das ist das Schönste daran. „Und als deine Mutter tot war, ging’s erst richtig los…“ „Ich erinnere mich nur zu gut daran, o Gott, einfach zu gut. Du hast dich nachts wie ein Dieb weggeschlichen…“ „Ja, genau. Nicht, wie ich dir erzählte, um zu kegeln, sondern um Nigger zu jagen und sie… Aber du hast ja alles geglaubt und warst genau so dumm wie deine Mutter; und dumme Menschen kann ich nicht ausstehen! Nun, sieh’ dich doch an! Du sitzt da, als hättest du in die Hose gemacht!“ Ich versuchte erfolglos, Haltung zu bewahren, und überlegte mir, wann nun endlich der Tod eintreten würde. Fast war ich drauf und dran, die Krankenschwester wegen Falschaussage haftbar zu machen… Da packte mich seine alte, kalte Hand am Ärmel. „Einmal, Junge, so vor zehn Jahren etwa, ist es uns gelungen, einen Nigger in einen Sack zu stecken und zu Brei zu hauen…“ „Hör um Gottes willen mit diesen Geschichten auf!“
„Oh, du bist ein Weichei und weigerst dich, der Realität ins tote Auge zu blicken – so ist das… Aber nun bist du hier und sollst alles wissen.“ „Nichts will ich wissen! Ich weiß schon zuviel – o Gott!“ „Ja, genau nach dem hat der Nigger auch geschrien, als er im Sack war und unsere Hämmer auf ihn einschlugen. Und wo war Gott? Und wo ist er jetzt? Jedenfalls hab’ ich es nicht für möglich gehalten, daß man einen Menschen, sofern Nigger welche sind, zu Brei schlagen kann. Aber es hat tatsächlich geklappt! Man braucht dazu nur fünf kräftige Jungs und ein paar Lärmstopper für die Ohren. Na, gut, ganz zu Brei war er nicht, ein paar Knochen ließen sich nicht plattschlagen – aber sonst alles! Es hat ungefähr zwei Stunden gedauert. Mann, so kaputt war ich seit Stalingrad nicht mehr. Und danach haben wir uns besoffen, und…“ „Du lügst! Du altes Schwein lügst! Sag, daß das nicht wahr ist!“ Und ich blickte in seine Augen, die jedes Wort verbürgten, und ich schüttelte mich. „Wenn du dich selbst sehen könntest, wie du dasitzt und die Ohren zuhältst“, sagte er erschöpft. „Ein trauriger Fall von Menschsein.“ Doch dann hielt er endlich inne, und seine Augen blickten zum Fenster und weiteten sich vor Entsetzen, und gelber Speichel tropfte zwischen seinen Zähnen hindurch. Dann zeigte er mit seinem Knochenfinger aufs Glas. Und er sagte stotternd: „M… mach die Vorhänge wieder auseinander! Ich will die Sonne sehen. Ich kann das Dunkel hier nicht ertragen… Weg, weg, wegmachen! Los, du Versager“, und der Versager sagte wahrheitsgemäß, daß die Vorhänge weit geöffnet seien und die Sonne hell hereinscheine. Und mit der Helligkeit wurde auch der dunkle Brunnen meiner Erinnerungen erhellt, wie ein Brunnen, in den eine Taschenlampe hineinfällt. „Weißt du, Vater (Vater konnte ich nur noch herauswürgen), als du mich vor vierzehn Jahren einmal besucht hast? Nur einmal, aber das genügte. Damals, als ich in Bonn studierte, und du zusammenzucktest, als du mich ganz in Schwarz gekleidet sahst, so, wie es sich für einen
Hobbymaler gehört, der zudem auch noch den Beatniks angehörte und Jack Kerouac las. Und ich mußte mich wegen dir umziehen, weil du mit der Farbe nicht klar kamst. Ich, ein Neunzehnjähriger. Aber ich tat es, ja, du hast recht, ich bin ein Weichei. Und als ich wieder ins Wohnzimmer kam, legtest du deine braune Aktenmappe auf einen schwarzen Kunstkatalog und starrtest in die hinterste Ecke, um ihn nur ja nicht zu sehen. Weißt du, damals hatte ich nicht so darauf geachtet, ich hatte anderes im Kopf, vor allem Mutters mysteriösen Tod, die die Treppe hinuntergefallen war, wie es hieß… Oh, du Mistkerl… Und was hast du danach all die Monate in der Nervenklinik gemacht?! Mutters Tod, den du angeblich nicht verkraftet hast, konnte es nicht gewesen sein. Hey, Vater, was siehst du mich so erschrocken an?“ „Hör’ auf damit, ich sag’ es dir! Hör’ auf damit. Alte Hüte, Schnee von gestern, mach’ nur das verdammte Licht an! Die Schatten…“ „Ja! Genau. Die Schatten. Die Dunkelheit, vor der du dein Leben lang Angst gehabt hast. Was, um Gottes willen, bedeutet DUNKELHEIT für dich? Weshalb, so frage ich dich, warst du im Sanatorium. Was ist SCHWARZ für dich…?!“ Ein heiserer Schrei zerriß die Fäden meiner Erinnerung, und Vater wischte mit seinen krallenartigen Fingern in der Luft herum. „Lüge, alles Lüge. Alles Hirngespinste eines völligen Versagers von Sohn. Mach’ die Dunkelheit da weg!“ „Das kann ich nicht. Aber mach’ du es doch! Los – packe sie in einen Sack und schlag’ sie zu Brei. Das kannst du doch! Mit mir kannst du nicht mehr rechnen. Ich habe mich von dir befreit!“ Und Vater ergriff mich beim Revers, und das Lächeln, das er dabei hatte, wollte mir gar nicht gefallen. Und Vater sagte grinsend: „Nur noch eine letzte Frage, mein Sohn. Was hast du eigentlich in den vergangenen vierzehn Jahren gemacht? Die Firma – okay. Familie – okay! Aber – ist das alles? Hey, was zuckst du so im Gesicht. Ich dachte, das sei mein Job – ha, ha. Hey – Feigling! Bleib hier!“ Ich verließ das Zimmer. Und die Krankenschwester sagte zu mir: „Da ist eine Dame für Sie am Telefon, aber meine Güte, wie sehen Sie denn aus? Soll ich einen
Arzt holen – Sie können sich solange hinlegen“… Und ich verneinte, mir ginge es gut, Mein Vater, Sie wissen? – und sie nickte erschrocken. Und ich ging müde zum Apparat, und Monika fragte, Hallo – wie geht es deinem Vater? Ich sagte, daß er bald sterben werde, und sie schluckte. Aber wenn du nachher kommst, fuhr sie fort, bitte, bitte schlag mich nicht! Ich weiß nicht, was ich den Nachbarn noch vorlügen soll… Und denk an unsere Kinder, und… Ach ja, und nachher kommt dein Besuch… „Welcher Besuch?“ fragte ich unsicher. „Na, wie jeden Mittwoch. Deine Freunde, die Kleinen Wölfe. Aber ihr müßt aufpassen, wie weit ihr geht. Der Türke liegt inzwischen auf der Intensivstation, sagten sie im Radio. Wenn das so weitergeht, ich weiß nicht, was ich machen soll. Vielleicht lasse ich mich sch… Hey, was ist mit dir? – Du sagst ja gar nichts!“ Ich legte den Hörer auf die Gabel, und die Schwester kam aufgelöst herein, und sagte, Oh, Sie sehen noch schlechter als vorhin aus! Ich sollte wirklich… Ihr Vater ist soeben gestorben. Aber vielleicht geht es Ihnen besser, wenn ich Ihnen sage, daß ich schon viele Menschen sterben gesehen habe, aber noch nie hatte einer einen so zufriedenen Gesichtsausdruck.
Robsie Richter wurde 1964 in Straubing geboren, begann vor ca 20 Jahren mit dem Schreiben und Veröffentlichen von Gedichten und Stories. 1984 Abitur, danach ein abgebrochenes Germanistikstudium (nach 4 Tagen), mehrere Monate obdachlos auf Hanaus Straßen, Jobs als Prospekteverteiler, Katalogsortierer, Lagerarbeiter, Putzmann in einer Kneipe und schließlich (bis heute) Wirt derselben. 1986 erscheint seine erste Storiesammlung: „…aber das Bier schmeckt noch genau wie vorher!“, das noch starke Einflüsse eines Charles Bukowski erkennen läßt. Seit 1987 Herausgeber des von Andi Lück gegründeten Fanzines für Hardcorepoesie & Metallyrik Kopfzerschmettern. 1992 Gründung des Verlages Robert Richter, dem inzwischen ein Vertrieb für unabhängig produzierte Literatur und ein Versandantiquariat mit Schwerpunkt Underground, Horror u. SF angeschlossen ist. Seit längerem auch wieder verstärkt musikalisch tätig, zuletzt seit 1996 als Gitarrist und Sänger der 60’s Garagen-Trash Band Los Wrestling Mariachis. Mitglied im Verband Deutscher Schriftsteller. Auch wenn der Autor sich in den letzten Jahren vermehrt dem Horror-Genre zugewandt hat, so bleibt er doch seinem Stil treu: eine harte, unverblümte Sprache und Themen, die ansonsten eher verschwiegen werden. Einzelpublikationen. 1986:… aber das Bier schmeckt noch genau wie vorher! (Stories, A. Laue Verlag, vergriffen) 1989: Wozu soll ich nach New York (Gedichte und Stories, Bierbauch Verlag) 1992: In den Katakomben ist es noch ruhig (Gedichte + Stories, Verlag Robert Richter) 1994: Blut für Xipe-Totec (Gedichte, Cracked Egg Verlag, vergriffen) 1995: Willkommen in unserer Stadt (Stories, Ariel Verlag) 1998: Land der Seelenfresser (Gedichte, Verlag Robert Richter) 2000: Blut für Xipe-Totec (Gedichte, Edition Roadhouse). 2000: Neue Opfer für Chac-Mool (Gedichte, Edition Roadhouse) 2001: ¡Chiapas! (Roman, Gerald Meyers Taschenbuchverlag) Mit Los Wrestling Mariachis: 1998: Somos Mariachis, C-60 Tape
2000: Mariachis a go go, C-60 Tape Mit ¡Alarma!: 2001: Kiss of a Vampire b/w Glue Sniffing Revival, 7“ Single (in Planung)
Robsie Richter LIEBE GEHT DURCH DEN MAGEN
Sie schloß die Spiegeltür des Schrankes und blieb noch für einen kurzen Augenblick davor stehen, um sich selbst darin zu betrachten. Natürlich, sie war längst keine Zwanzig mehr und an manchen Stellen machte sich das Alter bemerkbar, aber – verdammt – sie war noch lange keine alte Vettel. Warum nur liefen ihr die Männer scharenweise davon? Was hatte sie an sich? Dabei gab sie sich alle Mühe. Sie war treu, liebevoll und geduldig und für ihre dreißig Jahre war sie erstaunlich jugendlich geblieben. Zum alten Eisen gehörte sie wirklich noch nicht. Und jetzt die Sache mit Egon. Erst war er ihr überhaupt nicht aufgefallen, obwohl er aufgrund seiner Statur nicht zu übersehen war. Mein Gott, ein Faß war gertenschlank im Gegensatz zu ihm. Aber dann stand er plötzlich in ihrem Büro, lächelte ein wenig verlegen und verlangte nach einer Akte. Er kam noch öfter und irgendwann fragte er nach keinen Akten mehr, sondern nach ihrem Lieblingsfilm. „Priscilla“, hatte sie geantwortet. „Also, so ein Zufall.“ Dabei griff er in seine Hemdtasche. „Gerade für diesen Film habe ich zwei Karten.“ Natürlich war es ein abgekartetes Spiel. Er hatte sich informiert, und während sie sich noch fragte, wer hier so bereitwillig Auskunft erteilt hatte, spürte sie ein leises Glücksgefühl in ihrem Inneren aufkeimen, darüber, daß sich überhaupt irgend jemand soviel Mühe wegen ihr gemacht hatte.
Erst waren sie im Kino und dann in einer mexikanischen Bar, wo sie zwei Margaritas trank und einen Tequila Sunrise. Nach dieser Nacht waren sie ein Paar. Für zwei Wochen. Denn plötzlich rückte er mit seiner Vergangenheit heraus. Natürlich hätte sie wissen müssen, daß da noch jemand war. „Sie hat mich wegen einem anderen verlassen“, sagte er, als er sich die Socken anzog. „Aber der war nicht der Richtige und jetzt will sie, daß ich wieder bei ihr einziehe.“ Es war, als würde sich ein Seil um ihren Hals schlingen, das langsam aber stetig immer fester gezogen wurde. Ihr Herz raste, als ginge es um Leben oder Tod, und irgendwie ging es auch darum. „Tut mir leid“, sagte er, als er sich die Schnürsenkel band und dann verschwand er. Niemand hatte gesehen, wie sie im Bett liegenblieb, das Gesicht ins Kopfkissen gedrückt, bis sie sich nicht mehr beherrschen konnte und ihren Tränen freien Lauf ließ, während es in ihrem Kopf immer wieder schrie: „Nicht schon wieder! Nicht schon wieder!“ Wie ein Endlostonband. Und dann gab es keine Tränen mehr und das Kissen war klatschnaß.
Sie
sah auf die gewölbte Bettdecke und lächelte, bevor sie in das Wohnzimmer ging, wo das Telefon stand.
Und dann hatte sie sie das erste Mal gesehen. Unten auf dem Firmenparkplatz, wo sie gelangweilt vor ihrem Auto stand und auf ihren Egon wartete. Mein Gott, sie war genauso fett wie er, eine dicke, gallertartige Kugel, die von einem Stück Stoff umhüllt war. Und das war ihre Konkurrentin. Fast hätte sie laut losgelacht, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Sicher mochte die Vettel auch ihre Vorzüge haben, und sie konnte sich auch sehr gut vorstellen, welche… Klar ließ es sich mit einer gut aushalten, deren Intelligenz mit der eines Wellensittichs auf
gleicher Höhe lag, die aber immer noch so viel Speicherkapazität in ihrem Hirn hatte, um mühelos dreißig verschiedene Bratenrezepte zu behalten. Mit Sicherheit stopfte sie seine Socken, wusch seine Unterhosen, holte ihm Bier, wenn es Sportschau gab, und stellte ansonsten keine weiteren Ansprüche.
Sie nahm den Hörer in die Hand und wählte die Nummer. Nach dem dritten Klingeln ging er dran. „Ich bin’s“, sagte sie. „Hallo.“ „Ich dachte“, fuhr sie fort, „wir könnten noch einmal über alles reden.“ „Was soll es da zu sagen geben?“ „Nun, ich dachte… Ich hätte schon noch einiges zu sagen. Du könntest zum Beispiel heute abend zum Essen kommen und danach könnten wir uns unterhalten – über das… über das, was war.“ „Zum Essen? – Ach, was soll’s. Elfriede ist sowieso nicht zu Hause. Zum Teufel, möchte wissen, wo sie bleibt. Wann soll ich da sein?“ „Wie wär’s gegen acht?“ „Ich komme.“
Sie
öffnete den Kühlschrank und holte ein großes, blutiges Stück Fleisch heraus. Sie ekelte sich davor, aber er liebte nun einmal Braten. Sie schob den Klumpen in die Röhre, wusch sich danach das Blut von den Händen, bevor sie sich daran machte, den Salat anzurichten. Das Radio dudelte vor sich hin, sonst war es ruhig im Haus. Immerhin, er würde kommen. Sie wußte, daß er zusagen würde. Sie wußte, womit sie ihn locken konnte. Bei Gott, eine gute Köchin war sie noch nie gewesen, aber dem Himmel sei Dank – es gab Kochbücher. Bayrischer Schweinebraten mit Semmelknödel und Rotkraut stand auf Seite 293 und sie hielt sich
genau an die Anweisungen. Es sollte ihm schmecken, aber es würde bestimmt das letzte Mal sein, daß sie sich für ihn eine solche Mühe machte.
Der kleine Zeiger näherte sich immer mehr der Acht. Bald würde es soweit sein. Sie deckte den Tisch. Zwei Teller, Messer, Gabeln. Die Salatschüssel stand bereits, den Rest würde sie erst servieren, wenn er da war. Natürlich, die Kerzen durften nicht fehlen. Sie sah auf die Uhr. Jetzt war es genau acht, und genau in diesem Augenblick klingelte es. Ihr Herz fing an zu pochen. Jetzt nur nicht nervös werden, dachte sie sich. Bloß nichts verderben. Sie öffnete zuerst die beiden oberen Knöpfe ihrer Bluse und dann die Tür. Da stand er – in voller Breite. Er atmete schwer, und Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. „Möchte wissen“, begrüßte er sie, „warum die Leute immer unter dem Dach wohnen müssen. Die Treppensteigerei bringt mich noch mal um.“ „Komm rein“, sagte sie. „Das Essen ist schon fertig.“ „Ah, das duftet ja köstlich“, bemerkte er, als er am Tisch Platz nahm. „Was gibt es denn Gutes?“ „Das wirst du gleich sehen“, sagte sie und verschwand in der Küche. Nach und nach servierte sie das Essen. Erst das Rotkraut, dann die Klöße, die Soße und schließlich die Krönung des Mahls: Den Braten. Als er das dampfende Stück Fleisch sah, wurden seine Augen größer. „So eine Überraschung“, sagte er. „Mein Lieblingsgericht.“ „Ein Glas Wein?“ fragte sie, die Flasche Rioja in der Hand. „Braten ist meine Leib- und Magenspeise. – Ja gerne.“ Sie schenkte ein. „Bitte, bedien dich“, forderte sie ihn auf und zeigte auf das Fleisch.
Er ließ sich nicht zweimal bitten und schnitt sich eine dicke Scheibe ab, bevor er sich über den Rest hermachte. Sie begnügte sich mit zwei Löffeln Kraut und ein paar Salatblättern. „Immer noch auf dem Vegetariertrip?“ fragte er hämisch grinsend. „Mir schmeckt nun mal kein Fleisch“, antwortete sie, während ihre Augen auf dem Happen hafteten, den er auf seine Gabel gespießt hatte und nun langsam zu seinem Mund führte. Schließlich verschwand er darin und er begann schmatzend zu kauen. „Hervorragend“, sagte er. „Ich wußte überhaupt nicht, daß du eine so gute Köchin bist.“ „Bin ich auch nicht, aber ein Kochbuch lesen kann ich schon.“ Er schnitt sich ein neues Stück ab und ließ es in seinen Mund wandern. Mit dem Wein spülte er nach und rülpste laut. „Tschuldigung.“ Manieren hatte er sowieso noch nie, dachte sie, warum also entschuldigt er sich? Und eigentlich sollte sie froh darüber sein, daß sie ihn los war. Aber da war noch eine Sache, die geregelt werden mußte. „Warum?“ fragte sie. Er unterbrach das Kauen und sah sie verständnislos an, so, als hätte sie ihn gerade dazu aufgefordert, zwei Millionen in kleinen Scheinen über den Tisch zu schieben. „Was hat sie, was ich nicht habe?“ wurde sie nun konkreter. Dabei beugte sie sich ein Stück nach vorne, so daß die geöffneten Blusenknöpfe zur Geltung kamen, oder vielmehr das, was darunter verborgen war und nun recht sichtbar zum Vorschein trat. Sein Blick wanderte sofort von ihren Augen zu ihrem Ausschnitt. Er schluckte und begann, erneut zu schwitzen. „Das habe ich mich auch schon gefragt“, sagte er kleinlaut. Jetzt hatte sie ihn. Der Braten war nur der Köder, aber jetzt zappelte er an ihrer Angel und schnappte nach Luft. Verflucht, er fragte sich das tatsächlich.
