Martin Selle
Tödliche Geheimnisse Codename Sam Band 09
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Ein Junge taumelt auf SAM zu...
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Martin Selle
Tödliche Geheimnisse Codename Sam Band 09
scanned 04/2008 corrected 05/2008
Ein Junge taumelt auf SAM zu. In seinen Augen spiegelt sich blankes Entsetzen. „Rettet die anderen – Tödliche Geheimnisse“, haucht er, dann sinkt er zu Boden. SAM werden als Spione eingeschleust. Denn hinter den Mauern einer medizinischen Forschungsstation in Zürich gehen merkwürdige Dinge vor. Versuchspersonen scheinen wie ferngesteuert, dumpfe Schreie dringen nachts aus den Wänden ... SAM ermitteln und entdecken Grauenhaftes ... ISBN: 3-7074-0333-5 Verlag: G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Erscheinungsjahr: 2007 Umschlaggestaltung: Martin Weinknecht
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
TÖDLICHE GEHEIMNISSE Martin Selle
Illustrationen: Martin Weinknecht
Wien – Stuttgart – Zürich
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Selle, Martin: Codename Sam / Martin Selle. – Wien; Stuttgart; Zürich: G und G, Kinder- und Jugendbuch (Krimi) Geheimfall Tödliche Geheimnisse. – 2007 ISBN (10) 3-7074-0333-5 ISBN (13) 978-3-7074-0333-6
2. Auflage 2007 © 2006 by G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien Covergestaltung und -illustration: Martin Weinknecht Lektorat: Hubert Kapaun Satz: G & G, Margit Stürmer, Wien Druck und Bindung: Brüder Glöckler GmbH & Co. KG, Wöllersdorf In der neuen Rechtschreibung. Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übertragung in Bildstreifen sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten.
INHALT 1
Zürich, größte Stadt der Schweiz, 2146 Uhr ..... 6
2
Eine merkwürdige Entdeckung ....................... 10
3
8. KEUWCÖGI … .......................................... 16
4
Geheimnistuerei ............................................... 20
5
Nummer 5 ........................................................ 29
6
Das Tor zur Hölle ............................................ 37
7
Stumme Köpfe ................................................. 41
8
Geheimnisvolle Klopfzeichen ......................... 47
9
Schattengestalten ............................................. 51
10
Der Kóder ........................................................ 56
11
Ein riskantes Vorhaben .................................... 61
12
Dunkle Gestalten ............................................. 66
13
Die Schlinge um den Hals ............................... 75
14
Eine tödliche Falle ........................................... 83
15
Das Boston-Experiment ................................... 88
16
Dolly – 15. Juli 1996 ....................................... 97
17
Toxidal ........................................................... 109
18
Die Weltherrschaft ......................................... 116
19
Was war das? ................................................. 123
20
Angriff ........................................................... 130
6
1
Zürich, größte Stadt der Schweiz, 21.46 Uhr
In der Künstlergasse stürzte Markus Zwingli, ein zehnjähriger Junge, zu einer der Straßenlaternen. Zitternd vor Angst klammerte er sich an die kalte Eisensäule. Was war das? Seine Beine fühlten sich wie gelähmt an, taub, als würden sie langsam einschlafen. Er sank den Laternenpfahl entlang zu Boden. Dunkelrot sickerte es aus der Schnittwunde an seiner linken Schulter. Markus Zwingli rang keuchend nach Luft: „Gott sei Dank lebe ich noch …“ Er blickte sich um, suchte nach Menschen, nach Hilfe, nach einem Versteck … Augenblicke später erstarrte er. „Bleib unten. Es ist vorbei für dich!“ Die Stimme war eiskalt und erschreckend nahe. Der Junge drehte langsam den Kopf. Keine zehn Schritte hinter ihm war sein Verfolger in die Künstlergasse eingebogen. Ein Riese mit blonder Bürstenfrisur, gespenstisch blasser Haut, finsteren Augen und im schwarzen Anzug. Er zog eine Pistole aus dem Sakko. „Du hättest nicht aus der Universität und ihrer Klinik flüchten dürfen“, sagte er. „Sag mir jetzt, wo du das, was nicht dir gehört, versteckt hast.“ „Ich … ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nichts versteckt habe!“, stöhnte der Junge, der hilflos unter der Laterne lag – ausgeliefert. „Ich weiß nicht, wovon Sie 7
reden.“ Markus Zwingli spürte, wie ihn die Kräfte gänzlich verließen. Immer tauber wurde sein Körper seit dieser Spritze. Was für ein Teufelszeug hatten sie ihm nur gegeben? „Du lügst!“ Der Mann starrte Markus an. „Du hast etwas belauscht, was nicht für deine Ohren bestimmt war.“ Markus brach der Schweiß aus. Wie konnte ihn sein Verfolger dabei gesehen haben? „Willst du wirklich wegen eines so unbedeutenden Geheimnisses sterben?“ Der Fremde spannte den Pistolenhahn. „Unbedeutend!“ Was Markus in der Uniklinik gesehen und gehört hatte, verdiente jede Bezeichnung, aber sicher nicht unbedeutend! Sein Verfolger hob die Waffe. „Ich muss einen Ausweg finden. Ich darf nicht zulassen, dass ihr teuflischer Plan Wirklichkeit wird!“, ging es Markus durch den Kopf. „Warten Sie …“, keuchte er. „Ich werde Ihnen sagen, was ich weiß.“ Die folgenden Worte flüsterte er schwach. Sie dienten ihm nur dazu, Zeit zu gewinnen. Vielleicht hatte er noch eine Chance zur Flucht. „Warum nicht gleich – brav.“ Der blonde Riese kam wie erhofft näher und beugte sich hinunter, um die Worte besser zu verstehen. Dann richtete er sich wieder auf und lächelte zufrieden. „Jetzt sind wir gleich fertig, mein Junge. Dann wissen nur mehr die Schöpfer darüber Bescheid.“ Er zielte. Mit letzter Kraft versetzte Markus dem Arm des Fremden einen Fußstoß. Die Pistole fiel zu Boden. Markus blieben nur Sekunden. 8
Langsam, fast amüsiert, bückte sich der Vollstrecker nach seiner Waffe. Markus rappelte sich auf und humpelte mit letzter Kraft um die nächste Hausecke in die Schmidstraße. Auch in seinen Armen breitete sich das taube Gefühl aus. „Da kommt jemand.“ Er fasste sein Glück kaum. „Menschen! Rettung!“ „Der … der Junge blutet!“, rief Sandra. Sie war mit ihren Freunden Armin und Mario gerade auf dem Rückweg vom Kino ins Hotel Ascot. Markus Zwingli taumelte auf die drei Detektive zu und brach dann vor ihren Füßen zusammen. „Uni … Klinik … Tö… Tödliche Geheimnisse, andere …“, stammelte er noch. Dann verschwammen die Bilder vor seinen Augen und er fiel in eine tiefe Finsternis. „Schnell, einen Notarzt!“, rief Mario und tippte eine Nummer in sein Handy, das er mitsamt einem Stadtplan aus der Jackentasche riss. Ganz in der Nähe huschte der Verfolger in eine dunkle Nische. „Wer zum Teufel sind denn diese drei?“ In seinen Augen loderte ein gefährliches Feuer.
9
2
Eine merkwürdige Entdeckung
Blaulichter tauchten die Hausfassaden in der Schmidstraße in gespenstisches Licht. Ein Fotograf blitzte das bleiche Gesicht des reglos daliegenden Jungen. In der Straße ging es drunter und drüber: Autotüren wurden aufgerissen und zugeschlagen. SAM sahen Notärzte und Spurensicherer herumlaufen. „Er lebt noch“, sagte einer der Ärzte. „Puls?“, fragte ein anderer. „Zu niedrig, aber stabil.“ Sandra, Armin und Mario (CodeName SAM, wie die drei ihren Detektivklub nannten) wurden nach ihren Namen gefragt: Alter, Hoteladresse … Armin sah, wie ein Polizist die Daten in einen Computer tippte. Der Beamte stutzte verblüfft, als SAM die letzten Worte von Markus Zwingli zu Protokoll gaben. Der Polizeibeamte erhob sich hastig, griff zu einem Telefon und wählte eine Nummer. „Ihr wartet hier“, sagte er zu SAM. Kurz darauf erschien ein Vorgesetzter des Beamten. Die beiden Männer traten zur Seite und unterhielten sich leise. Zehn Minuten später fuhr ein uralter, verbeulter Opel Omega vor. Die rechte Hintertür schwang auf. SAM mussten einsteigen. Im Wageninneren saß eine Frau. So alt der Opel von 10
außen auch schien, innen glich er einem modern eingerichteten Büro. „Guten Abend – SAM“, sagte die Frau freundlich. SAM sahen einander fragend an. „Ich heiße Fiona – Fiona Spiri.“ Die elegant gekleidete Frau gab dem Chauffeur ein Zeichen loszufahren. „Ich bin Leiterin des Schweizer Büros von Interpol. Interpol heißt Internationale Polizei.“ Fiona Spiri war 42, trug eine Brille und unter ihrem maßgeschneiderten Hosenanzug eine weiße Seidenbluse. Ihre langen, roten Haare fielen ihr bis auf die Schultern. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir ihn je finden“, sagte sie. „Wovon reden Sie? Wohin fahren wir?“, fragte Sandra. „Wir machen eine kleine Stadtrundfahrt.“ Fiona schlug die „Zürcher Zeitung“ auf und hielt SAM die drei Wochen alte Ausgabe hin. Armin wusste sofort, was sie meinte. Auf Seite neun war das Foto eines Jungen zu sehen: Markus Zwingli: Seit seiner Einlieferung in die Universitätsklinik Zürich vor fünf Wochen vermisst. Interpol steht vor einem Rätsel. Fiona Spiri musterte SAM eingehend. „Eurem Hobby nach wärt ihr also gern Detektive“, sagte sie. „Wären wir nicht, sind wir“, berichtigte Armin sie. „Wir haben schon in …“ „Wien, Paris, Ulm, Aruba …“, unterbrach Fiona Spiri ihn. „Ich bin über euer außergewöhnliches Talent und Interesse als Spürnasen informiert.“ 11
„Sind wir wegen unseres Hobbys in Ihrem … Autobüro?“, fragte Sandra. „Reine Tarnung, nichts weiter. Interpol braucht eure Hilfe.“ „Interpol braucht unsere Hilfe!“, staunte Armin verdutzt. „Davon halten unsere Eltern sicher nicht sehr viel“, bemerkte Mario, der gerade den Zeitungsbericht las. „Hier steht: ‚Mysteriöses Verschwinden von Markus Zwingli, einem Jungen aus dem Kinderheim, nach Einlieferung in die Universitätsklinik Zürich. Bis heute ist keine Lösegeldforderung eingegangen.‘“ „Ihr seid vielleicht die einzigen Personen, die unseren Plan ausführen können. Ihr seid, hmm, Kinder, somit unverdächtig, und Detektive. – Die ideale Kombination“, sagte Fiona Spiri. „Wir sind hier, um Zürich kennenzulernen und Ferien zu machen“, erwiderte Armin. „Nicht, um Detektiv zu spielen.“ „Sagen wir so: Ich biete euch ein interessantes Ferienabenteuer in Zürich an.“ Fiona Spiri wartete. Dann: „Die Aktion ist ungefährlich. Ihr sollt in der Uni einen Verdacht für uns überprüfen.“ SAM kamen Markus’ Worte in den Sinn: „Universität. Tödliche Geheimnisse.“ „Was für einen Verdacht haben Sie?“, fragte Mario. „Markus Zwingli stürzte im Kinderheim eine Stiege hinunter. Er brach sich den Arm, wurde in die Uniklinik gebracht und eine Woche später vom Kinderheim bei uns als vermisst gemeldet. Die Leiterin des Heimes ist eine ehemalige Schulkollegin von mir. Wir forschten nach und mach12
ten eine merkwürdige Entdeckung: In die Klinik wurde nie ein Markus Zwingli eingeliefert!“ „Wer war dann der Junge, der uns vorhin in die Arme gerannt ist?“ „Das ist es ja gerade. Das ist Markus Zwingli. Aber woher kam er? Wo war er in den letzten Wochen? Zudem sind unsere Ermittler auf einen weiteren seltsamen Zufall gestoßen: Eine Abteilungsleiterin der Uniklinik ist eine amerikanische Wissenschaftlerin namens Grant, Dr. Ellen Grant.“ SAM zuckten unwissend mit den Schultern. Die Universität Zürich und ihr angeschlossenes Spital genossen weltweit einen außergewöhnlich angesehenen Ruf. Was war das Problem? „Dr. Ellen Grant forschte, ehe sie vor einem halben Jahr nach Zürich kam, an der Universität Boston in den USA. Ihr Spezialgebiet ist die Gehirn- und Traumforschung. Sie verließ wegen ‚Meinungsverschiedenheiten‘, so die offizielle Formulierung, die Universität in Boston.“ „Was ist daran ungewöhnlich?“, fragte Armin. „An sich nichts“, erwiderte Spiri. „Aber ist es nicht etwas viel ‚Zufall‘, dass in dieser Zeit auch Kinder aus Bostoner Kinderheimen spurlos verschwanden? Und zwar Kinder wie Markus Zwingli: Keine Eltern, keine Geschwister, keine Verwandten. Und sie alle wurden in die Bostoner Klinik gebracht, wo sich ihre Spur auch verlor.“ SAM überlegten einen Moment lang. „Sie wollen also, dass wir rausfinden, ob das Verschwinden von Markus Zwingli mit Ellen Grant zusammenhängt?“, sagte Sandra. „Genau.“ 13
„Und wie?“, wollte Mario wissen. „Ihr meldet euch als Freiwillige. Für Dr. Grants Testreihe ‚Träume – Spiegel des Unbewussten‘. Völlig unverdächtig.“ „Aber unsere Eltern“, sagte Armin. „Die werden sicher Nein sagen.“ „Wir erklären es ihnen. Es soll euer Schaden nicht sein. Schlaft drüber und gebt mir Morgen eure Entscheidung unter dieser Nummer Bescheid.“ Der Fahrer hielt an, gab SAM ein paar Franken und ließ sie mitten in der Stadt aussteigen. „Die Öffis bringen euch fast bis zum Hotel Ascot.“ Sekunden später war der verbeulte Opel Omega verschwunden. „Sind wir da in einen Film geraten?“, seufzte Mario. „Tödliche Geheimnisse“, sagte Sandra. „Klingt doch nach einem echten Abenteuer, einem Fall für SAM, oder?“ „Klingt für mich gefährlich“, meinte Armin. Zur gleichen Zeit hatte sich der Trubel in der Schmidstraße gelegt. Niemand beachtete den blonden Riesen, der einen Stadtplan aufhob, unverdächtig weiterging und hinter einer Hausecke stehen blieb. Auf dem Plan standen drei Namen und eine Handynummer: Sandra Wolf, Armin Hauser, Mario Klein; 0043 385 999 007. Das Gesicht des Riesen, er hieß Leon Botta, wurde aber nur Leon gerufen, verzerrte sich zu einer Fratze, die Wut und Ärger gleichzeitig ausdrückte. Er griff in seine Sakkotasche, zog das Handy heraus und wählte eine Nummer. „Ja?“, drang es aus dem kleinen Lautsprecher. 14
„Sie haben um einen Lagebericht gebeten …“ „Wird uns der Junge nie mehr in die Quere kommen?“ „Unglückliche Umstände haben das leider in letzter Sekunde verhindert.“ „Was??“ „Ich hatte ihn schon, als er drei dahergelaufenen Touristen in die Hände lief.“ „Warum haben Sie nicht alle vier erledigt?“ „Ich dachte, die drei …“ „Denken? Überlassen Sie das Denken gefälligst mir, Leon, verstanden, Sie erbärmlicher Stümper!“ „Natürlich, Doktor. Trotzdem, erlauben Sie mir zu sagen, dass es sich bei den drei anderen auch um Kinder handelt.“ Ein kurzes Schweigen folgte. Dann war wieder die wütende Stimme aus dem Handy zu hören. „Kinder sagen Sie?“ „Ja. Exakt das Alter von Zwingli und den anderen.“ „Ich verstehe. Entschuldigen Sie meine harten Worte. Sie denken, die drei könnten als Ersatz …“ „Genau das denke ich.“ „Das ist eine geniale Idee. Ich werde Ihr Gehalt erhöhen.“ „Soll ich das Übliche in die Wege leiten?“ „Ja. Aber Vorsicht. Wir wissen nicht, wer die drei sind. Niemand darf etwas davon merken.“ „Selbstverständlich. Ich habe bereits einen Plan.“ Der blonde Riese schaute auf den Stadtplan und grinste schleimig. Am anderen Ende wurde aufgelegt. „Das war es für euch drei“, murmelte Leon und beschleunigte seine Schritte. 15
3
8. KEUWCÖGI …
Mario erwachte nur langsam. Er war hundemüde. Das Telefon klingelte schrill. Im Dunkeln tastete Mario nach dem Schalter der Nachttischlampe. Das Licht flammte auf. Mario hob den Hörer ab. „Hallo?“ „Mario Klein?“, sagte eine nette Stimme. „Entschuldige die späte Störung. Für dich wurde soeben Post an der Rezeption abgegeben. Der Bote sagte, es sei sehr dringend.“ Mario schaute benommen auf die Uhr. 3.10 Uhr! „Dieser Bote, um diese Zeit, wer …“ Es klickte. Aufgelegt. Mario stieg verwirrt aus dem Bett. „Eine Botschaft?“ Gähnend schlenderte er zur Rezeption hinunter, übernahm den Briefumschlag und ging ins Zimmer zurück. Dort setzte er sich an den Schreibtisch und öffnete das Kuvert. Der Brief trug keinen Absender. Mario entnahm ein gefaltetes Blatt Papier und las: 8.KEUWCÖGIOIHIADESMNRCFLHSMVSHÉIEEAIET NCIØLEHIOHMØLRRGTENØ.7 „Eine verschlüsselte Botschaft. Ein Fall für Armin, dem SAM-Spezialisten, wenn es um das Knacken von Geheimcodes geht“, murmelte er. 16
Fünf Minuten später hockten alle drei über der seltsamen Nachricht. „Gute Arbeit“, sagte Armin. „Der ,87er-Code‘. Wird in Agentenkreisen für einfache Botschaften verwendet. Haben wir gleich.“ Sandra nahm Papier und Bleistift zur Hand. Armin erklärte: „Die Zahlen 8 und 7 in der Buchstabenreihe sagen uns, dass der echte Text in einem Rechteck aus Buchstaben versteckt ist. Man schreibt die Botschaft auf: 7 Buchstaben nebeneinander, dann die nächste Zeile. Das macht 8 Zeilen. Nun wird verschlüsselt: Man schreibt die Buchstaben in einer einzigen Reihe an. Und zwar, indem man die senkrechten Reihen von 1 bis 7 hintereinander aufschreibt. Das ergibt die verschlüsselte Nachricht in einer einzigen Buchstabenschlange. An die Stellen, wo keine Buchstaben sind, schreibt man eine durchgestrichene Null. Teilen wir nun die Buchstabenreihe wieder, indem wir jeweils 8 Buchstaben untereinander schreiben (das macht 7 Reihen) können wir die entschlüsselte Nachricht lesen.“ Sandra folgte Armins Anweisungen:
1 2 3 4 5 6 7 8
1 K E U W C Ö G I
2 O I H I A D E S
3 M N R C F L H S
4 M V S H É I E E
17
5 A I E T N C I Ø
6 L E H I O H M Ø
7 L R R G T E N Ø
„Einfach Spitzenklasse, Armin!“, freute sich Sandra. Mario hingegen bereitete die Nachricht Sorgen. „Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich in dieses Café No gehe. Der Brief hat keinen Absender!“ „Vielleicht will jemand Interpol einen Hinweis über Markus Zwingli geben, selbst aber anonym bleiben?“, spekulierte Armin. „Er verwendet dieselben Worte wie er: Tödliche Geheimnisse.“ „Vielleicht ist es aber auch eine Falle?“, meinte Mario. „Falle? Warum sollte uns jemand eine Falle stellen?“, sagte Armin. „Wir haben nichts getan, nur einem Jungen geholfen. Und selbst das hat niemand gesehen.“ „Einem verletzten Jungen“, berichtigte Mario ihn. „Es ist doch wohl ungewöhnlich, dass uns mitten in Zürich ein Junge in die Arme fällt, der blutet und höchst seltsame Worte stammelt, ehe er wie vollkommen gelähmt zusammenbricht.“ „Mario hat Recht“, sagte Sandra. „Im ersten Moment sieht es vielleicht wie ein Zufall aus. Aber die Worte des Jungen und die Angst in seinen Augen waren echt. Was immer er erlebt, gesehen oder mitgemacht hat, wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Wir sind Detektive, Leute!“ Ein kurzes Schweigen. „Überredet“, seufzte Mario. „Natürlich wieder ich.“ „Woher hat der unbekannte Absender überhaupt deine Handynummer?“, fragte Armin. „Genau!“ Mario griff nach seiner Jacke. „Mein Handy ist da.“ Er kramte weiter. „Der Stadtplan! Hat von euch jemand meinen Stadtplan eingeschoben?“ „Nein“, sagte Sandra. 18
„Ich auch nicht.“ Armin wühlte in seinen Taschen. „Dann ist alles klar. Meine Nummer und unsere Namen standen drauf. Ich muss ihn wohl in der Aufregung und Hektik verloren haben.“ „Wie auch immer. Wir bleiben per Handys in Kontakt, okay“, schlug Sandra vor. „Wenn dir was passiert, sendest du uns einfach eine SMS mit dem Kürzel T.G. für Tödliche Geheimnisse. Dann alarmieren wir sofort Fiona.“ Mario gähnte. Er wusste noch nicht, was die Stunde für ihn geschlagen hatte.
