Viele bekannte und einige (noch) unbekannte Autorinnen und Autoren erzählen Ihnen Geschichten, die Sie nicht mehr loslassen werden: phantastisch-morbide-skurril-mystisch-gruselig. Es erwarten Sie aber auch ein paar Minuten Besinnlichkeit, Humor und Satire in der neuen VirPriV-Reihe
Dunkle Stunden In dieser Ausgabe »Tod eines Satanisten« – Band I sorgen für schlaflose Nächte: Hans-Joachim Alpers * Alexander Amberg * Eddie M. Angerhuber Dieter J. Baumgart * Rhys Simon Beck * Alfred Bekker Ines Bouhannani * Kai Engelke * Monika Fischer * Irene Fleiss Andreas Gruber * Ronald M. Hahn * Frank W. Haubold Antje Ippensen * Greta Kadereit * Markus Kastenholz Boris Koch * Hildegard Kohnen Und noch mehr gibt es in »Tod eines Satanisten« – Band II ISBN 3-935327-14-5 Kuno Liesegang * Ingo Löchel (Morgan de Clerk) * Timothy McNeal Stefan Melneczuk * Gerald Meyer * Michael Mittelbach Jens Neuling * Curtis Nike * Stephan Peters * Robsie Richter Irene Salzmann * Malte S. Sembten Michael Siefener mit Marien Munsonius * Christel Scheja Karl-Heinz Schreiber * C. J. Walkin (Christian Reul) Peggy Wehmeier * Monika Wunderlich * Wolfgang Zimmer
Tod eines Satanisten – Band I … und andere phantastischmorbide-skurrile Stories
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Tod eines Satanisten: … und andere phantastisch-morbide-skurrile Stories - Bad Oeynhausen: VirPriV-Verl. (VirPriV-Reihe Dunkle Stunden) Bd. 1.- 1. Aufl. – 2001 ISBN 3-935327-13-7
1. Auflage August 2001 „Tod eines Satanisten – Band I … und andere phantastisch-morbide-skurrile Stories“ aus der VirPriV-Reihe Dunkle Stunden © bei allen Autorinnen und Autoren © Monika Wunderlich VirPriV Verlag, 32549 Bad Oeynhausen Fax: 05731 755491 www.virpriv.de eMail:
[email protected] Umschlaggestaltung: Rainer Schorm eMail:
[email protected] Herstellung über Klaus Bielefeld Verlag eMail:
[email protected] Korrektorat: Antje Ippensen eMail:
[email protected] Es wird auf Wunsch der Autorinnen und Autoren die alte und die neue Rechtschreibung berücksichtigt. Printed in Germany ISBN 3-935327-13-7
Vorwort Als ich Ende Februar/Anfang März 2001 die ersten Briefe auf die Reise schickte, hatte ich ja keine Ahnung, ob ich überhaupt genügend Texte erhalten würde. Ich wollte für eine Anthologie Autorinnen und Autoren gewinnen, aber ich wollte sie mir selbst aussuchen – sie sollten „handverlesen“ sein. Und zu meiner großen Freude haben fast alle geantwortet und mir eine reiche Auswahl zum breiten Thema „Mystik-Horror-Utopie-Phantastik“ geschickt, so daß ich statt einer schmalen Broschüre nun mit einer zweibändigen neuen VirPriV-Reihe DUNKLE STUNDEN starte. Dafür möchte ich mich bei allen ganz herzlich bedanken. Nach Durchsicht aller Unterlagen war ich aber dann doch der Meinung, daß die Leserinnen und Leser einfach ab und zu einmal durchatmen, sich beruhigen und zurücklehnen sollten. So habe ich zwischen den vielen nervenaufreibenden Stories ein wenig blutdrucksenkenden Humor, Nachdenkliches und auch Satire eingeflochten. Damit sich keine Autorin und kein Autor benachteiligt fühlen sollten, wählte ich die alphabetische Reihenfolge beim Setzen der Texte. Den vorgesehenen Erscheinungstermin konnte ich erstmals nicht einhalten: Mein Umzug (fast 700 Kilometer von Bayern nach Bad Oeynhausen) war nicht in dieser Eile geplant, eine langwierige Erkrankung kam dazwischen, mein Computer und der Bildschirm protestierten nach der langen Umzugsfahrt etc. Im neuen Reich herrschte das Chaos – alles passend zur Horror-Anthologie. Für diese Verspätung möchte ich mich bei meinen Autorinnen und Autoren entschuldigen und mich für Ihr Verständnis bedanken. Ihre Monika Wunderlich
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort Inhaltsverzeichnis
5 6
Hans Joachim Alpers ZERO
8
Alexander Amberg EVA LITERATURSTREIT
22
Eddie M(onika) Angerhuber KRALLENSPUREN
36
Dieter J. Baumgart SCHMETTERLINGE
56
Rhys Simon Beck DAS LETZTE GESCHENK
59
Alfred Bekker IN DER SCHLIMMEN ALTEN ZEIT DAS STRAFGERICHT
65
Ines Bouhannani PROGNE UND PHILOMELA
73
Kai Engelke ICH WILL NICHT SEIN WIE ER
78
Monika Fischer EIN MÖRDERISCH HEISSER SOMMER,
96
Irene Fleiss EMMA
101
Andreas Gruber 107 AUS DEN MEMOIREN DER TOLLPATSCHIGEN FAMILIE BÃNULESCU Ronald M. Hahn YESTERDAY
112
Frank W. Haubold WELCOME TO THE MACHINE STILLE NACHT
119
Antje Ippensen (Pseudonym: Janet E. Spinpen) FEDERN
128
Greta Kadereit (Pseudonym) „DER ZERBROCHENE KRUG“ - MAL GANZ ANDERS
135
Markus Kastenholz CAFÉ NOCTURNE
138
Boris Koch AUS DEN REISENOTIZEN DES JONATHAN MOMMSEN
147
Hildegard Kohnen DAS FOTO
150
Hans Joachim Alpers Ich wurde 1943 am französischen Nationalfeiertag geboren, mitten im Krieg und gut ein Jahr bevor die Alliierten meinten, daß in meiner Heimatstadt Bremerhaven entschieden zu viele alte Häuser standen, und ein paar Bomben (oder auch ein paar mehr) herabwarfen. Das Haus, in dem meine Eltern und ich wohnten, meinten sie auch, so daß wir nach dem Krieg sieben Jahre lang in einem Zimmer zur Untermiete hausten. Der pure Luxus mit Ofenheizung – bei Westwind stand die Bude unter Rauch – und Außenklo. Vielleicht ist deshalb auch J. G. Ballards „Billennium“ eine meiner Lieblingsgeschichten. Ansonsten schätze ich vor allem Philip K. Dick. Irgendwann kam ich auf die fixe Idee, Ingenieur werden zu wollen, und reparierte zunächst als Schlosserlehrling auf einer Werft dicke Pötte. Als ich dann tatsächlich Konstruktionsingenieur war, hatte ich das (Zeichen-)Brett vor dem Kopf allerdings bald satt, studierte ein bißchen an der Hamburger Uni herum, begann Jugendbücher zu schreiben, gab erst bei Knaur, dann bei Moewig eine SF-Reihe heraus, wurde zum Freiberufler. Ich mag das Meer, die dänische Nordseeküste, die irische Westküste, sammle außer SF Seefahrtsromane (Lieblingsautor: William Clark Russell), alte Regulatoren (die ich mir als Schrott vom Flohmarkt hole und restauriere), Garagenpunk der 60er Jahre und den FC St. Pauli, lebe mit ausreichendem Freiraum für beide (getrennte Wohnungen) mit meiner Lebensgefährtin sowie Hund und Katze zusammen. Die Kurzgeschichte ZERO erschienen in: Helmut Wenske & Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Arcane, München 1982, Heyne-SF 3970
Hans Joachim Alpers ZERO
Als die Nacht hereinbrach, suchten sie Schutz in der Ruine des Kölner Doms. Vielleicht war es auch gar nicht der Kölner Dom, sondern einfach eine andere riesige gotische Kirche, die ihm ähnlich sah. Nicht, daß dies in irgendeiner Weise eine Rolle gespielt hätte. Holtzmann wußte, daß es keine Rolle spielte. Er wußte, daß er nichts wirklich Neues herausfinden würde. Dennoch ließ er den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die Figurenfülle des geschnitzten Hauptportals gleiten und versuchte, seinem müden Gehirn eine aufblitzende Erinnerung zu entlocken. Nichts. Holtzmann zuckte mit den Schultern, nahm die Taschenlampe in die Linke, preßte mit der Rechten den riesigen schmiedeeisernen Türdrücker herab und stieß das Portal auf. Neben ihm drängte sich Petz vorbei und leuchtete mit seiner langen Stablampe in das Innere der Kirche. Wie nicht anders zu erwarten, erfaßte der Lichtstrahl nur tote Gegenstände, und das einzige Geräusch, das an ihre Ohren drang, bestand aus dem Jaulen und Wispern des Windes, der sich irgendwo durch Lücken im Mauerwerk Zutritt verschaffte. „Wir bleiben hier vorn“, sagte Holtzmann. „Wer weiß, wie gut der Rest des Gebäudes erhalten ist. Suchen wir uns eine Nische, wo es nicht zieht.“ Er sah sich suchend um, folgte dem Strahl seiner Taschenlampe. Der Vorraum vor dem eigentlichen Hauptschiff reichte für ihre Zwecke voll aus. Er blitzte Petz mit der Lampe an und wies dann mit dem Lichtkegel auf eine Ecke des Raumes. Petz nickte und entblößte die Zähne zu einem flüchtigen Lächeln. Holtzmann zog den kleinen Karren, der ihre Habseligkeiten barg, die Stufen zum Portal hinauf. Der Wagen war nicht sehr schwer, und die beiden ballonbereiften Räder waren groß genug, um den Widerstand der Stufen leicht zu überwinden. Petz hielt das Portal weit auf, und Holtzmann bugsierte den Kar-
ren in die gewünschte Ecke. Er entnahm ihm die gelbe Sturmlampe und entzündete den petroleumgetränkten Docht mit seinem Feuerzeug. „Schon besser“, meinte Holtzmann und warf die Decken und Schlafsäcke vom Karren auf den Boden. „Paß auf, das wird hier noch richtig gemütlich.“ Petz griff sich die Axt aus der Werkzeugkiste und trottete mit ihr in das Hauptschiff. Wenig später zeigten hämmernde und splitternde Geräusche an, daß er dem Chorgestühl zuleibe rückte. Nach einer Weile kehrte er mit einem großen Armvoll Brennholz zurück, warf es zu Boden und holte Nachschub. Dann schichtete er das Holz fachmännisch auf und brachte einen Span an der Petroleumlampe zum Glimmen. Er blies ihm Luft zu, ließ ihn auflodern und schob ihn unter den Holzstapel. Das trockene Holz flammte im Nu auf, und bald verbreitete sich Wärme in dem Raum. Holzmann öffnete seine schwere, halblange, mit Fell gefütterte Lederjacke und starrte in die Flammen. Petz hatte sich neben ihm hingehockt. Auch er blinzelte in das Feuer. Vielleicht sah er darin Dinge aus seiner verlorenen Welt, Dinge, die phantastischer waren als alles, was Holzmann sich vorstellen konnte. Er wußte nur eines: Sie beide genossen das abendliche Ritual des Feuermachens und ließen es niemals aus, wenn brennbares Material in der Nähe war. Petz gab ein seufzendes Geräusch von sich, und Holtzmann schreckte aus seinen Gedanken auf. Er blickte zu Petz hinüber, forschte in seinem Gesicht nach einer Regung. Er fand nur eines: den Flammenzauber, der Raum und Zeit vergessen ließ. Petz’ Gesicht war eine Maske. Das Wesen, das dahinter wohnte, befand sich im Moment ganz woanders. Holtzmann entschloß sich zu warten, bis Petz zurückkehrte. Es würde nicht lange dauern. Bis dahin mußte sein hungriger Magen sich gedulden. Seine Gedanken schweiften ab. Seltsam, dachte er, daß es hier keine Tiere gibt. Ob sie ihre eigenen Welten haben? Nicht einmal Ratten oder Mäuse, die man in solchen alten Gebäuden wohl sonst erwarten sollte, sind uns hier begegnet. Auch die früher allgegenwärtigen Insekten waren verschwunden. Wie stand es um Kleinstlebewesen wie
Bakterien, Bazillen und Viren? Die Nahrung, auf die sie gelegentlich stießen, schien Jahrhunderte überdauern zu können, ohne zu verderben. Auf der anderen Seite hatte sich Holtzmann im Laufe der Jahre schon mehrmals eine Erkältung zugezogen. Vermutlich trugen Petz und er ihr eigenes Universum an Kleinstlebewesen mit sich herum, aber außerhalb davon schien es nichts oder zumindest wenig anderes zu geben. Petz seufzte erneut, und plötzlich kehrte Leben in seinen Blick zurück. Holtzmann erhob sich bedächtig und kramte in den Vorräten herum. Er griff sich eine Büchse mit Bohnen und eine zweite mit Corned beef und reichte sie Petz. Es war die Standardmahlzeit. Aber beide hatten sich abgewöhnt, Feinschmeckermaßstäbe an diese Welt anzulegen. Es gab Grund, dankbar zu sein, daß man überhaupt über die Runden kam. „Hep!“ rief Holtzmann und warf Petz den Büchsenöffner zu. Während sich sein Gefährte damit beschäftigte, die Konservendosen zu öffnen, errichtete Holtzmann über dem Feuer das eiserne Gestell mit der Bratpfanne und tat etwas Fett in die Pfanne. Petz gab die Bohnen und das Fleisch hinein, nahm einen Löffel und rührte mit stoischer Geduld in der eisernen Pfanne herum. Holtzmann stellte das Eßgeschirr bereit. „Schlage mein Wasser ab“, murmelte Holtzmann, zog sich in das Dunkel des Doms zurück und erleichterte sich. Als er zurückkehrte, dampften die Bohnen bereits. Er hockte sich wieder nieder und quittierte mit einem Kopfnicken die Portion, die ihm Petz in den Napf gab. Stumm löffelte er die Bohnen und das Fleisch in sich hinein. Holtzmann dachte an früher. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er Besseres zu sich genommen hatte. Er dachte an dieses Lokal in Paris, an das Mädchen an seiner Seite, an die herumflitzenden Kellner. Aber trotz aller Anstrengungen wollte es ihm nicht gelingen, den Geschmack der gefüllten Kalbsbrust und der Nachspeise – flambierte Banane – auf den Gaumen zurückzuzaubern. Es war sehr teuer gewesen, aber es hatte sich gelohnt. In jeder Beziehung. Nein, in jeder Beziehung eigentlich nicht.
„Alles Quatsch!“ sagte Holtzmann laut und konzentrierte sich auf die Bohnen. Im Grunde waren sie gar nicht so schlecht. Bei Gott, es gab viel Schlimmeres. Petz sah ihn fragend an. Holtzmann lächelte und nickte. Petz kratzte den Rest aus der Pfanne. Beide löffelten weiter. Dann nahm Petz sein und Holtzmanns Eßgeschirr und wusch es zusammen mit der Pfanne draußen vor dem Portal in einer Mulde, wo er Regenwasser entdeckt hatte. Holtzmann baute das Gestell über dem Feuer ab und schenkte beiden einen Becher voll aus ihren kostbaren Weinvorräten ein. „Prost, mein stummer Kamerad“, murmelte Holtzmann und hob seinen Becher. Petz nickte, nahm seinen Becher an die Lippen und stürzte den Inhalt mit einem Zug hinunter. Holtzmann ließ sich etwas länger Zeit. Dann trank auch er aus, räumte die Becher und die noch zur Hälfte gefüllte Weinflasche beiseite und machte es sich auf seinem Lager bequem. Petz hatte sich bereits ausgestreckt. Das langsam ersterbende Feuer spendete nur noch ein schwaches Licht. Bald würde die letzten Holzscheite verglimmt sein. Holtzmann legte Lederjacke und Pullover ab, zog die Hose aus und kroch in den Schlafsack. Er häufte zwei Wolldecken darüber und drehte sich zur Seite. Vor seinen Augen sah er wieder dieses Mädchen. Nein, es war ein anderes Mädchen… nicht das aus Paris. Ihr Bild rief angenehmere Erinnerungen wach. Aber seine Gedanken glitten ab. Er saß plötzlich hinter dem Steuer eines Wagens. Eine Landschaft flitzte vorüber. Einen Moment lang sah er einen tiefdunklen Wald und einen munter dahinsprudelnden Bach. Dann Fabrikschlote, Transparente, Polizisten, die Tränengasgranaten in die Menge feuerten, Wasserwerfer. Er sah, daß er vor dem Fernseher saß. Da war das Gesicht dieses verlogenen Politikers. Er spürte etwas, das tief in seiner Magengrube zu wachsen begann. Aber dann blickte er aus dem Fenster der startenden Lufthansamaschine hinab, sah die winzigen Objekte menschlicher Zivilisation, fühlte sich gepackt vom Rausch der Geschwindigkeit, der Kraft der Beschleunigung, die von diesen herrlichen Maschinen ausging… Bevor er einschlief, hörte ein kleiner Teil seines Ichs Petz im Schlaf wimmern. Petz wimmerte immer im Schlaf. Jede Nacht. Und Holtz-
mann vermochte ihm nicht zu helfen. Dann senkte sich wohltuende Stille über seinen Geist hinab.
Holtzmann
erwachte vor Petz. Durch Ritzen des Gemäuers drang bereits das Zwielicht hinein, das in dieser Welt den Morgen, den Mittag und den Abend beherrschte. Richtig hell wurde es nie, und eine Sonne hatte Holtzmann in dieser Welt noch nicht erblickt. Es gab auch keinen Mond und keine Sterne wie früher. Und dennoch war die Dunkelheit, die nachts herankroch, nicht total. Ein ferner Schein ließ sie ein wenig glimmen, so als befände sich hinter dem Horizont eine glitzernde Stadt, deren Widerschein die Schwärze der Nacht milderte. Aber es gab keine Stadt der Menschen. Niemals. Im Kirchenschiff war es hell genug, um auch ohne Taschenlampe auszukommen. Das Dach des Doms war löchrig wie ein Schweizer Käse. Holtzmann passierte die Stelle, wo Petz dem Gestühl zugesetzt hatte, und bewegte sich auf den Altar zu. War dies nun der Kölner Dom oder nicht? Er korrigierte sich: Allenfalls war es ein Kölner Dom. Er hatte schon zu viele Duplikate von allem gesehen. Andere Ausfertigungen. Dinge, die dem Original glichen und doch wieder nicht glichen. Dinge aus Parallelwelten, aus anderen Zeitströmen… Er war noch zu müde, um intensiver darüber nachzudenken. Flüchtig fiel ihm die Schatzkammer des Kölner Doms ein. In seiner Welt hatte es sie gegeben. Und wenn schon, dachte er. Beweist überhaupt nichts. Unbewußt hatte der Gedanke an Gold und Silber und Edelsteine seinen Herzschlag beschleunigt. Pah, was war der Plunder schon wert in dieser Welt! Ein flüchtiger Blick zum Altar genügte. Er mußte nicht die Schatzkammer suchen, um zu wissen, daß dieser Dom nicht seiner Realitätslinie entstammte. Bestimmt nicht. Die bocksbeinige Kreatur mit dem dreikantigen Schädel, in dem jadegrüne Augen funkelten, sah unbewegt auf ihn hinab. Also hatten sie auch IHM einen Dom erbaut. Irgendwo in Raum und Zeit. Im Vorraum hörte er Geräusche. Petz war erwacht und verstaute klirrend ihre Habseligkeiten auf dem Karren. Halb resignierend, halb
amüsiert winkte Holtzmann zu der Kreatur hinauf. Ein Rückschlag, aber er hatte dennoch das Gefühl, daß er sich seiner Realitätslinie näherte. Dieses Mal würde es gelingen -jenseits des Tafelberges. Es mußte klappen. Zu viele Anzeichen sprachen dafür. Abrupt wandte er sich um und gesellte sich zu Petz. Er nahm Zwieback und ein Stück Dauerwurst entgegen, kaute darauf herum und schluckte das Ganze mit zwei Bechern Wasser herunter. Dann machte er sich gemeinsam mit Petz auf den Marsch. Petz zog den Karren. Erst die Stufen hinab, dann in Richtung auf das Ziel. Es gab nur eine Richtung. Einen Moment lang fühlte sich Holtzmann versucht umzukehren, die schrecklichen Gesetze dieser schrecklichen, unbekannten Welt zu brechen. Aber es war sinnlos. Er hatte es früher versucht. Es gab nur einen Weg – den Weg nach vorn. Den Weg, der irgendwann wieder zu der Ebene hinter dem Tafelberg zurückführte. Holtzmann hatte schon alles ausprobiert. Er hatte sich seitwärts gehalten, war bewußt der Route ausgewichen, die ihm ein untrüglicher Instinkt vorschrieb. Er war gescheitert. Jenseits eines tausend Meter breiten Bandes links und rechts der Route löste sich die Welt auf. Da gab es nichts. Zumindest nichts Vertrautes. Wenn es etwas gab, dann wollte Holtzmann nicht wissen was es war. Er war auch den Weg zurückgegangen. Den ganzen Weg. Er war seit zehn Jahren in dieser Welt und hatte sich Zeit genommen, jeden Ausweg zu prüfen. Gewiß, man konnte den Weg zurückgehen, und irgendwann gelangte man bis an jenen Punkt in der Ebene, wo sich die Tore befanden. Man sah die Artefakte, den gleißenden Lichtschein, das Abbild all der Billionen Welten, die sich hier schnitten, des Lebens, das sie trugen. Wie ein wahnsinnig ineinander verzurrtes Knäuel von Moebiusstreifen. Aber wenn man von der Rückseite herankam, hatte die Sache einen Hacken. Man kam nicht hindurch. Die Tore waren nur in einer Richtung offen. Vor ihm gab Petz ein knurrendes Geräusch von sich. Er hielt inne und deutete auf ein seltsames Gebilde, das wie eine Bienenwabe aus rotem Kunststoff aussah.
An den Seiten befanden sich rätselhafte schlanke Fühler aus golden glitzernden Draht. Petz grub das zur Hälfte im allgegenwärtigen Geröll steckende Gebilde aus, sah es wehmütig an und schleuderte es dann wütend fort. Holtzmann begriff, daß es etwas aus Petz’ Welt war. Er legte seinem Gefährten eine Hand auf die Schulter. Petz verstand die Geste. Er blickte ihn an und legte die Zähne frei, um ein Lächeln anzudeuten. Dann zog er den Karren weiter. Sie stießen immer häufiger auf Artefakte. Ein untrügliches Zeichen dafür, daß sie sich dem Tafelberg näherten. Holtzmann sah Fragmente aus tausend Kulturen. Sie säumten den Weg wie aneinandergereihte Exponate eines Museums. Das meiste war so fremd, daß er es nicht einmal als künstlich erkannte, wenn er nicht genau hinschaute. Manches wirkte wie neu, manches war gut erhalten, das meiste befand sich in den unterschiedlichsten Stufen des Verfalls. Hin und wieder erkannte Holtzmann Dinge, die ihm vertraut vorkamen: einen Morgenstern, der irgendwo aus der Erde ragte, eine Drehleier, Comic-Hefte, einen Gedichtband von Rilke, eine verrostete Hakenkreuz-Standarte, einen Mopedmotor, ein maurisches Schwert, ein babylonisches Wandrelief, ein U-Bahn-Stationsschild mit der Bezeichnung »Gleisdreieck«, eine Schachtel Tampons, einen keltischen Schild, eine Videokassette, ein drahtverstärktes Saurierskelett, eine Art Saxophon… Aber daneben gab es unzählige Dinge, die ihm unsäglich fremd vorkamen, technische Geräte, deren Zweck nicht zu erahnen war, Darstellungen von Lebewesen, die ohne Entsprechung im irdischen Tier- und Pflanzenleben waren. Aber die vergleichsweise große Anzahl von menschlichen Artefakten machte ihm Mut. Nie zuvor hatte er soviel davon gesehen, nie zuvor in all den Jahren. Einmal entdeckten sie ein Gebäude mit einer Inschrift, die Holtzmann nicht entziffern konnte. Keine Sprache, die er kannte, hatte solche Buchstaben. Aber unzweifelhaft handelte es sich um eine Art Lebensmittelgeschäft oder -lager. Auch Petz hatte dies erkannt. Sie hielten inne und sahen sich das Gebäude näher an. Es befand sich in ausgezeichnetem Zustand, und die vielen Metalltürmchen auf dem Dach erinnerten ein bißchen an die Nachbildung einer historischen Burg.
Sie gingen hinein, prüfen das Nahrungsmittelangebot und nahmen einiges an Konserven sowie etliche geräucherte Fleischstreifen mit. Als ihre Beine müde wurden, hockten sie sich zu einer Mittagsrast vor einem Gebäude nieder, das wie ein Inkatempel aussah. Sie probierten von den neuen Vorräten. Es war nichts an ihnen auszusetzen. Enttäuschend war nur, daß statt eines exotischen Gemüses die vertrauten Bohnen zum Vorschein kamen, als Holtzmann eine der Konservendosen öffnete. Das Rauchfleisch schmeckte anfangs etwas seifig, entpuppte sich nach den ersten Bissen aber als außerordentlich würzig und wohlschmeckend. Holtzmann bedauerte, daß sie nicht mehr davon mitgenommen hatten. Aber umzukehren lohnte nicht. Es gab immer wieder Gelegenheiten, sich mit Nahrung zu versorgen. Man mußte nur weitergehen. Den einen Weg, den Weg nach vorn.
Als sie sich wieder auf den Weg machten, löste Holtzmann Petz beim Ziehen des Karrens ab. Petz war kräftiger als Holtzmann, aber der Karren war keine so große Last, daß Holtzmann bereit gewesen wäre, mitleidige Unterstützung zu akzeptieren. Petz wußte dies. Sie kannten sich nun schon seit fünf Jahren, und sie waren Freunde geworden. Soweit man das von Gefährten sagen konnte, die nie ein Wort miteinander gewechselt hatten. Petz sprach nie, und Holtzmann war sich ziemlich sicher, daß Petz keines der Worte verstand, die er gelegentlich in seinen Monologen an ihn richtete. Er wußte nicht einmal, ob Petz überhaupt irgendeiner Sprache mächtig war. Obwohl sein Gefährte unzweifelhaft intelligent war – daran gab es keinen Zweifel. Sie verstanden einander auch ohne Worte. Und zu den Übereinkünften, die jeder von ihnen schweigend akzeptierte, gehörte die Verständigung darüber, daß alle anfallenden Arbeiten zu gleichen Lasten verteilt wurden. Also nahm Holtzmann den Karren. Am späten Nachmittag stießen sie auf die Fremden. Es geschah gelegentlich, daß sie auf anderes intelligentes Leben trafen. Manchmal waren es Menschen, wie sie Holtzmann vertraut waren, manchmal Menschen, die irgendwie in die Vergangenheit oder Zukunft von Holtzmanns Welt zu passen schienen. Gelegentlich waren
es Wesen von Petz’ Art. Und zuweilen waren es Fremde, vielleicht Außerirdische. Es machte keinen großen Unterschied. Sie alle folgen ihren eigenen Bahnen, und es gab kaum eine Möglichkeit, sich mit ihnen zu verständigen. Dies galt sogar für jene Menschen, mit denen sich Holtzmann verständigen konnte, weil sie seine Sprache sprachen. Sie hatten einander nichts zu sagen, und selten gingen sie mehr als hundert Meter gemeinsam, bevor sich ihre Pfade unwiderruflich trennten. Es hatte da einmal ein Mädchen gegeben, ein Mädchen in dieser Welt. Es sah aus wie jenes Mädchen aus Paris, dessen Gesicht er zuweilen in seinen Träumen erblickte. Jenes Mädchen, von dem er nicht wußte, ob er es liebte oder haßte. Geliebt oder gehaßt hatte. Oder beides. Er hatte sie zu befragen versucht. Über die Welt, aus der sie beide kamen. Ob sie wußte, was passiert war. Sie wußte es nicht. Es interessierte sie nicht. Er interessierte sie nicht. Er versuchte ihr trotzdem zu folgen. Aber ihr Pfad war nicht der seine. Es sah sie in der Ferne verschwinden, während vor ihm die Welt buchstäblich zerbröselte. Er mußte umkehren. Damals, immer. Es gab nur einen Weg, seinen Weg, den Weg nach vorn. Der Weg nach vorn war der Weg zurück in seine eigene Welt. Etwas unterschied die Begegnung mit den Fremden von fast allen anderen Begegnungen in dieser Welt. Die Fremden waren zu viert. Ein Novum. Einmal waren Petz und Holtzmann zwei schweigsamen Neandertalern begegnet, aber sonst nur einzelnen, einsamen Personen. Ihre eigene Partnerschaft, die Freundschaft von Petz und Holtzmann, ihre Bestimmung, einen gemeinsamen Pfand zu wandeln, schien eine Ausnahme in diesem bizarren Kosmos zu bilden. Und jetzt diese Fremden. Vielleicht war das ein guten Omen. Es hätten eigentlich auch Mönche sein können, die sich ihnen dort näherten. Mönche in langen Kutten, die über den Boden schleiften, mit verhüllten Gesichtern und riesigen Kerzen in der Hand. Aber es waren keine Mönche und keine Menschen, und die Kerzen waren keine Kerzen. Holtzmann spürte dies sofort. Beim ersten Anblick. Instinktiv. Obwohl unter all den Außerirdischen, die er schon gesehen hatte, diese Rasse noch nicht vertreten gewesen war. Trotz der men-
schenähnlichen Statur waren sie – anders. Nun sah er, daß die blinkenden Gegenstände, die wie Kerzen ausgesehen hatten, gleißende Lichtstäbe waren, Produkte einer technischen Zivilisation. In den Lichtstäben waren winzige Bilder zu erkennen, Szenen aus einer anderen Welt. Auch Petz war stehengeblieben. Auch er fühlte, daß diese Wesen nichts mit seinen oder Holtzmanns Leuten gemein hatten. Sein Nackenhaar sträubte sich. Der vorderste der vier Kuttenträger hatte sie fast erreicht. Erst jetzt schaute er auf. Er hatte kein Gesicht. Holtzmann schaute in eine leere Kutte, aus der ihm nur tiefschwarze Nacht entgegensprang. „Rademur! Boss arem rademur!“ drang eine dumpfe Stimme aus dieser Nacht. „Bachatt om rossnot!“ antworteten die drei anderen Kuttenträger düster. Auch sie hatten Gesichter der Nacht. Die Kutte des letzten streifte Holtzmann, als die vier an ihm vorbeihuschten und Holtzmann eine vage Bewegung mit der Hand vollführte. Die Außerirdischen bewegten sich rasch hinein in jenes Land, das nicht zu dem Pfad gehörte, dem Petz und Holtzmann folgten. Für die beiden Gefährten war dieses Land unzugänglich. „Warten Sie!“ rief Holtzmann mit heiserer Stimme. Er wußte nicht genau, was er von den Fremden wollte, aber er hatte das Gefühl, daß er sie nicht so ohne weiteres gehen lassen konnte. Der letzte der Kuttenträger wandte sich um, verharrte eine Sekunde lang im Schritt und reckte ihm seine Lichtsäule entgegen. Die Bilder darin wurden größer, scheinen ihm ins Auge zu springen. Holtzmann erkannte sich selbst. Der Lichtstab zeigte ihn, zeigte in wilden, flirrenden Bildern sein Leben, bevor es ihn in diese Welt verschlagen hatte. Er wußte nicht, wie lange er in dieses Licht starrte. Die Zeit schien stillzustehen. Oder die Bilder waren irrwitzig schnell. Sie waren alles, sie zeigten alles. Vergangenes. Und dann verschwand alles. Er wollte etwas sagen, aber es kam nur ein Krächzen heraus. Er wollte dem Fremden hinterher stürzen, aber die Beine versagten ihm. Der Kutten-
träger hatte sich längst wieder umgedreht und den Lichtstab mit seiner Kutte verdeckt. Mit hastigen Schritten verschwand er hinter einem Felsen. Holtzmann wandet sich wie betäubt Petz zu. Im Gesicht seines Freundes zeichnete sich die gleiche Bestürzung ab wie in seinem. Holtzmann begriff plötzlich, daß Petz in dem Lichtstab etwas anderes gesehen hatte: nicht Holtzmanns Leben, sondern sein eigenes.
Sie verbrachten die Nacht
in einem Metallzylinder, der mit unverständlichen technischen Geräten angefüllt war. Nur ein Teil des Zylinders ragte aus dem Erdreich. Holtzmann hielt ihn für ein Raumschiff. Obwohl dieses Artefakt den Eindruck machte, Tausende von Jahren alt zu sein, hütete sich Holtzmann davor, eines der rätselhaften Geräte entlang den Wänden auch nur zu berühren. Aller Voraussicht nach würde nichts mehr funktionieren. Aber selbst wenn dies anders wäre, so wußte er, daß ein Raumschiff seine Probleme nicht lösen könnte. Holtzmann war sich ziemlich sicher, daß sie morgen die Lichtebene hinter dem Tafelberg erreichen würden. Es gab zu viele Hinweise darauf. Sie hatten ihren Moebiusstreifen wieder einmal auf beiden Seiten umrundet, und waren an den Ausgangspunkt zurückgekehrt. Mechanisch löffelte er die Bohnen in sich hinein und dachte über das Erlebnis mit den Fremden nach. Ob es etwas zu bedeuten hatte? Es mußte doch etwas zu bedeuten haben! Petz teilte ihm weitere Bohnen und etwas Fleisch zu. Beides war kalt, denn heute hatten sie auf ein Feuer verzichtet. Es gab weder Brennholz, noch schien der Metallzylinder ein geeigneter Ort für ein Feuer zu sein. Holtzmann sah Petz ins Gesicht. Ihre Blicke kreuzten sich. Beide tauschten ein müdes Lächeln aus. Ich weiß nichts über ihn, dachte Holtzmann. Nur, daß er mein Freund ist. Zum erstenmal seit langer Zeit nahm er wieder bewußt wahr, daß Petz kein menschliches Wesen war.
Wenn man davon absah, daß er menschlich geformte Hände, einen mächtigen ausgeformten Kopf besaß und aus den Augen Intelligenz und Bewußtsein statt tierischem Instinkt leuchteten, dann sah er eigentlich wie ein zwei Meter zwanzig großer Bär aus. Deshalb hatte Holtzmann seinen Gefährten aus einer Laune heraus auch Petz genannt. Ich frage mich, ob ich die Jahre in dieser Welt ohne Petz überstanden hätte, dachte Holtzmann. Wahrscheinlich wäre ich wahnsinnig geworden. Diese Welt ist keine Welt für einen allein. Und doch sind sie alle allein, die dir begegnen. Als er in seinen Schlafsack kroch, wurde sich Holtzmann plötzlich bewußt, daß die Lichtebene nicht nur den Weg zurück in seine Welt weisen, sondern ihn auch von Petz trennen konnte. Er fühlte Angst nach seinem Herzen greifen. Als er einschlief, quälten ihn Alpträume. Am nächsten Morgen wanderten sie mit zügigen Schritten weiter. Petz zog den Karren. Die Artefakte füllten nun fast jeden Zentimeter des Blickfeldes aus. Ihr Pfad führte sie durch eine Schlucht, deren Wände von Gebäuden gebildet wurden, die aus allen Epochen der menschlichen Geschichte – und der von außerirdischen Wesen – zu stammen schienen. Es gab glitzernde und stumpfe Metallfassaden, Lehmhütten und Paläste, Wohnsilos und Fabriken, idyllische Holzhäuser und grimmige Betonklötze. Einige der Gebäude waren prächtig erhalten, andere präsentierten sich als Ruinen. Viele gingen ineinander über, als hätte man sie übereinander gestülpt oder in Teile zerschnitten und diese willkürlich zusammengeschoben.
Noch im Verlauf des Vormittags erreichten sie den Tafelberg. Holtzmann und Petz traten hinaus auf die Plattform, die wie ein großer Tisch in die Ebene hineinragte. Unter ihnen lag die Lichtebene. Was sich dort unten ausbreitete, war mit der Straßenschlucht vergleichbar, die sie zum Tafelberg geführt hatte. Nur daß sich die Gebäude millionenfach ineinander verschachtelten. Und daß sie nicht aus Stein, aus Holz, Lehm oder Metall, sondern aus Licht gebaut waren. Gleißende Tempel, Burgen, Kathedralen,
Schlösser, Paläste reckten sich in den Himmel, eines neben und in dem anderen, die Essenz der menschlichen Zivilisation. Und irgendwo dort unten führte ein Pfad, sein Pfad, Holzmanns Pfad, durch diese Lichterflut zu einem Tor. Die Lichtebene war das Tor, war ein millionenfach verschachteltes Tor, das unendlich viele Wege in unendlich viele Welten freigab. Und eines dieser Tore führte in die Welt zurück, aus der Holtzmann gekommen war. Oder täuschte er sich? Eine Lichtflut hatte ihn das erstemal in diese Welt entführt. Gab es seine Welt überhaupt noch? Oder war sie auseinandergesplittert. In Moebiusstreifen, ineinander verdreht, konfus verwirrt? Petz deutete auf den Pfad, der seitlich am Tafelberg herabführte. Es war ihr Pfad. Holtzmann nickte. Er umarmte den Freund, und Petz umarmte ihn. Dann stieg er als erster den Pfad hinab. Er sah ihn deutlich, eine dunkle Linie, die in das Lichtlabyrinth hineinführte. Er mußte ihr nur noch folgen. Er fühlte, daß Petz hinter ihm herstapfte. Er nahm den Karren mit. Vielleicht würde Petz ihn benötigen, auf der anderen Seite. Vielleicht würden sie beide ihn benötigen…
Holtzmann dachte an das zurück, was es einst in jener anderen Welt gegeben hatte. War es besser gewesen? War es mehr wert als die Freundschaft zu einem Wesen wie Petz? Er wußte es nicht. Er hatte Angst. Er hatte Hoffnung. Er hatte Angst. Er wußte nichts. Bis auf eines: Ihm blieb keine Wahl. Er mußte dem Pfad folgen. Er mußte seinen Weg gehen. Was hinter ihm lag, war Vergangenheit. Die Erfüllung lag vor ihm. So oder so. Er tauchte in die Lichtflut hinab.