Vielleicht war nicht viel dran an ihr, aber er erinnerte sich nur zu gut an all die Nächte. Gott, ficken konnte sie tatsächlich, weiß der Teufel, wer ihr das beigebracht hatte. Elfriede war da nicht so. Aber die nervte ihn wenigstens nicht mit hochgeistigen Diskussionen über Kultur und die Weltpolitik. Ihre Interessen beschränkten sich auf Bügeln, Kochen, Waschen. Alles, was einen Mann zufriedenstellte, oder fast alles. Verdammt, warum war er nur hier hergekommen. Er spürte, wie sich sein Ding regte und lange würde er diesen Anblick nicht mehr aushalten. „Weißt du denn nicht mehr, wie es war?“ fragte sie ihn und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Oh doch“, sagte er. Der Schweiß stand jetzt in dicken Perlen auf seiner Stirn. „Du kannst es jederzeit wiederhaben. – Gleich jetzt, wenn du willst.“ Er stopfte sich noch ein Stück Fleisch in den Mund. Das war eindeutig zuviel. Wenigstens lenkte ihn das Kauen ein wenig ab und sorgte so dafür, daß sein Adrenalinspiegel nicht überschwappte. Aber sie ließ nicht locker. Sie öffnete einen weiteren Knopf und dann noch einen. „Wie wäre es, wenn du schon mal ins Schlafzimmer gehst, während ich kurz im Bad verschwinde?“ „Du bist das schärfste Weibsstück, das mir je vor die Nase gekommen ist“, sagte er, während er aufstand. „Beeil dich, sonst bin ich schon fertig, bevor du da bist.“ Dabei grinste er sie feist an. „Ich tue mein Bestes“, sagte sie.
Er hatte es eilig. Hastig stieg er aus seinen Klamotten und sah an sich herab. Sein enormer Bauch versperrte ihm den Blick auf seine Männlichkeit. Nur die Spitze mit der Einkerbung war zu sehen, aber er wußte es auch so. Härter als jetzt könnte sein Ding nicht mehr werden. Er tätschelte es mit der rechten Hand und murmelte: „Gleich bekommst
du etwas zu tun, Willi.“ Dann ging er auf das Bett zu und schlug die Decke zur Seite. Es lag jemand darunter. Es war eine nackte Frau. Es war eine nackte Frau, die auf dem Bauch lag. An ihrem Hinterkopf klaffte eine große Wunde, aus der Blut geronnen war, das nun klebrig in den Haaren trocknete. An ihrer rechten Seite klaffte eine größere Wunde. Jemand hatte ihr ein Stück Fleisch von der Größe eines Bratens herausgeschnitten. Er wußte, wer die Frau war, und er wußte, wo sich das fehlende Stück von Elfriedes Körper befand, aber er hatte keine Zeit mehr, sich zu übergeben, denn die Axt, die ihn traf, spaltete seinen Schädel und ließ ihn leblos zu Boden sinken.
Sie stand vor der Spiegeltür des Schrankes und betrachtete sich. Blut klebte an ihr, rotes, frisches Blut, das aus Egons Hinterkopf gespritzt war, als ihn das Beil getroffen hatte. Nein, sie war keine Zwanzig mehr, aber eine alte Vettel war sie auch noch nicht.
Irene Salzmann Ich bin Jahrgang 63, geboren in Speyer am Rhein, lebe aber schon seit 83 im bayerischen Exil. Mehrere Semester studierte ich an der LMU Südostasienwissenschaften und Völkerkunde, gab das jedoch zu Gunsten der Familie auf – letzte Relikte davon findet man noch immer. Sehr gern koche ich Chinesisch, schätze Tee und Räucherstäbchen, asiatische Literatur und solche Sachen, auch in meinen Stories tauchen Kulturen auf, die ihre Vorbilder im Osten haben. Mit meinem Mann und unseren drei Kindern, sowie einer kontinuierlich wachsenden Zahl PCs und Bücher und sonstiger Dinge, die man einfach nicht wegwerfen kann, lebe ich im Münchener Norden. Meine Hobbies sind vielfältig: Lesen, Schreiben, Zeichnen, Filmen, die Beschäftigung mit Geschichte und anderen Kulturkreisen, Astronomie (man will ja schließlich nicht nur Humbug in den SF schreiben) usw. Ich mag violetten Lippenstift, Samsara von Guerlain und Pommes Frittes. Ferner hege ich eine Unkrautplantage und beteilige mich nicht am Wettstreit der Nachbarinnen, der da lautet: „wer hat den schönsten Garten?“ In internationalen Fanzines und Magazinen werden meine Erzählungen, Artikel und Bilder seit den 80ern publiziert. Zu den Projekten, an denen ich gegenwärtig beteiligt bin, gehört die SF-Serie „Rettungskreuzer Ikarus“, und ich bin Mitglied beim Äon-Team e.V. Außerdem muß ich ein Vampir sein, denn ich habe eine weiße Haut, verbrenne in der Sonne und schätze Getränke von roter Farbe.
Salzmann Irene DREH DICH NICHT UM, DER VLADY GEHT UM
Zitternd drückte sich Rita mit dem Rücken in die Ecke des muffigen Schrankes. In Embryo-Stellung kauernd, hielt sie den Atem an, der ihr viel zu laut in den Ohren dröhnte, noch verstärkt durch das enge, geschlossene Gelaß. „Hoffentlich“, betete sie, „hoffentlich finden sie mich hier nicht. Lieber Gott, laß die Stunde schnell um sein. Laß ein Wunder geschehen. Bitte, bitte, hilf mir!“ Draußen auf dem Flur war ein leises Tapsen zu vernehmen. Viele kleine Füße trippelten auf den Schrank zu. „Bitte, laß sie weitergehen“, flehte Rita und zog den alten Mantel vor ihr Gesicht. Wenn sie nur flüchtig in den Schrank blickten, würden sie sie unter den alten Kleidern vielleicht nicht entdecken. Knarrend wurde die Tür geöffnet, und oranges Licht fiel hinein. Rita fror erbärmlich vor Angst. Würden sie sie übersehen? Sie wußte selbst nicht genau, wie das hatte geschehen können. So was gab es doch gar nicht, konnte es nicht geben. Es war wie in einem schrecklichen Traum, aus dem sie einfach nicht erwachte. Dabei hatte der heutige Tag so ruhig begonnen, doch dann… Nein, eigentlich hatte es schon letzte Woche angefangen. Zunächst war es bloß ein vages Gefühl gewesen, bedrohlich, beängstigend, und daraus war nun die Gewissheit geworden, daß sich etwas Unheimliches ereignet hatte und es auch ihr zustoßen würde. Vor gut zwei Wochen hatte der kleine Dorfkindergarten nach den Sommerferien seine Pforten geöffnet. Etwas mehr als ein Dutzend neue und bereits bekannte Gesichter von Jungen und Mädchen im Alter von drei bis sechs Jahren begrüßten ihre Erzieherin erwartungsvoll. Normalerweise arbeitete Rita mit einer jungen Kollegin zusammen, aber Susanne hatte im Urlaub einen Unfall erlitten und würde
frühestens in drei Monaten die Tätigkeit wieder aufnehmen können. Eine Aushilfe wurde gesucht, doch bis jemand Geeignetes gefunden war, mußte Rita allein zurechtkommen. Eigentlich war das keine unlösbare Aufgabe. Die diesjährige Gruppe war klein, und die meisten Kinder kannten die Regeln bereits. Allerdings blieben jetzt sämtliche Arbeiten, die sich beide Erzieherinnen geteilt hatten, an Rita hängen. Es gab Momente, in denen sie sich buchstäblich zerreißen mußte. Wollte eine Mutter beim Abliefern ihres Sprößlings noch ein paar Worte mit Rita wechseln, dann schrie und tobte die Bande besonders ausgelassen. Oder eines der älteren Kinder hatte sich ein Kleines geschnappt, um es zu ärgern, bis es in Tränen ausbrach. Oder einem anderen passierte ein Malheur, weil es über dem Spielen vergaß, rechtzeitig die Toilette aufzusuchen. Dann durfte Rita die ekligen, nassen Hosen wechseln und alles sauber machen, was sie besonders gern Susanne überlassen hatte… In diesen ersten Wochen war das Geld sauer verdient. Zum Glück hatte sich schon jemand gemeldet und Interesse an der freien Stelle bekundet. Von Rita aus hätte die Neue sofort anfangen dürfen. Leider schien sich diese mit dem Gedanken, aufs Dorf ziehen zu müssen, nicht recht anfreunden zu können. Die Gruppenstunden verstrichen im gewohnten Trott. Nachdem alle Kinder eingetroffen und begrüßt worden waren, wurde immer gesungen, dann durften sie sich beliebige Spielsachen aus den Regalen holen, anschließend wurde aufgeräumt und Brotzeit gemacht, danach gebastelt oder gemalt und schließlich, wenn es das Wetter erlaubte, im Garten gespielt, bis die Eltern zum Abholen kamen. Jeden Tag dasselbe. Die Gespräche der Mütter und der wenigen Väter untereinander, die Rita zufällig belauschte, ließen sie kalt. „Sie ist immer so unfreundlich“, hieß es oft. „Viel Mühe gibt die sich nicht.“ Oder: „Peter geht jetzt das dritte Jahr in den Kindergarten, und nie wird etwas Neues gemacht.“ Oder: „Hoffentlich ist die Susanne bald wieder da.“ Oder: „Meine Sabine mag die Susanne viel lieber.“ Rita würde es niemandem recht machen können, ob sie mit Begeisterung an die Arbeit ging oder lediglich die Anforderungen erfüllte. Wozu auch ein Bein ausrei-
ßen – entlassen werden konnte sie nicht, denn sie war neben Susanne die einzige Kindergärtnerin im Ort; die Eltern waren auf Rita angewiesen. Ja, früher, da hatte ihr der Beruf Spaß gemacht. Nach der Ausbildung war sie voller Ideen gewesen und hatte sich in die Arbeit hineingekniet, aber schon bald war der Eifer geschwunden. Der Beruf erwies sich als nicht minder anstrengend als jeder andere, obendrein wurde nicht mal gut gezahlt. Die Eltern schoben ihre Feger ab, um zu Hause ihre Ruhe zu haben, hoffend, die Erziehungsfehler würden jetzt ausgebügelt. Und diese Kinder waren alle bockig, ungezogen und natürlich unerziehbar. Für ihre Bemühungen erntete Rita bloß Kritik. Und dafür sich anstrengen? Sie erledigte den Job, bekam dafür ihr Geld – fertig. Am Spielzeugtag, an dem jedes Kind sein liebstes Plüschtier, Blechauto oder sonstiges mitbringen durfte, erschien der kleine Florian mit etwas Neuem. Er kratzte aufgeregt seinen Arm, nachdem er es aus seiner Tasche gezogen hatte. Neugierig scharten sich die anderen Kinder um ihn. „Guck mal, Tante Rita“, rief Sabine staunend, „was der Florian da hat.“ „Ein Teddy-Bär“, rief Anna, die jedes Plüschtier als Teddy bezeichnete. „Nein, das ist eine Eule“, erklärte Peter herablassend. „Weißt du denn gar nichts?“ „Das ist ein Vlady“, widersprach Florian und kratzte sich heftiger. „Was ist ein Vlady?“ fragte Sabine ratlos. „Na, das da!“ Florian drückte die Fellkugel, die auf dem Tisch herumzurollen begann. „Oooh!“ staunten die Kinder, und dann noch „aaah!“, als der Vlady quietschte und plapperte. Rita betrachtete über die gebeugten Köpfe hinweg das moderne Spielzeug. So ein Ding hatte sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich war es erst kürzlich auf den Markt gekommen. Spontan fand sie es
noch häßlicher als die bonbonfarbenen Pferdchen mit den überlangen Mähnen und die geschlechtsneutralen Kens. Der Vlady war faustgroß, sein schlammgrauer Pelz wirkte filzig, riesige rote Augen schienen Rita boshaft anzuglubschen, und ein spitzer Papageienschnabel bewegte sich unaufhörlich, während er „ich bin ein Vlady und habe dich lieb komm nimm mich in die Hand und drück mich streichel mich ich bin ein Vlady und möchte dein Freund sein gib mir einen Kuß ich habe Durst erzähl mir eine Geschichte ich bin ein Vlady und dein bester Freund ich möchte in deinem Bettchen schlafen spiel mit mir ich bin ein Vlady und habe dich lieb komm…“ mit schnarrender Stimme herunterleierte. Wirklich, die Spielsachen wurden immer primitiver und abstoßender. Zu Florian paßte das Ding. Den Jungen hatte Rita schon im ersten Moment nicht gemocht, noch weniger als die anderen Bälger. Während sie sich bei denen noch etwas zusammenriß und freundlich tat, vor allem im Beisein der Eltern, ließ sie ihn spüren, daß sie ihn ablehnte. Dabei gab es eigentlich gar keinen triftigen Grund. Das Kind war meist still, höflich, spielte unauffällig mit den anderen, die Eltern waren recht zurückhaltend – vielleicht war es gerade das, das Rita reizte. „Ist der nicht toll, Tante Rita?“ sprach Sabine sie an. „Teddybär“, piepste Anna und streckte die kleine Hand nach dem Vlady aus. „Möchte haben. – Au!“ Der spitze Schnabel hatte sie am Finger getroffen und einen feinen Ritz hinterlassen, aus dem schnell ein Tropfen hellrotes Blut quoll. Anna steckte die Fingerkuppe in den Mund, während zwei Tränen über ihre Wangen kullerten. Dann streckte sie Rita anklagend die Wunde entgegen. „Hat pieks gemacht.“ Mit einem Seufzer klebte Rita ein buntes Pflaster auf die Stelle und befahl Florian, den Vlady in seine Tasche zu stecken und nicht mehr mitzubringen. Annas Mutter beschwerte sich natürlich, daß Rita nicht besser auf die Kleine geachtet hatte, und gefährliches Spielzeug habe nichts im Kindergarten verloren. Der ungehorsame Bengel brachte am nächsten Morgen seinen Vlady wieder mit, obwohl kein Spielzeugtag war. Und auch Anna hatte ei-
nen. Nach dem gestrigen Theater hatte die Mutter ihre Meinung zu dem gefährlichen Spielzeug sehr schnell geändert, bemerkte Rita verärgert. Anna rieb sich manchmal die juckende Wunde und schien ansonsten den Vorfall vergessen zu haben. Ebenso Peter. Er hatte gewiß lange gequengelt, bis sich seine Oma oder sein Papa hatten erweichen lassen, ihm so ein Ding zu kaufen. „Ich habe euch doch gesagt, daß ich diese Viecher hier nicht mehr sehen möchte“, schimpfte Rita. Wenn erneut etwas passierte, bekam sie den nächsten Anschiß. „Möchtest du ihn nicht auch einmal streicheln, Tante Rita?“ fragte Florian mit seinem Engelsgesicht und hielt ihr den Vlady hin, als habe er ihre Worte gar nicht gehört. Rita wich vor dem dargebotenen Spielzeug zurück. „Oder meinen?“ Peter reichte ihr seinen. Das Grau des Felles kontrastierte mit dem Rot eines frischen Kratzers auf seiner Handfläche. „Oder meinen?“ Sabine stand an Ritas Seite. Am liebsten wäre Rita einen weiteren Schritt zurückgetreten. Etwas Lauerndes lag in den Augen der Kinder, das so gar nicht zu ihrem unschuldigen Lächeln passen wollte. Unsinn! Sie ließ sich doch nicht von ein paar ungezogenen Blagen und ihren häßlichen Spielsachen erschrecken. „Packt die Dinger sofort ein!“ befahl sie mit lauter Stimme. Ohne Murren gehorchten die drei. Am folgenden Tag brachten sie ihre seltsamen Spielgefährten erneut mit, die nun Gesellschaft von vier weiteren Vladys bekommen hatten. Rita drohte, mit den Eltern zu sprechen, falls noch einmal ein Vlady auftauchte. Wieder einen Tag später waren es bereits neun Vladys. Die Eltern zuckten bloß mit den Achseln, und Rita erwog, den Elternbeirat und den Bürgermeister einzuschalten. So ging es ja nun nicht. Dann hatten alle Kinder einen Vlady. Sie saßen mit ihren Fellkugeln ordentlich an den Tischen. Die Vladys torkelten umher und quäkten ihren nervtötenden Spruch. „Ich bin ein Vlady und habe dich lieb…“
„Tante Rita, möchtest du meinen Vlady streicheln?“ Die Kinder starrten Rita an. Florian kratzte seinen Arm. Anna rieb ihren Finger. Peter massierte seine Handfläche. Sabine strich mit der Linken über ihr Knie. Auch die anderen Kinder kratzten oder rieben eine juckende Körperstelle. Schließlich stand Florian auf und bot Rita seinen Vlady an. Das Ding rollte mit den glühenden Augen, grinste und plärrte: „Küß mich!“ Rita wollte weglaufen, aber sie mußte ihren Arm ausstrecken, um nach dem Vlady zu greifen. Der spitze Schnabel zielte auf ihren Handrücken, stieß Es klingelte. „Das Telephon.“ Rita zuckte zusammen und preßte den unversehrten Arm an sich. Der Bann war gebrochen. „Packt schon mal die Wasserfarben aus“, sagte sie mit erzwungener Gelassenheit. „Ich komme gleich zurück.“ Sie verließ das Gruppenzimmer mit immer rascher werdenden Schritten. Zum Telephon. Sie mußte Hilfe rufen. Doch das Läuten im Büro hatte bereits aufgehört. Nach Hause, war ihr nächster Gedanke, weg von hier. Sie mußte die Eltern über die seltsamen Vorgänge informieren, den Bürgermeister, die Polizei. Aber, wurde ihr plötzlich bewußt, wer würde ihr glauben, daß sich die Kinder merkwürdig benahmen, seit sie diese Vladys besaßen? Die Kleinen kamen zur Gruppenstunde, brachten die scheußlichen Spielzeuge mit, befolgten Ritas Anweisungen, gingen wieder nach Hause – was war daran anormal? Und dieses komische Kratzen. Anna kratzte sich, seit der Vlady sie… gebissen hatte. Bestand ein Zusammenhang? Waren alle gebissen worden? Hatte sich nicht auch Peters Vater gekratzt? Hatten alle Eltern den Vlady angefaßt und waren gebissen worden? Was passierte bloß? Wieso konnten sich Menschen durch eine gräßliche Spielsache… verändern?
Durch das Telephon hatte Rita wertvolle Zeit verloren. Sie machte kehrt und hastete den Gang entlang. Um die Haustür zu erreichen, mußte sie am Gruppenzimmer vorbei. Draußen parkte ihr Auto. Sie zog den Schlüssel aus der Hosentasche. Wenn sie drin saß, hatte sie es geschafft. Dann konnte sie in die nächste Stadt fahren. Irgend jemand würde ihr bestimmt helfen. Da hörte sie die Kinder bereits auf dem Gang. „Tante Rita, wo bist du? Tante Rita? Tante Rita?“ In ihrer Panik rannte Rita zurück und die Treppe zum ersten Stock hinauf. Dort gab es einen kleinen Turnraum. Sackgasse. Verzweifelt blickte sie sich nach einem Versteck um. Das große Zimmer war leer. Einige Bänke und Matten standen darin, in einem Kasten lagen zwei Dutzend Bälle und Springseile. Der Schrank mit den alten Kleidern! Wenn sie sich da hineinquetschte, hatte sie vielleicht Glück und wurde nicht entdeckt. Vielleicht waren einige Eltern noch normal und befreiten Rita. Es mußte doch auch anderen aufgefallen sein, daß etwas mit den Vladys nicht stimmte. Und was war, wenn überall, auch in der Stadt, die Vladys ihren Siegeszug angetreten hatten? Mit eiskaltem Schweiß auf der Stirn betete Rita, während der Lichtstrahl sie blendete. „Tante Rita, wir haben dich gefunden“, sang eine leise Stimme. „Wir haben dich gefunden… gefunden… gefunden…“, echote es. „Küß mich ich habe Durst!“
Malte S. Sembten Malte S. Sembten, geb. 1965 in Marburg/Lahn, Studium des GrafikDesign in Braunschweig. Seit 1990 Veröffentlichung phantastischer Erzählungen in Magazinen und Anthologien sowie bisher drei eigenen Storysammlungen: HIPPOKRATISCHE GESICHTER, Festa-Verlag, Almersbach 2001 (2. Auflage), VARIATIONEN IN NACHTGRAU UND FLEISCHROT, Verlag Robert Richter, Hanau 1997, DIE EIN BÖSES ENDE FINDEN, Verlag Robert Richter, Hanau 2000 (diesem Buch ist auch die in dieser VirPriV-Anthologie abgedruckte Story entnommen) Zusammen mit Michael Marrak Herausgeber zweier PhantastikAnthologien im Maldoror-Verlag: DER AGNOSTISCHE SAAL und DER AGNOSTISCHE SAAL 2 Ausgezeichnet mit dem Kurd Laßwitz-Preis für die beste deutschsprachige SF-Story des Jahres 1998 („Blind Date“, in: Friedel Wahren (Hg.): ISAAC ASIMOV’S FS-MAGAZIN, BAND 50, HeyneTaschenbuch, München 1998).