19
4
Geheimnistuerei
Der Kellner nickte höflich, als Mario das Café No in der Kuttelgasse betrat und ihn grüßte. Er ging an der langen Bar vorbei. Das Kaffeehaus war voll. Die Züricher feierten ihren heutigen Festtag, das Zürifäscht (= Zürichfest), ausgiebig. Beschwingte Musik drang aus zwei Boxen, Menschen sangen und tanzten ausgelassen. Mario drängte sich durch die Menschenmenge. An einem kleinen Tisch saß ein einzelner Mann auf einem grauen Ledersofa vor einem großen Wandbild, das eine japanische Frau zeigte. Er beobachtete aufmerksam die Gäste. Auf dem Tisch lag eine Ausgabe der Zürcher Zeitung. Als er dem suchenden Blick Marios begegnete, nickte er fast unmerklich. Mario blieb vor ihm stehen. „Mario Klein?“, fragte der Mann. „Ja.“ „Setz dich, bitte.“ Der Mann klang höflich. „Cola?“ „Nein. Ungesund. Ein Sodawasser mit Zitrone, bitte.“ Der Mann schnippte mit den Fingern. Der Kellner kam. Er bestellte und zahlte auch gleich. „Ich heiße Leon Botta“, sagte er und sah sich nach allen Seiten um. „Warum diese Geheimnistuerei?“, fragte Mario. „Was soll das alles?“ 20
Leon zündete sich eine Zigarre an. Langsam ließ er den Qualm aus seinem Mund entweichen. Der Kellner servierte einen Kaffee und das Sodawasser. Mario nahm einen Schluck und hoffte, die Zitrone würde ihn etwas munterer machen. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“ Leon nippte gelassen an seinem Kaffe. Sein Ellbogen stieß dabei die Zürcher Zeitung auf den Boden. Mario bückte sich unter den Tisch und hob sie auf. Leon lächelte Mario breit an, als er ihm die Zeitung reichte. „Danke. Du bist gut erzogen, Mario. So was ist selten heutzutage.“ „Also, warum bestellen Sie mich zu so später oder besser früher Stunde mittels einer verschlüsselten Nachricht hierher?“ Mario trank. „Du sieht müde aus“, bemerkte Leon. „Trink noch was, damit du munter bist. Du musst mir genau zuhören, was ich dir zu sagen habe. Ich wiederhole es nicht, zu gefährlich.“ Mario trank fast aus. „Also, ich …“ „Ich hab Hunger“, sagte Mario. „Möchtest du einen Toast?“ „Gute Idee.“ Leon bestellte. „Also, ich …“ Mario unterbrach ihn wieder: „Entschuldigung. Wo ist hier das WC? Tut mir leid, das Sodawasser.“ „Nach hinten und dann rechts“, sagte Leon. „Beeil dich!“ Mario erhob sich. Er stieß gegen das Glas, sodass es umkippte, zu Boden fiel und zerbrach. Was war los mit 21
ihm? Er war plötzlich völlig erledigt. Er wankte durch die singenden, feiernden Menschen zum WC. Es fiel ihm schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Plötzlich waren seine Beine schwer wie Blei. Es gelang ihm, die Herrentoilette zu erreichen. Als er die Tür hinter sich schloss, drehte sich der ganze Raum um ihn. Was war los? Mario begriff. Man hatte ihm etwas in das Soda getan! Er schmeckte es jetzt. Etwas Süßliches, nicht nur Zitronengeschmack. Er musste eine Handynachricht abschicken. Aber seine Finger gehorchten ihm nicht mehr. Verschwommen sah er das Telefon in seiner Hand liegen. Er sank auf die Knie. Der Toilettenraum drehte sich immer schneller um ihn. Er versuchte zu telefonieren, hoffnungslos. Mario stürzte gerade zu Boden, als er wahrnahm, wie die Toilettentür geöffnet wurde. Ein groß gewachsener Mann in einem schwarzen Anzug und mit blonder Bürstenfrisur blickte zu ihm herab – Leon. Er lächelte ihn breit an, schnippte die Zigarre auf den Boden und holte eine Fessel aus seinem Sakko. Im Hotel Ascot hatten Sandra und Armin in der Zwischenzeit kein Auge zugemacht. Beide Detektive zitterten fast vor gespannter Erwartung. Sandra hockte auf dem Bett und blätterte lustlos in einem Kriminalroman. Ihre Gedanken kreisten um Markus Zwingli und um die merkwürdige Nachricht an Mario. Armin saß vor dem Fernseher und klickte sich von einem Programm zum anderen. Er blickte auf die Uhr. „Schon gleich fünf Uhr.“ „Vielleicht sollten wir nachsehen“, meinte Sandra und warf das Buch auf den Boden. 22
„Wenn etwas passiert wäre, hätte Mario schon längst das vereinbarte Kürzel gesendet“, sagte Armin. „Bestimmt hat er kein Geld für ein Taxi und muss zu Fuß zurück ins Hotel laufen.“ Das Klingeln von Sandras Handy platzte in die nachdenkliche Stille. Eine SMS war übermittelt worden. Als Sandras Blick auf das Display fiel, erstarrte sie. „Die Nachricht wurde vor fünf Minuten geschrieben.“ Armin las die erschreckende Nachricht: „Markus Zwingli hat nie ein Wort zu euch gesagt! Schnüffelt die Polizei auch nur eine Sekunde rum, seht ihr euren Freund nur tot wieder!“ Armin konnte den Blick nicht von der entsetzlichen Nachricht wenden. Der Text erweckte in ihm das mulmige Gefühl an vergangene Fälle in Haiti, Wien, Aruba … Auch damals waren SAM skrupellosen Gaunern schuldlos in die Quere gekommen. Und jedes Mal waren sie mit knapper Mühe dem Tod entronnen. Sandra sah Armin fragend an. Sie wussten beide, was jetzt zu tun war. Sandra wählte die Geheimnummer. Verschlafen meldete sich Fiona. „Wer ist dran?“ „Ich bin’s, Sandra Wolf. Ich muss Sie dringend sprechen, Frau Spiri …“ „Könnt ihr mir eure Entscheidung nicht morgen Früh mitteilen?“ „Mario ist verschwunden.“ Mit einem Schlag war Fiona Spiri hellwach. Sie sprang auf, als erwache sie aus einem schrecklichen Alptraum. „In einer halben Stunde, in meinem Büro. Die Adresse ist …“ 23
Sandra und Armin weckten Marios Eltern und erzählten, was geschehen war. Erich Klein, Marios Vater, war Rechtsanwalt. Er tobte. Er nahm an einem internationalen Kongress für Anwälte teil. Die Chance, Zürich kennenzulernen, hatten sich SAM nicht entgehen lassen und waren mitgefahren. Es benötigte einige Beruhigungskunst, ehe sich Marios Mutter, Maria Klein, einigermaßen im Griff hatte. Sie zitterte. Die Nachricht hatte sie wie eine Keule getroffen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ab heute hatte sie ein gewichtiges Argument mehr gegen das verpönte Hobby ihres Sohnes und seiner Freunde. „Dabei sollte doch gerade sie als Schriftstellerin etwas Offenheit für außergewöhnliche Hobbys und interessante Abenteuer besitzen“, dachte Armin bei sich. Die Kleins schlüpften nach der ersten Aufregung in ihre Gewänder, machten schnell noch Katzenwäsche und schlugen eilig den Weg zu der Adresse ein, die Sandra und Armin angewiesen bekommen hatten. Die Bahnhofstraße ist 1,4 Kilometer lang und beginnt auf der südlichen Seite des Bahnhofs. Sie ist die Schweizer Luxusmeile schlechthin und führt zum Brükliplatz am Nordufer des Zürichsees. Bis ins 19. Jahrhundert verlief hier der Stadtgraben um die mittelalterliche Altstadt. Heute findet man hier Pelzhändler, Juweliere und Luxusgeschäfte. In der Mitte zweigt die Augustinergasse ab, dorthin sollten die Kleins und Sandra und Armin kommen. Der Dachboden des alten, sonderbaren Hauses sah eher verfallen aus, als Sandra, Armin und Marios Eltern ankamen. Aber nur äußerlich. Er wurde als getarntes Büro genutzt. Hier 24
arbeitete Fiona Spiri, wenn sie in der Schweiz war. Zur Tarnung des Interpolbüros diente ein Messingschild neben dem Hauseingang. Das Schild nannte eine Scheinfirma: „Swiss Reisen GmbH“. Im Erdgeschoss saß ein alter Mann hinter einem kleinen Empfangstresen. Auf dem Namensschild stand „Ulrich Stein – Auskunft“. Seine Aufgabe war es, höflich, aber dafür sicher, alle Leute abzuwimmeln, die sich zu Swiss Reisen durchfragen wollten. Diesmal jedoch wartete Ulrich Stein schon auf seinen Besuch. Einladend führte er seine Gäste zu einer gebrechlichen Holztreppe. Sandra, Armin und die Kleins wandten sich am oberen Treppenabsatz nach links und gingen den Korridor bis zu der geschnitzten Holztür, hinter der Fiona Spiris Büro lag. Armin öffnete die Tür, ohne zu klopfen. Sie betraten das Vorzimmer, in dem Max Sprüngli, der Sekretär von Fiona Spiri, arbeitete. Er stand von seinem Schreibtisch auf und begrüßte die Gäste. „Frau Spiri erwartet sie schon.“ Dann führte er sie in Spiris Büro. Fiona Spiri saß hinter ihrem großen Schreibtisch und las gerade die Morgenausgabe der ‚Zürcher Zeitung‘ auf dem Bildschirm. Sie machte eine einladende Geste mit der Hand. Sandra, Armin und Marios Eltern setzten sich. Fiona speicherte kurz Informationen ab, dann wandte sie sich ihren Gästen zu. „Ihr habt euch also entschieden, mein Angebot anzunehmen?“ „Wir sind dazu gezwungen worden“, stellte Sandra richtig. 25
Einen Moment herrschte Schweigen. Dann hielt es Erich Klein nicht mehr aus. „Wenn meinem Sohn etwas zustößt, dann verklage ich Interpol bis …“ Fiona Spiri fiel ihm ins Wort: „Markus Zwingli hätte jedem von uns in die Arme laufen können. Sehen Sie es bitte als einen … glücklichen Zufall an. Denn erst dadurch eröffnet sich für Interpol die Gelegenheit, unseren schrecklichen Verdacht zu überprüfen. Und wenn wir Recht behalten, dann … Ich sage es Ihnen lieber noch nicht!“ Fiona starrte ihre Gäste an. Sandra merkte, dass es Fiona ernst war und Marios Vater in solchen Dingen keinen Spaß verstand. Sie wollte Fiona helfen und räusperte sich. „Sie wollen uns also noch immer als Freiwillige in die Uniklinik ‚einweisen‘, damit wir für Sie rausfinden, ob das Verschwinden von Markus Zwingli mit Dr. Ellen Grant zusammenhängt?“ „Offen gesagt, ja. Und nachdem, was ihr mir vorhin am Telefon erzählt habt, erst recht. Die Entführung Ihres Sohnes, Herr Klein, und das mysteriöse Auftauchen von Markus Zwingli stehen in direkter Verbindung. Vielleicht mit Dr. Ellen Grant. Leider wissen wir nicht weshalb und vor allem wozu. Es ist doch äußerst ungewöhnlich, dass Kinder entführt werden, aber kein Lösegeld gefordert wird. Das ergibt keinen Sinn. Da stimmen Sie mir doch zu, oder?“ Erich Klein schwieg bejahend. „Es sei denn“, sagte Armin, „jemand braucht die Kinder für ganz andere Zwecke, als Lösegeld mit ihnen zu erpressen.“ „Andere Zwecke!?“ Maria Klein riss die Augen auf. „Welche Zwecke?“ 26
„Das gilt es herauszufinden“, sagte Fiona. „Es ist alles vorbereitet.“ Fiona Spiri schlug eine Zeitung auf. „Ihr habt euch freiwillig gemeldet aufgrund dieses Inserates. Als zwei von zehn gesuchten Personen, die sich für Dr. Grants Versuche über die Traumforschung zur Verfügung stellen. Die meisten sind Studenten aus der Uni. Dr. Ellen Grant gilt als Genie, wenn es darum geht, die Bedeutung von Träumen zu erforschen. Die Tests laufen eine Woche lang. Die Zeit müsste genügen.“ Fiona drückte einen Knopf auf ihrem Laptop. Sekunden später öffnete sich ihre Bürotür und Max Sprüngli kam herein. „Max ist euer Verbindungsmann zu Interpol. Max, bitte.“ Max Sprüngli faltete eine Karte auf und legte sie dann auf Fionas Schreibtisch. Sie zeigte das Unigelände in Zürich. Er wandte sich an Sandra und Armin. „Das ist das Universitätsspital. Eine Mischung aus Klinik, Hörsälen und anderen Gebäuden. Wichtig ist hier der Botanische Garten hinter der Umzäunung. Neben der Parkbank unter den drei großen Linden befindet sich ein Mülleimer. Er hat einen doppelten Boden. Öffnet ihr ihn seitlich, könnt ihr darin eine Nachricht hinterlassen. Ich gehe jeden Tag um 19 Uhr im Park ‚spazieren‘. Auf diese Weise bleiben wir in Kontakt.“ „Wir wissen nicht, was euch erwartet“, sagte Fiona Spiri. „Falls euch etwas zustoßen sollte, greifen wir sofort ein. Ihr braucht also keine Angst zu haben. Zur Tarnung fahrt ihr mit dem Bus. Packt nur das Nötigste ein. Viel Glück. Wir zählen auf euch.“ 27
Damit beendete Fiona das Gespräch und widmete sich wieder ihrem Bildschirm. Als Max Sprüngli die Tür öffnete, wollten sich Marios Eltern nicht erheben. Fiona blickte auf. „Bitte, Frau Klein. Die beiden sind unsere beste, vielleicht unsere einzige Chance, ihren Sohn je lebend wieder zu sehen.“
28
5
Nummer 5
Hätte Mario die Augen öffnen können, hätte er rings um das Krankenbett, in dem er lag, den Operationssaal einer modernen Klinik erkannt. Der ganze Raum war vollgestopft mit wissenschaftlichen Geräten. Es gab Kameras, Bildschirme und Computer. Instrumente, wie Ärzte sie benutzen, lagen auf den grünen Tüchern eines Rollwagens. Der Raum, an dessen Decke eine Menge von Scheinwerfern ihr Licht abstrahlte, hatte kein Fenster. Er lag an die zwanzig Meter unter dem Erdgeschoss der Uniklinik. Die einzigen Geräusche, die man hörte, waren die Kühlventilatoren der Computer. Neben Mario standen drei Personen. Jeder trug einen grünen Arztkittel. Zwei von ihnen hielten Klemmbretter in den Händen. Der kleinste der drei Männer war fett, um die fünfzig. Sein berufliches Können hatte ihm viel Geld und einen Hängebauch beschert. Ebenso ein Dreifachkinn und dicke Wurstfinger, die besonders auffielen, weil sie nicht zu einem Arzt passten, der millimetergenaue Operationen durchführte. Der Mann trug sein weißes Haar glatt zurückgekämmt. Die Gesichter seiner beiden Assistenten wirkten wie versteinert, leblose Masken, die nur ihre Arbeit kannten. „Sind die Blutproben genommen?“, fragte der Untersetzte. 29
„Ja, Dr. Lennon“, antwortete der größere Blonde. „Wie sieht es mit den Tests der anderen Körperfunktionen aus?“ „Verlaufen alle normal. Der Junge scheint fit zu sein.“ „EKG-Kurve?“ „Sein Herz schlägt etwas unregelmäßig, der Puls ist ein wenig schwach, aber im grünen Bereich.“ „Okay. Das ist kein Problem. Kommt von dem Betäubungsmittel Toxidal.“ Dr. Lennon horchte Marios Brust noch einmal ab. Dann nahm er sein Stethoskop aus den Ohren und legte es zur Seite. Die Ärzte, oder was immer diese Männer waren, hatten ihre Arbeit an Mario abgeschlossen. Nicht eine Kleinigkeit seines Körpers war ihnen entgangen: Größe, Haut- und Haarfarbe, Zähne, Augen … alles wurde genauestens auf Datenblättern aufgeschrieben. Die gesamte Untersuchung war von einer kleinen Raumkamera, die links unter der Decke befestigt war, in ein Büro im obersten Stockwerk der Klinik übertragen worden. Noch ein paar Worte, dann schienen sich die Männer einig. Der Dicke ging zu einem Schreibtisch und sprach in ein Mikrofon. „Wir sind fertig“, gab er durch. Eine mechanische Stimme drang aus einem kleinen Lautsprecher an der Wand. „Und, was denken Sie, Doktor Lennon?“ „Gesund und kräftig. Ja, durchaus als Ersatz für Zwingli geeignet.“ „Wann werden Sie beginnen?“, fragte die mechanische Stimme erwartungsvoll. 30
„Sobald Sie das wünschen, Doktor Grant.“ „Ich lasse es Sie wissen. Wecken Sie ihn auf und bringen Sie ihn auf sein Zimmer. Ich komme. Ende.“ Die mechanische Stimme verebbte. Als Mario erwachte, musste er gegen ein Schwindelgefühl ankämpfen. Weiße Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen. Grelles Licht blendete ihn kurz. Zuerst sah er Schatten um sich herum, dann klärte sich sein Blick. Drei Personen standen um sein Bett und starrten ihn an. Mario bewegte sich stöhnend und blickte mit trüben Augen in die Runde. Er schaute zum Fußende des Bettes und genau dort stand er: Im schwarzen Anzug und grinsend – Leon Botta. Ein Auge glitzerte heller als das andere und langsam dämmerte es Mario, Bottas rechtes Auge war aus Glas. Im Café No war ihm das nicht aufgefallen. „Wo bin ich?“, krächzte Mario. „In meiner Abteilung für Traumforschung“, sagte eine kalte, schneidende Frauenstimme. „In der Universität von Zürich.“ Mario wunderte sich. Das Zimmer sah überhaupt nicht aus wie ein Spitalzimmer. Es glich vielmehr einer komfortablen Hotelunterkunft. Weicher Teppich, TV, schöne Holzschränke, Bilder an den Wänden, leise Musik … so konnte das Wohnzimmer Zuhause aussehen. Bis auf den Umstand, dass es hier kein Fenster gab. Gerade so, als läge der Raum unter der Erde. „Willkommen, Mario“, sagte die Frauenstimme. „Setz dich bitte auf.“ Jetzt war die Stimme weicher. Mario richtete sich mühsam auf. „Mein Name ist Grant“, fuhr die Frau fort. „Dr. Ellen 31
Grant. Ich bin heilfroh, dass dich Herr Botta rechtzeitig zu mir gebracht hat. Verunreinigtes Wasser kann schlimme Folgen nach sich ziehen. Du warst über drei Stunden bewusstlos.“ Mario starrte Leon misstrauisch an. Dann sah er zu Ellen Grant. Die Wissenschaftlerin wirkte sonderbar. Irgendwie weltfremd, aber doch mitten im Leben stehend. Sie trug einen enganliegenden Arztkittel, der ihre schlanke Figur betonte. Ihre Lippen hatten die matte Farbe von geronnenem Blut. Sie wirkten unecht in ihrem bleichen Puppengesicht. Am unheimlichsten jedoch waren ihre stechenden Augen hinter den leicht blau getönten Brillengläsern. Mario hatte das Gefühl, von Grants Blick durchbohrt zu werden. Plötzlich bewegte sich etwas in der linken Seitentasche von Ellen Grants Kittel. Eine weiße Ratte mit glühend roten Augen krabbelte auf Grants Schulter. „Nummer 5!“, sagte Ellen Grant in schroffem Befehlston. Sofort verzog sich die Albinoratte wieder in die Kitteltasche. Für Sekunden fehlten Mario die Worte. Nummer 5, was für ein komischer Name für eine Ratte. Dann fasste er sich ein Herz. „Danke, Dr. Grant, dass Sie sich meiner angenommen haben. Mir geht es wieder gut. Ich werde dann gehen. Meine Eltern suchen mich sicher schon.“ Ellen Grant lachte auf. „Eltern? Du hast überhaupt keine Eltern, Junge.“ Mario gab es einen Stich. „Meine Eltern sind Erich und Maria Klein. Sie wohnen mit meinen Freunden Sandra Wolf und Armin Hauser im Hotel Ascot.“ „Es tut mir leid für dich, mein Junge.“ „Ich bin nicht ihr Junge“, sagte Mario scharf. 32
Wieder lachte Ellen Grant. „Nun, mein Junge, wir waren bei der Polizei. Keine Vermisstenanzeige. Du hattest keinen Ausweis bei dir, als Herr Botta dich brachte. Nicht mal eine Hotelkarte.“ „Ich bin nicht dumm, Dr. Grant. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich bin in Zürich, weil mein Vater an einem Kongress für Rechtsanwälte teilnimmt und wir wohnen im Hotel Ascot. Bringen Sie mich bitte unverzüglich dorthin zurück.“ „Ja natürlich, ich verstehe jetzt. Dein Vater ist Anwalt und meiner ist der Kaiser von China. Hör zu, mein Junge: Ich verstehe deine Verwirrung. Das kommt vor bei dieser Krankheit. Du leidest an Amnesie – an Gedächtnisschwund und Wahnvorstellungen. Sicherlich vom Sturz im WC her. So etwas ist normal. Das kriegen wir mit einer gezielten Behandlung in den nächsten Tagen wieder hin. Ich weiß, wovon ich rede. Schließlich bin ich schon seit Jahrzehnten Gehirnärztin und Traumforscherin. Du wirst hierbleiben, bis wir wissen, wer du bist.“ Ellen Grants Stimme war wieder von schneidender Schärfe. „Ich weiß, wer ich bin!“ „Ja natürlich, mein Junge.“ Für einen Moment sagte niemand was. Mario spürte Dr. Grants stechenden Blick auf sich lasten. Sie beobachtete ihn genau. „Warum sind hier keine Fenster?“ „Mein Institut, so nennt man die Forschungsabteilungen von Universitäten, ist einzigartig. Das wirst du bald erleben. Manche Leute, die sich freiwillig für Labortests zur Verfügung stellen, halten den seelischen Druck nicht aus. Wir müssen sichergehen, dass sie nicht in einem Anfall geistiger Verwirrung aus dem Fenster springen.“ 33
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„Wie umsichtig von Ihnen.“ Mario wusste, dass er Herr über seine Sinne war. Es war an der Zeit, Dr. Grant zu zeigen, dass sie mit ihm nicht Katz und Maus spielen konnte. „Ich danke Ihnen und Leon sehr, dass Sie sich um mich gekümmert haben. Aber jetzt rufe ich meine Eltern im Hotel Ascot an. Sagen Sie bitte, wie viel wir Ihnen schulden. Mein Vater wird die Rechnung begleichen.“ Das Gesicht von Dr. Grant verfinsterte sich. Sie kam einen Schritt näher. „Dieses Gebäude, mein Junge, verlässt niemand. Es sei denn, er hat meine Erlaubnis dazu.“ Ellen Grant beugte sich zu Mario herab. „Ab heute, mein Junge, bist du nicht nur namenlos, du existierst überhaupt nicht mehr. Du bist Teil von … ‚Tödlichen Geheimnissen‘.“ Frostiges Schweigen erfüllte den Raum. Mario schluckte trocken. Die letzten Worte bohrten sich in sein Herz wie tausend Nadelstiche auf einmal. „Tödliche Geheimnisse“, die Worte von Markus Zwingli. Dr. Grants Handy schrillte. Sie hob ab. „Zwei Freiwillige für das Projekt? Sehr gut. Wie? Wolf … ich verstehe … und der Zweite? … aha, ein Junge … Hauser. Äußert interessant.“ Mario gab es einen weiteren Stich in der Brust. Ein zufriedenes Murmeln lief durch die Umstehenden. „Ich eile.“ Dr. Grant legte auf. Dr. Ellen Grant, Leon und Dr. Lennon verließen das Zimmer. In der Tür drehte sich Leon noch einmal um. Er zog ein Brillenetui aus seinem Sakko und öffnete es. Doch in dem Etui befanden sich keine Brillen. Leon nahm sein Glasauge aus der Augenhöhle und ersetzte es gegen ein anderes. Er grinste Mario breit an. „Komm auf keine dummen Gedanken, Kleiner!“ 35
Mit einem elektronischen Klicken schloss die Tür. Mario jagte es die Gänsehaut über den Rücken. Draußen wurde Dr. Grants Stimme leiser, während sie den Gang entlangliefen. Eine Tür schlug in der Ferne, dann war es endgültig still. Mario lief zur Tür und rüttelte daran – versperrt. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Er saß nicht in einem Hotelzimmer, er war in einer Gefängniszelle gefangen. Und seine besten Freunde tappten schnurstracks weiter, direkt in die für SAM bereitete Falle.
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Das Tor zur Hölle
Sandra und Armin stellten ihre beiden Reisetaschen vorsichtig auf dem Boden ab. Sie stiegen als Letzte aus dem Bus aus und wurden grob beiseitegestoßen. Der Bus fuhr gleich wieder weiter in die Stadt und eine ausgelassene Menge feiernder Studenten wollte an Bord. Die beiden Detektive schauten sich um. Sie und Max Sprüngli standen vor dem Gelände der Züricher Universität und Minuten später vor dem Haupteingang des Universitätsspitals. Sie wussten nicht recht wohin. Niemand half ihnen, niemand kümmerte sich um die Neuankömmlinge. Und die Gebäude waren riesig und unübersichtlich. Schließlich war es Sandra, die einen Wegweiser entdeckte: Aufnahme. Zögernd nahmen die beiden ihre Taschen wieder auf und gingen die Treppen hoch. Max Sprüngli begleitete sie zur Aufnahme. Sandra und Armin gingen durch eine große Glastür hinein in eine hell erleuchtete Halle. Links von ihnen, an einem Schreibtisch hinter Glaswänden, saß eine Krankenschwester. Sie schaute auf und blickte erst Sandra und dann Armin an. „Zu wem wollt ihr?“ „Wir sind Freiwillige für das Forschungsprojekt von Dr. Ellen Grant“, sagte Sandra. 37
Armin lächelte ein bisschen unwohl. Die Schwester schrieb ihre Namen und Daten in eine Liste, drückte einen Knopf an einem Schaltpult und bat sie dann, auf einer Polstergarnitur Platz zu nehmen und zu warten. Sandra und Armin waren beeindruckt von dem weitläufigen Gelände der Universität. Eine Stadt in der Stadt war das hier. Die Universität von Zürich war als Erste in Europa unabhängig von der Kirche oder einem Landesfürsten 1833 gegründet worden. Aus ihr waren schon viele berühmte Wissenschaftler, Forscher und Erfinder hervorgegangen. Auch Nobelpreisträger unterrichteten und forschten hier. Ein Paradies für neugierige Menschen, die hinter die Geheimnisse des Lebens kommen wollten, die sich mit dem vorhandenen Wissen der Menschheit nicht zufriedengaben. „Ihr wisst also genau Bescheid“, flüsterte Max Sprüngli, während sie da saßen und warteten. „Ja, alles klar. Wie vereinbart“, nickte Armin. „Gut, dann gehe ich jetzt. Man muss mich hier nicht sehen. Viel Glück“, flüsterte Max Sprüngli, dann verschwand er. Sandra und Armin blickten ihm mit einem flauen Gefühl in der Magengegend nach. „Ihr bekommt 100 Euro am Tag als Entschädigung für eure freiwillige Teilnahme an den Labortests“, sagte die junge Krankenschwester freundlich. „Dr. Ellen Grant ist eine sehr nette Person. Und eine geniale Wissenschaftlerin obendrein. Durch euer Mitwirken wird es in Zukunft vielleicht möglich sein, die verborgene Bedeutung der menschlichen Träume verstehen zu können.“ 38
Augenblicke später erschien ein Mann in einem weißen Kittel. Eine so kurze, blonde Bürstenfrisur hatte Armin noch nie gesehen. Der breitschultrige Mann nahm seine dunkle Brille ab, warf einen Blick auf die Unterlagen, die ihm die Aufnahmeschwester gegeben hatte, und sagte: „Sandra Wolf, Armin Hauser. Folgt mir bitte in das Institut von Dr. Grant. Dort werdet ihr wohnen. Mein Name ist Leon Botta – herzlich Willkommen!“ Sandra und Armin nahmen ihre Reisetaschen und folgten Leon zu einer Glastür, die verschlossen war. Leon winkte dem Portier, der seitlich davor an einem Schreibtisch saß. Der tippte einen Code ein, die Tür öffnete sich automatisch und glitt hinter ihnen sofort wieder zu. Armin hatte das Gefühl, als hätte sich soeben das Tor zur Hölle hinter ihm geschlossen. Sie gingen einen langen kalten Gang entlang, der einem endlosen Tunnel glich. Ihre Gesichter spiegelten sich im blanken Marmorboden. „Wir haben Zimmer Nummer 66 und 67 für euch hergerichtet. Nummer 66 ist aus unvorhergesehenen Gründen erst gestern Nachmittag frei geworden. Ihr werdet euch wohlfühlen. Dr. Grant behandelt ihre freiwilligen Testpersonen wie Hotelgäste. Es wird euch an nichts fehlen. Sie hat großen Respekt vor jenen, die sich in den Dienst der Traumforschung stellen.“ Am Ende des Ganges betraten sie einen Lift. Es gab nur einen Knopf, Leon Botta drückte ihn. Der Lift fuhr kurz nach oben – die Gebäudeteile der Universität mussten sich auf verschiedenen Ebenen befinden. Sekunden später traten sie aus der Kabine in einen hohen, weiten Raum. Er glich der Empfangshalle eines Hotels. Kein Mensch war zu se39
hen, nichts zu hören. Sandra fiel auf, dass die Fenster vergittert waren. Vergitterte Fenster in einer Universität? Dieser Teil der Uni musste zu den älteren Gebäudetrakten gehören. Wenig Licht fiel durch die kleinen Fenster. Die hohen Wände waren alles andere als einladend. Draußen stand ein Baukran. An der Fassade nahm man offenbar Renovierungsarbeiten vor. Die Halle war ihr nicht ganz geheuer, ebenso wie der komische, ferngesteuert wirkende Portier hinter dem alten, großen Schreibtisch, der in der Mitte stand. Der Blick des Mannes schien starr auf irgendeinen Punkt in der Luft vor ihm gerichtet. Seine Mundwinkel bewegten sich kaum, als er sagte: „Guten Abend, Herr Botta. Wie ich sehe, haben Sie schnell Ersatz gefunden. Ich hoffe, diesmal klappt alles zu Ihrer Zufriedenheit.“ Sandra und Armin versuchten möglichst ahnungslos zu wirken. Ihr Gepäck wurde durchsucht. Dann mussten sie ihre Handys abgeben. „Telefonieren ist im Institut verboten“, sagte Martin Frisch, ein gut lesbares Namensschild steckte an der Brusttasche seiner Uniform. „Die elektronischen Geräte hier sind äußerst empfindlich. Ihr bekommt sie am Ende zurück. Zimmer 66 und 67 liegen im dritten Stock, Dr. Grant erwartet euch bereits. Folgt bitte Herrn Botta.“ Sandra warf Armin einen fragenden Blick zu. Beide beschlich sie dieses Gefühl, das sie von so vielen ihrer Fälle her kannten. Das unheimliche Gefühl, das ihnen sagte, dass sie sich in der Höhle des Löwen befanden.
