Nr. 449
Burg der Geheimnisse Hetzjagd in den Höhlen des Marmorbergs von H. G. Ewers
Atlans kosmische Odyssee, die ihr...
9 downloads
600 Views
257KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 449
Burg der Geheimnisse Hetzjagd in den Höhlen des Marmorbergs von H. G. Ewers
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern, Besatzern und Invasoren zu tun haben, trachtet der Arkonide danach, die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis auszuspähen und die Kreise der Mächtigen zu stören. Gegenwärtig geht es Atlan und seinen Gefährten Razamon und Kennon/Axton allerdings nicht darum, den Machthabern der Schwarzen Galaxis zu schaden, sondern es geht ihnen ganz einfach ums nackte Überleben – und das seit der Stunde, da sie auf Geheiß des Duuhl Larx im »Land ohne Sonne« ohne Ausrüstung und Hilfsmittel ausgesetzt wurden. Die Welt, auf der die drei Männer aus ihrer Betäubung erwachen, ist Dorkh, eine Welt der Schrecken und der tödlichen Überraschungen. Kaum sind Atlan und seine Gefährten den Nachstellungen der riesigen Raubvögel und der seltsamen Gnomen entgangen, da müssen sie auch schon vor den katzenartigen Mavinen die Flucht ergreifen. Sie verschwinden im Dschungel und erreichen den »Jagdteppich« der Nomaden, wo für sie erneut eine abenteuerliche Flucht beginnt. Der weitere Weg führt die drei von Pthor in die Todeswüste und in die BURG DER GEHEIMNISSE …
Burg der Geheimnisse
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan, Razamon und Kennon-Grizzard - Drei »Inspekteure« der Burg Odiara. Kuashmo - Burgherr von Odiara. Vinzenz - Ein hilfsbereiter Roboter. Warwingha, Kungorrat, Konnitz und Dhosh - Bewohner von Odiara.
1. Atlan erwachte von einem stechenden Warnimpuls seines Extrasinns. Er öffnete die Augen und tastete nach seinem Wurfmesser. Doch obwohl sich die Beleuchtung der Unterkunft aktivierte und allmählich hochschaltete, nachdem er erwacht war, vermochte er nichts zu sehen. Aber ihm war, als hätte er im Augenblick des Erwachens ein Flattern, ein Knistern gehört. Langsam setzte er sich auf und sah sich um. Der riesige Raum, den Kuashmo ihm und seinen beiden Gefährten als Unterkunft zugewiesen hatte, war leer bis auf die Matten, Decken und Polster, die als Ruhelager dienten – und bis auf den übermannshohen Spiegel aus poliertem Metall, der an der Wand hing. Von einem der beiden anderen Lager ertönte leises Schnarchen. Dort ragte außerdem ein nackter Fuß aus den Polstern. Razamons Fuß. Atlan lauschte in Richtung des anderen Lagers und vernahm ein leises Atmen, das ab und zu von einem ebenso leisen Stöhnen unterbrochen wurde. Das mußte Lebo Axton sein. Alles friedliche Eindrücke, aber das kann täuschen! dachte Atlan. Es täuscht! teilte ihm sein Extrasinn mit. Vorhin kreiste ein großer Vogel über euch, dann verschwand er plötzlich wieder. Das wäre weniger verdächtig, gäbe es irgendwo eine offene Luke, doch die gibt es nicht. Der Arkonide stand ganz auf. Er war sehr nachdenklich geworden. Auf einer Welt wie Dorkh mußte man zwar immer auf unbegreifliche Phänomene gefaßt sein. Es war
durchaus denkbar, daß sich Kuashmo, der möglicherweise eine Art Verwalter der Burg darstellte, eines »Geistervogels« bediente, um seinen Gästen nachzuspionieren. Andererseits hätte er das zweifellos auch mit dem großen Spiegel tun können, der ja nach seinen eigenen Worten auch als Kommunikationsmittel diente. Das wäre logisch gewesen – für Kuashmo! raunte ihm der Logiksektor zu. Atlan nickte. Für Kuashmo wäre es logisch gewesen, aber nicht unbedingt für einen anderen Bewohner der schwarzen Marmorburg, vor allem nicht für einen, der nicht wollte, daß Kuashmo von seinen Bemühungen erfuhr. Vielleicht hat Kuashmo Gegenspieler, die seine Pläne durchkreuzen möchten! überlegte er und ging zu dem einzigen Fenster des Raumes. Es war etwa anderthalb Meter hoch und einen halben Meter breit. Jenseits der dicken Bleiglasscheiben lagen noch rund zwei Meter dicke Wände aus schwarzem Marmor. Atlan konnte von seinem Fensterplatz in ein hohes Gewölbe sehen, das von mehreren flackernden Lichtquellen erhellt wurde. Er versuchte, das Fenster zu öffnen. Aber die beiden Flügel waren vierfach verriegelt, und Atlan brauchte fast zwei Minuten, um das Fenster zu entriegeln. Als er es öffnete, war es fast zu spät, aber nicht ganz, denn der Arkonide hörte noch deutlich, wie rechts – und ein ganzes Stück vom Fenster entfernt – eine Tür geschlossen und verriegelt wurde. Wenig später flackerte das Licht im Gewölbe nicht mehr. Das konnte nur bedeuten, daß jemand eilig durch das Gewölbe gegangen war, das von offenem Feuer erleuchtet wurde. Jemand, der einen Geistervogel durch geschlossene Wände und Türen in die Unter-
4 kunft gebracht und wieder herausbefördert hatte? Irgendwo links vom Fenster quietschten Scharniere, dann ertönte Stampfen, Scharren, Klirren und Schlurfen. Atlan erinnerte sich, daß die plumpen Roboter Kuashmos derartige Geräusche erzeugten, wenn sie sich bewegten. Abermals flackerte die Beleuchtung des Gewölbes. Dann wankten nacheinander fünf Roboter am Fenster vorüber. Wenig später hielten sie an. Riegel scharrten und klirrten. Eine Tür wurde heftig aufgerissen und schlug dumpf an eine Wand. Das mußte die Tür sein, durch die der Unbekannte verschwunden war – vermutlich vor den Robotern geflüchtet. Der Arkonide wartete darauf, daß die Roboter die Verfolgung fortsetzten. Tatsächlich hörte er wieder ihr Stampfen, Scharren, Klirren und Schlurfen. Aber es verstummte, bevor sie außer Hörweite gekommen waren. Danach näherte es sich wieder. Wenig später wurde die rechte Tür wieder geschlossen und verriegelt. Die fünf Roboter wankten von rechts nach links am Fenster vorbei, verließen das Gewölbe durch die linke Tür und schlossen sie hinter sich. Atlan schloß das Fenster wieder, dann ging er zu Lebo Axton. Der frühere USO-Spezialist – beziehungsweise sein Bewußtsein – im Grizzard-Körper schlief unruhig. Das Gesicht war mit roten Flecken bedeckt. Besorgt musterte Atlan ihn. Hatten die Strapazen der letzten Tage einen Rückfall verursacht? Wehrte sich der Grizzard-Körper erneut gegen das fremde Kennon-Axton-Bewußtsein? Er legte dem Gefährten die Hand auf die Stirn und war ein wenig erleichtert, als er keine Anzeichen von Fieber wahrnahm. Anschließend ging er zu Razamon. Der Pthorer schien die Strapazen und Entbehrungen gut überstanden zu haben, aber er brauchte anscheinend noch mehr Schlaf. Atlan wußte, daß er nur deshalb wach war und
H. G. Ewers sich völlig erholt fühlte, weil sein Zellaktivator den Regenerationsprozeß erheblich beschleunigt und noch dazu vertieft hatte. Jetzt konnte Atlan das nachholen, wozu er vorher nicht in der Lage gewesen war. Er eilte auf die Nebentür zu, die Kuashmo ihnen gezeigt hatte, und fand dahinter einen kleinen Saal mit sechs großen, in den Boden eingelassenen Marmorwannen, sechs offenen Duschkabinen und im Mittelpunkt einem runden, zirka zwölf Meter durchmessenden Schwimmbecken. Innerhalb weniger Sekunden hatte der Arkonide alle Sachen abgestreift und sich in eine Wanne gesetzt. Wenig später reckte und dehnte er sich im dampfenden Wasser und genoß den wohlriechenden und reinigenden Schaum, den Düsen immer wieder ins Wasser preßten …