Malte S. Sembten KINDERBESCHERUNG
Die Hinterräder des rostigen VW Käfer schoben den Wagen Meter um Meter durch die Schneedecke. Diese ließ den Saum des schmalen Waldwegs nur erahnen und verlangte dem Fahrer trotz des Ballasts aus Alteisen, den er vorn im Kofferraum verstaut hatte, um die Lenk-
sicherheit seines Fahrzeugs auf den winterglatten Straßen zu verbessern, alle Vorsicht ab. So war das, wenn man kein Geld für Winterreifen hatte – geschweige denn für ein zeitgemäßes Vehikel. Die Angst, den Käfer festzufahren und die Heilige Nacht einsam im frosterstarrten Wald zu verbringen, ließ ihn entnervt das Radio ausdrehen, das süßliche Weihnachtslieder dudelte. Umsonst die Hoffnung, sich mit Kinderchören und Glöckchenklingeling in die passende Stimmung für seinen Job zu versetzen. Ein Glück immerhin, daß es eine sternhelle Nacht war. Das Firmament erinnerte ihn an ein Backblech, übersät mit den Krümeln von Weihnachtskeksen. Weit entfernt zogen die Positionslichter eines Flugzeugs ihre Bahn. Die Sterne von Betlehem… Es gab Fälle, da war eine Prise Ironie das einzig wirksame Gegengift, fand Jörg Köhler, Student der Pädagogik im zwölften Semester mit jahrelanger Berufserfahrung in saisonalen Aushilfejobs. Wenigstens paßte ihm diesmal das Weihnachsmann-Kostüm, das ihm die Agentur – der WEIHNACHTSMANN-VERLEIH, wie er sie nannte – zur Verfügung gestellt hatte. Diesmal würde er nicht mit Blasen an den Füßen ins neue Jahr humpeln, weil die Stiefel drei Nummern zu eng waren, und in den Familienalben der Kunden würden keine Fotos kleben, auf denen ihm zur Gaudi der Bälger die Mütze auf die Nase rutschte. Der Wattebart roch diesmal nicht nach den eingetrockneten Niesern seines Vorgängers, er juckte nur. Und die Weidenrute lag dieses Weihnachten äußerst gut in der Hand. Aber sie war nur ein Attribut, von dem er – was er in gewissen Fällen bedauerte – keinen zweckgerechten Gebrauch machen durfte. Jeweils vier bis acht Adressen gab ihm die Agentur an Heiligabend und den ersten beiden Weihnachtsfeiertagen gewöhnlich auf. Auf den Türschwellen der Wohnungen erwarteten ihn die Geschenke, die er den Kleinen überreichen sollte und die er in seinen Jutesack stopfte, während er den Merkzettel an der Tür las und sich einprägte, was er an Lob, Ermahnungen und Schelte auf den Nachwuchs loslassen sollte. Er durfte nicht vergessen, den verräterischen Zettel abzunehmen und in der Tasche seines roten Mantels zu entsorgen. Vor allem durfte er nicht auf die elektrische Klingel drücken. Vielmehr galt es, mit dem
Filzhandschuh in bedeutungsschweren Abständen dreimal an die Tür zu pochen, während er seine Lungen mit Luft für das sonore, baßtiefe „Ho-ho-ho!“ füllte, dessen Wirkung entscheidend für den Verlauf seiner Show war. Den heutigen Abend allerdings nahm ein einziger Job in Anspruch, der so gut bezahlt war wie sonst deren fünf. Denn das ›St. Johannis Waisenstift für Problemkinder‹ lag fernab jeder menschlichen Behausung tief abgeschieden im Wald.
Jörg Köhler bemerkte, daß er einen Wegweiser verpaßt hatte. Instinktiv brachte er den VW zum Stehen – und fluchte sofort auf sich selbst. Jetzt steckte er wahrscheinlich endgültig fest. Er legte den Rückwärtsgang ein und streichelte mit dem Fuß das Gaspedal. Der kleine Motor jaulte, die Antriebsräder drehten durch. Dann jedoch setzte sich der Käfer schlitternd in Bewegung. Während er in die Dunkelheit zurücksetzte, um das Hinweisschild wiederzufinden, dachte Köhler ängstlich daran, daß ihn genauso der nächste Stop lahmlegen konnte, wenn er zurück in den Vorwärtsgang wechselte. Er konnte nur sein Glück beschwören. Es war ihm noch einmal hold; bald tauchte der beschriftete Richtungspfeil im Doppelkegel seiner Scheinwerfer auf, das Abbiegemanöver gelang, und Köhler lenkte sein Auto wieder voran über den schmalen, vereisten Pfad, der ihn ans Ziel bringen sollte. Nachdem ihn eine bucklige Steinbrücke über einen totenstarren Bach im Leichenhemd aus Neuschnee geführt hatte, wurde der Waldpfad wegsamer. Bald mündete er in eine breite, ummauerte Einfahrt, die sich in ein weites Rondell öffnete, an dessen Kopfende der Bau aufragte, der das Waisenstift beherbergen mußte. Wie eine zu Stein erstarrte Lavaeruption mutete die schwarze Masse des Gemäuers im Dunkel der Nacht an und verriet dennoch durch ihre Kontur die protzige Neugotik aus dem neunzehnten Jahrhundert, die an diesem Ort, tief inmitten des winterlichen Waldes, geradezu surreal wirkte.
Köhler wunderte sich, daß er weit und breit kein parkendes Auto sah. Sein eigenes brachte er dicht am Mauerwerk unter dem Schutz eines vorspringenden Erkers zum Stehen, der den Schneefall abgehalten hatte, so daß er später ohne Panne fortzukommen hoffte. Er legte den falschen Bart an und setzte die Zipfelmütze auf; dann stieg er aus. Er klappte den Fahrersitz nach vorn und klaubte den Jutesack von der Rückbank, in den er die Weidenrute stopfte. Seine Instruktionen lauteten, am Hauptportal zu klingeln. So stapfte er durch den knirschenden Schnee zur Freitreppe an der Stirnseite des Gebäudes. Mehrere Stockwerke über ihm leuchtete eine Fensterreihe in warmem, einladendem Schein, der, verstärkt durch die weltabgeschiedene Lage des Stifts inmitten weißgepuderter Tannen, sogar in einem Christfestzyniker wie Jörg Köhler Dickens’sche Weihnachtsromantik anklingen ließ. Vorsichtig erkomm er die vereisten Stufen. Ein erschrockener Blick auf seine Jelly Swatch, die er unter dem falschen Pelzsaum seines Ärmels hervorpulte: Er war noch später dran, als er befürchtet hatte. Während sein Blick die verwitterte Steintafel mit der Aufschrift ST. JOHANNIS WAISENSTIFT ANNO 1902 streifte, zögerte er unwillkürlich, den altmodischen Klingelzug zu betätigen und sich den »Problemkindern« (welch weit interpretierbarer Begriff…) zu stellen. Allzu gegenwärtig war ihm in diesem Augenblick sein WeihnachtsmannAuftritt in einem Behindertenheim zwei Jahre zuvor. Auch als Anhänger fortschrittlicher Pädagogik hatte er nie Gewissenbisse gespürt, Vorschulkindern den Weihnachtsmann vorzulügen. Aber im Behindertenheim hatte es ihn schockiert, nicht den gewohnten Kleinen, sondern Vierzehn-, Sechzehnjährigen gegenüberzutreten. In diesem Augenblick hätte er vor Scham über seinen lachhaften Aufzug in den Boden sinken mögen. Doch sie hatten ihn nicht durchschaut. Diese Kleinkinder in den Körpern von Jugendlichen hatten den Weihnachtsmann so ernst genommen wie der Papst die unbefleckte Empfängnis. Es war ihm gelungen, seine Show routiniert durchzuziehen. Und er hätte sich damit beruhigen können, seinem ungewöhnlichen Publikum die Weihnachtsfeier verschönt zu haben. Doch allzu deutlich hatte er gerade vor diesem Publikum die Entmündigung beg-
riffen, der er mit seiner Kostümscharade Vorschub leistete. Wozu gab es den Weihnachtsmann, Knecht Ruprecht, den Osterhasen und ihre Komplizen? Weil Kinder, die an sie glaubten, sich ebenso leicht manipulieren ließen wie Abergläubige, die sich vor Zauberkräften fürchten, oder Religionsangehörige, die von den Dogmen ihrer Kirche überzeugt sind.
Der
Flügel des Eingangsportals verursachten kein Geräusch. Das Mädchen, das unerwartet wie eine Erscheinung in der Türöffnung stand, war nicht älter als fünf oder sechs Jahre und blickte mit dem Antlitz eines leibhaftigen Weihnachsengels zu Köhler empor, goldgerahmt von einem Gespinst schimmernder Locken. Die Kleine hätte besser in kitschigen Rauschgoldflitter gepaßt als in die strenge Schülerinnenuniform, die sie trug. Zunächst fehlten Köhler die Worte. Dann entwich es seinem Munde: „Ho-ho-ho! Weit reiste ich im eisigen Wind zu euch Menschen als Bote vom Christuskind und habe zur Feier dieser heiligen Nacht über der Schulter einen Sack voll mit Gaben gebra…“ Ihm war eingefallen, daß sein Geschenkesack bisher nur die Rute enthielt. Doch der schlaffe Jutestoff in seiner Hand blieb unbeachtet. Ein Engelslächeln erstrahlte in ihrem Gesicht: „Tritt ein, lieber Weihnachsmann, freiwillig und ungezwungen. Fühl dich willkommen und laß etwas von den Geschenken hier, die du mit dir bringst!“ Ein verlegenes, helles Kichern folgte diesen ungewöhnlichen Worten; die Kleine war ebenso seltsam wie süß. Bezaubert ließ Köhler sich über die Schwelle locken – keinen Augenblick zu früh, denn ohne Warnung setzte draußen wieder heftiger Schneefall ein, durchstoben von einem Wind, der eine wirbelnde
Wolke von Eisflocken durch den Spalt des zufallenden Türflügels in die Eingangshalle trieb. Ob dies der Grund war oder fehlende Beheizung, Jörg Köhler fror innerhalb der düsteren Mauern genauso wie außerhalb. Das nur spärlich aus den Schatten sich schälende Mauerwerk ließ die karge Weiträumigkeit der Halle lediglich erahnen. Künstliche Beleuchtung fehlte, und das blasse, blondumlockte Gesicht des Mädchens war wie ein Lichtschein in stofflicher Finsternis: „Folge mir, alle freu’n sich schon auf dich!“ forderte sie ihn mit ihrer lieblichen Stimme auf. Halbblind in der Düsternis, blieb ihm nichts übrig, als dem Kind wie einem Lichtstrahl zu folgen. Auf ihren Fersen stolperte er eine gewundene Steintreppe hinauf, durchquerte einen kalten, zugigen Flur und gelangte schließlich vor eine Tür, durch deren Ritzen warmes Leuchten drang. Dahinter vermutete er die Räume, deren erhellte Fensterflucht ihm draußen auf dem Hof das Herz gewärmt hatte. Wieder öffnete sich die Türe lautlos und wie von allein. „Er ist angekommen!“ rief das Mädchen. Ihn bei der Hand fassend, trat sie mit ihm ein. Hallend fiel die Tür zurück ins Schloß.
Nach
diesem plötzlichen Laut wirkte die Stille umso tiefer. Eine Vielzahl von Gesichtern wandte sich den Ankömmlingen zu. Fünfzehn, zwanzig Kinder füllten den gestreckten Saal, die Mädchen in himmelblauer, die Knaben in marine-blauer Zöglingsuniform. Der Saal selbst war wie ein altertümliches Schulzimmer ausgestattet. An seiner unteren Schmalseite hing eine große schwarze Tafel, an der oberen brannte ein Kamin, ohne spürbare Wärme zu spenden. An den Längswänden hingen Schautafeln und Landkarten, die auch oberflächlich betrachtet nicht auf dem jüngsten Stand schienen. Das Lehrerpult und die altmodischen Bänke waren platzschaffend an die Wände gerückt.
Mehr Wärme als von dem kläglichen Kamin strahlte von dem Christbaum in der Mitte des Saales aus, dessen Kerzen den Raum mit ihrem warmen Schein ausfüllten, den Köhler schon von draußen wahrgenommen hatte. Um ihn herum saßen die Kinder auf ihren Klassenstühlen. Der Neuankömmling war der einzige Erwachsene. Eine tumultuöse Begrüßung beendete die Stille nach seinem Eintreten. Rufe, Klatschen, Pfiffe, die seine Verunsicherung bis zur völligen Verwirrung steigerten. Er befeuchtete sich die Lippen. Ein Barthaar aus Watte blieb an seiner Zunge kleben. „Ho-ho-ho!“ klang seine Stimme so dünn durch den Saal, daß sie im Kinderlärm beinahe unterging. Er mühte sich, es klang etwas schrill: „Weit reiste ich im eisigen Wind zu euch Menschen als Bote… Wo ist denn euer Lehrer?“ Abruptes, fast betretenes Schweigen. Es wurde von einem Jungen unterbrochen, der aufstand und erklärte: „Wir haben uns von der Vormundschaft der Erwachsenen befreit. Zunächst mußten wir natürlich ihre Hauptkomplizen ausschalten.“ Damit schritt er wichtig nach vorn, ergriff ein Stück Kreide und ließ es über die Tafel quietschen. Anschließend nahm er den Zeigestock, wies auf die Schönschrift und blickte fordernd in die Runde. Die Kinder lasen im Chor: „Es taugt die dumme Ammenmär für schlaue Kinder nimmermehr, und Christkindlein und Osterhas beißen unbeweint ins Gras.“ Dieser Inszenierung folgte ein erneuter fröhlicher Ausbruch. Er legte sich, als sich am gegenüberliegenden Ende des Saales der nächste Junge erhob. Er winkte Köhler heran. Und der hatte längst das Gefühl, in einen beginnenden Alptraum geschlittert zu sein. Da ihm die Fäustlinge verwehrten, sich unauffällig
zu kneifen, biß er sich auf die Zunge. Er schmeckte Blut, doch seine Umgebung veränderte sich nicht. Schon stand er, dem Geheiß des Kindes folgend, am Kamin. Ein Fell… ein Eisbärenfell… Doch Köhlers Augen sahen etwas anderes, als sein Verstand zu glauben bereit war. Nur die Größe des Kaminvorlegers paßte zum Eisbären, seine Konturen und die Form des augenlosen Schädels hingegen widerlegten Köhlers Assoziation. Aus dem aufgerissenen Rachen ragten zwei riesige, messerscharfe Nagezähne. Der ganze schmutziggraue Balg war verdreckt und blutverkrustet. Auf den Vorderläufen leuchtete bunt eine Schicht getrockneter Malfarben. „Ja, der Osterhase“, sagte der Junge. „Oder was von ihm übrigblieb. Hab ihn selber kaltgemacht. Scheußliches Gemetzel.“ Er blickte indigniert auf das monströse Hasenfell. „Zeig ihm den Schrank!“ forderte eine helle Mädchenstimme. „Das soll der Anselm machen“, erwiderte der Osterhasenmörder. Anselm war sehr klein geraten. Als er aufstand, überragte er seine sitzenden Kameraden um kaum mehr als Kopfeslänge. Seine roten Segelohren standen wie Stopschilder von seinem schmalen Kopf ab. Aber der Tonfall seiner Piepsstimme war selbstsicher, als er die willenlose Figur in der Weihnachtsmannverkleidung zu einem niedrigen Holzspind neben der Tür dirigierte. Aus der Nähe bemerkte Köhler eine schimmernde Naht aus Dutzenden von Nagelköpfen, die die Tür des Schranks dauerhafter verschloß als einen Sargdeckel. Anselm stieß mit dem Fuß gegen die Füße des Spinds. Ein Gurgeln, kraftlos und gequält, drang aus dem Inneren des Möbels gleich einem Echo aus abgründiger Tiefe. Nur die Resonanzwirkung des Holzkörpers schien es überhaupt hörbar zu machen. Dann sickerte aus der Türritze dünner schwarzer Schleim und tropfte zäh wie das Ticken einer ablaufenden Uhr auf den Steinboden. „Der Schwarze Mann – der Butzemann – der Kinderschreck…“ raunte Anselm. „Lauerte mir hier drin auf. Hab den Schlüssel umgedreht, Hammer und Nägel geholt. Ist schon ‘ne Weile her; zäher Bursche. Aber lang macht er’s nicht mehr.“
Jörg Köhler starrte die spiegelnde Pfütze auf dem Boden an, dann die zugenagelte Schranktür. Plötzlich verharrte sein emporwandernder Blick. Auf dem niedrigen Schrankdach stand ein Blumentopf mit einem Kaktus… einem Kaktus? Den Blumentopf hatte er richtig erkannt. Das andere… „Das war mal das Sandmännchen“, erklärte Anselm beiläufig. Aus dem Sand in dem Tontopf ragte ein Gebilde, das aussah wie der abgrundtief häßliche Schrumpfkopf eines Pygmäen. Die Züge grotesk verzerrt, die leeren Augenhöhlen umkrustet von gestocktem Blut. Während Köhler gegen seinen Ekel ankämpfte, trat das blonde Engelchen heran, das ihn empfangen und hierher geführt hatte. Blaue Puppenaugen blickten zu ihm auf. Der Engelmund sagte: „Es wollte mir sein Pulver auf die Linsen pusten. Mußte ihm eine Lektion erteilen. Hab seine Augen ausgerissen und es bis zum Hals eingebuddelt. Den Trick hab ich von den Indianern.“ Sinnend fugte sie hinzu: „Weiß nicht genau – wahrscheinlich ist es verdurstet.“ Sie blickte Köhler, dessen Gesicht fast genauso weiß geworden war wie sein Wattebart, durchdringend an. „Wir haben alle von den Viechern erwischt…“ „… bis auf eins“, ergänzte ein dicker Junge, trat zur Gruppe hinzu und zeigte Köhler ein breites Grinsen voller Zahnlücken. Dieser wich entsetzt zurück: „Nein! Ich… ich bin nicht der Weihnachtsmann!“ „Ich… ich bin gar nicht das Sandmännchen!“ äffte ihn die Sandmädchenbezwingerin nach. „Ich… ich bin überhaupt nicht der Schwarze Mann“, imitierte Anselm die schleimige Stimme des Schwarzen Mannes. „Und ich… ich bin auch nicht der Osterhase“, quiekte der Osterhasentöter wie ein Osterhase. „Ja, das beteuern sie alle, wenn ihre Stunde schlägt“, lispelte der dicke Junge abfällig. „Aber ich meine nicht den Weihnachtsmann, son-
dern die Zahnfee, die gerissenste von allen. Bin schon lange hinter ihr her. Und irgendwann krieg’ ich sie auch!“ Der Jutesack entglitt Köhlers kraftloser Hand. Er schüttelte mechanisch den Kopf. „Glaubt mir…“ Er warf die Zipfelmütze ab. „Seht her…“ Er riß sich den Wattebart aus dem Gesicht. „Um Himmels willen!“ Er öffnete seinen breiten Gürtel und ließ seinen roten Mantel fallen, „Mein Name ist Jörg Köhler… Ich bin nicht der Weihnachtsmann!“ „Das wissen wir“, winkte der dicke Junge ab, und seine Freundinnen und Freunde nickten gelangweilt. „Es gibt nur falsche Weihnachtsmänner. Kostümierte Väter, Onkels, Lehrer… oder Studenten. Diese Weihnachtsmann-Scheiße ist ein einziger Erwachsenen-Schwindel. Falls es je einen echten Weihnachtsmann oder Santa Claus gegeben hat, muß er schon lange tot sein.“ „Im Wald von Räubern ermordet… Erfroren im Packeis, betrauert von seinen Rentieren… falls überhaupt“, fügte Anselm hinzu. „Oder von den Eisbären gefressen“, mutmaßte Engelchen. Unvermittelt wechselte sie das Thema: „Willst du sehen, was wir zu Weihnachten gekriegt haben, Jörg?“ Bei diesem kameradschaftlichem Angebot atmete Jörg Köhler auf. Vielleicht ließ sich ja doch noch ein Einvernehmen mit diesen seltsamen Kindern erzielen. Dankbar stimmte er zu. Das Engelchen, der Osterhasentöter, Anselm und der Zahnfeejäger geleiteten ihn zum Christbaum, wo sie bald von den übrigen Kindern umringt waren. Die Steinfliesen um den Baumständer waren mit zerknäultem und zerfetztem Weihnachtsgeschenkpapier bedeckt. Dazwischen lag Kinderspielzeug. Die drei Kinder, die durch ihre Kriegstaten gegen den Osterhasen, den Butzemann und das Sandmännchen eine Führerrolle unter ihren Freunden einnahmen, verständigten sich mit Blicken. Dann nickte Anselm und erklärte: „Ich hab’ mir einen Nußknacker gewünscht. – Ein ungewöhnliches Modell…“ Er bückte sich und hielt Jörg Köhler einen großen holzgeschnitzten Nußknacker entgegen. Allerdings hatte das altmodische Spielzeug nicht die herkömmliche Gestalt eines Gre-
nadiers, sondern die eines dicken, nahezu kahlköpfigen Mannes im altväterlichen Anzug, dessen Nase ein Miniaturkneifer aus Draht zierte. Am überdimensionierten, beweglichen Kinn klebte ein spitzer Filzbart. Im Kontrast zur gesamten Machart des Spielzeugs wirkten seine beiden schimmernden Elfenbeinzahnreihen bis auf ihre Winzigkeit sehr echt. Der Junge zupfte eine der vergoldeten Wallnüsse vom Weihnachtsbaum. Er zog einen Hebel aus dem Rücken des Spielzeugs, worauf sich die holzgeschnitzten Kiefer teilten, schob die Nuß dazwischen und drückte den Hebel zurück. Knirschend platzte die Nuß, Schalenstücke und Inhalt bröselten zu Boden. Anselm zog am Hebel, die Kiefer des Nußknackers öffneten sich und offenbarten eine schwarze Grotte. Fast alle der winzigen naturgetreuen Zähne fehlten. Die dunkelrote Farbe, die aus der Mundhöhle rann, roch wie Blut. „Modell Stiftsleiter“, kommentierte Anselm, „leider Mangelqualität.“ Er schmiß sein Geschenk unter den Weihnachtsbaum zurück. „Ich hatte mir eine Schneekugel gewünscht“, meldete sich der Osterhasentöter. Er hob sein Geschenk auf und hielt es Jörg Köhler hin. Nur widerstrebend nahm dieser die auf einen Holzsockel montierte Glaskuppel in die Hand. Ihr Inneres enthielt nichts als einen konturlosen Hügel aus Schnee. „Man muß sie schütteln“, half der Osterhasentöter nach, nahm das Geschenk zurück und machte es vor. Die Glaskugel erblindete in undurchdringlichem Flockengestöber. Der Junge hielt die dicht vor Jörg Köhlers Augen, der hineinstarrte und beobachtete, wie sich die Schneeflocken langsam auf der naturgetreuen Figur eines dürren nackten Mannes niederließen, der zusammengerollt auf dem gemalten Eisboden lag. Bald war der Mann zugeschneit; nur noch ein Arm ragte gleichsam flehend aus der Schneedecke hervor. Zitternd versanken jedoch Ellenbogen, Unterarm und Finger, bis nur noch der Grabhügel aus Schnee erkennbar war. „Modell Pedell“, erläuterte der Osterhasentöter, als er die Schneekugel an ihren Platz unter dem Christbaum zurückstellte.