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Stumme Köpfe
Über das Stiegenhaus erreichten sie den ersten Stock. Links und rechts zweigte wieder ein langer Gang ab. Auf jeder Seite befanden sich zehn Türen. Seltsam still war es hier. Als wären sie die einzigen Menschen an diesem Ort. Direkt vor ihnen, am Kopf der Stiege, befand sich eine schwere doppelflügelige Holztür. Rechts davon, über einem Klingelknopf, war ein Schild angebracht: Univ.-Prof. Dr. Ellen Grant Institut für Traum- und Gehirnforschung Leon Botta klingelte weder noch klopfte er an. Er drückte die Klinke und die schwere Holztür ging quietschend auf. Sandra und Armin betraten eines der merkwürdigsten Büros, das sie je gesehen hatten. Tiefe Schatten bedeckten weite Teile des ungewöhnlich eingerichteten Raumes. Uralte Möbel wechselten sich mit modernster Computertechnik ab. Die Wände waren mit Holz vertäfelt. Die stummen Köpfe von Nobelpreisträgern, aus Marmor gehauen, starrten von einigen Holzsäulen – es war unheimlich. Ein dumpfes Klicken hinter Armins Rücken erregte seine Aufmerksamkeit. Im Augenwinkel sah er gerade noch, 41
wie der dicke goldene Rahmen eines über zwei Meter hohen Ölgemäldes sich bewegte, dann aber reglos an der Wand hing. Eine Gestalt stand vor dem Bild, drehte sich jetzt hastig um und lächelte gezwungen. „Wie oft habe ich schon gesagt, dass Sie klingeln oder klopfen sollen, ehe Sie eintreten, Leon!“ „Verzeihen Sie, Dr. Grant, aber ich dachte, in Anbetracht der Eile …“ „Ach was!“ Armin musterte das Ölbild. Drei Männer, umringt von bewaffneten Bauern, reichten einander die Hände. „Der Rütli-Schwur“, erklärte Dr. Grant. Ihre Augen hinter den blauen Brillen wichen dabei keinen Millimeter von Sandra und Armin. „Im Jahre 1291, am 1. August, schlossen sich am Vierwaldstätter See die Kantone (= Bundesländer) Schwyz, Uri und Unterwaiden in einem gemeinsamen Pakt zusammen, um im Kampf gegen die Herrschaft des österreichischen Kaiserhauses der Habsburger eine Chance zu haben. Das Bild zeigt die Abgesandten: Walter Fürst, Werner Stauffacher und Arnold von Melchtal. Ein wunderbares Gemälde zu einem Meilenstein in der Schweizer Geschichte – so der Gründungsmythos.“ „Wer ist das?“, fragte Sandra, die vor einem der Marmorköpfe stand. „Henry Dunant“, sagte Dr. Grant. „Der Gründer des Roten Kreuzes.“ Dr. Ellen Grant setzte sich hinter den Schreibtisch. „Ich freue mich sehr, dass ihr euch freiwillig für meine Traumstudie zur Verfügung stellt. Die Testreihe ist völlig ungefährlich, sie wird euch sogar Spaß bereiten.“ 42
„So wie Markus Zwingli?“, sagte Sandra. Dr. Grants Lächeln wich aus ihrem Gesicht. Für einen Moment herrschte gelähmte Stille. Dann: „Keine Ahnung, wen du meinst. Aber auch egal.“ Ellen Grant stand auf. „Wir führen insgesamt zehn Tests mit den Freiwilligen durch. Je zwei an einem Tag …“ Eine weiße Ratte kletterte aus einem Terrarium, das auf einem Tisch nahe dem Fenster stand. „Nummer 73!“, rief Dr. Grant schroff. Sofort verschwand das rotäugige Tier wieder in seiner Behausung. „Der Vormittagtest findet um 10 Uhr statt, nachmittags um 15 Uhr. In der freien Zeit dürft ihr das Institut auf keinen Fall verlassen. Umwelteinflüsse würden euer Unterbewusstsein und somit eure Träume beeinflussen. In der Folge wären unsere Testergebnisse verfälscht. Die Versuchsregeln sind strengstens einzuhalten. In die Bibliothek dürft ihr natürlich. Oskar steht euch zur Verfügung. Er ist ein hervorragender Büchereileiter. Und nun ruht euch auf euren Zimmern aus. Wir beginnen morgen pünktlich um zehn.“ „Wer sind die anderen Freiwilligen?“, fragte Armin. Dr. Grant überhörte seine Frage. „Ihr könnt jetzt gehen“, sagte sie kurz. „Die Zimmerschlüssel“, sagte Sandra. „Ihr braucht keine“, antwortete Leon. „Geht voraus, ich komme gleich nach.“ Sandra und Armin verließen das Büro. Draußen vor der Tür sagte Armin: „Wir sind auf der richtigen Spur.“ Er kramte in seiner Reisetasche. Er holte ein dünnes Glas heraus. Der Abhörtrick war einfach, aber gut: Er stülpte das 43
Glas mit der Öffnung über das Schlüsselloch, presste sein Ohr an den Glasboden und lauschte gespannt. „Verdächtig, die beiden … schneller als geplant … sind gutes Material … in einer Stunde … Keller … okay …“ Wäre die Tür nicht so dick gewesen, hätte Armin noch mehr gehört. Sandra und er versuchten mehr zu erlauschen. Da legte sich eine Hand schwer auf ihre Schultern. Sandra und Armin erstarrten, als sich ein Schatten über sie legte. Sie wirbelten herum. Sandra fluchte innerlich. Wie konnte sie sich als Detektiv nur so leicht überrumpeln lassen. Aber hinter ihnen stand niemand in einem Arztkittel. Auch nicht der merkwürdig dreinblickende Portier. Überhaupt kein Erwachsener. Sandra blickte in das Gesicht eines ungefähr zehnjährigen Mädchens. Ihr Haar glänzte wie Seide und war zu einem Zopf gebunden. Dunkelbraune Augen sahen Armin fragend an. Das Mädchen trug ein ausgewaschenes Donald-Duck-T-Shirt, zerknitterte Jeans und ausgefranste Turnschuhe. Die Kleine war wie aus dem Nichts aufgetaucht. „Ihr spielt mit dem Feuer“, sagte das Mädchen. „Wenn sie euch beim Lauschen erwischen, seid ihr so gut wie tot.“ Das Mädchen musterte Sandra und Armin von oben bis unten. „Ich bin Sarah Lindt“, sagte sie. „Ihr seid bestimmt meine neuen Nachbarn von Zimmer 66 und 67?“ „Armin Hauser.“ „Sandra Wolf.“ „Wie kommt ihr denn bloß in diese FrankensteinAbteilung?“, fragte Sarah, als sie die Treppen hochstiegen. „Wir haben uns freiwillig gemeldet. Als Testpersonen. 44
Für Dr. Grants Traumforschungen“, sagte Armin. „Mich hat man aus einem Kinderheim hierhergebracht. Hatte Gelbsucht. Zuerst war ich in einer anderen Abteilung. Das ist jetzt schon fünf Wochen her.“ Sarah seufzte. „Besuchen dich deine Eltern nicht?“, wollte Sandra wissen. „Ich habe keine Eltern mehr. Sind bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen.“ Sarahs Stimme klang traurig. Und Sandra konnte ihr nachfühlen. Sie hatte ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. Einfach schrecklich, diese Bilder der Erinnerung. Flammen, Geschrei, berstendes Blech … „Hier lang“, sagte Sarah. Sie waren jetzt im dritten Stock angelangt. Das Gebäude hatte auch hier ein hallenartiges Stiegenhaus, von dem zwei lange Gänge abzweigten. Es gab einen Fernsehraum und eine große Bibliothek. Das Institut erinnerte Sandra an ein Wellness-Hotel. Eine unheimliche Stille lag über den Gängen. Kein Laut drang aus den Zimmern. Der Teppichboden und die Gemälde an den Wänden schluckten das Echo ihrer Schritte und Worte. Sandra beschlich das Gefühl, völlig von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Vor Zimmer 65 blieb Sarah stehen. „Die Visite wird jeden Moment auftauchen. Dann solltet ihr im Bett sein, sonst ergeht es euch schlecht.“ „Wieso?“, fragte Armin. „Hier drinnen sind alle sehr komisch. Weiß nicht, wie Dr. Grant das macht. Vielleicht Gehirnwäsche oder so.“ Sarah öffnete die Tür ihres Zimmers. „Bis morgen. Dann zeig ich euch alles hier.“ „Warte!“, rief Sandra. „Gibt es hier einen Jungen, der Mario heißt? Mario Klein.“ 45
„Keine Ahnung. Dr. Grant hütet die Zimmerliste wie ihren Augapfel.“ Sarah überlegte kurz. Dann sagte sie: „Seid vorsichtig hier drinnen. Dieser Teil der Uni ist der unheimlichste Ort, an dem ich je gewesen bin. Ich weiß nicht, was sie hier machen, aber mit dem Erforschen von Träumen hat das sicher nichts zu tun.“ Sarah zeigte auf die Türschnalle. Das war Sandra und Armin noch überhaupt nicht aufgefallen. „Die Zimmertüren in diesem Stock haben nur Schnallen und keine Schlüssellöcher“, sagte Sarah. „Man kann keine der Türen abschließen. Alle Fenster sind vergittert wie in einem Gefängnis oder einer Anstalt. Vielleicht seid ja wenigstens ihr beide normal.“ „Da kannst du sicher sein“, erwiderte Armin. „Fragt sich nur, wie lange?“ Ein Zischen verriet, dass jemand den Aufzug gerufen hatte. „Die Visite. Schnell!“ Sarah huschte in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Auch Sandra und Armin verschwanden in den Zimmern 66 und 67. Schnell gab Armin Sandra noch das Geheimzeichen, das bedeutete, sich zu melden, wenn sie einen Plan hatte. Und Sandra hatte einen Plan. Noch heute Nacht.
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Geheimnisvolle Klopfzeichen
Eine halbe Stunde später hatten sie Quartier gemacht. Armin lag im Bett und starrte an die Decke. Die Visite, nur Leon Botta war erschienen, hatte einen Speiseplan gebracht und „Gute Nacht“ gewünscht. Nichts weiter. Tödliche Geheimnisse! Während Armin die Worte Markus Zwinglis durch den Kopf gingen und er das angsterfüllte Gesicht des Jungen vor sich sah, rissen ihn Klopfzeichen an der Wand aus seinen Gedanken. Armin lauschte – das war sicher Sandra. SAM verwendeten gerne das MorseABC, um verschlüsselte Nachrichten durch Punkte und Striche oder kurze und lange Klopfzeichen zu übermitteln. Armin übersetzte die Klopfnachricht und notierte die Buchstaben: _ _ (M) . _ (A) . _ .(R) . . (I) _ _ _ (O) . . . (S) . . _ (U) _ . _ . (C) . . . (H) . (E) _ . (N) . _ . (R) . . _ (Ü=U) _ (T) . _ . . (L) . . (I) . . . (S) _ . _ . (C) . . . (H) . _ _ (W) . . _ (U) . _ . (R) . . (I) _ . (N) . . . . . (5) _ _ (M) . . (I) _ . (N) . . _ (U) _ (T) . (E) _ . (N)
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Armin verstand sofort, was Sandra mit „Rütlischwur“ meinte. Also war es auch ihr aufgefallen. Er band sich den Detektivgürtel um, in dem er wie seine Freunde die nötigste Detektivausrüstung bequem und fast unauffällig mittragen konnte. Eine Menge Tricks konnte man damit ausführen. Auf leisen Sohlen schlich er aus seinem Zimmer. Seine Handflächen begannen zu schwitzen. Armin wusste, dass sie entsetzlich hoch pokerten. Bei diesem Plan konnte zu viel schiefgehen. Doch es ging um Mario, seinen Freund. Und da durften sie ein Risiko nicht scheuen. Draußen am Flur war es stockdunkel. Armin wagte ein paar vorsichtige Schritte vor die Tür, spähte nach allen Seiten in die Dunkelheit. „Komm!“ Sandra wartete bereits auf ihn. Ihre Stimme, direkt vor ihm, war nicht mehr als ein Hauch in der Finsternis. Sandra holte eine kleine Plastikröhre aus ihrem Detektivgürtel. Sie knickte das Röhrchen und gelbes Licht erleuchtete den Gang spärlich. Ein Knicklicht, wie Fischer es verwenden, gehörte immer zur SAM-Detektivausrüstung. Die beiden wechselten einen raschen Blick. Ihre Augen hatten sich in der Zwischenzeit etwas an die Dunkelheit gewöhnt. Gemeinsam schlichen sie los. Ihr Ziel lag im ersten Stock. Der Zeiger auf Sandras Armbanduhr sprang auf vier Minuten nach drei, als Armin den Dietrich zum ersten Mal in das Schloss von Dr. Grants Bürotür steckte. Drinnen war es still wie in einer Gruft. Kein Geräusch drang nach draußen. 48
Armin fingerte mit dem künstlichen Schlüsselersatz herum. Schon glaubte er, es mit einem Spezialschloss zu tun zu haben, da klickte es. Das Geräusch hallte in der Stille von den Wänden zurück wie das Echo eines Schusses – zumindest kam es ihnen so vor. Er drückte die Klinke. Langsam schwang die Tür vor ihnen auf. Ein Kopfnicken und flink huschten die beiden Detektive in Ellen Grants Büro. Klack. Die Tür hinter ihnen war zu. Sandras und Armins Sinne waren hellwach und aufs Äußerste geschärft. Sandra hob das Knicklicht und vor ihnen, im schwachen gelben Schein, wurde das türgroße Gemälde des „Rütlischwur“ lebendig. Im Licht wirkten die Personen auf der Leinwand noch mächtiger und gespenstischer. Armin warf ständig nervöse Blicke zur Bürotür. Sandra nahm den goldenen Bilderrahmen unter die Lupe. „Hier muss es irgendwo sein“, flüsterte sie. „Der Ring“, sagte Armin leise. „Was?“ „Der Ring am Finger von Werner Stauffacher … Er ist nicht gemalt, er wirft einen Schatten …“ „Tatsächlich! Du hast wirklich Adleraugen, Armin.“ Sandra drückte auf den Ring. Wieder klickte es. Für eine Sekunde blieben den beiden die Worte im Hals stecken. Das Ölgemälde ließ sich wie eine Tür öffnen. Hinter der Leinwand befand sich eine Metallwand. In der Mitte teilte sie sich in zwei Hälften. Rechts daneben befand sich ein weiterer Knopf. Irgendjemand hatte die Umbauarbeiten an der Universität dazu genutzt und einen versteckten Aufzug einbauen lassen. „Wo der wohl hinführt?“, sagte Sandra. 49
„Willst du das wirklich wissen?“, antwortete Armin. Sandra nickte stumm. Armin drückte den Knopf. Ein leises Zischen war hinter der Tür zu hören. Eine Seilwinde setzte sich in Bewegung. „Eine Liftkabine kommt“, flüsterte Sandra. Augenblicke später fuhren die beiden Metalltüren auseinander. Die leere Kabine wartete. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend stiegen die zwei Detektive ein. Sandra presste ihren Zeigefinger auf den einzigen Knopf mit dem Buchstaben E – Erdgeschoss –, neben den anderen Symbolen gab es keine Knöpfe. Die beiden Türflügel schlossen sich langsam und der Aufzug fuhr los. Gebannt blickten Sandra und Armin auf die Anzeige neben dem Knopf. 1 … E … Nacheinander leuchteten dort Ziffern und Buchstaben auf, die das Stockwerk anzeigten, an dem sie gerade vorbeifuhren. K … „Sa… Sandra, sieh nur! K …“ Weiter kam Armin nicht. Die Liftkabine stoppte bei E nicht. Unaufhaltsam raste sie weiter in die Tiefe. Vorbei an K – Keller. Weiter und weiter …
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Schattengestalten
„Was … was geht hier vor?“ Alarmiert drückte Sandra immer wieder den Daumen auf den E-Knopf. Nichts. Keine Reaktion. Der Aufzug fuhr in die Tiefe. Es war wie ein Alptraum. Sandras Herz hämmerte, als wolle es ihr die Brust sprengen. „Das Tragseil …“, stotterte Armin. „Vielleicht ist es gerissen!“ „Eine Tiefgarage“, hoffte Sandra. Sie wusste, dass der Gedanke nur ein verzweifelter Wunsch war. „Warum gibt es dann keinen Knopf mit G – Garage?“ Armin wirkte gefasst. Aber seine Augen verrieten die Angst, die in ihm tobte. Sandra glaubte zu wissen, warum. Sie war jedoch zu angespannt, um sich länger Gedanken darüber zu machen. In der nach unten gleitenden Liftkabine machte sich frostiges Schweigen breit. „Bestimmt sind wir schon zehn oder zwanzig Meter unter der Erde“, sagte Armin mit ernster Miene. Plötzlich horchte er auf. Konnte das sein? Ja. Er irrte sich nicht! Das surrende Geräusch des Liftseiles wurde tiefer, die Kabine langsamer. Tatsächlich. Sie bremste langsam ab. Der Aufzug ruckte kurz, dann stand die Kabine still. Nichts weiter 51
geschah. Sandra und Armin lauschten. Ihre Gedanken kreisten um eine einzige Frage: Was war auf der anderen Seite der Lifttür? „Mach das Knicklicht aus“, flüsterte Armin. Es wurde dunkler in der Liftkabine. Sandra und Armin glichen jetzt nur mehr zwei Schattengestalten. Armin drückte den Knopf zum Öffnen der Tür. Die beiden Metallhälften schoben sich mit einem leisen Zischen auseinander. Sandra blickte in einen düsteren, schwach beleuchteten Gang. Mehrere Seitengänge zweigten nach links und rechts ab. Dazwischen lagen Türen. Alle waren geschlossen. Kein Laut war zu hören und ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Eine Mischung aus Zoo, Medikamenten und Parfum. Mit pochendem Herzen standen Sandra und Armin da und starrten in die merkwürdige Etage hinaus. Der Boden war abwechselnd mit schwarzen und weißen Steinfliesen belegt. Der Gang glich einem großen Schachbrett. Die Wände waren grau gekachelt. Totenstille herrschte. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Kein Wort, kein Ton, keine Silbe war zu vernehmen … „Irgendwas an diesem Ort ist unheimlich“, sagte Sandra leise. „Das spüre ich.“ „Lieber erst Mario finden?“, fragte Armin. Sandra nickte. Armin drückte die E-Taste. Nichts. Die Kabinentüren blieben offen stehen. Der Aufzug reagierte nicht. Als sei der Strom ausgefallen. Oder abgestellt worden! „Was jetzt?“, flüsterte Sandra. „Eine Treppe. Es muss eine Treppe geben“, sagte Ar52
min. „Wir schleichen zu den Türen. Sicher gibt es hinter einer davon eine Feuertreppe nach oben.“ Sandra und Armin schlichen Schritt um Schritt vorwärts, auf die erste Tür an der rechten Seite zu. Die Türklinke war schon in Sandras Reichweite, da erstarrte sie wie vom Blitz getroffen. Auch Armin versteinerte, als er im Augenwinkel die Bewegung wahrnahm: Die Lifttür – sie schloss sich. Ein dumpfer Schlag, dann war sie zu. Das Surren des Tragseiles … Jemand hatte den Lift gerufen! „Wir sitzen in der Falle!“, zischte Sandra. „Verdammt!“ Armin fasste die Türklinke. Zu seiner Überraschung war die Tür nicht verschlossen. Er zog die dick gepolsterte Tür einige Millimeter auf und spähte in den dahinterliegenden Raum. Das Zimmer war erleuchtet – ein Büro mit modernster Computertechnik eingerichtet. Silbriges Metall, Glas und weißes Holz beherrschten den Raum. Hinter einem Bildschirm, an einem weißen Schreibtisch, saß jemand und tippte auf einer Tastatur. Armin konnte das Gesicht der Person nicht sehen, es wurde von einem Flachbildschirm verdeckt. Sandra spähte an ihm vorbei und konnte den rechten Arm sehen, der in einem grünen Arztkittel steckte. Die Ärmel waren hochgekrempelt. Weiter hinten stand eine zweite Tür offen. Der Raum war grell erleuchtet. Seltsame Geräusche drangen von dort auf den Gang heraus. Die Person streckte jetzt den Arm aus und griff nach einer Aktenmappe. Am Unterarm war eine eintätowierte blaue Schlange mit zwei Köpfen zu sehen. „Was halten Sie von den Neuen auf 66 und 67?“, fragte eine dunkle Stimme. Sandra und Armin drängten sich näher an den Türspalt. „Sie scheinen gesund und geistig rege zu sein. Bestes 53
Material. Genau wissen wir es nach den ersten Tests“, antwortete eine zweite männliche Stimme. „Mach jetzt Licht am Gang, sie werden gleich kommen …“ Das leise Klingeln des Aufzugs hallte durch den Gang. Das Surren wurde tiefer. Sandra zuckte zurück und drängte Armin weiter zur nächsten Tür. SAM beherrschten zum Glück eine Zeichensprache. Armin verstand sofort, was Sandra wollte. Auch die nächste Tür war nicht verschlossen. Armin öffnete sie und die zwei Detektive verschwanden im Nebenraum. Zu ihrer Überraschung befanden sie sich in dem großen, hell erleuchteten Raum, der hinter dem Büro lag. Sie hörten die beiden Stimmen von vorher aus dem angrenzenden Zimmer. Die Tür musste um die Ecke liegen. Es war ein Labor. Genau genommen ein Labor für Tierversuche. Überall standen Käfige herum, in denen Affen, Ratten und Mäuse aufgeregt hin und her turnten. Die Gitterkäfige waren durchnummeriert. Armin wusste nicht warum, aber irgendwie kamen ihm diese Tiere merkwürdig komisch vor. Irgendwas an ihnen störte ihn, passte nicht zu den Bildern, die er von diesen Lebewesen aus dem Fernsehen und dem Zoo hatte. „Die scheinen uns überhaupt nicht wahrzunehmen“, wisperte Armin. Aus dem Büro war wieder eine Stimme zu vernehmen. „Keine Sorge, das Projekt befindet sich genau im Zeitplan.“ „Haben wir den flüchtigen Jungen schon gefunden und zum Schweigen gebracht?“, fragte die männliche Stimme. „Noch nicht. Aber die drei, denen er in die Hände lief, sind ein würdiges Ersatzmaterial. Es wird eine Kleinigkeit 54
für mich sein, sie vorzubereiten auf die erste menschliche Gen…“ „Der Aufzug ist da“, fiel die zweite Stimme ein. Ein Sessel ruckte und Schritte waren zu hören. Sandra und Armin schlichen zur Gangtür und lugten durch den winzigen Spalt. Die Lifttür ging auf und drei Personen stiegen aus. Sandra stockte der Atem.
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Der Köder
„Sie kommen damit nicht durch!“ Die Stimme gehörte einem Jungen. Er wehrte sich gegen den harten Griff an seinem Handgelenk. Aber er war zu schwach, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ebenso die zweite Person. Wie Sandsäcke wurden sie von dem bulligen Mann den Gang entlanggeschleppt. „Lassen Sie uns gehen“, keuchte das Mädchen. „Haltet den Mund!“, fauchte Leon die beiden an. Sandra und Armin konnten die zwei kleineren Personen nicht genau erkennen, ihre Köpfe hingen nach unten. Aber sie hatten die Stimmen erkannt: Mario und Sarah. Leon öffnete eine Tür auf der gegenüberliegenden Gangseite. Grob zerrte er die beiden in den Raum dahinter. Eine in Grün gekleidete Gestalt kam aus dem Nebenraum, schloss die Tür hinter sich, querte den Gang und verschwand in demselben Zimmer wie Mario, Sarah und Botta. Die Tür ging zu. Nichts mehr war zu hören. Sandra und Armin schlichen aus dem Labor. Sie huschten auf die andere Gangseite. Armin spähte durch das Schlüsselloch. „Was siehst du?“, flüsterte Sandra aufgeregt.
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„Neiiiiiiiin …!“ Es war Mario. Ein langer, qualvoller Schrei, der durch das unterirdische Geschoss hallte. „Sag ich dir später“, antwortete Armin leise. Tausend Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Wie konnten sie Mario nur helfen? Man hatte seinem Freund Drähte an Stirn und Schläfen geklebt. Dann wurde Mario in einen Lederstuhl gesetzt, angeschnallt und anschließend ein Computer aktiviert. Eine Person näherte sich Mario. Selbst Armin, der für gewöhnlich einen tierischen Scharfblick hatte, konnte nicht feststellen, wer das war. Das Gesicht war kaum zu erkennen. Vor Mund und Nase trug die Gestalt einen grünen Mundschutz, wie Ärzte im OP. „Beginnen“, kommandierte die Gestalt. „Die Dosis leicht erhöhen. In einer viertel Stunde will ich im Bett sein!“ Plötzlich schob sich etwas vor das Schlüsselloch und verdeckte Armin die Sicht. Sekunden später erschrak er fast zu Tode. „Wir müssen ihm helfen.“ Sandra zitterte. Im selben Moment vernahmen sie Schritte im Raum gegenüber. Sie wurden lauter, kamen auf den Gang zu. „Schnell, in den Lift!“, zischte Armin. „Aber Mario!“ „Jetzt komm schon!“, befahl Armin. „Wenn sie uns hier erwischen, ist niemandem geholfen. Er muss noch ein wenig durchhalten. Jetzt wissen wir jedenfalls, dass er hier ist.“ Wieselflink eilten die beiden zum Aufzug, die Lifttüren waren offen. Armin hämmerte mit der Faust gegen die Stockwerktaste. Nichts. Keine Reaktion! Der Aufzug bewegte sich keinen Millimeter. 58
Gleich musste die Tür am Gang aufgehen. „Mist!“, zischte Armin. Er schlug noch mal gegen den Knopf. Die Türklinke bewegte sich nach unten. In Zeitlupe begann sich die Lifttür zu schließen. Sandra und Armin pressten sich gegen die Kabinenwände. Schon schwang draußen am Gang das Türblatt auf. Im Augenwinkel und durch die zugleitende Aufzugtür sahen sie noch einen Schatten in den Gang fallen. Dann fuhr der Lift an. Nach oben. Sandra und Armin atmeten erleichtert auf. Sandra hatte das Gefühl, erstmals zu verstehen, warum Markus Zwingli „Tödliche Geheimnisse“ gestammelt hatte. Hier unten ging etwas Unheimliches vor sich. Noch hatte sie keine Idee, was Dr. Ellen Grant hier wirklich „erforschte“. Aber die Wissenschaftlerin war zu allem fähig. Das stand seit heute fest. Markus Zwingli hatte SAM einen Hinweis auf etwas gegeben, das kein Mensch erfahren durfte. Und SAM waren fest entschlossen, herauszufinden, was das war – und Mario aus den Klauen dieser „Wissenschaftler“ zu befreien. „Was meinst du?“, fragte Sandra Armin. „Sollten wir morgen nicht mit Sarah ein ausführlicheres Gespräch führen? Vielleicht wird sie wieder nach oben gebracht?“ Wenn Sandra solche Fragen stellte, dann war etwas nicht in Ordnung. Und es war etwas nicht in Ordnung in diesem Teil der Universität. Von außen konnte niemand ahnen, welch tödliche Geheimnisse die zum Teil unterirdisch angelegten Räumlichkeiten bargen. Sandra und Armin wussten, dass Mario mit der geheimnisvollen Mitteilung geködert worden war. Ein Köder, der 59
SAM in die Höhle des Löwen locken sollte, weil Markus Zwingli durch sie entkommen war. Doch nur: Entkommen vor wem, oder besser gesagt – wovor? Und war Mario jetzt der Köder für sie? Vielleicht würden sie es früher erfahren, als ihnen lieb sein konnte.