* Nachdem er auch seine Kleidung mehrmals ausgewaschen und unter einem Heißluftgebläse getrocknet hatte, zog er sich wieder an. Er fühlte sich schon viel besser, und wenn die Kleidung nicht so zerlumpt gewesen wäre, hätte er sich direkt wohl gefühlt. Als er in die Unterkunft zurückkehrte, schliefen Razamon und Lebo Axton noch fest, aber Atlan entschied, daß zumindest Razamon aufstehen konnte. Er holte eine Schöpfkelle voll kaltes Wasser aus dem Bad und schüttete es dem Pthorer über den Kopf. Razamon prustete, riß die Augen auf und starrte benommen um sich. Allmählich aber wurde sein Blick klar. »Atlan?« fragte er. Atlan lächelte. »Ist es so schwer, mich wiederzuerkennen?« »Ich wußte nicht mehr, wie ein Atlan ohne Dreckkruste aussieht«, meinte Razamon. »Aber, wie hast du deine Kleidung sauber gekriegt?« »Fünfmal in der Wanne abgeschrubbt«, erklärte Atlan. »Und unter der Heißluftdusche getrocknet.« Er blickte auf seine nack-
Burg der Geheimnisse ten Füße. »Mit den Schuhen klappte das leider nicht. Ich habe sie weggeworfen.« Razamon grinste, dann sprang er auf die Füße und kratzte sich ausgiebig auf der Brust. »Ich denke, ich werde auch baden und meine Lumpen waschen – und auf meine Schuhe verzichte ich ebenfalls. Vielleicht kann Kuashmo uns neue besorgen.« »Das ist eine Idee!« rief Atlan. Er ging zu dem Spiegel, von dem Kuashmo ihnen gesagt hatte, daß sie ihre Wünsche in ihn sprechen sollten, stellte sich davor und sagte: »Atlan ruft Kuashmo! Kuashmo, kannst du mich hören?« Die Spiegelfläche veränderte sich wie eine glatte Wasserfläche, in die jemand einen Stein geworfen hat. Als sie sich wieder glättete, befand sich Kuashmos Abbild darin. Atlan nickte anerkennend. Kuashmo und der Ausschnitt eines Prunksaals wirkten so echt, als würden sie nicht abgebildet, sondern als wäre der Spiegel eine Tür – und der Langbeinige brauchte nur einen Schritt zu tun, um in der Unterkunft seiner drei Besucher zu stehen. Kuashmo legte die Hände auf die Brust, verneigte sich und sagte dann: »Du siehst sehr gut erholt aus, Atlan. Es ist fast ein Wunder.« »Danke«, erwiderte der Arkonide. »Kuashmo, kannst du für meine Gefährten und mich neue Kleidung beschaffen?« Kuashmo lächelte. Trotz seiner humanoiden Gestalt war er nur ein Hominide, und sein Lächeln wirkte nicht nur fremdartig, weil er dabei den Mund geschlossen ließ. »Ich habe bereits Kleidung für dich und deine Gefährten besorgt, Atlan. Darf ich sie euch schicken? Ich persönlich kann leider nicht kommen, da ich noch etwas Wichtiges erledigen muß.« »Es genügt, wenn du die Kleidung schickst«, antwortete der Arkonide und wunderte sich abermals über den Eifer, mit dem Kuashmo sich darum bemühte, die Bedürfnisse seiner Besucher zu befriedigen.
5 Wenige Minuten später trafen drei Roboter mit der Kleidung ein, und Atlan und Razamon staunten. Die Kleidung bestand aus »fabrikneuen« langärmeligen Hemden aus sandfarbenem seidenartigen Stoff, hellbraunen Lederkilts mit breiten Gürteln sowie Ledersandalen mit langen Wadenriemen. Atlan fühlte sich wieder vollwertig, als er seine Kleidung angezogen hatte – und Razamon stürzte sich mit Feuereifer in eine Wanne, um ebenfalls so bald wie möglich wieder zivilisiert auszusehen. Atlan hatte gerade sein Messer unter den Gürtel des Kilts geschoben, als Lebo Axtons Stimme hinter ihm sagte: »Ich wußte gar nicht mehr, daß du auch menschlich aussehen kannst, Lordadmiral!« Der Arkonide drehte sich um und sah, daß Axton-Kennon auf seinem Lager saß. »Wie fühlst du dich?« fragte er. »Wie ein halbverwester Kadaver«, antwortete Axton. »Jedenfalls stinke ich so. Ich denke, ich sollte ebenfalls ein Bad nehmen und mich anschließend neu einkleiden.« »Dann beeile dich, denn wir werden anschließend auf Erkundung gehen, Lebo!« sagte Atlan. Kurz darauf zog auch Razamon seine neue Kleidung an und musterte sich vor dem Spiegel. »Paßt wie angegossen. Kuashmo muß heimlich Maß genommen haben, denke ich.« Der Gedanke war Atlan auch schon gekommen. Er fragte sich, wie sicher die Türverriegelung wirklich gegen Unbefugte schützte. Denke lieber an Lebo! ermahnte ihn sein Extrasinn. Dieser Gedanke hatte im Unterbewußtsein nur auf einen Anstoß gelauert, wie der Arkonide merkte. Er eilte ins Bad – und kam gerade noch zurecht, denn Lebo Axton war in der Wanne bewußtlos geworden und rutschte gerade mit dem Kopf unter Wasser, als Atlan ankam. Atlan konnte ihn herausziehen, bevor er
6
H. G. Ewers
Wasser schluckte. Er schleppte ihn unter eine Dusche und spritzte ihn mit kaltem Wasser ab. Anschließend massierte er ihn, bis er tief atmete und dann die Augen aufschlug. »Ich bin wohl noch ein bißchen schwach«, meinte er. Atlan musterte die roten Flecken, die fast den gesamten Körper Axtons bedeckten. »Du hast einen leichten Rückfall – ich meine, dein Grizzard-Körper«, erklärte er. »Aber es scheint nicht allzu schlimm zu sein«, bemerkte Razamon, der dazugekommen war. »Schlimm genug, um Lebo zur Bettruhe zu zwingen – jedenfalls vorläufig«, erklärte Atlan. Auf Interkosmo berichtete er danach von den seltsamen Vorgängen, die er kurz vor und nach seinem Erwachen beobachtet hatte, und er schloß: »Ich vermute, daß Kuashmo Konkurrenten beziehungsweise Gegenspieler besitzt und daß es zwischen ihm und ihnen eine territoriale Abgrenzung gibt. Es wäre gut für uns, mehr darüber zu erfahren. Deshalb schlage ich vor, daß Razamon und ich uns ein wenig umsehen. Du hütest inzwischen das Bett, Lebo.« Axton verzog das Gesicht. »Das paßt mir zwar nicht, aber wer kann schon einen neugierigen Lordadmiral festhalten«, erwiderte er, ebenfalls auf Interkosmo. Er stand ohne Hilfe auf, stellte sich, wenn auch etwas wackelig, unter eine Heißluftdusche und zog sich danach seine neue Kleidung an. Sie kehrten in den Aufenthaltsraum zurück, und Lebo Axton suchte sich ein paar Kissen zusammen, um sich darauf zu betten. »Falls du dem Geistervogel begegnest, Atlan, solltest du ihn rupfen«, sagte er, als seine Gefährten zur Tür gingen. »Die Kissen scheinen mit Holzwolle gefüllt zu sein.«
* Der Korridor vor der Unterkunft lag leer
und in düsteres rötliches Licht getaucht vor Atlan und Razamon. Das Licht fiel durch schmale Glassitstreifen, die in Abständen von anderthalb Metern in die Wände eingelassen waren. Atlan wandte sich nach links, denn von rechts waren sie damals unter Kuashmos Führung gekommen. Eine ganze Weile gingen sie über den glattgeschliffenen schwarzen Marmor, der den Boden bildete. Auch die Wände bestanden aus schwarzem Marmor. Nach etwa fünfzehn Minuten verzweigte sich der Korridor nach links und rechts. Atlan hielt sich links. Er wollte irgendwie das Territorium erreichen, in das der Unbekannte oder die Unbekannten geflohen waren, die wahrscheinlich den geisterhaften Vogel in die Unterkunft geschickt hatten. Daraus wurde allerdings vorerst nichts. Der Korridor endete an einer breiten Wendeltreppe, die nach unten führte. Von einer Abzweigung in die von Atlan angestrebte Richtung war nichts zu sehen. Atlan und Razamon verständigten sich durch Blicke und stiegen die Wendeltreppe hinab. Ungefähr fünfzehn Meter tiefer endete sie in einer kleine Halle. Es schien eine Art Vorhalle zu sein, denn auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein großes zweiflügeliges Tor aus schwarzem Holz, das mit Silber beschlagen war. »Sieht aus wie das Tor, durch das wir in die Burg kamen«, meinte Razamon und klopfte prüfend gegen das Holz. »Nur nicht so groß, aber ebenfalls sehr stabil.« Atlan musterte die beiden drei Meter hohen schlanken Krüge oder Vasen aus Glassit, die links und rechts des Tores standen und zur Hälfte mit funkelnden Edelsteinen gefüllt waren. Dann zuckte er die Schultern und suchte nach einer Möglichkeit, das Tor zu öffnen. Weder eine Klinke noch ein Schloß waren zu sehen, aber als Razamon kräftig an einem hervorstehenden Silberknauf zog, bewegte sich der linke Torflügel quietschend und knarrend nach außen.