Jetzt sprach das Engelchen. „Auf meinem Wunschzettel stand: eine liebe Schlafpuppe, Modell Fräulein Schlenck.“ Die stockdürre Puppe, die sie in der Armbeuge wiegte, steckte in einem grauen, grob genähten Kostüm, ihr faltiger Hals und ihr Knittergesicht waren aus einem alten grauen Damenstrumpf gefertigt. Dutt und Brillengestell bestanden aus Kordel. Die hölzernen Augendeckel waren geschlossen. Mit einem Ruck hielt das Engelchen die Puppe hoch; die Holzlider sprangen auf und das Ding starrte Jörg Köhler aus blaßblauen, feuchten Menschenaugen direkt ins Gesicht. In ihnen stand der Ausdruck äußersten Grauens. Für Jörg Köhler schien unter diesem Blick eine lähmende Ewigkeit zu verstreichen, bis das Engelchen seine Puppe mütterlich in die Arme zurücknahm. „Nicht alle Kinder haben so schöne Geschenke gekriegt“, sagte sie zu ihm. „Falscher Weihnachtsmann, was hast du uns mitgebracht?“ Alle Augenpaare wanderten zu dem schlaffen Jutesack, der neben dem Butzemann-Schrank auf den Steinfliesen lag. Der dicke Junge mit den Zahnlücken hob ihn hoch, trug ihn herüber. „Das wirkt nicht sehr vielversprechend“, urteilte er, bevor er den Sack am Saum packte, umdrehte und schüttelte. Heraus fiel die Rute. Eisige Blicke packten den falschen Weihnachtsmann. „Nur das?“ fragte der Osterhasentöter. „Wir waren wohl unartig“, folgerte der dicke Junge und entblößte seine Zahnlücken in einem Grinsen, das Jörg Köhler anspornte, herumzuwirbeln und zur Saaltür zu rennen… verfolgt von der Stimme des dicken Jungen: „Ich wünsche… wünsche mir einen Aufziehaffen!“
Michael Siefener Geboren am 14. 11. 1961 in Köln. Dort Besuch der Grundschule und des Gymnasiums. 1981 Abitur. 1981 bis 1988 Studium der Rechtswissenschaften in Köln. 1988 Heirat mit der Chemikerin Andrea Klein. Umzug nach Haan/Rheinland. 1990 Eintritt in den juristischen Referendardienst in Köln. 1991 Promotion zum Dr. jur. mit der Arbeit „Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie“. Verließ am 31. 12. 1991 vorzeitig den Referendardienst, um als freier Schriftsteller zu arbeiten. Seitdem etliche Veröffentlichungen in Magazinen und Büchern. Einzelveröffentlichungen: BILDWELTEN (vhk 1993), DAS RELIQUIAR/DIE WÄCHTER (Edition Metzengerstein 1997), NONNEN (Heyne 2000). Weitere Veröffentlichungen sind in Vorbereitung.
Marten Munsonius Geboren am 14.03.1961 in Berlin als Jörg Martin Munsonius. Kaufmännische Ausbildung, hat heute eine Agentur für Übersetzungen, Autoren, Illustration. Nach der Buchanthologie PFADE INS PHANTASTISCHE 1996, folgte 1997 GEGENBILDER – eine weitere Anthologie deutschsprachiger Phantastik, herausgegeben zusammen mit Gerd Maximovic. Seit 1995 Zusammenarbeit mit Al Wallon, erst im Heft, jetzt im Taschenbuchbereich. (Horror & Fantasy/BLITZ-Verlag) Des weiteren Rezensionen und Essays zur phantastischen Literatur, u.a. im Quarber Merkur, Heyne-SF-Jahr, Fantasia und Wunderwelten.
Mitherausgeber des von Alpers u.a. herausgegebenen „FantasyLexikons“. Übersetzungen eigener Erzählungen ins Französische und Englische. Zusammen mit Antje Ippensen gewann er 1998 den dotierten Werner Ross-Preis des „Freien Deutschen Autorenverbandes“. (Weitere Storys mit bekannten Co-Autoren wie Hubert Haensel – Perry Rhodan – und dem Heyne-Autor Michael Siefener.) Gemeinsam mit Al Wallon schrieb er im BLITZ-Verlag/Windeck die von beiden Autoren konzipierte Horror-Taschenbuchserie MURPHY und die dreiteilige Fantasysaga THORIN. Hier versuchten die Autoren neue Wege zu gehen, sei es die explizite Darstellung einer Schwulenszene oder die Einbindung lebender Menschen. (Gastauftritt RAMMSTEIN, Till Lindemann als Barde auf einem Seeräuberschiff.) 1999: zusammen mit Alfred Bekker erfolgt die Gründung des BÄRENKLAU-VERLAGES. Dort erscheinen Thriller, Krimis und Hörbuch-CD’s in den unterschiedlichsten Genres von verschiedenen Autoren. Ab 2001 erscheint die Reihe MURPHY – weitergeführt im MGVerlag. Neu ist die Endzeitsaga CORRIGAN im selben Verlag. Einzelne Romane steuert M. auch im Mohlberg-Verlag unter Pseudonym bei und mit Markus Kastenholz unter seinem richtigen Namen. J.M.M. Fußnote 1 (Victims of circumstance)
Michael Siefener und Marten Munsonius LASS DICH VOM BÖSEN NICHT GLAUBEN MACHEN…
Das alte Schiff kämpfte sich schlingernd durch die aufgewühlte See. MacOvery starrte mit leerem Blick hinaus auf das Meer. Kleine Schaumkronen erstreckten sich bis zum Horizont unter einem blei-
schweren Himmel. MacOvery atmete schwer. Schon bedauerte er seine Zusage. Er hatte Angst vor dem, was er sehen und hören würde. Er hatte Angst, dass seine Überzeugung ins Wanken geraten könnte. Nervös trommelte er mit den Fingern auf das glatte Holz der Reling. Der Maat kam herunter und reichte ihm eine Tasse dampfenden Tee. MacOvery nickte dankbar. Mit klammen Fingern umfasste er die Tasse, und seine Gedanken schweiften zurück zu dem Augenblick, als er die Aufforderung zu dieser Reise erhalten hatte. Er hatte seinen Studenten gestanden und versucht, ihnen die Grundbegriffe der Ethik beizubringen, als der Botschafter in den Hörsaal kam und ihm die Ladung überbrachte. Es war das erste Mal für ihn. „Er wird sich nur langsam erinnern“, sagte der Maat. „Zu langsam, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. So waren sie bisher alle. Die Holographien benebeln sie.“ Der Maat wich zurück in den Halbschatten der Kajüte. Und was war mit seiner Seele? dachte MacOvery plötzlich. Nein, das war kein korrekter Gedanke. Er hatte sich schon vor langer Zeit seine Meinung gebildet; sie stand fest wie der Fels in der Brandung, zu dem sie unterwegs waren. Nasse Gischt traf ihn, leckte über seine Haut, durchfröstelte sein Innerstes. Er schüttelte sich. Langsam kam die Insel in Sicht. Ein schwarzes Eiland, still und geduckt unter dem Brausen der See und des Windes. Noch vor kurzem hatte die Insel von Lärm, von Rufen, Kommandos und Stechschritten widergehallt, hatten sich Bilder des Schreckens auf ihr gezeigt. Aber es waren ja nur Bilder gewesen. MacOvery dachte an Robert Svambesi. Der Philosophieprofessor aus Tansania würde jetzt ebenfalls auf dem Weg zu dieser Insel sein. Vielleicht war er schon dort angekommen. MacOvery freute sich auf ihn. Sie hegten in manchen Punkten unterschiedliche Meinungen, doch er schätzte den klaren Verstand und die Warmherzigkeit seines Kollegen sehr. Auch für ihn war es das erste Mal.
Inzwischen hatte das Schiff den kleinen Hafen erreicht. Nass glänzte die Mole, nass glänzte das riesige Gebäude dahinter, das beinahe die ganze Insel zu überwölben schien. Dort drinnen war alles geschehen: im Bauch einer holographischen Welt, die man nicht von der wirklichen Welt unterscheiden konnte, wenn man mitten in ihr steckte. MacOvery hielt dieses Verfahren für korrekt und gerechtfertigt. Wie sonst sollte man über Schuld oder Unschuld richten können? Das Schiff legte an dem schmalen Kai an; Taue wurden ausgeworfen; eine Planke wurde angelegt. MacOverys Schritt war schwankend, als er mit seinen beiden Koffern an Land schritt. Ein Geländewagen stand für ihn bereit. Der Soldat salutierte vor ihm und riss mit einer zackigen Geste den Schlag auf. Seufzend stieg der Professor ein. Der Wagen setzte sich mit dem für dieses Modell typischen Wasserstoffbrummen in Bewegung. Schon bald war die gewaltige Halle umrundet, und das Fahrzeug hielt vor einem vergleichsweise kleinen Gebäude, um das eine säulenverzierte Veranda verlief. MacOvery stieg aus, ließ den Augenscan am Eingang über sich ergehen und wurde von einem weiteren Soldaten zu seinem Quartier geführt. Das Zimmer war klein und einfach: ein Tisch, ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank, ein angrenzendes winziges Badezimmer. Und natürlich ein Holo. Es flackerte, und Robert Svambesi stand im Zimmer. „Hallo, alter Freund“, begrüßte er MacOvery und kreuzte die Anne vor der Brust, wie man es halt tat, wenn man per Holo miteinander verkehrte. „Es freut mich, dass du endlich hier bist. Jetzt ist dieser furchtbare Ort nicht mehr so kalt und einsam.“ „Sei gegrüßt, Robert. Ich hätte nie gedacht, dass wir uns einmal auf einem so seltsamen Gelände begegnen“, sagte MacOvery. „Seltsam? Eher erschreckend“, antwortete der Schwarze. „Mich wundert, dass sie dich genommen haben“, meinte MacOvery. „Deine Einstellung ist schließlich bekannt.“ „Genau wie deine. Mal sehen, wer von uns auf der Gewinnerseite stehen wird.“
„Glaubst du etwa, der Ausgang stünde nicht bereits fest?“ fragte MacOvery. „Wenn dem so ist, dann sind wir nicht besser als der Angeklagte. Lass uns zusammen etwas essen gehen.“
Der Gerichtssaal war recht klein – viel kleiner, als MacOvery es erwartet hatte. In den Holosendungen hatte er größer ausgesehen. MacOvery saß rechts außen auf der Richterbank, Robert Svambesi links außen. Zwischen ihnen würden die fünf Berufsrichter Platz nehmen. MacOvery lehnte sich nach links, zu Svambesi. Im Flüsterton sagte er: „Ist die Kabine noch leer? Oder ist er schon da?“ Svambesi kniff die Augen zusammen und schaute hinüber zu dem schwarzen Kubus. Nichts war hinter den getönten Scheiben auszumachen – kein Umriss, keine Bewegung. Svambesi zuckte die Achseln. Auch MacOvery konnte nichts erkennen. Die Vorstellung, dass der Angeklagte bereits in seinem ausbruchsicheren Käfig hockte und sie beobachtete, gefiel ihm gar nicht. Der Professor brauchte Ablenkung. „Wie geht es deinem Klon?“ fragte er Svambesi. „Danke, gut. Ich kann schon bald seine Gedanken lesen.“ „Na, prächtig.“ MacOvery grinste. Es war halt einfacher, Klone zu erziehen als Kinder, weswegen der Alte Weg kaum mehr benutzt wurde. MacOvery selbst hatte weder Kind noch Klon. Er wollte sich seine Unabhängigkeit bewahren. Plötzlich wehte eine Welle der Unruhe in den Saal. Die Richter zogen ein, hinter ihnen der Generalanwalt und der Verteidiger, die an breiten, einander gegenüberliegenden Tischen Platz nahmen. Ihnen folgten die amtlichen Prozeßbeobachter. Die Richter begrüßten MacOvery und Svambesi mit einem Kopfnicken und setzten sich. Ihre schwarzen Roben raschelten wie ein Wald im Herbststurm. MacOvery glaubte, nun hinter dem abgedunkelten Glas des Angeklagtenkäfigs eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Der Prozeß begann.
In der Mittagspause genehmigte sich MacOvery nur einen Proteinsnack. Svambesi hingegen nahm sich ein Steak. Sie setzten sich an einen der freien Tische und aßen schweigend. Schließlich fragte Svambesi: „Was hältst du von der ganzen Sache?“ MacOvery wollte gerade die letzte Tablette nehmen. Er sah sie lange an, legte sie dann zur Seite und antwortete: „Es ist unfassbar.“ Ihm war übel. Noch nie war er mit solchen Greueltaten konfrontiert worden. Natürlich, er hatte sich während seines Studiums auch einige Semester mit Geschichte befasst, aber nichts konnte ihn auf das vorbereiten, was er heute gehört hatte. Er schüttelte den Kopf. „Ja, es ist wirklich unfassbar“, pflichtete Svambesi ihm bei. „Der ganze Prozess ist unfassbar.“ Er aß zwei Bissen von seinem Steak und schob dann den Teller von sich. „Aber er ist notwendig“, entgegnete MacOvery. „Schließlich kann ein Urteil nicht ohne den Prozess stattfinden.“ „Kann man die Toten nicht einfach ruhen lassen?“
Der Prozess zog sich noch viele Tage hin. Anklage und Verteidigung wechselten harte Worte, und die Richter taten ihr Bestes, um Wahrheit von Spekulation zu trennen. Nach der Vernehmung der Zeugen befragten sie schließlich den Angeklagten selbst. Auch jetzt verblieb er in seiner abgedunkelten gläsernen Kammer. Seine Stimme wurde durch den Verstärker leicht verzerrt. Er wies alle Vorwürfe zurück und bezeichnete sich als V.O.C. 1 „Ist er das denn etwa nicht?“, fragte Svambesi in der abschließenden Sitzung. Die Richter funkelten ihn böse an. „Man hat ihn geklont, man hat ihn in einem holographischen Umfeld aufwachsen lassen, nur um zu sehen, wie er sich entwickelt. Ist es da ein Wunder, dass kein Mensch, sondern ein Monstrum aus ihm geworden ist?“
Einer der Richter entgegnete: „Es ist genau wie beim letzten Mal. Und wie beim vorletzten Mal. Immer wieder hatte er die Chance, sich anders zu entwickeln. Aber er hat es nicht getan.“ „Weil die Rahmenbedingungen und sein Genpool immer identisch waren“, meinte Svambesi und stützte die Ellbogen auf der Tischplatte ab. „Aber beim ersten Mal standen ihm alle Möglichkeiten offen“, gab MacOvery zu bedenken. Drei der Richter nickten heftig. „Und wie viele Jahre ist das schon her? Zweihundert? Dreihundert?“ Svambesis Stimme war immer lauter geworden. „Zweihundertdreiundvierzig – um genau zu sein“, sagte einer der Richter. „Es ist die vierte Inkarnation seit der Entwicklung des Verfahrens.“ „Also urteilen wir hier eigentlich über Verbrechen, die schon mehr als zweihundert Jahre zurückliegen“, sagte Svambesi. „Die Verbrechen, die er begangen hat, verjähren nicht“, sagte einer der anderen Richter. „Aber er hat sie nicht begangen!“, fuhr Svambesi an. „Willst du seine Verbrechen etwa leugnen?“, mischte sich MacOvery ein. „Keinesfalls“, verteidigte sich Svambesi. „Was wir im Prozess gehört haben, ist an Grausamkeit und Diabolie nicht zu überbieten. Ich will damit nur sagen, dass der Mann, über den wir hier zu Gericht sitzen, diese Verbrechen nicht in der wirklichen Welt, sondern an Holographien begangen hat.“ „Aber sie sind auch in der wirklichen Welt geschehen“, hielt MacOvery ihm entgegen. „Vor mehr als zweihundert Jahren!“ „Wir drehen uns im Kreis“, mahnte der Vorsitzende Richter. „Wenn ich die Akten richtig interpretiere, war es auch im letzten Verfahren so. Das ist in gewisser Weise sogar gut, denn dadurch wird unseren Kritikern der Wind aus den Segeln genommen.“
„Wollen Sie damit andeuten, dass ich nur deshalb als Schöffe berufen wurde, weil ich eine abweichende Meinung hege?“, erboste sich Svambesi. „Ich stimme gegen eine Verurteilung, gegen die Todesstrafe, und werde dann von euch anderen überstimmt. So soll es doch sein, nicht wahr?“ Der Vorsitzende Richter lächelte. „Nein“, sagte MacOvery. „Das hier ist ein reguläres Verfahren vor dem Weltgerichtshof. Das Urteil steht nicht fest.“ Der Vorsitzende Richter nickte; er lächelte immer noch. Dann sagte er: „Die Taten in der Holographiehalle haben eindeutig bewiesen, dass der Angeklagte genauso gehandelt hat wie sein Stammvater. Deshalb wird er nicht für die gegenwärtigen Taten bestraft, sondern für jene seines Stammvaters.“ „Und wie oft soll dieses Verfahren noch stattfinden? Wie viele Klone werden noch aufgezogen, verurteilt und hingerichtet?“ Svambesi hatte sich in Wut geredet. MacOvery, der neben ihm saß, legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Wir sind hier, um einen Fehler der Geschichte zu korrigieren“, sagte er sanft. „Hätte denn nicht ein einziges Mal gereicht?“, fragte Svambesi. „Nicht bei der Schwere seiner Verbrechen“, entgegnete einer der Richter. „Manchmal wünschte ich, seine Gebeine wären nicht durch diesen verrückten Zufall wieder ans Licht gekommen“, seufzte Svambesi. „Sie haben nicht die richtige Haltung zu diesem Dämon in Menschengestalt“, sagte der Vorsitzende Richter. „Dieses Monstrum hat einige meiner Vorfahren auf dem Gewissen.“ „Und wie lange soll er immer wieder geklont werden?“ wollte Svambesi wissen. „Solange, bis er seine Schuld abgetragen hat. Aber das ist nicht Gegenstand dieser Unterredung. Wir müssen zu einem Urteilsspruch kommen“, fauchte ihn der Vorsitzende Richter an.