Alexander Amberg Jahrgang 1963 Literaturwissenschaftler und freier Journalist. Bisherige Buchveröffentlichungen: SENI TOURS INC. – ONE WAY-TICKET Kurzgeschichten, Klaus Bielefeld Verlag in Friedland 1998. AUFS KREUZ GELEGT. Ein Thomas M. Marderbange-Krimi Klaus Bielefeld Verlag in Friedland 1999. Im Frühjahr 2001 soll im Geest-Verlag der fantastische Roman HEXEN-KIND erscheinen. Leider spiele ich nicht Geige, und im Fingerhakeln bin ich auch nicht besonders. Im Moment warte ich darauf, daß es endlich wärmer wird, damit ich mein Fahrrad wieder aus der Mottenkiste holen kann.
Alexander Amberg EVA
Ich kehrte von dem Wochenendtrip nach London zurück, zu dem Dr. Katz mir geraten hatte. Die Sonne knallte erbarmungslos herunter, wir hatten 33 Grad im Schatten, und noch nicht einmal der Hauch eines Schmetterlingsflügels bewegte die zu Blei gewordene Luft. „Ist es besser geworden?“ fragte Dr. Katz und sah mich über den Rand seiner Nickelbrille hinweg forschend an.
„Ja, sehr!“ Im Anschluß an die Entziehungskur mußte ich auch noch die Therapie über mich ergehen lassen. Ich konnte von Glück sagen, daß ich damals nicht allein schuld gewesen war; denn sonst hätte ich meinen Führerschein nach ein paar Monaten nicht wiedergesehen. Er nahm mir sogar ab, daß ich nicht mehr trank. Das Zittern war weg, und die paar Tropfen ab und zu waren nun wirklich nicht der Rede wert. Nur die Sache mit Eva nahm er mir krumm. Gleich nach der Sitzung begann ich den Tag im DÉJÀ VU, und um die Mittagszeit fuhr ich in den Supermarkt, in dem ich immer einkaufe. Ich schob den mit Toilettenpapier und Pizza beladenen Wagen zwischen den Regalen durch und spürte einen seltsamen Ruck hinter mir, gefolgt von einem leisen Klirren, als ich bei dem Versuch, einer Walküre auszuweichen, die einen dreijährigen Quälgeist mit sich schleppte, gegen eins der Regale stieß. Ich habe mir schon immer etwas auf meine Reflexe zugute gehalten. Nicht umsonst habe ich früher in der Bezirksliga Handball gespielt. Ich wirbelte herum und fing im letzten Moment eine Flasche auf, die nach der Kollision mit mir dem Gesetz der Schwerkraft folgte. Makellos glatt und fast warm schmiegte sich das Glas in meine Hand. Goldbraun schimmerte darin eine Flüssigkeit. GLENFYDDICH, entzifferte ich auf dem Etikett, und darunter: FINEST OLD SCOTCH WHISKY. Ich nahm das als Zeichen und stellte die Flasche zu meinen übrigen Einkäufen. An der Kasse zahlte ich mit einem Scheck, und nachdem ich alles im Kofferraum meines 73er Triumph verstaut hatte, ließ ich mir beim Friseur nebenan die Haare schneiden. Der kleinen Brünetten, die mich bediente, gab ich ein fürstliches Trinkgeld, das sie mit einem Augenaufschlag quittierte, der meinen Blutdruck steigen ließ. Danach fuhr ich in die Stadt, um mir am letzten meiner drei Urlaubstage in der Fußgängerzone die Zeit zu vertreiben. Ich kann nicht genau sagen, wann sie mir zum ersten Mal auffielen. Irgendwann waren sie einfach da, ein kleiner Dicker in einem dreiteiligen Anzug, der sich unablässig den Schweiß von der Stirn wischte, und ein untersetzter, vierschrötiger Kerl. Er war nur wenig größer als der Dicke, aber insgesamt furchteinflößender, nicht zuletzt wegen der riesigen Pranken, die aussahen, als könne er mit ihnen mühelos einen
Kürbis zerquetschen. Etwas an den beiden war auf eine unbestimmte Art merkwürdig; aber erst nachdem ich eine Dreiviertelstunde im Zickzack durch die entlegensten Straßen gekurvt war, fiel bei mir der Groschen. Was mich stutzig machte, war nicht, was sie trugen, sondern die Art, wie sie es trugen; und obwohl ich im allgemeinen eher unbedarft bin, was Modetrends angeht, hätten mir ihre Frisuren sofort sagen müssen, was Sache war. Die beiden kamen aus Osteuropa. So fuhren sie auch. In den engen Straßen der Innenstadt klebte mir ihr roter Escort regelrecht an der Stoßstange. Trotzdem waren sie immer noch bemüht, nicht aufzufallen. Ich überquerte die Bahnlinie und nahm die Südtangente. Auf der Autobahn trat ich einmal kurz aufs Gas, und weg waren sie. Ich hatte keine Ahnung, was die beiden von mir wollten, und verzichtete darauf, mir den Kopf über zwei Knalltüten zu zerbrechen, die allem Anschein nach nicht bis drei zählen konnten. Deshalb hakte ich unter der Rubrik „schlechter Scherz“ die Sache ab. Den Rest des Tages verbrachte ich mit Nichtstun und richtete es so ein, daß ich spät nach Hause kam. Als ich am nächsten Morgen in der Redaktion eintraf, stapelte sich die Post auf dem Schreibtisch und der Anrufbeantworter war voll. Sigrid begrüßte mich mit einem freundlichen „Guten Morgen!“, bevor sie mir den Kaffee brachte. Ich rief mehrere Leute zurück, darunter den neuen Baudezernenten. Ich nahm an, es ging um die Sache mit der Raffinerie, und war erstaunt, mit welcher Heftigkeit er auf meinen Artikel der Samstagausgabe reagierte. „Hören Sie…“, versuchte ich ihn zu beruhigen, aber er ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen. „Nein, jetzt hören Sie mir mal zu. Ich dachte, ich hätte Ihnen das Konzept dargelegt. Auf dem Gelände der Raffinerie werden ein Industriepark und dreihundert Wohneinheiten entstehen. Das Projekt ist noch in der Planungsphase und es ist keineswegs…“ Jetzt brüllte er: „… hören Sie, keineswegs sicher, daß eine tschechische Firma den Zuschlag bekommen wird! Über die Ausschreibung ist noch nicht entschieden, Sie Schmierenjournalist!“
Das sagte er wirklich: Schmierenjournalist! Meinen Einwand, daß die Tschechen das Raffineriegelände bereits in ein Heerlager verwandelt hätten, ließ er nicht gelten. „Sie wissen, daß manche Arbeiten keinen Aufschub dulden. Das ist ein Millionenprojekt mit einer Vielzahl von Gewerken. Mit einem Entscheid über die Ausschreibung hat das noch gar nichts zu tun.“ „Aber hören Sie…“, versuchte ich wieder mein Glück und beschwor damit einen Schwall herauf, der meinen Satz in der Mitte zerschnitt. Der Tenor war: Ich war ein Idiot und mieser Schreiberling, ich hätte nichts verstanden, und bei Projekten dieser Größenordnung müsse man nun einmal flexibel reagieren. Damit knallte er den Hörer auf die Gabel. Einigermaßen verdutzt betrachtete ich das Telefon und zündete mir eine Zigarette an. Eine halbe Stunde später rief Müller an und hielt mir eine Predigt über journalistisches Ethos und Genauigkeit der Recherche. Ich sagte jaja, schließlich war er der Chef, verstand aber nicht ganz, weshalb er immer wieder auf den Worten „illegale Arbeitskräfte“ herumritt. Ich konnte mich nicht erinnern, in dem Artikel etwas derartiges erwähnt zu haben. „Aber die Implikationen…“, fiel er mir ins Wort. „Sie müssen doch die Implikationen bedenken, die unbedachte Äußerungen haben können.“ Unbedachte Äußerungen? Auf dem Raffineriegelände wimmelte es von Arbeitern, und alles, was ich verstand, war, daß man mir weismachen wollte, daß sich kein Schwein dort aufhielt. Zu denken gab mir, daß er das Gespräch mit dem Hinweis beendete, ich solle mir darüber klar werden, wie eine Zeitung sich finanziere, wenn ich darauf Wert legte, meinen Job zu behalten. „Was draußen an der Raffinerie los ist, sieht doch ein Blinder“, sagte Dieter und knallte mir ein paar Fotos auf den Tisch. Die Abzüge waren noch feucht und zeigten allesamt das rege Treiben auf der Baustelle, von dessen Nichtvorhandensein Müller mich eben überzeugt hatte. Fragend sah Dieter mich an. Ich schüttelte den Kopf. Das Ende vom Lied war, daß ich in der Mittagspause einen extra großen Whisky zu mir nahm.
„Die Subunternehmer heuern Subunternehmer an“, nuschelte Dieter, während er an einer Olive kaute, „und die wiederum Subunternehmer und so weiter, bis es keinem mehr auffällt, daß die armen Schweine, die da rumlaufen, keine Arbeitserlaubnis haben.“ Er nuckelte an seinem Gin Tonic und warf der Bedienung einen schmachtenden Blick zu. Ausnahmsweise waren wir nicht im DÉJÀ VU gelandet, sondern beim Italiener um die Ecke. „Holländische Firmen, englische Firmen, portugiesische Firmen, keine hat etwas mit der anderen zu tun, aber wenn du dir die Köpfe ihrer Faxbögen ansiehst, stellst du fest, daß sie alle ein- und dieselbe Frankfurter Nummer haben. Und auf ihren Baustellen arbeiten einund dieselben Tschechen, Polen und Kroaten. Prost!“ Er hob sein Glas, und ich tat das Gleiche. Er winkte der Bedienung, einer zierlichen Rothaarigen, und bestellte ein Bier zum Nachspülen. „Ne du“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Mit den Jungs aus dem Ostblock will ich nichts zu tun haben.“ Ich war einer Meinung mit ihm, und als sein Bier kam, redeten wir über Fußball und die neue Fußgängerzone, die den Einzelhandel auf die Barrikaden trieb. Weil ich die Nase voll hatte, machte ich eine Stunde früher Feierabend. Als ich nach Hause kam, sah ich Eva im Wohnzimmer. Sie schwebte im Lotosblütensitz einen Meter über dem Teppichboden. Ich schüttelte den Kopf, ging in die Küche und holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank. „Schon zurück?“ Sie lehnte in der Tür, verführerisch lächelnd, mit einem Blick, der mich um den Verstand brachte. Ich hatte sie nicht kommen gehört. „Ja, es gibt nicht viel zu tun“, log ich. Ihre Augen hatten diese gefährliche Grünfärbung angenommen, und ich wußte, daß ich mich besser mit den Tatsachen abfinden sollte. Das Telefon riß mich aus meinen Gedanken. Als ich endlich den Hörer abnahm, war der Anrufbeantworter schon angesprungen. „Ich wußte doch, daß Sie zu Hause sind“, bellte mir Müllers Mezzosopran entgegen. Er hatte mir einen ungemein wichtigen Termin mitzuteilen, der unbedingt aktuell mitmußte.
Ein ungarisches Restaurant, der Besitzer ein wichtiger Anzeigenkunde, feierte in einer halben Stunde sein zehnjähriges Bestehen, und der freie Mitarbeiter, der darüber berichten sollte, sei ganz plötzlich krank geworden. „Schön, schön“, murmelte ich zwischen zusammengepreßten Zähnen. „Wo ist die Bude?“ Sie lag in einem Außenbezirk, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Im Licht der schwindenden Sommersonne traten sich ein paar Nutten die Füße platt, und als ich um die letzte Ecke bog, sah ich auch schon Dieters Golf im Halteverbot. Ich parkte den Triumph dahinter und sagte: „Los geht’s.“ Der Besitzer, ein Mittvierziger mit beginnender Glatze und strahlendweißen Jacketkronen unter einem mächtigen Schnauzbart, überschlug sich fast vor Freude, als er uns sah. Sein Name klang so ähnlich wie Adrian, aber als ich ihn noch einmal danach fragte, meinte er, das tue nichts zur Sache. Als erstes verfrachtete er uns an einen Ecktisch und kredenzte Kaffee. Er war so groß, daß er auf dem Weg zum Tresen den Knoblauchbündeln ausweichen mußte, die überall von der Decke herabhingen. An den Wänden zeigten Kitschgemälde eine ländliche Idylle, die niemals existiert hatte. Während er in groben Zügen die Entwicklung des Restaurants und der Speisekarte schilderte und ich eifrig notierte, knipste Dieter, was das Zeug hielt. Fünf Minuten später hatte er das Innere des Ladens aus jeder erdenklichen Perspektive aufgenommen und wollte sich verabschieden; aber so einfach ließ Adrian uns nicht aus seinen Fängen. „Sie können doch nicht gehen, ohne etwas gegessen zu haben“, lamentierte er und sah dabei aus, als würde er gleich anfangen zu heulen. Schließlich ließen wir uns breitschlagen, und er tischte uns mächtig auf. Während wir aßen, füllte sich das Lokal mehr und mehr. Am Nebentisch nahmen eine feiste Blondine und ein dürres Männchen Platz, etwas weiter weg ein betagtes Paar, das sehr verliebt tat. Eine etwas lärmende Tischrunde, allesamt ältere Semester, schwärmte vom letzten Urlaub am Balaton und bestellte eine Runde schweren Rotweins. Dieter trank einen Schluck Bier, setzte sein Glas ab und sah mich fragend an.
„Warum nicht?“ meinte ich, zuckte die Achseln und drehte mich um, um noch zwei Bier zu bestellen. Dabei fiel mein Blick auf einen Tisch, der hinter der Garderobe halb verborgen in einer Nische stand. Daran saß ein kleiner Dicker, der sich unablässig den Schweiß von der Stirn wischte, und ihm gegenüber ein untersetzter, vierschrötiger Kerl, in dessen riesigen Pranken der Humpen, den er hielt, wie ein Fingerhut wirkte. Als der Dicke bemerkte, daß ich zu ihm rüberstierte, lehnte er sich zurück, um hinter einem Mantel Deckung zu suchen, der trotz der sommerlichen Temperaturen an der Garderobe hing. „Siehst du die beiden Kerle da drüben?“ Dieter nickte gelangweilt. Aber seine Miene wich einem Ausdruck angespannter Erwartung, als ich ihm erklärte, unter welchen Umständen mir die beiden zum ersten Mal aufgefallen waren. Er pfiff leise durch die Zähne: „Die sind hinter dir her.“ Schöne Scheiße. Und warum? „Ist doch klar“, sagte Dieter. „Was hat Müller gesagt über Implikationen und deinen Artikel über das Raffineriegelände? Illegale Arbeiter aus dem Ostblock.“ Er sah mich an, als warte er auf etwas. „Na?“ „Was na?“ „Macht’s jetzt klick?“ „Du meinst…“ Er nickte. „Die Ostmafia hat dich am Arsch.“ Mit einer Mischung aus Mitleid und Bewunderung fügte er hinzu: „In deiner Haut möchte ich nicht stecken.“ „So ein Blödsinn“, sagte ich. „Wer bei der Mafia ist, kann Auto fahren. Außerdem hätten sie mir längst alle Knochen gebrochen, wenn sie es wären.“ Trotzdem standen wir auf und verabschiedeten uns etwas überstürzt. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, daß unsere beiden Knalltüten sich ebenfalls in Bewegung setzten. „Mach’ schon!“ rief ich Dieter zu, aber er spurtete bereits los, die Autoschlüssel in der Hand. „Ist es besser geworden?“ fragte Dr. Katz und sah mich über den Rand seiner Nickelbrille hinweg an. „Danke, sehr!“
„Sehen Sie Ihre Frau noch?“ fragte er. Vor einer halben Stunde hatte sie mir zum Abschied zugewinkt. Aber wenn ich ihm das erzählte, würde ich in einer Anstalt enden. Ich wußte, was er hören wollte. „Nein, natürlich nicht“, log ich. Wie denn auch? Prüfend blickte er mir in die Augen. Was er da sah, schien ihm zu gefallen, denn er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schmunzelte leicht. Dabei spielte er geistesabwesend mit seiner kalten Zigarre. Sie hatte neben mir gesessen, als es passierte. Wie aus dem Nichts war dieser Laster vor uns aufgetaucht, er kam direkt auf uns zu, und dann… „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der ein Trauma so schnell überwindet“, sagte Dr. Katz. Klang in seiner Stimme eine Spur Ironie mit oder bildete ich mir das nur ein? Sie war tot, sicher, aber wir liebten uns, und war es da nicht normal… Er war aufgestanden. „Wir sehen uns in zwei Wochen wieder.“ Damit reichte er mir die Hand. Die Audienz war beendet. Seine Sprechstundenhilfe, eine etwas magere Brünette, warf mir einen abschätzenden Blick zu, während sie mir einen neuen Termin gab. Im Büro gab es wenig zu tun, eigentlich nichts außer dem üblichen Mist wie die Post sortieren oder das Telefon anstarren. Aus Langeweile versuchte ich, meine Kollegen ein bißchen zu mobben, aber auch das vermochte mich nicht lange zu beschäftigen. Also beschloß ich, die Mittagspause vorzuverlegen, und ging zum Inder um die Ecke. Dort kannte man mich, ich wurde freundlich begrüßt. Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, kam auch schon der Besitzer, ein gewisser Sri Batesh Nochwas, strahlend auf mich zu, fragte, wie es mir gehe, und versuchte, mir eine Frau aufzuschwatzen. „Bildschön“, sagte er und küßte seine Fingerspitzen. „Noch keine siebzehn Jahre alt. Sie lebt in Indien, könnte aber…“ „Halt-halt-halt!“ unterbrach ich ihn. „Ich bin schon verheiratet!“ Darauf sah er mich merkwürdig an. „Ihre Frau ist tot“, flüsterte er heiser. „Ich möchte nur etwas trinken und einen Happen essen, okay!“ Bedauernd zuckte er die Achseln. „Wirklich bildschön“, murmelte er. Gleich darauf kredenzte er mir ein ganzes Wasserglas voll Whisky.
Als ich zurück ins Büro kam, erfuhr ich von der Sache mit Dieter. Jemand hatte ihn in der vergangenen Nacht mit einem Baseballschläger traktiert und ihm dabei den Kiefer und das Nasenbein zertrümmert, sämtliche Rippen gebrochen und die Eier gequetscht. Er lag im städtischen Krankenhaus und war noch nicht vernehmungsfähig. Mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken. Unsere beiden Knalltüten waren gefährlicher, als sie aussahen. Was, wenn sie mich erwischten? Was wollten sie überhaupt? „Von den Tätern keine Spur“, berichtete Sigrid mir in bedauerndem Tonfall, aber mit leuchtenden Augen. Sie mochte Dieter noch nie so recht leiden. „Bitte?“ Ich sah sie kurz an und versank wieder in meinen Gedanken. Was sollte ich tun? Nach Hause brauchte ich gar nicht erst zu gehen, denn Eva war tot, zermatscht bei diesem gräßlichen Unfall. Das hatte Sri Batesh Nochwas gemeint. Ich hatte mich besoffen ans Steuer gesetzt, und dann kam dieser Laster… Jetzt blieben mir nur noch meine Wahnvorstellungen und Hirngespinste. Aber ich mußte der Realität ins Auge sehen, und die Realität war, daß ein paar Verrückte Dieter die Eier zerquetscht hatten, weil er auf ihrer Baustelle illegale Arbeiter fotografierte. Und als Nächster war aller Wahrscheinlichkeit nach ich dran. Was also sollte ich tun? Ich tat das, was ich in verzwickten Situationen immer zu tun pflege. Ich suchte Trost bei einer großen Flasche Scotch. Irgendwann warf die Dicke, die im DÉJÀ VU hinter dem Tresen stand und den ganzen Tag lang verdrossen an irgendwelchen Gläsern herumwischte, mich ‘raus. „Wir schließen“, war das letzte, was sie zu mir sagte. Dann fing die ganze Welt an, sich um mich zu drehen. Irgendwie schaffte ich es nach Hause. Mühsam fingerte ich nach dem Schlüssel, doch ich hatte Mühe, ihn ins Schlüsselloch zu bekommen, weil die Tränen mich halbblind machten. Als die Tür hinter mir ins Schloß fiel, heulte ich richtig los. Hemmungslos schluchzte ich vor mich hin. Aber trotz meines bedenklichen Zustands war ich noch nicht so außer Gefecht, daß ich den Weg zum Kühlschrank nicht mehr gefunden hätte. Ich nahm mir ein Bier, trank einen Schluck und…
„Was ist denn mit dir los? So habe ich dich ja noch nie gesehen.“ Es war Eva. Sie stand in der Tür und trug meinen Bademantel. Darunter hatte sie nur ein Neglige an. Ihre Augen hatten auf einmal diesen gefährlichen Grünschimmer. „Geh’ weg“, heulte ich. „Du bist tot! Ich habe dich umgebracht.“ „Du meinst den Unfall?“ Ich nickte. Das Phantom verschwand. War das so einfach? Nun war ich allein und sah mich um in der trostlosen Wohnung, mir ihrer Leere trotz meines Zustandes zum ersten Mal richtig bewußt. Schluchzend krabbelte ich zum Herd, drehte das Gas auf in der Absicht, aus dieser Welt zu scheiden, und nuckelte weiter an meinem Bier. Ich mußte eingeschlafen sein, denn irgendwann weckte mich ein Klirren. Es kam aus dem Wohnzimmer. Ein Klirren? Ich schreckte hoch und versuchte, etwas zu sehen. Das einzige Licht, das brannte, kam aus dem Kühlschrank. Ich hatte wohl die Tür offengelassen. Dann sah ich einen hellen Punkt, der im Flur auf- und ab tanzte. Erst als ich Stimmen hörte, merkte ich, daß es der Strahl einer Taschenlampe war, und mir war klar, daß jetzt auch ich Besuch bekam. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ war alles, was ich denken konnte. Das Licht ging an. Eine gutturale Stimme sagte etwas in einer merkwürdigen Sprache, und als ich meinen Fokus endlich richtig eingestellt hatte, standen Pat und Patachon in der Tür, die beiden Knalltüten, die Dieter fertiggemacht hatten. Der Dicke wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte mit einem starken Akzent: „Wen haben wir denn da?“ Sein vierschrötiger Kollege ließ den mächtigen Baseballschläger, den er in seiner rechten Pranke hielt, fast liebevoll auf die Handfläche der geöffneten Linken klatschen. Ich wollte etwas so Sinnvolles sagen wie „Was machen Sie hier?“ oder „Machen Sie, daß Sie ‘raus kommen, sonst mache ich Ihnen Beine!!!“ Aber vor lauter Angst hatte es mir die Sprache verschlagen. Ich hatte nur noch Augen für den Baseballschläger, der gnadenlos auf diese riesige Pranke klatschte. Der Dicke zog mich von meinem Stuhl hoch und schubste mich gegen die Wand, während sein Gorilla dro-
hend auf mich zukam. Ich wich zurück in den Flur und sah aus dem Augenwinkel, wie der Dicke eine Packung Zigaretten aus der Brusttasche zog und nach seinem Feuerzeug fummelte. Irgend etwas in mir reagierte panisch darauf, obwohl ich vor kurzem noch hatte sterben wollen. „Das Gas“, dachte ich und wollte ihm zurufen, er solle es bleiben lassen. Aber in diesem Moment wuchs der Baseballschläger vor mir in den Himmel und senkte sich in einem eleganten Halbkreis auf mich herab, katapultierte mich quer durch den Flur. Ich sah einen hellen Schein und hörte ein lautes Krachen, vielleicht auch umgekehrt, alles drehte sich rasend schnell um mich, die ganze Welt schien in Bewegung… Als ich aufwachte, hatte ich einen schrecklichen Brummschädel und sah in Evas Gesicht. Nur daß es gar nicht Eva war, sondern eine Krankenschwester, die beruhigend auf mich einredete und mir zulächelte. Eva hatte neben mir gesessen, als der Lkw sie zerquetschte, ich war auf ihrer Beerdigung gewesen und… Da war noch jemand im Zimmer. Er fragte mich nach den beiden Knalltüten, die jetzt wahrscheinlich Flügel hatten – wohl ein Polizist. Ich sah ihn verständnislos an und murmelte „Einbrecher“ und „Keine Ahnung!“ Er fragte noch irgend etwas, ich hörte das Wort „Explosion“, aber die Schwester unterbrach ihn und drängte ihn zur Tür. Ich schloß für einen Moment die Augen und dachte an Eva. Die Schwester sagte etwas und warf mir einen mitleidigen Blick zu. Als sich die Tür hinter ihr schloß, merkte ich, daß ich weinte.
Alexander Amberg LITERATURSTREIT „Ein Poet ist ein feingestimmtes Instrument, ein Gedicht eine leise Melodie, die im Wind verweht, ein Roman das große Opus vieler
Stimmen. Literatur ist wie Musik, und nur die Feinsinnigen können sie genießen.“ Ich denke, irgendwo hatte er sicher recht. Trotzdem ritt mich der Teufel. „Und was ist mit dem Rock’n’Roll?“ fragte ich dazwischen. Jeder zahlt seinen Preis, und der Preis dafür, ein Schriftsteller zu sein, ist hoch. Eva warf mir einen mißbilligenden Blick zu, aber ich achtete nicht darauf. Sie hatte mich zu dieser Party mitgeschleift, und jetzt sollte ich mir das seichte Gewäsch dieses Möchtegerns anhören. Er hatte einen Gedichtband veröffentlicht, Gott bewahre. Als ich das Ding durchblätterte, mußte ich mit dem Reiz kämpfen, mich zu übergeben. Da stand ein Satz drin wie: „Doch jeder tötet, was er liebt, und daß es jeder hört: der eine tötet mit ‘nem Blick, der andre mit ‘nem Wort, der Feigling tötet mit ‘nem Kuß, der Tapf’re mit dem Schwert.“ Die Stelle kannte ich. Das war Oscar Wilde, aus der BALLAD OF READING GAOL. Der Kerl hatte geklaut. Sie konnte doch nicht allen Ernstes erwarten, daß ich mir das Geseiere anhörte, ohne diesen Verbrecher zu züchtigen. Wie gesagt, es war nicht, was er von sich gab, was mich so störte. „Im Gegenteil, auch ich schätze Oscar Wilde. Aber um am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine Poetik aufzustellen, genügt das nicht“, sagte ich. „Man muß zumindest die Quantentheorie erklären können und vor Holocaust und Overkill vor Schreck erstarren.“ Ansonsten wäre die Lyrik nichts als Epigonentum, um es einmal harmlos auszudrücken. Verständnislos sah er mich an. Ich schnappte mir mein Glas und stand auf. „Haben Sie schon Ihren Albatros getötet?“ fragte ich. Er machte große Augen.
„Natürlich nicht“, winkte ich ab und schwankte von dannen, zwischen miniberockten Studentinnen und parfümierten Lackaffen hindurch, die in ihren Bundfaltenhosen und Slippern mehr als lächerlich wirkten. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Menge der Tanzenden. Ein Typ mit blondem Stoppelhaar und Muscle-Shirt unter dem Sakko stieß mir den Ellenbogen so fürchterlich in die Rippen, als er seine grellgeschminkte Freundin umherwirbelte, daß mein im Kronleuchterlicht goldglänzender Glenfiddich fast überschwappte. „Paß doch auf, du Arsch“, keuchte ich. „Was!? Was hast du gesagt!?“ Augenblicklich zeigte er kein Interesse mehr daran, seine Partnerin beim Umherschwenken zu befummeln. Er nahm sogar die Hand von ihrem Hintern. Eine sehr große Hand, wie mir in diesem Augenblick auffiel. Der Kerl war garantiert kein Lyriker, und wie er sich da so großmäulig vor mir aufbaute, beschlich mich die dumpfe Ahnung, daß ich als Demonstrationsobjekt herhalten sollte, damit er der Frau imponieren konnte. „Ich habe dich doch nur gebeten, ein bißchen aufzupassen“, sagte ich beschwichtigend. Aber als ich das süffisante Grinsen sah, das um seinen stupiden Mund spielte, gewann der Alkohol die Oberhand, und ich fügte hinzu: „Du Arsch!“ Das war’s dann auch. Ich sah nicht, wie er ausholte, die Tussi kreischte begeistert, und ich flog auf einmal quer durch den Saal. Mein Glas schwappte nun doch über und fiel mir aus der Hand, als ich krachend im Buffet landete. Ich lag auf dem Rücken und zappelte wie ein Maikäfer, während ich hörte, wie der Typ unaufhaltsam näher stürmte. Unaufhaltsam? Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich Eva neben ihm und streckte ihren Fuß aus. Der blonde Schwachkopf hob ab, zu Fall gebracht von ihren Pumps, und landete neben mir im Buffet. „Tolle Nummer“, dachte ich, aber schon war Eva über mir und zog mich hoch, ihr Gesicht vor Wut verzerrt. So hatte ich sie noch nie erlebt. „Komm’ schon“, zischte sie, und: „Reiß dich einmal zusammen.“ Ich schaffte es, mir von einem Tablett noch ein Glas zu angeln, bevor sie mich wegzerrte. Ich sagte irgend etwas, als sie mich nach
draußen und in den Käfer verfrachtete, aber mittlerweile drehte sich die ganze Welt um mich und sie hörte mir nicht mehr zu. Zuhause angekommen schleppte sie mich ins Schlafzimmer und fing an mich auszuziehen. Sie wollte mich allen Ernstes ins Bett stecken. Aber so besoffen war ich noch nicht. Als sie mir die Hose auszog, rutschte meine Hand unter ihren Rock. Sie zerrte und riß an mir, immer noch wütend, aber da war noch ein anderer Ausdruck auf ihrem Gesicht… Irgendwann schlief ich ein, lange, nachdem sie sich in meinem Arm zusammengerollt hatte, und ich hielt mich für einen tollen Kerl – aber nur bis zum nächsten Morgen, als ich mit einem mordsmäßigen Kater aufwachte und es mit einer keifenden Eva zu tun bekam, die in einer Tour wissen wollte, warum ich ihr gestern den Abend verdorben hatte. Verdorben? Erst mußte ich die Ergüsse eines Möchtegern-Lyrikers über mich ergehen lassen, dann wurde ich von einem Monster angegriffen… „Kannst du dich nicht wenigstens einmal benehmen…“, zischte sie. Das Lamento nahm kein Ende. Also beschloß ich, einen Spaziergang zu machen und mir die Sonne auf die Nase scheinen zu lassen. Als ich ging, rutschte meine Hand von der Klinke ab. Krachend fiel die Tür ins Schloß. Ich schwöre, daß es keine Absicht war.
Eddie M(onika) Angerhuber Geboren 1965 in München. Lebt seit 1981 in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen von Kurzgeschichten aus den Bereichen Science Fiction und Phantastik in diversen deutschen Fanzines. 1997-2000 Mitarbeit bei Edition Metzengerstein/Blitz-Verlag (Übersetzung von Erzählungen und Romanen aus dem Englischen). EMA absolviert momentan eine berufliche Weiterbildung zum Webmaster, die Anfang 2002 enden wird. Danach möchte sie wieder in der Internetbranche arbeiten. - 1993 bis 1998 Herausgabe des Literatur-Fanzines „Fleurie“. Bibliographie: - 1997 IN ASMODIS HAUS, Erzählungen (Goblin Press, Koblenz) - 1998 DIE VERBORGENE KAMMER, Erzählungen (Edition Metzengerstein, Kerpen) - 2000 DAS VERBORGENE, Roman (Klaus Bielefeld-Verlag, Friedland) Darüber hinaus erschien eine Anzahl von Erzählungen in Anthologien. In Vorbereitung: - eine Sammlung von Erzählungen bei Edition Medusenblut - NOCTURNAL PRODUCTS (Erzählsammlung in eigener Übersetzung), BJM Press, Großbritannien - Erscheinen mehrerer Stories (Koproduktionen mit John B. Ford, Thomas Ligotti und anderen Autoren) in Großbritannien/USA
Eddie M. Angerhuber KRALLENSPUREN
Der Tag war eisig kalt und das Haus ein ärmliches. Friedhelm Kapek steckte kopfschüttelnd die Hände in die Achselhöhlen und drehte sich auf dem Absatz um sich selbst. So windschief hatte er das Anwesen nicht in Erinnerung. In seinen Gedanken war es ein hübsches Häuschen gewesen, klein zwar, aber irgendwie strahlend, mit einer Reihe nickender Sonnenblumen vor der Südfront, die höher gewesen waren als er, sogar höher als die Gestalt Onkel Hermanns, dem alles gehörte. In den Schulferien war Kapek von seinen Eltern hierher geschickt worden, er war mit dem Bummelzug aus der Stadt gekommen, was stets ein großes Abenteuer für ihn darstellte. Onkel Hermann hatte ihn vom Bahnhof abgeholt, eine beinahe quadratische, kompakt gewachsene Figur mit nackter Kopfhaut über einem dünnen Haarkranz. Lustig, so hätte man Onkel Hermann wohl am ehesten beschreiben können: ein gutgelaunter kleiner Mann, dessen Gesicht Lachfalten trug und dessen Augen fast in den feisten Speckwülsten verschwanden. Und das sollte jetzt also das Haus von Onkel Hermann sein – diese stockfleckige Hütte mit den auseinanderfallenden Fensterläden und dem löchrigen Dach? Auf der anderen Seite des Zauns tauchte kurz das Gesicht einer Nachbarin zwischen den Ligusterbüschen auf, aber sie zog sofort den Kopf zurück, als sie ihn dort stehen sah. Bevor er sie ansprechen konnte, war sie schon wieder weg. Ein freundlicher Empfang! Kopfschüttelnd ging Kapek hinüber zu der rissigen Holztür und zwang den Schlüssel mit Gewalt in das Schloß. Das Innere des Häuschens war desolat, dämmrig und feucht. Der schale Geruch der seit langem ungelüfteten Räume verband sich zu einer ekelerregenden Mischung mit dem Geruch hohen Alters, unsauberer Wäsche und süßlicher Ausdünstungen, wie ungepflegte alte Menschen sie bisweilen haben.