Burg der Geheimnisse Als die Öffnung groß genug war, wischte sich der Pthorer den Schweiß von der Stirn und ging vorsichtig hindurch. Atlan folgte ihm. Überrascht standen die beiden Männer kurz darauf in einem riesigen Saal mit zahlreichen Marmorsäulen, einem mit Goldplatten belegten Boden und verblaßten Malereien an Wänden und Decke. Die Beleuchtung war archaisch. Sie bestand aus zahlreichen ehernen Schalen, die auf Wandhaltern befestigt waren und in denen kleine blaue Flammen brannten. Überall standen runde Tische aus schwerem schwarzem Holz, deren Platten von silbernen Intarsienarbeiten geschmückt waren. Alles war jedoch mit einer Staubschicht bedeckt, bis auf zwei Tische und mehrere Stellen des Bodens. »Anscheinend war die Halle früher Schauplatz rauschender Feste«, meinte Razamon und deutete auf ein großes Wandgemälde. Atlan musterte es ebenfalls. »Es scheint einen Ausschnitt dieses Saales wiederzugeben«, sagte er. »Die Feiernden sind ausnahmslos Wesen wie Kuashmo, auch wenn sie keine Kilts, sondern bunte Umhänge tragen. Die Bedienung besteht allerdings aus anderen Wesen, ebenfalls hominid, aber kleiner und mit Hufen statt Füßen und Schafsgesichtern – und es gibt Langbeinerfrauen.« Er wirbelte herum, als er klatschende Flügelschläge hörte. Im Hintergrund des Saales flog ein bussardgroßer Vogel mit hellblauem Gefieder um einige Säulen herum, dann verschwand er nach links. Atlan lief ihm nach. Seine Füße wirbelten dabei eine Menge Staub auf, so daß Razamon, der ihm folgte, husten mußte. Doch der Vogel blieb verschwunden. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Dennoch suchte Atlan sorgfältig alle Wände und die Decke in jenem Teil des Saales ab – und dann entdeckte er, daß die runde gelbe Sonne in einem Deckengemälde
7 nicht gemalt war, sondern aus einem kreisförmigen Loch bestand, durch das von weiter oben gelbes Licht schien. »Raffiniert gemacht«, stellte der Arkonide anerkennend fest. »Man muß schon sehr genau hinsehen, um den Trick zu durchschauen.« Razamon nickte, dann schleifte er einen der an einer Wand aufgestapelten schweren Holzstühle heran und stellte ihn unter das Loch. »Wir können zwar nicht fliegen, aber klettern«, meinte er und stieg auf den Stuhl. Die Entfernung zur Decke war noch zu groß, deshalb zog Atlan einen zweiten Stuhl heran und stellte ihn auf den ersten. Danach reichten er und Razamon mit den Händen gerade durch das Loch, wenn sie die Arme ausstreckten. Der Pthorer zog sich als erster hinauf, rollte sich zur Seite und sagte: »Ich liege in einem relativ niedrigen, aber langen Korridor mit zahllosen Löchern dicht unterhalb der Decke. Die Löcher sind von goldenen, nach außen gewölbten Gittern verschlossen. Dahinter hocken Falken oder Bussarde mit hellblauem Gefieder.« Atlan zog sich ebenfalls durch das Loch, richtete sich auf und sah sich in dem Korridor um. Die Beleuchtung war die gleiche wie im Festsaal, nur schwächer – und hinter den goldenen Käfiggittern saßen zahlreiche bussardgroße Vögel und blickten aus gelbleuchtenden Augen auf die Fremdlinge. Dünnes Piepsen ließ den Arkoniden aufhorchen. Er trat näher an den Käfig heran, aus dem er das Piepsen gehört hatte – und tatsächlich sah er unter den halb ausgebreiteten Schwingen eines der Vögel vier nur faustgroße junge Vögel mit hellgrauem Gefieder hocken. »Eine echte Vogelzucht«, meinte er. Razamon trat an einen anderen Käfig heran und streckte die Hand danach aus. Sofort schoß der Kopf des Vogels durch das Gitter und nackte nach ihm. Rasch zog der Pthorer die Hand wieder zurück.
8 »Eine Zucht von Raubvögeln«, stellte er fest. »Als der Vogel sich bewegte, habe ich halb hinter ihm einige Fleischfetzen gesehen. Die Vögel werden also mit Fleisch gefüttert. Ich hoffe, es ist das Fleisch von Tieren.« Atlan richtete seine Aufmerksamkeit unterdessen auf die mit Silber beschlagene Holztür am linken Ende des Korridors. »Die Riegel werden im Holz geführt und durch Stahlgriffe bewegt, die sich anscheinend auf beiden Seiten der Tür befinden«, sagte er, während er näher ging. Achtung, Gefahr! teilte ihm sein Extrasinn mit. Er blieb stehen, noch etwa dreißig Meter von der Tür entfernt. Aufmerksam musterte er die Wände. Auch in ihnen befanden sich dicht unter der Decke große, mit goldenen Gittern verschlossene Löcher. Aber hinter den Gittern hockten keine Vögel wie in dem Teil des Korridors, der hinter ihm lag. »Was ist los?« fragte Razamon und eilte herbei. Atlan hob warnend die Hand. »Es gibt offenbar eine unsichtbare Grenzlinie. Ich nehme an, sie trennt das Territorium unseres Freundes Kuashmo und das der Vogelzüchter.« »Eine durch magische Sprüche errichtete Grenze«, meinte Razamon abfällig und trat über die unsichtbare Linie. Im nächsten Augenblick blieb er ruckartig stehen. Seine Augen weiteten sich, als er einen eisigen Hauch spürte, der aus den leeren Vogelkäfigen zu ihm wehte. Aber die Vogelkäfige waren gar nicht mehr leer. Aus ihnen starrten die Augen von echsenköpfigen Wesen mit chitinartigen harten Häuten und aufgerissenen roten Mäulern, aus denen fingerlange Reißzähne drohten. Entsetzt wich der Pthorer zurück – und starrte im nächsten Moment wieder in leere Käfige. »Es war also nur Einbildung!« stellte er zornig fest. »Ich weiß nicht«, erwiderte Atlan nach-
H. G. Ewers denklich. »Ich habe die Wesen ebenfalls gesehen. Vielleicht gibt es sie wirklich.« Er blickte über die Schulter zurück, als er ein Geräusch hörte. »Wir können ja die Vogelzüchter danach fragen.« Razamon fuhr herum. Von der anderen Seite des Korridors näherten sich ungefähr zwölf Wesen. Sie hatten die gleiche Gestalt wie Kuashmo, trugen aber weite grüne Umhänge und spitze rote Hüte. Ihre linken Hände waren durch dicke schwarze Lederhandschuhe geschützt. In den rechten Händen trugen sie dünne, armlange silberne Stäbe. »Komm!« sagte Atlan leise und ging den »Vogelzüchtern« entgegen. Razamon folgte ihm. Als sie noch etwa fünf Meter vor der Gruppe entfernt waren, blieben die »Vogelzüchter« stehen. Ihre Gesichter wirkten abweisend und gleichzeitig neugierig. Atlan deutete zuerst auf sich, dann auf Razamon und erklärte: »Atlan, Razamon. Wir sind als Gäste auf Burg Odiara und sehen uns ein wenig um.« Einer der »Vogelzüchter«, sein Gesicht wirkte durch zahllose tiefe Furchen sehr alt, deutete auf sich. »Warwingha.« Er deutete mit dem Silberstab in die Richtung, aus der Atlan und Razamon gekommen waren. »Ihr seid vielleicht von dort gekommen, Schützlinge Kuashmos«, sagte er auf der auf Dorkh gebräuchlichen Spielart des Pthora. »Aber ihr könnt nicht den gleichen Weg zurückgehen.« »Wir sind nicht ganz von dort gekommen, sondern dort durch«, erwiderte Atlan und deutete auf das Loch im Boden, unter dem sich die Festhalle befand. »Außerdem sind wir nicht die Schützlinge Kuashmos, obwohl ich zugebe, daß er uns zuerst Gastfreundschaft auf Burg Odiara gewährt. Euer Vogel wird es euch verraten haben.« »Krylkhe!« rief einer der »Vogelzüchter«.