„Genau“, pflichtete Svambesi ihm zu. „Haben wir das Recht, ihm das Leben zu nehmen?“ „Natürlich“, sagte der Vorsitzende Richter leichthin. „Artikel vierzehn der Shanghaier Konvention gebietet in solchen Fällen die Todesstrafe.“ „Das meinte ich nicht“, verteidigte sich Svambesi. „Juristisch mögen wir dazu berechtigt sein, aber haben wir auch das moralische Recht?“ „Wir haben das gleiche Recht wie der Angeklagte. Er hat unzähligen Menschen auf die grausamste Weise das Leben genommen; also dürfen wir es ihm gleichtun“, meinte MacOvery. Es klang nicht mehr ganz so fest und sicher. „Ich will nicht bestreiten, dass wir es hier mit einem Menschen zu tun haben, der diese Bezeichnung eigentlich nicht mehr verdient“, sagte Svambesi. „Aber stellen wir uns nicht auf eine Stufe mit ihm, wenn wir ihn, das heisst seine Klone, immer wieder töten?“ „Du darfst den Aspekt der Abschreckung nicht vergessen“, erwiderte MacOvery leise. „Diejenigen, die ihn immer noch anbeten, werden mit jedem Mal stärker.“ „Kein Wunder, wenn wir ihn immer wieder zum Märtyrer machen und so das Gedenken an ihn wach halten“, entgegnete Svambesi. Der Vorsitzende Richter sah den MacOvery ratlos an. Offenbar waren ihm diese Gedanken noch nie gekommen. „Und welches Urteil sollen wir Ihrer Meinung nach fällen?“, fragte er scharf. „Wir müssen den Teufelskreis durchbrechen“, sagte Svambesi fest. „Das können wir nur, indem wir einerseits das Klonen des Angeklagten einstellen und ihn andererseits zu lebenslanger Haft verurteilen.“ „Das sähe aber nach dem Eingeständnis eines Fehlers aus“, gab einer der Richter zu bedenken. „Es ist besser, einen Fehler einmal einzugestehen, als ihn immer wieder zu begehen“, meinte der Schwarze und sah dabei MacOvery an, der unter diesem Blick erschauerte. Hatte Robert Svambesi nicht doch Recht? Nein, er durfte nicht recht haben, denn das würde bedeu-
ten, dass die vorangegangenen Prozesse Unrecht gewesen wären. Unrecht bei diesen Verbrechen? Undenkbar. Und doch… Swambesi fuhr fort: „Wer einem Mörder das Leben nimmt, ist selbst ein Mörder.“ „Vergeltung“, murmelte MacOvery schwach. Aber das war nur ein Wort; das wusste er plötzlich genau. Der Vorsitzende griff wieder ein: „Die Rechtslage ist klar und eindeutig. Wir urteilen hier nur nach dem Gesetz, nicht nach diffusen moralischen Erwägungen. Das Gesetz sagt uns, was wir zu tun haben. Jeder hat nun Gelegenheit gehabt, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen. Ich schlage daher vor, dass wir jetzt zur Abstimmung schreiten. Wer für die Todesstrafe ist, hebe die Hand.“
Als das Gericht den Saal betrat, standen der Generalanwalt, der Verteidiger und die wenigen amtlichen Prozessbeobachter auf. MacOvery glaubte, auch hinter der abgedunkelten Scheibe des Angeklagtenkäfigs eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Der Vorsitzende Richter räusperte sich; dann sagte er laut: „Das Hohe Gericht ist zu einem von der Mehrheit getragenen Urteil gekommen. Gegen die Stimmen der beiden Schöffen und eines Richters hat das Hohe Gericht entschieden…“ Drei gegen vier. Soweit MacOvery wusste, hatte es so etwas noch nie zuvor gegeben. Alle vorherigen Urteile waren einstimmig ergangen. Es änderte sich etwas. War das gut oder schlecht? Aber Svambesi hatte ihn während der Diskussion überzeugt. Und offenbar auch einen der Richter. Was bedeutete das für die Zukunft? Für alle weiteren Prozesse gegen die zu erwartenden Klone? Oder würde es endlich keine Klone mehr geben? Würde man endlich erkennen, dass es hier unten keine Gerechtigkeit geben konnte? „… hat das Hohe Gericht entschieden, den Angeklagten Adolf Hitler zum Tode zu verurteilen. Das Urteil wird sofort vollstreckt.“ MacOvery hielt sich die Ohren zu, als die grässlichen Schreie aus dem abgedunkelten Glaskäfig drangen.
Christel Scheja Schon seit frühesten Kindertagen träumte ich mich in Welten der Phantasie und freute mich darüber, daß ich diesen auch Gestalt verleihen konnte, aber erst mit 13 Jahren begann ich wirklich zu schreiben und zu zeichnen. Zunächst noch versteckt, aber mit 17 war ich so weit, das einem netten und lieben Deutschlehrer zu zeigen, der mich weiter ermutigte. Damals träumte ich nur davon, einmal einen „echten“ Roman in den Händen zu halten – 1995 und 1999 wurde dieser Traum gleich zweimal (nach harter Arbeit) wahr: KATZENSPUREN und DAS MAGISCHE ERBE – beide erschienen im Heyne-Verlag, sowie drei Kurzgeschichten in Anthologien dieses Verlages. Doch das ist nicht alles: Ich zeichne mit Leidenschaft und Liebe, habe viele Briefkontakte, gebe seit elf Jahren eine eigene Schriftenreihe heraus, sammle Bücher, Bildbände, Barbies und würde gerne auch noch Bauchtanz machen, wenn ich könnte. Und manchmal wünschte ich, daß ich nicht auch noch als kaufmännische Angestellte arbeiten müßte, denn es bleibt viel zu wenig Zeit für all diese Dinge…
Christel Scheja DIE SAGE VOM GOLDENEN NIET
Ich weiß nicht mehr, was mich dazu veranlaßte, an jenem nebligen Nachmittag Anfang November in Müngsten spazieren zu gehen. Die Andenkenlädchen mit allerhand Schnickschnack und die Imbißstände, ja selbst der Märchenwald waren geschlossen. Außer mir sah ich nur
ein paar Menschen hier, von denen die meisten wie Anwohner wirkten, die gerade von der Arbeit kamen. Keiner von ihnen nahm Notiz von mir. Nachdenklich blickte ich zu dem Stahlgerüst hoch, welches das Tal seit mehr als einem Jahrhundert überspannte. Die Eisenbahnbrücke verband seit den Zeiten Kaiser Wilhelms die Städte Remscheid und Solingen miteinander, und Generationen von Bahnen waren über sie gedonnert, wie die, deren Rattern ich nun vernahm. Ich blickte unwillkürlich auf die Uhr. Das mußte der Regionalexpress sein, mit dem ich sonst immer von Remscheid-Lennep aus nach Hause fuhr. Er hatte ja gar keine Verspätung! Typisch! dachte ich. Immer dann, wenn ich Urlaub habe, trödelt die Bahn mal nicht! Gemütlich schlenderte ich weiter und betrachtete die nostalgischen Postkarten, die in einem der Büdchen ausgestellt waren. Damals war die Eisenbahn noch ein öffentliches Verkehrsmittel voller Wunder gewesen und kein lästiges Übel wie heute. Ich erinnerte mich an die Geschichten, die ein heimatkundebesessener Kollege vor ein paar Wochen über die Brücke erzählt hatte: Das übliche über die Schwierigkeiten, die Brücke zum geplanten Zeitpunkt fertig zu stellen, und die verzweifelten Bemühungen des Architekten. Daß irgendwo im Mittelstück der Brücke ein goldener Niet eingeschlagen sein sollte, wollte ich ihm ja noch glauben, aber nicht das überflüssige Geschwafel von… „Ups!“ Ich stolperte fast gegen einen Mann, der den Kragen seines langen Mantels hochgeschlagen hatte. Der war wohl vom Parkplatz zielstrebig auf einen der Wege zugesteuert, die hoch in den Wald führten. Ich betrachtete ihn genauer. Er hatte die Schultern nach vorne gezogen, hob die Füße kaum vom Boden und machte einen ganz und gar am Boden zerstörten Eindruck. Ob er… Ich schüttelte den Kopf und trat zur Seite. Auf welch abwegige Gedanken kam ich da? Gut, die Brücke hatte in der Region traurige Berühmtheit durch die vielen Selbstmörder, aber gerade deshalb gab es seit den siebziger Jahren genügend Zäune und
Absperrungen um die Träger, die nur noch mit allergrößten Schwierigkeiten zu überklettern waren. Zwar gab es immer noch welche, die die Absperrungen überwanden, aber das schafften höchstens zwei, drei pro Jahr. Dennoch war es meine Pflicht als Mitmensch nachzufragen und ihn vielleicht so von seinem Vorhaben abzubringen. „Hallo, Sie da! Guter Mann, darf ich Sie etwas fragen?“ Der Mann blieb abrupt stehen und drehte sich um. Er wirkte gehetzt. „Was wollen Sie von mir, junge Dame?“ „Entschuldigen Sie, aber ich bin nicht von hier. Kennen Sie hier in der Gegend ein offenes Cafe oder Restaurant, in dem ich mich aufwärmen kann?“ fragte ich höflich. Der Mann runzelte die Stirn. „Cafe? Restaurant?“ murmelte er verwirrt. „Ist das hier ein Ausflugsziel? Eine Sehenswürdigkeit, die man begaffen kann, Fräulein?“ „Natürlich!“ erwiderte ich. „Immerhin ist die Müngstener Brücke die größte und längste Talbrücke Deutschlands, wenn nicht gar Europas! Das ist schon etwas besonderes, finden Sie nicht?“ Der Mann schnaubte verächtlich. „Dummes Zeug. Die Brücke ist ein Bauwerk, das seinen Zweck zu erfüllen hat.“ Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und aus der Verachtung wurde Mißtrauen. „Und warum sind Sie dann hier? Die Brücke ist in dem Nebel kaum zu sehen!“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich wollte mir die Beine vertreten, ehe ich meine Fahrt weiter fortsetze!“ Moment mal? Wieso legte ich diesem Fremden gegenüber überhaupt Rechenschaft ab? Sein starrer Blick wurde so unangenehm, daß ich beschloß, mich zu verabschieden. „Ich denke, ich muß jetzt weiter. Vielen Dank für Ihre Auskunft.“ Ich hielt verblüfft in meiner Bewegung inne und schluckte heftig. Meine Knie begannen zu schlottern. Ach, hätte ich den Kerl doch niemals angesprochen! Der Fremde schlug nämlich den Mantel zurück. Darunter kam ein altmodischer Anzug mit Weste zum Vorschein, und eine Waffe, die er
auf mich richtete. „Geben Sie es doch zu: Sie sind auf der Suche nach dem Goldenen Niet!“ „Dem goldenen Niet?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ach hören Sie, guter Mann, jetzt spinnen Sie aber. Ich kenne die Geschichte zufällig auch: Im Mittelstück der Brücke soll zuletzt ein goldener Niet eingeschlagen worden sein, aber den hat bisher noch niemand gefunden! Deshalb halte ich das auch bloß für eine Legende, wie den Teufelspakt um den Kölner Dom und den Weißen Stein bei Schloß Burg.“ „Das glaube ich Ihnen nicht, Fräulein!“ zischte der Mann mit weit aufgerissenen Augen. „Sie wissen davon, und Sie wollen das Geheimnis ergründen. Nur deshalb haben Sie mich aus dem Schattenreich herbeigerufen! Nun gut, dann sollen Sie auch alles erfahren, bevor ich Sie mit mir nehme!“ Ich schnappte nach Luft und sah mich verzweifelt nach einem Ausweg um. Aber ich traute mir nicht zu, schneller beiseite zu springen als die Revolverkugel flog. Ungerührt richtete der Mann die Waffe auf mein Herz, sprach weiter, und ich konnte nicht anders, als ihn wie eine erschreckte Maus anzustarren und seinen Worten zu lauschen. „Nun, der Goldene Niet ist gut verborgen, denn er besiegelt den Pakt, den wir mit dem Architekten schlossen, der damals in Zeit- und Geldverzug geraten war. Wir vermittelten zwischen ihm und unserem höllischen Meister, und dieser sandte seine Gehilfen, um den Bau zu vollenden und die beiden Teile der Brücke genau aufeinander auszurichten. Als Preis verkaufte der Mann seine Seele und schlug selber den Goldenen Niet ein. Denn mit dem hat es eine besondere Bewandtnis.“ Der Mann lächelte triumphierend. „In ihn ist ein Seelenverschlinger gebannt, der dafür sorgt, daß jeder Mensch, der die Brücke überquert, einen winzigen Teil seiner Seele verliert und dafür den Keim meines Meisters eingepflanzt bekommt. Und wer sie oft genug überquert, der wird meinem höllischen Herrn eines Tages ganz verfallen.“ Er hielt kurz inne. „Mich hat der Meister als Wächter eingesetzt, nachdem er mir bei Verdun das Leben nahm. Seitdem verhindere ich, daß jemand den goldenen Niet findet, denn nur so lange, wie der in
der Brücke steckt, hat der Pakt Bestand!“ Der Mann kicherte irr. „Und nun, wo Sie alles wissen, Fräulein, muß ich Ihr junges Leben beenden!“ Das war ein Verrückter – ein ganz und gar Verrückter, wenn er sich für jemanden hielt, der vor zweiundachtzig Jahren in Frankreich gefallen sein wollte. Ich wich einen Schritt zurück, doch er setzte mir nach. „So haben Sie doch keine Angst. Es wird schnell gehen, das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung versichern“, meinte er dann. „Sie werden nur eine weitere Selbstmörderin sein…“ Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Ich schnappte nach Luft, wollte schreien, weglaufen, aber Stimmbänder und Beine versagten den Dienst. Hilflos sah ich meinem Tod entgegen. Plötzlich richteten sich zwei Scheinwerfer genau auf uns. Ein Auto raste von der Schnellstraße in die Sackgasse unter der Brücke auf uns zu. In diesem Augenblick dachte ich nicht daran, daß ich überfahren werden konnte. Im gleißenden Licht sah ich nur, wie blaß und durchscheinend die Gestalt des Fremden war, und das dunkle Loch, das in seiner Stirn prangte. Die Kühlerhaube des Mercedes durchschnitt ihn. Die unheimliche Gestalt zerfloß und verschwand. Der Wagen blieb mit quietschenden Reifen dicht vor mir stehen. Dann öffnete sich die Fahrertür. „Um Gottes Willen! Können Sie nicht aufpassen? Ich hätte Sie beinahe überfahren!“ rief die blonde Fahrerin verärgert. „Ich… es tut mir leid“, stammelte ich. Meine Knie schlotterten so stark, daß ich mich an der Kühlerhaube abstützen mußte. Aus dem Wagen erklang die rauhe Stimme einer alten Frau. „Was ist denn los?“ „Ich hätte beinahe eine junge Frau überfahren, Oma!“ „Bist du sicher, daß es nur die Dame war? Ich bin mir ganz sicher, daß da noch ein Mann war! Schau ganz schnell unter dem Wagen nach!“
„Wenn ich jemanden überfahren hätte, hätte ich das ganz bestimmt gemerkt, Oma,“ entgegnete die blonde Frau und tippte sich an die Stirn. Nun schaute mich aus dem Wagenfenster auf der anderen Seite eine Greisin an. „Sie haben den Mann doch auch gesehen – oder?“ Ich fing mich langsam wieder und nickte. „Da war ein Mann in einem schweren Mantel, der… sich verrückt benahm.“ Die Augen der alten Dame weiteten sich. „Sie sind doch nicht etwa Gottfried Wagner begegnet!“ „Oma, bitte, laß deine Geschichten sein,“ unterbrach die Fahrerin unwillig. „Das ist doch nun wirklich nicht der Moment, um Schauermärchen zu erzählen.“ Sie blickte mich an. „Wir wohnen gleich da vorne. Nach dem Schrecken bin ich uns allen mindestens einen Kaffee schuldig.“ Sie blickte mich besorgt an. „Ihnen ist auch wirklich nichts passiert.“ „Nein!“ wehrte ich ab und nahm die Einladung dankend an.
Wenig später saß ich in der gutbürgerlich eingerichteten Küche der alten Frau Degenhorst und wärmte meine Hände an einem großen Pott Kaffee. Ihre Enkelin hatte uns auch Kekse auf den Tisch gestellt und war dann in ihre eigene Wohnung verschwunden. Jetzt erst bemerkte ich, wie übel mir von dem ganzen Schrecken war. Die alte Dame nickte und schlug ein altes Fotoalbum auf. Dann zeigte sie auf ein vergilbtes Foto mit zwei Männern in Uniformen des ersten Weltkriegs. Unschwer erkannte ich in dem einen meinen Fremden. „Gottfried Wagner war ein Jugendfreund meines Vaters. Ich erinnere mich nicht an ihn, aber meine Mutter erzählte mir später böse Dinge über ihn. Er soll ein gottloser Mann gewesen sein, der in seiner Studentenzeit einen lästerlichen Lebenswandel geführt und sogar den Teufel angebetet hat!“ Die Greisin bekreuzigte sich rasch. „Und dann habe ich ihn ‘46 kurz nach dem Krieg das erste Mal gesehen. Er ist einem jungen Burschen nachgestiegen, der kurz darauf zu Tode stürzte. Ich glaubte zunächst, es sei nur Einbildung gewesen, aber das ganze wiederholte sich während der 50ziger und 60ziger Jahre noch ein
paar Mal.“ Die Greisin seufzte. „Sie hatten großes Glück, junge Frau, daß meine Enkelin so schwungvoll gefahren ist, ehe er sein Werk vollenden konnte. Das alles klingt wie ein Märchen, aber es ist wahr.“ Ich nahm einen Schluck, um meine trockene Kehle anzufeuchten. In mir sträubte sich alles dagegen, diese Erzählung glauben zu wollen. Aber ich hatte den Fremden – den Geist – selber von Angesicht zu Angesicht gesehen. „Ich glaube Ihnen. Bitte erzählen Sie mir mehr!“ Mein Unbehagen wich der Neugier.