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Ein riskantes Vorhaben
Am nächsten Morgen wachte Armin sehr früh auf, die Sonne zeigte sich noch nicht am Himmel. Es war dunkel draußen. Einen Moment lang glaubte er, Klopfgeräusche von Sandra hätten ihn aufgeweckt, dann bemerkte er jedoch, dass es das Heulen des Windes in den Fenstergittern war. Armin tastete nach seiner Armbanduhr und sah auf das Zifferblatt. Es war 5.42 Uhr. Armin seufzte. Er drehte sich um und versuchte wieder einzuschlafen, doch nun, da er wach lag, konnte er die schrecklichen Bilder der vergangenen Nacht nicht mehr aus seinem Gedächtnis verdrängen. In knapp drei Stunden würde er den Test – oder was immer als das bezeichnet wurde hier drinnen – zu bestehen haben. Er döste dann doch ein und erwachte bei Sonnenschein. Gähnend stieg er aus dem Bett, zog sich an und klopfte nach einer Katzenwäsche an die Wand zu Sandras Zimmer. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und eine Minute später rüttelten sie Sarah in Zimmer 65 wach. Langsam wurde Sarah munter, falls man das so nennen konnte. Mit geschwollenen Augen und zerzausten Haaren setzte sie sich auf. „Was wollt ihr denn hier?“, gähnte Sarah schlaftrunken. „Wir wollen mit dir reden“, sagte Sandra. 61
„Reden? Worüber?“ Sarah nickte fast ein und schlug dabei mit dem Kopf gegen das Kopfende des Bettes. „Über gestern Nacht und darüber, was sie mit Mario und dir in diesen merkwürdigen unterirdischen Laboren gemacht haben“, sagte Armin. „Wir treffen uns in zehn Minuten in der Bibliothek, okay. Möglicherweise werden die Zimmer abgehört.“ Die Bibliothek der Universität glich einem Labyrinth an Gängen. An der Decke erhellten Neonröhren die tiefen Schluchten aus Büchern. Sandra und Armin warteten im Gang Nummer „G 1“ auf Sarah. Beide hatten sich ein Buch über die Geschichte der Schweiz geschnappt und taten so, als würden sie darin lesen. Keine fünf Minuten später war Sarah da. „Ich kenne keinen Mario“, sagte sie. „Und von was für unterirdischen Laboren sprecht ihr überhaupt? Träumt ihr noch?“ „Du weißt nichts von all dem, was gestern Nacht passiert ist?“, hakte Sandra nach. „Das Einzige, was ich weiß ist, dass dieser Ort hier gruselig ist. Wenn ihr gescheit seid, macht ihr es wie Markus und ich – abhauen!“ „Du willst türmen?“, fragte Armin. Sarah sah sich um. Oskar, der Bibliothekar, saß weit vorne neben dem Eingang hinter seinem Schreibtisch. Er konnte sie bestimmt nicht hören. Sonst war niemand zu sehen. „Okay, euch kann ich vertrauen, ihr seid erst einen Tag hier. Euch hat sie noch keiner Behandlung unterzogen.“ Armin war klar, dass Sarah von Dr. Grant sprach. „Welche Behandlung?“, wollte Sandra wissen. „Was glaubt ihr eigentlich, warum hier alle Fenster ver62
gittert sind? Doch sicher nicht, um die Leute hier drinnen vor Einbrechern zu schützen …“ „Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“, sagte Sandra zu Sarah. „Klar.“ „Wir sind nicht freiwillig hier.“ Sarah staunte. „Wir sind Detektive und ermitteln für Interpol.“ „Und wir müssen unseren Freund finden. Warum hat er kein Zimmer auf unserer Etage?“, fragte Armin. „Du weißt zumindest nichts davon. Und doch haben sie euch gestern gemeinsam mit dem Lift gebracht. Das Ganze ist absolut rätselhaft. Was geht hier vor, Sarah?“ Sarah schwieg. Dann: „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich mich morgens an fast nichts mehr erinnern kann, was am Vortag war, eure Gesichter hatte ich in Erinnerung, was aber die Tests betrifft … Und dass ich mich übermorgen, beim Eröffnungsfest des neuen Gebäudeteiles, aus dem Staub machen werde. Wenn ihr klug seid, kommt ihr mit.“ Oskar erhob sich und kam auf den Gang G 1 zu, um einige Bücher in die Regale zu stellen. „Dr. Grant führt eine Zimmerliste“, flüsterte Sarah noch schnell. „Hab sie gesehen, als ich vom Heim hierherkam. Sie sperrt sie im Schreibtisch ein.“ Sie drehte sich um und verschwand im nächsten Gang, bevor sie die Bibliothek verließ. „Was macht ihr so früh hier?“, fragte Oskar, als er um die Ecke kam, „ich hab euch beide gar nicht bemerkt.“ Im Licht der Neonröhren wirkte sein Gesicht maskenhaft starr. „Wir … wir lieben Bücher“, sagte Sandra. Und sie log 63
damit nicht einmal. „Uns interessiert die Geschichte der Schweiz.“ „Habt ihr denn gefunden, was ihr sucht?“ „Soeben“, sagte Armin. „Der Rütlischwur – er war 1291 und nicht 1290.“ „Das hätte auch ich euch sagen können“, grinste Oskar. Sandra und Armin schlugen ihre Bücher zu, stellten sie in das Regal zurück und machten sich auf den Weg in ihre Zimmer. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es schon halb neun war. Allmählich warf der erste Test seine Schatten voraus und so etwas wie Angst stieg in den Detektiven hoch. Punkt zehn Uhr erschien Leon. Jetzt trug auch er einen grünen Arztkittel. Er brachte Sandra und Armin in das Erdgeschoss und dort in einen Raum, in dem Dr. Grant bereits wartete. Im Zimmer befanden sich eine Couch, ein Tisch, zwei Stühle, ein Aktenschrank, ein Glasschrank mit Medikamenten, ein Waschbecken sowie eine Waage und eine Messlatte. „Wo sind wir hier?“, fragte Sandra. „In der Versuchsstation“, antwortete Ellen Grant kurz. Das war gelogen und Sandra wollte schon auf die Bemerkung Dr. Grants antworten und weitere Fragen stellen. Doch ihr wurde im letzten Moment klar, dass sie sich dadurch verraten hätte. Die Tür ging auf und ein Arzt kam herein. „Das ist Dr. Lennon“, stellte ihn Ellen Grant vor. Er hatte die Ärmel seines Kittels hochgeschlagen. Er grinste, als er eine Spritze vorbereitete. 64
Sandra wurde blass, als sie die tätowierte Schlange auf seinem Unterarm sah. „Der erste Test dient dazu, festzustellen, wie euer Bewusstsein auf ein Schlafmittel reagiert, das wir benötigen, um euch in einen träumenden Zustand zu versetzen – Toxidal“, erklärte Dr. Grant. „Der Rest ist Papierkram für heute: Größe, Gewicht … Ihr kennt das vom Schularzt.“ Zuerst wurde Armin Blut abgenommen, dann Sandra. „Wir brauchen eure Blutgruppe für die Statistik“, sagte Dr. Lennon. Mehr geschah bei den Tests an diesem Tag wirklich nicht mehr. Ellen Grant musste in die Uni. Sie hielt in einem der Hörsäle einen Vortrag über Traumzustände. SAM hatten für die kommende Nacht ein riskantes Vorhaben beschlossen. Sarah hatte sie auf die Idee gebracht. Es gab nur diese eine gefährliche Möglichkeit, um bei den schwierigen Ermittlungen weiterzukommen – es ging schließlich um Mario.
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Dunkle Gestalten
Gegen Mitternacht klopfte Armin gegen die Wand zu Sandras Zimmer. Sandra bestätigte und gemeinsam bereiteten sie in ihrem Raum alles vor. Armin überprüfte seinen Detektivgürtel. Er wusste natürlich, was er bei dieser Aktion benötigte, um nicht erwischt zu werden. Sandra kontrollierte den ihren, steckte sich Notizblock und Bleistift ein. „Wofür hast du dich entschieden?“, fragte Sandra. „Die Glühbirne?“ „Ja“, antwortete Armin. Er stieg auf einen Stuhl und schraubte eine Birne aus der Lampe an der Zimmerdecke. Fallenbau war eines von Armins Spezialgebieten. Er nahm die Glühbirne, wickelte sie in ein Handtuch und schlug sie fest gegen die Wand. Ein dumpfer Knall verriet, dass es geklappt hatte. Armin entfaltete das Handtuch. Vorsichtig gab er die gewölbten Glasscherben in die Detektivbox an seinem Gürtel. Die Metallfassung versteckte er unter der Matratze. Er hing das Handtuch an den Halter zurück. Sandra knipste das Licht aus. Finster! Leise drückte sie die Türklinke und öffnete einen Spaltbreit. Sie tippte Armin auf die Schulter und deutete auf den Gang hinaus. Von draußen fiel kein Licht ins Zimmer. „Die Nachtruhe hat begonnen.“ 66
„Gut. Ich bin bereit“, flüsterte Armin. „Gehen wir.“ Mit einem blauen Knicklicht, das Sandra mit ihrer rechten Hand abschirmte, betraten sie das Stiegenhaus. Gut vier Minuten benötigten sie, wobei sie angespannt auf Geräusche wie Stimmen oder Schritte lauschten. Dann hatten sie Dr. Grants Büro erreicht. Armin blieb stehen und lauschte, ob Dr. Grant noch bei der Arbeit war. Nein. Er vernahm nicht das Geringste. Armin holte die Scherben der Glühbirne aus der Detektivbox und begann mit dem Aufbau der SAM-Glühbirnenfalle: Sorgfältig verteilte er die einzelnen Scherben, indem er sie mit der Wölbung nach oben auf den Boden rund um die Bürotür legte. Kam jemand, um das Büro zu betreten, würde ihn das Knacken der brechenden Scherben sofort ankündigen und SAM Zeit geben zu türmen. „Wir dürfen keine unnötige Zeit verlieren“, sagte Sandra leise, dennoch klang ihre Stimme in der Stille laut. „Gut möglich, dass Dr. Grant auch nachts arbeitet. Morgen steht eine große Eröffnungsfeier auf dem Programm.“ „Dann los.“ Armin öffnete mit dem Dietrich die Tür und schlüpfte in das dunkle Büro. Sandra folgte ihm auf den Fersen. So schnell sie konnten, schlichen sie zwischen den Marmorbüsten der Nobelpreisträger hindurch auf die linke Raumseite. Dort stand ein Aktenschrank. Darüber hing ein Foto eines Mannes. Ein Autogramm zierte das Bild. Darunter stand ein Datum: 15. Juli 1996 – Dolly. „Sieh unter ‚Z‘ nach wie Zimmerliste“, hauchte Sandra und hob dabei das Knicklicht. Armin zog an der Blechlade. Sie war nicht abgeschlossen. Ein lautes Quietschen ließ Sandra die Gänsehaut den Rücken emporkriechen. „Leise!“ 67
„Geht nicht, der dämliche Kasten klemmt!“ In der Schublade reihten sich mindestens hundert Akten aneinander. Armin durchwühlte den Buchstaben „Z“. „Da! Zimmerbelegung.“ Sandra legte das Blaulicht auf den Schrank und machte sich bereit zum Schreiben. Armin las leise vor: Zimmer 60: MAX BÖHLER, 11, braune Haare, Augen grau, IQ ( = Intelligenz, Klugheit) hervorragend, Waisenkind, Eltern bei Segelurlaub ertrunken, keine Verwandten, keine Geschwister, bestens für das Projekt geeignet! Zimmer 61: NADINE GRÖMER, 9, blaue Augen, Haare blond, IQ sehr gut, Vollwaise, Eltern bei Autounfall gestorben, keine Verwandten, keine Geschwister, bestens für das Projekt geeignet! Zimmer 62: KERSTIN AUERLI, 10, graue Augen, schwarzes Haar, IQ über dem Durchschnitt, keine Eltern (starben an der Tropenkrankheit Malaria), keine Verwandten, keine Geschwister, bestens für das Projekt geeignet! Zimmer 65: SARAH LINDT 1 + 2, 12, graugrüne Augen, braunes Haar, IQ beeindruckend, von Eltern (unbekannt) bei Kinderklappe abgelegt, keine Verwandten, keine Geschwister aufzufinden, bestens für … Zimmer 66: Sandra … Ein Knacken draußen vor der Tür ließ Sandra und Armin zusammenzucken. 68
Jemand war auf die Glasscherben getreten! Im selben Moment wurde ein Schlüssel angesteckt und gedreht. Armin schob schnell die Lade zurück in den Aktenschrank. Ein Quietschen! Sandra stopfte Block und Schreiber in ihre Hosentasche. Verzweifelt sah sie sich nach einem Versteck um. „Schnell! Dort!“ Die Türklinke ging nach unten. Ein Gemurmel war zu hören. Zwei dunkle Gestalten erschienen. Dr. Ellen Grant, gefolgt von Dr. Lennon, betrat ihr Büro. Das Licht ging an. „Keine Ahnung, woher diese Scherben stammen“, sagte Dr. Lennon. „Vielleicht die Putzfrau. Kann jedem Mal passieren. Sie haben heute ja auch vergessen, ihr Büro abzuschließen.“ „Stimmt“, erwiderte Dr. Grant. „Das ist mir noch nie passiert. Dabei könnte ich schwören, dass …“ Sie hielt inne, lauschte. „Ist was?“, fragte Dr. Lennon. „Haben Sie das nicht auch eben gehört?“ Ellen Grant ging auf den bodenlangen Vorhang am Fenster zu. Mit einem Ruck riss sie ihn zur Seite. Ein gekipptes Fenster schlug im nächtlichen Wind. Sie schloss es. Dann ging sie zum Schreibtisch und nahm ein paar Blätter von einem Papierstapel. „Meine Rede für die morgige Eröffnung des neuen Institutanbaues.“ Nun wandte sie sich direkt Dr. Lennon zu. „Ich wünsche, Doktor, dass diese Sandra Wolf und dieser Armin Hauser sofort nach dem Eröffnungstag schneller als gewohnt für das Projekt vorbereitet werden. Die beiden sind mir irgendwie nicht geheuer. Die stellen zu viele neugierige Fragen. Behalten Sie sie genau im Auge. Ich dulde nicht den geringsten Fehler, das wissen Sie.“ 69
„Gewiss, Dr. Grant. Das Projekt wird ein durchschlagender Erfolg sein, das garantiere ich Ihnen. Die Welt wird nicht nur staunen – sie wird vor Ihnen erzittern. Erzittern vor der genialsten Wissenschaftlerin aller Zeiten, vor jenem Menschen, der die Welt für immer verändern wird.“ Die beiden Wissenschaftler lachten. Ellen Grant knipste das Licht aus. Sie verließen das Büro, bald darauf verstummte das Gelächter. Armin atmete erleichtert auf. Er kroch aus seinem Versteck hinter dem TV-Möbel, auf dem ein Fernseher stand, und kam zu Sandra herüber, die sich in der Schattennische hinter dem Aktenschrank verschanzt hatte. Sandra holte das Knicklicht unter ihrem T-Shirt hervor und studierte ihre Notizen. Was hatten sie erfahren? Nicht viel: Alle Kinder hatten keine Eltern mehr. Weder Verwandte noch Geschwister. Sie waren praktisch alleine auf dieser Welt. Selbst im Waisenheim waren sie vermutlich nicht mehr als ein Name und die dazugehörige Nummer im Computersystem. Würde es jemandem auffallen, wenn sie plötzlich nicht mehr da waren? Gut möglich, dass SAM deshalb nicht in dieser Liste aufschienen. Waren diese Kinder vielleicht deshalb für das „Projekt“ geeignet, weil sie im Endeffekt niemandem abgingen? Und vor allem – für welches Projekt? Und Sarah. Warum wusste sie nach dem Erwachen nicht, was am Vortag geschehen war? „Für mich gibt es nur eine Erklärung“, flüsterte Armin. Sandra sah ihn fragend an: „Gehirnwäsche?“ „Genau. Auslöschen der Erinnerung. Wie auch immer Dr. Grant das macht. Mit Medikamenten oder diesem Apparat, an den sie Mario angeschlossen haben.“ 70
„Komm“, sagte Sandra. „Was hast du vor?“ „Komm einfach.“ Auf dem Weg zu den Zimmern erklärte Sandra Armin ihren Plan. „Wie denn“, zuckte Armin die Schultern. „Die Fenster sind doch vergittert.“ „Die Fenster schon. Aber morgen ab sieben Uhr Früh ist der neu gebaute Teil des Instituts geöffnet. Eine Menge Leute wird kommen. Also die Gelegenheit, sich genauer umzusehen und die Liste zu …“ Eine Tür schlug einen Stock tiefer auffallend laut. Schnell verschwanden sie in ihren Zimmern. Am folgenden Tag erkannte man das Gebäude, in dem Ellen Grants Forschungsabteilung lag, kaum wieder. Die Fassade war mit bunten Fahnen geschmückt. In der großen Eingangshalle prangte das Wappen der Universität Zürich, das eine Kirche mit zwei hohen Türmen zeigt, an einer Hängevorrichtung von der Decke. Genau darunter war zwischen zwei goldenen Messingsäulen eine Marmortafel angebracht. Die Namen von Nobelpreisträgern waren dort eingemeißelt: Walter Rudolf Hess (1949, Medizin) – Rolf M. Zinkernagel (1966, Medizin). Davor bauten Arbeiter gerade ein Rednerpult auf. Mehrere Helfer stellten rot gepolsterte Sessel in Reih und Glied. Einen Stock höher, in der ersten Etage, wurde alles für eine Cocktailparty vorbereitet. Ein Buffet mit erlesenen Speisen wurde angerichtet. Musiker stellten Notenständer auf ihrem Podium auf, Reporter bereiteten sich auf Interviews vor. 71
Das alles geschah gegen acht Uhr am Morgen. Ein wirklich geschäftiges Treiben. Die Leitung der Universität Zürich war auch hier, bei der Organisation von Feiern und Festtagen, mehr als gründlich und vorbildlich. Zwei Stunden später war das Gebäude mit Prominenz, Schaulustigen, Studenten und Professoren überfüllt. Jeder bestaunte das neue Gebäude. Hände wurden geschüttelt, Gespräche geführt, und Dr. Ellen Grant für ihre Forschungsarbeit gratuliert. Alle Aufmerksamkeit drehte sich um die Wissenschaftlerin und ihre Forschungsarbeit. Und das kam Sandra bei ihrem Vorhaben jetzt mehr als gelegen. Flink und mit einer Zeitung vor dem Gesicht als Tarnung, stahl sie sich an den Ankömmlingen vorbei und hinaus in den Park der Universität. Wenn Fiona Spiri schlau war, und daran zweifelte sie keine Sekunde, würde Max Sprüngli an der Eröffnung teilnehmen und versuchen, Kontakt zu SAM zu bekommen. Draußen schien die Sonne und die neue Glasfassade blendete Sandra. Sie verließ den Asphaltweg und marschierte über die Wiese in den waldähnlichen Teil des Parks hinein. Unter einer dicken Trauerweide lehnte sie sich an den Stamm und spähte durch die hängenden Zweige nach allen Seiten. Rechts von ihr tummelte sich eine Gruppe von Studenten. Flink mischte sie sich unter die Leute. Das war die beste Tarnung überhaupt, um nicht aufzufallen. Max Sprüngli konnte sie nirgends entdecken. Sandra schlüpfte hinter eine Hecke und lief sie entlang. Nach rund dreißig Metern hatte sie den Botanischen Garten der Universität erreicht. Hier sah es aus wie in einem tropi72
schen Regenwald. Ein Duft wie am Mittelmeer lag in der Luft. Baumfarne und blühende Alpenrosen … Hier gediehen viele Pflanzen aus den verschiedenen Erdteilen. Sie erreichte die vereinbarte Parkbank. Da war er, der Mülleimer mit dem doppelten Boden. Sandra blickte sich nach allen Seiten um. Niemand hier. Sie kniete nieder und öffnete das Versteck. Dann holte sie die Zimmerliste aus ihrer Hosentasche, legte sie zusammen und kritzelte noch „unterirdische Gebäudeteile – geheim verborgen“ darauf. Sie wollte sie zurücklegen, als sie eine kaum sichtbare Bewegung hinter einem Strauch wahrnahm. Das Blut gefror ihr in den Adern. Zunächst glaubte sie an ein Tier, doch dann fiel ein breiter Schatten über sie. Schnell nahm der Schatten Gestalt an. Zuerst blickte sie auf zwei Schuhe, dann zwei Hosenbeine und schließlich in das Gesicht eines Mannes. „Ich ahnte, dass ihr die Eröffnung nützen würdet, um eine Nachricht abzusetzen“, sagte Max Sprüngli. „Haben Sie mir vielleicht einen Schreck eingejagt.“ Sandra atmete erleichtert auf und tief durch. „Hier.“ Sie übergab Max Sprüngli die Zimmerliste. „Alles Waisenkinder. Vielleicht ist das der Schlüssel.“ „Habt ihr euren Freund gefunden?“ „Noch nicht. Er ist im Institut, wir wissen aber noch nicht wo. Ich muss zurück. Auf dem Zettel steht, was wir bisher in Erfahrung bringen konnten. Hoffentlich nutzt er Ihnen. Wir wollen uns an einem bestimmten Ort des Instituts umsehen.“ „Passt auf!“ „Wir halten Sie auf dem Laufenden. Wenn Sie bis übermorgen nichts von uns hören, müssen sie Ellen Grant 73
festnehmen. Sie führt schreckliche Dinge im Schilde, aber wir wissen noch zu wenig über das, was sie ‚Projekt‘ nennt.“ „Okay. Dann holen wir euch raus.“ Noch ein Winken und Sandra war zwischen den Bäumen und Sträuchern verschwunden. Max Sprüngli wartete ein paar Minuten, dann machte er sich auf den Rückweg zur Eröffnungsfeier. Und da ging alles blitzschnell. Max Sprüngli hatte nicht die geringste Chance, sich zu wehren. Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein breitschultriger Mann mit blonder Bürstenfrisur vor ihm. Ohne jede Vorwarnung stieß Leon seinen Kopf nach vorne. Krachend knallte seine Stirn gegen die Nase von Max Sprüngli. Sprüngli schrie auf, stolperte zurück. Er wankte und Blut schoss aus seiner Nase. Er krachte zu Boden, die Umgebung um ihn begann sich zu drehen und versank in tiefer Finsternis. Leon nahm ihm den Zettel aus der Hand. Dann durchsuchte er Max Sprüngli und fand eine Marke in seiner Brusttasche. „Interpol“, knurrte Leon zornig. „Ihr habt soeben euer eigenes Grab geschaufelt!“ Er ließ Max einfach liegen und griff nach seinem Handy.