Burg der Geheimnisse Er meinte damit wahrscheinlich den »Geistervogel«, den Atlans Extrasinn in der Unterkunft bemerkt hatte, denn einer der Vögel hinter den goldenen Käfiggittern stieß einen Schrei aus, der wie »Hiaah« klang. Warwingha ging zu dem betreffenden Käfig, griff unter seinen Umhang und warf einen Fleischfetzen durchs Gitter. Der Vogel hüpfte hoch, ließ sich mit den Krallen auf das Fleisch fallen und riß kleine Stücke mit dem gebogenen Schnabel ab. »Wollt ihr nicht bei uns, bei der Gilde der Vogelspäher, bleiben?« fragte Warwingha. »Das läßt unser Auftrag nicht zu«, erwiderte Atlan ausweichend. »Wir müssen uns um alles kümmern. Ich denke, wir kehren erst einmal in unsere Unterkunft zurück.« »Das dürfen wir nicht zulassen, Warwingha!« rief ein anderes Mitglied der Vogelspäher-Gilde. Hinter Warwinghas Augenschlitzen leuchtete die Iris grün und grell auf, doch dann ertönten aus der Halle unter dem Loch stampfende und klirrende Geräusche. Unter den Vogelspähern entstand Unruhe. »Geht, aber hütet euch vor den Erzklopfern!« sagte Warwingha und hob beschwörend die Hände. »Hütet euch auch vor den Schmeicheleien Kuashmos!« Wortlos wandte Atlan sich um und spähte durch das Loch im Boden. Gerade wankte einer von Kuashmos Robotern darunter vorbei und stieß dabei gegen die beiden übereinander gestellten Stühle. »Nicht umwerfen!« rief Atlan. »Halte sie fest!« Der Roboter blieb stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Seine Hände stemmten sich gegen den Boden, und sein Kopf lehnte sich so weit zurück, daß der spiralige Hals nachgab und den Kopf hin und her pendeln ließ. Der Arkonide hielt sich am Lochrand fest und ließ sich hinabgleiten. Razamon folgte ihm. Wenig später standen sie neben dem Roboter, während vier weitere Roboter sich unbeholfen näherten. »Meister Lebo schickt uns«, berichtete
9 der erste Roboter. Er sprach klirrend und monoton, und es war das erste Mal, daß Atlan einen solchen Roboter sprechen hörte. »Meister Lebo?« rief Razamon. Atlan lächelte. »Er hat sein Kennon-Robotertrauma offenbar überkompensiert. Aber ohne das wären wir in eine etwas schwierige Lage geraten, Razamon.« »Die Vogelspäher haben mich nicht sehr beeindruckt«, meinte der Pthorer. »Auf die Erzklopfer bin ich allerdings schon gespannt. Gehen wir zurück? Ich habe großen Hunger. Notfalls würde ich sogar einen Spähvogel essen.« »Das würde Warwingha nicht gefallen«, erwiderte Atlan. »Gehen wir zurück!«
2. Auf halbem Wege kam ihnen Lebo Axton entgegen – auf dem Rücken eines Roboters sitzend. Seine Augen leuchteten auf, als er die Gefährten erblickte. »Ich hatte mir schon Sorgen um euch gemacht«, erklärte er. »Von meinen Sklaven erfuhr ich, daß es in der Burg zahlreiche Gruppierungen von Langbeinern wie Kuashmo gibt. Sie führen so ausgefallene Namen wie ›Vogelspäher‹, ›Wünschelrutengänger‹, ›Erzklopfer‹ und ›Reliquiensammler‹ und sollen ziemlich finstere Typen sein.« »Mit einigen Vogelspähern haben wir gesprochen«, erwiderte Atlan, der sich darüber freute, wie gut Lebo Axton alias Sinclair Ma-rout Kennon mit den Robotern zurechtkam. »Sie waren nicht ausgesprochen feindlich, hätten uns aber am liebsten nicht zu Kuashmo zurückkehren lassen. Es scheint, als stünden alle Gruppierungen untereinander und mit Kuashmo im Konkurrenzkampf um die Macht. Vor den Erzklopfern hat uns ein Vogelspäher namens Warwingha besonders gewarnt.« »Vor den Erzklopfern?« fragte Axton und schlug seinem Trägerroboter mit der flachen Hand auf den Kopf. »Was ist an den Erz-
10 klopfern so Besonderes, Vinzenz?« Der Kopf des Roboters pendelte hin und her, während »Vinzenz« antwortete: »Sie unterwühlen alles, und oftmals sind Burgbewohner spurlos in ihren Gängen verschwunden. Der Herr sagt, sie essen sie.« Razamon schüttelte sich. »Wenn ›der Herr‹ es sagt, muß es noch lange nicht stimmen«, meinte Atlan. »Lebo, wir haben einen Mordshunger. Kuashmo wird gut daran tun, uns etwas zu essen zu geben.« »Der Herr sagt, der Tisch sei schon gedeckt«, erklärte Vinzenz. »Bitte, folgt mir!« »Halt!« rief Lebo Axton. Vinzenz blieb stehen. »Du mußt immer erst deinen Meister fragen, bevor du etwas tust, Vinzenz!« sagte Axton mahnend. »Ja, Meister«, gab Vinzenz zurück. »Darf ich euch in den Speisesaal führen, Meister?« »Ich befehle es dir!« erwiderte Lebo Axton und blinzelte Atlan triumphierend zu. Mit Axton auf Vinzenz voraus und von den übrigen fünf Robotern gefolgt, gingen sie zu dem »Rittersaal«, in dem sie kurz nach ihrer Ankunft verpflegt worden waren. Auch diesmal war der langgestreckte Metallplastiktisch bereits gedeckt – und Kuashmo wartete stehend am Kopfende des Tisches. Er warf einen mißbilligenden Blick auf Vinzenz und Axton, enthielt sich aber jeden Kommentars dazu, daß einer der Besucher sich einen seiner Roboter »Untertan« gemacht hatte. Razamon schnupperte verzückt und verschlang den Inhalt der auf dem Tisch stehenden Schüsseln, Kannen und Karaffen mit den Augen. »Du bist sehr gastfreundlich, Kuashmo«, sagte Atlan. Kuashmo verneigte sich mehrmals. »Ich würde mich freuen, wenn wir uns für deine Hilfe und Gastfreundschaft erkenntlich zeigen könnten«, fuhr Atlan fort. »Wenn wir also etwas für dich tun können, dann sage es frei heraus.« Kuashmo hörte auf, sich zu verneigen.