Die alte Frau erzählte ausführlich von allen Begebenheiten, so daß es schon spät war, als ich auf dem kürzesten Weg zu meinem Auto zurückkehrte. Hastig stieg ich ein, versicherte mich auch, daß mich niemand verfolgt hatte oder aus dem Nebel trat, schloß die Wagentür und drehte den Schlüssel im Zündschloß. Die Erlebnisse und die Geschichten der alten Dame hatten mich aufgewühlt, und ich wollte diesen unheimlichen Ort schnell verlassen, falls dieser Gottfried Wagner doch noch mal auftauchte. Erleichtert seufzte ich, als der Wagen ansprang und fuhr mit erhöhter Geschwindigkeit aus der Sackgasse auf die Schnellstraße. Ich wollte nun rasch nach Hause und den Abend mit einem warmen Bad und einem Videoabend beschließen. Ob ich jemandem von meinem Erlebnis erzählen würde, wußte ich noch nicht, nur einer Sache war ich mir gewiß: Ich würde nie mehr mit dem Zug von Solingen nach Remscheid fahren.
Karl-Heinz Schreiber (Ps. KARLYCE Schrybyr, Charlie Sernold u.a.) Jg. 1949, wohnt in Goldbach, * Freistil- & LyRocK-Poet, Herausgeber & Rezensent * Agent der paraphysischen Poetosophy SERNOLDYSM * „The restless wanderer between Underground & eternity!“ * „Lord of the Poetry“ * Pflegt die Kulturachse Unterfranken – Frankfurt als Initiator zweier PoetenStammTische (OLGA/AB, seit September 1979 – OPST/Ffm, seit März 1997) und arbeitet an seiner Idee eines POETRY-NETWORK. Sein Heim nennt er ‚Freudenhaus der Poesie’ (FdP), hier betreibt er seine ‚Fax-Orgien-Zentrale’ (FOZ) & demnächst das PYPY (Progressyve Ynternet Poetry Ynferno) – freut sich über Kontakte per:
[email protected] * Mitglied u.a. VS (IG Medien), VFS (Verb. Fränkischer Schriftsteller), GZL (Gesellsch. für Zeitgenössische Lyrik), IGdA (InteressenGemeinsch. deutschspr. Autoren), Romanfabrik (Ffm) * Zahlreiche Lesungen & PerformanceAuftritte (auch mit Musikern), z. B. Kochsmühle (Obernburg), im Unterhaus (Mainz), Tattersall (Wiesbaden), Club Voltaire & Romanfabrik & Cafe Casablanca (Ffm) & bei Poetry Slams * Herausgeber u. a. der Anthologie ‚Sisyphosiaden im idyllischen Ghetto’ – von KULT (Magazyn fyr Netzwerk-Poesy) und von ‚Deutschlands kleinster Literaturzeitschrift’ LESENDER AFFE (Format A 6) * Veröffentlicht seit 1968 in eigenen Publikationen (bei Kleinverlagen oder in der eigenen Publikations-Initiative AALFAA EnterBraynMent) sowie in zahlreichen Anthologien, Zeitschriften des In- und Auslands. Einige Titel: Visionen eines tapferen Ignoranten (1984), Die Brutalität der Idylle (1987), Memoiren eines Neugeborenen (1989), Eichendorff trinkt Clausthaler (1990), Duell der Komödianten (1993), Styropor für Sisyphos (1993), helicopter & symptome (1998), ALYCE oder Das zaghaft Unheimliche (2000), IRGEND (2000) * KHS schreibt Aphorismen, Lyrik, Gesongs, Prosa, Essays, Artikel & Rezensionen. KHS möchte die Welt poetysieren, er experimentiert gerne mit Texten & Darbietungsformen, Sprache ist Rhythmus & Lust am Spiel, Literatur ist Aktion & Energie * KHS ist ein Amokläufer im kreativen Kosmos,
er präsentiert LyRocK & Gesongs als Poeten Power Pur! Literatur ist U & E (!Y!)- Literatur lebt nur live! KHS liebt dabei die Kneipenatmosphäre: Das Publikum kann trinken, schmusen, mitmischen – es gibt sie nämlich: die Metapher zum Mitklatschen! Und dann ist er los: der PWB – der Poeten-Wahn-Bazyllus!
Karl-Heinz Schreiber DIE STATIONÄRE PROVOKATION „Aber es scheint, als müsse uns das Leben fast zu Tode peinigen, bis wir endlich den Schlüssel begreifen.“ (Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht) „Wie schlimm steht es um mich?“ „Es ist dies eigentlich kein Thema mehr.“ „Aber es muß mir doch jemand Auskunft geben, Stellung beziehen meinethalben. Mich einordnen.“ „Besinnen Sie sich selbst. Sie waren lange genug auf uns angewiesen.“ „Ich stelle mich nicht länger zur Verfügung.“ „Sie haben sich die Unklarheit selbst zuzuschreiben.“ „Was hier geschieht, ist lächerlich.“ „Sie haben kein Verhältnis mehr zur Realität.“ „Ich weiß, was Sie damit sagen wollen. Aber ich merke deutlich, daß Sie nur abzulenken versuchen.“ „Jetzt einmal ganz konkret: was wäre gewonnen, wenn Sie völlig gesund wären? Würde sich deswegen das Wetter ändern? Käme die
Wirtschaftskrise zuende? Ließe sich damit der nächste Weltkrieg verhindern? Na also. Seien Sie nicht so fixiert.“ „Sie verlangen doch hoffentlich nicht von mir, daß ich Sie ernstnehme, wenn Sie so daherreden.“ „Niemand verlangt etwas von Ihnen.“ „Aha. Verstehe. Also, ich bin lästig.“ „Sie überschätzen sich.“ „Ich lebe doch schließlich noch, oder?“ „Das ist doch kein Grund, sich zu überschätzen.“ Zwei Männer in einem Zimmer. Der eine in einem klinisch hergerichteten Bett. Im Schlafanzug. Etwas unrasiert. Der andere wie ein Doktor. Die Positionen sind soweit vergeben, ihre Relevanz muß offensichtlich noch gefunden werden. Ein weiß tapeziertes Zimmer übrigens. Grau lackierte Fenster- und Türrahmen. Vorhänge beige. Bettgestell, Nachtkästchen, Stuhl, weiß. „Ich bringe keinen Sinn hinein.“ „Das braucht Sie persönlich nicht zu beunruhigen.“ „Aber immer, wenn ich erwache, liege ich hier. Wieder und wieder. Welchen Sinn hat das?“ „Tut Ihnen denn nichts weh?“ „Doch. Schon. Aber was erklärt das?“ „Sie spüren wieder etwas. Das ist gut. Das ist schon sehr viel.“ „Wollen Sie mir Angst machen?“ „Sie überschätzen mich.“ „Dann reden Sie nicht so mit mir.“ „Ich weiß, wie man mit Ihresgleichen zu reden hat.“ „Das ist ja interessant. So weit ist es also gekommen. Ich bin für Sie irgendein Ihresgleichen. So sehr nehmen Sie mich ernst“ „Was wissen Sie denn schon über sich selbst, daß Sie versuchen, mich zu interpretieren.“
„Wieso reden Sie so mit mir?! Bin ich ein Intellektueller oder ein Geistesgestörter?“ „Sie sind einer, der sich schonen müßte.“ „Kommen Sie mir nicht mit Beschwichtigungsversuchen.“ „Sie müssen sich meine Überlegenheit gefallen lassen. Ich habe die Situation im Griff.“ „Ich will bescheiden sein für den Moment. Wenn Sie bitte aufhören zu reden und statt dessen das Fenster öffnen würden.“ Eine wunderbare Luft strömt zu den beiden herein. Es war eigentlich kein Wetter, um im Bett zu liegen oder sich in einem weiß tapezierten Zimmer aufzuhalten. Aber wenn ein Mann der Patient und der andere ein Arzt war, dann blieb wohl nichts anderes übrig, Wie unterschiedlich gut mochte beiden die frische Luft bekommen. Vielleicht wäre es aufschlußreich, etwas über die Jahreszeit zu erfahren. Im Zimmer keine Fliege. Draußen kein Vogelgeräusch. Insofern die beiden hier aufeinander angewiesen. „Wie lange?“ „Sie waren im Koma. Seien Sie froh.“ „Ich meine, wie lange noch?“ „Wollen Sie es wissen? Versuchen Sie, aufzustehen!“ „Sie – ich könnte Sie beschimpfen.“ „Na also. Wenn das kein Lebenszeichen ist.“ „Geben Sie mir etwas zu trinken.“ „Ich werde eine Schwester hereinschicken.“ „Haben Sie mir alles gesagt?“ „Ich brauche Ihnen gar nichts zu sagen.“ „Aber ich muß doch wissen, woran ich bin!“ „Sie liegen immer noch hier. Genügt das nicht?“ „Verdammt nochmal, nein! Mir genügt das jedenfalls nicht!“ „Dann stehen Sie auf. Gehen Sie nach Hause. Sie sind hier fehl am Platze.“
„Aus Ihnen spricht zweitklassiger Hohn. Oder ist das die Verzweiflung darüber, daß sogar Sie mir nicht mehr helfen können?! Wie trickreich Sie sind in Ihrer Ratlosigkeit.“ Der Arzt hat sich bei diesem Wortwechsel zum Fenster hinausgelehnt und den Kopf nur hin und wieder ins Zimmer gewandt, wenn er selber sprach. Es ist ihm nichts Bestimmtes anzumerken. Nicht einmal eine Begründung, weswegen er sich hier aufhält. Sein Interesse für den Patienten scheint merkwürdig. Er wirkt vielleicht nicht genügend konzentriert. Eher untermotiviert. Aber wer von den beiden sollte eigentlich im Mittelpunkt des Interesses stehen? „Bin ich auf Sie angewiesen?“ „Hätten Sie eine spontane Alternative?“ „Erzählen Sie mir etwas Beruhigendes.“ „Das würde Sie nur mißtrauisch machen.“ „Sie sind doch nicht für mein Seelenheil zuständig.“ „Woran erinnern Sie sich?“ „Es muß einmal eine Zeit gegeben haben, in der ich nicht hier lag.“ „Woraus schließen Sie das?“ „Ich fühle mich hier nicht heimisch.“ „Das könnte auch ein Anzeichen von Unzurechnungsfähigkeit sein. Oder lediglich eine undifferenzierte Melancholie.“ „Sie verstehen es wirklich, einen zu beruhigen.“ „Wieso beharren Sie hartnäckig auf Ihrem Mißtrauen?“ „Sie wollen doch hoffentlich nicht behaupten, daß ich mich hier wohlfühlen soll.“ „Was fehlt Ihnen denn, solange Sie sich an nichts Konkretes erinnern?“ „Ich werde Sie beschämen. Ich werde beginnen, mir meine Träume zu merken. Sie werden neidvoll dabeistehen.“ „Sie könnten es wahrlich einfacher haben.“
Jetzt wird sich der Patient versuchsweise aufbäumen. Er muß sich mit aller Gewalt und beiden Händen an den Längsseiten des Bettes festklammern, um nicht hinauszurollen. Er könnte schreien dabei. Irgendein körperlicher Schmerz. Oder? Der Arzt rührt sich nicht vom Fenster weg. Hat sich lediglich langsam umgewendet, die Arme verschränkt. Blickt wie ein sehr mäßig interessierter Zuschauer. Verzieht kaum irgendeinen Gesichtsmuskel. „Sie sollten sich noch etwas schonen.“ „Warum binden Sie mich nicht am Bett fest.“ „Sie passen schon auf sich auf.“ „Was haben Sie vor mit mir?“ „Beziehen Sie nicht alles auf mich.“ „Geben Sie mir etwas zu trinken.“ „Lenken Sie nicht ab. Erinnern Sie sich.“ „Ich werde nicht lamentieren.“ „Geben Sie mir einmal eine Chance, Sie zu bedauern.“ „Vielleicht, wenn wir uns miteinander betrinken würden.“ „Sie verkennen den Ernst der Situation.“ „Das ist aber doch kein Grund, in Erinnerungen schwelgen zu sollen.“ „Ich konstatiere, Sie verweigern sich.“ „Falsch. Sie sind beleidigt. Das ist es.“ „Sie riskieren meine Fürsorge.“ „Das würde mich interessieren.“ „Haben Sie Schmerzen?“ „Wäre das eine Herausforderung für Sie?“ „Was hätten Sie mir sonst zu bieten?“ „Und wenn ich nicht hier läge?“ „Sie erwarten doch nicht, daß ich sentimental werde.“ „Sie sind doch dem Leben verpflichtet!“
„Sie etwa nicht?“ „Ich habe ein Anrecht auf Ihre Hilfeleistung!“ „Oh, das verüble ich Ihnen auch gar nicht.“ Der Arzt federt leicht vom Fenstersims ab und schickt sich möglichst unmerklich an, das Zimmer zu verlassen. Er berührt nichts, so als wolle er keine Spuren hinterlassen. Er blickt nirgendwo direkt hin, so als wolle er keinerlei Verpflichtungen auf sich ziehen. Seine Schritte scheinen unauffällig, doch stetig. Er hat Glück, daß keine Dielen knarren. In gewisser Weise wirkt sein Gesichtsausdruck nicht uninteressiert, aber entspannt. Es ist aber, als ob dieser Arzt abgefangen werden solle. „Doktor, wie lange noch?“ „Regen Sie sich nicht auf.“ „Wird es dadurch schlimmer? Verunsichere ich Sie dadurch?“ „Mit mir hat das doch gar nichts mehr zu tun.“ „Aber Sie sind doch zuständig für mich, oder?“ „Wie stellen Sie sich das vor?“ „Sie sind doch verantwortlich für mich, nicht wahr?“ „Ich verstehe Ihre Besorgnis nicht.“ „Ich meine, Sie würden mir doch die Wahrheit sagen, das würden Sie doch?“ „Sie können einem ganz schön auf die Nerven gehen.“ „Aber wozu bin ich denn hier?! Ich meine, wozu sind Sie denn hier?! Ich meine…“ „Versuchen Sie, sich zu erinnern.“ „Ich versuche es, aber ich weiß nicht einmal, ob ich es – wie oft ich es – schon versucht habe. Geben Sie mir Anhaltspunkte.“ (Eine Pause) „Stehen Sie auf. Kommen Sie. Machen Sie schon. Versuchen Sie es. Gehen Sie zum Fenster. Versuchen Sie, hinauszuspringen. Ich werde wie immer draußen auf Sie warten.“
C. J. Walkin (Christian Reul) Geboren am 25.09.1975 Student der Sonderpädagogik in Köln Lieblingsfilm: Der weiße Hai Musik: Iron Maiden, Rhapsody, Blind Guardian, Manowar, Iced Earth Bisherige Veröffentlichungen: MOONSHADOW, Horror-Kurzgeschichte in: John Sinclair 2. Aufl. (Band 553), Juni 1998, unter Chris C. Reul DIE MACHT DER PHANTASIE, Artikel in FANTAS1A 129/130 (1999) unter Chris C. Reul DER BESCHWERLICHE WEG NACH MORDNE, neun Artikel in FANTASIA 129/130 (1999) unter Chris C. Reul FOREVER, Horror-Kurzgeschichte in John Sinclair 2. Aufl. (Band 636), Jan. 2000 unter C. J. Walkin DER BAUM, SF-Kurzgeschichte im RDS Journal Mai 2000, unter Chris C. Reul SOLDATEN, Fantasy-Kurzgeschichte in FANTASIA 138/139 (2000) unter Chris C. Reul THE ONE, Fantasy-Kurzgeschichte in FANTASIA 140/141 (2000) unter Chris C. Reul PUPPETS ON A STRING, Horror-Kurzgeschichte in der Anthologie „Love and other demons“ (dead soft verlag), März 2001 unter C. J. Walkin Weitere Kurzgeschichten unter Chris. C. Reul und C. J. Walkin im Maskenball, Fliegende LiteraturBlätter, Lyrische Saiten und Nocturno.
C. J. Walkin (Christian Reul) DER RADLERKÖNIG
Stephan kam aus der Uni und hastete zu seinem Fahrrad. Als er das Sicherheitsschloß öffnete, schüttelte er mit dem Kopf – Gruselgeschichten, was für ein Quatsch. Schon komisch, womit sich seine Kommilitonen so beschäftigten. Besonders Manuel war ganz abgedreht. In der Vorlesung hatte er heute wieder so ein Heft mit einer HorrorStory dabei. „Das solltest du auch mal lesen“, hatte Manuel gesagt, „das sind richtig gute Geschichten. In der hier geht es um einen kopflosen Reiter, der nachts durch die Gegend zieht und seine Opfer mit einer riesigen Axt enthauptet, um ihnen den Kopf zu stehlen. Seinen hat er durch eine Hinrichtung verloren und sucht ihn nun überall. Dafür braucht er aber immer wieder neue Köpfe. Die Geschichte ist echt gut.“ Stephan lachte wieder in sich hinein. Obwohl man doch meinen könnte, daß einem an der Uni gesunder Menschenverstand beigebracht würde und man es mit aufgeklärten Menschen zu tun hat, traf man doch immer wieder auf grenzenlose Naivität. Manuel hatte ihm noch erklärt, daß solche Geschichten auf Mythen und Legenden basieren, die über Generationen weitergegeben wurden. „Die Menschen versuchten sich so, unheimliche Vorkommnisse zu erklären, die auch für die moderne Wissenschaft ein Rätsel waren“, hatte Manuel ihm versucht zu verdeutlichen. „Und bei jeder Legende gibt es immer ein Fünkchen Wahrheit. Man sollte nicht darüber lachen.“ Manuel glaubte an das ganze unerklärliche Zeug, sah Mythen und Legenden als wahre Gegebenheiten und las alles, was darüber geschrieben wurde. Des weiteren las er noch das ganze Horror-Zeug, womit Stephan noch weniger anfangen konnte. Ist doch alles bloß stumpfsinniger Blödsinn. Ihm war unerklärlich, wie man so was lesen, geschweige denn damit seinen Lebensunterhalt verdienen konnte.
Nein, für ihn bedeutete wahres Dasein, auf dem Sattel eines guten Fahrrades stundenlang durch die Gegend zu fahren. Das war ein echtes Gefühl, das konnte man genießen – nicht so ein pseudo-reales Vorgaukeln von Realität. Wenn der Wind durch seine Haare glitt und er wieder gut hundert Kilometer am Tag geschafft hatte, dann war er glücklich, da brauchte er keine Horror-Geschichten. Stephan fuhr im Rot der Abendsonne die Straße der Stadt hinunter. Er freute sich schon darauf, wenn er endlich den Verkehr verlassen und den wenig befahrenen Waldweg nehmen konnte, wo er problemlos bis zu 50 Stundenkilometer dahinraste. Nur noch die kleine Gasse hinunter und dann durch den Tunnel… Die Unterführung hatte nur wenige Lichter, die schummrig schienen, aber noch immer ausreichend Helligkeit boten. Stephan liebte diesen Teil, da es ihm immer wieder so vorkam, als ob er eine Welt verlassen und in eine andere eintreten würde, die nur ihm zu gehören schien. Hier war er frei. Schon sah er das Ende des Tunnels und trat nun schneller in die Pedale. Rasant schoß er aus den Tunnel heraus – und bremste abrupt. Ohne Übergang war es plötzlich Nacht geworden und kein Laut war mehr zu hören. Er befand sich auf dem ihm bekannten Waldweg, aber dieser wirkte viel düsterer und bedrohlicher als er ihn je in Erinnerung hatte. Verwirrt blickte sich Stephan um. Der Tunnel war plötzlich gut zwei Kilometer entfernt. Das konnte doch nicht sein! Der volle Mond wurde von schwarzen Wolken bedeckt, so daß nur ab und zu ein heller Lichtstrahl bis zur Erde durchbrach. Aus dem Wald, der eigentlich durch vielerlei Getier bevölkert war, kam kein Geräusch. Absolut Stille. Und diese Stille ließ Stephan plötzlich Hufschläge vernehmen, die langsam näher kamen. Stephan blickte sich um. Und da sah er IHN. Aus dem Tunnel kam ein schwarzer Reiter mit einem mächtigem Roß auf ihn zu. Das Pferd und ER waren von flimmerndem Licht umgeben.