Das verbliebene Mobiliar stand verstreut in den niedrigen dunklen Räumen herum. Alles wirkte sehr unwohnlich und unbenutzt, obwohl die Gebrauchsspuren an allen Gegenständen deutlich zu sehen waren. Vielleicht hatte Onkel Hermann in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr viel angefaßt, sondern nur noch in seinem Ohrensessel unter der noch aus den fünfziger Jahren stammenden Stehlampe mit dem gebogenen Messingstab gesessen und vor sich hingestarrt, auf das Ticken der Schwarzwälder Uhr und das Verrinnen seiner Lebenszeit gewartet. Diese Vorstellung war so unangenehm, daß Kapek einen Schauder fühlte, der die Haare seiner Unterschenkel gegen den Strich aufstehen ließ. Vielleicht war es aber auch nur die dumpfige, klamme Luft, die ihn frösteln ließ. Rasch wandte er sich ab und durchschritt die insgesamt drei Zimmer mit absichtlich festen Tritten. Das Geräusch seiner Absätze auf dem Dielenboden klang laut und knallend, fast wie ferne Schüsse. Kapek zwang sich, nicht darauf zu hören. Das Schlafzimmer, in dem er als Junge während der Sommerferien genächtigt hatte, war der deprimierendste von allen drei Räumen. Das altmodische, mit seinem altersdunklen Kopf- und Fußteil beinah wie ein Pferdefuhrwerk wirkende Bett füllte den halben Raum aus und schien gewaltsam in die Fensterecke gezwängt worden zu sein. Er konnte sich daran erinnern, wie er an den brütend heißen Augustabenden in diesem Bett gelegen und einzuschlafen versucht hatte, über dessen Kopfende eine schwache Lampe vergeblich gegen die durch die Fenster hereinschleichende Finsternis ankämpfte. Onkel Hermann hatte in dieser Zeit immer im Wohnzimmer auf dem Sofa geschlafen, und es war ein spannendes Abenteuer gewesen, sich im Morgengrauen an ihm vorbeizuschleichen, wenn der Drang nach der Toilette zu stark wurde. Es war unmöglich, auf dem knarrenden Dielenboden einen lautlosen Schritt zu gehen. Dennoch war Onkel Hermann niemals aufgewacht, oder vielleicht hatte er es sich nur nicht anmerken lassen. Dies waren also die Räume der längst entrückten Kindheit, die so fern schien, daß sie ihm wie die in einem Buch gelesenen Aufzeichnungen eines Fremden vorkamen. „Man sagt, die Distanz verklärt und vergrößert alles“, murmelte er leise, erschrocken über den Widerhall, den seine Stimme in den kah-
len Zimmern hervorrief. „Das wird’s wohl sein. Schließlich bin ich seit dreißig Jahren nicht mehr hier gewesen.“ Er drehte sich abrupt um und steuerte auf das helle Viereck der Haustür zu. Mit einer knappen Bewegung warf er die Tür zu und drehte den Schlüssel gewaltsam im Schloß; es war ihm egal, ob er abbrach und darin steckenblieb. Mit dieser Hütte wollte er nichts zu tun haben. Er würde sie abreißen lassen, so schnell wie möglich. Die Stadtwerke hatten sowieso schon angefragt, ob er verkaufen wollte, da die geplante ElektrizitätsHochleitung genau über das Grundstück verlief. Eine günstigere Gelegenheit, das ungeliebte Erbe loszuwerden, würde sich kaum bieten. Als er mitten in dem verwilderten Obstgärtchen mit den Apfel- und Birnbäumen stand, die Hände in die Hüften gestützt, und die Luft des offenen Himmels in tiefen Zügen einsog – welch eine Wohltat nach dem Mief im Innern des Hauses –, fiel sein Blick auf die windschiefe, hinter einem Dickicht aus Brennesseln und ins Kraut geschossenen Bohnenranken verborgene Gartenhütte. Ein Mittelding zwischen Geräteschuppen und Stall, hatte diese Hütte für ihn als Kind die abscheulichsten Geheimnisse und sonderbarsten Rituale enthalten, die sich ein gelangweilter Stadtjunge ausdenken konnte. Hier vegetierten in ewigem Halbdunkel Generationen von Kaninchen in Holzkisten vor sich hin und warteten auf den Tag, an dem Onkel Hermann ihnen mit einem geübten Handkantenschlag den Garaus machte. Nicht mehr als Sonntagsbraten, lebende, atmende Sonntagsbraten mit weichem Fell und absurd zuckenden rosa Nasen waren diese Tiere für ihn gewesen. Ihrer Vorbestimmung konnten sie ebensowenig entgehen wie Onkel Hermann oder Friedhelm Kapek der ihren; jeder hatte seine eigene Vorbestimmung. Diese Erkenntnis war dem Kind in dem schmutzigen Stall gedämmert, eine unerhörte, beängstigende Erkenntnis, über die man stundenlang nachdenken konnte, in der Astgabel eines Obstbaumes oder mit baumelnden Beinen auf dem Teppich von Onkel Hermanns Wohnzimmers liegend. Die Hütte hatte in den alten Tagen auch eine Sammlung von Gartengeräten, rostigen Eimern und einen Stapel Brennholz enthalten, das Onkel Hermann eigenhändig zerhackte und mit dem der gußeiserne Küchenherd befeuert wurde. An der Stirnwand mit dem einzigen
Fenster hatten einige Zwerghühner ihre Eier in strohgefüllte Obstkisten gelegt, waren zischend und gackernd durch einen winzigen Durchlaß, der kaum einer Katze Raum geboten hätte, ein- und ausgeschlüpft, um im Garten zu scharren und zu picken. Die Hütte war Friedhelms Lieblingsversteck gewesen, gleich nach dem Wiesenbach, der einige hundert Meter hinter der Kate vorbeilief und an dessen Ufern er alle Jahre wieder die gleichen Spielgefährten traf. Kapek schlenderte zu der Hütte hinüber, vorsichtig darauf bedacht, mit seinen Stadtschuhen nicht in die Schlammpfützen zu treten, die der Winterregen im durchweichten Gras hinterlassen hatte. Er konnte jedoch nicht verhindern, daß von den Ranken und Nesseln ein Schauer widerhakenbewehrter Samen auf seine Hosenbeine herunterfiel, die hartnäckig hafteten und die er nur durch kräftiges Bürsten würde entfernen können. Fluchend stieß er die Tür der Hütte auf und spähte hinein, widerwillig, das Innere zu betreten und sich die Kleider noch mehr zu beschmutzen. Staubpartikel tanzten wie Mücken in dem breiten Streifen Sonnenlicht, der durch die offene Tür in das Innere der Hütte fiel. Es war kaum etwas zu erkennen, aber nach und nach schälten sich die Umrisse einiger Gegenstände aus dem Dunkel, die ihn zuerst an eine Ansammlung deformierter Körbe aus filigranem Flechtwerk erinnerten. Dann erkannte er in ihnen eine Unmenge alter Vogelkäfige, die kreuz und quer übereinandergestellt oder an die Wände genagelt worden waren und ein heilloses Durcheinander bildeten. Es gab die unterschiedlichsten Typen von Käfigen: Von der großen Papageienvoliere bis zu der beengten Behausung eines Kanarienvogels war alles vertreten. Onkel Hermann mußte ein besessener Sammler von Vogelkäfigen gewesen sein. Aber Kapek konnte sich nicht daran erinnern. „Die waren doch früher noch nicht da. Wozu hat er die vielen Käfige gebraucht?“ sagte er nachdenklich zu sich selbst. Die Neugier in ihm war erwacht, und entgegen seiner ursprünglichen Absicht trat er unter das Dach der Gartenhütte, die einen Regen aus Staub und Rost über ihm ausschüttete. Onkel Hermann hatte die Käfige offenbar nicht nur gesammelt, sondern sie waren auch bewohnt gewesen. Alle Käfigböden waren bedeckt mit Vogelsand, den leeren Schalen von Sonnen-
blumenkernen und ähnlichen Hinterlassenschaften ihrer gefiederten Insassen. Angestrengt starrte Kapek auf den weißen Sand herunter, der durchzogen war von Unmengen zarter, bleistiftstrichdünner Linien. Es mußte sich um die Fußabdrücke der Vögel handeln, und doch sahen sie irgendwie atypisch aus; viel zu gleichmäßig für Tierspuren, auf verquere Art und Weise einer derangierten Keilschrift ähnelnd. Kapek starrte darauf, bis seine Augen schmerzten, gewann aber keine weiteren Erkenntnisse. Ratlos verließ er die Hütte. Während er den Kiesweg zum Gartentor hinunterstapfte, dachte er darüber nach, was für Vögel Onkel Hermann wohl in solch großer Zahl in dem Schuppen gehalten haben mochte. Onkel Hermanns Begräbnis fand zwei Tage später statt. Anstelle ihn gleich zu beerdigen, hatten die Behörden ihn noch eine Zeitlang da behalten, wie der Beamte sich mysteriös ausdrückte, wohl um irgendwelche näheren Umstände seines Ablebens zu untersuchen. Es war aber nichts dabei herausgekommen, der medizinische Befund lautete nach wie vor auf Tod infolge eines Herzinfarkts. Sonderbar war das schon, da Onkel Hermann nie ein schwaches Herz gehabt hatte – aber wer wußte schon genau, warum alte Leute plötzlich starben, über Nacht, scheinbar friedlich in ihren Betten schlafend? Vielleicht eine Frage des nicht mehr vorhandenen Lebenswillens. Ich werde es selbst früh genug herausfinden, dachte Kapek zynisch auf dem Weg zum Friedhof. In der Nacht war Schnee gefallen, der erste Schnee des Winters. Die Temperatur war plötzlich so gesunken, daß der Schnee sogleich liegenblieb und nun eine puderige Schicht auf all den häßlichen, von der Kahlheit des Winters entstellten Gegenständen ringsum bildete. Das reine Weiß war erfreulich für die Augen, aber sicherlich unerfreulich für die Totengräber, die das Grab für Onkel Hermann hatten ausheben müssen. Kapek wußte: In der alten Zeit war es manchmal unmöglich gewesen, die Toten zu beerdigen, wenn der Boden steinhart gefroren war – heutzutage gab es Bagger und Bohrer, denen der Frost nicht standhalten konnte. Seltsam, wie wenig wir über diese Dinge wissen, ging es ihm durch den Kopf, als er aus dem Auto stieg und sich auf dem Fußweg zur
Kapelle den Mantel zuknöpfte. Wir leben so weit entfernt von unseren Toten, daß wir nicht mal mehr wissen, wie man im Winter die Gräber aushebt. Mit diesen morbiden Gedanken reichte er dem verbindlich lächelnden Pfarrer die Hand, der an der Kapellentür die wenigen Trauergäste begrüßte. Die Zahl von Onkel Hermanns Angehörigen war nicht groß; es war ein aussterbender Zweig der Familie und Friedhelm Kapek und seine Schwester die letzten, kinderlosen Abkömmlinge dieses Zweiges. „Roderick und Madeline Usher“, pflegten sie scherzhaft zu sagen. Bei den anwesenden Verwandten handelte es sich um betagte Großtanten und Kusinen, deren Gatten und Brüder schon längst verstorben waren; Kapek gelang es nicht, sich vorzustellen, wie alt einige dieser schwarzverhüllten Greisinnen sein mochten, die mit alterstattrig nickenden Köpfen in den Bankreihen kauerten. Er kannte kaum jemanden von ihnen. Die Rede des Pfarrers war kurz; es gab keine Musikanten; der Weg zum Grab war schnell hinter sich gebracht, und schon senkte der einfache Eichensarg mit seinem düsteren Inhalt sich hinab in die Tiefen des eröffneten Erdreichs. Ringsum lag der frisch gefallene Schnee in strahlend jungfräulicher Pracht. Kaum eines Friedhofsbesuchers Fuß hatte diese glitzernde Decke durchbrochen. Nur die Spuren der Vögel zogen sich wie ein Netz aus feinen Strichen über seine Oberfläche. Kapeks Blick, der abwesend über die Reihe der Grabsteine weiter hatte wandern wollen, kehrte unvermittelt zu den Vogelspuren im Schnee zurück. Sie ähnelten den Vogelspuren in den Käfigen in Onkel Hermanns Gartenhütte auf sonderbare Art. Aber Vogelspuren ähnelten sich gewiß wie ein Ei dem anderen für das ungeübte Auge eines Nicht-Ornithologen. Und dennoch, dennoch… mehr als eine zufällige Ähnlichkeit, diese schräg abfallenden, wie zu einer Keilschrift zusammengesetzten Striche, so ungewohnt, gar nicht wie die zufällig hingestreuten Fußabdrücke anderer Tiere. Der Pfarrer drückte Kapek das langstielige Schäufelchen in die Hand. Eine oder zwei der uralten Frauen schluchzten leise, gestützt von ihren ebenso gebrechlichen Schwestern. Rasch entschlossen verließ Kapek mit langen Schritten den Friedhof. Nein, er würde nicht am Leichenschmaus teilnehmen. Diese verlogene Festivität sollte seine
Familie nur schön ohne ihn absolvieren. Er setzte sich in sein Auto, drehte das Radio auf und fuhr zügig über die Stadtautobahn nach Süden. Kapek hatte sich den Tag im Büro für das Begräbnis frei genommen. Er hatte nichts zu tun, er konnte sich den Rest des Tages frei einteilen. Er beschloß, eine Art Kurzurlaub daraus zu machen. Hinter den Vororten der Stadt erhob sich ein Wall dunkler Wälder, durchfurcht von den Schneisen der Autobahnen und Landstraßen, ging weiter nach Süden in die sanften Ausläufer des Alpenvorlands über. Kapek stellte den Wagen in einer Parkbucht unter den von Schneemassen gebeugten Bäumen ab und wanderte unentschlossen zwischen den Tannen herum. Der Wald lag, abgesehen von vereinzelten Vogelrufen, in absoluter, traumartiger Stille. Eine beinah gespenstische Atmosphäre herrschte unter den feuchtschwarzen Ästen, den wie Gußeisenschäfte aufragenden Stämmen der Nadelbäume. Hin und wieder fiel eine Schneelast von den Ästen und zerstäubte mit dumpfem Laut und sterngleich glitzerndem Puder in den hereinfallenden Streifen Sonnenlichts. Kapek fühlte eine befremdliche Unruhe in seinem Innern, eine schmerzhafte Regung, die nicht seiner Trauer über Onkel Hermanns Hingang entstammen konnte. Er war ein unsentimentaler Mann, kleiner Beamter in der Kreisverwaltung, vierzig Jahre alt, unverheiratet, ungebunden; er hatte niemals allzuviel Gefühl für jemand anderen übrig gehabt. Emotionen erschienen ihm in ihrer unkontrollierbaren Launenhaftigkeit als Charakterschwäche, die auszumerzen eines Mannes Pflicht war, wenn er selbstbestimmt über sein Leben herrschen wollte. Er war nicht der Typ für sentimentale Winterspaziergänge und heimliche Tränen wegen des Todes eines Familienmitglieds, das er als Kind zum letzten Mal gesehen hatte. Und doch fühlte er dieses unerklärliche Ziehen, das seinen Atem flacher gehen ließ und unter seinen Rippen schmerzte. Auf einer kleinen Lichtung machte er halt, klopfte sich den Schnee von den Schuhen und ließ den Blick schweifen. Vor ihm lag eine Kulisse wie aus einem surrealistischen Sechzigerjahrefilm, nichts als Weiß in weich gegossenen Formen, Halbkreise und Bögen bildend, aus deren Glattheit hier und da ein paar starre Gräser oder ein schwar-
zer Zweig aufragten. Das Sonnenlicht spielte funkelnd auf dieser zarten Decke, so daß Kapek die Augen zukneifen mußte. Aber dennoch entging ihm nicht das feine Muster aus Strichen und Dreizacken, das den Boden der Lichtung bedeckte. Wie eine altsumerische Keilschrift, wie absichtlich hingeschrieben, überall dieselben merkwürdigen Vogelspuren. Unversehens ertönte über ihm ein so lauter Pfiff, daß er beinahe ausgeglitten wäre. Als er hochblickte, entfernte sich das Flattern von Flügeln durch den widerhallenden Wald. „Da soll doch der Kuckuck…“ fluchte Kapek. Unvermittelt hielt er inne. Die Keilschrift-Spuren auf der Schneedecke verschwammen vor seinen Augen, sie flackerten, schienen sich miteinander zu vermischen und neu zu formieren, um Buchstaben zu bilden. Buchstaben, die zunächst nicht entzifferbar waren, aber von Sekunde zu Sekunde deutlicher hervortraten, bis sie in klarer, eckiger Schrift vor seinen Augen standen: MÖRDER. Kapek lachte hysterisch auf, rieb sich mit den Handrücken die Augen. Was für ein Blödsinn. Diese verdammte Sippschaft mit ihrem Begräbnis und dem überflüssigen, scheinheiligen Geflenne! Wütend stieß er sich von dem Stamm ab, gegen den er sich gelehnt hatte, und stapfte durch den Schnee zurück zum Auto. Eine Spur zu schnell fuhr er über die glatten Straßen in Richtung Stadt, das Radio laut aufgedreht, und versuchte über sich selbst zu lachen. Aber ein Hauch von Unsicherheit blieb, zerrte an seinen Nerven und vermischte sich mit dem ziehenden Gefühl, das unter seinen Rippen pochte. Abends im Bett las er Maupassant, einen Autor, den er trotz seiner dekadenten, gefühlsschwangeren fin de siècle-Atmosphären schätzte. Er las DAS TRAUMZEICHEN, und als er an die Stelle gelangte, wo der Besucher vor der Schwelle des Pfarrers steht und noch einmal die Augen zum abendlichen Horizont hebt, stachen ihm die schwarzen Buchstaben auf dem Blatt wie scharfe Wunden ins Auge. „… Hier kann man sich auf dem Stein der Schwermut niederlassen! Hier feiern tote Tränen Auferstehung und überflügeln die Male des Grabes!“ las er mit verschwimmendem Blick. Die anrührende Schönheit dieser Worte schnitt ihm wie ein Messerstich ins Herz. Nach Luft schnappend, ließ er das Buch sinken. Jenes ziehend-schmerzhafte Gefühl war
so stark geworden, daß er sich auf die andere Seite legen mußte. Bei jedem Atemzug durchzuckte ein feiner elektrischer Blitz seinen Brustkasten. Ängstlich wartete er auf den Eintritt des Schlafes und hoffte, daß am Morgen wieder alles in Ordnung sein würde.
Der nächste Tag war ein Mittwoch. Kapek stand um halb sieben auf, wie gewohnt, rasierte sich vor dem Spiegel, trank seinen Kaffee schwarz und rauchte eine Zigarette, bevor er losging. Der Schmerz in seiner Brust war verflogen, er fühlte sich nur ein wenig matter als sonst, als habe er schlecht geschlafen. Aber er konnte sich weder an Träume noch an Unterbrechungen seiner Nachtruhe erinnern. Die Stunden der Nacht bildeten einen breiten schwarzen Abgrund, in den er willenlos getaumelt und aus dem er erst beim Weckerklingeln wieder aufgetaucht war. Kapek fuhr langsam durch die frühe Dunkelheit zum Verwaltungsamt. Im Dienstgebäude brannte schon Licht, als er gegen halb acht ankam. Es gab immer Kollegen, die noch früher dran waren als er, beinah als übernachteten sie zwischen Aktenordnern und Rolladenschränken. Der gebogene Flur im ersten Stock, wo er sein Büro hatte, war wie üblich nur matt erleuchtet und strömte einen durchdringenden Geruch nach Bohnerwachs aus. Mit einem unterdrückten Gähnen öffnete Kapek die Tür zu seinem Vorzimmer und begrüßte Frau Mutzig, seine Schreibkraft, die bereits Kaffee gekocht hatte. Der Tag verlief in wohltuender Monotonie unter dem verschlafenen Dämmerlicht des Wintertags. Nichts Besonderes ereignete sich. Kapek erledigte Telefonate, zeichnete Schriftstücke ab, diktierte einige unwichtige Briefe und ging wie immer zum Mittagessen in die Rathauskantine. Zu diesem Zweck mußte er den Parkplatz überqueren, der in knöcheltiefem Schneematsch stand. Der Nordwind pfiff unangenehm scharf über die freie Fläche, Kapek mußte seinen Mantel schließen, dabei löste sich ein Knopf und hüpfte ihm aus der Hand in den Schnee. Nur halbherzig senkte er den Blick, um nach dem verlorenen Knopf zu suchen.
Da waren sie wieder! Die Zeichenmuster, gebildet aus den Krallenspuren von Vögeln. Ein wirres Netz spinnenbeiniger, dünner Hieroglyphen, die sich scheinbar über den ganzen Parkplatz hinzogen. Kapek fühlte bei diesem unerwarteten Anblick sein Herz in der Brust hüpfen. Es tat ein paar unregelmäßige, starke Schläge und beruhigte sich dann wieder. Aber er war erschrocken, hatte sich mit der Hand unter den Mantel gefaßt und tastete nach dem wieder gleichmäßiger werdenden Puls. Der Atem brannte wie Feuer in seinen Lungen; der Wind war bitter kalt. Im Schneematsch vor Kapeks Füßen standen, deutlich lesbar, die Worte: DU MÖRDER WENN DU GLAUBST… Der Appetit war ihm vergangen, aber er blieb mit seinen Kollegen Schmittmann und Petri am Tisch sitzen, bis sie aufgegessen hatten, um nicht unhöflich zu wirken. Als sie über den vereisten Parkplatz zurück zum Verwaltungsamt gingen, steuerte Kapek wie unabsichtlich auf die Stelle mit den Schriftzeichen zu. „Zu dumm, mir ist hier vorhin was runtergefallen.“ Er schützte vor, auf dem Boden etwas zu suchen, während die beiden Beamten frierend daneben standen und ihre Mäntel enger um sich zogen. „Fällt euch hier nichts auf, im Schnee?“ fragte er. Sein Tonfall klang furchtbar falsch in seinen eigenen Ohren, aber die Kollegen bemerkten offenbar nichts. Mit desinteressierten Blicken streiften sie den Boden, den grauen Matsch, die gelben Hundeurinflecken und Fußspuren, verneinten achselzuckend. „Was soll hier schon besonders sein? Der gleiche Dreck wie überall. Eine Schande ist das mit dieser Stadtreinigung, sie kommen immer einen Tag zu spät…“ Aber da sind die Worte! Könnt ihr sie nicht lesen? begehrte eine hysterische Stimme in Kapek auf. Er äußerte jedoch nichts. Mit gesenkten Köpfen gingen sie zwischen den vorbeibrausenden Autos über die Straße zum Dienstgebäude. Als Kapek an diesem Abend nach Hause fuhr, empfand er eine unbestimmte Angst vor dem Betreten seiner Wohnung. Er zögerte im Treppenhaus, das Schlüsselbund in der Hand, und lauschte in die Stille. Nur das leise Tröpfeln von Tauwasser und der Verkehrslärm von der Hauptstraße drangen an sein Ohr. Und dennoch glaubte er, für
einen Sekundenbruchteil eine feine, piepsende Stimme gehört zu haben, die Unflätigkeiten in sein Ohr wisperte. Du Mörder, hallte es in seinen Gehirnwindungen wider. „Warum?“ fuhr Kapek auf. Mit hochrotem Kopf drehte er sich um die eigene Achse, fuhrwerkte mit dem Arm, der immer noch den Schlüssel hielt, vor seinem Gesicht in der Luft herum. „Was hab ich euch getan? Wer seid ihr überhaupt? Was wollt ihr von mir?“ Zur Antwort erscholl nur ein nadelspitzes Kichern wie der keckernde Spott einer unsichtbaren Krähe.
Er warf sich schweißgebadet im Bett hin und her. Ein Satz spukte ihm im Kopf herum, und er wiederholte ihn ein- ums andere Mal mit schlaftrunkenen Lippen: „Der Sog der Ewigkeit klingt wie der Schlag von müden, großen Flügeln.“ Er wußte nicht, woher dieser Satz stammte, ob er ihn vielleicht einmal irgendwo in einem Buch gelesen hatte oder ob er ihm selbst eingefallen war. Die kurze Girlande aus unverständlichen Worten zog ihre feurigen Windungen in Kapeks Gehirn und durchsetzte seine Träume mit Visionen von Schuld und Lust. Das Bild von Blutspritzern auf einem schneeweißen Laken, das dem jungfräulichen Totenlaken eines Kindes glich, versetzten den Schlafenden in einen Zustand sonderbarer Erregung. Er glaubte sich an etwas lang Versunkenes zu erinnern, aber immer, wenn die Enthüllung des Geheimnisses gerade bevorstand, verschwand das Bild wieder im Dunkel des Unbewußten. Er strampelte seine Decke von sich und drehte sich im Bett um sich selbst, auf der vergeblichen Suche nach einer kühlen Stelle. Endlich fuhr er mit einem Zucken aus den Kissen hoch. Es war zwei Uhr morgens. Aus der Feme erklang der klagende Ton eines vorbeieilenden Güterzuges, dann lag alles in vollkommener Stille. Die Stadt schlief. Kapek atmete schwer und keuchend. Seine verschwitzten Finger umklammerten seine linke Brust. Das Ziehen des Schmerzes breitete sich bis zu seinem Unterkiefer und über beide Schultern aus. Es war so unerträglich beängstigend, daß er es im Bett
nicht mehr aushielt. Langsam lief er im Zimmer auf und ab, füllte sich ein Glas mit kaltem Wasser, trank in gierigen Schlucken. Auf dem Fensterbrett hörte er das Flattern und Gurren von Tauben, die hier vor der Kälte Zuflucht suchten. Nichts Ungewöhnliches; dieses Haus wurde schon immer von den Tauben besonders heimgesucht. Aber in diesem Augenblick klang das Flattern der kleinen, zerbrechlichen Tiere in seinen Ohren wie der langsam näherkommende Paukenschlag des Armageddon. Wütend riß er die Fenster auf, scheuchte die Vögel in die Nacht hinaus. Dann blieb er, weit vornübergebeugt, auf das Fensterbrett gestützt stehen. In dem schwachen Schein, der von den Straßenlaternen darauf fiel, war die Oberfläche des Fensterbretts kaum zu erkennen, aber Kapek glaubte eine Reihe kerzengerader gotischer Buchstaben in den Schnee gemalt zu erkennen. „Niemand wird mir glauben“, flüsterte Kapek seinem Ebenbild im Rasierspiegel zu. Wem hätte er es schon erzählen können? Er hatte violette Ringe unter den Augen und sah erbärmlich aus. Wahrscheinlich hatte er sich im Wald eine Grippe geholt, die nun ausbrach. Sein Inneres fühlte sich heiß an und brannte wie im Fieber. Er beschloß, das Auto stehenzulassen und mit dem Bus zum Verwaltungsamt zu fahren. Draußen herrschte dichter Nebel, als er aus der Haustür trat. Es war noch dunkel, nur die Globen der Straßenlampen warfen schwache gelbe Lichtkreise wie Inseln in das wabernde Grau. Die Luft war schwer, gesättigt von Feuchtigkeit, roch nach Industrieabgasen und strömte scharf und beißend in seine Lungen. Auf dem Weg zur Bushaltestelle versagten ihm plötzlich die Knie, er taumelte und mußte sich an einem Vorgartenzaun festhalten. Mit offenem Mund Luft schnappend hob er den Kopf und spähte in den weißlichen Schleier, der über den Gärten lag. Die Äste von Zierbüschen und Bäumen ragten aus dem Nebel wie spastisch verkrampfte Finger. Schwarze Klumpen balancierten auf diesen Ästen, beäugten Kapek schweigend. Vögel. Die Bäume entlang der Straße waren voller Vögel.
In Panik wandte er sich ab und eilte im Laufschritt der Bushaltestelle zu. Gerade als der Bus hielt, kam er dort an, zog sich ins Innere und ließ sich erschöpft auf einen Fensterplatz plumpsen. Er lag mit geschlossenen Augen in seinem Sitz und stützte die heiße Stirn an die kondenswasserfeuchte Fensterscheibe, bis das Rütteln des über eine Bodenunebenheit holpernden Fahrzeugs ihn hochschrecken ließ. Der Bus fuhr eben durch einen Teil der Stadt, den Kapek sonst selten betrat, enge Straßenfluchten zwischen vernachlässigten Gründerzeitbauten, eine Aura von Vernachlässigung und Armut, ausländische Gemüsegeschäfte und Cafés voller dunkelgesichtiger Männer, die unverwandt auf fremde Fußgänger herausstarrten. An diesem Arbeiterviertel war nichts Anziehendes, das Kapek hätte veranlassen können, hierher zu kommen. Müde ließ er die Augen über die vorbeiziehende schmutzige Kulisse streifen. Wohin führten diese Gassen? Er wußte es nicht. Als der Bus an einer Ampel hielt, schaute Kapek geradewegs in den schmalen Schlauch einer Straße, deren Fluchtpunkt sich in einem golden und feuerfarben lohenden Meer aus Licht verlor. Er hatte aus diesem Fenster einen direkten Blick auf den Sonnenaufgang. Tröstlich schienen die hellen Strahlen der aufgehenden Sonne den Nebel zu durchdringen, sie fielen mit sanftem Druck auf Kapeks reglos starrendes Gesicht wie ein stilles Versprechen, daß alles wieder gut werden würde. Aber wenn er genau hinsah, konnte er die schwarzen Punkte kreisender Vögel vor den rosafarbenen Wolken erkennen.
Der Anblick des Sonnenaufgangs am Ende der unbekannten Gasse ließ Kapek den ganzen Tag nicht los. Er verrichtete seine Arbeit schweigend, überhörte Fragen und Bemerkungen von Frau Mutzig, saß appetitlos mit seinen Freunden in der Kantine. Der Geruch ihres Essens widerte ihn an, er trank schwarzen Kaffee und starrte an die mit kleinen Halogenstrahlern besetzte Decke. Der Anblick jenes feuerfarbenen Meeres aus purem Licht hatte ihn so unvorhergesehen und überwältigend ereilt, daß er sich daran erinnerte wie an eine besonders beglückende Erfahrung. Die Farben der Wolken, die gestreckten Schlieren von Gelb, Rosa und Violett, das dahinter zutage tretende
Grellblau des Himmels waren in seine Pupillen eingebrannt, und der unhörbare Schrei jener fern kreisenden Vögel klang in seinen Ohren. „Der zauberische Horizont“, murmelte Kapek verträumt. Er zitierte Maupassant, ohne es zu bemerken. Seine Kollegen sahen einander mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Na, siehst du wieder Sachen im Schnee?“ witzelte Petri, der dicke Scheiben aus einer Hühnerbrust auf seinem Teller säbelte. Kapek zwang sich zu einem Lächeln. „Nur eine Aktennotiz“, erwiderte er gleichmütig. Aber das Hühnerfleisch auf dem Teller des Gegenübersitzenden roch so durchdringend aasig, daß er sich abwenden mußte. Er entschuldigte sich mit dem Vorwand, einen dringenden Anruf zu erwarten, bei seinen Freunden und kehrte allein zurück zum Dienstgebäude. Auf dem Parkplatz wagte er keinen Blick zu Boden zu werfen. Mit starrem Gesicht schritt er durch Pfützen und Schneehaufen. Einige Male strauchelte er und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, aber er sah nicht nach unten. Er wollte nicht mehr empfänglich sein für solche hirnverbrannten, eingebildeten Botschaften. Alles nur die Grippe, das leichte Fieber, das ihn seit Tagen quälte und ihn diese Dinge sehen ließ. Kein Grund zur Beunruhigung. Morgen war Freitag, und dann würde er ein Wochenende im Bett verbringen, mit Holundertee und Wadenwickeln. Als er die Straße überquerte, schnitt ihm ein gellender Pfiff ins Ohr. Dieser Ton klang so raubvogelartig, daß Kapek sich unwillkürlich duckte und den Arm schützend hob. Aber es war nur ein Verkehrspolizist, der auf einer improvisierten Mittelinsel stand und strafend den Kopf schüttelte, weil Kapek nicht auf seine Handzeichen geachtet hatte. Beschämt eilte er dem Haupteingang des Verwaltungsamts entgegen und hoffte, daß kein Kollege ihn gesehen hatte. Spät am Nachmittag fuhr er mit dem Bus zurück nach Hause. Das Verkehrsmittel war voll besetzt und erfüllt von einem dumpfigen Mief, der aus den verschwitzten Kleidern der Insassen aufstieg. Es war sehr heiß, alle Fenster beschlagen. Kapek hatte Glück, daß er einen Sitzplatz neben einem lollylutschenden Schulmädchen ergattern
konnte, das die Fensterscheibe in regelmäßigen Abständen mit dem Ärmel abwischte. Im Vorbeifahren sah Kapek erneut jenen wirbelnden Strudel aus Licht, in den die unbekannte Gasse des Arbeiterviertels mündete, aber diesmal war es das Abendrot, das mit seinem glühenden Schein die Häuserwände färbte und wie ein riesiger blutiger Riß im Himmel pulsierte, so hell, daß Kapek die Lider schließen mußte. „Wunderschön – der zauberische Horizont“, flüsterte er, als er die Augen wieder öffnete. Das Mädchen auf dem Nebensitz starrte ihn mit ausdruckslosem Gesicht abweisend an.
Kapeks Kopf glühte vor Fieber. Er war auf dem Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen, ohne sein Abendessen überhaupt angerührt zu haben. Appetitlos hatte er sich dazu zwingen wollen, etwas Warmes zu essen, er hatte schließlich seit zwei Tagen nichts zu sich genommen und fühlte sich sehr geschwächt. Das statische Rauschen nach Sendeschluß weckte ihn aus einem unruhigen Schlummer. Als er den Knopf der Fernbedienung drückte, sank die Wohnung in vollständiges Dunkel, das nur erhellt wurde vom schwachen Schein der Straßenlampen. Er glaubte ein leises Rumoren hinter einer der Wände zu hören. Wieder diese Nachbarn! Ein junges Paar, das mitten in der Nacht Möbel rückte oder Parties feierte, wenn anständige Menschen schlafen wollten. Kopfschüttelnd trat er an das Fenster, strich sich die schweißnassen Haare aus der Stirn, starrte gedankenverloren hinunter auf den Bürgersteig und die parkenden Autos. Auf dem Fensterbrett, säuberlich wie mit einer Tuschfeder hingeschrieben, standen deutlich lesbar die Worte: MÖRDER WENN DU GLAUBST DU ENTKOMMST UNS HAST DU DICH GEIRRT. Kapek taumelte mit einem Schmerzenslaut zurück ins Zimmer, stolperte über den niedrigen Couchtisch und fiel der Länge nach auf das Sofa. Für eine scheinbar endlos lange Weile bildeten seine krampfhaft schluchzenden Atemzüge das einzige Geräusch in der nächtlichen Wohnung. Dann rappelte er sich, immer noch im Dunkeln, auf.
Wenn die jungen Nachbarn wirklich zu Hause gewesen wären, hätten sie sich wahrscheinlich gewundert, daß um zwei Uhr morgens aus Friedhelm Kapeks Wohnung das Geräusch von splitterndem Glas und stampfenden Hammerschlägen drang. Er riß das Fenster auf und bestreute das Fensterbrett dick mit den Glasscherben zertrümmerter Flaschen. So, jetzt würden sich die Tauben bestimmt nicht mehr dort hinsetzen! Als er später im Bett lag, lauschte er voller Bangen auf das stolpernde, aussetzende und unregelmäßige Schlagen seines Herzens. Der Schmerz war nur noch ein dumpfer, andauernder Krampf, der seinen Oberkörper zusammenzog. Gekrümmt wie ein Embryo lag Kapek auf der Seite und atmete wie ein Ertrinkender. Endlich trotz seiner Ängste eingeschlafen, sah er im Traum ein riesiges Heer von Vögeln auf einen glorios glühenden Sonnenaufgang zufliegen. Ihre Flügelunterseiten blitzten blau und golden wie die Schwingen von Paradiesvögeln, ihre Schwanzfedern wippten majestätisch hinter ihnen her. Sanft klagende Schreie voll unergründlicher Wehmut erfüllten den Himmel bis zum Rand des Horizonts. Eine endlose Reihe gläserner Formen erhob sich wie eine schmale Gasse in die Tiefe des Himmels. Die besänftigenden Spiegel der Unendlichkeit, wußte Kapek. Er lächelte im Schlaf mit dem unschuldigen Gesichtsausdruck eines Kindes, als die Erinnerung an die Blutflecken auf dem weißen Leintuch wiederkam. Die Blutflecken jener schwarzen Amsel, die er als Junge mit der Steinschleuder von einem Baum geschossen hatte. In die Steinschleuder hatte er statt eines Steins eine scharfkantige Glasscherbe gelegt, die dem Vogel eine tiefe Wunde in den Leib riß. Die Amsel verblutete unter Friedhelms neugierigem Blick in dem stillen Winkel hinter der Gartenhütte, er drehte sie mit einem Stock um und starrte in ihren krampfhaft aufgerissenen Schnabel und die hervorquellenden Augen. Mörder, Mörder, sang der Chor der Vögel wie mit Engelsstimmen. Sie flatterten um ihn her mit ihren bunten Schwungfedern und geleiteten ihn zum Himmelsglanz empor wie eine Schar geflügelter Putten.
Der Wecker klingelte pünktlich um halb sieben. Kapek erhob sich wankend, tapste auf unsicheren Füßen in das Badezimmer. Vom Fieber war sein Gesicht rot und aufgequollen; das Duschen und Rasieren fiel ihm schwer, seine Hände wollten ihren Dienst nicht verrichten. Einen Moment lang überlegte er, ob er sich im Büro krank melden sollte, aber dann erinnerte er sich daran, daß heute Freitag war. Er brauchte nur einen halben Tag zu arbeiten, konnte sich ein langes Wochenende im Bett gönnen, um seine Grippe auszukurieren. Widerwillig zwang er sich eine Tasse schwarzen Kaffee hinunter, wobei er immer wieder absetzen mußte. Ein Würgen überfiel ihn bei jedem Gedanken an feste oder flüssige Nahrung. Sein Hemd schlotterte ihm um den Oberkörper, als er sich mühsam ankleidete. Draußen lag wieder der dichte, schwere Nebel, der ihm das Atmen zur Qual machte. Langsam wie ein alter Mann tastete Kapek sich zur Bushaltestelle an der Straßenecke. Er bekam nicht viel von der Fahrt mit, aber an der Ampel, wo der Bus wiederum halten mußte, hob er den Blick und starrte in den wirbelnden Sog des Morgens, dessen Glutfluten Funken zu sprühen schienen. Der warme Kuß der Sonnenstrahlen schloß Kapeks Lider. Er erwachte erst an der Endhaltestelle und mußte die halbe Strecke zurückfahren, um zum Verwaltungsamt zu gelangen. Frau Mutzig zeigte sich besorgt, als ihr Vorgesetzter bleich und wankend in der Tür stand. Sie nötigte ihm eine Tasse Kaffee auf, deren Duft ihn fast zum Erbrechen gebracht hätte, und öffnete die Fenster seines Büros, um frische Luft hereinzulassen. Kapek saß zitternd im Durchzug, unfähig, sich aufzuraffen und das Fenster zu schließen. Der Kopf sank ihm auf die Tischplatte, und er schlief wieder ein. Niemand störte ihn. Die umsichtige Vorzimmerdame, eine mütterliche Person mittleren Alters, die ihm schon seit langen Jahren treu diente, hielt alle Telefonate und Besucher fern. Als es auf den Mittag zuging, brachte sie Kapek ein Bündel Briefe zum Unterschreiben und wies ihn dezent darauf hin, daß er bald nach Hause gehen könne.
„Ruhen Sie sich aus, Herr Kapek, nicht, daß Sie uns noch eine Lungenentzündung bekommen“, sagte sie. „Gehen Sie ruhig nach Hause, ich sage, Sie sind auf einer Konferenz.“ Er ließ sich nur widerwillig dazu bewegen, getrieben von einem Restfunken jenes Pflichteifers und Pünktlichkeitsfanatismus, die ihm seit Jahrzehnten das Leben schwer machten. Er hatte niemals das Protokoll überschritten und sein Büro vor der Zeit verlassen. Gott allein wußte, wie viele Überstunden er angesammelt und niemals abgebummelt hatte. Aber jetzt konnte er nicht mehr. Die Maschine seines Körpers versagte und ließ ihn hilflos zurück. Frau Mutzig rief ein Taxi und begleitete ihren Chef bis vor das Hauptportal. Er konnte sich kaum mit seiner versagenden Stimme bei ihr bedanken, als ihn der Wagen schon davontrug. „Wohin soll’s gehen?“ fragte der Fahrer. Kapek stammelte: „Gold-goldschneiderstraße, Ecke Krügerallee…“ Erst als das Taxi hielt, bemerkte er, daß er dem Fahrer gar nicht seine Wohnanschrift gesagt hatte. Dennoch zahlte er und stieg taumelnd aus dem warmen Fond des Wagens. Er stand an der Ecke jener Gasse, die sich in einer schmalen Häuserschlucht zum Rand des Horizonts hinzog. Ihren Namen hatte er am Morgen durch das Busfenster zum ersten Mal gelesen, da der Bus direkt vor dem Straßenschild an der Ampel gehalten hatte. In Wirklichkeit hatte er sich immer hierher gesehnt. Er erkannte dies mit einer glasklaren Gewißheit, die keine Fragen offenließ. Die Stimmen der Vögel und der Ruf des Himmels hatten ihn geleitet. Er würde sich nun bald auf den besänftigenden Spiegeln der Unendlichkeit ausstrecken, den zauberischen Horizont in den eigenen Augen fühlen. Ja. Die Belohnung für all die vielen vergeblichen Jahre war nah. Mit einem schiefen, aber zufriedenem Grinsen stellte Kapek seinen Aktenkoffer auf das Trottoir und tastete sich an den Wänden entlang in Richtung des glosenden Leuchtens, das ihn am Fluchtpunkt der Straße erwartete.
Am Montagmorgen nach dem Wochenende entdeckten Bauarbeiter die Leiche eines Mannes mittleren Alters, der in einen tiefen Betonschacht am Ende der Sackgasse Goldschneiderstraße gestürzt war. Es blieb unklar, wie er den Bauzaun überwunden hatte und warum er in das ausgeschachtete Loch gefallen war. Er hielt die Arme ausgebreitet, als wolle er fliegen, und es sah beinahe so aus, als lächelte er.