H. G. Ewers Sein Gesichtsausdruck schien Verlegenheit zu verraten. Razamon merkte es gar nicht, aber Le-bo Axton hatte er ebenfalls registriert. Kuashmo überspielte seine Verlegenheit, indem er den Besuchern Plätze zuwies, ihnen die Eßschalen zurechtschob und ihnen aus Karaffen die bekannte hellgrüne Flüssigkeit in die kurzstieligen Gläser goß. Axton hatte sich unterdessen von zwei Robotern vom Rücken seines Tragerobots helfen lassen und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Atlan hielt sich nicht länger zurück. Er hob sein Glas und nippte an der Flüssigkeit. Sie bestand wie beim erstenmal aus fast hundertprozentigem scharfgewürztem Alkohol. »Ich möchte nicht unhöflich sein, Kuashmo«, sagte er und stellte sein Glas wieder ab. »Aber dieses köstliche Getränk löscht leider nicht unseren Durst. Hast du vielleicht etwas Alkoholfreies anzubieten?« Kuashmo stutzte, dann wurde er ausgesprochen nachdenklich, aber er faßte sich schnell wieder. Er ging zu einer großen Anrichte, die an der Wand stand, schob eine Platte zur Seite und tastete über die Sensorpunkte, die darunter sichtbar geworden waren. Sekunden später bildete sich in der Anrichte eine kreisrunde Öffnung. Ein großer Tonkrug schob sich heraus. Kuashmo nahm ihn, kehrte an den Tisch zurück und schenkte eine rötlich-gelbe Flüssigkeit in große langstielige Gläser, die er vor den Besuchern abstellte. Als Atlan von seinem Glas kostete, stellte er einen süß-säuerlichen Fruchtgeschmack fest. »Ausgezeichnet!« lobte er. »Wir pflegen zwar normalerweise das zu trinken.« Er deutete auf das kurzstielige Glas von der Form eines faustgroßen Schrumpfkopfes. »Aber für gewisse Konditionierungsmaßnahmen sind alkoholfreie Getränke vorteilhafter.« Er blinzelte dem Pthorer, der ihn verständnislos anstarrte, verschwörerisch zu.
Burg der Geheimnisse »Ich verstehe, Atlan«, sagte Kuashmo ernsthaft und offensichtlich wieder im seelischen Gleichgewicht. Atlan nickte zufrieden. Er ahnte, daß Kuashmo von ganz bestimmten Besuchern – für die er die Freunde hielt – ein ganz bestimmtes Verhalten erwartete, und ohne die Erklärung Verdacht geschöpft hätte, die drei Besucher könnten nicht die sein, für die er sie gehalten hatte. Anschließend ließ er sich die heißen, scharf gewürzten und nach Wildbret schmeckenden Fleischstücke schmecken, aß auch etwas von den fremdartigen Gemüsen und genoß zum Dessert einiges von dem auf Schalen servierten Obst. Als er satt war, lehnte er sich zurück. »Ich sprach von einer Konditionierung, Kuashmo«, erklärte er. »Sie hängt mit unserer Mission zusammen, die allerdings erst richtig beginnen kann, wenn wir die inneren Verhältnisse in der Burg genauer kennen. Um sie kennenzulernen, werden wir nachher einen Rundgang durch die Burg durchführen. Wir fangen ganz oben an und gehen allmählich immer tiefer …« Kuashmo sprang auf und streckte die Arme abwehrend von sich. »Das geht nicht!« rief er aufgeregt. »Ich darf euch auf keinen Fall in den Hauptturm gehen lassen!« »Aber warum denn nicht?« fragte Lebo Axton. »Wir sind berechtigt, uns alles anzusehen.« Kuashmo druckste eine Weile herum, bevor er herausbrachte: »Der Hauptturm darf nur mit besonderer Legitimation betreten werden, weil von dort aus das Augenfeld eingesehen werden kann.« Sein Blick bekam etwas Lauerndes. »Könnt ihr mir diese Legitimation vorweisen?« »Wir haben unsere gesamte Habe in der Wüste bei einem Sandsturm verloren«, erklärte Atlan. »Aber du hast uns gastfreundlich aufgenommen und weißt also, wer wir sind …« »Ihr seid liebe Gäste für mich«, gab Kuas-
11 hmo zu. »Aber das berechtigt mich noch nicht dazu, euch Zugang zum Turm zu gewähren. Meine Vorschriften sind ganz eindeutig. Wer sich legitimieren kann, darf den Hauptturm betreten und das Augenfeld inspizieren. Da ihr euch nicht legitimieren könnt, dürft ihr das nicht.« »Ich möchte sehen, wer uns daran …!« brauste Razamon auf. Atlan warf ihm einen warnenden Blick zu, der eindringlich genug war, um ihn zum Schweigen zu veranlassen. »Wir wollen das Problem nicht unnötig hochspielen«, meinte er. »Da du anscheinend deinen Vorschriften mehr traust als uns, Ku-ashmo, verzichten wir vorerst darauf, das Augenfeld zu inspizieren. Du gestattest, daß wir uns zur Beratung in unsere Unterkunft zurückziehen.« Er erhob sich und verließ in würdevoller Haltung den Saal, gefolgt von seinen Gefährten, von denen Lebo Axton wieder auf Vin-zenz ritt.
* Vor der Unterkunft ließ Axton den Trageroboter warten, dann gingen sie hinein, registrierten erstaunt, daß inzwischen aufgeräumt worden war und setzten sich weit vom Wandspiegel entfernt. »Was ist dieses Augenfeld?« fragte Razamon ungeduldig auf Interkosmo und schaute dabei den Arkoniden an. »Du hast davon gesprochen, als würdest du wissen, worum es sich dabei handelt.« Atlan lächelte. »Ich weiß auch jetzt noch nicht, was unter dem Begriff ›Augenfeld‹ zu verstehen ist, wenn ich auch etwas ahne. Fest steht allerdings nach unserer Auseinandersetzung mit Kuashmo für mich, daß er uns für Kontrolleure hält, die sich um das Augenfeld kümmern sollen. Anscheinend stimmt damit etwas nicht, und Kuashmo befürchtet, daß ihm das als persönliches Versagen angerechnet würde, wenn es herauskäme.« »Aber wenn er sicher ist, daß wir Kontrol-
12 leure sind, die das Augenfeld inspizieren sollen, warum besteht er dann auf einer Legitimation?« fragte Razamon. »Er benutzt seine Vorschriften als Vorwand, um die vermeintlichen Kontrolleure zu behindern«, erklärte Lebo Axton. »Die Vorgesetzten der Kontrolleure würden das wahrscheinlich akzeptieren, sonst würde er es nicht wagen.« »Aber er behandelt uns ansonsten mit ausgesuchter Höflichkeit und liest uns alle anderen Wünsche von den Augen ab«, wandte Razamon ein. Axton lachte leise. »Kleine Rückversicherung, mein Lieber. Er glaubt ja zu wissen, daß wir die erwähnten Kontrolleure sind, und wenn er das auch niemals zugeben wird, behandelt er uns, abgesehen vom Zutritt zum Augenfeld, als solche, damit wir ihm später nicht vorwerfen würden, er hätte nicht korrekt gehandelt.« »Aber lieber wäre es ihm sicherlich, wir wären in der Wüste umgekommen«, sagte Atlan. »Deshalb dürfen wir uns Kuashmo gegenüber auch keine Blöße geben. Sollte er erkennen, daß wir nicht die erwarteten Kontrolleure sind, ließe er uns wahrscheinlich für immer verschwinden.« »Der Kerl kann nicht ganz richtig im Kopf sein!« sagte Razamon. »Es gefällt mir auf einmal nicht mehr in dieser Burg.« »Mir auch nicht«, stimmte ihm Lebo Axton zu. »Allerdings bin ich nicht dafür, daß wir die Burg einfach wieder verlassen. Mir graut es nicht nur vor dem Abstieg über die Treppe, sondern auch vor einem neuen Marsch durch die Wüste.« »Wir brauchen Ausrüstung«, meinte Atlan. »Davon sollte sich in der Burg genug finden lassen. Sehen wir uns also erst einmal um!« Razamon und Axton waren damit einverstanden. Sie brachen auf und begaben sich zuerst in den Burghof. Scheinbar ohne großes Interesse schlenderten sie an der Innenseite der die Burg umgebenden Mauer entlang. Dabei kamen sie auch an das Tor, durch das sie in