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Die Schlinge um den Hals
Im wohltuenden Schatten einer alten Eiche hatte Leon Botta die Nummer von Dr. Grant gewählt … „Ja, ich vermute schon, wer sonst? Von den beiden Kindern habe ich keinen gesehen, aber der Typ, er hatte einen Ausweis bei sich – er ist ein Polyp bei Interpol!“ „Verdammte Sch…“, kam es vom anderen Ende. „Er hatte eine genaue Zimmerliste bei sich. Und einen Hinweis, dass es im Institut unterirdische Räumlichkeiten gibt.“ „Das kann nicht sein!“, zischte Dr. Grant wütend in das Telefon. „Im ersten Teststadium erinnern sie sich morgens an nichts, in der zweiten Phase verlegen wir sie nach unten und sie kommen nie wieder in die oberen Etagen zurück.“ „Das können nur die zwei Neuen sein“, grunzte Botta. „Diese elenden Schnüffler. Putzen wir sie einfach aus den Schuhen!“ Ein längeres Schweigen trat ein. Dann sprach Dr. Grant: „Wir haben keine Beweise, dass sie schnüffeln. Wir können unsere Testpersonen nicht so einfach wegwerfen … Leon, hörst du mich?“ „Bin ganz Ohr, Boss.“ „Okay. Wahrscheinlich sind es diese beiden Klugscheißer. Aber sie sind gutes Material für das Projekt. Behaltet 75
sie im Auge, so dass sie nichts davon mitkriegen, verstanden?“ „Verstanden.“ „Sollten sie ihre Nasen tatsächlich in das Projekt stecken, dann legt den Schnüfflern die Schlinge um den Hals. Aber lasst es wie einen Unfall aussehen oder lasst sie für immer und ewig von der Bildfläche des Lebens verschwinden. Stellt sie mit Betonfüßen auf den Grund des Zürichsees oder betoniert sie in die Grundfeste eines Hauses ein.“ Die letzten Worte spuckte Dr. Grant förmlich aus. Leon machte sich auf den Weg. „Unter keinen Umständen darf uns jemand sehen“, sagte Armin zu Sandra. Die beiden Detektive standen am Stiegengeländer des ersten Stockes zwischen einer Traube von Menschen. Jeder lauschte gespannt der Rede von Dr. Ellen Grant, die einen Vortrag über Gehirnforschung und Vererbung von Körpermerkmalen hielt. „Vor allem müssen wir Leon und Dr. Lennon aus dem Weg gehen, aber sie trotzdem nicht aus den Augen verlieren“, murmelte Armin. „Ah, da seid ihr ja.“ Sandra und Armin fuhren erschrocken hoch. Sarah war hinter ihnen aufgetaucht. Sie trug eine Jacke. „Was hast du denn vor?“, fragte Sandra. „Ich nutze die vielen Leute und hau ab. Kommt mit mir.“ Armin schüttelte den Kopf. „Tut uns leid, Sarah. Du musst alleine gehen. Wir haben einen Freund irgendwo hier drinnen. Viel Glück!“ „Okay. Es ist eure Sache. Ich geh zurück ins Heim, das 76
ist ja ein Paradies gegen diese Mauern hier. Hier geschehen verbotene Dinge, das spür ich. Haut lieber ab, wenn ich euch einen guten Rat geben darf. Viel Glück!“ Sarah drehte sich um und schnell verschmolz sie mit der Menschenmenge. Wie erhofft war das Getümmel auf der Eröffnungsfeier für ein so gefährliches Vorhaben groß genug. Sandra und Armin drängten sich zwischen den diskutierenden, essenden und trinkenden Leuten hindurch und versuchten unauffällig in Dr. Grants Büro zu kommen. Es gelang. Niemand merkte, wie Armin den Dietrich in das Schlüsselloch steckte und umdrehte. Augenblicke später fuhren sie mit dem Lift nach unten. Im Gang mit den vielen Türen angekommen, zögerten die Detektive keine Sekunde. Armin öffnete die Tür, hinter der sie am Vortag die Tierkäfige gesehen hatten. Merkwürdigerweise war der Raum leer, das Licht glomm nur schwach. Wo waren die Tiere hingekommen? Sandra bemerkte links hinten eine Tür. Die war ihnen gestern überhaupt nicht aufgefallen, sie war sicher von Käfigen verdeckt worden. Ein Schild war unter einem fernsehergroßen Türfenster angebracht, auf dem in großen, roten Buchstaben stand: UMWANDLUNG DER ZELLKERNE HÖCHSTE GEHEIMHALTUNGSSTUFE „Das hier unten scheint eine komplette Forschungsstation zu sein“, flüsterte Armin. „So eine Art geschlossene Abteilung der Universität, ein verstecktes Labor.“ Schritte! 77
SAM zuckten zusammen. Sekundenlang erstarrten sie. Dann wirbelten sie lautlos herum und krochen hinter einen Stapel leerer Kisten. Sie dienten dem Transport von Medikamenten, Ampullen … SAM gingen in Deckung. Die Schritte draußen kamen näher. Im Raum schlug die Beleuchtung von schwachem Weiß auf tiefes Rot um. Sandra fühlte sich wie in der Dunkelkammer ihrer Detektivzentrale. Alles ringsum erschien gespenstisch rot und schwarz. Die Tür ging auf und ein Mann trat ein. Sein Gesicht war in dem Rotlicht nicht zu erkennen. Er sprach in ein kleines Mikro an seinem Kittelkragen. „… jedenfalls nicht hier unten. Jetzt nicht, ich muss es zu Ende bringen. Over.“ Der Mann trat vor die massiv wirkende, graue Metalltür, die mit einer dicken, schwarzen Gummidichtung verschlossen war. Rechts neben der Tür befand sich ein kleiner Metallkasten. Er öffnete ihn und tippte eine Zahlenkombination ein. Kurze Zeit später ertönte ein Summton. Über der Tür leuchtete ein grünes Licht auf. Der Mann verschwand in dem Raum hinter der Tür. Sandra und Armin glitten aus ihrem Versteck und lugten zu zweit durch die Scheibe in der Tür. Sie bestand aus Milchglas, war so trübe, dass man nicht sehen konnte, was in dem Raum dahinter geschah. SAM kannten aber einen Trick, um durch Milchglas sehen zu können: Sandra holte ein Stück durchsichtiges Klebeband aus ihrer Detektivbox und rieb es mit dem Fingernagel leise an der Scheibe fest. Schon sahen sie, was auf der anderen Seite passierte. Hinter der Tür lag ein großer Raum, in dem alles aus glänzendem Stahl war. Hier standen auch all die Käfige mit den Versuchstieren. Kein Zweifel, das war ein modern 78
eingerichtetes Labor. SAM sahen ein Gewirr von Rohren, Schläuchen und komplizierten Apparaturen. Kontrolllämpchen blinkten, Anzeigen von Steuerungspulten schimmerten in der rötlichen Beleuchtung. Das Labor sah mehr als gespenstisch aus. Sie sahen den Mann. Er hatte einen Spind geöffnet und nahm einen klobigen, gelben Gummianzug heraus, der einem Astronautenanzug glich. „Ein Schutzanzug“, murmelte Sandra. „Die meisten Wissenschaftler ziehen so einen an, wenn sie mit gefährlichen Viren zu tun haben oder Arbeiten verrichten, bei denen es absolut sauber und keimfrei zugehen muss.“ „Oder, um sich vor etwas zu schützen“, meinte Armin. Der Mann stieg in den Anzug, zog ihn hoch und schloss den Reißverschluss nachlässig. „Seine Arbeit kann nicht allzu gefährlich sein“, dachte Armin. Der Mann überlegte kurz, ob er das Visier des Anzuges schließen sollte, tat es dann. Er drehte den beiden den Rücken zu und ging in einen weiteren Nebenraum. Er schloss die Tür hinter sich. „Unsere Chance!“, zischte Armin. Er hatte den Geheimcode gesehen und tippte: 16661. „Wir haben keine Schutzanzüge“, flüsterte Sandra. „Mario vielleicht auch nicht, Sandra, also komm“, gab Armin zurück. Sandra und Armin huschten durch die Tür, die sich mit einem Zischen hinter ihnen schloss. Es war kühl hier drinnen. Eine Klimaanlage surrte. Die Türklinke zum Nebenraum bewegte sich nach unten. Der Mann kam zurück. Er hielt einen Käfig in der Hand. 79
SAM verschwanden schnell hinter dem Spind. Aus dem Nebenraum drangen gedämpfte Schreie. Armin musste genau hinhören, damit er erkannte, dass es sich um die Schreie von Schimpansen handelte. Doch dann zog etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Tür ging abermals auf. Eine zweite, größere Person kam aus dem Nebenraum. Ebenfalls in einem Schutzanzug. Ihr Gesicht war hinter dem geschlossenen Visier ebenfalls nicht zu erkennen. Die Männer nickten einander zu. Die Anzüge dämpften ihre Stimmen stark. „Können wir einen Versuch wagen, Doktor?“ „Halten Sie bloß Abstand zu den Käfigen“, warnte der kleinere, erste Mann. „Diese Biester kratzen ihnen die Augen aus. Ich habe es nämlich geschafft! Können Sie das Original herausfinden?“ „Nein, ich glaube nicht.“ „Gut, fangen wir an. Gehen Sie voraus.“ Der zweite, der Größere der beiden, öffnete die Tür weiter – ein seltsames Brummen drang aus dem Raum. Auch Sandra und Armin hörten es deutlich. Die Tiere in einem Gehege aus Maschendrahtzaun bemerkten, dass Leon, es musste sich um Leon handeln, wieder in den Raum zurückkehrte. Ihr Gebrüll und Gekreische wurde lauter. Sie trommelten jetzt mit Händen und Füßen auf den Käfigboden. Sandra erschauderte, als sie das sah. Die Schimpansen taten das alle gleichzeitig und einheitlich, als seien sie eine Gruppe von gedrillten Gardesoldaten. „Warum verwenden Sie für die Versuche eigentlich nicht kleinere, einfachere Tiere, die weniger Lärm machen? Mäuse, Ratten …?“, rief Leon mit lauter Stimme. 80
„Weil die Schimpansen uns Menschen am ähnlichsten sind.“ „Uns Menschen!?“ „Genau.“ „Soll das heißen, Sie haben auch das geschafft?“ „Habe ich. Nur noch ein paar Kontrollversuche.“ „Geht Dr. Grant nicht zu weit?“ „Dr. Grant ist ein Genie auf dem Gebiet.“ „Von welchem Gebiet reden Sie eigentlich genau?“ „Hat Dr. Grant Ihnen wirklich nicht mehr darüber erzählt?“ „Mehr worüber?“ „Sagt Ihnen das Wort GEN etwas?“ „Nicht wirklich. Was ist ein Gen?“ „Ein Gen ist ein ‚Baustein‘ für Lebewesen. Ungefähr so, wie jeder Ziegel ein Baustein für Häuser ist. Je nach Art und Weise, wie nun diese Bausteine zusammengesetzt werden, entsteht immer ein anderes Lebewesen oder Haus. Gene sind also der Speicherplatz für unsere Merkmale (unsere Art, unser Aussehen, Haarfarbe, Größe, Gesundheit … ). Merkmale werden bei der Entstehung des Lebens von den Eltern auf die Kinder übertragen. Das nennt man vererbt. Man kann auch sagen: Gene sind Träger (Speicherplätze) für Erbinformationen (Merkmale). Die Gene unserer Eltern bestimmen und merken sich, wie wir später einmal aussehen und sein werden.“ „Und Sie können diese Merkmale …?“ „Sehen Sie selbst, wenn Sie es mir nicht glauben.“ Der Erste der Männer öffnete einen weiteren Käfig und holte eine ängstliche Katze heraus. Er warf sie in den großen Käfig, in dem die fünf Affen trommelten. Die Katze hatte den 81
Boden noch nicht erreicht, da stürzten sich die Affen schon wild auf sie. Es dauerte keine halbe Minute, dann war von der Katze nicht mehr viel übrig. „Ich habe ihren KillerInstinkt ein wenig – nennen wir es: verbessert.“ Verräterisches Vergnügen glitzerte in den wässrigen Augenschlitzen des Wissenschaftlers. Armin spürte, wie kochende Wut in ihm aufstieg. Er war Tierfreund durch und durch. Und einen solchen Schimpansen in einem Käfig hatte der Mann, es war wohl Dr. Lennon, vorhin hereingetragen. Er stellte das tobende Tier auf einen Operationstisch, auf dem sich bereits drei weitere Schimpansenkäfige befanden. Das Tier erhielt eine Spritze. Auch die anderen drei Tiere waren anders als normale Affenkinder, fiel Sandra jetzt auf. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie waren exakt gleich groß, hatten die gleiche Körperhaltung, die gleichen Ohren, Augen … sogar ihre Bewegungen glichen einander bis ins kleinste Detail. Sie wirkten, als würden sie von ein und derselben Fernsteuerung aus gelenkt. Unheimlich. Nachdem der Arzt allen Schimpansen Blut abgezapft hatte, wandte er sich Botta zu und sagte: „Es gab da immer eine DVD in der Bibliothek. Vielleicht ist sie noch da. Die sollten Sie sich unbedingt ansehen.“ Sandra und Armin bemerkten nicht, wie Leon den anderen kurz in die Seite boxte, Richtung Tür nickte und seine Hand wie nebensächlich beruhigend auf Dr. Lennons Schulter legte. Im Glasfenster der Tür zum „Gehegeraum“ spiegelten sich die Silhouetten von SAM neben dem Spind.
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Eine tödliche Falle
Wie zufällig bewegte sich Leon Botta seitlich vom Operationstisch weg. Als Sandra und Armin die Situation überblickten, war es bereits zu spät: Leon schoss auf sie zu. Für einen kurzen Moment sahen Sandra und Armin ihre eigenen Gesichter noch im Visier seines Schutzanzuges aufblitzen. Dann trafen sie zwei harte Faustschläge und die Welt um sie versank in Dunkelheit … Sandra und Armin spürten nicht mehr, wie sie zu einer Tür weiter hinten im Labor geschleppt wurden. Botta packte einen langen, nach oben gerichteten Griff, der außen an der Metalltür befestigt war. Der Griff erinnerte eindeutig an einen Kühlraum für Fleisch. Er kippte ihn nach links und zog fest daran. Die Gummidichtung der Tür gab ein schmatzendes Geräusch von sich, als sie sich vom Metall des Rahmens löste. Eiskalte Luft, weiß wie Nebel, waberte ihm entgegen. Leon verlor keine Zeit. Achtlos zerrte er die bewusstlosen Detektive hinein, ließ sie fallen und verließ den Raum. Dr. Lennon warf die Tür zu und verriegelte sie fest. Sandra und Armin saßen, ohne dass sie es mitbekommen hatten, in der Falle – in einer tödlichen Falle. 83
Der Arzt drehte den Zeiger des Thermostates von minus 5 auf minus 40 Grad. Dann verließen die beiden Männer das Labor. Nachdem er aus seinem Schutzanzug gestiegen war, sprach Dr. Lennon in das Mikro an seinem Kragen: „Die beiden Schnüffelnasen sind auf Eis gelegt, Boss. Freie Bahn. Ich bin bereit für die Endphase des Projekts.“ „Das ist eine sehr gute Nachricht, Lennon“, kam es aus einem Lautsprecher an der Wand. „Ich kümmere mich noch um unsere Geldgeber und Gäste. Bereiten Sie die Testpersonen allmählich darauf vor.“ „Verstanden.“ Nur langsam wachte Armin aus seiner Bewusstlosigkeit auf. Seine Blicke tasteten die nähere Umgebung ab. Es dauerte einige Sekunden. Dann jedoch wurde ihm schlagartig klar, wo er sich hier befand. Alarmiert rüttelte er Sandra wach. Sie rappelten sich auf die Beine. Starr vor Entsetzen standen sie im eiskalten Nebel und fixierten das Thermometer an der Innenseite der Kühlraumtür. Minus 36 Grad Celsius! Gnadenlos kroch ihnen die eisige Kälte unter die Haut und in die Knochen. Sandra hatte blaue Lippen, sie zitterte heftig. Jetzt war guter Rat mehr als teuer. Bei dieser Kälte konnten sie nicht lange überleben. Vielleicht noch eine halbe Stunde, womöglich eine – sicher nicht länger. Dann würden sie nur mehr gefrorene Stücke Fleisch sein. Armin hatte das Gefühl, seine Gehirnzellen würden jeden Moment einfrieren und ihren Dienst aufgeben. „Ich muss nachdenken, ruhig bleiben“, zwang er sich. 84
Er erinnerte sich an die Überlebensratschläge zum Vorbeugen gegen Erfrieren: Sinkt deine Körpertemperatur unter 33°C, kann das lebensgefährlich werden. Das erste Anzeichen dafür ist ein Frösteln. Armin fröstelte nicht mehr – er zitterte schon. Seine Zähne klapperten. Er schnitt Grimassen, um Erstarrungen im Gesicht zu lösen; er bewegte seine Hände. Nach dem Frösteln folgt unkontrolliertes Zittern. Du kannst deine Hände und Finger kaum noch unter Kontrolle halten. Stecke deine Hände in die Achselhöhlen, das wärmt sie. Armin tat es. Beobachte andere, ob weiße Flecken im Gesicht, an Ohren und Händen auftreten. Armin blickte zu Sandra. Leichte weiße Flecken an den Wangen! Sie schlug mit den Armen um sich, um sich durch Bewegung warm zu halten. Als Drittes folgt heftiges Zittern: Du hast Probleme beim Sprechen. „All… alles okay, bei … bei dir, Sand… Sandra?“ „Ja. Ich zittere gar nicht mehr.“ Armin erschrak. Hört das Zittern auf, ist dies das äußerste Warnzeichen. Als Nächstes folgt der Verlust des logischen Denkens, dann kannst du keinen Entschluss mehr fassen. „Wenn das passiert, sind wir verloren!“ Dann wirst du bewusstlos, es folgt der Tod. Armin musste etwas unternehmen. Aber was? Fasse bei extremer Kälte kein Metall mit bloßen Händen an, sonst erleidest du eine Kälteverbrennung. 85
Hier drinnen bestand alles aus purem Metall. „Mi… , mir ist so kalt“, stotterte Sandra. Armin sah sich verzweifelt um. Es musste einen Ausweg geben, aber er fand nichts, dass auf Flucht hoffen ließ. Ein Kälteschauer durchlief ihn. Beiden war klar, dass ihnen schnellstens etwas einfallen musste, sonst war es um sie geschehen. Armin trat an die Tür und hämmerte mit den Fäusten wild dagegen. Er versuchte den Öffnungshebel an der Innenseite zu bewegen – er rührte sich keinen Millimeter. „Hiiiiiiilfe! Wir sind hier drinnen eingeschlossen!“ Er hustete. Die Kälte stach in seinen Lungen. „Sp… , spar dir deine Kräfte“, bibberte Sandra. „Gr… , Grant br… , braucht uns für ihr Proj… , sie wer… , werden uns nicht hier drinnen kre… , krepieren lll… , lassen.“ „D… , der trau ich alles zu. Die tickt ni… , nicht richt…“ „We… , wenn schon. Hi… , hinter ddd… , diesen Kühlw… , wänden hört dich nie… , niemand.“ „D… , denk nicht sss… , so negati… Wi… , willst du sterb… , sterben?“ Natürlich wollte Sandra das nicht. Das wusste Armin. Die Erfrierungserscheinungen waren bei ihr schon weiter fortgeschritten als bei ihm. Gleichgültigkeit war dabei eine gefährliche Nebenerscheinung. Die kalten Nebelschwaden rissen vor Armins Augen für einen Moment auf. Diffuses Licht fiel von der Decke herab. Und da kam ihm eine Idee. Ja, so konnten sie sich vielleicht retten! Armin schob einen leeren Tierkäfig, der in einer Ecke gestanden hatte, unter die Lampe. Er zog vor Kälte schlot86
ternd sein T-Shirt aus, wickelte es mit mühsamen Bewegungen um seine Faust und kletterte wie in Zeitlupe auf den wackeligen Käfig. „Ha… , halt Käf… , Käfig San… , kipp sss… , sonst.“ Sandra reagierte nicht. Es schien, als hörte sie ihren Freund überhaupt nicht mehr. Wie geistesabwesend blickte sie vor sich hin. Die weißen Flecken in ihrem Gesicht waren größer geworden. Armin ballte mit letzter Anstrengung seine Faust und schlug, so fest er konnte, gegen das Glas der Lampe. Beim vierten Schlag zersprang die Lampe. Armin zerstörte noch die Glühbirne. Es gab einen Knall, Funken flogen. Er stürzte und nur mühsam konnte er sich wieder aufrichten. Es war dunkel im Kühlraum, der Kurzschluss hatte den Stromkreis unterbrochen. Armin zerrte Sandra zur Kühlraumtür. So fest er konnte, stemmte er sich gegen den langen Griff und drückte ihn nach links weg. Ein Zischen! Die Tür entriegelte und er konnte sie nach außen aufdrücken. Eine Welle heißer Luft schwappte ihnen entgegen. Gemeinsam schleppten sich die beiden Detektive in die Wärme hinaus, gingen in die Knie, sanken zu Boden und atmeten keuchend. Ihre Lungenflügel stachen heftig. Minuten verstrichen. Minuten, die Sandra und Armin wie Stunden vorkamen. Die Zeit schien stillzustehen. Nur langsam wich die Kälte aus ihren Gliedern. Ihre Zehen und Finger schmerzten fürchterlich. Doch diese Schmerzen waren nichts gegen die Freude über die wiedergewonnene Freiheit. Sie hatten überlebt! Da beugte sich ein Schatten über die beiden Detektive. 87
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Das Boston-Experiment
„Mario!“, hauchte Sandra. Mario sah müde aus und hatte Ränder unter den Augen, sonst jedoch schien er gesund und in Ordnung zu sein. Sandra und Armin waren verwundert, doch ihr Erstaunen wich gleich unbändiger Freude. „Du bist okay – Gott sei Dank!“ Sandras Stimme gewann an Farbe. „Habt ihr den Strom ausgeschaltet?“, fragte Mario. „Ich hab einen Kurzschluss herbeigeführt“, antwortete Armin krächzend, aber stolz. „Ich lag in meinem Zimmer, besser gesagt Zelle, als plötzlich die Tür mit einem Klicken aufsprang. Die Räume hier unten werden elektrisch verriegelt.“ „Wir wären beinahe da drinnen erfroren.“ Armin zeigte auf den Kühlraum. „Woher kommst du?“, wollte Sandra wissen. „Ich bin hier unten, seit ich im Café No bewusstlos wurde. Ich wachte in einem Operationssaal auf, als mir Dr. Grant erklärte, dass ich Ersatz für Markus Zwingli bin. Ellen Grant flippte fast aus, als sie sich nochmals an seine Flucht erinnerte. Ich wusste sofort, dass wir in eine Falle getappt waren. Mir war klar, dass ihr mich suchen würdet. Dass wir hier sind, hat mit Markus Zwingli zu tun. Das 88
weiß ich von der armen Sarah. Es muss schlimm sein, was Dr. Grant mit ihr gemacht hat. Vorhin gerade bekam sie wieder einen dieser Anfälle.“ „Sarah?“, stutzte Sandra. „Ja. Sie ist im hintersten Zimmer in meinem Gang eingeschlossen.“ „Mario, wir kennen Sarah. Sie ist heute aus der Station geflohen. Sie kann nicht hier unten sein. Ihr Zimmer liegt oben neben unseren. Was haben sie mit dir gemacht, Mario?“, fragte Sandra. „Ich erinnere mich morgens immer an nichts. Ellen Grant versucht, unsere Erinnerung mittels Gehirnwäsche auszulöschen. Ich habe ein paar Gespräche mitbekommen und belauscht. Dabei fiel immer wieder das Datum 15. Juli 1996 und mehrmals war von einem Boston-Experiment die Rede. Egal. Aber dass Sarah hier ist, weiß ich ganz sicher. Genauso wie eine Nadine Grömer, ein Mädchen namens Kerstin Aureli und ein Max Böhler. Kommt mit. Vielleicht kann uns Sarah weiterhelfen. Ich denke, ihr solltet euch mal in der Bibliothek schlaumachen und dann die Polizei informieren. Hier stinkt einiges gewaltig zum Himmel, Freunde.“ „Der 15. Juli 1996. Wie auf dem Bild in Dr. Grants Büro“, sagte Sandra. „Wir müssen sofort Fiona Spiri verständigen.“ „Noch besser, wir treffen uns um 19 Uhr mit Interpol“, schlug Armin vor. „Sprüngli wird Augen machen, der weiß ja Bescheid.“ „Der Kühlraum“, sagte Mario. „Sie werden bald merken, dass ihr weg seid.“ „Das werden sie nicht“, erklärte Armin. Er schloss den 89
Tiefkühlraum. Dann öffnete er den Sicherungskasten an der Wand und aktivierte den Schutzschalter für den Kühlraum wieder. Die Notbeleuchtung erlosch. Ein Zischen und die Kühlkammer war wieder verschlossen. „Hilf mir, Mario!“ Die beiden Detektive nahmen einen Feuerlöscher von der Wand und mit vereinten Kräften schlugen sie das schwere Ding mehrmals gegen den langen Griff. Schließlich war dieser so beschädigt, dass man ihn händisch nicht mehr betätigen konnte. „Genial, Jungs!“, freute sich Sandra. „Jetzt kommen die lange nicht drauf, dass wir weg sind. Das Türfenster ist dick vereist.“ „Kommt jetzt zu Sarah. Wer weiß, wie lange es dauert, bis sie wieder nachsehen kommen oder den kurzen Stromausfall doch bemerken.“ Gemeinsam schlichen SAM in den hintersten Gang des unterirdischen Labyrinths, in dem sich auch Marios „Zimmer“ befand. Sandra hatte das Gefühl, dass noch nie ein Funken menschlicher Wärme in diesen Bereich gedrungen war. Die Türen trugen keine Namensschilder. Sie gaben keinen Hinweis darauf, wer oder was sich dahinter verbarg. Armin erhaschte einen Blick in eins der Zimmer, besser gesagt in eine der Zellen. Ein Junge lag auf dem Bett und schlief fest. Mario ging zu dem einzigen Zimmer, an dessen Tür ein Schild angebracht war. Ein Name stand auf das Türschild geschrieben: Sarah Lindt. Diese Tür hatte einen schmalen Fensterschlitz. In die Verglasung war ein Gitter aus Draht eingefügt. Sandra konnte sich das nicht erklären. Befand sich 90
wirklich Sarah hinter dieser Tür, die einen Spaltbreit offen stand. Wenn ja, wieso brauchte ein zehnjähriges Mädchen, das gar nicht hier sein konnte, so schwere Sicherheitsvorkehrungen? In dem Zimmer, das sah Armin durch den Türspalt, brannte kein Licht wie in den anderen Zimmern. Gemeinsam zogen SAM die schwere Tür auf. „Der Raum hat kein Licht“, sagte Mario. „Warum?“ Sandra holte ihre Mini-Taschenlampe aus dem Detektivgürtel. „Keine Ahnung. Sie schreit immer, wenn Licht gemacht wird. Das ist mir aufgefallen“, bemerkte Mario. „Sarah?“, flüsterte Armin vorsichtig. Totenstille. Im Inneren des Zimmers war es stockfinster. „Ist hier wer?“, fragte Sandra, während sie den Strahl der Taschenlampe über die kahlen Wände des Raumes wandern ließ. Der Lichtstrahl glitt über ein kleines Tischchen in der Mitte des Raumes, von dort über den Teppichboden zu einem leeren Bettgestell aus Messing. Dann kam der Lichtkegel aus Sandras Taschenlampe auf etwas zur Ruhe, das in der hintersten Ecke des Zimmers kauerte. Es zitterte wie Espenlaub. Sandra ließ den Lichtstrahl nach rechts gleiten, hin zu nackten Beinen, die von blauen Flecken übersät waren. Die Gestalt presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ihr Oberkörper steckte in einer grünen Zwangsjacke. SAM gefror das Blut in den Adern. Sie wagten sich keinen Schritt weiter vor. „Was … Was wollt ihr von mir? Geht weg!“ – Die Stimme! 91
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Sandra richtete den Lichtstrahl auf das Gesicht der kauernden Gestalt. Sofort senkte sie den Kopf, schloss wie geblendet die Augen. Sandras Hand zitterte – der Lichtkegel tanzte auf dem Gesicht, wie magisch blieb er daran haften. Sandra schien zu keiner Bewegung fähig, sie starrte in das Antlitz von – Sarah. Ihre Lippen waren geschwollen, sie hatte dicke Augen, so, als hätten Boxhiebe sie getroffen, ihre Haare waren fettig und zerzaust. Kurz blinzelte Sarah, aber es genügte, um etwas in ihrem Blick zu erkennen: Angst – blanke, nackte Angst ums Überleben. Sandra hätte schwören können, dass sie Sarahs Flucht gesehen hatte. „Sarah“, sagte Armin leise. Sarah blickte wieder auf. „Bindet die Zwangsjacke auf“, sagte sie mit rauer Stimme. „Dann sage ich euch, was ich weiß.“ „Hat dich Dr. Grant da hineingesteckt?“ „Ja.“ „Aus welchem Grund?“, fragte Mario. „Ich habe diesem blonden Bürstenheini fast die Augen ausgekratzt.“ Sarah lachte schadenfroh. Armin kam Sarah vor, als stünde sie unter Drogen. „Bist du Sarah Lindt?“, fragte Sandra. Erst jetzt schwenkte sie den Lichtkegel ihrer Taschenlampe etwas von Sarahs Gesicht weg. „So heiße ich“, erwiderte das Mädchen. „Aber Sarah ist praktisch genau so wie ich. Wir sind ein und dieselbe.“ Mario verstand kein Wort. Auch Sandra versuchte fieberhaft, hinter die Bedeutung von Sarahs Worten zu kommen. 93
Sarah wand sich in der Zwangsjacke, sie wollte freikommen – keine Chance. „Ich weiß überhaupt nicht einmal, warum und wo ich hier bin.“ „Du hattest Gelbsucht und bist in die Uniklinik eingeliefert worden“, erklärte Sandra. „Wer hat euch denn diesen Bären aufgebunden?“ Wieder lachte Sarah krächzend. „Du“, sagte Armin. „Ich wurde mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Plötzlich stand dieser Kleiderschrank von einem Mann vor mir. Ich sah gerade noch seine blonden Bürstenhaare und bin auf ihn losgefahren. Dann drückte er mir aber schon ein Tuch auf Nase und Mund. Sekunden später verschwammen die Bilder vor meinen Augen. Als ich wieder aufwachte, befand ich mich hier in diesen vier Wänden.“ „Aber du hast uns doch selbst von deinem Sturz über die Treppe erzählt“, wiederholte Armin. „Das passierte nicht mir. Das war Sarah 1, meine Schwester, die Gelbsucht hatte.“ „Ihr seid Zwillinge!“, kapierte Mario. „Ja. Wir gleichen uns wie ein Ei dem anderen.“ Sarah deutete mit dem Kopf auf den Nachttisch neben ihrem Bett. Sandra trat mit der Taschenlampe an den Nachttisch und öffnete die Schublade. Ein Foto lag in der Lade. Es zeigte zwei Mädchen, die auf der Veranda vor einem Haus saßen und in die Kamera lachten. Sie sahen völlig gleich aus. „Dr. Grant hält mich hier für ein ‚Projekt‘ fest“, sagt sie immer. „Sie holen mich, stechen mir Spritzen in die Arme und testen mich, um mehr Informationen zu bekommen, ehe sie es versucht.“ 94
„Ich ahne Schlimmes, Freunde“, erwiderte Armin. „Wir befinden uns mitten in einem gnadenlosen Rätselspiel.“ Mario und Sandra wussten, was Armin meinte. „Hör zu, Sarah“, sagte Sandra. „Du musst noch ein bisschen durchhalten. Wir sind hier, um dich zu befreien. Aber du musst uns alles sagen, was du weißt.“ „Hat Dr. Grant irgendetwas gesagt, woran du dich noch erinnerst?“, fragte Armin. „Auch wenn es noch so unwichtig erscheinen mag, es kann sehr wichtig sein. Und wir müssen schnell machen. Bald ist das Institut nach der Feier wieder verschlossen wie ein Safe.“ „Ich erinnere mich nur an ein Wort, das sie mal erwähnte: Boston-Experiment. Wie geht es meiner Schwester?“ „Sie ist in Sicherheit. Keine Sorge.“ Mehr erfuhren SAM von Sarah nicht mehr. Zurück am Gang sagte Mario: „Haut jetzt ab, ehe jemand kommt.“ „Wir hauen alle drei ab!“, sagte Armin, erstaunt über seinen Freund. „Wenn ich mitkomme, fällt sofort auf, dass hier was schiefgelaufen ist. Keine Angst, mir passiert nichts. Ich pass schon auf mich auf. Sobald ihr Fiona informiert habt, hebt Interpol diese Gauner sowieso gleich aus.“ „Okay. Viel Glück“, sagte Sandra. „Wir beeilen uns.“ „Nehmt die letzte Tür auf der linken Seite des Korridors. Das ist ein geheimer Treppengang. Er führt in eine Besenkammer im Erdgeschoss. Ihr kommt durch eine Bodenklappe in den Raum. In der Nähe ist ein Lift. Wo der hinführt, weiß ich nicht. Aber seid vorsichtig. Dr. Grants Handlanger benutzen die Treppe auch.“ 95