Dieter J. Baumgart Entstehungsgeschichte „Schmetterlinge“: Vor einigen Jahren fuhren wir, meine Frau und ich, einen dieser schmalen Verbindungswege zwischen den Dörfern in der Garrigue (das ist die Buschlandschaft hier auf den Hochebenen) und wollten eine Freundin besuchen. Da bemerkte meine Frau einen Schmetterling, der sich im Scheibenwischer verfangen hatte und hilflos im Fahrtwind flatterte. Obwohl wir sicher waren, daß er längst tot sei, hielt ich an. Zu unserer Überraschung flog er plötzlich quicklebendig davon. Monate später hatte ich einen Diaporama-Termin in einem der übelsten Zuchthäuser Deutschlands, in Bielefeld-Brackwede. Am Morgen der Abfahrt nach Bielefeld und unter der Vorstellung dessen, was mich da wohl erwarten würde, fiel mir die Begegnung mit dem Schmetterling ein. Ich setzte mich hin und schrieb die Geschichte in einer halben Stunde. Ohne einen Buchstaben zu verändern, ging sie später in Druck. Zum erstenmal öffentlich gelesen habe ich sie – natürlich – in Bielefeld-Brackwede. Eine Geschichte in mindestens 50 verschiedenen Sprachen. Diese Parabel habe ich im deutschen Originaltext so konzipiert, daß sie sich in jede Sprache der Welt übertragen läßt. Die bereits vorliegenden Texte, die grundsätzlich von Privatmenschen (keine professionellen Übersetzer) in ihre jeweilige Heimatsprache übertragen wurden, bestätigen das. Wenn mindestens fünfzig Sprachen vorliegen, soll daraus ein Buch entstehen, das ich in Gemeinschaftsarbeit mit Freunden in Frankreich (Illustratoren, Graveure, Buchdrucker und Buchbinder), in Handarbeit herstellen werde. Jeder Übersetzer erhält dann ein Belegexemplar. Vorhandene Sprachen: Bulgarisch, Chinesisch, Dänisch, Deutsch, Djerma (Songhai, Niger), Englisch, Esperanto, Finnisch, Französisch, Italienisch, Japanisch, Kirgisisch, Koreanisch, Kreolisch (La Reunion), Lateinisch, Makedonisch, Niederländisch, Norwegisch, Okzita-
nisch, Pidgin-Englisch (Kenia), Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch, Schwedisch, Singhalesisch (Sri Lanka), Spanisch, Swahili (Kenia), Tamilisch (Sri Lanka), Türkisch, Ungarisch, Vietnamesisch. Deutsche Mundarten: Kölsch, Westfälisch (Ravensberger Mundart)
Dieter J. Baumgart SCHMETTERLINGE Die wichtigste Sprache der Welt ist die Sprache des Lächelns.
Zu der Zeit, da die Schmetterlinge erschaffen wurden, begab es sich, daß am Ende einer übrig blieb, für den war kein Körper mehr da. Auch keine Flügel, keine Fühler, nichts von alledem, was seine Schwestern und Brüder, die wie wunderschöne Blumen durch die Lüfte flatterten, so hatten. Er blieb einfach unsichtbar. Zu Anfang wußte er das nicht und ließ sich, wie die anderen auch, durch den Wind tragen, setzte sich auf die Blumen, um sie, wie er meinte, durch seine Gegenwart noch schöner zu machen. Doch eines Tages schließlich, fiel es ihm auf: Niemand beachtete ihn, ja manchmal stieß er sogar mit seinesgleichen zusammen, obwohl er immer sehr aufpaßte und sich nur auf Blumen setzte, die noch frei waren. Denn – und das konnte er ja nicht wissen – die anderen sahen ihn nicht. Und da begriff er, daß er wohl unsichtbar sei. Eigentlich hätte er es ja schon früher merken können, denn natürlich sah er sich selbst auch nicht. Doch das hatte ihn nie gestört. Er dachte: Es genügt, wenn meine Schönheit für die anderen sichtbar ist, ich muß das nicht sehen.
Aber die Tatsache, daß er für niemanden sichtbar war, betrübte ihn doch sehr. Und er flog auf geradem Wege zum Schöpfer allen Lebens und beklagte sich bitter. Jener schaute den unsichtbaren Schmetterling lange und nachdenklich an und sagte schließlich: „Ich verstehe dich. Aber die Arbeit ist getan. Tatsächlich ist nichts, aber auch gar nichts mehr da, was ich dir geben könnte. Und außerdem, wenn du einen Körper hättest, und Flügel und Fühler und alles, dann müßtest du auch sterben, wie alle Lebewesen. Möchtest du das?“ „Ja“, sagte darauf der unsichtbare Schmetterling. „Wenn ich dafür ein Leben lang anderen Freude machen könnte? Dann möchte ich am Ende auch sterben.“ Der Schöpfer aber war sehr betroffen, denn das hörte er wohl zum ersten Mal. Er dachte lange, sehr lange nach und sagte schließlich: „Ich will deinen Wunsch erfüllen. Du sollst von nun an sichtbar sein, aber sterben sollst du nicht. Darum gebe ich dir auch keinen eigenen Körper. Geh’ zu den Menschen und sei das Lächeln.“
Rhys Simon Beck Ich bin ein neurotischer nachtaktiver Katzenmensch – morgens völlig ungenießbar und ausgeprägt einzelgängerisch. Ich wurde im Oktober 1975 geboren – im Oktober wie O. Wilde – und schreibe seit einigen Jahren. Meinen ersten Roman habe ich 1999 veröffentlicht, es folgten Kurzgeschichten und weitere Romane. Wenn ich eine Geschichte schreibe, habe ich meist nur einen Mann im Kopf: Patrick Duff – Ex-Sänger der Band Strangelove. Ihm verdanke ich so einiges, unter anderem mein Interesse an der Psychoanalyse. Es gibt nur zwei Grundsätze, die mir „heilig“ sind: Schutz des Schwächeren und Respekt vor dem Leben.
Rhys Simon Beck DAS LETZTE GESCHENK
Sie fror. Obwohl Chris sie bereits vor einer halben Stunde auf der Straße aufgelesen hatte, zitterte sie noch immer am ganzen Körper. Ein merkwürdiges Zusammentreffen. Das war es allemal. Chris… ein Freund aus Kindertagen. Sie hatten sich schon so lange nicht mehr gesehen. Sie hatte sich gefreut, ihn wiederzusehen, natürlich, doch irgendwie war alles anders. Chris verbreitete eine unnatürliche Kälte. Er verstärkte die Kälte in ihrem Körper. Kathleen beobachtete, wie er sich eine Zigarette anzündete. In seinen schlanken Händen wirkte die Zigarette wie ein Fremdkörper.
„Du hast mich gesucht“, stellte er fest. Seine Stimme war sanft, einschmeichelnd. Kathleen zuckte zusammen. Natürlich hatte sie ihn gesucht, aber sie hatte ihn nicht gefunden. Sie hatte ihn nicht aufspüren können. Dieses Treffen war reiner Zufall gewesen. Er konnte gar nicht wissen, daß sie Erkundigungen angestellt hatte. Chris starrte ins Leere, sah sie nicht an. „Du hättest nicht kommen dürfen.“ Er trat ans Giebelfenster, und sein Blick wanderte hinauf zum Sternenlosen Nachthimmel. Kathleen runzelte die Stirn. Sie konnte mit seinen Worten nichts anfangen. Schließlich räusperte sie sich. „Ich wollte dich einfach wiedersehen“, sagte sie rauh. „Warum?“ Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und behielt den Rauch lange in der Lunge. „Vielleicht, um dich endlich zu verstehen“, sagte sie leise. Er lachte darüber. Es war ein sanftes Lachen, etwas, das Kathleen immer an ihm gemocht hatte. Doch jetzt jagte es ihr einen Schauer über den Rücken. „Ich hoffe nicht, daß du dich immer noch mit der Frage beschäftigst, warum ich Männer liebe.“ Kathleen spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich zu verteidigen. „Ehrlich gesagt habe ich mich nie damit abgefunden, daß wir nicht heiraten werden.“ Wieder lachte Chris, es erschien ihr so weit entfernt. „Das haben wir uns versprochen, als wir sechs Jahre alt waren.“ Er fuhr sich mit einer Hand durch sein pechschwarzes, kurzes Haar. Langsam kam er zu ihr herüber, drückte die Zigarette in einem marmornen Aschenbecher aus, der auf dem Tisch stand. Kathleen war auf einmal froh, daß der Tisch als Barriere zwischen ihnen war. Chris erschien ihr so bedrohlich in seiner femininen Schönheit, seiner Vollkommenheit. Er sah sie an, aber sein Gesicht blieb im Schatten. In seinem Kopf schwirrte es, er hatte Mühe, sich auf sie zu konzentrieren. Schweigen
machte sich breit und erfüllte den ganzen Raum. Die Kerze, die auf dem Tisch vor Kathleen brannte, erhellte nur einen kleinen Teil des Zimmers, und überall in den dunklen Ecken lauerte die Einsamkeit. Kathleen wurde von einer erdrückenden Traurigkeit erfaßt. „Ich… ich hatte mein ganzes Leben mit dir geplant.“ Chris nickte nur. Er kam um den Tisch herum, setzte sich neben sie. Seine Anwesenheit durchzuckte sie wie ein Stromstoß. Und als sie erkannte, was es war, stockte ihr der Atem – es war die pure Lust. Schmerzhaft ergriff sie von ihrem Körper Besitz. Kathleen rückte dichter an ihn heran, so dicht, daß ihre Schatten miteinander verschmolzen. Sie wollte ihn, mit all den unerfüllten, schmerzhaften Erwartungen. Mit all der aufgestauten Sehnsucht der Jahre. Kühl spürte sie seinen Körper neben ihrem. Er fühlte sich so fremd an – nach all den Jahren, ihr Chris… „Hast du jemals eine Frau geküßt?“ fragte sie leise. Ihr Körper war heiß, als hätte sie Fieber. Oder war der seine so kalt? „Nein. – Ich hatte kein Verlangen danach.“ Doch trotz seiner ablehnenden Worte blieb er reglos neben ihr sitzen. Begehren kroch in seinen Kopf wie eine Schlange. Er spürte sie den Nacken heraufkriechen und konnte es nicht verhindern. Und als sie die nächsten Worte sagte, war ihr Gesicht so nah an seinem, daß er erst nicht wußte, ob Kathleen es war, die mit ihm sprach, oder die Schlange in seinem Kopf. Aber es war Kathleen. Er konnte sie riechen – und sie roch so gut wie damals. Er konnte sie sogar noch viel intensiver riechen. „Hast du nie das Verlangen gehabt, eine Frau so zu berühren?“ flüsterte sie eindringlich. Sie führte seine Hand zu ihren Brüsten, er ließ es widerstandslos geschehen. Ihre Haut war so heiß, daß er sich fast verbrannte. „Bist du nach all den Jahren wieder aufgetaucht, um mit mir ins Bett zu gehen?“ Kathleen erschrak über den bedrohlichen Klang seiner Stimme. „Nein! Nein, aber Chris…“ Sie verabscheute sich dafür, daß sie ihn
anflehte. „Ich hatte noch nie die Gelegenheit deinen Körper zu spüren, eins mit dir zu werden. Ist mein Wunsch denn so abwegig?“ Abrupt stand Chris auf. „Kathleen, ich habe mich verändert. Es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Verständnislos und gekränkt sah Kathleen ihn an. Ihr Körper brannte. „Warum sollte ich das tun?“ Chris näherte sich ihr mit einer katzenhaften Bewegung. „Weil es besser für dich ist. Geh jetzt!“ „Nein“, erklärte sie entschieden, und als sie ihn ansah, versank sie in pechschwarzen Augen. Da wußte er, daß es zu spät war. Er würde sie nicht mehr gehen lassen. Die Flamme in seinem kalten Leib war entfacht, nichts würde ihn noch daran hindern können. Fast gewöhnlich zuckte er mit den Schultern und wandte sich ab. Kathleen atmete auf. Sie hatte das Gefühl gehabt, in diese Augen hineingesogen zu werden. Ein Augenblick völliger Willenlosigkeit. Sie fühlte sich unwohl. Und sie wußte, daß Chris grüne Augen gehabt hatte. Augen, wie Smaragde – sie hatte sie immer geliebt. Was war bloß mit ihm passiert? Chris brachte ihr ein Glas Rotwein. Sie spürte das große, schwere Glas in ihren Händen, ein willkommenes Stück Realität zwischen ihren zitternden Fingern. Sie war verwirrt. Ihre Gedanken, ihre Erinnerungen an die letzten Minuten waren wie in Nebelschwaden verschwunden. Und je mehr sie sich anstrengte, eine Erinnerung an die letzten Augenblicke wachzurufen, desto größere Undurchsichtigkeit lullte sie ein. Und plötzlich spürte sie die Anwesenheit eines weiteren Menschen. Sie hatte ihn nicht kommen hören, doch er war nun da, wie aus dem Nichts erschienen. Langsam drehte sie sich um und erschrak. Dort hinter ihr stand ein Geschöpf, das Gesicht so weiß wie frisch gefallener Schnee. Blaue, neugierige Augen funkelten sie an – und sie
erkannte nicht die Gier, das Begehren in ihnen. Dieses Wesen war kein Mensch, seine Schönheit zu rein. Kathleen stellte das Glas… sie hatte keine Ahnung wohin. Auf einmal war es weg. Sie wollte fragen, doch sie hatte das Gefühl nicht mehr sprechen zu können. Und da wurde ihr klar, daß auch Chris kein Mensch mehr war. Sie wollte aufstehen, vielleicht um zu fliehen. Doch sie war zu schwach, ihre Beine konnten sie nicht tragen. Sie konnte nicht aufstehen, konnte sich nicht regen. Panik schnürte ihr den Hals zu. Sie konnte nicht mehr atmen. Mit großen, angstvoll geweiteten Augen beobachtete sie, wie das Wesen auf sie zukam. Kathleen hatte den Eindruck, daß es schwebte. Weißes, kaltes Licht umgab die schlanke, männliche Gestalt. Und er umfaßte sie, hob sie hoch. Sie war leicht, unglaublich leicht, wurde eins mit diesem Geschöpf, das so kalt war wie Chris. Und der Schmerz überwältigte sie. War so rein, daß kein Laut über ihre Lippen kam. Und sie war nicht einmal erstaunt, als sie bemerkte, daß er ihr Blut trank. Chris war da, schaute zu. Dieses sanfte Lächeln auf seinen Lippen. Er roch das Blut, sog den süßen Duft in seinen Körper. Und er sah nur zu. Ließ das heiße Verlangen über sich hinwegschwappen, ließ sich davon gefangennehmen, genoß ihre Hilflosigkeit, während er nur seinen Körper begehrte. Wünschte, die eisige, samtweiche Haut zu berühren. Und doch – er begehrte auch Kathleen. Ihr heißes, menschliches Blut. Als Kathleen wieder zu sich kam, saß sie auf einem harten Stuhl. Ihre Hände und Füße waren fest mit seidenen Tüchern gebunden. Ihr Kopf so unendlich schwer, daß sie ihn kaum heben konnte. Blut tropfte auf ihre nackten Beine, bildete kleine Bäche, die sich im Dunkeln verloren. Sie hörte das leise, animalische Stöhnen. Es war direkt vor ihr. Kroch durch ihre erschöpften Glieder und ließ ihr Herz krampfhaft schlagen. Durchdrang ihren Geist, bis es in ihr war.
Mit unendlicher Kraftanstrengung hob sie ihren Kopf und sah, wie sich diese beiden wundervollen, doch todbringenden Geschöpfe vereinigten. Chris lag auf dem Boden zuunterst, schwarzes, zähflüssiges Blut rann aus zahllosen Wunden aus seinem schneeweißen Rücken. Doch er schrie nicht, er kämpfte nicht – er stöhnte vor Lust, blankes Begehren in seinen Augen. Und daß sie es dort taten – vor ihren Augen – sagte Kathleen, daß sie verloren war. Dieses dunkle Verlangen, die absolute Hingabe und der Schmerz waren das letzte Geschenk von Chris. Das letzte Geschenk, bevor Kathleens Augen brachen, die Flamme in ihrem Körper für immer erlosch.
Alfred Bekker Ich wurde am 27.9.1964 in Borghorst (heute Steinfurt) geboren. Insgesamt habe ich inzwischen unter meinem bürgerlichen Namen und mehreren Pseudonymen etwa 150 Romane (Hardcover, Paperbacks, Taschenbücher und Hefte) veröffentlicht, die zum Teil auch ins Niederländische, Tschechische und Finnische übersetzt wurden. Zu den zahllosen Serien an denen ich bisher mitschrieb gehören u.a. Kommissar X, Jerry Cotton, Jerry Cotton Taschenbuch, Grusel Schocker, sowie diverse Western-, Grusel- und Frauenreihen. Die wichtigsten Pseudonyme sind Robert Gruber, Neal Chadwick, Jack Raymond, Leslie Garber und Janet Farell. Unter letzterem war ich Hauptautor der Gruselserie Jessica Bannister im Bastei-Verlag. Darüber hinaus veröffentlichte ich ca. 1400 Kurzgeschichten und Erzählungen. Meine Science Fiction-Erzählung DAS MEER DER FINSTERNIS wurde für den Kurd Lasswitz-Preis nominiert. Letzte Buchveröffentlichungen (z.T. unter Neal Chadwick): DIE NAMANLOSE TOTE (Flamingo-Kriminalroman, Paul Zsolnay Verlag, 1993, DER HOT-DOG-MÖRDER – Roman zur RTLFernsehserie Quincy; Düsseldorf 1995, STIRB, SCHNÜFFLER! – UND DREI WEITERE THRILLER (als Neal Chadwick / Moewig Hardcover 1996); TODESFALLE LINCOLN-TUNNEL (Bastei Lübbe Taschenbuch 31446, 1998) und EIN OSCAR FÜR DEN KILLER (Bastei Lübbe Taschenbuch 31447), DIE TEUFELIN AUS BAGDAD (Bastei Lübbe Taschenbuch 31457, 1999), STERBEN SOLL NEW YORK (Bastei Lübbe Taschenbuch 31459, 1999). Außerdem der Kriminalroman DER KILLER WARTET im Wartberg Verlag. 2000 erschien neben einer Reihe genrefremder Titel der Krimi GNADENLOSE WÖLFE UND ANDERE NETTE LEUTE (ISBN 389811-999-8) sowie in Zusammenarbeit mit Marten Munsonius der Berlin-Thriller DIE BERLIN-VERSCHWÖRUNG (ISBN 3-89811-998X). Für 2001 sind neben einigen anderen Projekten die ersten Paperback-Bände der von mir verfaßten S/F-Krimi-Reihe MEGA KILLER
angekündigt. Im März 2001 startet meine Fantasyserie AXTKRIEGER mit dem Band DER NAMENLOSE im MG-Verlag. Ebenfalls im MGVerlag setze ich zusammen mit Marten Munsonius und anderen Autoren die Grusel-Serie MURPHY fort. Darüber hinaus arbeitete ich an dem Band IM REICH DER ZWÖLF MONDE aus der Serie RAUMSCHIFF PROMET – NEUE ABENTEUER im Blitz-Verlag mit. Informationen über aktuelle Projekte sind in Zukunft im Internet abrufbar unter www.AlfredBekker.de
Alfred Bekker IN DER SCHLIMMEN ALTEN ZEIT „Erzähl mir doch nochmal von damals“, forderte der Junge von seinem Großvater, während sie den Weg entlanggingen, der neben dem Fluß herführte. „Von damals?“ echote der Großvater. „Ja“, nickte der Junge. „Aus der schlimmen alten Zeit, du weißt schon.“ Der Großvater atmete tief durch. „Ja, ja…“ Er hatte dem Jungen schon so oft von der schlimmen alten Zeit erzählt, aber so waren Kinder nun mal: Manche Dinge wollen sie einfach immer und immer wieder erzählt bekommen, gleichgültig, wie oft sie es schon gehört hatten. Und der Großvater hatte nichts dagegen. Er war insgeheim froh, daß überhaupt jemand seine Geschichten hören wollte. Also erzählte er, so wie schon ein Dutzendmal zuvor. „Also, du weißt, daß ich selbst die schlimme alte Zeit nie erlebt habe“, fing er an. So begann er immer. Und der Junge sagte: „Ich weiß.“ „Aber mein Großvater, der hat diese Zeit noch miterlebt.“
„Es muß furchtbar gewesen sein.“ „Es war furchtbar, mein Junge. Du machst dir gar keine Vorstellung davon! Die Menschen waren fortwährend einer wahren Flut von Bildern ausgesetzt. Sie waren buchstäblich dazu gezwungen, die Augen aufzuhalten und zu sehen.“ „Wie grausam!“ „Mein Junge, du weißt, der Gesichtssinn ist der empfindlichste Sinn des Menschen –, aber auch der, über den er am leichtesten beeinflußbar ist! Und das machte man sich hemmungslos zunutze. Allgegenwärtige Werbung sollte sie beeinflussen, bestimmte Produkte zu kaufen, und Religionsgemeinschaften versuchten mit weithin sichtbaren Symbolen ihres Glaubens, die Menschen für sich zu gewinnen. Es war das Zeitalter des geradezu perfiden Einsatzes visueller Reize. Zeitschriften versuchten ihre Auflage zu steigern, indem sie mit entkleideten Frauenkörpern oder spektakulären Grausamkeiten auf der Titelseite auf sich aufmerksam machten. Im Fernsehen – du weißt, ich habe dir mal erklärt, was Fernsehen war; heute gibt es das alles ja nicht mehr – im Fernsehen versuchten sich die Sender mit den erstaunlichsten und ins Auge fallendsten Bildern gegenseitig auszustechen. Werbung und Programm waren kaum noch auseinanderzuhalten, und der Mensch drohte zum willfährigen Spielball derer zu werden, die ihn mit Bildern fütterten wie ein Mastschwein mit Kleie!“ „Furchtbar!“ „Die Menschen waren gezwungen, die geschmacklosen Gartenzwerge ihrer Nachbarn mit anzusehen. Und in den Städten wurde das Auge mitunter durch häßliche Plastiken oder überdimensionale Plakatwände und Leuchtreklamen gequält, denen der Blick unmöglich ausweichen konnte. Es liegt auf der Hand, daß diese Zustände nicht ewig hingenommen werden konnten…“ „Was geschah dann, Großvater?“ fragte der Junge. „Nun, es gab Leute, die sich gegen den Strom stellten. Manche empfanden es als Gewalt, gegen ihren Willen mit christlichen Kreuzen konfrontiert zu werden, sei es an Kirchtürmen, in Form von Kruzifixen am Wegesrand, oder – wie damals teilweise noch üblich – gar an
den Wänden von Schulklassen. Andere wiederum fanden es unerträglich, an jedem Zeitschriftenkiosk einer Fülle von Nacktheit ausgesetzt zu sein. Wieder andere meinten gar, das gewisse Gruppen von Menschen – Fettleibige und Behinderte beispielsweise – einen so häßlichen Anblick böten, daß es der Mehrheit einfach nicht zuzumuten sei, sie ansehen zu müssen. Weitere Gruppen vertraten die Auffassung, für bestimmte Produkte dürfe keine Werbung gemacht werden, weil das ethisch nicht vertretbar sei.“ „Was denn zum Beispiel?“ „Zigaretten, Alkohol, Pelzmäntel, Spielzeug, das in Diktaturen gefertigt wurde oder in Ländern, die immer noch Atomtests durchführten. – Klar, daß man sich da nie einig werden konnte.“ „Klar.“ „In jener Zeit gab es dann auch die ersten Fälle von Blickverbrechen.“ „Davon hast du mir noch nie erzählt.“ „Nein?“ Der Großvater zuckte die Achseln. „Die Menschen begannen, sich wegen herausfordernder, beleidigender oder anzüglicher Blicke gegenseitig anzuzeigen. Durch Blicke kann manchmal mehr gesagt werden, als durch Worte, so pflegte mein Großvater immer zu sagen. Es gab damals einen Ausspruch: Wenn Blicke töten könnten. Und die Gerichte begannen immer mehr dazu überzugehen, nicht nur das zu bestrafen, was ein Mensch getan hatte, sondern auch, wie er geblickt hatte. Was war denn schon der Unterschied zwischen einem giftigen Blick und einem Giftmord?“ Der Großvater seufzte. „Vermutlich nur der Mangel an Gelegenheit… Du siehst, Junge, es mußte eine Lösung gefunden werden.“ „Ich weiß, und diese Lösung kam durch die Gentechnologie, nicht wahr?“ „Ja. Es gelang, bestimmte Gene der Fledermaus in die menschliche Erbmasse einzuführen. Du weißt, Fledermäuse können im Dunkeln fliegen, weil sie sich mit Hilfe von Ultraschall orientieren können. Innerhalb von drei Generationen konnte das auch jeder Mensch. Wer weiß, in welchem Chaos sonst alles geendet hätte…“
Der Großvater und der Junge gingen den Rest des Weges schweigend. Daß es so früh dunkel wurde, störte sie nicht, denn sie gingen mit geschlossenen Augen den schmalen Weg am Fluß entlang.
Alfred Bekker DAS STRAFGERICHT
Peter Lutz saß am Steuer und fluchte leise vor sich hin. Kurz bevor die Fahrbahn sich wegen der Baustelle verengte, war es immer dasselbe. Es gab einen Stau. Wenn dann noch irgendwer nach einem Parkplatz suchte und deswegen nur in Schrittempo voran fuhr, dann ging in der Regel eine Weile lang gar nichts mehr. Aber was Lutz am meisten haßte, das waren diejenigen, die nach dem Hinweisschild noch rechts überholten, auf der rechten Spur soweit wie möglich weiterfuhren, um sich dann wieder in den Verkehr einzufädeln – mit mehreren hundert Metern Geländegewinn natürlich. Meistens waren es große Wagen. Mercedes oder Porsche, Wagen deren Fahrer ohnehin zu glauben schienen, daß es bei ihrem Fabrikat eine serienmäßige, eingebaute Vorfahrt gab. Trugen die Wagen auswärtige Nummernschilder, konnte Lutz es gerade noch ertragen. Aber wenn es Hiesige waren, dann kochte ihm das Gemüt hoch, und seine Galle meldete sich unwillkürlich. Wenn jemand von hier kommt, dann weiß er, was er tut! ging es Lutz grimmig durch den Kopf. Da! Da war wieder so einer, der frech an ihm vorbeizog. Natürlich, ein Mercedes. Als die Fahrbahn sich verengte, kamen sie auf gleiche Höhe. Der Mercedesfahrer – ein kleiner dicker Mann mit schütteren Haaren – versuchte wieder einzufädeln. Na warte! dachte Lutz. Dem zeig ich’s.
Die beiden Fahrer vor ihm ließen den kleinen Glatzkopf nicht dazwischen. Und Lutz tat es auch nicht. Er dachte gar nicht daran! Dem mußte man mal eine richtige Lektion verpassen. Dann würde der arrogante Gesichtsausdruck auf seinem Gesicht schon verschwinden! Lutz fuhr sehr langsam. Der Mercedesfahrer hob die Anne und gestikulierte wild. Er zeigte Lutz den Vogel. Lutz grinste und zeigte den Mittelfinger. Der Mercedesfahrer ließ die Scheibe hinunter – bei ihm ging das natürlich elektrisch – und schimpfte lautstark herum. „Was soll das, glaubst du, die Straße gehört dir alleine? Was fällt dir ein, hier den Betrieb aufzuhalten!“ Es folgten noch ein paar wüste Schimpfwörter, die Lutz die Zornesröte ins Gesicht trieben. Er trat auf die Bremse, und augenblicklich mußte auch der Mercedesfahrer in die Eisen gehen. Für ihn gab es natürlich jetzt kein Weiterkommen mehr. Lutz bleckte angriffslustig die Zähne. Sollte der Mercedesfahrer ruhig ein bißchen schmoren! Er hatte es verdient! Lutz stieg aus. Der Mercedesfahrer tat dasselbe. Und dann gab ein Wort das andere. Wüste Beschimpfungen flogen hin und her, und die Wagen, die hinter ihnen in der Schlange standen, betätigten ihre Hupen. Immer mehr Wagentüren wurden geöffnet. Lutz deutete auf den Mercedesfahrer. „Ich finde, der Kerl hier braucht eine Lektion! Man sollte ihm mal beibringen, wie man richtig Auto fährt! Es geht doch nicht an, daß diese dicke Limousinen sich erst rechts an der Schlange vorbeistehlen und sich dann wieder vordrängeln.“ Einige der anderen Leute nickten zustimmend. Ein kräftiger Rothaariger, der aus einem Lieferwagen gestiegen war, krempelte die Ärmel hoch und knurrte: „Das finde ich allerdings auch!“ „Mir geht das auch schon lange auf die Nerven!“ „Mir auch!“
Lutz und zwei andere Männer kamen auf den kleinen dicken Mercedesfahrer zu, der bei diesem Anblick noch viel kleiner wurde, als er ohnehin schon war. „Hören Sie, ich muß dringend weg. Ich habe eine Verabredung, die keinen Aufschub duldet!“ Lutz verzog das Gesicht und sah den Dicken von oben herab an. Der Mercedesfahrer schwitzte. Seine Augen waren glasig, sein Blick schien etwas Gehetztes, Wahnhaftes auszudrücken. „Lassen Sie mich weiterfahren, sonst ist es zu spät!“ „Zu spät ist es erstmal für dich!“ Lutz packte ihn am Kragen und drückte ihn gegen seinen Wagen. Dann fiel sein Blick durch das Fenster und er sah auf einen riesigen Haufen von Flaschen. Schnapsflaschen, um genau zu sein. Kleine Flachmänner fanden sich neben großen Rumflaschen. „Jetzt versteh ich“, sagte Lutz. „Daß Sie sich nicht schämen, sich als Alkoholiker ans Steuer zu setzen!“ „Ich habe nichts getrunken!“ „Das würde doch jeder sagen.“ „Die Flaschen – die sind nicht für mich!“ „Hören Sie doch auf!“ Und auch die anderen waren fassungslos ob soviel geballten Verkehrsrowdytums. Nein, kein Zweifel, daß ihr Zorn hier gerechterweise den Richtigen traf. „Lassen Sie mich los!“ zeterte der dicke Mann. „Sie werden es sonst noch bereuen. Sie alle!“ Aber Lutz dachte gar nicht daran, den Mann loszulassen. Und der Kerl aus dem Lieferwagen bestärkte ihn darin, indem er sagte: „Wir können den Schluckspecht unmöglich wieder ans Steuer lassen.“ Und damit ging der große, kräftige Mann um den Wagen herum, öffnete die Tür und beugte sich zum Zündschloß. Er zog den Schlüssel heraus. Der Mercedesfahrer wurde bleich. „Ich muß bis drei Uhr beim Treffpunkt sein, damit ich ihnen die Flaschen geben kann!“ zeterte der
dicke Mann mit hervorquellenden, wie irre dreinblickenden Augen. „Sie werden sich sonst furchtbar rächen und glauben, daß wir Menschen unzivilisierte Tiere sind, die besser vom Antlitz dieses Planeten getilgt werden sollten!“ „Von wem sprechen Sie?“ fragte Lutz stirnrunzelnd, wobei er sein Gegenüber unwillkürlich wieder siezte. „Von den Wesen, die mit ihrem Raumschiff gekommen sind. Ich weiß, daß Sie mir nicht glauben werden, aber davon, daß ich weiterfahren kann, hängt das Schicksal der Menschheit ab!“ „Man sollte ihn mal den Idiotentest machen lassen. Da fällt er garantiert durch“, meinte der Mann aus dem Lieferwagen, und Lutz schüttelte fassungslos den Kopf. „Sturzbesoffen, der Kerl!“ „Oder plem-plem!“ rief jemand anderes. „Oder beides!“ „Wahrscheinlich beides.“ „Unglaublich. So jemand wird in den Straßenverkehr losgelassen!“ „Hat jemand ein Autotelefon? Dann können wir die Polizei rufen!“ Der kleine dicke Mercedesfahrer kreischte laut herum. Dann traf sein Blick auf die große Kirchturmuhr, die von hier aus sichtbar war. Er verstummte von einer Sekunde zur anderen und schüttelte stumm den Kopf. Und auch alle anderen waren plötzlich ruhig. Lutz ließ sogar den Kragen des Dicken los, denn es hatte gerade drei Uhr geschlagen. Das letzte, was sie alle sahen, war ein unwahrscheinlich greller Blitz. Dann war es dunkel. Endgültig dunkel.
Ines Bouhannani Geboren 13.01.1968, Studium der Amerikanistik und Germanistik an der Universität Hamburg bis 1995. Veröffentlichungen: - 1990 Gedichte in der Sendung „Junge Autoren im Gespräch“ im Rundfunk NDR 3. - Seit 1990 Gedichte in verschiedenen Literaturzeitschriften, z. B. Symposium, Gegenwind, Blätter der Zeit und 1995 ein Gedicht in Die Horen - 1997 DIE SONNENSPRACHE DER FARBEN – erste eigenständige Publikation eines Gedichtbandes im Shaker-Verlag Aachen ISBN 3-8365-2500-0 - 1992, 1995 und 1996 Veröffentlichungen von Kurzprosa in Anthologien „Hamburger Ziegel“. Preise für Lyrik: - 1991 Markgräfler Jugendkulturpreis (Erster Preis) - 1994 Studierenden-Wettbewerb der Universität Hamburg „Erlebnis Universität…“ (achter Preis) Für Prosa: - 1998 Hamburger Förderpreis für Literatur
Ines Bouhannani PROGNE UND PHILOMELA … Peragit dum talia Progne, ad matrem veniebat Iyts. Quid possit, ab illo admonita est oculisque tuens inmitibus „a quam es similis patri!“ Noch redete Progne, da kam Iytis zu auf die Mutter. Und er, er belehrte sie, was sie vermöge. Sie spricht unter grimmigen Blicken: „Ha wie ähnlich dem Vater du bist!“ Ovid, Metamorphosen, Buch VI Vers 619-621
Wir könnten Schwestern sein, später, als ich die Bilder sah, fiel es mir auf. Ich werde jetzt nicht mehr von uns sprechen, denn wir sind nur eine Erfindung, eine Einheit, die nie existiert hat. Daher werde ich in der dritten Person sprechen wie der Erzähler einer griechischen Sage, einer Erzählung die von der Gegenwart so weit entfernt ist wie Cäsars Gallischer Krieg. Beide Frauen sahen sich ähnlich, beide dunkelhaarig und schmal, die ältere hatte das Haar zu einem traditionellen Knoten geschlungen, ein kleines Mädchen hält sich an ihrem geblümten Rock fest, die Finger im Mund beobachtet es verstohlen die anderen Fahrgäste. Es war seine Frau, aber ich erkannte sie nicht. Damals war sie schon wieder schwanger, die Blumen dehnten sich schon über ihrem runden Bauch, ein seltsamer Kontrast zu der sonst hageren Gestalt. Sie hätte meine Schwester sein können, so gering war der Altersunterschied,
aber ich hielt nach einer Vettel Ausschau, vertrocknet wie ein altes Brötchen. Sie selbst wußte mehr. Er muß ihr soviel über mich erzählt haben, unwissentlich, Spuren hinterlassen haben, denen sie folgen konnte, daß sie mich schließlich erkannte wie ein Tier den Fallensteller am Geruch der Pelze. Die Stimme, die mich anrief, klang dringlich aber nicht bedrohlich, sie bat, ich solle kommen, sie wolle mir etwas zeigen: Ihre Wohnung leer, vergilbt, kalt – die Heizungsrechnung war nicht bezahlt. Er hatte sie nicht beglichen, wer weiß, ob er die Miete noch überwies, ihr Mann, mein Freier, ein Wunder, daß die Elektrizität nicht gesperrt war, denn das Licht brannte. Es war eine banale Geschichte. Ich bin kein allwissender Erzähler. Ich habe sie nicht gefragt, warum sie nicht die Kinder nahm und diese kalte Höhle verließ, zu Verwandten ging oder Freunden. Das Mädchen, das ich in der U-Bahn gesehen hatte, war von einem Husten besessen, der sie schütteln konnte wie eine große Hand. Die Wiege des Neugeborenen stand neben dem offenen Herd, der einzigen Wärmequelle. Worauf wartete ihre Mutter mit stumpfsinniger Geduld? Ich beantwortete ihre Fragen, gab zu Protokoll was ich wußte: Ihr Mann saß jetzt allein in dem Zimmer, in dem ich mein Geschäft betreibe. Ein ganz einfacher Handel, wie jeder Mensch trage ich meine Haut zu Markte – Geld gegen Ware. Mein Körper interessiert mich nicht. Ich kann ihn abstreifen wie einen langen Handschuh, vergessen wie einen Schirm, den man versehentlich stehen läßt. Das ist kein Talent, sondern ein weißes Pulver, das mich mitnimmt in das gleitende Licht des Olymp, in dem die Götter baden. Für mich ist das Leben einfach, mein Glück läßt sich an- und abschalten wie ein Fernseher. Das Problem ist nur, das Geld zu beschaffen für eine neue Reise zum Olymp, deshalb kann ich keinen Mann ablehnen, auch ihren nicht, weil der Hunger nach diesem Licht mich zerfrißt. Das Schweigen breitete sich in der Küche aus wie ein zäher Brei. Ich konnte mich nicht bewegen, wie in einem schlechten Traum beobachtete ich die Frau, wartete auf eine Reaktion, einen Schrei, einen Fluch oder nur ein Zucken ihres Körpers.