H. G. Ewers die Burg geholt worden waren. »Dachte ich es mir doch«, meinte Lebo Axton und deutete mit dem Kopf zu den beiden mit Metallplastik verkleideten meterhohen Blöcken links und rechts neben dem Tor. »Sie enthalten zweifellos Elektromotoren, die die Torflügel aufziehen und schließen.« »Und die Stabantennen darauf verraten, daß sie ferngesteuert werden«, fügte Atlan hinzu. »Freiwillig wird Kuashmo uns kaum sein Steuergerät geben.« »Über die Mauer können wir auch nicht klettern«, erklärte Razamon. »Jedenfalls nicht ohne Leiter.« Sie schlenderten weiter und näherten sich dabei wie unabsichtlich auch dem Hauptturm. Nachdem sie sich mit Blicken verständigt hatten, gingen Sie schnell auf das Tor am Fuß des Turmes zu. Es öffnete sich, als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren – aber in der Öffnung standen Kuashmo und sechs seiner Roboter. Die drei Männer blieben stehen. »Schöner Tag heute«, sagte Atlan freundlich zu Kuashmo. »Zu schön, um in dem dunklen Turm zu stehen. Gehst du etwas mit uns spazieren, Kuashmo?« »Ich habe leider keine Zeit, Atlan«, erwiderte der Langbeinige ebenso freundlich. »Seht euch nur ein wenig um! Darf ich euch Erfrischungen bringen lassen?« »Nicht nötig«, sagte Lebo Axton. »Wir werden etwas Wasser aus dem Brunnen schöpfen und trinken.« Sie schlenderten zum Brunnen, zogen einen Eimer kristallklares kaltes Wasser herauf und tranken mit Hilfe der am Brunnenrand hängenden Schöpfkelle. Danach gingen sie weiter. Das Tor des Hauptturmes schloß sich wieder. Kuashmo und seine sechs Roboter blieben dahinter. Lebo Axton pfiff plötzlich leise, dann flüsterte er: »Seht ihr das Gebäude dort hinten? Links von dem, in dem sich der ›Rittersaal‹ befindet.«
Burg der Geheimnisse Atlan blickte so unauffällig wie möglich hinüber, während sie weitergingen. Er sah das kastenförmige Gebäude, das Axton gemeint hatte. Und er sah auch, was dem ehemaligen USO-Spezialisten daran aufgefallen war. »Es hat weder Türen noch Fenster«, sagte er. »Außer einem breiten Tor dicht unterhalb des Flachdachs. Wer da hinein oder heraus will, muß schon fliegen können.« »Die Flugschalen!« entfuhr es Razamon. »Richtig!« erwiderte Lebo Axton. »Eine Flugschale wäre genau das Transportmittel, das wir brauchten, um uns schnell und sicher auf Dorkh zu bewegen. Ich denke, wir sollten nicht warten, sondern gleich zugreifen. Da das Gebäude hier oben keine Türen hat, muß sich der Eingang unterhalb der Ebene des Burghofs befinden.« »Worauf warten wir noch?« meinte Razamon.
* Durch das Gebäude mit dem »Rittersaal« gelangten sie nach etwa einstündiger Suche tatsächlich zu einer Wendeltreppe, die nach oben führte – und kurz darauf standen sie in einer Art Parkhaus, auf dessen vier Ebenen die Flugschalen standen, mit denen die Roboter nachts umherflogen. »Ungefähr drei Meter Durchmesser«, sagte Atlan und blickte in den Innenraum einer Flugschale. »Aber sonst hat das Fahrzeug große Ähnlichkeit mit einem der auf Pthor gebräuchlichen Zugors. Die Außenfläche ist mit einer glassitähnlichen Substanz beschichtet, mitten in der Schale befindet sich ein Instrumentensockel, mit dessen Hilfe das Fahrzeug gesteuert wird.« Razamon schwang sich über den Rand der Flugschale und untersuchte den Instrumentensockel. »Eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Zugor läßt sich nicht leugnen«, meinte er und bewegte versuchsweise einige der Hebel, die aus dem säulenförmigen Instrumentensockel ragten.
13 Plötzlich fingen zwei Glassitscheiben in schnellem Wechsel an zu blinken, die eine rot und die andere blau. Razamon musterte sie nervös, dann trat er auf einen der beiden Fußschalter, die sich bei der Flugschale direkt auf dem Boden befanden. Die einzige Reaktion darauf waren stoßweise Heultöne, die in kurzem Intervall erschollen. Rasch trat Razamon auch den anderen Fußschalter nieder, aber nichts geschah. »Ich fürchte, ich habe so etwas wie einen Alarm ausgelöst«, meinte der Pthorer. »Wahrscheinlich lassen sich die Flugschalen nicht von Unbefugten starten. Ich nehme an, dazu bedarf es erst eines Freigabesignals von Kuashmo.« Er schob die Hebel, die er bewegt hatte, in ihre Ausgangsstellungen zurück und nahm die Füße von den Fußschaltern. Das Blinken und Heulen hielt unvermindert an. »Uns bleibt nichts weiter übrig, als von hier zu verschwinden«, erklärte Atlan. »Wenn Kuashmo den Alarm registriert hat, wird er bald mit seinen Robotern auftauchen.« Sie wandten sich wieder der Wendeltreppe zu und stiegen sie hinab. Doch auf halbem Wege hörten sie das typische Stampfen und Klirren, mit dem sich die Roboter Kuashmos bewegten. Razamon stieß eine Verwünschung aus. »Was jetzt?« fragte er. »Wenn Kuashmo uns ertappt, wird er uns künftig streng bewachen lassen.« »Vielleicht hören die Maschinen auf mich und ziehen sich zurück«, meinte Lebo Axton und versuchte, seine Gefährten zu überholen, um den Robotern entgegentreten zu können. »Warte!« flüsterte Atlan und hielt ihn am Arm fest. »Hier ist eine Tür!« »Wo?« gab Razamon zurück. »Man kann sie im Dunkeln nicht sehen«, erklärte der Arkonide. »Ich habe sie zufällig entdeckt, weil ich mich an der Wand abstützte, als Lebo mich überholen wollte.« Mit einem Ruck zog er die Tür auf. Da-
14
H. G. Ewers
hinter war es noch dunkler als auf der Treppe, die wenigstens eine Spur Licht von weiter unten erhielt, wo die Korridore beleuchtet waren. »Wer weiß, wohin es dort geht«, sagte Axton unbehaglich und zog die Schultern hoch. Unter den Männern verstummte das Stampfen und Klirren. Die Roboter hatten das untere Ende der Wendeltreppe erreicht. Dann blitzte ein heller Lichtschein auf, und wenig später polterte und klirrte es, als der erste Roboter die Treppe betrat. »Wir haben keine andere Wahl«, flüsterte Atlan. Er zog und schob seine Gefährten in die Dunkelheit hinter der Öffnung, dann kroch er selbst hinein und zog die Tür hinter sich zu. Augenblicklich verstummten die von den Robotern hervorgerufenen Geräusche. Dafür war etwas anderes zu hören: ein helles Geräusch wie das Aufeinanderschlagen von Metall auf Stein, das sich in unterschiedlichen Zeitabständen wiederholte. Razamon schnaufte. »Da sind wir wohl vom Regen in die Traufe geraten, Freunde.« »Du meinst …?« warf Lebo Axton ein. »Ich meine, das Hämmern könnte von den Erzklopfern verursacht werden«, erklärte der Pthorer. »Aber es kommt von ziemlich weit her«, meinte Atlan. »Es ist also nicht gesagt, daß wir die Erzklopfer treffen werden. Möglicherweise gibt es Abzweigungen, die in andere Regionen der Burg führen.«