„Ich versuche, von hier unten aus noch etwas in Erfahrung zu bringen. Los, die Zeit drängt.“ „Merke dir 16661“, sagte Armin. „Der Code öffnet vermutlich die Türen hier unten.“ „Danke.“ Mario verschwand in seinem Zimmer. Sandra und Armin nahmen den geheimen Treppenaufgang. Oben war das Eröffnungsfest in seinen gemütlichen Teil übergegangen. Die Musik spielte fröhlich auf. Die Leute diskutierten und lachten ausgelassen. Sandra hatte sich von einem Gast das Handy ausgeliehen. Sie tippte nur eine kurze Botschaft als SMS ein: Boston-Experiment – S.O.S! Dann schickte sie die Nachricht an Fiona Spiri und löschte sie wieder aus dem Speicher. Sie gab das Handy der netten Dame zurück. „Hat sie die Nachricht?“, fragte Armin. „Ja. Interpol wird bald hier sein und uns rausholen. Bis dahin sollten wir der Bibliothek einen Besuch abstatten.“ „Vielleicht finden wir dort einen Hinweis für unsere Vermutungen“, sagte Armin. „Genau.“
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Dolly – 15. Juli 1996
In Fiona Spiris Büro herrschte Aufregung. Fiona war ziemlich ungeduldig. Sie wollte nicht wahrhaben, dass sich Markus Zwingli, der im Kinderspital behandelt wurde, an nichts erinnern konnte. Er war keine Hilfe, um hinter die dunklen Machenschaften von Ellen Grant zu kommen, so viel stand fest. Als Fiona Spiri sich hinter ihren Schreibtisch setzte, dauerte es keine zehn Sekunden und die Tür flog ohne ein Anklopfen auf. „Wir haben eine Nachricht von SAM“, sagte Max Sprüngli aufgeregt. Sein Kopf steckte unter einem weißen Turban – einem Verband. „Wirklich?“ „Die Botschaft kam per SMS an unsere Nummer. Offenbar ist es ihnen gelungen, aus dem Gebäude zu kommen und eine Verbindung aufzubauen.“ „Und was schreiben sie?“ „Nicht gerade viel. Aber dafür umso beunruhigender: Boston-Experiment – S.O.S.“ „Und was meinen sie damit?“ „Sie haben etwas herausgefunden und stecken deshalb selbst in der Klemme, denke ich. Egal, wir müssen sie sofort da rausholen.“ 97
„Nicht so voreilig, Max …“ Fiona erhob sich aus ihrem Ledersessel, ging zum Fenster und blickte hinaus in den aufziehenden Nachthimmel. Sie hatte es bei Interpol nicht aus Zufall so weit gebracht. Sie verfügte über das seltene Talent, einzelne Informationen zu einer Kette miteinander verstrickter Ereignisse zu verknüpfen. „Vielleicht sollten wir noch etwas zuwarten.“ „Das dürfen Sie nicht tun, Fiona!“, sagte Max Sprüngli fast geschockt. „Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir ihnen nicht die ganze Wahrheit über Dr. Ellen Grant gesagt haben. Was, wenn wir zu spät kommen?“ „Wir sind noch nie zu spät gekommen.“ „Niemand sendet grundlos S.O.S. Damit spaßt man nicht. Das wissen die beiden nur zu gut.“ Max wurde immer erregter. „Sie könnten wirklich in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Vergessen Sie nicht, wir haben Sie überredet, für uns den Köder zu spielen. Wir können nicht einfach hier herumsitzen und warten, was mit ihnen geschieht.“ „Davon ist auch keine Rede.“ Fiona drehte sich zu Max um. „Sie sind ein Profi, Max. Sie wissen, dass wir in unserem Geschäft manchmal ein hohes Risiko nehmen müssen, um an das Ziel zu kommen.“ „Doch nicht, wenn das Leben von Kindern auf dem Spiel steht!“ „Für Ellen Grant sind sie auch keine Kinder. Wir müssen uns mit dem Feind auf die gleiche Ebene stellen, sonst haben wir von vornherein keine Chance. Und unsere einzige Chance sind diese Hobbyschnüffler. Sie sind clever genug, um nicht in Grants Spinnennetz zu laufen. Das haben sie schon oft genug bewiesen, wie sie mittlerweile wissen.“ 98
„Ja, aber …“ „Kein aber, Max. Ich will Dr. Grant nicht verhaften, ehe wir stichfeste Beweise in den Händen halten. Stellen Sie sich die Schlagzeilen in den internationalen Zeitungen vor: Interpol blamiert! Interpol verhaftet unschuldig berühmte Wissenschaftlerin! Interpol Gespött der Leute! Nein, das darf ich nicht riskieren. Wir müssen den optimalen Zeitpunkt abwarten.“ „Wir wollten Beweise dafür, dass das Verschwinden von Markus Zwingli etwas mit Dr. Ellen Grant zu tun hat“, sagte Max Sprüngli. „Vielleicht können Sandra und Armin jetzt diese Beweise liefern.“ „Kann sein. Kann auch nicht sein. Ich denke, wenn wir noch einen Tag zuwarten, kann das keine Gefahr für sie sein.“ „Einen ganzen Tag?“ „Ja. Wir informieren Inspektor Klarsen von der Kantonspolizei. Er soll seine Männer bereithalten, für den Fall, dass etwas Unerwartetes passiert.“ „Etwas Unerwartetes ist doch schon passiert!“, rief Max aufgeregt. „Sie sendeten Boston-Experiment!“ „Da stimme ich Ihnen zu, Max. Das ist in höchstem Maße beunruhigend, um nicht zu sagen äußerst Besorgnis erregend. Dennoch: Wenn Sandra und Armin in Gefahr sind, werden wir das rechtzeitig erfahren. Ich traue diesen schlauen Kindern sogar zu, dass sie Dr. Grant aus der Ruhe und Fassung bringen und sie so vielleicht sogar zu Fehlern verleiten. Genau das wollen wir doch: Ellen Grant dazu bringen, Fehler zu begehen und sich so die Handschellen selbst anzulegen.“ „Aber finden Sie es nicht merkwürdig, dass sie sich per 99
SMS an uns wenden und nicht eine Nachricht am vereinbarten Ort hinterlegen? Doch wohl nur, weil es dringend ist.“ „Okay, Max. Sollte um 19 Uhr eine weitere Nachricht im Mülleimer sein, dann greifen wir sofort ein. Zufrieden?“ „Vielleicht kommen wir dann schon zu spät.“ „Keine Sorge. Die beiden können auf sich selbst aufpassen. Sie haben doch von Marios Eltern gehört, welch verblüffende Erfolge den drei bei ihren Ermittlungen schon gelungen sind. Die sind schlau, glauben Sie mir. Ich habe Menschenkenntnis.“ Eine E-Mail ging ein. Damit war das Gespräch mit Max Sprüngli beendet. Max ging an seinen Schreibtisch und wählte die Nummer von Inspektor Klarsen. Sandra und Armin fühlten sich jetzt bedeutend sicherer. Fiona Spiri würde das Nötige veranlassen und dem schrecklichen Treiben hier drinnen ein Ende bereiten. In ein paar Stunden würden alle Kinder und Tiere frei und außer Gefahr sein. Bis dahin jedoch hatten die beiden Detektive beschlossen, nicht untätig herumzusitzen. Sie waren fest entschlossen, Beweise für ihre Vermutungen zu finden. Denn wenn sich Ellen Grant bei ihrer Forschung im unterirdischen Labor auch nur im Entferntesten damit beschäftigte, was SAM vermuteten, dann war es erstens mehr als schwer, stichhaltige Beweise zu finden und zweitens konnte ein Erreichen von Ellen Grants Forschungsziel die Welt bis in ihre Grundfesten erschüttern. Ellen Grant könnte dann – 100
Armin versuchte gar nicht daran zu denken, aber es gelang ihm nicht –, Ellen Grant könnte dann die Herrschaft über die ganze Welt erlangen! Sie hatten bisher kaum eine brauchbare Spur gefunden. Ja, sie hatten seltsame Vorgänge beobachtet und merkwürdige Gespräche belauscht. Sie hatten auch ein völlig krankes und verstörtes Mädchen gefunden, aber Beweise waren das alles nicht. Der einzige Anhaltspunkt, den SAM hatten, war dieses Wort von Sarah Lindt: Boston-Experiment. Und wo konnte man eher Informationen finden als in der Bibliothek einer Universität! Das Eröffnungsfest neigte sich allmählich seinem Ende zu, als sich Sandra und Armin heimlich auf den Weg in die Bücherei machten. Oskar war damit beschäftigt zu lesen und Bücher zu sortieren. Er überließ die Besucher deshalb meist ganz sich selbst. Sandra und Armin beeilten sich. Ihre innere Stimme sagte ihnen, dass sich die Dinge noch heute Nacht entscheiden würden. Und ihre innere Stimme irrte sich fast nie. Leise öffnete Armin die Tür zur Bücherei. Oskar saß an seinem Schreibtisch und las in einem Buch. Er hob kurz den Kopf und sah ihnen über den Rand seiner runden Drahtbrille hinweg finster nach. „Guten Abend“, sagte Sandra so freundlich sie konnte. „Guten Abend“, gab Oskar mürrisch zurück. Sandra und Armin spürten genau, dass ihnen sein Blick folgte, als sie in den langen Hauptgang zwischen den Bücherschluchten einbogen. „Wir müssen vorsichtig sein“, 101
murmelte Armin. „Der steckt sicher mit Dr. Grant unter einer Decke.“ Oskar blickte ihnen nach. Dann senkte er seinen Kopf wieder und las weiter in seinem Buch. Sandra und Armin gaben sich einen Ruck und beschlossen, das Grübeln sein zu lassen. Sie wanderten durch die schmalen Gänge zwischen den Büchern, Videos, DVDs … A bis C, dann D bis F. Die Regale waren mit Büchern nur so vollgestopft, oft sogar in zwei Reihen hintereinander. Einige Bücher hatte seit Jahren niemand gelesen. Es würde schwer werden, hier die richtige Abteilung zu finden. Sandra und Armin bogen in den Gang „M“ ein – Medizin. Sie knieten nieder und begannen unter „B“ zu suchen, da stand plötzlich jemand neben ihnen. „Ihr sucht wohl etwas Bestimmtes“, sagte eine Stimme. Sandra und Armin zuckten kurz zusammen wie ängstliche Kaninchen. Unter seinem weißen, kurzärmeligen Hemd zeichnete sich deutlich Oskars Bauchansatz ab. Er trug eine goldene, teuer aussehende Uhr. Ungeduldig trommelte er mit seinen Fingern auf eine Regalplatte. Aus braunen Augen funkelte er Sandra und Armin erwartungsvoll an. „Also?“, blaffte er. „Was sucht ihr hier drinnen?“ Armin überlegte kurz. Dann fasste er einen schnellen Entschluss. „Wo finden wir Informationen über das Boston-Experiment?“ Oskar riss die Augen auf. Ängstlich blickte er sich um. „Pssst!“, zischte er und drängte SAM tiefer in den Büchergang. „Das Boston-Experiment?“ „Ja“, sagte Sandra. „Ihr wisst wohl nicht, wovon ihr da redet!“ „Nein. Deshalb sind wir ja hier.“ 102
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„Wartet.“ Oskar vergewisserte sich, dass niemand sonst in der Bücherei war. „Kommt. Ich habe etwas, das ich euch zeigen sollte.“ Sandra und Armin folgten ihm zu seinem Schreibtisch. Oskar holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Er schob das Bücherregal hinter seinem Schreibtisch zur Seite. „Eine Geheimtür“, staunte Armin. „Ein verstecktes Archiv“, berichtigte ihn Oskar. „Für Informationen, die nur für wenige, ausgewählte Augen und Ohren bestimmt sind.“ „Warum geben sie die Info dann uns?“, fragte Sandra misstrauisch. „Weil Dr. Grant gedroht hat, mich umzubringen, wenn ich sie weitergebe. Ich hasse diese Frau. Sie ist gefährlich, sage ich euch. Aber ich konnte mich mit dem Inhalt nie an die Öffentlichkeit wenden. Das hätte mir kein Mensch geglaubt. Und so muss ich tatenlos zusehen. Das Archiv wird vom Rektor, dem Chef der Universität, persönlich einmal die Woche kontrolliert, damit keine Datenträger von hier wegkommen. Die DVD war erst ein paar Stunden hier, genau wie Dr. Grant, da kam sie schon und tauschte die DVD gegen eine andere aus. Natürlich eine mit geändertem Inhalt. Aber der gute alte Oskar ist ein gewissenhafter Bibliothekar. Ich fertige von allen Daten in meiner Bücherei eine Kopie an. Und vom Boston-Experiment machte ich sogar zwei! Ich konnte wochenlang nicht mehr schlafen, als ich sie gesehen hatte.“ Oskar schloss die Tür hinter ihnen, schaltete einen Computer ein und griff sich eine DVD aus der Reihe „B“. Er legte die silberne Scheibe in das Laufwerk. 104
Die DVD begann mit sehr modern wirkenden Tabellen und dem Titel „Dolly – 15. Juli 1996“. „Das Datum von dem Foto, das in Dr. Grants Büro hängt!“, entfuhr es Sandra. Dem folgte ein weiterer Titel in noch größeren Buchstaben, der das Thema des Films ankündigte: „Zwillinge aus dem Labor“. Die Tabellen wurden ausgeblendet und eine junge Frau mit blauen Brillengläsern erschien. „Dr. Grant!“, rief Armin. Die junge Wissenschaftlerin trug einen weißen Arztkittel. Vor ihr auf dem Schreibtisch, an dem sie saß und in die Kamera sprach, standen Modelle von Tieren. Eine Hauskatze, ein Pferd und ein Schaf. „Hallo und willkommen im Ellen-Grant-Zentrum für Fortpflanzung“, begann Dr. Grant freundlich. „Ich bin Dr. Ellen Grant, Spezialistin für das faszinierendste Gebiet der Medizin: die Gentechnik.“ Oskar stellte das Video auf Pause und sah SAM an. „Sie hatte ein eigenes Forschungsprojekt an der Universität Boston begonnen.“ „Wer ist der Mann auf dem Bild hinter ihr?“, fragte Armin. „Dieses Foto hängt jetzt hier in ihrem Büro.“ „Das ist der Forscher Keith Campbell. Er gilt als der geistige Vater des Schafes Dolly, das am 15. Juli 1996 zur Welt kam.“ „Was ist so besonders an diesem Schaf?“, fragte Sandra. Oskar zog einen Sessel herbei und ließ sich schwer hineinfallen. „Ich glaube, dass Dr. Grants Traumforschung nur ein Vorwand ist, um ihre wirkliche Arbeit zu tarnen und zu vertuschen. Bisher konnte ihr niemand etwas nach105
weisen, aber ich glaube, sie befasst sich in Wahrheit mit Gentechnik – mit der künstlichen Veränderung des Erbmaterials in den Zellen.“ Armin lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Die Erklärung der Gene von Dr. Lennon kam ihm in den Sinn. Auch Sandras Gedanken rasten. Allmählich fügten sich die einzelnen Puzzleteile zu einem schlüssigen Bild zusammen. „Haben Sie das dem Rektor der Uni gemeldet?“, fragte Sandra. „Natürlich“, erwiderte Oskar. „Aber ich habe doch keine Beweise. Dass sich die Uni Boston wegen ‚Meinungsverschiedenheiten‘ von ihr getrennt hat, ist nicht genug. Dr. Grant gilt weltweit als eine der besten Wissenschaftlerinnen.“ Oskar drückte die Play-Taste und Ellen Grant fuhr mit ihrer Ansprache fort. „Seit es Menschen gibt, sind sie Erfinder. Dem Willen des Menschen, die Welt, die Natur zu verstehen, verdanken wir unseren technischen Fortschritt. Stellen Sie sich vor, das wäre nicht so: Es gäbe kein Rad, keinen Strom, kein Feuer, kein Auto, keine Raumfahrt … und es gäbe keine Medizin. Menschen würden heute noch genauso wie vor hunderten von Jahren an Krankheiten sterben, die wir heute gar nicht mehr als Krankheiten wahrnehmen, weil ein Medikament, eine Operation genügen – und man ist geheilt. Doch dieser Fortschritt hat ein neues Problem geschaffen: Den Menschen selbst! Deshalb ist es notwendig geworden, die Schwächen, die Mängel des Lebewesens Mensch, durch Verbesserung der Gene zu …“ Sandra starrte wie gebannt auf den Film. In der Schule hatten sie einen Film über Gentechnik gesehen. Jetzt wurde 106
ihr mit einem Schlag klar, warum Dr. Grant vor sich auf dem Schreibtisch diese drei Tiere stehen hatte. Dr. Grant stellte das Schafmodell im Film etwas nach vor: „Hier sehen Sie das Klon-Schaf Dolly. Es war das erste Tier, das von Menschenhand im Labor künstlich hergestellt wurde. Sein Geburtstag ist der 15. Juli 1996. Ein Meilenstein in der medizinischen Forschung des Menschen.“ Dr. Grant nahm das Schaf zurück und stellte das Pferdemodell nach vor. „Vor Ihnen steht Prometea, das erste künstlich erzeugte Pferd. Das Fohlen kam am 28. Mai 2003 in Italien zur Welt.“ Jetzt folgte das Modell der Hauskatze. „Das ist CC. Die beiden C stehen für ‚CopyCat‘ (also in etwa ‚kopierte Katze‘). CC ist die Erste im Labor künstlich erschaffene Katze.“ Dr. Grant jagte Sandra Angst ein. Sie war eine blendende Rednerin. Sie verstand es, komplizierte wissenschaftliche Gedankengänge in eine leicht verständliche Sprache zu übertragen. Sie konnte auch warmherzig wirken, wie eine Ärztin, der jeder sofort vertraute. Aber Sandra bemerkte etwas an ihr, das ihr schon öfters bei Zeitungsbildern aufgefallen war. Es war dieses fiebrige Glänzen in den Augen von Menschen, die es sich zum Ziel gemacht hatten, die Welt zu verändern. „Dr. Ellen Grant hat diesen Blick in den Augen“, dachte Sandra, „genau denselben Blick, der mir immer wieder bei Leuten aufgefallen ist, die über Leichen gehen, um ans Ziel ihrer Träume zu kommen. Und Dr. Grant hat einen Traum – einen Alptraum.“ Auf dem Bildschirm beendete Dr. Grant ihren Vortrag. 107
Sie lächelte zufrieden und sagte: „Ich wünschte, es wäre bereits so weit und ich könnte Ihnen das Ergebnis meines Projektes hier präsentieren. Noch sind einige Tests nötig, aber den Erfolg garantiere ich Ihnen. Meine Arbeit ist weit vorangeschritten. Mit ein wenig Glück werde ich das Wunder bald vollbringen.“ Oskar schaltete den Computer aus und starrte auf den leeren Schirm. Auch Armin schaute drein, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. „Sie haben doch ständig mit Medizinern zu tun, Oskar“, sagte Sandra nachdenklich. „Hier gibt es praktisch nichts anderes.“ „Ein Schaf, dann eine Katze, dann ein Pferd … Wenn Sie Wissenschaftler wären, Oskar, was würden sie nach diesen Tieren verwenden, um zu versuchen, es zu …“ „Affen“, fiel Oskar ihr ins Wort. „Vermutlich Schimpansen, ihr Muster ist nahe am Menschen und …“ Oskar stockte der Atem. Plötzlich kapierte er und ihm wurde mit einem Schlag bewusst, was er da eben sagen wollte. „Oh Gott!“, sagte Armin fassungslos. „Die Schimpansen im Keller. Und dann … Das darf auf keinen Fall passieren! Wir müssen Dr. Grant stoppen!“ Armin drehte sich um, wollte aus dem geheimen Archiv laufen, da blieb er wie angewurzelt stehen. Auch Sandra und Oskar erstarrten zu Stein. In der Tür stand Leon. Die Falten in seinem Gesicht wirkten wie Schluchten. Seine Augenlider flackerten und die Unterlippe zuckte. Langsam verzog sich sein Mund zu einem fiesen Grinsen, während er die Tür hinter sich schloss, absperrte und seine Pistole zog. 108
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Toxidal
„Hände über dem Kopf verschränken“, bellte er abfällig. Sandra, Armin und Oskar gehorchten ohne Widerspruch. „Umdrehen!“ Alle drei befolgten den Befehl. „Kopf gegen die Wand, Beine spreizen und einen Schritt zurück!“ Armin spürte, wie Leon näher kam. Eine Sekunde später schrie Oskar auf. Die Beine des Bibliothekars zitterten. Er sackte auf die Knie. Jetzt sah Armin, dass eine Spritze in seiner Schulter steckte. Oskar wollte noch etwas sagen, seine Stimme versagte aber. Mit weit aufgerissenen Augen und Mund schnappte er nach Luft, dann kippte er zur Seite und blieb reglos liegen. „Keine Bewegung“, grunzte Leon. Er holte ein Klebeband aus seiner Hosentasche. Dann folgte ein Tuch, auf das er ein paar Tropfen aus einem kleinen Fläschchen träufelte. Sandra spürte den kalten Lauf der Pistole in ihrem Rücken, während Botta Armin das getränkte Tuch unter die Nase presste. Armin sank zu Boden. Dann war Sandra an der Reihe. Ihre Knie wurden butterweich und die Umgebung verschleierte sich vor ihren Augen, aber sie wurde noch nicht bewusstlos, genauso wenig wie Armin. 109
Leon fesselte sie. Sowohl Sandra als auch Armin wussten, worauf sie achten mussten, um eventuell später die Fesseln lösen zu können. Fesselt man dich, atme tief ein, schieb die Schultern nach hinten und drücke die Muskeln fest gegen die Fessel – mach dich beim Fesseln so groß und breit wie möglich. Machst du dich anschließend klein, könnte der so gewonnene Spielraum reichen, um die Fesseln abzuschütteln. Leon aber legte ihr keine Brustfessel an. Er überkreuzte ihr die Arme hinter dem Rücken. Halte die Handgelenke so weit wie möglich auseinander. Schließt du sie nach dem Fesseln, kannst du den Knoten vielleicht mit den Zähnen öffnen. Lass Hände und Gelenke locker und drehe sie, bis die Fesseln über die Hände rutschen. Sandra ballte die Fäuste und spannte die Handmuskeln so gut es ging an. Sie spürte, wie sie immer schwächer wurde. Das Klebeband legte sich um ihre Gelenke. „Umdrehen. Beine zusammen!“, befahl Leon. Fesselt man dich an Ober- oder Unterschenkeln, drücke die Fußspitzen zusammen und drehe die Beine leicht nach außen. Bei entspannten Muskeln kannst du die Fesseln nach unten schieben. Botta wickelte das Klebeband um Sandras Fußgelenke. Fesselt man deine Fußgelenke, drücke sie auseinander, indem du Knie und Fußspitzen zusammenpresst. So fest Sandra noch konnte, drückte sie ihre Knie zusammen. Während sie sich bereits nicht mehr bewegte, knurrte Leon noch ein paar Worte, die wie in weiter Ferne schienen. Dann verlor sie das Bewusstsein. 110
In Armin meldete sich das Leben mit bohrenden Kopfschmerzen zurück. Bunte Sterne tanzten vor seinen Augen, als er sie öffnete. Grelles Licht blendete ihn. Er sah Schatten um sich. „Na los, werdet endlich munter“, hörte er Leon schimpfen. Armin wandte den Kopf nach rechts und sah, wie er Sandra mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Sandra öffnete die Augen. „Dr. Grant will euch sprechen, ehe wir beginnen.“ Die Worte dröhnten in Armins Ohren wie Paukenschläge. Er stöhnte und versuchte die Müdigkeit aus seinem Körper zu schütteln. Er und Sandra saßen auf zwei Stühlen vor Dr. Grants Schreibtisch. Sie waren noch immer gefesselt. Ellen Grant trat aus dem Schatten in das Licht einer Stehlampe. „Nachdem ihr den Film ja nun gesehen habt und diese Wände ohnehin nie wieder verlassen werdet, will ich euch etwas über mein Projekt erzählen.“ Sandra hob den Kopf. Ihr Gesicht fühlte sich schwer wie Blei an und in ihrem Schädel brummte es gehörig. Leon Botta stand neben Armin. Seine rechte Hand umklammerte den Griff einer Pistole. Sandra erinnerte sich an die blutende Wunde an Markus Zwinglis Schulter. Stammte sie am Ende etwa von einem Streifschuss? Sie warf einen zweiten Blick auf die Waffe. Kein Zweifel, sie war entsichert. Dr. Grant setzte sich jetzt in den hohen Lehnstuhl hinter ihrem Schreibtisch. Sie musterte Sandra und Armin mit einem Blick, der Bewunderung und Verachtung gleichzeitig ausdrückte. 111
Leon starrte Armin an, sein Glasauge wirkte bedrohlich. Offenbar versuchte er SAM Angst einzujagen. Eine weiße Albinoratte kletterte aus Dr. Grants Laborkittel und setzte sich auf ihre Schulter. „Nummer 73?“, fragte Armin und versuchte sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. „Nein“, erwiderte Ellen Grant trocken. „Das ist Nummer 344. Bei einfachen Organismen wie Ratten gibt es keine Probleme mehr. Ihre Gene haben wir seit Jahren perfekt im Griff.“ Dr. Grant zündete sich einen Zigarillo an und paffte den Rauch in die Luft. „Ihr habt mir große Probleme bereitet“, sage sie vorwurfsvoll. Sandra tat, als hätte sie Dr. Grants Worte gar nicht gehört. Sie versuchte ihre Beine zu bewegen, um die Fessel etwas zu lockern. Sie saßen ziemlich stramm. Armin probierte dasselbe bei seinen Handfesseln. Auch diese Fessel saß ziemlich fest. „Ihr seid überhaupt keine Freiwilligen für mein Projekt zur Erforschung von Träumen.“ „Ihr Projekt erforscht auch nicht die menschlichen Träume“, hielt Armin dagegen. Dr. Grant tat, als habe sie seine Worte überhört. „Ihr arbeitet mit Interpol zusammen.“ Die Worte Dr. Grants bohrten sich wie Pfeile in Sandras und Armins Herz. „Spart euch das Leugnen.“ Ellen Grants Stimme klang eiskalt und ohne jedes Mitgefühl. Leon warf einen Gegenstand auf den Schreibtisch. Armin beugte sich etwas vor, um zu sehen, was es war. Dr. Grant hielt ihm den Ausweis entgegen. 112
Sandra las den Namen Max Sprüngli. Sie erkannte sofort den Dienstausweis von Interpol. „Ich musste ihm nach eurem Treffen im Botanischen Garten leider eine kleine Kopfbeule verpassen und ihm eure Nachricht abnehmen.“ Leon lachte schleimig. Ellen Grant ließ Rauchkreise in die Luft steigen. „Ihr habt nicht nur meine Pläne durchkreuzt, ihr habt die Tarnung meines Projektes auffliegen lassen“, fuhr sie fort. „Dafür müsst ihr jetzt büßen. Und ihr werdet meine Strafe nicht überleben.“ Ellen Grant sagte diese Worte mit einer besonderen Kälte. Ihr blasses Gesicht blieb dabei ebenso reglos wie die stechenden Augen hinter ihren blauen Brillen. Frostiges Schweigen erfüllte den Raum. Armin durchlief ein angsterfülltes Zittern. Auch Sandra blieb für einen Moment die Luft weg, als ihr klar wurde, was Dr. Grant da eben gesagt hatte. „Vorher aber werdet ihr eurem Freund im Keller dabei zusehen, wie er mir als Versuchskaninchen dient, ehe er stirbt.“ Wieder rüttelte und zerrte Armin an seinen Fesseln – vergebens. Er fühlte sich wie in einem Horrorfilm. Er atmete tief durch, um innerlich ein wenig ruhiger zu werden. „Sandra“, so dachte er sich, „hat ja Fiona Spiri benachrichtigt. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Interpol hier sein und eingreifen wird.“ „Sie können uns keine Angst machen“, sagte Sandra. Leon schoss zu ihr herüber und drehte ihr das Ohr grob um. Sandra schrie auf. „Vor dir sitzt das größte medizinische Genie aller Zeiten, falls du das mit deinem Spatzenhirn noch nicht kapiert 113
hast. Also sprich Ellen Grant gefälligst mit Dr. Grant an“, schnaubte er wütend. Sandra bemühte sich, nicht zu weinen. Diese Freude wollte sie Ellen Grant nicht machen. So fest sie konnte, biss sie die Zähne zusammen. Tränen standen in ihren Augen. „Wir wissen alles über ihre Arbeit in Boston und das dort begonnene Experiment“, sagte Armin. „Und wir haben Fiona Spiri von Interpol bereits benachrichtigt. Sie sind jeden Augenblick hier. Sollten Sie Mario auch nur ein Haar krümmen, werden Sie – Dr. Grant – den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen.“ Ellen Grant lachte amüsiert auf. Auch Leon grunzte ein paar lachähnliche Laute. Schlagartig wurde SAM klar, dass sich die Schlinge um ihren Hals zugezogen hatte. Ellen Grant war bis zum Letzten entschlossen. Und Sandra glaubte in diesen Sekunden in Grants Augen wieder diesen Blick wie auf der DVD zu erkennen. „Ich gebe zu, wir haben Fehler gemacht“, sagte Dr. Grant. „Markus Zwingli hätte uns nicht entwischen dürfen. Dafür wird Dr. Lennon bezahlen – mit seinem Leben, versteht sich.“ Ellen Grant drückte einen Knopf auf ihrem Schreibtisch. „Dr. Lennon, bitte kommen Sie. Und nehmen Sie die Aufzeichnungen des Projekts mit.“ Dann holte sie eine Ampulle aus ihrem Schreibtisch und zog eine Spritze auf. „Toxidal“, sagte sie. „Ein Betäubungsmittel. Harmlos. Aber eine teuflische, tödliche Wirkung, wenn man zu viel davon bekommt. Kann nur durch eine Salzlösung gestoppt werden. In deinen Körper gespritzt, werden zuerst deine Beine, Arme und Finger taub. Du kannst dich immer weniger und 114
schließlich nicht mehr bewegen. Dann werden deine Organe im Körper langsam steif und hören auf zu arbeiten. Du bekommst dein langsames Sterben Stück für Stück mit. Natürlich nur, bis es dein Herz erreicht. Es wird langsamer und langsamer beim Schlagen. Dir wird schwindelig, dann übel, dann setzt dein Atmen aus, du schnappst nach Luft – erwischt keine mehr, dein Hals schnürt sich zu … dann wird es dunkel – für immer.“ Die Bürotür ging auf und Dr. Lennon kam herein. Er trug eine Akte unter seinem Arm. „Sie haben nach mir gerufen, Dr. Grant.“ „Ja, Doktor.“ Ellen Grant erhob sich. „Sie haben geniale Arbeit für mich geleistet, Herr Kollege. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.“ „Ich bitte Sie, Dr. Grant. Was kann es für einen Genforscher Besseres geben, als für Sie zu arbeiten. Hier drinnen sind die Arbeitsschritte genauestens aufgeschrieben. Ein Volksschüler könnte damit einen Menschen klonen.“ Stolz übergab Dr. Lennon die Akte. Er streckte die Hand dabei aus. „Hier ist Ihr Lohn“, grinste Dr. Grant. Dr. Lennon stutzte noch. War das eine Spritze? Wozu? Oh Gott!