Das Baby begann zu weinen. Wortlos nahm sie es aus der Wiege, legte es mit einer Decke auf den Küchentisch, wechselte die Windeln. Es war ein Junge und der Kälte wegen begann er noch stärker zu wimmern. Sie holte einen großen Pappsack, braunes Papier gefüllt mit Mehl oder Puder, darin hüllte sie das Baby ein. Es sah aus, als stecke es bis zum Hals unter einer weißen Decke, sie schob ihm den Schnuller in den Mund, jetzt gluckste er zufrieden. Mit einer Handbewegung wies sie mich an, etwas aus der Schublade zu holen, in deren Nähe ich stand. Ich öffnete sie und fand nur ein großes Messer. Ich verstand sie nicht, aber ich reichte es ihr, vorsichtig mit dem Griff zuerst. Sie nahm das Messer und steckte es in die Brust des Säuglings wie einen Schlüssel ins Schloß und drehte es dreimal um. Danach wusch sie es sorgfältig im Waschbecken und legte es auf die Spüle. Blut trat aus der Wunde und vermischte sich mit dem puderigen Weiß zu einem Teig, der langsam erstarrte. Der große Kopf sank zur Seite als sei das Kind eingeschlafen. Es war klar, was wir jetzt tun mußten, ohne ein Wort zu wechseln, befolgten wir alle die gleiche Regel. Ich sehe uns dasitzen, um den Küchentisch, jeder auf seinem Platz, die Mutter, das kleine Mädchen, ich. Der vierte Stuhl ist leer. Jeder steckt fest in diesem grellen Neonlicht, das uns umgibt wie eine feste Masse. Wir warten. Das Küchenfenster hat sich bereits schwarzblau verfärbt, als der Schlüssel klirrt. Zuerst sieht er mich, sein Gesicht verzieht sich zu einer albernen Grimasse der Verlegenheit. Dann nahm er den Säugling wahr. Er berührte sanft die Wange des Kindes, versuchte, den Kopf zu sich zu drehen. Er stieß ein unmenschliches Gebrüll aus. Ein Stuhl flog und verfehlte nur knapp seine Frau. Das Klirren, als er die Fensterscheibe durchschlug, setzte einen Kreisel heftiger Bewegungen in Gang von dem ich ausgeschlossen blieb. Wie ein ferner Beobachter, eine stumme Zeugin sah ich, wie er mit dem Messer, das sauber abgewaschen auf der Spüle gelegen hatte, auf seine Frau losging, die ihm immer wieder auswich, das kleine Mäd-
chen, das immer wieder kurze helle Angstschreie ausstieß, versuchte mit ihr Schritt zu halten. Erst als es in die Enge getrieben war, öffnete es seine Flügel, und verschwand als unscheinbarer grauer Vogel in die Nacht, während die Mutter auf Schwalbenfüßen folgte. Mit einem hörbaren Flügelschlag erhob sich zuletzt der Wiedehopf und ließ nur das Messer zurück. Ich blieb allein in der leeren, hell erleuchteten Küche mit einem toten Säugling und einer zerbrochenen Fensterscheibe, bis mich die Panik überfiel wie ein großer Falter, der ins Licht fliegt und dabei den Raum verdunkelt. Ich rannte, rannte und fiel, bis ich das schäbige Gelb meiner vier Wände wiedererkannte. Morgens gegen vier Uhr, wenn die Luft noch grau ist und kalt wie Wasser, erwache ich manchmal vom Gelächter der Vögel. Ich verstehe ihre Sprache nicht, aber ich weiß, daß sie über mich lachen. Ich war zu schwerfällig für eine Verwandlung. Ich werde nie fliegen.
Kai Engelke Jahrgang 1946, geboren in Göttingen, aufgewachsen in Hildesheim, Berlin und Wyk auf Föhr; Redaktionsvolontariat bei dpa in Frankfurt am Main, zeitweiligfreier Journalist für die taz und für den NDR. Studium in Hildesheim (Deutsch, Kunst, Musik, später auch Sport), Mitarbeit an mehr als 70 Anthologien, 25 selbstständige Veröffentlichungen bzw. Herausgaben. Lebt als Schriftsteller, Kulturjournalist, Musikant, Maler und Pädagoge mit seiner Familie in einem Landarbeiterhaus im Emsland. Zuletzt erschienen: WIE GUT, DASS BEI UNS ALLES ANDERS IST!, Ost-West-Dialog mit Christoph Kuhn (Halle), Friedland 1999, 6. Aufl. 2000. BLUT, SCHWEISS UND TRÄUME, Roman, Friedland 2000, 3. Aufl. 2001. Lyrik, Prosa, Lieder und journalistische Texte in Kalendern und Magazinen, Literaturtelefonen, Tageszeitungen, Literaturzeitschriften, Schulbüchern, auf Plakaten, Bierdeckeln und Postkarten, auf CD, LP und Kassette, in Funk und TV. Enge Zusammenarbeit mit Musikern und bildenden Künstlern. Mehrere Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen; (Landesvorstands-)Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS), Vizepräsident der literarischen Schücking Gesellschaft; Initiator und Organisator der „surwolder literaturgespräche“. Lesungen in Kneipen, Cafés, Jugendzentren, auf Festivals, in Kirchen und Bordellen, Buchhandlungen, Bibliotheken, Gefängnissen, Volkshochschulen und Universitäten sowie auf der Straße; Texte des Autors wurden ins Englische, Polnische, Spanische und Plattdeutsche übertragen. Mehrere Literaturpreise, u.a. den Georg-Herwegh-Literaturpreis 1989, 1. Preis beim Hamburg-Wilhelmsdorfer Poetry-Slam 1998.
Bestenliste 1999: „Das neue Buch in Niedersachsen und Bremen“. Verzeichnet in folgenden Nachschlagewerken (Auswahl): Kürschners deutscher Literaturkalender, Berlin-New York 1980 Niedersachsen literarisch, Hannover 1981 und 1988 Wer ist wer? – Das deutsche Who ‘s who, Lübeck 1985 Hildesheimer Literaturlexikon von 1800 bis heute, Hildesheim 1996 und Literatur in Niedersachsen, Göttingen 2001 e-mail:
[email protected] www.kaiengelke.de
Kai Engelke ICH WILL NICHT SEIN WIE ER „Dein Lachen – genau wie das von Papa… früher.“ Michael zog die Mundwinkel nach unten. „Ich lache wie ich“, sagte er und drehte sein Gesicht von der Mutter weg. „Möchtest du noch ein Stück? Es ist genug da.“ „Nein danke, ich bin wirklich satt. Vielen Dank!“ Michael schob den Kuchenteller zur Tischmitte und stand auf. Wie immer lagen ein paar Krümel auf dem Tisch an seinem Platz und auf dem Fußboden, unter seinem Stuhl. Michael bemerkte die Krümel und machte einen Schritt in Richtung Abfalleimer, wo auch Handfeger und Kehrblech ihren Platz hatten. Johanne Gerlach kam ihrem Sohn zuvor: „Lass mal, Junge, ich mach das schon. Du kannst ruhig in dein Zimmer gehen.“ Wortlos verließ Michael den Raum. Wenig später waren Gitarrentöne zu hören. Sie kamen aus Michaels Zimmer.
„Er übt wieder“, sagte die Mutter lächelnd. Eberhard Gerlach, der bisher schweigend am Tisch gesessen hatte, reagierte prompt: „Aber was er da klimpert! Das klingt doch scheußlich! Das will doch kein normaler Mensch hören! Mir fällt es schwer, so etwas überhaupt als Musik zu bezeichnen!“ Er streckte seine Hand nach der Kaffeekanne aus und stieß dabei die Süßstoff-Flasche um. Kleine Spritzer der klaren Flüssigkeit rollten wie Perlen über das gestärkte Tischtuch. „Scheiße“, sagte Gerlach, richtete die Flasche wieder auf und goss sich Kaffee nach. „Der sollte sich lieber richtig um sein Studium kümmern!“, nörgelte er. „Das tut er doch“, sagte die Mutter. „Aber ich finde, Michael ist technisch schon recht gut. Was der auf der Gitarre drauf hat, das ist doch ganz beachtlich!“ „Was verstehst du denn davon“, sagte Gerlach. „Findest du das Zeugs etwa schön, was die sich da zusammenspielen? Würdest du dir solche Geräusche wirklich freiwillig anhören?“ „Manches gefällt mir ganz gut, manches weniger. Aber das ist mein persönlicher Geschmack. Es gibt Leute, die stehen auf Death-Metal oder Black-Metal. Michael und seine Band sind technisch brillant. Das muss man doch sehen, da musst du vom eigenen Geschmack mal absehen. Das musst du doch unterscheiden!“ „Ich muss überhaupt nichts! Ich find’s einfach nur zum Kotzen! Basta! Death-Metal – was ist denn das für ‘n Scheißname? Kann man das denn nicht auch positiv benennen?“ „Es ist eben nicht alles nur positiv“, sagte Johanne Gerlach, wobei sie ihren Mann kurz aus den Augenwinkeln musterte. „Und außerdem: Toleranz ist noch nie deine Stärke gewesen!“ Johanne Gerlach begann, den Kaffeetisch abzuräumen. „Willst du streiten oder was?“ Gerlach stand auf, wobei er mit den Oberschenkeln beinahe den schweren Eichenstuhl zum Umkippen brachte. „Nein, streiten möchte ich nicht. Ich fand’s aber richtig, wenn du deinem Sohn irgendwann einmal ein wenig Anerkennung aussprechen
würdest. Auch wenn das, was er macht, nun nicht gerade deinem persönlichen Geschmack entspricht.“ Johanne Gerlachs Stimme zitterte, sie war um Fassung bemüht. „Ach was! Dummes Gerede! Alles Quatsch!“ Gerlach verließ die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Johanne Gerlach stapelte das Geschirr übereinander, trug es zur Spülmaschine, räumte alles sorgfältig ein und fegte die Krümel zusammen. Durch das Küchenfenster fiel ein später Sonnenstrahl und malte Lichtbilder auf den Steinfußboden. Von Michaels Zimmer her kamen noch immer Gitarrentöne. Draußen, in der Werkstatt schlug Gerlach mit dem Hammer auf Metall.
Wieder einmal trat Michael mit seiner Band ganz in der Nähe seines Elternhauses auf. Sie hatten in Eigenregie eine CD produziert, die sie ihrem Publikum nun vorstellen wollten. DIE SCHATTEN DES ABSEITIGEN, so hatten sie ihr erstes Werk getauft. „Diesmal gehe ich hin. Ich will mir das einmal ansehen. Und ich glaube auch, dass Michael das von uns erwartet.“ Johanne Gerlach war fest entschlossen, das Konzert ihres Sohnes Michael zu besuchen. Auch auf die Gefahr hin, von den Jugendlichen als Grufti oder Mumie betrachtet zu werden. „Das ist doch nicht wirklich dein Ernst, Johanne“, sagte Gerlach. „Du machst dich nur lächerlich! Und allein schon dieser Name – DIE SCHATTEN DES ABSEITIGEN… das sagt doch alles! Entlarvend, mehr fällt mir dazu nicht ein!“ Johanne Gerlach ließ sich nicht beirren. Mit der schlichten Frage: „Kommst du mit“, unterbrach sie den Redeschwall ihres Mannes. Der schwieg eine Weile, und es sah ganz danach aus, als habe sie ihn aus dem Konzept gebracht. „Weshalb eigentlich nicht? Ich komme mit. Es soll niemand behaupten, ich hätte Vorurteile!“ Gerlach grinste. Johanne wusste zunächst nicht, was sie von dem plötzlichen Sinneswandel ihres Mannes halten sollte. Zumindest bedeutete seine Zu-
sage in ihren Augen eine unerwartete Chance der Annäherung zwischen Vater und Sohn. Das Konzert – Gerlach bezeichnete Michaels Musik noch immer als „akustische Umweltverschmutzung“ – fand in einem stillgelegten Wasserwerk statt. Der Raum, in dem die Bühne aufgebaut war, musste zuvor eine Art Werkstatt gewesen sein. An der Betondecke waren Schienen angebracht, Ketten hingen herab, einzelne Maschinenteile standen ebenso verloren herum wie die schwarz gekleideten Jugendlichen, die an ihnen lehnten. Die wenigen Fenster des ohnehin düster wirkenden Raumes waren mit schwarzen Tüchern verhängt. Ein paar nackte Glühbirnen spendeten ein fahles Licht. Aus überdimensionalen, offenbar selbst gebauten Lautsprechern dröhnten Klänge, die Gerlach nicht als Musik hätte durchgehen lassen. Als die Gerlachs den Raum betraten, drehte sich niemand nach ihnen um. Sie waren Besucher, wie alle anderen auch. Auf der Bühne wurden Kabel entrollt und Mikrofonständer aufgebaut. Im Hintergrund der Bühne hing ein großformatiges Tuch, das mit keltisch anmutenden Zeichen bemalt war. An einem kleinen Tresen, rechts von der Bühne, gab es Getränke zu kaufen. Gerlach holte für sich eine Flasche Bier und für seine Frau ein Mineralwasser. Auch sie lehnten sich nun an die Reste einer ausgedienten Maschine und warteten. „Sind ja nicht teuer, die Getränke!“, rief Gerlach. „Nein, nicht teuer!“, rief sie zurück. „Hast du Michael schon gesehen?“ Es war nicht leicht, sich bei dem Geräuschpegel zu verständigen. Johanne Gerlach wies mit dem Finger zwischen Getränkestand und Bühne. „Dort steht er mit den Jungs von seiner Band.“ „Ach ja, jetzt sehe ich ihn auch!“ Gerlach hatte seine Flasche bereits geleert, hielt sie aber noch immer in der Hand. Langsam füllte sich der Raum. Ohne Ausnahme trugen die jungen Besucher schwarze Kleidung. Manche hatten die Gesichter weiß und die Augen und Münder schwarz geschminkt. Andere hatten ihre Haare mit Hilfe von Zuckerwasser oder Gel zu spitzen Stacheln geformt. Viele trugen Ketten um den Hals, um die Arme oder auch an der Klei-
dung. Die Mäntel, Umhänge und Röcke reichten meist bis auf den Boden. „Tanz der Vampire“, feixte Gerlach. Er lachte. „Hallo, Frau Gerlach! Sie hier? Ach, Herr Gerlach, Sie sind ja auch da!“ Das war Julia, die Nachbartochter. Gehörte zu Michaels Clique. Und schon war sie wieder im Gewühl verschwunden. „Nettes Mädchen“, sagte Gerlach. Seine Frau nickte. Plötzlich ging das Licht im Saal aus, nur die Bühne wurde von mehreren Spots erleuchtet. Aus den Lautsprechern kamen grelle Pfeiftöne, die jedoch schnell wieder verstummten. Rückkopplungen. Ohne eine Ansage begann die Band zu spielen. Schnell, heftig und vor allem laut. Einer auf der Bühne bediente kein Instrument. Er presste mit beiden Händen ein Mikrofon an seinen Mund. Es sah aus, als wollte er das Mikrofon hinunterwürgen. Die Töne, die er erzeugte, glichen einem unterirdischen Grollen. Der Schlagzeuger arbeitete wie ein Berserker. Seine Hände und Füße bewegten sich so schnell, dass die Augen kaum folgen konnten. Sein Gesicht zeigte einen gequälten Ausdruck. Die zwei Gitarristen ließen ihre Arme wie Windmühlenflügel rotieren. Zwischendurch beschrieben sie mit ihren gesenkten Köpfen schnelle Kreise. Haare wirbelten durch die Luft. Einige der Zuhörer am Rande der Bühne taten es ihnen nach. Headbanging. „Kein Wunder, dass die alle ‘ne weiche Birne haben!“, rief Gerlach. Sein Gesichtsausdruck glich dem des Schlagzeugers auf der Bühne. Johanne Gerlach verzichtete auf eine Antwort. Plötzlich war die Musik zu Ende. Wieder kam nur schrilles Pfeifen aus den Lautsprecherboxen. „Eva und die Schwarzwurzeln!“, schrie einer der beiden Gitarristen ein paarmal hintereinander mit sich überschlagender, hoher Stimme in ein Mikrofon. Dabei wies er wie vorstellend auf seine Kumpane. „Eva und die Schwarzwurzeln!“ Das Publikum applaudierte johlend, vereinzelt waren auch Pfiffe zu hören. Die Musiker verließen verlegen lächelnd die Bühne. „Wer von den Jungs war denn nun Eva?“, fragte Gerlach. Und wieder grinste er.
„Das ist doch nur so ein Bandname“, belehrte Johanne Gerlach in ernsthaftem Ton ihren Mann. Ein paar Instrumente wurden hin- und her gerückt, Becken ausgetauscht, Gitarrenkabel umgestöpselt. Ein pickeliger Junge drehte an den Köpfen eines Mischpults, schob Regler nach oben und nach unten. Als nächste war Michaels Band an der Reihe. Gerlachs Blick ging zum Getränkestand. Angesichts des Gedränges dort, verzichtete er jedoch darauf, sich eine weitere Flasche Bier zu besorgen. „Willst du wirklich noch bleiben?“, fragte er seine Frau. „Michael spielt gleich“, sagte sie. „Wie heißt seine Band eigentlich?“, fragte Gerlach. „Love and hate“, sagte Johanne Gerlach. „Noch nicht einmal das weißt du!“ Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Warum auch?“ Wieder war nur die Bühne beleuchtet, Michaels Band kam hinter dem auf Holzleisten gespannten Bühnenbild hervor, sie schnappten sich ihre Instrumente, und auch sie begannen ihren Auftritt, ohne ein Wort der Einleitung. Langsam, melodisch, leise. Die Musik hatte etwas Fließendes. Einige der Zuhörer wiegten ihre Oberkörper im Takt der Klänge hin und her. Nach und nach steigerten die Musiker Tempo und Lautstärke. Die Klänge wurden härter, aggressiver, bis sie endlich denen ihrer Vorgänger sehr ähnlich waren. Doch dann – ganz unvermittelt – ein Break und wieder diese fast sphärischen Tonfolgen wie zu Beginn des Stückes. In den ruhigen Abschnitten dominierte Michaels Gitarre. Doch bald darauf schien der Sänger der Band ein bevorstehendes Erdbeben anzukündigen. Der Schlagzeuger hämmerte völlig entfesselt auf sein Instrument ein, und Johanne Gerlach glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als ihr Sohn mit gespielt wutverzerrtem Gesicht wie ein Derwisch über die Bühne fegte und dabei seiner Gitarre die heftigsten Tonkaskaden entriss. Das Publikum tobte vor Begeisterung, der Beifall wollte kaum enden. „Gehen wir?“, fragte Gerlach. „Ja, lass uns nach Hause fahren“, sagte sie.
„Eines muss man dem Jungen lassen“, sagte Gerlach, als sie im Auto saßen, „der hat das Publikum in der Hand. Und Gitarre spielen kann er auch.“ Johanne Gerlach lächelte.
Es klingelte an der Haustür. „Wer meint denn, uns sogar am Sonntag stören zu müssen? Und dann noch zur Abendbrotzeit!“, rief Gerlach aus dem Wohnzimmer. „Das wird Dieter sein, du hast ihn selbst eingeladen.“ Johanne hantierte in der Küche. Sie bereitete das Abendessen zu. Sie strich mit den Händen über ihre Küchenschürze und ging zur Haustür. „Du kannst sitzenbleiben! Ich mach schon auf!“ Aus dem Wohnzimmer kam ein undefinierbares Grunzen. „Na, Schwägerin? Gut schaust du aus! Wirst wirklich jeden Tag jünger!“ Johanne wusste, dass Dieter scherzte, das tat er meistens. Trotzdem genoss sie seine Schmeicheleien. „Eberhard, Dieter ist da!“ „Soll reinkommen!“, tönte es aus dem Wohnzimmer. Manchmal stellte Johanne sich vor, wie es gewesen wäre, hätte sie damals Dieter geheiratet. Dieter war Eberhards jüngerer Bruder, der Liebling der Familie, der Leichtfuß. Verglichen mit Dieter wirkte Eberhard schwerblütig und düster. So verschieden konnten Brüder sein, trotz aller äußerer Ähnlichkeit! Johanne hatte damals Eberhards Ernsthaftigkeit imponiert, seine Besonnenheit, wie überlegt er handelte. Doch die heimliche Schwärmerei für ihren unbeschwerten Schwager hatte sie nie so ganz aufgegeben. Sie war ganz sicher, dass auch Dieter sie schon immer sehr gern hatte. „Willst ‘n Bier? Steht im Keller! Kannst mir eins mitbringen!“, rief Eberhard. Auf dem Weg zum Keller kam Dieter an der Küche vorbei. „Na, Johanne? Alles im grünen Bereich?“ Er lächelte. „Ach ja, ich denke schon“, sagte Johanne.
Die beiden Männer tranken Bier. Worüber die wohl sprechen?, fragte sich Johanne. Enge Freunde waren Dieter und Eberhard jedenfalls noch nie gewesen. „Ihr könnt zum Essen kommen!“, rief Johanne. Die beiden Männer kamen in die Küche und setzten sich an den gedeckten Tisch. „Und Michael, was macht der so?“ „Er engagiert sich sehr für seine Musik“, sagte Johanne. „Wir haben neulich eins seiner Konzerte besucht. Er war richtig gut, stimmt’s Eberhard?“ Dieter lachte auf. „Eberhard, du traust dich auf deine alten Tage noch mal in die Nähe einer Bühne? Das gibt’s doch gar nicht!“ Eberhards Miene verfinsterte sich, wovon Dieter sich allerdings nicht im geringsten beeindrucken ließ. „Da tritt der Junge also in deine Fußstapfen. Na, vielleicht schafft er ja das, was du nicht auf die Reihe bekommen hast… verwirklicht deine Träume, alter Junge!“ Gerlach sagte kein Wort. Statt dessen stand er auf, ließ sein Messer auf den Porzellanteller fallen und verließ die Küche. Die Haustür krachte ins Schloss. „Was soll das denn jetzt?“, fragte Dieter, und er sah aus, als habe er absolut keine Ahnung, was die Reaktion seines Bruders provoziert hatte. „Das war nicht richtig von dir, Dieter! Du hast ihn verletzt. Du weißt doch genau, dass er als junger Mann Musiker werden wollte und immer darunter litt, statt dessen etwas Seriöses gelernt zu haben. Du hättest nicht so mit ihm reden sollen!“ „Mein Gott, er kennt mich doch! Wieso reagiert er denn so empfindlich? Ich hab’s doch nicht böse gemeint“, versuchte Dieter sich zu rechtfertigen. „Vielleicht hast du auch Träume, die du nie realisieren konntest. Das tut dann halt weh, wenn man so direkt mit der Nase darauf gestoßen wird“, sagte Johanne. „Doch, doch, Träume hab ich auch“, sagte Dieter und sah Johanne lange an. Sie schaute zur Seite.
„Aber du hast wohl Recht“, sagte Dieter nach einer Pause, „ich weiß noch, wie er früher bis spät in die Nacht in seiner Bude hockte und auf seiner alten Framus-Akustik-Gitarre herumschrammelte. Er übte wie ein Besessener, bis seine Fingerkuppen bluteten. Ich dachte immer, der ist verrückt. Aber ich hab ihn auch bewundert. Er war damals fest davon überzeugt, irgendwann ein Star zu sein und ganz oben zu stehen. Ich dachte immer, wenn es einer schafft, dann er. Na ja, und dann machte er die Lehre als Einzelhandelskaufmann, dann kamst du, Heirat, Familie – und aus der Traum.“ „Willst du mir etwa die Schuld daran in die Schuhe schieben, dass er seine Träume nicht verwirklichte?“, empörte sich Johanne. „Um Gottes Willen, nein! Soweit ich mich erinnere, hatte er die Gitarre schon in die Ecke gestellt, als du auftauchtest. Da waren seine Rock’n’Roll-Träume schon begraben.“ „Das stimmt“, sagte Johanne. „Und dennoch erzählte er in den ersten Jahren viel von seiner Musik. Manchmal hat er mir sogar ein paar seiner Lieder vorgespielt.“ „Ja, das hatte er drauf, darum hab ich ihn immer beneidet“, sagte Dieter. „Was meinst du damit?“, fragte Johanne. „Na, du weißt schon, die Mädchen mit seiner Gitarre betören, das konnte er. Da schmolzen sie nur so dahin.“ „Ach Dieter, hör doch auf!“ Johanne war die Röte ins Gesicht gestiegen. „Wie süß! Sie wird noch richtig rot! Wie ein Teenager!“, freute sich Dieter. „Ja ja, die Familie ist wie ein Mobile: Ein Windhauch genügt, und sämtliche Teile geraten in Bewegung. Wo mag Eberhard hingegangen sein?“ „Ich weiß es doch auch nicht“, sagte Johanne. „Papa meint, du seist ein guter Gitarrist.“
„Wie bitte? Was hat Papa gesagt?“ Um ein Haar hätte Michael sich an seinem Kaffee verschluckt. Er stellte den Becher ab und wiederholte seine Frage: „Was hat Papa gesagt?“ Johanne Gerlach bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. Sie tat, als teile sie etwas völlig Selbstverständliches mit. „Er hat gesagt, dass du das Publikum in der Hand hast und außerdem gut Gitarre spielen kannst.“ „Und wieso sagt er mir das nicht?“ „Ach Michael, du kennst ihn doch. Du weißt doch, wie er ist! Mir hat er’s jedenfalls gesagt, und das ist doch auch schon was!“ Michael sah aus dem Küchenfenster. Er schwieg. „Weißt du eigentlich, dass Papa früher einmal ganz ähnliche Pläne hatte wie du?“ „Du hast es mir erzählt“, brummelte Michael und blickte starr geradeaus durch das Küchenfenster. Außer der Fassade des Nachbarhauses gab es dort allerdings nichts zu sehen. „Er wollte Musiker werden – wie du. Er spielte damals in einer Rock’n’Roll-Band. Sologitarre. Die hatten viele Auftritte damals, waren richtig erfolgreich.“ Auch Johanne Gerlach sah jetzt aus dem Küchenfenster. Mutter und Sohn blickten in dieselbe Richtung, aber sie sahen sich nicht an. „Und weshalb hat er nicht weitergemacht?“, fragte Michael. „Ihm fehlte die Zeit, vielleicht auch der Ehrgeiz. Er machte ja seine Lehre damals. Ja, und dann gründeten wir auch bald die Familie. Es ist für ihn eben ein nicht zu Ende geträumter Traum. Aber du, Michael, du hast doch ganz andere Möglichkeiten. Du kannst bei uns wohnen, kannst dich auf dein Studium konzentrieren und hast außerdem immer noch genügend Zeit für deine Musik. Und wer weiß? Vielleicht kommst du irgendwann ganz groß raus mit deiner Gitarre. Dann kannst du Papas Traum zu Ende träumen.“ Michael wandte sich seiner Mutter zu. „Mama, jetzt hör mir bitte einmal zu. Ich sehe vielleicht aus wie mein Vater, ich spreche wie er, ich spiele Gitarre wie er damals und ich lache wie er, das hast du mir
oft genug gesagt – aber…“ Michaels Stimme wurde lauter, „ich bin doch auch ich! Verstehst du das denn nicht? Ich habe kein Interesse daran, Papas • Träume zu leben! Ich will meine eigenen Träume leben! – Verstehst du das?“ Michael drehte sich wieder zum Fenster hin, wobei er versuchte, seine zitternden Hände vor seiner Mutter zu verbergen. „Ich will keine Aufträge meines Vaters erledigen! Ich will kein fremdes Selbst in mir tragen! Und ich lasse mich von ihm nicht auffressen!“ Johanne Gerlach starrte ihren Sohn an. Ihrem Blick war zu entnehmen, dass sie den Sinn seiner Worte kaum verstand. „Aber Michael, wir sind doch eine Familie! Wir müssen doch zusammenhalten!“ „Ja, Mama, das müssen wir.“
Womöglich habe
ich doch ein wenig zu heftig reagiert, überlegte Michael. Vielleicht tue ich ihm Unrecht. Und Mama versteht sowieso nicht, was ich meine, sie will nur Frieden in der Familie haben. Aber das ist ja auch irgendwie in Ordnung. Vielleicht können Papa und ich ja doch eines Tages ganz locker miteinander umgehen. Mama hat Recht, wir sind eine Familie und müssen zusammenhalten. Was muss es für Papa bedeuten, ewig einem Traum hinterher zu rennen? Ob er wirklich von mir erwartet, dass ich seinen Traum wahr mache? Weshalb reagiert er aber dann so ablehnend, wenn es um meine Musik geht? Er müsste sich doch freuen, müsste mich unterstützen. Ist es die Art der Musik, mit der er nichts anfangen kann? Black Metal ist doch ein Musikstil, wie jeder andere auch. Er muss diese Musik ja nicht lieben, aber er könnte sie tolerieren. Musik entwickelt sich doch weiter, es muss doch alles in Bewegung bleiben. Ist er letztlich sauer auf sich selbst, weil er den neuen Richtungen nicht mehr folgen kann? Weil er merkt, dass er alt wird? Würde er anders sein, spielte ich alte Rock’n’Roll-Standards? Wäre er dann gar stolz auf mich? Mein Vater ist nicht stolz auf mich! Bin ich stolz auf ihn? Was hat er
erreicht, was stellt er dar? Abteilungsleiter in einem mittleren Betrieb! Kann denn ein Sohn darauf stolz sein? Kann man denn überhaupt nur stolz auf außergewöhnliche Lebensleistungen sein? Oder ist es womöglich der ganz normale Durchschnittsmensch, der Respekt und Achtung in besonderem Maße verdient? Muss ich Mitleid haben mit meinem Vater, der seine hochgesteckten Ziele nicht verwirklichte? Sollte ich Mitleid haben mit seinem Versagen? Ist Mitleid irgendwie nicht auch eine Form der Verachtung? Verachte ich meinen Vater? Liebt er mich? Bin ich ihm egal? Verachtet er mich? Weshalb stelle ich mir diese Fragen? Kenne ich meinen Vater? Kennt er mich? Hat er Interesse an mir und an meinem Tun? Habe ich Interesse an ihm und an dem, was für ihn wichtig ist? Ich sollte auf ihn zugehen. Ich könnte ihm die Hand reichen. Ich könnte ihm zeigen, dass er mir wichtig ist. Aber könnte es nicht auch sein, dass ich damit meine eigenen Schwierigkeiten noch erhöhe? Müsste ich mich nicht vielmehr von meinem Vater lösen, um ich selbst sein zu können? Könnte mir der Hass auf meinen Vater nicht das Selbstständigwerden erleichtern? Es ist doch einfacher, sich von jemandem loszusagen, den man für ein Arschloch hält, als von jemandem, für den man Mitleid empfindet, oder? Und Mama? Sie leidet nicht nur unter meinem Vater, sie leidet auch an den Spannungen zwischen ihm und mir. Ich könnte Mama manches erleichtern, ginge ich auf meinen Vater zu. Vielleicht ändert sich die gesamte Familiensituation, wenn ich meinem Vater die Hand reiche. Ich werde ihm von meiner Musik erzählen. Ich werde ihn für meine Musik interessieren. Ich werde ihn für mich interessieren. Es ist das Fremde, das Unbekannte, das verunsichert, manchmal sogar aggressiv macht. Mein Vater reagiert ablehnend und böse auf meine Musik, weil er sie nicht kennt. Ich werde sie ihm nahe bringen. Und wer weiß, vielleicht spielen wir sogar mal zusammen. Er hat doch seine Gitarre noch, ich hab sie auf dem Dachboden gesehen. Wir könnten Frieden schließen, und alles würde erträglicher, besser in unserer Familie. Wir
müssen zusammenhalten, hat Mama gesagt. Ich werde mit Papa reden, ich werde mit ihm reden. „Und du meinst, ich könnte gut Gitarre spielen?“ „Wieso, wer sagt das?“ Gerlach unterbrach seine Zeitungslektüre nicht. Jedenfalls verbarg er sein Gesicht nach wie vor hinter dem Tageblatt. „Ach, nur so, ist schon gut, Papa. Hättest du Lust, dass ich dir einmal ein Stück von unserer CD vorspiele? Ich könnte dir auch etwas dazu…“ „Nee, nee, lass mal, muss nicht sein!“, sagte Gerlach, während er unverwandt in die Zeitung schaute. „Du weißt ja, wie ich darüber denke. Ich halte eben nicht viel von dieser Art – wie soll ich sagen? – Klangerzeugung.“ Er lachte kurz auf. Michael war nicht nach Lachen zu Mute. „Und du wolltest früher wirklich einmal Musiker werden?“, fragte Michael. Endlich ließ Gerlach die Zeitung sinken und fixierte seinen Sohn über die Brillengläser hinweg. „Wer hat dir das denn gesagt?“ „Mama sprach manchmal davon. Ich hab auch schon mal deine Gitarre auf dem Dachboden gesehen. Das ist doch deine, oder?“ „Ja, natürlich ist das meine Gitarre. Und du lässt schön die Finger davon. Nachher kommst du noch auf die Idee, deinen Krach auf meiner Framus zu erzeugen. Das käme direkt einer Entweihung gleich. Diese Gitarre ist an richtige Musik gewöhnt, an Rock’n’Roll nämlich!“ Gerlach schob die Zeitung erneut zwischen sich und seinen Sohn. Beide schwiegen eine Weile. Ich will nicht sein wie er, dachte Michael. Und doch nahm er einen weiteren Anlauf. „Black Metal kommt direkt aus dem Bauch. Hat viel mit Gefühlen zu tun. Außerdem ist diese Musik ein Ausdruck unserer Zeit, dieser Zeit. Das war doch beim Rock’n’Roll ganz genau so! Oder nicht?“
Wieder ließ Gerlach die Zeitung ein Stück herabsinken. Er starrte seinen Sohn an. Sein Blick verriet Ungeduld und aufsteigende Wut. „Du wirst doch nicht im Ernst eure Lärmbelästigung mit dem Rock’n’Roll vergleichen wollen“, bellte er. „Papa, ich möchte doch nur ganz in Ruhe mit dir reden. Weshalb regst du dich denn immer gleich so auf? Black Metal wird technisch auf einem hohen Niveau gespielt.“ Gerlach lachte höhnisch. „Und das, was ihr Gesang nennt, dieses Gegrunze? Willst du mir erzählen, dass das auf technisch hohem Niveau stattfindet?“ „Ich versuche, die Musik, die mir gefällt, möglichst gut zu machen, das ist alles“, sagte Michael. „Mama kann das übrigens nachvollziehen.“ „Mama kann das übrigens nachvollziehen“, äffte Gerlach seinen Sohn nach. „Die versteht doch überhaupt nichts von Musik. Und außerdem: etwas von Grund auf Mieses kann man nicht gut machen. Das liegt nun mal in der Natur der Sache“, sagte Gerlach und tauchte wieder hinter seiner Zeitung ab. Die Mutter kam herein. Sie lächelte. „Na“, fragte sie, „habt ihr beiden euch ein wenig unterhalten?“ „Eine Unterhaltung würde ich das nicht unbedingt nennen“, sagte Gerlach. „Ich hab nur versucht, deinem Sohn den Unterschied zwischen Musik und organisierter Lärmbelästigung zu erklären. Aber ich fürchte, er hat’s nicht verstanden.“ Johanne Gerlachs Lächeln wich aus ihrem Gesicht. „Ja, erinnerst du dich denn wirklich nicht, wie in den 50er Jahren der Rock’n’Roll verteufelt wurde? Das war doch eine vergleichbare Situation wie heute. Alles Neue wird zuerst mit Misstrauen beäugt und stößt auf Widerstände.“ Johanne setzte sich zu den beiden an den Küchentisch. „Jetzt fängst du auch noch an!“, schrie Gerlach. „Kann man denn hier nicht einmal in Ruhe seine Zeitung lesen, ohne von eurem unqualifizierten Gequatsche belästigt zu werden?“ „Papa, ich habe versucht, mit dir zu reden. Aber offensichtlich geht das nicht. Schade“, sagte Michael. Und zum ersten Mal nach all den
Jahren stellte er sich vor, wie es sein könnte ohne den Vater zu leben. Endlich würde Ruhe einkehren und Frieden. Verbotene Gedankenspiele. Michael schob die Bilder in sein Unterbewusstsein zurück. „Eberhard, weshalb können wir denn nicht einmal wie vernünftige Menschen miteinander reden. Auch wenn wir unterschiedliche Positionen vertreten, die kann man doch gegenseitig tolerieren“, sagte Johanne Gerlach. Ihr Ton hatte etwas Flehentliches. Gerlach knallte die Zeitung auf den Küchentisch und sprang auf. „Mir reicht’s jetzt! Ich hab die Schnauze voll! Ich hau ab! Ich geh woanders hin, wo ich meine Ruhe hab. Ihr zwingt mich ja dazu!“ Wieder einmal verließ Gerlach Türen knallend die Wohnung. Johanne fing an zu weinen. Michael nahm seine Mutter in den Arm. „Ich will nicht sein wie er“, sagte er.