3. Der finstere Korridor verzweigte sich tatsächlich schon nach knapp fünfzig Metern. Die drei Männer ertasteten fünf Abzweigungen – und nur aus einer hallte das Klingen von Hämmern. Drei der übrigen vier Abzweigungen waren allerdings auch nicht stumm. Nur blieben die Geräusche, die aus ihnen kamen, vorläufig undefinierbar. Sie entschieden sich für den Korridor, aus
dem keine Geräusche zu hören waren. Er war nur etwa einen Meter breit, aber mehr als zwei Meter hoch. Atlan übernahm die Spitze. Der Korridor führte mit geringem, aber stetigem Gefälle abwärts. Schon nach kurzer Zeit fühlte der Arkonide, daß die Wände nicht mehr völlig glatt waren. Sie wiesen deutliche Spuren einer Bearbeitung mit archaischen Werkzeugen auf. Nach ungefähr achtzig Metern stieß Atlan mit der vorgestreckten rechten Hand gegen eine Leiter. Sie war aus Holz zusammengezimmert und lehnte an der rechten Wand. »Eine Leiter«, flüsterte er. »Ich sehe kurz nach, wohin sie führt.« Er kletterte hoch und merkte, daß der Korridor an dieser Stelle erheblich höher als zwei Meter war. Nach zirka neun Metern endete die Leiter an einem großen Loch in der Wand. Atlan beugte sich vor und tastete um sich, dann stieg er wieder hinab. »Wir befinden uns in einer alten Mine«, berichtete er seinen Gefährten. »Die Anlage ist typisch für einen Örterabbau. Die Leiter führt in die erste, abgebaute Strecke, aber es gibt weiter oben wahrscheinlich noch mehr.« »Also haben früher die Erzklopfer hier gearbeitet«, meinte Razamon. »Und wahrscheinlich nicht nur mineralisches Erz, sondern auch andere Mineralien abgebaut«, erwiderte Atlan und drückte dem Pthorer einen kleinen Kristallsplitter in die Hand. »Es fühlt sich an wie ein Gipskristall, der ja oft bei anderen Sekundärmineralen vorkommt. Er lag mit anderen Resten in der Höhlung oben.« »Gips werden sie nicht gerade gesucht haben«, erwiderte Razamon und drückte den Kristallsplitter Axton in die Hand. Atlan zuckte die Schultern und ging weiter. Er stieß noch mehrmals auf Leitern, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Dann entdeckte er weit vor sich einen Lichtschimmer. »Wir sind zu tief, als daß das Tageslicht sein könnte«, flüsterte er. »Seid also ab so-
Burg der Geheimnisse fort so leise, daß uns niemand hören kann!« Auch er bewegte sich absolut lautlos voran. Der Lichtschimmer wurde allmählich heller. Wenige Minuten später erkannte er etwa zehn Meter vor sich den Ausschnitt einer Höhle, auf deren Boden eine kleine Lampe stand und die schwache Helligkeit verbreitete. Er drehte sich um und wartete, bis Lebo Axton gegen ihn stieß. Seine Gefährten und er waren so gut aufeinander eingespielt, daß niemand etwas sagte. Erst, nachdem sie die Köpfe zusammengesteckt hatten, flüsterte Atlan: »Ich gehe voran. Ihr folgt mir noch acht Meter weit, dann bleibt ihr stehen und wartet ab!« »Ist klar«, flüsterte Razamon. Vorsichtig schlich der Arkonide weiter. Ab und zu blieb er stehen und lauschte konzentriert. Ungefähr drei Meter vor dem Eingang der Höhle hörte er eines der erwarteten Geräusche. Es war nur ein kaum hörbares Scharren, aber es verriet, daß jemand seit Stunden unbeweglich auf einem Fleck stand und es allmählich satt hatte. Da das Geräusch von vorn gekommen war, befand sich die Wache wahrscheinlich innerhalb der Höhle. Atlan schlich lautlos weiter. Am Höhleneingang erhöhte er sein Tempo, so daß er sich bereits mitten in der Höhle befand, als die Wache ihn bemerkte. Dennoch kam die Reaktion unerwartet schnell. Atlan hörte etwas durch die Luft sausen, dann senkte sich ein mit Metallkügelchen beschwertes Netz über ihn. Der Arkonide warf sich zu Boden und versuchte, das fallende Netz noch zu unterlaufen. Er schaffte es nicht ganz. Mit gellendem Schrei schnellte sich ein langbeiniger Hominide aus einer Wandnische und wirbelte eine morgensternähnliche Waffe über seinem Kopf. Atlan trat mit einem Fuß auf den Rand des Netzes, zog einen Teil davon mit der linken Hand straff und schnitt mit dem Wurfmesser einen zirka vierzig Zentimeter langen Schlitz hinein. Im nächsten Augenblick
15 war er frei und sprang auf die Füße. Doch da hatte sich Razamon schon von hinten auf den Wächter gestürzt und ihm die Hände um den Hals gelegt. Er drückte einmal zu, und der Wächter ließ seine Waffe fallen und verdrehte die Augen. »Du kannst ihn wieder loslassen!« sagte Atlan. Der Hominide faßte sich an die Kehle und japste. Er glich weitgehend Kuashmo, trug aber eine lange Hose aus dunkelgrünem Kunststoff und eine Art Anorak, dessen Kapuze er über den Kopf gezogen hatte. Das Gesicht war mit roten und schwarzen Streifen bemalt. Atlan schob sein Messer hinter den Gürtel zurück. Er beschloß, zu bluffen. »Seit wann werden in der Burg Odiara Inspekteure überfallen?« fragte er streng. »Wie heißt du?« Der Wächter nahm die Hand von seiner Kehle, hustete hohl und erwiderte heiser: »Ich bin Kungorrat von der Gilde der Reliquiensammler. Verzeiht, aber ich konnte nicht wissen, daß Inspekteure angekommen sind.« »Wir sind schon seit zwei Tagen hier«, erklärte Atlan. »Wenn ihr Verbindung zu Kuashmo halten würdet, wüßtet ihr es.« Er musterte die Wände der Höhle. Sie waren sorgfältig glattgehauen und wiesen zahlreiche kleine Nischen auf, in denen unterschiedliche Gegenstände lagen: Porzellanscheiben, gläserne Stifte, kleine Felle und viele undefinierbare Dinge. Offenbar handelte es sich dabei um die »Reliquien«. »Wer bestimmt in eurer Gilde?« fragte er. »Wushwigha«, antwortete Kungorrat. »Führe uns zu ihm!« »Ich darf meinen Posten nicht verlassen«, jammerte Kungorrat. »Der Befehl eines Inspekteurs macht alle anderen Befehle hinfällig«, fuhr Razamon ihn an. »Vorwärts!« Aber bevor der Reliquiensammler sich in Bewegung setzen konnte, erscholl aus dem Gang, der auf der anderen Seite der Höhle zu sehen war, eine Serie von kurzen hellen
16
H. G. Ewers
Schreien. Kungorrat starrte in den Gang, dann wandte er sich Atlan zu und sah ihn entsetzt an. »Was bedeuten die Schreie?« fragte Atlan. »Die Erzklopfer!« stieß Kungorrat hervor. »Sie haben anscheinend eine Sammlergruppe entdeckt und jagen sie – und wahrscheinlich nähern sie sich unserer Wohnhöhle!« Atlan überlegte kurz. Er war nicht daran interessiert, sich in die Auseinandersetzungen zwischen zwei Gruppen von Langbeinern zu mischen, aber wenn er untätig blieb, würde Kungorrat an der Autorität der »Inspekteure« zweifeln. »Führe uns zu eurer Wohnhöhle!« befahl er.