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Die Weltherrschaft
Im nächsten Moment bohrte sich die Toxidal-Spritze in Dr. Lennons Handrücken. Es dauerte einige Sekunden, ehe er begriff. Erst als er die Toxidal-Ampulle auf Dr. Grants Schreibtisch stehen sah, zuckte die Gewissheit, dass er bald tot sein würde, durch sein Gehirn. Schon verschwand alles um ihn herum im Nebel. „Sie … Mörd…, Mö…“ „Nur 10 Milligramm, Herr Kollege“, sagte Dr. Grant amüsiert. „Es wird nicht allzu lange dauern mit Ihnen.“ Dr. Lennon sank in die Knie. Er glitt zwischen Sandra und Armin auf den Boden. Zwischen seinen Lidern schimmerte nur noch das Weiße seiner Augäpfel. Seine Lippen öffneten sich, die Zunge kam zum Vorschein, schlaff hing sie aus seinem Mundwinkel – die Lähmung breitete sich langsam aus. Dr. Lennon versuchte verzweifelt, die Benommenheit abzuschütteln. Doch schwerer und schwerer wurde sein Körper. Ellen Grant gab Dr. Lennon einen Fußtritt, als wolle sie einen lästigen Stein aus dem Weg räumen. „Er wird bis zum Schluss bei Bewusstsein bleiben und miterleben, wie ein Körperteil um den anderen taub wird.“ „In Ihrem Kopf tickt ein krankes Gehirn!“, rief Armin. Eine schallende Ohrfeige explodierte in seinem Gesicht. 116
„Interpol wird Sie kriegen!“ „Selbst wenn Interpol hier aufkreuzt, dann werden sie nichts weiter vorfinden als ein weltberühmtes Institut zur Erforschung der Träume. Außer uns weiß schließlich niemand etwas von den unterirdischen Gewölben. Markus Zwingli hat eine gründliche Gehirnwäsche hinter sich und ihr werdet dann bereits mit den Engeln singen. Ich werde der Polizei erklären, dass ihr während des Eröffnungsfestes die Universität verlassen habt und nicht zurückgekommen seid.“ Ein teuflisches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Wir werden euch nur wenig Toxidal spritzen, eure Einzelteile dann einfrieren und später, wenn wir Millionen für unser Wissen kassiert haben, auf unserer Südseeinsel den Haien verfüttern.“ „Sie sind nicht genial, Sie sind krank, Dr. Grant!“, zischte Sandra wütend. „Ich bin genial. Aber ich gebe zu, dass ich einen zweiten Fehler gemacht habe: Ich habe nicht damit gerechnet, dass Interpol so schlau ist, und Kinder als Spione in mein Projekt einschleust.“ „Ihr Projekt können Sie vergessen. Es ist gescheitert, ehe es noch richtig begonnen hat“, sagte Armin abfällig. Er fing sich dafür eine weitere Ohrfeige ein. „Ihr habt nur einen Film gesehen, nichts weiter“, sagte Dr. Grant im giftigen Flüsterton. „Ihr habt nicht den Funken einer Ahnung, woran ich mit meiner Genialität arbeite. Ihr seid überhaupt nicht in der Lage, die Reichweite meines Projekts zu ermessen – was mir gelungen ist.“ Dr. Grant fixierte SAM mit starrem Blick. Sie schien zu überlegen. Dann hatte sie sich offenbar entschlossen. „Normalerweise gewähre ich niemandem Einblick in mein 117
Projekt. Aber da ihr nicht völlig dumm zu sein scheint und ohnehin die Nacht nicht überleben werdet, sollt ihr erfahren, welch einzigartige Leistung ich vollbracht habe. Die Menschheit wird vor mir erzittern. Ich werde die Welt beherrschen – alleine – und niemand kann mich mehr aufhalten. Auch ihr nicht. Ich kenne das Geheimnis ‚künstlichen‘ Lebens.“ Dr. Grant beugte sich vor und sprach nun mit deutlicher Stimme. „Wisst ihr eigentlich, warum ihr blonde oder schwarze Haare habt?“ „Natürlich weiß ich das“, antwortete Sandra. „Weil es in den Genen unserer Zellen so gespeichert ist. Man nennt das Erbanlage. Eltern geben ihre eigenen Erbmuster an ihre Kinder weiter.“ „Von Natur aus, ja“, bestätigte Dr. Grant. „Indem sich eine männliche und eine weibliche Zelle verbinden. In den Genen dieser beiden Zellen sind alle Muster gespeichert, die dem daraus entstehenden Menschen sein Aussehen, seine Art, seine Stärken und Schwächen geben.“ Dr. Lennon schleppte sich auf den Ellenbogen Richtung Tür. Sein Atem ging stoßweise. Ellen Grant beachtete ihn nicht mehr. Armin versuchte, seine Handfessel an einer Sesselkante zu reiben. „Bereits im Jahre 1950 experimentierten Wissenschaftler an den Genen des Menschen herum – allerdings ziemlich stümperhaft aus heutiger Sicht der Medizin. Sie versuchten, ihre besten Wissenschaftler mit den hellsten Köpfen und den Topsportlern zu kreuzen. So sollte der unbesiegbare Soldat erschaffen werden. Der perfekte Mensch.“ Dr. Grant machte eine Pause. Ihre Worte sollten dadurch mehr Deutlichkeit erlangen. 118
Sandra, die aufmerksam zuhörte, versuchte gleichzeitig ihre Handfesseln irgendwie loszuwerden. Das Klebeband an den Beinen hatte Leon ihnen inzwischen entfernt, damit er sie nach Dr. Grants „Ansprache“ schneller in die Untergeschosse schaffen konnte. Dr. Lennons Mund öffnete und schloss sich. Aber er brachte keinen Ton heraus. Dr. Grant fuhr fort: „Ärzte sind heute in der Lage, die Natur auszutricksen.“ „Wollen Sie uns etwa einreden, Sie können menschliche Erbmuster in den Genen verändern und so Menschen nach einem von Ihnen bestimmten Aussehen erschaffen?“, fragte Sandra. „Nicht schlecht für dein Alter“, schmunzelte Dr. Grant. „Du bist gar nicht so dumm, wie ich dachte. Natürlich brauche ich Leihmütter, um die Kinder auf die Welt zu bringen. Doch darum geht es überhaupt nicht. Es geht um viel, viel mehr. Es geht um den ältesten Traum der Menschen. Es geht um die Weltherrschaft!“ „Sie sind vollkommen irre“, sagte Armin. Dr. Lennon versuchte zittrig die Türschnalle zu erlangen, stürzte aber wieder zu Boden. „Vielleicht in deinen Augen, Kleiner. Doch was wisst ihr schon vom Leben, von der Welt. Seht ihr denn nicht, wie erbärmlich schwach der Mensch von Natur aus ist? Anstatt den Lebensraum Erde sinnvoll zu nutzen, zerstören ihn die Mächtigen aus Habgier und Machtrausch. Seit es Menschen gibt, haben einige wenige immer nur ein Ziel gekannt: die Beherrschung der Welt. Dafür wurden und werden Kriege geführt, tausende Menschen umgebracht. Ja, immer waren und sind es wenige Mächtige, die auf119
grund ihrer Unvollkommenheit Unheil brachten. Früher waren es Kaiser, Könige, Kriegsherren … heute sind es Präsidenten, Wirtschaft und Terror. Und überall sind fehlerhafte Menschen am Werk. Unvollkommene Natur. Ich werde diesen Fehler beheben.“ „Ich habe mich geirrt“, sagte Armin. „Sie spinnen nicht, Dr. Grant, Sie sind krank!“ Ellen Grant beachtete SAM überhaupt nicht mehr. Dr. Lennon röchelte. „Wie ihr von dem Film wisst, war ich an der Universität von Boston Leiterin der Abteilung für Genetische Forschung. Ich erzähle euch das, weil es mir Spaß macht. Ich befasste mich also damit, wie man die Erbinformation in unseren Genen so verändern kann, dass ein Kind blonde und nicht schwarze Haare bekommt, dass es ein Junge und nicht ein Mädchen wird, dass es weiße oder schwarze Hautfarbe haben wird oder, dass die Kinder – wie Zwillinge, die aus ein und derselben Zelle entstanden sind – vollkommen gleich sind. Man könnte sagen, ich zeichne den von der Natur gemachten Bauplan eines Menschen um, indem ich die vorhandenen Erbinformationen in den Genen durch neue ersetze. Ich arbeite seit Jahren daran, diese Erbinformationen so zu verändern, dass sie so sind, wie ich das will! Seht euch Nummer 344 hier an …“ Dr. Ellen Grant hielt Armin die Albinoratte vor die Nase. „Alle ihre Geschwister, 400 an der Zahl, gleichen ihr bis ins kleinste Detail. Dolly, das Schaf, das von Keith Campbell geklont, also künstlich erschaffen wurde, war der Beginn. Aber Dolly musste am 14. Februar 2003 nach nur 6,5 Jahren eingeschläfert werden. Alterserscheinungen, da die verwendeten Zellen und Gene von einem er120
wachsenen Schaf entnommen worden waren. Sie waren zu alt. Pflanzen und Tiere sind einfach zu klonen. Ihr Muster ist primitiv. Schwer wird es bei Schimpansen … und stellt euch vor, wir könnten die Erbinformationen eines Menschen so ändern, dass er vollkommen perfekt ist: keine Krankheiten bekommt, keine Schmerzen spürt, keine Angst kennt … Kurzum – wir erschaffen den vollkommen perfekten Menschen, ohne jede Schwäche, ohne jeden Mangel. Es gäbe keine Kriege mehr …“ „Oder eine Menge Terroristen, Mörder … , falls Ihr Können in die falschen Hände gerät“, sagte Sandra. „Der Mensch missbraucht neues Wissen meist für schlimme Sachen. Denken Sie an die Atombombe.“ „Eben!“, zischte Dr. Grant. „Weil der Mensch nicht vollkommen ist. Ich werde schaffen, woran andere Kollegen scheiterten. Ich werde als erste Wissenschaftlerin einen genetisch von mir gebauten Menschen erschaffen! Denn ich werde junge Gene verwenden, Gene von Kindern – Gene, die ich euch entnehme! Und wenn es mit euch als Material klappt, dann verwirkliche ich meinen Traum: Dann werde ich mich selbst, Dr. Ellen Beatrice Grant, klonen. Meine Nachkommen werden gewöhnlichen Menschen weit überlegen und perfekt sein. Sie werden die Welt beherrschen und ich in den Geschichtsbüchern unsterblich sein.“ Armin lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. „Und nebenbei verkaufe ich mein Wissen und bin reich.“ Dr. Ellen Grant stellte zwei weitere Ampullen Toxidal auf den Schreibtisch. „Los, Leon. Lass uns keine Zeit mehr verlieren.“ 121
Botta nickte. Er steckte seine Pistole weg. Sandra riss wild an der Fessel. Ihr Blick fiel auf Dr. Lennon, der sich nicht mehr bewegte. Nur seine Augen verrieten, dass noch Leben in ihm steckte. Todesangst glitzerte in ihnen. „Hiiiiilfeeeeee!“ „Spar dir deine Kräfte“, grinste Dr. Grant. „Du wirst sie brauchen – zum Sterben.“ Sie wandte sich an Leon. „Nur 5 Milligramm. Ich will testen und genussvoll beobachten, wie lange sie durchhalten. Bring sie runter.“ Sandra und Armin wurden unsanft gepackt. Ein Stoß beförderte sie in die Liftkabine hinter dem Ölbild. Dr. Lennon sah alles mit an, konnte sich aber nicht mehr bewegen. Er sah noch, wie ihm Dr. Grant ein verächtliches Lachen zuwarf. Dann schloss sich die Aufzugstür. Der Lift fuhr nach unten. Obwohl Sandra und Armin wussten, dass Fiona Spiri auf dem Weg in die Uniklinik war, sie hatten doch ihr S.O.S. gesendet, zweifelten sie am rechtzeitigen Eingreifen der Interpol.
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Was war das?
Es war schon fast Mitternacht, als Sandra und Armin in das unterirdische Labor gebracht wurden. „Wir entnehmen die Testzellen ihrem Rückenmark“, sagte Dr. Grant trocken. Sie schlug die Arbeitsmappe von Dr. Lennon auf. Leon nickte. Er setzte Sandra und Armin auf zwei Stühle. „Geben Sie ihnen doch gleich 7 Milligramm Toxidal. Ich will nicht allzu viel Zeit durch diese lästigen Plagegeister verlieren.“ Leon zog zwei Spritzen auf. Sandra wehrte sich nach Leibeskräften, als er ihren Kopf zur Seite bog. Ein kurzer Stich am Hals, ein leichtes Ziehen. Das Toxidal floss in ihre Adern. Jetzt Armin. „NEIN! NEIN! …“ „Nimm ihnen alle Fesseln ab“, sagte Dr. Grant, während sie ein Mikroskop vorbereitete. „Ich will sie zappeln sehen.“ Sandra erschlaffte. Die Gegenstände im Labor schienen in die Ferne zu rücken. Hilfesuchend blickte sie sich nach etwas um, das sie retten konnte. Aber da war nichts! Armin klammerte sich verzweifelt am Sessel fest. „Oh 123
Gott, nein! Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht wahr sein!“ Sandra hob mühevoll ihren Kopf. Sie sah, wie Dr. Grant sich Gummihandschuhe über die Hände streifte. „Meint sie es wirklich ernst?“ Ihr Kopf fiel wieder nach vorn. Leon öffnete einen Wandschrank. Er nahm ein silbernes Tablett heraus, auf dem medizinisches Besteck lag. Armin sah das Skalpell aufblitzen. Die Werkzeuge wurden neben den Operationstisch in der Mitte des Labors gestellt. Aus dem Nebenraum klangen die Schreie der Schimpansen. Armin wurde kalt. Er hatte das Gefühl, er könne sich nicht mehr richtig bewegen. Das Toxidal wirkte bereits. „Wenn wir mit ihnen fertig sind, könnten wir doch ihre Organe verkaufen“, meinte Leon. „Vielleicht an irgendein Museum oder ein Institut in Österreich. Dann wären sie wenigstens ‚Zuhause‘.“ „Keine schlechte Idee“, lachte Ellen Grant. „Ich bewundere Ihren Geschäftssinn, Leon. Sie haben viel gelernt in den letzten Monaten, aber Sie vergessen, wie Toxidal wirkt.“ Sandra glitt vollkommen vom Sessel und kroch auf allen vieren zu einem Aktenschrank. Sie hielt sich daran fest und zog sich hoch. „Was passiert mit mir …? Ich muss hier raus!“ Sandra floh, sie torkelte aus dem Labor, hinaus in die unterirdischen Gänge. Dr. Grant und Leon drehten sich grinsend um und sahen ihr nach. Ellen Grants Blick war eiskalt. Sehr gemächlich folgte sie Sandra auf den Gang hinaus. Sandra taumelte die Wand des Ganges entlang, stützte sich an ihr ab, stolperte über ihre eigenen Beine und stürz124
te. „Der Aufzug“, schoss es durch ihren Kopf. „Nach oben. Weg von dieser Geisteskranken. Zu Fiona! Ich muss Mario und Armin retten!“ Sandra krallte ihre Finger in die Wand und zog sich auf die Beine. Ihr rechtes Knie schlug dabei gegen die Mauer, aber das spürte sie nicht mehr. Irgendwie kam sie weiter. Sie merkte, dass ihre Arme und Beine immer schwerer wurden. Jeder Schritt kostete sie Mühe und viel Kraft. Sie kam sich vor wie in diesem Alptraum, in dem sie vor jemandem davonlief, aber nicht von der Stelle kam. „Ich muss schon sagen, du bist ganz schön stark“, hörte sie Dr. Grant hinter sich sagen. „Mal sehen, wie lange noch …“ Armin versuchte mühsam, die Augen offen zu halten. Es gelang ihm kaum noch. Er blickte nach links. Botta stand in der Labortür und schaute Sandra und Grant hinterher. „Vielleicht meine letzte Chance!“ Armin entdeckte das Skalpell, das Arztmesser, neben dem Operationstisch. „Leise! Ich muss absolut leise sein, sonst ist alles dahin.“ Selbst das Denken fiel ihm schwer. „Das Messer!“ Seine Beine waren schwer wie Blei. Schritt für Schritt kämpfte er sich nach vor. Leon drehte ihm noch immer den Rücken zu. Mit zitternden Fingerspitzen fasste Armin nach dem Skalpell. „Leise!“ Er zog die Hand zurück. Gerade noch rechtzeitig. Leon drehte sich soeben um und kam auf ihn zu. „So, wir beginnen. Ich sehe, du stehst schon bereit.“ Ein Grinsen huschte über Bottas Gesicht. „Ich helfe dir gern auf den OP-Tisch.“ Er griff nach Armins Oberarm. 125
Im gleichen Augenblick raffte Armin seine letzten Kräfte zusammen. Er wirbelte herum, hakte mit dem Skalpell nach Leon. „Ah, verdammter Mist, mein Arm“, rief der erschrocken und taumelte ein paar Schritte zurück. Leons weißer Arztkittel färbte sich am linken Unterarm rot. Armin hatte ihm mit dem scharfen Skalpell einen sehr tiefen Schnitt zugefügt, der stark blutete. „Na warte, Bürschchen!“, ächzte Leon. „Das wirst du doppelt büßen!“ Er war blass um die Nase. Er presste seine Rechte auf seinen linken Unterarm und eilte in den Nebenraum zum Verbandskasten. Mit blutigen Fingern riss er ihn auf und suchte nach einer Wundpresse. Nach ein paar Sekunden fand er sie. Leon setzte sich auf einen Sessel, knöpfte mit zusammengebissenen Zähnen den linken Ärmel seines Kittels auf und schob ihn zurück. Als er die klaffende Wunde sah, wurde ihm schwarz vor den Augen. Er rutschte vom Sessel und schlug mit dem Kopf gegen die eiserne Querstrebung zwischen den Beinen eines Labortisches. „Mario!“ Armins Beine gehorchten ihm kaum noch. Er wurde müder und müder. Am Gang hörte er Dr. Grant lachen. „Arme Sandra!“ Aber er konnte ihr jetzt nicht zu Hilfe eilen. Armin schleppte sich aus dem Labor hinaus, den Gang entlang, zu Marios Zimmer. Als er gegen die Tür schlug, hörte er die Stimme seines Freundes dahinter. „Armin, Sandra? Seid ihr das?“ „Salzwass… , Salz… , S…“ Mehr konnte Armin nicht mehr sagen. Seine Zunge war schwer und fühlte sich dick an wie ein Wattebausch. „1-6-6-6-1.“ Seine zittrigen Fin126
ger trafen die kleinen Tasten kaum mehr. Armin bemühte sich, gab nicht auf. Dann wurde es um ihn finster. Sandra krachte gegen die Metalltür des Liftes. Sie klammerte sich am Türrahmen fest. Dr. Grant schlenderte hinter ihr her, bis sie neben ihr stand. „Niemand durchkreuzt meine Pläne, weißt du“, sagte sie gelassen. „Niemand. Nicht einmal ihr drei – SAM.“ Sandras Knie gaben nach, sie rutschte den Türrahmen entlang nach unten. Wie in Zeitlupe ging ihr rechter Arm nach oben. Ihre Finger waren nur wenige Millimeter vom Liftknopf entfernt. „Na, erreichst du ihn noch?“, fragte Ellen Grant höhnisch. In ihrem Gesicht gab es nicht den kleinsten Funken von Mitleid. Unerbittlich wartete sie. Wie ein Aasgeier! Sandras Hand fiel schwer nach unten. Ihr Kopf lehnte zwischen Lifttür und Türrahmen, sie atmete keuchend. Sie wurde schwächer und schwächer. Aber ihr Geist wollte nicht aufgeben, wehrte sich. Sie schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht. Aber sie spürte nur ein Kribbeln an ihrer Wange, als hätte sie tausende Ameisen unter der Haut. So hatte sich ihr Arm immer angefühlt, wenn er eingeschlafen war. Große Schweißperlen standen auf Sandras Stirn. Nur noch ein Gedanke hielt sie aufrecht: „Weg!“ Dr. Grant beugte sich zu Sandra herab. „Gleich hast du es überstanden, Mädchen“, sagte sie mild. Sandras Mund war taub. Es fehlte ihr selbst an Spucke, um Grant … Ihre Knie gaben nach. „Weg!“ Sandra sammelte in ihr endlos erscheinenden Sekunden noch einmal all ihre Kraft, taumelte hoch, traf 127
den Liftknopf. Der rettende Fahrstuhl, er würde kommen! Sandra hörte kaum noch, wie sich die Liftkabine in Bewegung setzte. Ihr wurde schwindelig. Sie ging zu Boden, hatte Angst – Todesangst. Dr. Grant schaute auf ihre Armbanduhr. „Schon fast 15 Minuten. Nicht schlecht. Aber bald hast du es überstanden.“ Sandra drehte verzweifelt den Kopf Richtung Lifttür. Er müsste doch schon längst da sein. Oder verging die Zeit nur für sie so langsam? Ein Klicken. Wie in Zeitlupe sah sie, wie sich die beiden silbernen Türteile auseinanderschoben. Sandra versuchte in die Kabine zu kriechen. Aber es ging nicht mehr. Sie konnte sich nicht mehr bewegen! „Ach so“, sagte Ellen Grant spöttisch. „Du möchtest nach oben fahren. Warte, ich helfe dir!“ Sie drückte einen Knopf in der Kabine. „So, jetzt hast du 20 Sekunden. Dann schließt die Tür. Ich wette, du schaffst es nicht.“ Sandra ächzte. Unmöglich. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. „Na, versuch es wenigstens“, höhnte Dr. Grant. „Noch zehn Sekunden. Komm schon!“ Tränen liefen über Sandras Wangen. Eine Sekunde später schloss sich die Lifttür langsam wieder. Direkt vor Sandra. „Ich glaube, für eine lustige Liftfahrt ist es ohnehin zu spät für dich“, grinste Ellen Grant. „Wir beginnen jetzt.“ Wie aus weiter Ferne waren die letzten Worte von Dr. Grant zu ihr vorgedrungen. Sandra begriff, dass sie wehrlos ausgeliefert war. Ihr Kampf war hoffnungslos gewesen. 128
Ellen Grant packte sie an den Füßen und schleifte sie vom Aufzug weg. Wie einen Sack Mehl. „Ich bin jetzt schon sehr gesp…“
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Angriff
Ein harter Schlag hatte Dr. Grant getroffen. Ein schmerzerfülltes Stöhnen drang aus ihrer Kehle. Sandras Füße polterten zu Boden, für einen Augenblick konnte sie ihre Augen öffnen. Ein Schatten war hinter Grant hochgewachsen. Marios zweiter Schlag mit der Buchkante traf Dr. Grants Schläfe. Sie taumelte, von der Wucht des Schlages benommen, knallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand und blieb reglos neben Armin liegen, der mit butterweichen Knien an der Mauer lehnte und das Salzwasser trank, das Mario im Labor gefunden hatte. Hastig drückte Mario den Liftknopf. Die Tür öffnete. Sandra rührte sich. Sie öffnete die Augen und starrte mit glasigem Blick in die Runde. Sie war auf einer Rettungsbahre festgeschnallt. Im Hintergrund parkten ein Rettungswagen und mehrere Polizeiautos. Kein Blaulicht flackerte, nur das Licht der Straßenlaternen erhellte die Szene. Rings um sie standen Fiona Spiri, Max Sprüngli und ein Mann in der Uniform der Kantonspolizei – Inspektor Klarsen. Armin und Mario waren da, sie stützten sich an Sprünglis Schultern ab. Armin schien wieder halbwegs fit zu sein. 130
„Ich dachte, ich sei tot“, sagte Sandra schwach. „Das war auch mehr als knapp“, antwortete Fiona. Sandra wurde abgeschnallt. Ein Mann in einem orangen Overall, auf dessen Vorderseite in großen Buchstaben „Notarzt“ stand, entfernte die Infusionsnadel aus Sandras linker Armbeuge. „Das müsste reichen“, sagte er und rollte die leere Kunststoffhülle der Salzlösung zusammen, die er Sandra verabreicht hatte. „Du darfst dich vorsichtig aufrichten.“ Er half ihr auf. „Ich habe S.O.S. per SMS gesendet“, wandte sich Sandra an Fiona Spiri. Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. „Warum sind Sie nicht gleich gekommen?“ „Es tut mir sehr leid, Sandra“, sagte Fiona zerknirscht, „aber wir brauchten Beweise. Ich hoffte, ihr würdet welche finden und vielleicht aus der Uni schaffen können. Schriftstücke, Aufzeichnungen … irgendetwas, das Ellen Grant überführt.“ „Sie hat versucht, uns zu töten!“ „Ja. Und das ist mehr als ein Beweis. Zwar einer, den wir auf keinen Fall wollten, aber der Grund, ihr jetzt das Handwerk zu legen.“ „Die anderen!“, krächzte Sandra. „Wir müssen schnell machen. Grant wird sie umbringen oder als Geiseln verwenden!“ „Wir“, sagte Fiona und blickte Sprüngli und Klarsen an, „wir müssen schnell machen. Ihr bleibt hier.“ „Aber wir sind die Einzigen, die sich da unten halbwegs auskennen“, warf Mario ein. „Ohne uns laufen sie diesen Irren ins offene Messer“, bemerkte Armin. „Wir brauchen jemanden, der das Institut kennt“, sagte Max. 131