Es goss in Strömen und der alte Kombi holperte über die Landstraße. Das Fahrzeug war bis zum Dach vollgepackt mit Band-Equipment. Zwischen Lautsprecherboxen, Verstärkern und Gitarrenkoffern hockten drei schwarzgekleidete Jungs, die Musiker der Black-Metal-Band LOVE AND HATE. „Das wird ‘n geiler Gig“, sagte Konrad, der Sänger. „Ich hab das im Urin.“ „Dein Urin besteht doch hauptsächlich aus Alkohol“, meinte Schlagzeuger Thomas und lachte. Michael schwieg. Er saß am Lenkrad. Draußen war es inzwischen stockdunkel geworden. Die Scheinwerfer beleuchteten die regennasse Straße nur spärlich. Michael bemühte sich vergeblich, mit einem Tuch die Sicht durch die beschlagenen Scheiben zu verbessern. „Halogenlampen müsste man haben“, sagte Konrad. Er saß vorne bei Michael. „Hörst du das?“, fragte Michael. „Da scheppert irgendwas. Schon die ganze Zeit.“
„Die alte Kiste wird’s nicht mehr lange machen“, sagte Konrad. „Wir brauchen ‘n neues Auto.“ „Und wovon sollen wir das bezahlen?“, fragte Michael. In diesem Moment gab der Motor auf. Er ging einfach aus. Michael steuerte das ausrollende Fahrzeug so gut es ging auf den Seitenstreifen. „Scheiße“, sagte er. „Und jetzt? Was machen wir jetzt? Wir verpassen unsern Gig.“ „Wir müssen gucken, was los ist“, sagte Thomas. „Hast du denn Ahnung von Motoren?“, fragte Konrad. „Nee“, meinte Thomas, „aber irgendwas müssen wir doch machen. Vielleicht finden wir ja was.“ Michael entriegelte die Motorhaube, die drei Jungs stiegen aus, Thomas klappte die Motorhaube hoch. „Wir können sowieso nix erkennen“, sagte Konrad. „Ist doch total duster.“ „Und was ist, wenn wir ‘ne Bühnenlampe an die Batterie anschließen?“, fragte Michael. „Dann haben wir Licht genug.“ „Geile Idee! Los, hol mal eine her!“ Konrad war begeistert. Michael ging um den Kombi herum, öffnete die hintere Klappe. Ein zusammengerolltes Kabel fiel auf den Boden. Michael hob es auf, warf es in den Kombi zurück. Er wühlte ein wenig und zog dann einen Bühnenscheinwerfer zwischen den übrigen Utensilien hervor. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. „Ich schneide die Strippen durch, dann können wir sie anklemmen“, sagte Michael. Mit dem Starterkabel verband er die Kabelenden und schloss sie an die Autobatterie an. Es knisterte, ein paar Funken stoben durch den Motorraum, und dann wurde es taghell. „Krass!“, sagte Konrad und grinste. Die drei Jungs beugten sich über den streikenden Motor. Aus der Ferne war jetzt das Motorengeräusch eines anderen Autos zu hören. Es kam rasch näher. „Da kommt einer! Wir sollten ihn anhalten“, sagte Konrad. „Vielleicht kann der uns helfen.“
Er machte einen schnellen Schritt in Richtung Straße, rempelte dabei Michael an, der die Bühnenlampe in den Händen hielt. Die Lampe fiel scheppernd zu Boden, blieb aber heil. Der Lichtstrahl tauchte das herannahende Auto in gleißendes Licht. Der Wagen raste einen Augenblick direkt auf sie zu, machte dann einen Schlenker von ihnen weg, rutschte quer über den Asphalt und schleuderte schließlich krachend gegen einen der Alleebäume. Eine Radkappe rollte durch den Lichtkegel, drehte sich noch ein paarmal um sich selbst und blieb dann liegen. Kein Geräusch war mehr zu hören. Absolute Stille trat ein. Langsam ging Michael auf das völlig zertrümmerte Auto zu. Seine beiden Freunde blieben regungslos am Kombi stehen. Niemand sprach ein Wort. Noch immer war Michael nicht bei dem verunglückten Auto angekommen. Ein Film lief ab. Slow motion. Endlich hatte Michael den Wagen erreicht. Er stand direkt davor und starrte den regungslos in seinem Sitz hängenden Fahrer durch die zersplitterte Frontscheibe an. „Papa?“, sagte Michael zu dem Fahrer. „Papa, kannst du mich hören? Papa, sag doch was… bitte!“ Der Mann im Auto antwortete nicht.
Monika Fischer Jahrgang 1962, freie Autorin in Berlin, quälte sich durch drei Ausbildungen und zog in Windeseile ein BWL-Studium durch, um endlich zu dem zu stehen, was sie schon immer und ausschließlich tun wollte: lesen und schreiben. In dieser Reihenfolge. Da sie sich erst so spät getraut hat, hat sie noch nicht so viel vorzuweisen. Hoffentlich wird sie noch alt genug. Bis dahin hält sie sich eisern mit Zeitschriften-Krimis über Wasser.
Monika Fischer EIN MÖRDERISCH HEISSER SOMMER,
dachte Marlene und versuchte, sich nach den letzten kühlen Sommern über die ungewöhnliche Hitze zu freuen, die jede ihrer Bewegungen dramatisch verlangsamte. Sie spürte, wie der Schweiß in kleinen klaren Tröpfchen aus der Kopfhaut quoll und über Stirn, Schläfen und Wangen rann. Sinnlos zu duschen, sinnlos, die Haare zu waschen, der Schweiß schwemmte alle Frische sofort wieder fort. Ausgerechnet bei ihr im Norden schien sich dieses Jahr die Schönwetterfront festzusetzen und den Küstenstrich kräftig aufzuheizen. Selbst auf den sonst so zuverlässigen Westwind konnte Marlene diesmal nicht setzen. Fast schuldbewusst wünschte sie sich Regen, kühl, grau, erfrischend. Für sich und ihren Garten, den sie nach ihrem Abgang von der Bühne peu à peu in ein farbrauschhaftes Emil NoldeAquarell verwandelt hatte, und der nun matt und verbrannt dalag, als sei ein Wüstenwind über ihn hinweggefegt.
Sie löste den Blick von ein paar kläglich grünen Resten und schloss die Tür, um die flirrend heiße Luft auszusperren, sperrte aber gleichzeitig den stechendscharfen Terpentingeruch ein. Sie hatte die Wahl: Hitze oder Gestank. Beides war ihr jedoch immer noch lieber als das, was sie seit neuestem sehr viel mehr störte: der permanente Radau, den ihr neuer Nachbar produzierte. Während der Renovierungsarbeiten an dem alten, malerisch zerfallenen Haus nebenan hatte sie den Baulärm toleriert. Gezwungenermaßen. Sogar die laute Musik, die alles überdröhnte. Es machte sicher wenig Spaß, in dieser Gluthitze körperlich zu arbeiten. Heimlich hatte sie sogar seinen Mut und Idealismus bewundert. Aber nun waren Betonmischmaschine, Bretter und Sandhaufen verschwunden, aber noch immer wehten heiße Techno-Rhythmen zu ihr hinüber. Der Wind schien sich in diesem Sommer komplett gegen sie verschworen zu haben. Was machte dieser Mensch eigentlich den ganzen Tag? Musste er denn nicht mal ins Büro oder sonst wohin? Eine Atem- und Ruhepause täte ihr mehr als gut. Was aber, wenn er wie sie zuhause arbeitete? Und zur Inspiration ausgerechnet Musik benötigte, noch dazu laute? Marlene dagegen genügten visuelle Reize, ein schöner Garten zum Beispiel. Ihrer. Ach, lieber nicht dran denken. Aber arbeiten konnte sie auch nicht, nervös lauschte sie auf Geräusche aus dem Nachbarhaus. Fast zwanghaft schon. Fahrig sortierte sie Pinsel und wusch Farbnäpfe aus. Das halbfertige Bild stand seit Tagen unbeachtet auf der Staffelei und strahlte vorwurfsvolle Ungeduld aus. Wie ein Liebhaber, den sie mitten im Liebesspiel hatte sitzen lassen. Das Blau, das sie zuletzt verwendete, war geradezu höhnisch ausgefallen. Aber alles, was sie statt dessen mischte, schien die verächtliche Herablassung nur noch zu verstärken; schließlich warf sie ein Laken über die Leinwand, aber der Protest drang stumm unter dem Tuch hervor. Marlene beschloss, mit ihrem Nachbarn zu reden. Die Tür war nicht verschlossen. Sie klopfte, aber der Laut ertrank in einer Welle anbrandender Musik. Kurzentschlossen trat sie ein: das Haus war größtenteils entkernt, eine riesige lichtdurchflutete Halle verlieh dem Lärm eine einzigartige Resonanz. Noch mehr aber ver-
blüffte sie die düstere Farbwoge, die ohne Vorwarnung über ihr zusammenschlug: Rot und Schwarz in gewalttätigen Kompositionen, martialische Pinselstriche in monströsen Metallrahmen, beißender Terpentingeruch. Ein Maler, dachte Marlene verwirrt, ein Kollege. Und doch wieder nicht. Mit ihrem unschuldig leuchtenden Nolde-Idyll hatte er nichts gemein. Ein Impuls riet ihr zum sofortigen Rückzug. Sie war schon fast an der Tür, als der Krach schlagartig verstummte. In der plötzlichen Stille hallten ihre Schritte verräterisch laut. „Ja, hallöchen, hallooo! Wen seh ich denn da? Meine selbsternannte sister in art! So sprecht, was führt Euch her?“ Eine hohe Fistelstimme drang von irgendwo über Marlenes Kopf. Sie reckte den Hals. Da stand er, der Mann, von dem sie auf der Baustelle bisher nur den sonnenverbrannten Rücken und den ausgebleichten Strubbelkopf gesehen hatte. Wie ein Naturbursche hatte er gewirkt, kräftig, männlich, fast wie einer ihrer Söhne. Auf das hier war sie nicht gefasst: barfuss, halbnackt, nur in engen schwarzglänzenden Hosen, die seine muskulösen Schenkel nachzeichneten, mit einem Sektkelch in der einen und einer nietenbesetzten Hundeleine in der anderen Hand. Er grinste. Sinnliche Lippen enthüllten spitze Eckzähne. Reißzähne, dachte Marlene. Betäubt starrte sie ihn an. „Was starrt sie so? – Eh, chéri, komm her!“ Ein farbloser, fast völlig entblößter junger Mann in Tigertanga und silberbeschlagenem Lederhalsband tauchte verschlafen neben der dämonischen Gestalt auf. „Sieh da! Ist sie gekommen, dem wahren Genius zu huldigen? Ha – ha. Seid nicht töricht, meine Tochter, verschwendet nicht Euer bisschen Zeit, die Ihr noch auf Erden weilt, an eine so göttliche Aufgabe wie die Malerei. Sortiert Heber Autogrammkarten und gießt fleißig Eure Blümelein!“ Er beugte sich über das Geländer und prostete ihr spöttisch zu. Mit großer Geste wies er auf die Wände mit den meterhohen Gemälden: „Das hier ist das Heute, das Jetzt. Eure Zeit ist vorbei, Madame. Vorbei, vorbeeiiii!“
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. Heiser, schrill. Wie nicht von dieser Welt. Marlene floh.
Die Apotheke empfahl Oropax, doch die Bässe drangen dumpf durch die Wachsschicht; auch ein klobiger Gehörschutz drückte nur und half nicht. Schließlich ging sie zur Polizei. Auf der Wache hörte man ihr höflich zu, ließ jedoch durchblicken, dass man es sich zur Ehre rechne, neuerdings einen so ausgefallenen Prominenten zu den Einwohnern zu zählen. Ein Tourismus-Magnet. Der junge Beamte lächelte entschuldigend: „Künstler, Sie wissen doch…“ Und ob sie wusste! Marlene entschied, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Künstlerisch natürlich. In weiterem Sinne. Mal sehen, ob sie es noch drauf hatte…
Als man den großen Meister fand, hing er schlaff und mit einer Hundeleine gefesselt an der Heizung, durch und durch dehydriert, fast mumienhaft verschrumpelt. Eher Ramses als Adonis. Knapp außer Reichweite stand ein großer Edelstahlnapf mit verkrustetem Kalkrand. Tiefe Kratzspuren im Dielenboden. Von dem blassen Jüngling keine Spur, die Fahndung lief. Die Beamten hatten grüne Gesichter und warfen scheue Blicke auf Marlene, die sehr aufrecht in ihrem Garten stand und überlegte, ob sie nicht noch rasch ein paar Sonnenblumen pflanzen sollte. „Aber Sie müssen doch etwas gehört haben,“ ereiferte sich der Kommissar. „Irgendwas!“ Marlene zog höflich ihre Ohrstöpsel heraus: „Wie bitte?“ Sie betrachtete den Spaten in ihrer Hand. So gut gedüngt war der Boden schon lange nicht mehr. Entschlossen stieß sie das Blatt in die Erde. Vor neuen Nachbarn hatte sie nun keine Angst mehr. Komme, was da will – in ihrem Garten war noch reichlich Platz.
Eigentlich schade, dass der Spaß schon vorbei war. Als Sirene war sie noch immer gut. Eine Überraschung. Auch für den Mega-Star. Der hatte nicht schlecht gestaunt, als sie ihn mit Peitsche und Lackstiefeln erst becirct und dann an die Heizung gefesselt hatte. Und voll aufgedreht. Als der schmächtige Jüngling zuerst begriff, hatte sie ihm eins übergezogen. Mit einem der scharfen Metallrahmen. Und vor den Augen des gebundenen Genies hatte sie ihn weggeschleift, bei Nacht, in ihren Garten. Der Maestro hatte gefleht und gebettelt, und als sie nicht reagierte, geflucht und gelästert. Solange er noch die Spucke dazu hatte.
Nun konnte sie endlich an ihr Bild zurückkehren. Lieber HöhnischBlau als Domina-Schwarz. Ja, wirklich ein verdammt heißer Sommer, dachte Marlene und wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn; für die einen mehr, für die anderen weniger…
Irene Fleiss Geboren 1958 in Wien, angestellt an der Universität für angewandte Kunst Wien. Ich habe seit 1983 einen Fantasy-Roman und mehrere Erzählungen und Gedichte veröffentlicht. Obwohl ich voll berufstätig bin, betrachte ich das Schreiben als meinen (zweiten) Beruf. Ich beschäftige mich auch intensiv mit der Matriarchatsforschung, arbeite an einem Buch darüber, gestalte Beiträge für eine Website und halte Vorträge an Volkshochschulen. Wenn mir noch Zeit bleibt, lese ich viel – alles, was unser herrschendes Weltbild in Frage stellt – und beschäftige mich mit meinen Katzen.
Irene Fleiss EMMA
Emma
starrte geschlagene fünf Minuten auf die Zeitung in ihrem Schoß, ohne etwas wahrzunehmen. Aufseufzend zwang sie sich, den Artikel nochmals zu lesen. Ihre Hände zitterten, als sie die Seite umblätterte. Ein zehnjähriges Mädchen war in einer U-Bahntoilette von einem Wahnsinnigen mit einer Axt überfallen worden und lag mit Schädelbasisbruch auf der Intensivstation. Ein Wahnsinniger, schrieben die Zeitungen, aber Emma wußte, daß er nicht wahnsinnig war. Nicht das, was man so landläufig unter wahnsinnig verstand. Ihr Rudi war nicht verrückt. Er hatte nur immer Probleme gemacht.
Das Photo aus der Überwachungskamera vor dem WC-Eingang war körnig und unscharf und zeigte den Mann nur von hinten, aber Emma erkannte Rudi. Eine Mutter erkennt ihren Sohn immer, auch an der Form der beginnenden Glatze auf dem Hinterkopf – von der Rudi selbst noch gar nichts wußte, weil er nicht viel vom Frisieren hielt –, an der Beugung der Schultern, an der Form der Ohren. Und natürlich an der Lederjacke, die sie ihm vor zwei Monaten zum Geburtstag geschenkt hatte, abgespart von ihrer geringen Arbeitslosenunterstützung. Emma dachte nach. Sie wußte, daß noch nichts in ihrem Leben so wichtig gewesen war wie das Ergebnis dieses Nachdenkens. Sie hatte Rudi immer entschuldigt, immer Erklärungen und Ausreden für sein Verhalten gefunden. Zunächst war es harmlos gewesen. Rudi wollte keinen Beruf lernen, jobbte als Hilfsarbeiter – nun, er hatte einfach Pech mit den Chefs, die ihn nicht zu schätzen wußten. Später war Emma klargeworden, daß die Chefs ihn wahrscheinlich ganz richtig eingeschätzt hatten. Er verprügelte andere Kinder, kleinere Kinder zumeist, stahl ihnen das Essen, zwang sie, seine Hausübungen zu schreiben – na ja, das haben Kinder so an sich, nicht wahr? Kinder probieren ihre Grenzen aus. Es war nicht Rudis Schuld, daß sie und Ewald seine Grenzen nicht eng genug gesteckt hatten. Bis heute fragte sich Emma – und sie würde sich das Zeit ihres Lebens fragen –, ob es anders gekommen wäre, ob Rudi sich anders entwickelt hätte, wäre sie nicht so liebevoll nachsichtig gewesen, wäre Ewald nicht so unverzeihlich stolz auf seinen einzigen Sohn gewesen. Hätte er eine starke Hand gebraucht, die ihn auf den rechten Weg führte? Oder säße sie in diesem Fall heute auf dieser Bank und fragte sich, ob die Prügel, die er in der besten Absicht bekommen hatte, Schuld an seiner Entwicklung waren? Als die Nachbarn jeden Kontakt abbrachen, nicht mehr grüßten und Rudi aus dem Weg gingen, hatte Emma noch nichts verstanden. Wie hätte sie auch auf die Idee kommen sollen, daß das veränderte Verhalten der zwölfjährigen Lilo mit ihrem Rudi in Zusammenhang stand? Daß die anderen Kinder nicht mehr im Hof spielten, wenn der meist
arbeitslose Rudi da war, war ihr auch nicht aufgefallen. Die Leute im Haus wurden zurückhaltender, fast abweisend, aber niemand sagte etwas zu ihnen. Kusine Clara war, ein Jahr später, nicht so zurückhaltend gewesen. Sie hatte Emma und Ewald klar und deutlich gesagt, was Rudi mit ihrer kleinen Antonia gemacht hatte. Auch Clara hatte keine Anzeige erstattet, „weil so was sowieso zu nichts führt“, wie sie grimmig und resigniert zugleich festgestellt hatte, bevor sie den Kontakt zur Gänze abbrach. „Das einzige, das wirken würde, wäre kastrieren. Und diese Strafe gibt es bei uns nicht.“ Heute, mit diesem Zeitungsbericht und Rudis Photo, bezweifelte Emma, daß selbst Kastrieren etwas geholfen hätte. Rudi war damals 19 gewesen. Natürlich hatten Emma und Ewald sich geweigert, es zu glauben. Clara spann herum, Antonia log aus irgendeinem Grund – es mußte eine Erklärung geben, denn ihr Rudi tat so etwas nicht. Doch mit der Zeit erkannte Emma, daß Clara die Wahrheit gesagt hatte. Rudi belästigte kleine Mädchen. Er versuchte es auch bei erwachsenen Frauen, doch da kam er nicht weiter als zu Beschimpfungen und Betätschelungen. Mehr wagte er nicht. So wie er als Kind nur kleinere Kinder verprügelt hatte, wagte er sich jetzt nur an Kinder, nicht an erwachsene Frauen. Selbst bei kleinen Mädchen blieb es zunächst meist bei Berührungen; sogar diese kleinen Kinder schienen ihm oft zu gefährlich zu sein. Er war lieber mit seinen Freunderln zusammen. Er hatte zwar immer wieder eine Freundin, rauhe Frauen aus dem Milieu, in dem er sich mittlerweile am liebsten bewegte, die daran gewöhnt waren, geschlagen und mißhandelt zu werden, und er ging regelmäßig zu Prostituierten, aber es gab keine einzige wirkliche Beziehung in seinem Leben, nicht einmal die Sehnsucht danach. Rudi handelte mit gestohlenen Waren und dealte, und Emma verschloß die Augen; er war ja ihr Sohn. Auch Ewald verschloß die Augen vor der Wahrheit, bis er sie, viel zu früh, für immer schloß.
Nun war Emma allein mit Rudi, der noch immer bei ihr im Kabinett lebte. Sie sah alles mit an, was er tat; er war ja ihr Sohn. Sie weinte, wenn sie in ihrem Schlafzimmer saß und durch die dünnen Wände mit anhörte, wie er vor seinen Saufkumpanen damit prahlte, eine Frau im nahen Park vergewaltigt zu haben; sie wußte mittlerweile, daß er nie Frauen vergewaltigte, sondern nur Kinder. Aus irgendeinem Grund wäre es Emma weniger entsetzlich erschienen, hätte er erwachsene Frauen vergewaltigt und keine kleinen Mädchen. Sie schämte sich dafür. Doch sie tat nichts, noch immer tat sie nichts; er war ja ihr Sohn. Emma hätte selbst nicht sagen können, warum dieser Fall anders war. Vielleicht, weil das Kind nicht nur seelisch, sondern auch körperlich verletzt worden war. In Emmas Kindheit, die immerhin schon gute 50 Jahre zurück lag, hatte sich niemand um die Auswirkungen von Mißbrauch auf die Kinderseele Gedanken gemacht, und schon gar nicht um Mißbrauch; die Verstümmelung eines Kindes oder gar sein Tod aber waren Anlaß von Entsetzen gewesen. Rudi war ihr Sohn; sie mußte ihn bremsen. Emma wußte, die sie nur zwei Möglichkeiten hatte. Die eine war, zur Polizei zu gehen und Rudi anzuzeigen. Das wäre das korrekte Vorgehen gewesen, das wußte sie. Doch mit den Konsequenzen dieses Handelns konnte sie nicht leben. Nicht nur die Mutter eines Monsters zu sein, sondern die Rabenmutter! Eine Mutter hatte ihr Kind bedingungslos zu lieben, egal was es tat, egal was es anderen Kindern antat. Ein Verrat am eigenen Kind wurde einer Mutter nicht verziehen, auch nicht, wenn er aus dem edelsten und mütterlichsten aller Gefühle erfolgte, der Liebe zu einem Kind. Eine Mutter durfte nur ihr Kind bedingungslos lieben, nicht irgendein anderes Kind. Also blieb ihr nur der andere Weg zu gehen. Müde, so unendlich müde, erhob sich Emma von der Parkbank. Die Zeitung ließ sie in einen Abfallkübel fallen. Sie ging langsam und schwerfällig, aber ohne zu zögern, nach Hause.
Rudis betrunkenes Schnarchen erfüllte die Wohnung. Ihr Herz zog sich zusammen. Sie liebte ihn so sehr. Trotz allem, was er getan hatte, liebte sie ihn mehr als ihr Leben. Jedoch nicht mehr als das Leben anderer Kinder. Und so ging sie in die Küche, holte das schwere alte Eisenbügeleisen vom Küchenbord, unter dem sie ihre eiserne Reserve für den absoluten Notfall aufhob – was Rudi ganz genau wußte. Wie sie erwartet hatte, war kein Geld da. Sie nahm das Bügeleisen, umwickelte den Griff mit einem Geschirrtuch und ging in Rudis Kabinett. Er lag bäuchlings auf dem Bett und schnarchte. Ein fünfunddreißigjähriger Mann mit beginnender Glatze und Bartstoppeln, in Unterhose und schmutzigem T-Shirt – ihr Kind und ein Monster. Wie hatte es geschehen können, daß sie ein Monster gebar? Niemand in ihrer oder in Ewalds Familie war schlecht. Gab es das Böse an sich? War es ihre Schuld? Doch jetzt ging es nicht um Gründe, sondern nur um Tatsachen. Um Rudis Schuld. Sie hob das Bügeleisen und drosch damit auf Rudis Kopf. Zweimal, dreimal. Dann ließ sie es fallen. Schwer pumperte es auf den abgetretenen Parkettboden, auf dem in zwei Jahrzehnten ausgetretene Zigarettentschicks ihre Spuren hinterlassen hatten. Emma schaute auf das Blut, auf die Masse aus Fleisch, Knochen und Blut, die der Kopf ihres Sohnes gewesen war. Sie war froh, daß Rudi im Schlaf gestorben war, ohne aufzuwachen. Sie hatte Recht getan. Niemand außer ihr hätte dies tun dürfen. Sie hatte diesem Kind das Leben gegeben, und nur sie hatte das Recht, ihm dieses Leben wieder zu nehmen. Das Recht und die Pflicht. Noch konnte sie nicht weinen. Richter und Henker weinen nicht, wenn sie vor dem toten Delinquenten stehen. Sie trug das Geschirrtuch in die Küche und gab es zur Schmutzwäsche. Einer von Rudis sogenannten Freunden war in ihrer Abwesenheit hier gewesen, hatte Geld verlangt, ihren Notgroschen genommen und Rudi erschlagen, weil es so wenig war. Sie war nach Hause gekommen und hatte ihren toten Sohn gefunden. Sie glaubte nicht, daß es große Nachforschungen geben würde. Sicherlich würde niemand
die Wahrheit vermuten. Das Kind auf der Intensivstation und seine Mutter würden nie erfahren, was eine andere Mutter für sie getan hatte. Sie stürzte auf den Gang hinaus und rief mit gebrochener Stimme: „Hilfe! Hilfe, um Gottes Willen, Hilfe! Der Rudi ist tot!“ Als die Nachbarin aus ihrer Wohnung stürzte und sie in die Arme nahm, weinte Emma hemmungslos. Jetzt endlich konnte sie um ihren Sohn weinen.
Andreas Gruber Der Autor wurde am 28. 08. 1968 in Wien geboren. Er studierte an der WU-Wien und arbeitet halbtags im Controlling eines Mittelbetriebs. Er hat einen Sohn, ist geschieden und lebt in einem kleinen, kaum auffindbaren Dorf südlich von Wien. Er wuchs mit Larry Brent, Mark Brandis, Robert Ludlum und Pu, der Bär auf. Heute zählen Joe R. Lansdale, Dennis Lehane, David Morrell und Shaun Hutson zu seinen Lieblingsautoren. Seinen Musikgeschmack trifft am besten eine Mischung aus Vivaldi-BeatlesMetallica-Oasis-Manowar-MeredithBrooks-DieArzte und RondoVeneziano. Lieblingsfilme: Dark City, Event Horizon, Aliens, Ein Solo für Zwei und die Indiana-Jones-Trilogie. In seiner Freizeit schreibt er in seinem Arbeitszimmer am PC. Veröffentlichung einiger Arbeiten über „Creative Writing“, Publikation von Sciencefiction-Kurzgeschichten in Magazinen, u.a. Alien Contact, Andromeda, Fantasia, Solar-X, sowie in Buchanthologien der Editionen DUM, NÖ-Kultur und des Aarachne Verlags. 2000 wurde er mit zwei SF-Kurzgeschichten zum Kurd LaßwitzPreis nominiert. Mit seiner SF-Kurzgeschichte DAS PLANSPIEL war er Preisträger beim Literaturwettbewerb des NÖ Donaufestivals 1999, ansonsten 2. Platz beim Marburg Award 1999 und 3. Platz beim Marburg Award 1998. 2000 erschien in der Edition Medusenblut sein erster Kurzgeschichtenband mit neun Horror-Stories: DER FÜNFTE ERZENGEL. Für 2001 ist ein Band mit SF-Erzählungen in einem Berliner Verlag geplant. Weitere Infos: www.myworld.privateweb.at/gruber
Andreas Gruber AUS DEN MEMOIREN DER TOLLPATSCHIGEN FAMILIE BÃNULESCU
Nicolae Bãnulescu war das jüngste Mitglied einer Großfamilie. Gemeinsam mit seinen Verwandten lebte er in seinem Heimatland in einer winzigen Wohnung. Um das Geld für alle zu verdienen, arbeitete Nicolae oft bis spät in die Nacht in der Redaktion einer Tageszeitung. Nicht immer ging es ihnen so gut wie den Menschen im Nachbarland. Darüber machte sich Nicolae häufig Gedanken. In einer der Abendausgaben erschien sein Artikel, worin er sagte, was er dachte. Blöderweise hatte die Regierung seines Landes eine andere Meinung darüber. Mitten in der Nacht fuhren schwere Lkws durch den Ort und hielten vor Nicolaes Wohnung. Als die Soldaten die Tür aufbrachen, drehten die Nachbarn das Radio lauter und ließen die Rollläden ihrer Fenster herunter. Nicolae konnte mit seinen Verwandten rechtzeitig durch das Fenster in den Hof flüchten. Geld, Kleider, Lebensmittel und Dokumente ließen sie in der Wohnung zurück. In der Nacht schafften sie es bis zur Grenze. Von dort flohen sie aus ihrer Heimat in das gepriesene Nachbarland. Dabei wurde Nicolaes großer Bruder vom Bundesgrenzschutz erwischt und über die Grenze in seine Heimat abgeschoben. Nicolae versuchte Kontakt mit ihm aufzunehmen, doch von seinen Briefen wurde kein einziger beantwortet. Wahrscheinlich verschmissen einige unachtsame Postboten seine Briefe oder er klebte zu wenig Briefmarken auf die Kuverts.
Bei seiner
Flucht über die Grenze verirrte sich Nicolaes Vater im Wald und wurde erst Tage später durstig und hungrig von einer Polizeipatrouille aufgegriffen.
Die verständnisvollen Beamten brachten ihn in einen engen, fensterlosen Raum und wollten von ihm wissen, wo sich denn die anderen Familienmitglieder versteckt hielten. Doch verstand er ihre Sprache nicht so gut, deshalb wurde ihm von einem netten Dolmetscher geholfen. Dass Telefonbücher schwer waren, kannte er von zu Hause. Doch – naiv wie er war – wusste er nicht, dass man eine Gehirnblutung bekommen konnte, wenn man nicht aufpasste und sich irrtümlich daran stieß.
Die anderen Familienmitglieder schafften es in die Stadt, wo sie sich aber rasch aus den Augen verloren. Nicolaes Mutter wurde in einem Asylantenheim aufgenommen. Doch eines nachts ging das Heim in Flammen auf, wahrscheinlich vom Funken eines überhitzten Kabels, das ein Elektriker vergessen hatte zu isolieren. Da die Feuerwehr zu spät kam, wurde es ziemlich heiß in den brennenden Korridoren. Wie unklug! Hätte sie sich gleich um eine ordentliche Wohnung gekümmert, wäre ihr das nie passiert.
Bei
einer Polizeikontrolle wurde Nicolaes Schwester aufgehalten. Wohin es ginge? Sie wäre gerade auf der Suche nach Arbeit. Tüchtig, hieß es! Als sie den Beamten aber keinen Ausweis zeigen konnte, wurde sie in eine dunkle Hauseinfahrt gedrängt. Ob sie dort wohl einen Ausweis bekäme? Die freundlichen Beamten lächelten, während sie an ihren Hosen fummelten. Den Ausweis würde sie nicht mehr brauchen.
Nicolaes Tante fand eine Anstellung bei einem internationalen Konzern, wo sie im Entsorgungsmanagement arbeitete, wie es so schön hieß. Gemeinsam mit anderen Frauen aus den benachbarten Ländern transportierte sie Giftmüll in eine Deponie. Sozialversichert war sie nicht, genauso wenig musste sie Mundschutz und Arbeitshandschuhe tragen. Wozu auch? Das behinderte die Frauen nur bei der Arbeit.
Wenn sie sich geschickt anstellten, würden sie das ohnehin nicht benötigen. Als sich Nicolaes Tante, unbeholfen wie sie war, an der Kante eines lecken Fasses eine Verletzung zuzog, fragte sie, ob sie sich mit etwas infiziert hätte? Der Arbeitsunfall war kaum der Rede wert, wie man ihr versicherte. Sie solle nicht hysterisch sein. Der Zwischenfall hatte nicht das Geringste damit zu tun, dass sie Tage später Fieber und einen Ausschlag bekam. Geschickte Mitarbeiter sind eben schwer zu finden.
Auf einer Polizeiwachstube landete Nicolaes Cousine. Zwar hatte sie keine Aufenthaltsgenehmigung, doch diese Beamten sahen das nicht so streng. Nicolaes Cousine lachte sogar gemeinsam mit den scherzenden Beamten, als diese Geld für eine Wette sammelten. Ob sie sich an der Wette beteiligen wolle? Nein, wie denn? Sie habe schließlich kein Geld. Das sei egal! Es ginge lediglich darum, welcher Gummiknüppel tiefer hinein passte. Da die Männer Nicolaes Cousine für dick hielten, hätte niemand für möglich gehalten, dass sie schwanger war. Was soll man dazu sagen? Sie hätte sich eben rechtzeitig laut und deutlich artikulieren müssen.
Nicolaes Onkel wurde mit Handschellen, zu seiner eigenen Sicherheit, wie es hieß, in ein Flugzeug gesteckt, das ihn zurück in seine Heimat fliegen sollte. Als er die anderen Passagiere zu stören begann, weil er ungeduldig zappelte und unbedingt auf die Toilette musste, wurde er mit einer Papiertüte über dem Kopf beruhigt. Während des Rückflugs sagte er kein einziges Wort mehr. Auch später nicht mehr, als sie landeten und ihn aus dem Flugzeug tragen. Er hätte eben von Anfang an still sein sollen.
Nicolaes Cousin wurde von einer Familie aufgenommen, die ihm zu essen gab und ihn bei sich wohnen ließ. Als er eines Tages einen di-
cken Brief ohne Absender erhielt und ihn neugierig öffnete, roch er nur noch das Schwarzpulver, bevor der Knall eine große Sauerei in dem Zimmer anrichtete. Leichtsinniger Bursche! Schließlich öffnet man keine Briefe von Leuten, die man nicht kennt.
Bei
der Ausschreitung einer Wahlveranstaltung geriet Nicolaes Großvater in eine Gruppe Glatzköpfiger. Sie nahmen ihn freundlich in ihrer Mitte auf und führten ihn in eine enge Gasse. Er war gebrechlich, trotzdem wollte er mithalten. Als er stolperte, pressten sie ihm unabsichtlich das Profil ihrer Lederstiefel ins Gesicht. Die jungen Burschen ließen ihn aber im Rinnsal liegen, schließlich mussten sie schnell weiter. Er würde schon von alleine wieder hoch kommen, aus der Lache, die sich im Rinnsal langsam um seinen Kopf bildete. Nicolaes Großvater war sowieso schon alt. Wenigstens blieben ihm noch einige Minuten Zeit, sich die Gesichter der Passanten einzuprägen, die – von seinem unappetitlichen Anblick zu Recht empört –, rasch an ihm vorbeieilten.
Und am Ende war es nur noch einer… der übrigblieb. Da Nicolae keine Verwandten mehr hatte, schrieb er einen kurzen Brief, den er an niemanden adressierte, sondern öffentlich in der Fußgängerzone auf eine Litfaßsäule klebte. Wie einfältig! Lernte er denn nicht aus seinen Fehlern? Dass ausgerechnet hier Plakatieren verboten war, erfuhr er zu spät. Und dass er wie ein Landstreicher aussah und weder Ausweis noch Aufenthaltsgenehmigung bei sich hatte, half ihm auch nicht gerade weiter. Als der Polizeiwagen auf ihn zurollt, neben ihm stehenbleibt und der Beamte das Fenster herunterkurbelt, können wir uns denken, wie die Geschichte von Nicolae Bãnulescu zu Ende geht.
Ronald M. Hahn Geboren 1948 in Wuppertal, absolvierte eine Schriftsetzerlehre, betätigte sich in den sechziger Jahren als Sänger der Rock-Band „The Snobs“ und publizierte 1971 unter Pseudonym seine erste Erzählung (einen Heftroman). Er ist seit 1978 schriftstellerisch, journalistisch und übersetzerisch tätig und hat nebenher als SF-Herausgeber/Lektor für die Verlage Fischer (Frankfurt/Main) und Ullstein (Berlin) gearbeitet. Sein Gesamtwerk umfasst ca. 80 Romane (Krimi-Jugenbücher, Abenteuer, Science Fiction) und 16 Sachbücher zu Themen wie SFLiteratur und Film. Zudem hat er ca. 150 Romane, Sach- und Filmdrehbücher übersetzt. Einige seiner Werke erschienen in Polen, der CSSR, Ungarn, Holland, Frankreich, Italien, USA und UdSSR. Er ist Mitglied des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) und des Übersetzerverbandes (VdÜ) und wurde sechsmal mit dem Kurd Lasswitz-Preis ausgezeichnet.
Ronald M. Hahn YESTERDAY
Als das silberne Wirbeln um mich herum verblasste, wusste ich, ich war im Jahr 1965 angekommen. Der Abend war finster. Auf dem Bürgersteig türmte sich der Schnee. Die wenigen Autos, die am Heiligabend unterwegs waren, verspritzten Matsch. Die Straße, in der die großen Kaufhäuser standen, war festlich geschmückt. Hinter den Fenstern der Wohnhäuser flackerten Kerzen, angezündet für unsere
Brüder und Schwestern in der Zone, die unter dem Regime der, wie Konrad A. zu sagen pflegte, „Zoffjets“ schmachteten. Die Kneipe, deren Tür ich öffnete, nannte sich ZUR BLAUEN SCHOTTE. Sie war die übelste Kaschemme in diesem Teil des Tals und wurde nur von Menschen frequentiert, denen man ansah, dass sie ausschließlich von Alkohol lebten. An diesem Abend standen aber auch fünf Figuren an der Theke, die nicht hierhin gehörten. Das Haar wuchs ihnen über den Kragen. Sie waren in karierte Jacken und Jeans gekleidet und trugen BeatlesStiefel. Sie waren alle weitaus jünger als der Abschaum, der sich stieren Blickes am Bier festhielt. Sie wirkten wie Fremdkörper. Ich wusste, warum sie hier waren, statt sich zu Hause um den Gabentisch zu scharen: In ihnen regte sich das erste zarte Pflänzchen jugendlichen Protests. Weihnachten war spießig, und da alle seriösen Kneipen heute Abend geschlossen waren, mussten sie halt mit dieser hier zufrieden sein. Ich bestellte ein Bier und musterte die Jungs. Sie waren zwischen siebzehn und neunzehn. Man sah ihnen die Musiker an, und einer hatte sogar einen Gitarrenkoffer dabei. Sie qualmten wie die Schlote, unterhielten sich über aktuelle Platten und planten ihren nächsten Auftritt. Dann sah ich ihn. Er war siebzehn. Ich kannte ihn genau. Er war blass, hatte blaue Augen, das längste Haar und rauchte Peter Stuyvesant. Er trug eine schwarze Hornbrille. Vor ihm, auf der Theke, lagen eine Beatles-LP – Rubber Soul – und die Nr. 10 des SF-Magazins Galaxis vom Dezember 1958. Das Cover zeigte, wie immer im Monat der Liebe, einen Weihnachtsmann, der außerirdische Kindlein beschenkte. Ich kannte nicht nur das Titelbild. Ich kannte auch den Inhalt dieser Ausgabe: „Vorsicht, Marsmensch“ von Raymond Z. Gallun, „Der Altar um Mitternacht“, von Cyril M. Kornbluth, „Fehldiagnose“ von Peter Phillips, „(e x t = e2) e steht für Eldrigde, t für Zeit“ von Robert Sheckley und „Im Reich der Toten“ von William Tenn.