Was ging hier vor? In Stephans Kopf schien sich alles zu drehen. Erstarrt sah er zu, wie der Reiter plötzlich neben sich griff und eine riesige Axt hervorholte. Das konnte doch alles nicht sein. Das war doch unmöglich… In seinem Kopf bildeten sich die wüstesten Theorien, aber keine bildete eine hinreichende Erklärung für das, was hier gerade geschah. Blitzschnell schwang er sich auf sein Rad. Als Stephan sich kurz umdrehte, war der Reiter schon bedrohlich nah. Und was er sah, ließ ihn entsetzt aufschreien. Der Reiter hatte keinen Kopf! – Ein kopfloser Reiter. Bei jeder Legende gibt es immer ein Fünkchen Wahrheit, gingen ihm Manuels Worte durch den Kopf. Aber das war doch unmöglich! Schweiß rann ihm in Strömen über den Körper, als er immer schneller in die Pedalen trat. Er hatte schon lange nicht mehr richtig trainiert, was ihm seine schmerzenden Muskeln nur allzu deutlich machten. Aber er kämpfte weiter, kämpfte gegen den Schmerz, kämpfte gegen seinen Verstand, der unfähig schien, daß Geschehene zu akzeptieren. Keuchend blickte er über seine Schulter. Der kopflose Reiter war verschwunden. Doch plötzlich sah er IHN unmittelbar neben sich, sah die glühenden Augen des Pferdes, sah die riesige Axt, die der Reiter über den Kopf hob, um sie im nächsten Moment auf Stephan niedersausen zu lassen. Schützend hob er die Arme – und erwachte schreiend und um sich schlagend. Langsam, ganz langsam wurde sich Stephan seiner Umgebung bewußt – Schlafzimmer – mein Schlafzimmer – Nacht – Traum – nur ein Traum – nur ein Traum… „Es war nur ein Traum“, lachte Stephan hysterisch und hielt sich noch immer krampfhaft am Bett fest, als hätte er Angst, in den Alptraum zurückgezogen zu werden. „Nur ein Traum.“ Als der Wecker Minuten später schrillte, schreckte noch einmal schreiend zusammen und hatte Mühe, das Klingeln abzustellen.
Schwankend ging er zur Dusche und genoß das warme Wasser. Er zog sich an, aß, packte seine Sachen und machte sich auf den Weg zur Uni. Er konnte es nicht erwarten, Manuel davon zu erzählen, der ihn anscheinend ganz verrückt gemacht hat mit seinem Horror-Zeug. Kopfloser Reiter! – Schwachsinn! Stephan trat kräftig in die Pedalen und genoß nach dem Alptraum die Luft und die Fahrt ganz besonders. Schon war er am Berg, wo die Straße steil nach oben ging und ihm jeden Tag alles an Konzentration und Kraft abverlangte. Er war so konzentriert, daß er den Lastwagen weit vor sich nicht wahrnahm. Er sah nicht, daß dieser rückwärts den Berg herab auf ihn zurollte. Und er sah auch nicht die Ladung mit den ungesicherten Glasscheiben. Das Einzige, was er aus den Augenwinkeln bemerkte, waren die glühenden Augen des Pferdes, das mit dem Reiter im Wald versteckt stand. Bevor sein verwirrter Verstand begriff, prallte schon der Lastwagen mit den Hinterreifen gegen einen großen Stein. Eine Glasscheibe löste sich und flog wie eine Guillotine auf Stephans Hals zu. Stephans Kopf wurde nie gefunden.
Peggy Wehmeier Geboren am 3.6.1960, verheiratet, 2 Söhne, Lehre als Verkäuferin, Filialleiterin einer Boutique, Mannequin, zehn Jahre Hotel- und Gaststättengewerbe, davon fünf Jahre Geschäftsführerin eines Restaurants, Versicherungsvertreterin, bis 1988 leitende Repräsentantin und Seminarreferentin einer Versicherung 1995: Quereinstieg als freie Journalistin * 2000 bis 2001 Prosaredakteurin der Autorenzeitschrift „Federwelt“, Berlin Mai 2000: Sachbuch: MIT POWER DURCH DIE PLEITEZEIT im VirPriV-Verlag ISBN 3-9806292-6-0 – 4. Auflage 9/2000 und als EBook und CD-ROM im Federwelt-Verlag Berlin Juni 2000: Vorstellung des Ratgebers im SAT 1 Frühstücksfernsehen September 2000: DIE MORAL IN DEM GESICHT, eine Satire in der Gemeinschafts-Anthologie „Heiligabend mit Cher“ im Klaus Bielefeld/VirPriV-Verlag September 2000: „WEIHNACHTEN OFFLINE“, in der Anthologie „Winter und Weihnacht“, Escritor-Verlag Oktober 2000: Verleihung des Anerkennungspreises beim Wolfener Literaturpreis für das Märchen DER STUMME TÖLPEL Dezember 2000: Märchen DER STUMME TÖLPEL und DIE VERSAMMLUNG DER WINDE in der Anthologie „Drachen und andere Freiheiten“ Edition Eisberg Am 23.12.2000 Radiointerview im WDR 2 „Quintessenz – Fakten für Verbraucher“, am 27.12.2000 WDR-Filmbeitrag „MIT POWER DURCH DIE PLEITEZEIT“ in „Lokalzeit OWL“ und am 15.01.2001 Kurzfilm über „MIT POWER DURCH DIE PLEITEZEIT“ im Bayrischen Fernsehen in der Sendung „Familienzeit“. Auch der Fernsehsender „N3 ab 4“ im NDR strahlte am 07.02.2001 einen Kurzfilm über das Powerbuch aus und am 01.02.2001 brachte Radio Herfeld ein Interview mit der Autorin über den Ratgeber. Juni 2001: DIE VERSAMMLUNG DER WINDE, TB, ca. 140 Seiten, ISBN 3-934852-61-0 im Geest-Verlag
Herbst 2001: ein Satireband – Arbeitstitel DER ZAUNKÖNIG im VirPriV-Verlag geplant Anfang 2002: satirische Verse – Arbeitstitel REIZENDE KOMMENTARE im Geest-Verlag
Peggy Wehmeier GEDANKEN EINER FAST PERFEKTEN (HAUS)FRAU
Jetzt ist er weg. Außerdem raucht er wieder, das hat Inge dir erzählt. Es ist unglaublich, dass er einfach gegangen ist. Dabei hast du hast alles für ihn getan. Du hast ihm alles gegeben. Und nun hat er dich verlassen. Er wird nie wieder eine Frau finden, die so dämlich ist wie du und ihm alles abnimmt. Er ist bei dir eingezogen, drei Monate, nachdem ihr euch kennen gelernt habt. Einzige Bedingung – er mußte aufhören zu rauchen. Das hat er verstanden, denn schließlich hattest du grad die Wände streichen lassen. Wegen seines Lasters war es wirklich nicht einzusehen, dass du womöglich nach einem Jahr schon wieder hättest renovieren müssen. Zugeben, dass er dich als Geschiedene mit zwei Kindern – jenseits der magischen 35 – überhaupt genommen hat, muss man ihm hoch anrechnen. Aber du hast ja auch alles getan, um attraktiv für ihn zu sein. Niemals hat er dich ungeschminkt gesehen – jeden Morgen bist du eine halbe Stunde früher als er aufgestanden und hast dich sorgfältig zu-
rechtgemacht. Dein Haar war immer frisch getönt, deine Lippen immer rosa geschminkt, deine Garderobe immer sorgfältig kombiniert. Deine Jahresringe am Hals hast du dezent mit bunten Tüchern kaschiert, über den Fettpölsterchen auf deinen Hüften hast du lange Westen getragen, nie hast du verschwitzt oder ungepflegt mit ihm an einem Tisch gesessen. Und im ausgeleierten Frotteeschlüpfer hat er dich auch nie erwischt: Mittwochs, Samstags und Sonntag, wenn du wußtest, dass ihr Liebe machen würdet, hast du immer deine schönste Unterwäsche getragen. Zwar hattest du nicht immer Lust auf Sex, wenn er auf dem Programm stand, aber bevor er sich nach jungen Hühnern umschaut, hast du eben mitgespielt. Und was hat er gesagt? „Irgendwie erinnerst du mich manchmal an Frau Antje aus Holland oder die Blondine aus der Meister Propper Werbung – kannst du nicht mal ganz natürlich sein? Laß dich doch einmal gehen…“ Axel. – Du wirst ihn vermissen. Du und deine Kinder, ihr seid ohne ihn gar keine richtige Familie mehr. Und genau die hast du dir immer so sehr gewünscht. Wie schön hast du die Wohnung sauber gehalten, damit er sich wohl fühlt. Das Wohnzimmer habt ihr gemeinsam eingerichtet: Alles hübsch zusammen gestellt in apricot und taubenblau. Das ist zeitlos, davon hast du ihn schnell überzeugt. Schwierig zu pflegen ist so eine Einrichtung allerdings schon. Auf dem hellen Veloursmöbeln sieht man wirklich jeden Fleck. Und Axel war immer so schrecklich unachtsam. Selbst als du abends, wenn er vor dem Fernseher lag, immer eine dunkle Wolldecke über sein Sofa gelegt hast, damit der Bezug nicht schmutzig wird, hat Axel trotzdem Flecken hinterlassen. Gut, jetzt ist er weg, und du mußt dich nicht mehr darüber ärgern, dass er seine Socken unter dem Wohnzimmertisch liegen läßt oder seine Arbeitshosen vor und nicht in den Wäschekorb wirft. Und du mußt auch nicht mehr jeden Abend den Fußboden wischen, nachdem er heimgekommen ist und sich draussen wieder nicht die
Füße abgetreten hat. So schwer wäre es doch nicht gewesen, sich vor der Haustür die Schuhe auszuziehen, oder? Das Bad wird auch nicht mehr so schmutzig sein, denn du spülst deine Zahnpastareste wieder ab, wenn du dir die Zähne geputzt hast. Ist doch wirklich nicht zuviel verlangt, die glatten Flächen nach dem Waschen oder Duschen kurz mit dem Sprühreiniger wieder zu polieren. Wie oft hast du ihm das gesagt… Er wollte es doch schön haben – dann muß man seine Sachen auch pflegen. Außerdem hat man es gern ordentlich, was soll denn einer denken, wenn mal überraschend einer kommt? „Sei doch nicht so pingelig,“ hat Axel gesagt, „lass’ dich doch mal gehen oder laß wenigstens am Wochenende mal diesen blöden Haushalt liegen.“ Ja. Das hätte ihm so passen können! Du hast ihm ganz genau erklärt, wie dein Tag aussieht: Du hast zwei schulpflichtige Kinder. Und einen Halbtagsjob. Bevor du morgens in die Firma gehst, hast du die Betten gemacht, gelüftet, Blumen begossen und vor der Haustür gefegt. Natürlich würdest du das Haus nie verlassen, wenn das Frühstücksgeschirr noch auf dem Tisch steht, also hast du um halb acht auch schon den Geschirrspüler gefüllt. Und eine Maschine Wäsche eingesteckt. Wenn du mittags aus der Firma heimkommst, hast du auf dem Nachhauseweg eingekauft, dann kochst du für die Kinder, machst die Küche wieder sauber und hilfst bei den Hausaufgaben. „Die Kinder müssen das inzwischen alleine können – sie sollen lernen, alleine zu lernen!“, hat Axel gezetert – aber das hast du nicht eingesehen. Sind ja nicht seine Kinder. Du hast die Verantwortung. Und ohne Abitur kann man heute schließlich nichts mehr werden. Also wird geübt. Und am Nachmittag sind auch ständig Termine: Die Kinder müssen zum Friseur. Was sollen die Leute denken, wenn ihnen die Haare in den Augen hängen. Sieht ja aus, als würden sie verwahrlosen.
Die Kinder müssen zum Zahnarzt. Wegen der Zahnspangen. Ist zwar nur eine kosmetische Korrektur und deswegen auch unglaublich teuer – aber wie sieht das denn aus – Mädchen mit schiefen Zähnen! Zum Impfen müssen die Kinder regelmäßig – sie sind gegen alles geimpft und zum Orthopäden müssen sie auch. Vorsorglich, damit sie später keine Haltungsschäden bekommen. Das alles kostet Zeit und Nerven, hast du Axel erklärt. Denn du mußt jeden Tag hetzen, damit du wieder daheim bist, wenn er von der Arbeit kommt. Weil du für ihn kochen mußt. „Dann laß es doch! Geh eine Freundin besuchen, setz dich ins Cafe, mach dir einen schönen Tag. Ich verhungere schon nicht,“ hat Axel gesagt. Na, der hatte Nerven! Als ob du im Haushalt nicht genug zu tun hättest. Und wenn du nicht jeden Tag Fleisch, Kartoffeln und Gemüse auf den Tisch gebracht hättest – wovon hätte er sich wohl ernährt? Richtig, von Pommes, Currywurst und Bier. Nein nein, du hast genau darauf geachtet, dass er regelmäßig vernünftig ißt – seine Cholesterinwerte waren sowieso viel zu hoch… Abends, wenn du dich endlich im Designer-Jogginganzug aufs Sofa gesetzt hast, hattest du grade noch die Kraft, ein Glas Rotwein zu trinken und dir mit ihm die eine oder andere Serie im Fernsehen anzuschauen. Um zehn Uhr hast du ihn daran erinnert, dass um sechs Uhr früh die Nacht vorbei ist. Sonst hätte er wahrscheinlich um Mitternacht noch vor der Glotze gelegen. Und wäre auf dem Sofa eingeschlafen – und das wäre für seine angeschlagene Wirbelsäule wahres Gift gewesen. Du hättest dir am nächsten Tag sein Gejammer anhören und ihm den Rücken einreiben müssen… Aber am Wochenende war alles anders. Dann brachte er auch mal den Mülleimer raus, die Kinder machten ihre Betten selbst und du hattest endlich genug Zeit, um einmal in Ruhe alles sauberzumachen und später was Besonders zu kochen.
Am Samstag kamen fast immer Freunde zu Besuch – gute Leute. „Sage mir, mit wem du umgehst und ich sage dir wer du bist“ – das hat deine Großmutter dir beigebracht. Dann hast du Wein und Käse besorgt oder aus dieser teuren Zeitschrift exklusive Gerichte nachgekocht. Man will sich ja nichts nachsagen lassen. Wenn du ihm nicht fürs Wochenende extra die Stoffhose und das weiße Hemd rausgehängt hättest – er hätte wahrscheinlich auch wenn Besuch kam seine unvermeidlichen Jeans getragen. Überhaupt hast du doch erst dafür gesorgt, dass er ein bißchen flotter wirkte! Wie sah das denn aus, als du ihn kennenlerntest – immer nur T-Shirts und Jeans. Hast du ihm einfach zum Geburtstag einen Gutschein für den Herrenausstatter geschenkt, damit er mal ein Sakko und einen Schlips trägt. Und zum Frisör hast du ihn geschickt – schulterlange Haare sind in seinem Alter wirklich nicht mehr tragbar. Nachdem er zehn Kilo abgenommen hatte – du hast die Diät aus Solidarität mit ihm gemeinsam gemacht – hat Karin gesagt: „Was hast du eigentlich an ihm geliebt, als du ihn kennengelernt hast?“ Und du hast verständnislos gefragt, wie sie das meine. „Na ja, wenn du ihn erst von vorne bis hinten umkrempeln mußtest, kannst du ihn ja so, wie er war, nicht geliebt haben.“ Darüber hast du kurz nachgedacht. Nein, du hattet dir nichts vorzuwerfen. Du hast es gut gemeint – Axel sah nach der Restaurierung wesentlich besser aus. Nun, er hat ein bißchen viel getrunken. In der Woche am Abend vier Bier und am Wochenende manchmal zehn. „Denk an dein Cholesterin!“, hast du ihn immer wieder erinnert. Und Axel? „Prost Cholesterin – ich denk dran,“ hat er gesagt. „Nie wieder wirst du eine finden, die dir alles so schön macht und so aufopfernd für dich sorgt,“ hast du zu Axel oft genug gesagt. Aber er wollte es ja nicht wahrhaben.
Nun ist er weg. Hat dich verlassen. Und dir einen Brief auf den Küchentisch gelegt. Das war der Gipfel. Denn er hat geschrieben: „Wenn Du mal gestorben bist, lasse ich auf deinen Grabstein schreiben: Sie hat nicht gelebt. Sie hat nicht geliebt. Sie hat nicht genossen. Sie hat sich niemals gehenlassen. Aber es war immer alles sauber.“ Über soviel Undankbarkeit fehlen dir einfach die Worte.
Wolfgang Zimmer Kindheit:
Schulzeit:
Erwachsen:
Sandkasten, Traumfahrten auf dem Apfelbaum, verbotene Mitfahrten auf Rübenanhängern, Offstein (bei Worms) Grundschule Offstein, Gymnasium Grünstadt, Hauptschule Flötsheim, Handelsschule Worms, Polizeischule Schifferstadt und Koblenz, Polizei Mainz und Oggersheim Ergotherapieschule Ludwigshafen, Kindergarten Worms, Reha-Klinik Bayreuth, Sozialpädiatrisches Zentrum Coburg
Literarische Tag- und Nachtträume, Lesen, Tagebuch, Entwicklung, Briefe, Kurzgeschichten, Schreibwerkstatt, noch mehr Kurzgeschichten, Prosa-Gedichte Zweiter Platz beim ersten Coburger Poetry-Slam Teilnahme an der Kronacher „Litera-Tour“
Wolfgang Zimmer SHOPPING
Immer soll ich mir etwas Neues kaufen. Dabei habe ich doch alles, was ich brauche. So bin ich beispielsweise im Besitz von zwei Winterund zwei Sommerhosen, habe vier Hemden, einen Wintermantel, eine leichte Jacke, zwei Pullover und genügend Unterwäsche. Trotzdem
versucht meine Frau mich ständig zum Kauf neuer Kleidungsstücke zu nötigen. Und jetzt drängt sie mich auch noch zum Erwerb einer neuen Armbanduhr. Nur weil meinem Zeitmesser der Stundenzeiger abgebrochen ist. Die Minuten sind wichtig! Die ungefähre Zeit habe ich sowieso im Kopf. Und der lose herumrutschende Zeiger könnte ja auch ein Modegag sein. Hat meine Frau nicht gesagt, ich solle mir mal etwas Modernes kaufen? Hab’ ich doch quasi schon. Nun gut. Mache ich ihr eben mal eine Freude. Vielleicht verschont sie mich dann in der nächsten Zeit mit ihren Kaufanregungen. Steingasse 34 hat sie mir als Empfehlung auf einen Zettel geschrieben. Von ihrer Freundin hat sie den Tipp. Vor dem betreffenden Schaufenster bleibe ich erst einmal eine Weile stehen. Hier soll es Uhren geben? Es deutet wirklich nichts darauf hin. Eigentlich kommt mir überhaupt kein Gegenstand so richtig bekannt vor. Vielmehr bekomme ich eine Vorstellung davon, wie sich ein Mensch fühlen muss, der aufgrund einer Hirnschädigung große Teile seiner Gedächtnisfunktionen eingebüßt hat. Auch könnte ich ein Urwaldbewohner sein, der zum ersten Mal in eine größere Stadt gelangt ist. Nach einigem Zögern trete ich ein. Ein nicht zu beschreibendes Geräusch ertönt. Es muss eine Art Glocke sein. Darauf folgt eine bedeutungsvolle Stille. Jetzt nähern sich Schritte. Ein Mensch kommt den Korridor entlang. Er führt beim Gehen Armbewegungen aus, wie ich sie bis dahin noch nie bei einem Homo Sapiens beobachten konnte. Der Kopf wird gesenkt gehalten und erst im letzten Moment, kurz bevor die Erscheinung vor mir zum Stehen kommt, gehoben. An dem hauchzart hingepflegten Schnurrbärtchen erkenne ich, dass es sich um einen Mann handeln muss. Er gibt mir genug Zeit, sein Antlitz in Ruhe zu bewundern. Seine tief-türkisfarbenen Pupillen, umrahmt von einem makellosen Weiß, ziehen erst einmal einen weiten Kreis um meine Person, bevor sie meine verstörten Blicke auffangen.