Fiona Spiri überlegte kurz. „Gut. Wir bauen euch drei in unseren Plan ein. Seid ihr fit genug?“ Ein allgemeines Kopfnicken war die Antwort. Fiona blickte unauffällig auf ihre Uhr. Mitternacht. Genau der richtige Zeitpunkt. Und das Unternehmen lief nach einem bestimmten Plan, der aufgehen konnte – oder auch nicht. Ellen Grant und Leon Botta durfte man nicht unterschätzen. SAM schlichen voraus. Und so bewegten sich sechs Gestalten auf die Universitätsklinik zu, marschierten direkt in die Höhle des Löwen. Die Kinder in den unterirdischen Zimmern hatten nur dann eine Chance, wenn sie blitzschnell zuschlugen. Es gab nur ein Problem – den Nachtportier der Abteilung, der vor der Glastür Wache hielt. Vielleicht auch einer von Dr. Grants Handlangern? Als SAM vorhin in das Hauptgebäude und von dort ins Freie getürmt waren, hatte er sich wohl gerade auf der Toilette befunden. Glücklicherweise hatte sich die Glastür automatisch geöffnet, als sie von Innen an sie herangetreten waren. Jetzt allerdings saß der Portier hinter seinem Schreibtisch auf dem Wachposten. Sie gingen hinter einer Gangecke in Deckung. Der entscheidende Augenblick war gekommen. Armin flüsterte Max etwas ins Ohr. „Schlau“, flüsterte Max. Er atmete durch und trat dann auf den Gang hinaus. Sofort hob der Portier den Kopf. „Ich bin Doktor Sprüngli von der Abteilung Psychosoziale Medizin, Dr. Grant hat mich angerufen“, begrüßte ihn Max. „Einer ihrer Patienten reagiert heftig, ist aufgebracht, 132
ich soll ihn beruhigen. Sie sollen Sie bitte anrufen, wenn ich da bin.“ Der Portier beugte sich nach vor und griff zum Telefon. Bevor er auch nur eine Zahl eintippen konnte, erstarrte er. Max Sprüngli hielt ihm den kalten Lauf seiner Pistole an die Stirn. „Keine falsche Bewegung, Freundchen! Sonst …“ „Was … was wollen Sie?“, fragte er ängstlich. „Von dir, nichts! Tipp den Code ein! Aber Tempo, und keine faulen Tricks!“ Denken schien nicht die Stärke des Portiers zu sein, aber dass dieser Doktor Sprüngli es ernst meinte, begriff selbst er. 1-6-6-6-1. Die Glastüren glitten zur Seite. Mit einem Stoß beförderte Max seinen Gegner in den Gang dahinter. Dann versetzte er ihm einen satten Schlag in den Nacken und der Portier sackte zu Boden. Er würde lange genug schlafen. SAM und die anderen kamen angelaufen. Lautlos wie Katzen. Sandra spürte ein Kribbeln im Magen, als sie Ellen Grants Büro betraten und das Gemälde vom Rütlischwur aufschwang. Der Lift kam. Das Rotlicht brannte am Gang, als die Lifttür aufging. Die sechs traten vorsichtig aus der Kabine. Aus dem Labor, die Tür war einen Spalt offen und ein heller Lichtstrahl durchschnitt die Röte, war eine flehende Kinderstimme zu hören. „Nein … bitte … bitte nicht …“ Sandra kannte diese Stimme. Sie gehörte Sarah. 133
„Sei ruhig“, vernahmen sie eine Männerstimme – Leon. Dann fiel die Tür zu. Jetzt herrschte wieder Stille. Langsam bewegten sie sich weiter. Als sie die Labortür erreicht hatten, spähte Mario durch das Türfenster: Dr. Grant und Leon hatten Sarah auf dem Operationstisch festgebunden. Leon spritzte ihr gerade eine Flüssigkeit – mit Sicherheit Toxidal. Dr. Grant stand daneben an einem Tisch und blätterte in den Akten von Dr. Lennon. Dann legte sie die Papiere beiseite, neben ein Mikroskop. Fiona blickte an Mario vorbei und nickte dann Max und Inspektor Klarsen zu. Das Zeichen für den Angriff. Die nächste Minute würde die Entscheidung bringen. Mario trat zurück, Max Sprüngli nahm seinen Platz ein. Max drückte vorsichtig die Türschnalle hinunter, dann stieß er die Tür auf, sodass sie krachend gegen einen Tisch schlug. Max sprang in das Labor, suchte neben dem Aktenschrank Deckung und riss seine Waffe hoch. Fiona Spiri und Inspektor Klarsen stürmten ihm nach. „Hände hoch!“, schrie Fiona. „Keine falsche Bewegung, Polizei!“ Und dann ging alles blitzartig schnell. Dr. Grant hatte die Reflexe eines Raubtieres. Sie griff nach dem Mikroskop und schleuderte es gegen den Operationsscheinwerfer. Treffer! Funken sprühten. Das grelle Licht erlosch. Nur das Rotlicht fiel vom Gang ins Labor. Leon nützte die Chance, die Dr. Grant ihnen verschafft hatte, und sprang auf Inspektor Klarsen zu, der am weitesten vorgestürmt war. Ein Faustschlag traf Klarsen im Gesicht. Er taumelte zurück, schlug mit dem Kopf gegen einen Sessel und ging bewusstlos zu Boden. 134
Max Sprüngli dachte einen Moment daran, einen Warnschuss abzugeben, aber eine Kugel wäre sicher von den festen Mauern der unterirdisch angelegten Anlage abgeprallt und hätte jeden treffen können. – Er wusste für Sekunden nicht, was er tun sollte. „Geben Sie auf, Dr. Grant. Das Gelände ist umstellt!“, rief Fiona. Leon wütete weiter. Er schrie, wahrscheinlich um seine Gegner einzuschüchtern, packte einen der vielen Tierkäfige, riss ihn hoch und schleuderte ihn Richtung Fiona Spiri. „Weg!“, schrie Sandra noch. Zu spät! Der Käfig krachte gegen Fionas Kopf. Armin und Mario eilten Fiona zu Hilfe. Jetzt witterte Dr. Grant ihre Chance. Im allgemeinen Chaos hetzte sie auf Spiri, Armin und Mario zu. Mit einem kurzen, trockenen Handkantenschlag traf sie einen der Jungen in der Halsbeuge – Armin. Er stöhnte vor Schmerz. Ellen Grant packte ihn von hinten. Schon spürte Armin kaltes Metall an seiner Kehle. „Keinen Widerstand!“, rief Ellen Grant schrill. „Er hat ein Skalpell an seinem Hals!“ Leon hörte auf zu brüllen, jeder schien den Atem anzuhalten. Nur das Gekreische der aufgeregten Schimpansen aus dem Nebenraum drang dumpf durch die schallisolierte Tür. Dr. Grant fasste Armin härter und schritt vorsichtig mit ihrer Geisel aus dem Labor. Keiner der anderen rührte sich. Armin wusste, wie man sich als Geisel richtig verhielt. Sprich mit dem Kidnapper, ohne ihn zu reizen oder zu verärgern. Das beruhigt die angespannten Nerven. Tu alles, 135
was von dir verlangt wird. Wenn möglich, langsam und ungeschickt. Das bringt Zeit. Vielleicht ergibt sich so, im Moment einer Unachtsamkeit, die Chance für deine Flucht. Flucht ist dein Ziel, nicht den Fernsehhelden zu spielen! „Sie tun mir weh, Dr. Grant“, keuchte Armin heiser, als sie die versteckte Treppe zur Besenkammer hochliefen. „Lassen Sie mich los, dann sind Sie doch viel schneller.“ „Schnauze!“ Dr. Grants Gesicht hatte im roten Licht etwas Teuflisches an sich. Im Erdgeschoss angekommen, hasteten sie weiter, zum Lift. Es ging nach oben. Nach ganz oben. Armin dämmerte, was Dr. Grant vorhatte. Oben, auf dem Dach! Nein, sie durfte einfach nicht entkommen! Ellen Grant war eiskalt. Zielstrebig ging es nach oben. Leon stand stocksteif – Grant war ohne ihn gegangen. Mario, der seitlich von Leon stand, fasste als Erster wieder einen klaren Gedanken. „Ich muss Leon ausschalten, bevor er wieder durchdreht!“ Jetzt kam Mario zugute, dass er im Selbstverteidigungskurs aufgepasst hatte. Er kannte den Trick, wie man selbst einen wesentlich stärkeren Gegner ausschalten konnte: Ein satter Fußtritt seitlich gegen das Kniegelenk. Das setzt jeden Angreifer außer Gefecht. Der Tritt saß genau im Ziel. Leon schrie auf. Er kippte um wie ein gefällter Baum und winselte wie ein getretener Wurm. „Sie kümmern sich um Leon und um Sarah und Klarsen“, sagte Fiona noch etwas benommen zu Max Sprüngli, der aus seiner Starre erwachte. „Kommen Sie!“, drängte Sandra. „Schnell! Armin!“ 136
Fiona fasste ihre Pistole fester, die sie wie durch ein Wunder in dem Getümmel nicht verloren hatte, und folgte Sandra, die bereits auf den Gang hinauseilte. Mario zögerte noch einen Moment. Dann griff er sich schnell ein paar Papiere und lief Spiri und Sandra hinterher. Im Erdgeschoss entdeckten sie, dass der Lift in der obersten Etage stand. „Sie sind auf dem Dach!“, rief Mario. Keuchend hetzten sie die Treppe hinauf. Langsam drehte sich Dr. Grant mit Armin um, als sie die Tür zum Flachdach schlagen hörte. Sie standen vor dem Rettungshubschrauber der Uniklinik. „Hört zu, ihr Vollidioten, ihr erbärmlichen Kleingeister!“, zischte Ellen Grant. „Ich steige jetzt in diesen Helikopter. Wenn ihr auch nur einen Schritt nach vor wagt, mache ich den Kleinen hier kalt!“ Dr. Grants Verstand arbeitete auf Hochtouren. „So, Kleiner. Wir machen einen Rundflug über Zürich. Rüber zum Flughafen Kloten. Und von dort aus nach Südamerika. Wo die Sonne immer scheint und mir niemand ins Handwerk pfuschen wird. Und Sie, von der Polizei, können Ihre alberne Pistole einstecken. Organisieren Sie lieber meinen reibungslosen Abflug in der Zwischenzeit, sonst …“ Armin zuckte kurz, als das Skalpell seine Haut ritzte. Im Hintergrund türmten sich schwarze Gewitterwolken über der Stadt. Blitze durchschnitten die Finsternis. Das Gewitter kam schnell näher. „Lassen Sie den Jungen laufen, Dr. Grant“, sagte Fiona ruhig. „Das ist eine Sache zwischen uns.“ Dr. Grant reagierte nicht. 137
In Armins Kopf rasten die Gedanken. Er musste etwas unternehmen. Das Schlagwort Bedrohung am Hals aus dem Selbstverteidigungskurs fiel ihm ein: Er streckte die Arme in die Luft. Es funktionierte. Dr. Grant, die Armins Bewegung keine größere Bedeutung zumaß, ging mit dem Arm unter Armins Achsel durch, um ihn mit dem Skalpell weiterhin zu bedrohen. Sie konzentrierte sich auf Fiona Spiri. „Jetzt hat Grant verloren, wenn ich fest entschlossen und schnell handle“, sprach sich Armin still Mut zu. Armin schlug beide Arme nach unten. Die Hand mit dem Skalpell löste sich dadurch von seinem Hals. Gleichzeitig wirbelte er um die eigene Achse und rammte Ellen Grant den Handballen seiner Linken auf die Nase. Tränen schossen ihr in die Augen. Für Sekunden sah sie nichts mehr. Armin stürzte auf seine Freunde und Spiri zu. Doch Ellen Grant erholte sich schnell wieder von dem Schlag. „Kommen Sie mir nicht zu nahe!“, rief sie, als Fiona einen Schritt auf sie zumachte. Sie fuchtelte mit dem Skalpell herum. „Sie kriegen mich nicht. Niemals!“ Dr. Grant tastete mit ihrer linken freien Hand nach dem Griff der Helikoptertür. Sie war verschlossen. „Mist!“, fluchte sie und riss daran. „Geben Sie auf, Doktor!“ „Aufgeben? Meinen Traum? Um nichts in der Welt. Ich werde den perfekten Menschen erschaffen und die Welt beherrschen und dann …“ Plötzlich hielt Mario etwas in die Luft. „Wie denn?“, sagte er. Ellen Grants Gesicht versteinerte. 138
„Ohne die Aufzeichnungen von Dr. Lennon sind Sie gar nicht in der Lage, menschliche Erbinformationen in den Genen zu verändern. In Wirklichkeit ist wahrscheinlich er und nicht Sie hinter das Geheimnis gekommen.“ Dr. Grants Gesicht verzog sich zu einer Fratze. „Gib das her, mein Junge.“ Sie bewegte sich zur Seite, stand jetzt am Rand des Daches. Ihr Blick bekam etwas Lauerndes. Sie öffnete den Mund. Ein Blitz zuckte ganz nahe durch die Nacht, der Donner grollte fast zur selben Zeit. „… endlich her, was mir gehört! Diese Unterlagen sind mein ganzes Leben. 25 Jahre habe ich gearbeitet, um an das Ziel zu kommen.“ Mario griff in seine Hosentasche. Ellen Grant versteinerte. Mario hob deutlich sichtbar das Feuerzeug und die Papiere an. „Das wagst du nicht!“ – Dr. Grants Augen weiteten sich. Als die Flammen die Akte verschlangen, blieb nichts mehr von der eiskalten Ellen Grant über. Sie tobte. Sie drehte sich wie wild im Kreis und schrie laut auf. „Sie sind krank, Dr. Grant“, sagte Mario. „Es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaft, neue Menschen im Labor zu erschaffen.“ Dr. Grant lachte aus vollem Hals. Abrupt blieb sie stehen. Im Leuchten der Blitze wirkte sie wie ein Zähne fletschendes Raubtier. Die Haare hingen ihr ins Gesicht. „Du hast eben mein Leben zerstört!“, schleuderte sie Mario entgegen. „Jetzt zerstöre ich deines!“ Sie holte aus.
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Im letzten Moment warf sich Mario zur Seite. Nur Zentimeter über seinem Kopf durchschnitt das Skalpell die Luft. Fiona hob ihre Waffe. „Stehen bleiben!“ Ellen Grant lachte hysterisch. „Sie kriegen mich nicht!“ Sie trat an den Rand des Daches. „Ich hatte es geschafft!“, rief sie stolz zurück. Dann machte sie einen Schritt nach vor. Ins Nichts. Dr. Grant fiel. Lange. Tief.
Am nächsten Tag waren alle im Büro des Dekans der Universität versammelt. Er war fassungslos, dass Ellen Grant heimlich und unbemerkt ihren Plänen hatte nachgehen können. Er dankte SAM, dass der Ruf seiner berühmten Universität wieder hergestellt war. Ersten Vermutungen nach hatte Grant die ungenützten Luftschutzbunker als Labore eingerichtet – heimlich, still und leise. Sie hatte alle getäuscht. Wie sie das Ganze finanziert hatte, war allerdings noch ein Rätsel. Auch Dr. Lennon und Oskar hatten überlebt. Irgendwie hatte Lennon sich in sein Zimmer geschleppt und sich selbst die rettende Salzlösung verabreicht. Die Kinder waren ebenfalls gerettet worden. Armin war, bevor er gemeinsam mit Sandra und Mario geflohen war, in die Bibliothek gelaufen und hatte Oskar eine Salzlösung eingeflößt, die er aus dem Labor mitgenommen hatte. Markus Zwingli erinnerte sich nach seinem Aufwachen an nichts mehr – zu viel Toxidal. Aber vielleicht war das ohnehin besser so. Leon Botta war wegen einer kopierten DVD über 141
Dr. Grant hinter Markus hergewesen. Wie Markus Zwingli an diese gekommen war, wusste er auch nicht. „Wird Dr. Grant überleben?“, fragte Sandra. „Ja“, antwortete der Dekan. „Sie hatte Glück und ist genau in unser Biotop gestürzt.“ „Ob Ellen Grant das auch so sieht, wage ich zu bezweifeln“, bemerkte Armin. „Schade“, sagte Fiona, „dass so geniale Köpfe wie Ellen Grant ihr Wissen nicht zum Guten verwenden.“ „Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Gentechnik äußerst faszinierend“, sagte der Dekan. „Zum Beispiel gibt es Erbkrankheiten, die tödlich enden. Durch Gentherapie könnten wir in der Lage sein, diese Krankheiten für immer auszulöschen. Wir könnten bestimmte körperliche Defekte wie Sehschwäche zum Beispiel loswerden.“ „Aber wer entscheidet, was ‚wünschenswert‘ ist und was nicht?“, fragte Mario. „Der Mensch ist nicht vollkommen. Und es ist nicht seine Aufgabe, Gott zu spielen. Wenn wir in die Geheimnisse der Natur eingreifen, können sie leicht zu tödlichen Geheimnissen werden.“ Der Dekan nickte zustimmend und erhob sich. „Vielleicht lernen wir Menschen aber eines Tages, unser Wissen für gute Zwecke einzusetzen. Dann wäre der Mensch schon ein großes Stück vollkommener. So, ich denke, ihr drei seid nach Zürich gekommen, um unsere wunderbare Stadt kennenzulernen.“ „Stimmt“, antwortete Sandra. „Ihr habt euch eine Belohnung verdient. Wir werden uns etwas Besonderes einfallen lassen.“ Fiona Spiri bedankte sich im Namen von Interpol bei 142
SAM. „Ohne euch hätten wir das sicher nicht so schnell geschafft. Danke.“ Max schüttelte ihnen die Hände und schaute SAM nach, als sie in ein Taxi stiegen, das sie zum Hotel Ascot brachte. Die Gebäude der Universität verschwanden aus Sandras Blick, als das Taxi anfuhr. Ihre innere Stimme sagte ihr, dass der nächste Fall schon auf SAM wartete.*
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Siehe SAM Geheimfall 10 – Die Millionenschüler 143
Klonen = das künstliche Herstellen von Zwillingen. Der Begriff Klonen (= griechisch für Zweig, Sprössling) bezeichnet die künstliche gung von erbgleichen Organismen (Pflanzen, Tieren … ). Man könnte sagen, Klonen ist das Kopieren von sen. Die dafür nötigen Erbinformationen (Aussehen, Größe … des Lebewesens) werden dabei schon bestehenden Organismen entnommen (Zellen, Gene, DNA). „Klont“ die Natur einen Menschen, entsteht ein eineiiger Zwilling. Umgekehrt kann man sagen, ein künstlich erzeugter Klon eines Lebewesens ist sein zeitversetzt lebender eineiiger Zwilling. 15. Juli 1996: Das Schaf „Dolly“ war das Erste durch Klonen erzeugte Lebewesen. Das machten Keith Campbell und Ian Wilmuth im Roslin-Institut nahe Edinburgh (Schottland). Ungefragte Namensgeberin war die Country-Sängerin Dolly Parton. Das Schaf Dolly starb nach 7 Jahren, da die Erbinformationen einem erwachsenen Muttertier entnommen worden waren, die schon zu alt waren.
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22. Dezember 2001: „CC“ (= CopyCat oder KopieKatze) ist die erste geklonte Katze. Sie wurde in der A&M Universität in Texas (USA) geboren. Ihre „Erzeuger“ sind Dr. Mark Westhusin und Dr. Taeyoung Shin. 8. April 2002: Eine Frau ist mit dem ersten Menschenklon schwanger. Das behauptete der italienische Fortpflanzungs-Spezialist Severino Antinori. Er erachtete dies als den ersten Schritt, einen Menschen zu klonen, berichtet das Fachmagazin New Scientist. Angeblich nehmen 5.000 Paare an einem Klon-Programm teil. 28. Mai 2003: Das erste geklonte Pferd (ein weibliches Fohlen) heißt Prometea.
Alfred Bernhard Nobel wurde am 21. Oktober 1833 in Stockholm (Schweden) geboren. Alfred war ein kränkliches, ängstliches Kind. Er wurde von Privatlehrern erzogen. Mit 17 durfte er auf Reisen gehen und nahm eine Stelle als Laborgehilfe in Paris an. Nach dem Krimkrieg (1853-1856) baute Vater Immanuel Nobel mit seinen Söhnen in Helenenborg bei Stockholm ein Laboratorium auf. Unter der Leitung von Alfred experimentierten sie auf dem Gebiet der SprengstoffChemie. Auf Basis des Nitroglyzerins entwickelte Alfred Nobel einen „verbesserten“ Sprengstoff: das Dynamit. Die Geschäfte gingen gut. Alfred zog sich in seine Villa in San 145
Remo zurück und beschäftigte sich nur mehr mit kuriosen Erfindungen. Am 10. September 1896 stirbt er vereinsamt. Im Testament verfügt er, dass die Zinsen eines großen les seines Privatvermögens jedes Jahr als Preise für besondere Leistungen auf den Gebieten der Physik, der Chemie, der Medizin, der Literatur und der Friedensarbeit zu verteilen sind: der Nobelpreis. Dabei erhalten die Gelehrten eine Urkunde, eine Goldmedaille und einen Geldbetrag (1901 betrug der Preis rund 15.500, 1970 zirka 40.000 und 2004 rund 1,1 Millionen Euro). Nobelpreisträger der Universität Zürich: Prof. Walter Rudolf Hess: 1949 Nobelpreis für Medizin Prof. Rolf. M. Zinkernagel: 1966 Nobelpreis für Medizin 1833: Zürich ist die erste Universität in Europa, die nicht von der Kirche oder von Landesfürsten, sondern von einem demokratischen Staatswesen gegründet wird. Im ersten Studienjahr schrieben sich 16 Theologen, 26 Juristen, 98 Mediziner und 21 Philosophen ein. Sie wurden von 26 Professoren und 29 Privatdozenten unterrichtet. 1876 promovierte mit Nadeshda Suslowa die erste Frau im deutschen Sprachraum. 1901: Gründung der Abteilung Veterinärmedizin (Tierarztausbildung). Sie ist die älteste Tierarzt-Fakultät der Welt. Heute zählt Zürich zu den besten und berühmtesten Universitäten der Welt. 146
gründete das Rote Kreuz, da er die Gräuel der Schlacht bei Solferino 1859 erlebte. Henry Dunant wurde am 8. Mai 1828 in Genf geboren. Er war Kaufmann und fachmann. Sein Aufruf zur Linderung der Kriegsleiden bewirkte 1863 die Gründung des Roten Kreuzes und 1864 der Genfer Konvention. Durch den Bankrott seiner Privatfirma lebte er über 25 Jahre in Armut und Vergessenheit. 1901 erhielt er den FriedensNobelpreis. Er starb am 30. Oktober 1910 in Heiden (Appenzell). 41.290 km2 groß, 7,4 Millionen Einwohner, 26 Kantone (Bundesländer). 11.000 v. Chr.: steinzeitliche Jäger leben im Gebiet der heutigen Schweiz 1. Jh. v. Chr.: der keltische Stamm der Helvetier wandert ein ab 58 v. Chr.: Julius Cäsar unterwirft die Helvetier 612 n. Chr.: durch irische Wandermönche entstehen erste Klöster 1191: Berchtold V. gründet die heutige Hauptstadt Bern 1291: Rütlischwur: Nach dem Tod des deutschen Königs Rudolf I. von Habsburg (er führte die heutige Schweiz streng und mit ortsfremden Landherren) schließen sich am Vierwaldstätter See die „Urkantone“ Uri, Schwyz (= Namensgeber der Schweiz) und Unterwaiden in einem Schutzbund gegen die Habsburger zusammen. Das war die Geburtsstunde der Schweizer Eidgenossenschaft (der Schweiz). Dieser Bund wurde von den Abgesandten Wer147
ner Stauffacher, Walter Fürst und Arnold Melchthal mit dem Rütlischwur auf der Rütliwiese beeidet (darum nennt man die Schweizer heute noch oft die Eidgenossen). Heute: Die Schweiz ist ein neutraler Staat (nimmt an keinen Kriegen teil). Auf dem Berg Jungfraujoch findet man den höchst gelegenen Bahnhof Europas (3.454 m). Genf ist der europäische Hauptsitz der UNO (= Vereinte Nationen).
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