Und nicht nur das: Ich hatte die Ausgabe, wenn auch in weniger gut erhaltenem Zustand, in der Jackentasche. Als ich sie herauszog und vor mich auf den Tresen legte, schaute der Junge mit der schwarzen Hornbrille auf. „SF-Leser? Oder echter Fan?“ Ich zuckte die Achseln. „Ich les’ so was schon mal.“ Er beäugte mich aus kurzsichtigen Augen. „Ich fress das Zeug. Meine Freunde halten mich für durchgedreht. Die glauben nicht an den Flug zum Mond.“ Er lachte leise. „Als würde mich so was interessieren…“ „Keiner glaubt dran“, sagte ich. „Aber im Jahr 2000 wird’s kaum noch jemanden geben, der nicht an Fliegende Untertassen und Außerirdische glaubt.“ „Das kann ich mir ums Verrecken nicht vorstellen“, sagte der Junge. „Glaub mir“, sagte ich. „Im Jahr 2000 werden die Leute alles glauben. Du wirst phantastische Zeiten erleben.“ Er zupfte sich an der Nase. „Ich würd’s ja gern glauben, aber meine Freunde…“ Er deutete auf die sich zuprostenden anderen, die nun zu viert „Nowhere Man“ anstimmten und die Blicke der fischäugigen Penner auf sich zogen, die sie in verschiedenen Stadien körperlichen und geistigen Verfalls umgaben. Wahrscheinlich hielten sie die Jungs für Engländer, denn damals sprachen nur gebildete Stände Englisch. Ich hätte jeden Betrag darauf gesetzt, dass sie es sich nicht vorstellen konnten, dass dieses Lokal im Jahr 2000 von Türken bevölkert sein würde. Für 1965 war das nun wirklich Science Fiction. „Ich weiß einfach nicht, was ich bis dahin machen soll“, sagte der Junge. Seine Augen blitzten mich durch die Brillengläser an. „Wissen Sie, mein Gehör ist gut genug, um zu wissen, dass wir nie so was wie die Beatles werden… Dazu ist unser Gesang zu schlecht…“ Er beugte sich vor. „Meine Freunde träumen von der großen Karriere, von Schallplatten, von Auftritten in großen Sälen… am liebsten im StarClub in Hamburg…“ „Man muss nur an sich glauben und an sich arbeiten“, sagte ich vorsichtig und trank einen Schluck. War das die Gelegenheit? Ich wollte
nicht mit der Tür ins Haus fallen. Der Gesang der Burschen war wirklich schauerlich. „Übung macht den Meister.“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht… Ich weiß es wirklich nicht. Musik ist mein Leben… Ganz besonders die der Beatles. Aber – ich kenn auch meine Grenzen.“ Sein Blick fiel auf das Galaxis-Heft. „Ich würde auch ganz gern schreiben. Sowas.“ Er nahm das Heft in die Hand. „Sheckley, Tenn, Kornbluth… die haben was auf’m Kasten. Ideen hätt ich auch – Ich hab sogar schon mal was in dieser Art geschrieben… Nix besonderes… Nur Kurze Sachen…“ „Tenn find ich auch gut“, sagte ich. „Was hältst du von Gallun? Und Phillips?“ Er zuckte die Achseln. „Gallun ist mir zu altmodisch. Phillips kenn ich nicht. Mir gefällt Bradbury. Und Sturgeon. Und Van Vogt. Und Dick.“ „Mir auch“, sagte ich. „Aber wer weiß, ob die im Jahr 2000 noch jemand lesen will. Da sitzen die Leute vielleicht den ganzen Tag vorm Fernseher.“ Der Junge schnaubte verächtlich. „Bei dem Scheiß-Programm?“ „Dann gibt’s vielleicht zehn, zwanzig oder dreißig Programme.“ Er lachte. „Wie in Amerika? Bei uns? Unmöglich.“ Er schüttelte den Kopf. „Nee, die Typen werden immer gelesen. Wahre Klasse setzt sich durch.“ Er schaute sich um. „Ich bin siebzehn, Mann. Ich bin unsterblich. Wenn ich jetzt anfang, hab ich vielleicht mit einundzwanzig den ersten Roman raus – und von unserer Band redet kein Schwein mehr.“ „Musik wird immer gehört.“ „Ja, aber welche? – Ich will keine Schlager singen, wie Roy Black oder Rex Dildo.“ Er sagte tatsächlich Dildo, aber ich nahm an, dass es eine Spitze war. „Musiker machen viel mehr Kohle als SF-Autoren.“ „Aber sie müssen spielen, was andere komponieren.“ „Es sei denn, sie komponieren selbst.“
Der Junge seufzte. „Sehen Sie? Da liegt der Hase im Pfeffer. Ich bin kein Komponist. Und meine Freunde auch nicht.“ Seine Freunde waren auch keine Sänger, obwohl sie sich nicht scheuten und „Norwegian Wood“ anstimmten. Ich seufzte. Nostalgische Gefühle wurden in mir wach. Auch ich hatte sie über alles geliebt, die vier Genies aus Liverpool. Als der blöde Chapman John Beatle in New York erschossen hatte, war ich verzweifelt gewesen. 1995 hatte ich vor Johns Haus gestanden. „Ich denk schon geraume Zeit darüber nach“, sagte der Junge, nachdem er sein Glas geleert und sich den Schaum von den Lippen gewischt hatte. „Ich glaub, ich häng die Musik an den Nagel.“ „Um zu schreiben?“ Er nickte. „Überleg dir das gut“, sagte ich. „Erfolg wirst du nur haben, wenn du dem Volk nach dem Maul schreibst. Da bist du nicht besser dran als ‘n Schlagersänger.“ Er schaute mich an. „Kennen Sie sich in der Verlagsbranche aus?“ „Wirk ich so?“ „Eigentlich schon.“ Er räusperte sich. „Ich kenn ‘n paar Typen, die schon mal SF lesen – aber die wissen nie, wer die Sachen geschrieben hat. Die achten nicht darauf, wie die Autoren heißen. Aber Sie kennen sogar William Tenn – und der ist nun wirklich nicht berühmt.“ „Hm.“ Ich hatte mich verraten. „Na, schön“, sagte ich und bestellte für ihn und mich noch ein Bier. „Ich hab das Zeug früher auch gefressen.“ „Früher? Wie alt sind Sie denn?“ „Alt.“ „Also wirklich…“ Der Junge rückte seine Brille gerade. Seine Freunde lachten über irgendeinen Witz, doch sie ignorierten uns. Wahrscheinlich kam es ihnen nicht ganz koscher vor, dass ihr fünfter Mann sich mit einem alten Knacker unterhielt und sich von ihm ein Bier spendieren ließ. Aber 1965 waren alle knapp bei Kasse und Frei-
bier stets willkommen gewesen. Ich gab auch ihnen eins aus, und alle prosteten mir zu. „Schreiben Sie… auch?“ fragte der Junge neugierig. Ich musterte ihn genauer. Er sah älter aus als siebzehn. Er hatte eine winzige blonde Freundin, die am Heiligen Abend nicht raus durfte und bestimmt entsetzt gewesen wäre, hätte sie ihn in diesem Umfeld gesehen. Er hatte eine rothaarige Schwester, die zehn war. Was er nicht hatte, waren ein Kinderzimmer und eigene Schallplatten. Sein Alter konnte die Beatles nicht ausstehen und wollte ihre Musik nicht hören. Der Junge war arm dran. Ich wusste es. Ich wusste alles über ihn. Ich wusste auch, dass er die Musik bald an den Nagel hängen und anfangen würde, einen SF-Roman zu schreiben. Ich wusste, dass er danach mit sich hadern und erst mit zwanzig Jahren den nächsten Versuch unternehmen würde. Sein erster Roman würde 1971 erscheinen. Was heißt schon Roman. Es würde ein Heft sein. Aber es würde ihn stolz machen. Ich war hier, um dies zu verhindern. Ich war hier, um dafür zu sorgen, dass er bei der Musik blieb, dass er ordentlich Bass spielen lernte, damit er, wenn die Beatles sich trennten, zur Stelle war, um den Platz einzunehmen, den Klaus Voormann eingenommen hatte. Es war ein irrsinniger Plan, auch das wusste ich. Er würde den Geschichtsverlauf der ganzen Welt verändern. „Tu’s nicht, Ronald“, sagte ich. „Fang nicht an zu schreiben. Mach weiter Musik. Vielleicht erlernst du das Komponieren… Vielleicht…“ „Sie wissen, wie ich heiße?“ Der Junge starrte mich an. „Hat nicht einer von deinen Kumpels gerade Ronald zu dir gesagt?“ Mir brach der Schweiß aus. Mir wurde übel. Doch er glaubte mir wohl. Aber meine Konzentration war dahin. Alle wohl überlegten Worte waren mir entfallen. Der Wirt legte eine Platte auf. Süßer die Glocken… Der an den schmutzigen Tischen sitzende Abschaum der Menschheit fing an zu flennen, und die jungen Musiker schauten sich betreten an. Die Luft war raus. Ich zitterte, und der Irrsinn meines Vorhabens wurde mir bewusst. Die Zeithülse, die mich durch die Jahrzehnte getragen hatte, klebte unter meinen Kleidern kalt an meinem nackten Leib.
Welch ein Schwachsinn, dachte ich. Welch ein Schwachsinn. Kannst du ihn seine Fehler nicht selber machen lassen? Hast du vergessen, wie du in seinem Alter warst? „Ich glaub, ich geh jetzt lieber“, sagte ich. „Ist Ihnen schlecht?“ fragte er. „Sie sehen blass aus…“ „Ich bin halt ‘ne blasse Gestalt“, sagte ich. Ich legte einen Zehner auf den Tisch und nickte ihm zu. „Tschüß.“ „Tschüß“, sagte er. „Hat mich gefreut…“ Er schaute mich sinnend an. „Ich frag mich schon die ganze Zeit, an wen Sie mich erinnern“, sagte er, als ich zur Tür gehen wollte. „Gerade, als ich Sie von der Seite gesehen hab, hab ich geglaubt, Sie hätten ‘ne gewisse Ähnlichkeit mit meinem Alten. Aber das kann ja wohl nicht sein. Der ist nämlich ein Arsch.“ „Vielleicht ändert er sich noch“, sagte ich. „Im Jahr 2000 sprechen wir uns vielleicht mal wieder.“ Er lachte. Ich nickte ihm zu und trat in die mörderische Kälte hinaus. Schlimmer konnte es am Oberlauf des Yukon auch nicht sein. Die Straßen waren jetzt menschenleer. Ich fragte mich, ob er irgend etwas von unserem Gespräch bis zum Jahr 2000 behalten würde. Ach, was. Ich müsste mich doch dran erinnern.
Frank W. Haubold … wurde 1955 in Frankenberg (Sachsen) geboren. Studierte nach Abitur und Wehrdienst in Dresden und Berlin (Promotion 1989). Lebt seit 1985 im sächsischen Meerane und arbeitet in einem Krankenhaus der Region. Seit 1989 schreibt und veröffentlicht er Erzählungen und Kurzgeschichten unterschiedlicher Genres (Science Fiction, Fantasy, Gegenwart). Nach Einzelbeiträgen in verschiedenen Anthologien wurde 1997 sein erstes Buch, der Episodenroman AM UFER DER NACHT veröffentlicht. 1999 erschien in Zusammenarbeit mit der Berliner Autorin Eddie M. Angerhuber die Erzählungssammlung DER TAG DES SILBERNEN TIERES (2. Auflage 2000). Oktober 2000: 2. Platz bei der Endrunde um den Deutschen Science-Fiction-Preis für die beste Kurzgeschichte 1999. Mitglied des Ersten Deutschen Fantasy Clubs (Passau) und des I. Chemnitzer Autorenvereins, für den er mehrere Anthologien herausgab. Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Fanzines und Anthologien sowie im Internet, wo er ein Phantastik-Projekt betreut – ARAFEl. Vorbilder: Hermann Hesse, Ray Bradbury. Projekte: - Eine neue Sammlung phantastischer Erzählungen, die voraussichtlich im Frühsommer 2001 unter dem Titel DAS TOR DER TRÄUME erscheint - Arbeit an einem Episodenroman zum Thema MARS - und an einem Cyberspace-Roman unter dem Arbeitstitel DER CHAMP
Frank W. Haubold WELCOME TO THE MACHINE
Fabian wartet. Er hat er einen Termin, aber noch hat ihn die Maschine nicht rufen lassen. Nervös streicht er über das Pflaster in seiner Armbeuge. Mit einem winzigen Einstich, der Blutentnahme für die monatliche Routineuntersuchung, hatte alles angefangen. Jetzt steht er hier und wartet darauf, daß die Maschine ihr Urteil fällt. Fabian schaut zur Uhr – fünf vor halb zwölf. „11.30“ steht auf dem Untersuchungsschein. Es kann also nicht mehr lange dauern. „Bitte treten Sie ein.“ Als sich die Tür zum Schaltraum öffnet, hat Fabian bereits einige Runden in dem kleinen Wartezimmer hinter sich. Draußen warten die beiden Beamten vom Gesundheitsamt, die ihn hergebracht haben. Die Assistentin bittet ihn, alle metallischen Gegenstände abzulegen – Uhr, Schlüsselbund und Geldbörse. Seinen Gürtel darf er trotz der Metallschnalle behalten. Die Maschine ist nicht kleinlich. Dennoch muß Fabian unterschreiben, daß er keine Metallteile in seinem Körper verborgen hält. Danach erscheint der Radiologe und erklärt ihm, man müsse für diese spezielle Untersuchung ein Kontrastmittel einspritzen. Es sei aber leicht verträglich. Fabian nickt tapfer und beobachtet teilnahmslos, wie sich die Kanüle in seine linke Armbeuge bohrt. Die Assistentin begleitet ihn in den Maschinenraum. Noch ist es still, wenn man vom rhythmischen Stampfen der Heliumpumpe absieht. Fabian kennt sich aus, schließlich ist er selbst Techniker. Die Assistentin breitet eine frische Lage Papier über die Liegefläche. Die Maschine mag keinen Schmutz.
Fabian darf sich hinlegen. Die Assistentin bettet seinen Kopf in eine Halterung, die ihn an Hannibal Lecter im SCHWEIGEN DER LÄMMER erinnert. Leise summend transportiert die Maschine seinen Körper durch eine Art Tunnel in ihr Inneres. Außer lackiertem Metall kann Fabian wenig erkennen. Jemand drückt ihm einen Gummiball in die rechte Hand und klärt ihn darüber auf, daß er den Taster nur im Notfall betätigen soll. Fabian murmelt etwas Zustimmendes. Mittlerweile hat er festgestellt, daß oberhalb seiner Augen eine Spiegeloptik angebracht ist, mit deren Hilfe er einen Teil des Maschinenraums überblicken kann. Die Assistentin hat den Raum verlassen, er ist mit der Maschine allein. Fabian starrt auf die blaue Linie über seinem Kopf und wartet auf den Beginn der Untersuchung. Das Stampfen der Heliumpumpe wird lauter: „Welcome, my friend, welcome to the machine…“ Plötzlich schlägt unmittelbar neben ihm jemand, vielleicht ein Zwerg, mit einem Hämmerchen gegen die Verkleidung des Tunnels. Zehnmal, zwanzigmal, in kleinen Serien zu fünf, sechs Schlägen. Wenig später antwortet ihm ein Kollege von der anderen Seite, der offenbar einen größeren Hammer besitzt: bing – bing – bing… bong – bong – bong… Die Kommunikation zwischen den beiden scheint nicht besonders gut zu funktionieren, denn die Schlagfolgen wiederholen sich ein um das andere Mal. Fabian hat mittlerweile festgestellt, daß sich seine linke Hand direkt im Luftstrom der Klimaanlage befindet. Die Kälte kriecht von den Fingern in Richtung Unterarm. Die beiden Zwerge haben offenbar beschlossen, das Werkzeug zu wechseln. Sie entscheiden sich für einen Preßlufthammer. Es wird laut – sehr laut: drrrrrhum – drrrrrhum. Fabian schließt die Augen und spürt die Vibrationen der Maschine. Er weiß, wie sie funktioniert. Die Informationsschriften des Krisenstabes werden kostenlos verteilt. Im Moment kann er sich allerdings an nichts erinnern. So beschränkt er sich darauf, seine kalte linke
Hand zu öffnen und zu schließen, um die Blutzirkulation in Gang zu halten. Der Erfolg ist bescheiden. Das Preßlufthammergeräusch verstummt ebenso abrupt, wie es über ihn hereingebrochen ist. Es wird still, beängstigend still. Das stampfende Geräusch der Pumpe ist Teil dieser Stille: „Where have you been – it’s allright, we know, where you’ve been…“ Fabian hat keine Vorstellung, wie lange er schon hier liegt – im Bauch der Maschine. Seine Uhr hat er in der Umkleidekabine zurückgelassen. Er zählt zweimal bis sechzig und gibt dann auf. Wenn überhaupt, hätte er von Beginn an zählen müssen. Mit der Stille kommt die Angst. Sie haben etwas gefunden! Fabian weiß, was die Abkürzung auf dem Untersuchungsschein bedeutet, auch wenn das tröstliche Wort AUSSCHLUSS davorsteht. Zum Glück wird – statistisch gesehen – nur jeder vierte positive Test von der Maschine bestätigt. Nur? Fabian möchte nicht sterben, nicht jetzt. Der Tod ist etwas, das anderen widerfährt, nicht ihm. Tod bedeutet NICHTSEIN und liegt jenseits seines Vorstellungsvermögens. Manchmal beneidet er jene, die an ein DANACH glauben können. Es muß schön sein, Hoffnung zu haben. Doch Fabian hat keine Hoffnung, nur Angst. Angst vor den Isolierlagern, Angst vor dem Tod. Er weiß, daß die Meldungen über ein Abklingen der Seuche falsch sind. Die staubblinden Fenster der leerstehenden Wohnungen sprechen ihre eigene Sprache… Die Kälte kriecht von den Füßen her aufwärts, er muß die Muskeln anspannen, um das Zittern seiner Beine unter Kontrolle zu bringen. Das Dröhnen seines Herzschlags wird lauter, mischt sich in das Stampfen der Pumpe. Warum machen sie nicht weiter? Mit Hilfe der Spiegeloptik kann Fabian zwar das Fenster zum Schaltraum sehen, doch die Gesichter hinter der Scheibe sind nur in Umrissen zu erkennen.
Seine linke Hand ist mittlerweile völlig gefühllos, die Bewegung der Finger kann die Kälte nicht vertreiben. Fabian starrt auf seine Bauchdecke, die im Rhythmus seines Herzschlages pulsiert. Oder ist es der Rhythmus der Pumpe? „So, welcome to the machine…“ Als die Kälte seinen Magen erreicht, beginnt der Preßlufthammer wieder zu dröhnen. Fabian nimmt es beinahe mit Erleichterung zur Kenntnis. Alles Routine, oder? Das Dröhnen der Maschine erscheint ihm nicht mehr so laut wie beim ersten Mal, oder seine Ohren haben sich mittlerweile daran gewöhnt. Lange kann es ohnehin nicht mehr dauern. Das Kribbeln in der Magengegend wird plötzlich heftiger und verstärkt sich zu einem dumpfen Schwindelgefühl, das innerhalb von Sekundenbruchteilen seinen Körper überschwemmt. Saure Magenflüssigkeit bahnt sich ihren Weg speiseröhrenaufwärts in seine Kehle. Das Kontrastmittel! Fabian gerät in Panik und betätigt den Notfalltaster. Als sich die Tür zum Schaltraum öffnet, läßt das Schwindelgefühl schlagartig nach, der Druck auf seinen Magen wird schwächer. „Müssen Sie sich übergeben?“ erkundigt sich die Assistentin. Fabian verneint beschämt. „Es dauert nicht mehr lange“, sagt die junge Frau verständnisvoll lächelnd und verläßt den Raum. Wenig später verstummen die Preßlufthammer. Doch die beiden Zwerge haben sich noch einiges mitzuteilen: bing – bing – bing… bong – bong – bong… Fabian starrt in Richtung Schaltraum und versucht, das Zittern in seinen Beinen zu unterdrücken. Es gelingt nur, solange er die Muskeln anspannt. Die Zwerge haben ihr polterndes Zwiegespräch beendet, einzig die Heliumpumpe stampft unermüdlich weiter: „What did you dream? It’s allright, we told you what to dream…“ Fabian weiß, daß die Maschine recht hat. Seine Träume gehören ihm längst nicht mehr. Er fürchtet sich vor ihnen, sehnt das Erwachen herbei. Oder den Schlaf. Doch die Bilder haben sich in sein Bewußtsein
eingebrannt, lassen ihn nicht mehr los. Man hätte die scheußlichen Aufnahmen aus den Lagern nie ausstrahlen dürfen. Lieber Gott, bittet Fabian, laß es nicht so enden… Endlich öffnet sich die Tür. Fabian sucht den Bück der Assistentin und registriert erleichtert, daß sie ihm nicht ausweicht. Ohne Befund. Fabian weiß es, noch bevor er die Frage formulieren kann. Ärgerlich summend gibt die Maschine ihre Beute frei. Die Assistentin klappt den Hannibal-Lecter-Käfig zur Seite und hilft ihm beim Aufstehen. Fabian erkundigt sich nun doch nach dem Ergebnis der Untersuchung. Er möchte hören, daß seine Ängste unbegründet waren. Die Antwort entspricht seinen Erwartungen. Nur seine Knie scheinen die erfreuliche Botschaft nicht mitbekommen zu haben. Sie zittern noch immer. Er ist froh, daß er sich nach ein paar Metern wieder setzen darf. Der Radiologe kommt aus dem Computerraum und erklärt Fabian, was dieser längst weiß. OHNE BEFUND bedeutet, daß mit seinem Gehirn alles in Ordnung ist – keinerlei Anzeichen für eine Infektion. Glück gehabt. Allmählich läßt das Zittern in seinen Gliedmaßen nach, und Fabian spürt, wie das Blut in seine erstarrten Finger zurückkehrt. Der Arzt zwinkert ihm zum Abschied aufmunternd zu und verschwindet wieder in seinem Zimmer, in dem die Monitore flimmern. Fabian zwinkert zurück. Den Weg in die Umkleidekabine kann er schon allein zurücklegen, auch wenn sein Gang noch ein wenig unsicher ist. Das Telefon klingelt. Die Assistentin nimmt ab, bleibt einsilbig: „Ja?… natürlich… geht in Ordnung… bis dann.“ Fabian zieht sein Jackett über und schaut in den Spiegel. Sein Gesicht ist kreidebleich. Er ist froh, daß draußen die beiden Beamten warten, um ihn nach Hause zu fahren. „Sie müssen diesen Ausgang benutzen“, sagt die Assistentin, als er zurück in den Warteraum will. Sie deutet auf eine Automatiktür mit der Aufschrift EXIT.
Eigentlich ist die grüne Leuchtschrift kaum zu übersehen. Fabian entschuldigt sich und wundert sich ein wenig über den besorgten Blick der jungen Frau, der so wenig zu ihrem Lächeln passen will. Die Tür gleitet lautlos zur Seite, als er sich dem Ausgang nähert. Der Gang dahinter ist dunkel, einzig ein grüner Leuchtpfeil weist den Weg nach draußen. Boden und Wände sind gefliest, soviel kann Fabian erkennen, bevor sich die Tür hinter ihm schließt. Er bleibt stehen und wartet darauf, daß die Beleuchtung aufflammt. Vergeblich. Obwohl Fabian den roten Lichtpunkt oberhalb seiner Nasenwurzel nicht sehen kann, beginnt er plötzlich zu zittern. Die Angst fällt ihn an wie ein gestaltloses dunkles Tier, preßt seinen Brustkorb zusammen und raubt ihm die Kraft zum Atmen. Er verspürt nur einen dumpfen Schlag, als das Geschoß sein Stirnbein durchschlägt. Das Fauchen, mit dem die dekomprimierte Luft aus der Mündung des Bolzenschußgerätes austritt, hört er nicht mehr. – 12.00 Uhr. Im Wartezimmer tritt eine junge, rothaarige Frau nervös von einem Fuß auf den anderen. „Bitte treten Sie ein“, die Maschine ist bereit.
Frank W. Haubold STILLE NACHT
Gelbe Lichterpaare gleiten über verschneite Straßen. Männer in roten Mänteln hasten durch die Nacht. Masken, die Masken verbergen. Stille zieht ein. Das tausendgliedrige Tier hat sich in seine Höhle zurückgezogen.
Der harzige Geruch sterbender Bäume durchzieht die Stuben. Puppenaugen lächeln in erhitzte Kindergesichter, glitzernde Geschenkberge bitten um Vergebung. Marie starrt in das Licht der Kerzen. Das Gesicht des Mannes liegt im Schatten, und das ist gut so. Marie weiß nicht, ob sie sein Lächeln ertragen könnte. Oma Elfi ist zu Besuch. Sie trinken Glühwein. Marie weiß, daß er sie nicht schlagen wird an diesem Abend, dem heiligen. Und sie hofft, daß er zu betrunken sein wird, um das Tier freizulassen, das hinter seinem Lächeln lauert. „Stille Nacht“, dröhnt aus den Lautsprechern der neuen HiFiAnlage. Marie denkt an Mamas Geschenk, das sie unter ihrem Kopfkissen versteckt hat. Ihre Augen glänzen, als der Mann sie auf die Stirn küßt. Sie prägt sich die Linien seines hageren Halses ein. Das Tier mag kein Licht. Deshalb schließen sie abends immer die Rolläden, vielleicht auch wegen der Schreie. „Du darfst nicht an früher denken, als er noch ein Mensch war“, hat Mama gesagt. „Wenn du schwach wirst, bringt er dich um.“ Marie weiß, daß Mama recht hat. Heute abend wird sie nur an das Tier denken, nicht an dieses früher, als Mama noch bei ihnen war. Nicht heute abend. Oma Elfi sagt, Mama wäre jetzt ein Engel, aber das weiß Marie besser… Sie öffnet ihre Geschenkpakete, stößt kleine, spitze Jubelschreie aus. Er mag ihre Schreie, er und das Tier. Marie schließt die Augen, als sie ihn auf den Mund küßt. Er riecht nach Glühwein und Rauch. Es ist noch nicht einmal acht, und seine Augen sind schon ein wenig gläsern. Der Glühweintopf ist noch fast voll. „Danke Papa“, sagt Marie zu der Maske, hinter der sich das Tier verbirgt. „Du bist lieb.“ Oma Elfi lächelt gerührt.
Es ist spät. Draußen verkündet Glockenklang das Ende der Mitternachtsmesse. Eine unübersehbare Menschenmenge quillt aus den To-
ren der Kirche. Die Männer tragen lange, dunkle Wintermäntel, die Frauen präsentieren ihre Festtagsfrisuren. Bekannte und Geschäftspartner verabschieden sich händeschüttelnd. Motoren brummen auf, und wenig später liegt der Marktplatz wieder still im warmen Schein der Lichterketten. Marie hat eine Kerze angezündet. Nur eine, sonst würde man die häßlichen Flecke an Wand und Decke sehen – und Mamas Weihnachtsgeschenk, das jetzt voller Blut ist. Der Mann auf der Couch liegt still. Marie hat einen Schal um seinen Hals gewickelt, damit er nicht friert. Das Tier ist tot. Marie ist sich da ganz sicher, sie hat nachgesehen. Ihr ist kalt, und sie wünscht sich, irgend etwas fühlen zu können: Zorn, Mitleid, Trauer. Doch da ist nichts, nur die Kälte, die sich in ihren Körper frißt. Die bunten Kisten und Kästchen unter dem Weihnachtsbaum werden plötzlich größer und stürzen auf sie zu. Doch Marie fällt weich. Ein riesiger, albern grinsender Plüschteddy mit dem Schal von Papas Lieblingsmannschaft dämpft ihren Sturz. Marie starrt in das flackernde Licht der Kerze und würde gern weinen. Wenn sie erst wieder weinen kann, wird alles gut werden, hat Mama gesagt.
Antje Ippensen (Pseudonym: Janet E. Spinpen) Geboren 1965 in Oldenburg i/O. Lebe seit 1985 in Mannheim. Ich schreibe schon seit frühester Kindheit: Gedichte, Phantastik (jedes Genre), Romane, Essays. Habe „brotberuflich“ einen Haufen Erfahrungen gesammelt als Europa- und Projektsekretärin (auch selbständig), Leasing-Bürokauffrau, Nachhilfelehrerin in Englisch, Deutsch und Französisch, Bürohilfe bei einer Kinderärztin. 1993/94 freie Mitarbeiterin bei einer Lokalzeitung. Mehrere Semester lang Studium der Germanistik, Anglistik und Allgemeinen Linguistik. – Mein Ragdoll-Kater Harly beschützt mich beim Schreiben als antidämonische Kraft… e-mail:
[email protected] und über: www.autoreninitiative.de Veröffentlichungen (Auswahl): „JUNGE LYRIK DIESER JAHRE – PEN-CLUB LIECHTENSTEIN“. Edition Raetia (Bozen), 1993 * DAS INNERE ODER DIE NULLTE STUNDE (unter Pseudonym) 1994 im Rainar Nitzsche Verlag * ANGST-BEGEGNUNG IM KELLER 1996 Anthologie edition sisyphos, * DER SATZ (Horrorkurzstory) 1996 Anthologie Fantasia 100 * Roman GEGENKREIS 1997 im Rainar Nitzsche Verlag, (unter Pseudonym) Teil 1 der Fantasy-Tetralogie DIE ANDERE SUCHE, Teil 2 ist in Vorbereitung * Essay UTOPIA NOW! 1998 im IMPRESSUM * 2 zusammenhängende Romane in der Horror-Serie DAVID MURPHY 1999 Blitz-Verlag DIE HANDGRANATE GOTTES * Mehrere REN DHARK-Hefte mit Alfred Wallon sowie zwei eigene (Janet E. Spinpen) * YUKA TAN als DISKOMAN bei Wilfried A. Hary, bissige SF-Serie * Mystery/Social FictionThriller DER 24. BUCHSTABE im Basilisk-Verlag Juni 2001 ISBN 3935706-01-4 Auszeichnungen (Auswahl): 1990: RSGI, Regensburg: 7. Platz (Gedicht) * 1991: 2. Preis des PEN-Clubs Liechtenstein für Nachwuchslyriker * 1994: Preis beim Wettbewerb „Jugend schreibt“ FDA Ba-
den-Württemberg (Kurzprosa) * 1998: Preis des Werner-RossWettbewerbes des FDA,( Phantastik-Story). Zur Zeit in Arbeit: mehrere Romane der Horrorserie DAVID MYRPHY * Kinderbuch REIKILAS RUF * Fortsetzung der FantasyTetralogie DIE ANDERE SUCHE * 2. Teil INDRA FALKENKLAUE der Fantasy-Trilogie DIE STEINERNE ROSE erscheint 2001 im MGVerlag * Endzeitroman NACH DEM COMPUTER-GAU. Sonstiges: Ich übernehme Lektoratsarbeiten sowie gelegentlich Übersetzungen (Englisch, Französisch). Außerdem bin ich Rezensentin (z.B. für ALIEN CONTACT).
Antje Ippensen FEDERN
Ein Mann betritt die Straßenbahn. Sucht sich einen Platz und setzt sich still. Seinen Rucksack stellt er neben sich und umklammert ihn. Seine Augen irren flüchtig umher. Er will die anderen Fahrgäste gar nicht ansehen, aber ihre gleichgültigen Blicke treffen ihn doch. Sie prallen von ihm ab und hinterlassen kleine Beulen und Wunden. Manche schauen sogar feindselig, vielleicht ist es ihnen so ins Fleisch und Blut übergegangen, dass sie immer feindselig sind. Es strahlt wie Gift von ihnen aus. Schwaden von grundloser Feindschaft hängen im Innern der Straßenbahn. Grundlos und leer. Ein paar biertrinkende Glatzen schaut der Mann wirklich gar nicht an. Zuckt aber zusammen, als sie laut rülpsen und sich herausfordernd umschauen. Wen fordern sie heraus? Wozu? Der Mann weiß es nicht. Er weiß nur, dass es ein Ausdruck der Verachtung ist, so laut zu rülpsen. Er ist nicht nervös, sondern verzweifelt. Er zieht die Ärmel seines altfarbenen Parkas zurecht. Schaut lieber nach draußen, aus dem Fenster. Es regnet. Es regnet immer, wenn er Straßenbahn fährt.
Der Mann wendet den Blick wieder ab vom Tröpfchenmuster an der Scheibe. Blickt auf seine Hände. Sie zittern leicht. Verstohlen kriecht seine linke Hand in eine Außentasche des Rucksacks, zieht eine zerdrückte Pillenschachtel hervor. Sehr unauffällig schluckt er eine Tablette. Seine Augen sind ungewöhnlich. Sehr hell und klar, in changierenden Farben von Hellblau über Grün bis hin zu Grau. Nun, durch die Tablette, verschleiern sie sich ein wenig, aber das hält nicht lange vor. Die Bahn fährt und fährt. Es ist noch weit bis nach Hause, und auch dort wird alles wortlos und still sein. Vielleicht nicht ganz so feindselig. Wenigstens. Die Glasmauer, die zwischen ihm und den anderen Menschen steht. Sie ist noch nicht einmal durchsichtig, sie ist trüb. Seine Augen werden wieder klar. Durch diesen Gedanken, oder weil die Wirkung der Tablette schon wieder nachlässt. Er weiß es nicht. Schräg gegenüber sieht er eine Frau, die ihm gefällt. Für Bruchteile von Sekunden durchzuckt ihn Wärme. Wird sie ihn freundlich ansehen? Nein. Sie tut es nicht. Ihre Augen sind taubengrau, ruhig, aber sie erwidern seinen suchenden Blick nicht. Der Mann faltet die Hände über seinem etwas vorstehenden Bauch, der mit Sehnsucht gefüllt ist. – Selbst das schrille Klingeln, das der Straßenbahnfahrer seinem Fahrzeug entlockt, klingt böse, feindlich, und erst recht der gequetschte durchdringende Hupton. Der immer dann ertönt, wenn ein Auto unverschämterweise auf den Schienen parkt. Die verwischte Stadt hinter der Scheibe. Gläserne Mauern. Wer hat sie aufgerichtet, und warum? Noch ein Blick auf die Frau schräg gegenüber. Hat sie gelächelt? Der Mann hat zu schnell wieder fortgeblickt. Er will nicht mehr da sein. Er kann es nicht mehr ertragen. Und selbst wenn sie gelächelt hat, dann war es spöttisch, höhnisch, vernichtend. Er ist sich da ganz sicher. Er weiß es.
Die Blicke. Die Feindseligkeit. Die – Gleichgültigkeit. Zerstückelt ihn. Ja, reißt ihn in Stücke. Er hat es nie so deutlich empfunden wie jetzt. Er weiß Bescheid. Auf einmal hebt er langsam seine Hand und beobachtet, wie etwas mit ihr geschieht. Sie löst sich ab von seinem Gelenk und fällt mit einem sanften PLOPP! zu Boden. Nein, nicht die ganze Hand, nur ein Stück von ihr. Daumen und Zeigefinger und ein Stück vom Daumenballen. Nach und nach fallen noch mehr Finger und andere Teile von seiner Hand – immer so, dass eine kleine, bizarr geformte Ausbuchtung oder ein Auswuchs mit dranhängt an dem Stück, das er verliert. Es tut nicht weh. Kein bisschen. Als nächstes bröckeln seine Füße, sie sprengen die Schuhe; und diese Bruchstücke von Zehen und den dazugehörigen Fußteilen sehen irgendwie zierlich aus, findet der Mann. Er ist erstaunt und ein wenig beunruhigt, aber nicht sehr. Leise, ja lautlos lösen sich seine Hände weiter auf, Stückchen für Stückchen. Als seine Nase abfällt, nimmt sie beide Augenbrauen mit. Nun, da er einmal seine Hände und Füße los ist, nimmt die Auflösung ihren Lauf über Beine und Arme hinweg. Und immer so weiter. Der Mann kann sich nicht helfen, er ist der Meinung, dass sich dieser Prozess auf höchst ästhetische Weise vollzieht: sämtliche zu Boden fallende Stückchen von ihm sind sehr anmutig und originell geformt. Er fragt sich, was seine Augen noch sehen werden, wenn sie erst einmal als schön geschwungene Kreise dort unten liegen werden. Aber das ist eine nebensächliche Frage. Kreise, denkt er, ja richtig, denn nun stellt er auch fest, dass noch etwas anderes passiert – all diese Bröckchen von ihm verwandeln sich während ihres schnellen Fluges nach unten: sie werden zweidimensional, flach wie ausgestanzte Teigplättchen; er weiß keinen passenderen Vergleich. Seine beiden Ohren fallen zeitgleich herab. So hat er sie noch nie gesehen. Als Scherenschnitte, rosenfarben und ohne Kopf. Verlorene Anhängsel. Es ist wie ein Puzzle, denkt er, ja, ganz genau wie ein Puzzle. Ich bin ein Puzzle oder werde es, und ihn überkommt ein wildes Gefühl der
Lust, so, als habe er sich genau danach gesehnt… Er lacht, während sich seine Lippen als zwei hübsche Linien, die genau zueinander passen, am Boden ringeln. Seltsamerweise kann er auch noch hören, obwohl seine Ohrmuscheln nicht mehr an seinem Kopf sitzen. Er hört, dass sich das dumpfe, hasserfüllte Schweigen, das die Straßenbahn bislang erfüllt hat, verändert. Auch das Rülpsen der Skinheads sowie das gelegentliche scharfe Gezänk einer Mutter, die ihr Kind ausschimpft, ist verstummt. All das macht einer andächtigen Stille Platz. Ja, andächtig. Der Mann hat dieses Wort bis dahin noch nicht einmal in einer Kirche verwendet. In Kirchen, wo eine grabesfeuchte Stille herrscht, wie er immer schaudernd gefunden hat, während er nach Antworten suchte, nach Leben, nach dem Sinn, nach GOTT. Das tut er nun nicht mehr. Der Mann, der sich jetzt vollständig in ein Puzzle verwandelt hat. Die Straßenbahn fährt weiter – der Fahrer hat nichts bemerkt, im Unterschied zu seinen Passagieren – und sie nimmt schneidig die Kurven, und das schüttelt all die Fragmente des Mannes durcheinander. Die anderen Fahrgäste nähern sich zögernd, still. Die Erste ist jene Frau mit den taubengrauen Augen, sie hockt sich nieder und beginnt, die Stücke zusammenzusetzen. Ernst. Und die anderen Menschen gucken ihr dabei zu. Sie geben ihr Tipps, Ratschläge, Hinweise. Sie sind alle sehr eifrig bei der Sache. Sogar die Glatzen verzichten auf hämisches Gegröl; mit rauen Stimmen, aber aufrichtig tun sie ihren Teil. Alle helfen mit. Mit zarter, sanfter Hand vollendet die Frau ihr Werk. Ungläubig fast, doch allmählich immer stärker lächelnd, verfolgt der flache und zerstückelte Mann, was um ihn herum und mit ihm geschieht. Die Leute lächeln auch, als sie ihn lächeln sehen. Aber er allein bemerkt, dass an den Achseln der Frau etwas Ungewöhnliches entsteht, während sie an ihm arbeitet. Die Berührung ihrer Hände ist köstlich. Tut so wohl… Und zugleich sieht er… oder waren sie vorher schon da? Die Flügel.