„Sie wünschen?“, strömt es wohlbetont aus seinem hingemalten Mund. Nein, dieser Mensch ist kein gewöhnlicher Verkäufer. Er ist ein Kunstwerk, eine Inszenierung. Beinahe greifen meine Hände in die Taschen, wollen nach einer Eintrittskarte, nach irgendeinem Berechtigungsschein, der es mir erlaubt hier sein zu dürfen, suchen. „Haben Sie Armbanduhren…?“ Ich möchte noch etwas an meine Frage anfügen, vielleicht den Namen einer bestimmten Marke, irgend etwas Besonderes, aber mir fällt nichts ein. Sein Kopf neigt sich, dreht sich zur Seite, steigt wieder auf und nimmt in einer unendlich flüssigen Bewegung dann den ganzen Körper mit, die Arme, die Hände gleiten in ungeahnten Bahnen entlang; schon haben sie zwei mit Samt überzogene Schublädchen vor mir arrangiert, zwei weitere folgen und noch ein letztes. Wieder habe ich Gelegenheit, die von keiner Unregelmäßigkeit gestörte Oberfläche seiner Haut zu bewundern, erkenne in seinem Profil nichts, was nicht stimmig wäre. Dann irrt mein Blick über die Ware. Nirgendwo ist ein klassisches Ziffernblatt zu erkennen. Endlich entdecke ich ein Gerät, das über zwei Zeiger verfugt. Jedoch schwimmen diese lose in einer trüben Brühe herum. Na, da kann ich ja auch gleich meine Uhr behalten. Kaum, daß mein Gegenüber das Ziel meiner Betrachtung erkannt hat, ergreift er die Uhr, schüttelt sie ein wenig, und sofort schnellen beide Zeiger in eine mir vertraute Position. Drei Uhr zeigen sie an. Leider habe ich meinen Zeitmesser zur Kontrolle nicht dabei. Aber die Uhrzeit könnte passen. Bevor ich noch etwas sagen kann, bekomme ich das kleine Zauberding von – was Falten betrifft – zwei Kinderhänden überreicht. Normalerweise lässt sich überall am Körper das Alter ein wenig kaschieren, nur an den Händen nicht. Ein kosmetisches Wunder? Ein kaum hörbares Räuspern bringt mich auf den Gegenstand zwischen meinen „Bauarbeiterhänden“ zurück. Die Uhrzeiger dümpeln mittlerweile wieder träge vor sich hin. Ich warte einen Moment, dann schüttele ich. Unnötig fest, wie mir die schmale Nase des transzenden-
ten Wesens gegenüber, mit einem pikierten Hochziehen des rechten Nasenflügels, bedeutet. Wieder stehen die Zeiger stramm. Drei Uhr Eins. Erstaunlich. „Vielleicht ein wenig gewöhnlich“, klingt es, begleitet von einem leichten Achselzucken, zu mir herüber. „Ja…. eigentlich schon“, versuche ich möglichst bestimmt zu antworten. „Wie wäre es denn hiermit?“ Seine linke Hand hält mir etwas entgegen, während die rechte die Form des Gegenstandes in einem Abstand von ca. zwanzig Zentimetern mit übertriebenen Gesten umfährt. „Streng limitierte Auflage. Absolut wasserdicht. Extrem stoßfest…“ „Wo macht man die denn auf“, plappere ich dazwischen. Triumphierend hebt sich die wohlgestaltete Stirn. „Versuchen Sie es doch einmal!“ Der in vielen Schwüngen designte, leicht gewölbte und hauchfein verzierte Metallkörper weist nirgendwo etwas auf, das auf einen Deckel hindeuten könnte. In sanft sich wiegenden Bewegungen nähert sich die sachkundige Hand und entführt mir das kleine Mysterium. Der Meister streicht mit seinen hybrid abgespreizten Fingern über das seltsame Ding. Dann wird es mir bedeutend hingehalten. Zuerst erkenne ich nichts. Allmählich, wahrscheinlich durch die Körperwärme bedingt, erscheinen die Umrisse verschnörkelter Zahlen. 15:07. Er lässt mich eine Weile starren, dann kommen die nächsten Vorstellungen. Seine Bewegungen harmonisieren chamäleonartig mit dem Charakter der Uhren. Immer raffiniertere Mechanismen, Formen und Täuschungen werden mir präsentiert. Ich komme kaum dazu, etwas zu äußern, er fragt mich überhaupt nicht, ob mir denn eine Uhr gefalle, ob ich die oder jene erwerben möchte, die Show läuft wirbelnd weiter. Ich komme mir vor wie ein Zweijähriger, den man mit allerlei Glasperlen und Zaubertricks am Staunen erhält. Dann legt er ein kleines, mit goldenen Beschlägen verziertes Büchlein auf den Tisch.
Ah, endlich die Preisliste, denke ich. „Schlagen Sie auf, irgendwo.“ Sein Brüstchen schwillt majestätisch an. Der Kopf wird bedeutsam-melancholisch zur Seite gehalten, die Arme verschränken sich mit zartem Druck vor der Taille. Irgend ein Finale steht bevor. Es ist ein Kalender. Ich schlage ihn auf. Der Fünfzehnte. „Und welche Seitenzahl sehen Sie unten am Rand? Na!?“ „Dreiunddreißig“, murmele ich. „Also ist es…?“ „Fünfzehn Uhr dreiunddreißig“, antworte ich widerwillig. Jetzt habe ich die Nase voll. Erstens möchte ich überhaupt keine neue Uhr kaufen. Zweitens will ich schon gar keine solche Schnick-Schnack-Ausführung, die wie sonstwas aussieht. Und drittens will ich sie auf keinem Fall von so einer gebügelten Menschenimitation erwerben. Noch eine Vorahnung lasse ich über mich ergehen, während ich meine Jackentaschen durchsuche. Ich ertaste einen Apfel, den ich bei Verlassen unseres Grundstücks noch schnell vom Baum gepflückt hatte. Ich hole diese schrumpelige, ein wenig verdrückte Frucht hervor und halte sie hoch. Der krasse Gegensatz zu der Wachsfigur vor mir. Zum ersten Mal ist eine leichte Entgleisung seiner Gesichtszüge zu erkennen. Mit demonstrativer Konzentration betaste ich den Apfel. „Oh, es ist ja schon Fünfzehn Uhr vierzig. Ich muss meine Frau abholen. Auf Wiedersehen!“
Monika Wunderlich (als Herausgeberin setze ich mich ans Ende) Geboren 1944, nach annähernd 27 Umzügen endlich 1977 seßhaft geworden im Fuchstal, das kein Mensch kennt – oder doch? Was macht man auf ‘nem Dorf, man tritt ein in den Sportverein. So spielte ich jahrelang Tischtennis (kein lahmes Ping-Pong), fahre noch mit Begeisterung Ski (kein Langlauf), nicht sehr elegant, aber tierisch rasant, bis die Mütze vom Kopf fliegt und die Knie heiß werden. Seit zwei Jahren gehe ich regelmäßig zur Step-Aerobic, denn wer rastet der rostet, und die Knochen sollen fit bleiben. Und so ist das auch mit den kleinen grauen Gehirnzellen. Ende der 80er habe ich noch mal abends nach der Ganztagsarbeit und Versorgung der Familie, an den Wochenenden und im Urlaub die Schulbank gedrückt mit Abschluß und Diplom als Tierheilpraktikerin, einfach so aus Spaß, und weil meine unersättliche Neugier, mein Wissensdurst und mein Tatendrang wieder einmal keine Ruhe gaben. Anfang der 90er entdeckte ich mein Mal- und Zeichentalent, nahm Privatunterricht und konnte tatsächlich bei Ausstellungen Erfolge verzeichnen. Fast gleichzeitig mit der Malerei schrieb ich meinen ersten Roman „ICH ZEIG EUCH MEINE WELT“, später Kurzgeschichten, na, und dann folgte das 2. Buch SCHLANGEN IM JAHR DES DRACHEN – und eh ich mich versah, gründete ich im Oktober 1997 meinen eigenen Verlag mit dem fast unaussprechlichen, aber im Gedächtnis bleibenden Namen „VirPriV“ weil’s doch schon einen Wunderlich-Verlag gibt. Ich glaube, daß ich mich in der „Fastmännerwelt“ bis heute ganz gut durchgeboxt habe. Am 30. Mai 2001 ging zwar die Welt nicht unter, aber es war Schluß mit „seßhaft im Fuchstal“, ich ordnete mein Leben neu und zog mit meinem Verlag in das schöne Städtchen Bad Oeynhausen – für die nächsten 40 Jahre, denn ich möchte ganz gerne Siebenundneunzig werden.
Monika Wunderlich ICH WÜNSCHTE…
Musiker stimmten ihre Instrumente – es waren wohl mindestens vier, fünf Orchester gleichzeitig. Dieser infernalische Lärm! Das Dröhnen der Pauken, Disharmonie von Flöten und Geigen. Schrille Töne, die ihr Übelkeit verursachten. Sie stand in einem menschenleeren Zuschauerraum, ihre verschwommenen Augen suchten gehetzt nach einem Fluchtweg. Aber es gab keine Tür, nur eine Bühne, vollgestopft mit fetten, verschwitzten Männern und Frauen, die überdimensionale Musikinstrumente malträtierten. Und der Dirigent überragte sie alle. Breitbeinig hielt er wie ein Schwertkämpfer einen konisch zulaufenden Holzprügel – den Dirigentenstab. Plötzlich stand eine zierliche alte Frau vor ihr, winkte, zeigte in aufkommende Nebelschwaden und flüsterte: „Du mußt es nur wollen, Herzchen, du mußt es dir nur mit all deiner Kraft wünschen und du mußt daran glauben. – Du mußt es wünschen…“ Mit den letzten Worten löste sich die Gestalt auf, bevor sie nach ihr greifen konnte. Ein übler Geruch stieg in ihre Nase. Würgend erlangte sie allmählich das Bewußtsein, versuchte, mühsam die Augen zu öffnen. Aber sie konnte nur einen Spaltbreit ein Lid bewegen. Verwirrt sah sie durch weiß-rote Schlieren auf einen verkrümmten linken Arm, bedeckt mit einer Bluse – ihrer Bluse. Dieser widerliche Gestank! Ihre Nase schien in gekochten und bereits verwesenden Schweinefüßchen zu stecken. Ein durchdringender Pfeifton, der ihren Schädel zu spalten drohte, ließ die Musiker verstummen, und plötzlich war da fast nichts mehr. Nur noch ein leises, monotones Summen unter ihrer Schädeldecke. Schrittweise ordneten sich ihre Gedanken, Fetzen setzten sich zu ei-
nem Teil zusammen und webten einen Flickenteppich mit wilden Mustern. Sie starrte immer noch auf den Stoff, der einen scheinbar leblosen Arm umhüllte. Eine von Hannas abgelegten Blusen. Hannas abgelegte Sachen, die ihr zu eng waren und die Hanna großzügig verschenkte. Hanna?… Wer ist – ach ja, Hanna – 14jährige Tochter einer Freundin der dritten Frau von – Va… Vater… Wieder würgte sie, erbrach Galle und Schleim, bekam kaum Luft durch die verstopfte Nase. Andere Gedanken – bitte – nicht Vater… O Gott! Vaterland – Vaterliebe – Vater im Himmel… Vater werden – Vater sein – Vaaater!… Zur Hölle mit dir… Andere Gedanken – an etwas anderes denken – Ja! Mittags hatte es Schweinefüßchen mit Salzkartoffeln gegeben. Auf gewiß zehn verschiedene Arten kann ich sie zubereiten: geschmort, gekocht, gebraten, süßsauer… ekelhaft… ekelhaft… Sie konnte ihre Hand nicht finden, um sich die stinkenden Ablagerungen von Mund und Nase zu wischen. Was mache ich hier – kein Traum – kein Film – kein Konzertsaal. Ein Balkon! – blauer Himmel! – Unser Balkon im letzten Stockwerk des Hochhauses – Ich wohne hier. Ich bin… Grundgütiger – mein Name ist – ich bin… Keuchend stemmte sie den rechten Arm gegen die Balkonwand und schob ihren Kopf ein paar Zentimeter aus dem halbverdauten Essen. Ich heiße – Anna – ja – ich bin Anna – und – noch ein Jahr – verdammt, was ist in einem Jahr? Sie kicherte wie eine Idiotin, eine Träne brannte über die aufgeschlagene Wange, als es ihr einfiel. Zwanzig. – Ich bin zwanzig und in einem Jahr volljährig. – Das Ende der Hölle… Ich friere. Ich fühle. Der Boden ist so hart und kalt. Mein Gott, ich fühle. Ich lebe! ~ Gott? – Wer, zum Teufel ist Gott? – Wie kann ein Gott zulassen, was mit mir seit ich denken kann geschieht? – Er will dich prüfen, Kind, sagte der Pfarrer, als er mich für die Konfirmation vorbereitete, nachdem ich zuvor die Jugendweihe an
Krücken gehend empfing. Und er sagte noch, daß Gott mich lieben würde… Aber das sagte auch Oma, als ich sechs war – und sie sagte, ich müsse dran glauben ~ und sie versprach, wenn ich mir etwas von ganzem Herzen wünschte, ginge das auch in Erfüllung…So wünschte ich mir, für immer bei ihr bleiben zu dürfen. Doch Wochen später war ich wieder bei fremden Leuten mit kräftigen Händen – den ach so ehrbaren Familien, die sich aktiv in Turn-, Gesangs- und Musikervereinen tummelten und die nicht nur die Trommeln schlugen, und die nicht nur mit den Füßen Bälle kickten. Anna hatte sich noch ein Stück zurückgeschoben, lag nun mit dem Gesicht auf dem nackten Betonboden und sah entsetzt, wie der Arm mit Hannas Bluse seine Stellung veränderte. … und einige Male hatte ich in den folgenden Jahren „ich wünschte, ich wünschte…“ geschrien, und dreimal… – nein – ich will nicht daran denken – ich war doch noch ein Kind! Aber Margret, Norbert und Sabine kommen fast jede Nacht, rauben mir den Schlaf und fragen, warum hast du das getan? Sie klagen mich an, mich – damals noch ein Mädchen –, ihnen den Tod geschickt zu haben. Und ich sagte nie mehr „ich wünschte, ich wünschte…“ Erschrocken ruckte sie mit dem Oberkörper empor. Es waren nur ein paar Zentimeter, als sich die Schneide eines Messers in ihre Wirbelsäule bohrte und sie in zwei Hälften teilte. Glaubte sie. Anna glaubte auch, tierisch zu schreien, aber von den aufgeschlagenen Lippen und aus dem mit trockenen Blutkoageln gefüllten Mund kam nur ein Ächzen. Gott!!! – Gooott! – Ich war die längste Zeit dein Liebstes – deine Testperson – dein Experiment – deine Prüfung – und die Antwort auf deine Frage, was ein Mensch aushalten kann ohne den Verstand zu verlieren. Ich hoffe jetzt nur noch auf meine eigenen Götter – die von mir für mich erschaffenen Götter – für… Die Trommeln in ihrem Kopf begannen erneut dumpf zu schlagen, eine Riesenwelle schwappte über sie hinweg, nahm ihr die Luft und kurzzeitig auch den Verstand. Als die Schmerzen, die Übelkeit und das Zittern überhand nahmen hätte sie sich gerne den ewigen Schlaf gewünscht, aber der Wille zum Überleben war stärker.
Helft mir – helft mir – egal, welcher der Götter mir jetzt beistehen kann. Niemals wieder – und das ist mein Handel, mein Versprechen – niemals wieder werde ich etwas für mich selbst erbitten. Nicht Gesundheit, nicht das ewige Leben, nicht Reichtum, nicht das Glück bis an mein Lebensende… Nur noch dieses eine Mal gebt mir die Kraft… Und wieder sah sie sich in dem riesigen Konzertsaal und starrte auf die Musiker. Der Dirigent eilte herbei, stellte sich hinter das Pult, hob die Arme und alle Musiker schlugen auf ihre Instrumente. Langsam drehte er sich um, grinste zynisch in das finstere Odeon. Dann zeigte er mit seinem Taktstock auf eine blutverschmierte junge Frau zu seinen Füßen und schrie: „Wünsch dir etwas, Anna. Na los, Tochter, sag einfach ich wünschte…“ Die Worte hallten und die Wände gaben das Echo zurück – wünschte – wünschte – wünschte ~ und vermischten sich mit dem hämischen Gelächter der Menschen auf der Bühne. Alle hatten sich die Lippen blutrot übermalt, hatten Basedowaugen, die einigen bis auf das Kinn baumelten und im Takt hin und herschwangen, als sie „ich wünschte“ als Kanon einstudierten.
Bevor Anna auf dem Steinboden erneut die Sinne schwanden, sah sie eine Person auf den Balkon treten – groß, kräftig, mit gewaltigen Händen, die sie fast totgeschlagen hatten. Der Dirigent. Der Vater. Ohne sie zu bemerken legte er seine Unterarme auf die breite Metallbrüstung und beugte sich ein wenig vor, als würde er etwas suchen. Ich wünschte… bat Anna stumm und mit aller Kraft die ihr geblieben war, – ich wünschte…
Leicht wie eine Feder, fast schwerelos,
löste sich Anna von ihrem zerschundenen Körper und stand auf. Sie hatte keine Schmerzen mehr, konnte auch den linken Arm bewegen, der wieder fest mit ihrem Körper vereint war, und sie sah mit klaren Augen zu dem Mann auf. Sachte berührte sie seinen Arm. „Warum, Vater? – Dieser Haß – warum?“
Doch er hörte sie nicht. Er legte gerade beide Hände wie einen Trichter vor seinen Mund und brüllte etwas auf die Straße hinunter, zwölf Stockwerke tief. Ohne Hast bückte sich Anna, umfaßte zielsicher seine Unterschenkel und schob den Hünen über das Geländer. Ganz einfach. Ohne Kraftanstrengung. Im Fallen drehte er sich um, hob seine Riesenhand, die sich in einen Taktstock verwandelte als gäbe er den Einsatz für das große Finale der Orchester. Doch die Frauen und Männer brachten nur Töne zustande, die wie Sirenen der Feuerwehren, der Polizeiwagen und der Krankentransporte klangen. Alle Geräusche wurden plötzlich leiser, bis sie wie in dicken Lagen von Watte völlig erstickten. Erleichtert bettete sich Anna wieder in ihren Körper. Nun fror sie nicht mehr, lag weich wie auf Daunenkissen und atmete tief die Düfte der Blumenbeete ein, die sich vor ihr ausbreiteten, so weit das Auge reichte. Anna fühlte, wie der Gott der Barmherzigkeit sie in weiße Seidentücher hüllte und sie dem Gott der Zukunft sanft in die Arme legte. Und sie flüsterte immer noch, wie es sie die Großmutter vor Jahren gelehrt hatte: „Ich wünschte… ich wünschte…“