Sie ist eine Taube, oder… denkt er. Die letzten Puzzlestücke: sein rechter Daumen und Zeigefinger mit dem Ballen, sein großer Zeh mit einem Stück Vorderfuß, seine Nase mit den Augenbrauen. All dies fügt die Frau zusammen, setzt es an den alten Platz, und doch ist alles neu. Sie lacht fröhlich, als sie fertig ist, und der Mann spürt, wie er wieder Fülle und Raum und Körperlichkeit zurückgewinnt – dreidimensional wird und vielleicht sogar noch mehr… ja, denkt er, da sind Flügel an ihren Schultern, ich weiß es ganz genau. Nur ich. Es ist unser Geheimnis. Ihres und meines. Die Leute jubeln, als er sich erhebt, sie klatschen Beifall und strahlen ihn an. Und in diesem Moment klingelt wieder die Straßenbahn, aber diesmal klingt es wie ein Sphärenton. Der Mann fragt die »Taubengraue Frau« naiv, warum sie Flügel hat. Es gibt kein Warum, sagt sie, und: Auch du hast Flügel. Du hast sie nur nie zuvor gespürt. Ich fühle mich neu. Anders. Jung. Ich fühle mich… Er verstummt. Er sieht sie fliegen. Ihre Flügel schimmern reiner als Silber, sie sind mit unzähligen Tropfen bedeckt, die abperlen wie der Regen von der Scheibe des Straßenbahnfensters. Sie verwandelt sich, so wie er sich verwandelt hat. Mein taubengrauer Engel, denkt er, wo fliegst du hin? Du kannst mir folgen, wenn du willst. Aber nur dann. Sie hört seine Gedanken. Ihre Augen strahlen nun warm und liebevoll. Du bist nun ein Anderer und doch du Selbst. Deine Sehnsucht war ein Traum – nun ist der Traum Wirklichkeit.
Der Mann blickt erwachend um sich. Da sind Freunde in der Straßenbahn. Die lachende Mutter mit ihrem Kind. Und die glatzköpfigen Burschen, die sich ernsthaft über das Wesen des Glücks unterhalten. Der Straßenbahnfahrer singt ein Lied. Und weiter vorn sind Menschen, die er seit Ewigkeiten nicht gesehen hat, die ihn mögen und die er mag. Ansonsten sitzen alle so da wie zuvor, und es regnet immer noch da draußen…
Nur eine Person vermisst er: die Frau, die ihn… Ganz kurz kehrt die Scheu zu ihm zurück. Dann verschwindet sie. Vielleicht für immer. Er prüft den Sitz seiner Glieder, er steht auf, er betrachtet seine Hände. Alles ist so wie zuvor und doch anders. Neu. Jung. Gut. Er steht auf und sieht seine Freunde an. Mit einem offenen und klaren Blick. Er wird zu ihnen gehen. An seinem Rucksack klebt eine kleine graue Feder. (Diese Geschichte widme ich Manfred)
Greta Kadereit (Pseudonym) Jahrgang 43, von Beruf Lehrerin, begann 1988 zu schreiben – eigentlich nur, um in einer Art Tagebuch die Geschehnisse festzuhalten, die sich mit ihrer Wahlheimat Kanada verbanden. Dorthin war sie 1973 ausgewandert, hatte unglaubliche Höhen und Tiefen erlebt. Sechs Jahre später kehrte sie nach Deutschland zurück. Die Liebe zu dem gewaltigen Land jenseits des Atlantiks führte sie dann 1987 noch einmal für ein Jahr an die Westküste. Diese Erlebnisse füllen nun zwei Bücher, beide erschienen im Frieling Verlag Berlin: erster Band: „Mein Leben in Kanada“ zweiter Band: „Karotten in Eis“ Eine Filmgesellschaft in München zeigte bereits Interesse, den brisanten Stoff ihres zweiten Buches in einen Film zu verwandeln. Greta Kadereit liebt klassische Musik über alles, geht gerne in Konzerte, musiziert selbst (Klavier) und verbringt viel Zeit in der Natur. Sie ist eine unverbesserliche Romantikerin und glaubt an ihre Träume.
Greta Kadereit „DER ZERBROCHENE KRUG“
- MAL GANZ ANDERS
Eines Tages entdeckte ich in einer Zeitschrift einen Witz, der so recht auf unser Schulleben gemünzt war und uns Pädagogen kräftig auf die Schippe nahm. Ich mußte herzhaft lachen, als ich ihn las und fand ihn so gut, daß ich ihn ausschnitt, erheblich vergrößern ließ und dann bei
uns im Lehrerzimmer allen sichtbar ans Schwarze Brett heftete. Da diese Geschichte schon länger zurückhegt und ich den Zettel mit dem Witz nicht mehr habe, muß ich ihn hier aus dem Gedächtnis hervorzaubern. Er ging ungefähr so:
Eines Tages betritt der Schulrat das Klassenzimmer, um den Leistungsstand der Schüler zu prüfen. Er wendet sich gleich an einen Jungen und fragt ihn: „Was weißt du über den zerbrochenen Krug?“ Der Schüler springt auf und ruft: „Das war ich nicht!“ Völlig entgeistert schaut der Schulrat den Lehrer an. Dieser schüttelt nur den Kopf und sagt bestimmt: „Nein, so etwas tut unser Wilfried nicht.“ Genervt verläßt der Schulrat das Klassenzimmer und begibt sich sofort zum Rektor. Diesem erzählt er in allen Einzelheiten das soeben Erlebte in der Hoffnung, eine Erklärung von ihm zu erhalten. Der Rektor schaut ihn unschlüssig an, grübelt kurz nach und sagt dann. „Ach wissen Sie, ich an Ihrer Stelle würde nicht so viel Wind um die Sache machen. Das Ganze ist sicher harmloser, als es sich anhört. Hier haben Sie zwanzig Mark und damit betrachten wir die Angelegenheit als erledigt.“
Nach einem längeren Erholungsurlaub nimmt derselbe Schulrat an einer Konferenz der Bildungsminister teil. Bei dieser Gelegenheit erzählt er einem Minister die Geschichte mit dem zerbrochenen Krug, die er immer noch nicht verdaut hat. Der Minister hört sich aufmerksam alles an, wägt seine Worte sorgsam ab und meint dann: „Also wissen Sie, so wie Sie mir das geschildert haben, gibt es in meinen Augen eigentlich nur eine Lösung: Das ist garantiert der Rektor gewesen. Sonst hätte er Ihnen nicht die zwanzig Mark gegeben!“
Dieser Witz hing am Schwarzen Brett und in der großen Pause konnte ich beobachten, wie einige Kollegen davor stehenblieben, zwi-
schendurch auflachten und schließlich sichtlich erheitert ihren Platz in der großen Runde einnahmen. Bis gegen Ende Walter kam. Auch er führte sich den Witz zu Gemüte, aber er reagierte ganz anders. Seine Miene verzog sich nicht ein bißchen, zwischendurch schüttelte er immer den Kopf, und als er wegging, hatte er einen ratlosen Ausdruck auf dem Gesicht. „Du Rita“, sagte ich zu meiner Kollegin mir gegenüber, die Walter auch im Visier hatte, „ich habe den Eindruck, der hat den Witz nicht verstanden.“ „Genauso sieht es aus“, lachte Rita, „frag ihn doch nachher mal.“ Das ließ ich mir natürlich nicht nehmen. Als die Pause vorüber war und Walter sich den Weg zur Tür bahnte, sprach ich ihn einfach an: „Hallo Walter, hast du mal kurz Zeit?“ Bereitwillig setzte sich der Kollege gleich zu uns und fragte: „Was gibt es denn?“ „Hör mal Walter“, ging ich gleich in medias res, „hast du vorhin nicht den Witz gelesen?“ Nachdenklich schaute mich Walter an und sagte lapidar: „Meinst du den, wo alle was suchen?“ Ich nickte stumm und Walter verschwand. Rita und ich hatten unsere Heiterkeit ob dieser Reaktion mühsam unterdrückt, und nun konnten wir nicht anders. Wir platzten mit unserem Lachen heraus, bis uns die Tränen herunterliefen. Andere Kollegen, die noch im Zimmer waren, aber nichts von der Entwicklung mit Walter mitbekommen hatten, sahen uns verwundert an und fragten, was denn los sei. Aber Rita und ich winkten nur ab. „Der zerbrochene Krug“ blieb unser Geheimnis – bis zum heutigen Tag, wo ich beschloß, die Geschichte auszuschreiben.
Markus Kastenholz Geboren: 28. Mai 1966, ca. 13:30 Uhr Sternzeichen: Zwilling, Aszendent Jungfrau (angeblich) Ledig, kinderlos, als Ausgleich nikotin- und koffeinsüchtig. Eingefleischter Vegetarier und (ziemlich) Anti-Alkoholiker. Rheingauer mit Leib und Seele! Ich schreibe seit dem 11. Lebensjahr. Anfangs Science-Fiction mit eigenen Fanzines (Mishara, MSM), später (auf Sparflamme) Krimis. Erst 1999 erfolgte der Wiedereinstieg ins aktive Schreiben. Mit Kurzgeschichten aus den Genres Krimi, Mystisch-Phantastisches und Horror. Bedingt durch einen bescheidenen Erfolg, meine eigene Storysammlung DÄMONIUM im Virpriv-Verlag ~ erscheint im Mai 2001 – und die Ehre, an der Horror-Serie MURPHY mitzuarbeiten, nimmt das Schreiben immer mehr Platz in meinem Leben ein. Hinzu kam logischerweise das eigene Phantastik-Magazin NOCTURNO, aus der Taufe gehoben im März 2001. Fast ausschließlich schreibe ich nachts. Sie ist viel mehr als nur die Tageszeit, in der die Sonne nicht scheint. Ich liebe sie! Wegen ihrer Ruhe, ihrer Stille, ihrem Charme und ihrer Eleganz. Oft genug nimmt sie auch große Bedeutung in meinen Geschichten ein – die vorliegende Geschichte bietet dafür ein Beispiel.
Markus Kastenholz CAFÉ NOCTURNE
Als Frank White in seiner kleinen Junggesellenwohnung im ersten Stock der Collins-Street 18 in Bellings, New Hampshire, um 1:02 Uhr seine Nachttischlampe ausschaltete und das eingenommene Beruhigungsmittel ihn binnen weniger Minuten einschlafen ließ, löste sich sein Schatten von ihm. Wie ungezählte Male zuvor schälte sich Frank II von seinem Fleisch, froh, daß es endlich Schlaf gefunden und ihn in die Freiheit entlassen hatte. Körperlos richtete er sich auf, und sobald seine lichtlos-schwarzen Beine auf dem Boden vor dem Bett standen, begann sich die Welt um ihn herum zu drehen, wurde ein wild-wirbelnder Strudel, der ihn lapidar verschluckte. Die Konturen der kleinbürgerlichen Umgebung mit dem winzigen Zimmer und der spartanischen Einrichtung verschwammen abrupt, veränderten sich, und kein Augenzwinkern später fand er sich in SCHATTENLAND wieder. Umschlossen von unendlichen, meterdicken Granitmauern türmten sich vor ihm die kolossalen, ewigen Tore der Stadt auf. Die Mauern erstreckten sich bis zum Horizont und darüber hinaus, kannten weder Ende noch Anfang. Man konnte ein Leben lang darum herum gehen, ohne sie ganz zu umrunden. In ihrer Mitte erkannte Frank II ein schier unüberschaubares Labyrinth aus Villen, Türmen, Palästen, Kastellen, Minaretten, Höhlen und Pyramiden: ebenso zahllos wie die Schatten, die hier Abwechslung, Zerstreuung und Beisammensein unter ihresgleichen suchten und fanden. Die Stadt war ihr Zuhause, ihre Zuflucht. Niemand wußte, wer sie einst erbaut oder sie sich erdacht hatte. Womöglich gar der legendäre GIGA-SCHATTEN: In seltenen Momenten, in denen sich die Phantasie selbständig machte, tuschelte man vom Schatten einer vielarmigen, archaischen Gottheit, deren Namen
auszusprechen sich niemand traute. In der Fleisch-Welt schlafe sie ständig, und so habe ihr Schatten seit Anbeginn der Zeit das Privileg, hier permanent sein kleines, immenses Reich zu regieren, ohne je selbst in Erscheinung zu treten. Tief unter der Stadt sollte er hausen, doch mit eigenen Augen gesehen hatte ihn noch niemand. Und jeder hoffte, nie dieses zweifelhafte Vergnügen zu bekommen. Neben ihm tauchten weitere Schemen auf, wurden mehr und mehr: kleine Humanoide mit großen Köpfen von Zeta-Reticuli, muskulöse Reptilien auf sechs Beinen von P’tagh, winzige Insektenwesen von Toshkhja. Und nicht zu vergessen die großgewachsenen, filigranen Feen (Frank II nannte sie jedenfalls so) von Wak’ó-kàûl. Wo auch immer ein Funken Intelligenz im Universum glühte – dessen Schatten war hier vertreten. Langsamen oder eiligen Schrittes, mit schnellen Flügelbewegungen, kriechend oder auch schwebend bewegten sie sich auf die Tore zu. Auch ihr Fleisch schlief und war unbeobachtet. Frank II schloß sich ihnen an. Die Zeit drängte. Durch den Autotod seiner Freundin hatte sich Frank so aufgeregt, daß er seitdem unter Diabetes litt. Aus dummer Eitelkeit weigerte er sich, zum Arzt zu gehen und sich behandeln zu lassen. Vielleicht wollte er aber auch sterben und war lediglich zu feige, von einem Hochhausdach zu springen oder sich zu erhängen. Inzwischen hatte er über zwanzig Kilo Gewicht verloren, trank Unmengen Wasser, Kaffee, Cola – was immer ihm an Flüssigkeit in die Hände geriet und mußte daher oft viermal nächtlich zur Toilette. Dann wurde Frank II jedesmal von hier fortgerissen. Bei der Erinnerung daran begann er sich zu beeilen und hoffte inständig, Jacqueline schlief ebenfalls in ihrem Kaff bei Hannover. Hätte er ein Herz gehabt, es hätte begonnen, vor Aufregung schneller zu pochen. Jedesmal von neuem war er überwältigt von der gewaltigen, dunklen Stadt ohne Namen. Pechschwärze allüberall. Die Gebäude, der Boden, selbst der Himmel. Kein noch so geringer Lichtschein durchbrach das bezaubernde Ambiente, selbst Grautöne fehlten. Genauso war es gut, richtig, perfekt. Genauso mußte es sein.
So oft er nun auch schon diesen magischen Ort aufgesucht hatte – er verlor nie auch nur ein Quentchen der erstmaligen Faszination. Immer wieder entdeckte er neue Facetten und Details, für die er bislang blind gewesen war. Und selbst wenn er eine Million Jahre Zeit gehabt hätte, nie wäre ein Anflug von Langeweile aufgekommen. Überfüllte Gassen, Straßen, Wege und Alleen schmiegten sich an Parks, Wälder, Dschungel und riesige, einladende Plätze. Zugbrücken, gläserne Tunnel und Hängebrücken. Häuser, Hütten, Zelte und Wolkenkratzer reihten sich dicht aneinander. Jeder Baustil fand sich hier wieder. Die Architektur war ebenso schmelztiegelhaft vielfältig wie die Kulturen, die hier verkehrten. Weibliche Schatten neben männlichen, alte neben jungen und große neben kleinen. Schatten aus weit entlegenen Gebieten des Alls, die Frank II mit seinem dürftigen Wortschatz kaum beschreiben konnte. Geschaßt wurde hier niemand. Wegen seines Aussehens ohnehin nicht. Auch nicht wegen mangelnden Vermögens; Geld war ein Gut der Fleischlichen. Was immer gebraucht wurde – es stand zur Verfügung. Man mußte lediglich einen insgeheimen Wunsch Bild werden lassen, und er wurde hier Wirklichkeit. Doch so verschwenderisch die Möglichkeiten auch sein mochten, es gab Grenzen, an die man früher oder später, wenn die Ansprüche stiegen, unwiderruflich stieß. Vor allem schweißte sie das gemeinsame Schicksal zusammen. Sie waren Opfer, mißbraucht von den Fleischlichen, denen sie dienten und die sie kaum bemerkten, ignorierten und zu infantilen Spielen an der Wand vergewaltigten. Wie wundervoll es doch war, gedankenschnell durch die Schluchten zu wandern. Millionen unterschiedliche Stimmen und Milliarden Dialekte. Jedes Volk schien vertreten, und jede noch so exotische Sprache wurde von jedermann verstanden. Man tauschte Erfahrungen aus, versuchte sich gegenseitig zu trösten, beizustehen und zu helfen. Unendlich viele klagten sich ihr Leid und wie schlecht sie von ihrem Fleisch behandelt wurden, da es sich vorwiegend in praller Sonne oder im Solarium aufhielt. Und niemand nahm Rücksicht, wenn es von mehreren Lichtern angestrahlt wurde und sich der Schatten schmerzhaft teilte.
Um viele hatten sich Trauben gebildet: Dort wurden Geschichten erzählt, aus dem eigenen Leben, dem der Fleischlichen oder dem Reich der Phantasie. Gerüche drangen zu ihm, die ihn schlichtweg überwältigten. Ein orientalisch-üppiger Basar aus 1001 Nacht wirkte trist gegen diese Opulenz. Aus höchsten Himmeln, tiefsten Abgründe und weitesten Entfernungen. Hier gab es Geschöpfe unter Sonnen, so weit von der Erde entfernt, daß dort noch nicht einmal deren Licht angekommen war. Und jedesmal aufs neue zuckte Frank II erschrocken zusammen, als sich ein Schatten neben ihm unverhofft auflöste. Dann war das lästige Fleisch, das an jedem hing wie Eisenkugeln an den Knöcheln von Kettensträflingen, erwacht. Oder jemand anderes war zu ihm gekommen und hätte das Fehlen des Schattens bemerkt. Kein Fleischlicher durfte und würde je vom Eigenleben der Schatten erfahren. Wann immer dies geschah, wurde Frank II bitter daran erinnert, daß auch seine Zeit beschränkt war. Im Gegenteil. Durch Franks unruhigen Schlaf, der ständig von Pinkelgängen unterbrochen wurde, war auch seine Lebensqualität immens eingeschränkt. Wieder zurück zu müssen hing wie ein Damoklesschwert über ihm. Und nicht nur über ihm. Als das CAFÉ NOCTURNE vor ihm auftauchte, mußte er erwartungsvoll seufzen. Weshalb man es Café nannte, hatte er nie begriffen: dort wurde weder Kaffee noch sonst etwas ausgeschenkt, es gab auch nichts zu essen, weil Schatten weder aßen noch tranken. Vermutlich wollte Max II, der es sich ausgedacht hatte, damit lediglich darauf hinweisen, daß hier jeder jederzeit willkommen war. Es roch tatsächlich nach Kaffee, stellte Frank II mit einem Lächeln fest, als er die schwere, gläserne Drehtür beiseite schob und sich durchzwängte. Standesgemäß. Max II hatte immerzu solche ausgefallenen Ideen, um seine Gäste zu erfreuen. Seine Kontakte waren legendär: Zu Wanderschatten, Silberschatten, Flugschatten, und angeblich verkehrte hier sogar ein Anthorischer Todesschatten. Sie versorgten ihn nicht nur mit Informationen, sondern unter anderem auch mit Mitbringseln aus der Fleisch-Welt, die Frank II bestenfalls bestaunen
konnte. Dies war einer der Gründe, weshalb er bei nahezu jedem Aufenthalt in der Stadt hierher kam. Im CAFÉ NOCTURNE war es um keinen Deut leiser als draußen. An ungezählten Tischen saßen doppelt oder dreimal so viele Schatten. Max II mit seinem erwartungsvollen Grinsen war hingegen nirgends zu entdecken. Sein Fleisch war offenbar wach; es litt unter der Schlafkrankheit, hatte er erzählt, war Frührentner und schlief bis zu achtzehn Stunden täglich. Er fehlte an seinem Stammplatz hinterm Tresen: der kommunikativste weit und breit. Dort trafen sich ebenso wie in der anderen Welt die interessantesten Gäste, gab es die neuesten Neuigkeiten und die tiefsten Weisheiten des Lebens aufzuschnappen und weiterzugeben an diejenigen, die ihrer bedurften. Er kam nicht dazu, sich über Max II’s Verbleib den Kopf zu zerbrechen, denn er entdeckte sie! Schauer rasten durch seinen Körper, ließen ihn vor Freude heißkalt werden. Hinauf, hinab und wieder hinauf. Erfüllten ihn mit purer, ungeschönter Freude und ließen alles andere weit in den Hintergrund treten. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, saß an der Bar, den Rücken ihm zugewandt. Ihre schlanken Füße ruhten leger auf den Streben, die die drei Hockerbeine miteinander verbanden. Jacqueline II’s lichtloser Glanz, ihre Grazie und ihr unbeschreiblicher Anmut machten aus dem Raum einen prächtigen Palast, wie ihn so pompös und beeindruckend kein Mensch erbauen konnte. Nicht einmal der GIGA-SCHATTEN… Mit glattem, schulterlangem Haar schmückte sie sich, geschmeidig wie Seide und so schwarz, daß keine Seentiefe damit konkurrieren konnte. Ihre Augen hingegen… ihre Augen bestanden aus finstersten Kohlen, in denen ein obskures Feuer mit ungestümer Wildheit vehement prasselte. Allein sie sehen zu dürfen entzündete die imaginäre Fackel Freude in Frank II’s nichtvorhandenem Herz. Acht Schlafperioden hatte er darauf warten müssen, acht New Hampshire-Nächte lang hatte er hier vergebens auf Jacqueline II gewartet – und sie auf ihn! Die unter-
schiedlichen Zeitzonen, in denen ihr Fleisch lebte, stand ihnen im Weg. Außerdem arbeitete Jacqueline Schicht. Man mochte behaupten, es sei glücklicher Zufall gewesen, sich überhaupt getroffen und gefunden zu haben, Frank II nannte es lieber Schicksal. Daß die allmächtige Moire und Gott Amor ihre Finger im Spiel hatten, um sie trotz aller Hindernisse zusammen zu bringen. Als habe es ihr eine innere Stimme zugeflüstert, drehte sie sich unerwartet um. Ihr berauschender Blick fand ihn, wie er salzsäulenhaft dastand, um atemlos ihre Schönheit und ihren Anmut zu bewundern. Sie rief seinen Namen aus, so laut, daß es durch das ganze Café erscholl. Dann glitt sie elegant, fast wie ein sanfter Windhauch, nur sie war so dazu imstande, von ihrem Hocker und kam auf ihn zugeeilt, während er immer noch nicht fähig war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. In inniger Harmonie umarmten und küßten sie sich leidenschaftlich. So vertraut und eins, wie es nur definitiv einmal vorkam. Die Welt versank um sie herum, minimierte sich aufs Wesentliche. Tief und begierig berührten sich ihre Seelen, ließen nicht voneinander los, sondern verschmolzen für einen kostbaren Augenblick, der nie wieder zurückkehren würde, miteinander. Als sie beide schließlich nach Sekunden oder Ewigkeiten trunken vor Liebe aufblickten, entdeckten sie Max II hinterm Tresen, inzwischen mußte sein Fleisch wieder eingeschlafen sein. Erregt winkte er sie beide zu sich, und sie wußten, nur um sie zu begrüßen wäre er nicht so aufgelöst gewesen. In vieler Hinsicht war er ein Magier. Vielleicht auch nur, weil er so viel Zeit hier verbrachte und durch das Café einen Punkt zentraler Kommunikation geschaffen hatte. Mit Begrüßungsfloskeln hielt er sich nicht lange auf, dafür war die Zeit zu knapp. Er hatte von einer sensationellen Chance für eine gemeinsame Zukunft zu berichten: Gestern habe auf eben jenem Barhocker, auf dem nun Jacqueline II’s Hintern ruhte, ein Anthorer mit für menschliche Zungen unaussprechlichem Namen gesessen; Max II nannte ihn der Einfachheit halber Freddy.
Das Besondere: Er sei ein TODESSCHATTEN! Der anthorische Schatten eines unschuldig Ermordeten, dessen Tod ungesühnt war. Es lag in Freddys vier Händen, sein Leben hier in der Schattenwelt zu verbringen oder aber sein Fleisch zu rächen, um der Seele wohin auch immer zu folgen. Dafür besaß er die einzigartige Gabe, für sechs Stunden, sechs Minuten und sechs Sekunden in der anderen Welt wie Fleisch zu agieren. Angeblich hatten viele Todesschatten nach geraumer Trennung den erneuten Zusammenschluß herbeigesehnt und den Mord an seinem Fleisch gesühnt. – Verrückt! Freddy habe sich jedenfalls bereit erklärt, sowohl Frank als auch Jacqueline zu ermorden. Damit deren Schatten frei waren und auf immer und ewig beisammen sein konnten, während ihr Fleisch unbeobachtet vor sich hinverweste. Zeit in der Fleisch-Welt war kostbar, langes Suchen könne sich der Anthorer nicht leisten. Also würde er sich an denjenigen von ihnen beiden, den er hier zuerst traf, hängen und ihm bei der Rückkehr folgen. Kurzen Prozeß gemacht, den Fleischlichen entweder erwürgt oder in den Körper gefaßt und das Herz abgedrückt. Sein Preis sei gleichermaßen gering wie hoch. Er verlange, daß Frank II und Jacqueline II ihn auf eine Expedition begleiteten: eine Expedition in die Katakomben der Stadt, auf der Suche nach dem legendären GIGA-SCHATTEN. Freddy wolle endlich herausfinden, was an den mannigfaltigen Gerüchten über den heimlichen Herrscher dran war, wollte Gewißheit bekommen. Was sie in der Unterwelt erwartete – niemand wußte das, es konnte womöglich gefährlich werden. Es sei auch nicht der erste Mord, in den er einwilligte; inzwischen habe er nur noch weniger als eine Stunde Fleisch-Zeit zur Verfügung, jedoch vierzehn Schatten aus sechs Rassen um sich geschart. Gerade wollte Frank II zustimmen und Max II bitten, das Geschäft in die Wege zu leiten; kein Preis, selbst die Ungewißheit, sei zu hoch, solange er und Jacqueline II nur beisammen waren. Da bohrte sich plötzlich ein stechender Schmerz durch ihn. Als treibe man eine glühende Lanze durch seinen nachtdunklen Leib, reiße ihn auf und verstreue die Einzelteile in tausend Richtungen. Alles
drehte sich um ihn herum, ihm wurde schwindlig und lähmend grell vor Augen. Einen Sekundenbruchteil später fand er sich in der Collins-Street 18 in Bellings, New Hampshire, wieder. Frank White war erwacht, seine Hand hatte schlaftrunken den Schalter der Nachttischlampe gedrückt. Gleißender Lichtschein erfüllte das kleine Zimmer. Seufzend richtete sich Frank auf, schüttelte den Kopf, kratzte sich soporisiert zwischen den Beinen und stand dann auf, um zur Toilette zu gehen. Wie immer war sein Schatten dort, wo er Franks Meinung nach hingehörte – noch!
Boris Koch Jahrgang 1973, wuchs auf dem Land südlich von Augsburg auf. Nach einiger Zeit in München, lebt er jetzt in Berlin. Gehirn des kleinen Phantastikverlages MEDUSENBLUT. Redakteur bei NACHTSCHATTEN und DRAGON. - Lediger Einzelwohner ohne Haustier - mit Faible für Bären (je größer desto besser), - interessiert an der Antike oder Geschichte überhaupt, - passionierter Kinogänger - und Fußballfan. - Teetrinker. Veröffentlichungen in diversen Anthologien und Magazinen. Neu im Mai 2001: DER TOTE IM MAISFELD – ERZÄHLUNGEN (Medusenblut).
Boris Koch AUS DEN REISENOTIZEN DES JONATHAN MOMMSEN
Es war früher Nachmittag, als ich mein Segelboot auf den Strand des unbekannten Eilands zog und mich daran machte, die Umgebung zu erkunden. Schon nach wenigen Minuten und hinter dem ersten Hügel bot sich mir ein seltsamer Anblick. In der Ebene vor mir standen vereinzelte Menschen, verstreut und ohne sichtbare Beziehung zueinander. Einige gestikulierten wild, andere weniger wild, einer schien et-
was zu lesen, doch alle drehten sich um sich selbst gegen den Uhrzeigersinn. „Das ist aber seltsam“, dachte ich verwundert. Wie ich noch so ratlos dastand, entdeckte ich gerade einmal etwa zwei Kornfeldlängen entfernt zwei Personen auf einem Haufen. Es waren anscheinend zwei Männer, und der eine größer als der andere. In dem kleineren der beiden vermutete ich einen Arzt. Er war vollkommen weiß gekleidet und besaß diese typische schwarze Tasche, in welcher sich das verehrungswürdige Arsenal lebensverlängernder Maßnahmen befand. Zumindest dachte ich das, bis er Hammer und Nagel – einen ziemlich großen Nagel – daraus hervorholte, sich niederkniete und dem anderen den linken Fuß am Boden festschlug. Das war ein starkes Stück! Ich beschloß, dem Mißhandelten zu helfen und setzte mich in Bewegung. Im Laufschritt den Hügel (er erinnerte mich an den Schlittenberg bei meinem Cousin, wo ich mir als Kind über den eigenen Fuß gerodelt war) hinab und weiter. Doch der Weißgekleidete hatte inzwischen seine Arbeit beendet und das Werkzeug in seiner Tasche verstaut. Er klopfte dem anderen noch aufmunternd auf die Schulter, sprach zwei, drei Worte und ging seiner Wege. Unverständlicherweise hob der Zurückgelassene seinen Arm zum Abschiedsgruß und begann dann ebenfalls mit diesen seltsamen Drehungen um die Nagelachse seines linken Fußes. Kaum war ich bei ihm angekommen, zog ich auch schon meine Beißzange aus dem Rucksack und wollte mich daranmachen, ihn von diesem unsäglichen Stück Eisen zu befreien. Doch als er des Werkzeugs ansichtig wurde, hob er abwehrend die Hände und rief voll Entsetzen: „Tun Sie das nicht! Bitte!“ Und selbstbewußter fügte er sofort beschwerend hinzu: „Was soll denn das! Wenn Sie das mit jedem machen wollen, rennen wir ja alle durcheinander! Wahrscheinlich auch noch aneinander! – Nein, nein, so viel Ordnung muß sein! Bei uns hat jeder seinen Platz!“ Ich halte mich ja für einen ziemlich toleranten Menschen.
Ich sage nichts, wenn Menschen Kuchen frühstücken oder sich das Ohrenschmalz mit dem kleinen Finger während eines Gesprächs entfernen. Oder Nasepopeln, schlechtes Wetter, Schnupfen und Husten, Rülpsen und Furzen, meinetwegen, aber solch unsinnige Rede brachte mich auf die Palme. „Dann verpass’ ich Ihnen noch ‘nen zweiten Anker“, schrie ich mich rot ins Gesicht und holte Hammer und einen Zelthering hervor. Doch das gefiel ihm noch weniger, und jetzt schien er wirklich erbost: „Lassen Sie das, Mann! Packen Sie den Krempel weg! Ich lass’ mir doch nicht von einem dahergelaufenen Trottel meine Freiheit nehmen! – Finger weg, da! Und suchen Sie sich ‘nen eigenen Platz!“ Und dann brüllte er richtiggehend. „Bewegung ist gesund!“ und rannte dabei im Kreis. Ohne Schwindel und ohne Ende. Ich beschloß, zu meinem Boot zurückzukehren und eine andere Insel anzulaufen.
Hildegard Kohnen Zufällig in Duisburg geboren, wurde ich gegen meinen siebenjährigen aufmüpfigen Willen in die Eifel verfrachtet und ihr anvertraut. Sie ließ mich nicht mehr los und machte aus mir ein begeistertes Landet. Seit 1985 lebe und schreibe ich in Brühl. Meine leidenschaftliche Liebe gehört Flohmärkten und Frankreich. Am allerliebsten sind mir Flohmärkte in Frankreich, in denen ich jedes Jahr im September ausgiebig bade! Veröffentlichungen seit 1997: Zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte in Anthologien in Deutschland, Schweiz und Österreich. Beiträge in Zeitungen und Literaturzeitschriften. 1997, 1998, 1999 2000: Gedichte und Parodien im Verlag Landpresse, Weilerswist. Kurzgeschichten im SWR-Baden Baden im Internet. Literatur Preise: 1999 Lit. Preis Völklingen, 4. Preis „Eifel Criminale 99“ Sisters in Crime, 2. Preis
Hildegard Kohnen DAS FOTO
Sie kennt jeden Zentimeter an ihm. Jede Bewegung seines Körpers, jede Haltung ist ihr vertraut. Selbst in der größten Menschenmenge hätte sie ihn sofort ausmachen können.
Ihn jedoch mit Strumpfmaske auf einem unscharfen Videobildausschnitt so klar zu identifizieren, kommt selbst ihr unheimlich und fast unmöglich vor. Sie hat das Fahndungsfoto im Polizeipräsidium gesehen, wo sie heute als Dolmetscherin tätig ist und weiß sofort: „Das ist er!“ Der Mann, der auf dem Bild mit vorgehaltener Pistole die Bankangestellten in Schach hält und sich Geldbündel in eine Tasche packen läßt, ist der Mann, dem einmal ihre Liebe gehört und dem sie grenzenlos vertraut hatte. Ist der Mann, mit dem sie elf Jahre zusammen gelebt, der rücksichtslos ihr kleines ererbtes Vermögen verspielt hat und dem sie fast hörig geworden war. Ist der verantwortungslose Vater ihrer kleinen Tochter Kathi, der freiwillig keine müde Mark Unterhalt für sein Kind zahlt. Nur ihr verdammter Stolz hindert sie daran, ihn deshalb zu verklagen. An Weihnachten und zum Geburtstag schickt er seiner Tochter als Geschenk einen Bären! Immer einen Bären. Ohne Karte, ohne Gruß, Bären – Bären – Bären. Wie sie ihn dafür haßt! Die Briefe zu den Tieren schreibt sie selbst und erfindet passende Geschichten dazu. Die liest sie dem Kind vor. Strickt eigenhändig eine Legende um seine Person! Warum? Sie weiß es nicht! Vielleicht um die heile Welt des Kindes nicht zu stören! Doch beschädigt er diese Welt nicht schon durch seine Abwesenheit? Kathi, ihre aufgeweckte, süße Tochter, saugt Wort für Wort in sich hinein. Das Kinderzimmer quillt über von plüschigen Teddys mit ausdruckslosen Gesichtern und braunen Knopfaugen. Stolz erzählt sie ihren Freundinnen, der Papa schicke sie aus Kanada. Er ginge dort auf Bärenjagd. Sollte sie? Bitter klebt ihre Zunge am trockenen Gaumen. Genug! Diese Lügengeschichten müssen aufhören – sofort! Ab heute für immer vorbei sein!
Nein, sie will keinen kriminellen Vater für ihr Kind. Unbeschwert soll es aufwachsen dürfen. Keine Schonzeit mehr! Nicht für einen Verbrecher! Sie, sonst so umgänglich, eher Ängstliche, mutiert zur Kämpferin und erschrickt vor sich selbst. Glasklar überlegen ihre überreizten Sinne, wie sie die ausgelobte Belohnung für Kathi anlegen könnte. Sie fällt hier und in diesem Augenblick ein Blitzurteil. In Kanada wird er sterben – für Kathi! Es stirbt sich leicht auf dem Papier. Zumindest für ein Kind. Er soll auch ein Grab haben. Der Tod der Liebe braucht immer ein Begräbnis. Nur noch eine Lügengeschichte… Und – Kanada ist weit, unendlich weit für ein kleines Mädchen. Später wird man sehen. Davor hat sie keine Angst. Seine Eltern leben nicht mehr, andere Verwandte gibt es nicht. Vorerst kann niemand dem Kind schaden. Und Zeit heilt! Sagt man! Hoffentlich! Sie schmeckt Salz auf den Lippen. Man häutet sich nicht ohne Schmerzen. Sie spürt die Vergangenheit in die Gegenwart kriechen. Denkt an schöne Zeiten mit ihm. Verbissen kämpft sie dagegen an. Nicht aufgeben, es geht um die Zukunft, um Kathis und deine eigene, hämmert es in ihrem Kopf. Los, worauf wartest du? Auf ein Wunder? Wogegen wehrst du dich –, was muß denn alles noch passieren –, wohin führt sein nächster Schritt? schreit sie sich stumm an. Niemand bemerkt ihren stillen Kampf. Wie gelähmt sitzt sie an dem kleinen Tisch, hat das Protokoll längst fertig geschrieben. Niemand beachtet sie. Ein sichtbarer Ruck durchfährt plötzlich ihren Körper, als sie aufsteht. Auf hölzernen Beinen, das Foto in der Hand, geht sie wie aufgezogen ins Zimmer des leitenden Kommissars. Platzt mitten in eine Dienstbesprechung. Kreidebleich im Gesicht wirft sie das Fahndungsbild auf den Schreibtisch, tippt mit dem Zeigefinger darauf und sagt mit brüchiger
Stimme: „Dieser Mann war elf Jahre mein Ehemann. Jeder Irrtum ist ausgeschlossen.“ Die jäh eintretende Stille in dem sonst von hektischer Betriebsamkeit erfüllten Büro, wird spürbar, fühlbar, wirkt gespannt. Alle Blicke sind auf die junge Frau gerichtet, die jeder hier kennt. Nach einem Kugelschreiber greifend, nimmt sie ein Blatt Papier, schreibt in Druckschrift Name und die Adresse auf und läßt den Stift wie glühendes Eisen fallen. Sie ignoriert die verblüfft-betroffenen Gesichter der Anwesenden, dreht sich um und verläßt den Raum.