* Atemlos von dem schnellen Lauf blieb Kungorrat vor dem Zugang zur Wohnhöhle der Reliquiensammler stehen. Auch Atlan und seine Gefährten hielten an. Die Wohnhöhle war ein natürlicher Hohlraum im massiven schwarzen Granit. Die Höhe betrug etwa dreißig Meter, die Länge sechzig und die Breite zwanzig Meter. An den Wänden hingen Lampen ähnlich der, die die Reliquienhöhle beleuchtete. Ihr Licht fiel auf zahlreiche Hominide, die wie Kungorrat gekleidet waren und ziellos durcheinander liefen. »Wo ist Wushwigha?« fragte Atlan. Kungorrat streckte den Arm aus und deutete mit zitterndem Finger auf einen bärtigen und sehr korpulenten Langbeiner, der mit wilden Handbewegungen Ordnung in das Durcheinander bringen wollte, aber bisher erfolglos geblieben war. »Melde uns an!« befahl Atlan. Kungorrat rannte los, stürzte auf Wushwigha zu und schrie auf ihn ein. Es dauerte eine Weile, bis er gehört wurde. Dann erklärte er und deutete auf die Besucher. Atlan nickte seinen Gefährten zu, dann betraten sie die Höhle und gingen auf Wush-
wigha zu. Die anderen Reliquiensammler blieben stehen und blickten sie überrascht an. »Ihr seid Inspekteure?« rief Wushwigha aufgeregt. »Du sagst es«, erwiderte Atlan. »Ruhe!« schrie er, als die übrigen Reliquiensammler durcheinanderreden wollten. »Von wo kommen die Erzklopfer, Wushwigha?« Wushwigha deutete auf das entgegengesetzte Ende der Höhle. »Sie werden uns alle umbringen oder einige von uns verschleppen«, jammerte er. »Vielleicht auch nicht«, erklärte der Arko-nide. »Wie sind sie bewaffnet?« »Sie haben Lichtbohrer, mit denen sie uns verbrennen können«, antwortete Wushwigha. »Außerdem werfen sie den Blitz.« Vom anderen Ende der Höhle hastete ein Reliquiensammler mit verzerrtem Gesicht heran. In der rechten Hand hielt er einen schweren Lederbeutel. Er reichte ihn Wushwigha. »Alles andere mußten wir zurücklassen!« stieß er keuchend hervor. »Die Erzklopfer werden bald hier sein. Sie haben wahrscheinlich Melpather und Ginzlopher ergriffen.« Bevor Wushwigha es tun konnte, hatte Atlan ihm den Beutel abgenommen. Er öffnete ihn und wühlte mit der Hand in zahllosen unterschiedlich großen Rohsmaragden und Aquamarin-Kristallen sowie Topasen und verschiedene Calciten. Als Wushwigha ihm den Beutel fortnehmen wollte, schlug er ihm auf die Finger. »Ich nehme an, die Kristalle sind den Erzklopfern gestohlen worden«, sagte er zornig. »Kein Wunder, daß sie auf Rache sinnen. Ich werde versuchen, zwischen ihnen und euch zu vermitteln. Lebo und Razamon! Nehmt euch Waffen! Wushwigha, du bleibst hier! Alle anderen Reliquiensammler verstecken sich!« Er deutete nach oben, wo zahlreiche Öffnungen in den Marmorwänden zu sehen waren. Razamon und Lebo Axton nahmen den nächsten Reliquiensammlern ihre Waffen
Burg der Geheimnisse weg: eine Art Morgenstern und einen Speer aus schwarzem Holz mit einer Spitze aus gehämmertem Gold. Die Reliquiensammler ließen sich nicht zweimal auffordern. Sie turnten an Leitern und Stricken die Höhlenwände hinauf und verschwanden in den Löchern, hinter denen sich wahrscheinlich kleine Höhlen befanden. Auch Wushwigha wollte sich davonmachen, aber Razamon packte ihn am Genick und sagte grimmig: »Das könnte dir so passen, Freundchen! Aber du wirst dich nicht vor deiner Verantwortung drücken!« Nach einigen Sekunden der Stille machte Atlan Bewegung auf der anderen Seite der Wohnhöhle aus. Dunkle Gestalten schlichen dort herum. »Hierher!« rief der Arkonide. »Hat euch Kuashmo nicht angekündigt, daß drei Inspekteure euch besuchen wollen, Erzklopfer?« Die dunklen Gestalten erstarrten, dann ertönte ein lauter Schrei – und sie setzten sich schlagartig in Bewegung und rannten zur Mitte der Wohnhöhle. Einige von ihnen schossen aus klobigen Geräten grell leuchtende Laserstrahlen gegen die Höhlenwände. »Halt!« rief Atlan. »Ich verbiete euch, zu kämpfen! Wer ist euer Anführer?« Die dunklen Gestalten, es waren ebenfalls Hominide, aber in dunkelbraunes oder schwarzes Leder gekleidet und mit Lederhelmen auf den Köpfen, an deren Vorderseiten Scheinwerfer befestigt waren, näherten sich langsamer. Viele von ihnen trugen die klobigen Laser, mit denen sie normalerweise wohl Sprenglöcher in die Felsen bohrten. In Gürtelschlaufen staken außerdem Meißel und Hämmer. Um die Hälse gehängt hatten sie Schnüre, an denen Päckchen aus Sprengmitteln hingen. Ein etwas kleinerer Erzklopfer, mit hellwachen Augen, unbewaffnet und mit einer Kette kleinerer Holowürfel um den Hals, trat vor und musterte Atlan. »Ich bin Konnitz, der Gangkenner«, erklärte er mit tiefer Stimme. »Wer bist du?«
17 »Ich bin Atlan, der Erste Inspekteur«, erwiderte der Arkonide. Er bückte sich und leerte den Inhalt des Lederbeutels auf den Boden. »Ist das euer Eigentum?« Die Augen Konnitz' funkelten zornig. »Es gehört uns«, stellte er fest. »Die Reliquiensammler haben es aus einem Gang gestohlen, den wir gerade erst eröffnet hatten. Dafür werden wir sie brennen.« »Hier wird nicht gebrannt!« erklärte Atlan. »Nehmt euer Eigentum zurück und geht in Frieden! Nur dann werden wir auf eine Meldung verzichten.« Die Erzklopfer murrten und starrten Atlan und seine Gefährten aggressiv an. »Die Reliquiensammler müssen bestraft werden«, sagte Konnitz. »Um deine Forderung nach Frieden erfüllen zu können, sind wir aber zu einem Kompromiß bereit. Wir verlangen die Auslieferung Wushwighas, um ihn stellvertretend für seine ganze Gilde bestrafen zu können.« Wushwigha keuchte vor Furcht und ging rückwärts. Aber Razamon und Lebo Axton stellten sich ihm in den Weg. »Wir dürfen niemanden auf Gedeih und Verderb ausliefern«, sagte Atlan zu seinen Gefährten. »Es verstieße gegen unsere ethischen Grundsätze.« »Entweder wir nehmen Wushwigha mit, oder wir brennen die Reliquiensammler aus ihren Löchern!« erklärte Konnitz. In einem der Höhlenlöcher tauchte der Kopf eines Reliquiensammlers auf. »Nehmt Wushwigha mit!« schrie er. »Nehmt Wushwigha mit!« erscholl es aus anderen Höhlenlöchern. »Verräter!« kreischte Wushwigha. Er zitterte am ganzen Leibe. »Du bist der Verräter!« rief ein anderer Reliquiensammler und stellte sich vor seinem Höhlenloch auf. »Du hast uns gezwungen, die Erzklopfer zu bestehlen – und du hast die Steine an dich genommen und gegen Traumkraut an die Türmer verkauft!« Zustimmende Rufe erschollen aus anderen Höhlen. »Wenn es so ist, nehme ich Wushwigha
18
H. G. Ewers
nicht in Schutz«, erklärte Atlan. Konnitz rief einen Befehl. Zwei seiner Leute sprangen vor, packten Wushwigha, fesselten ihm die Hände auf dem Rücken und führten ihn ab. Konnitz wandte sich Atlan zu und hob grüßend die Hand. »Melde, daß wir Erzklopfer den Frieden wahren, Atlan«, sagte er, dann wandte er sich um und verließ mit den anderen Erzklopfern die Wohnhöhle der Reliquiensammler. Die Reliquiensammler krochen aus ihren Höhlen, stiegen hinab und umringten Atlan, Razamon und Lebo Axton. Sie jubelten ihnen zu. Der, der die Beschuldigungen gegen Wushwigha vorgebracht hatte, stellte die Ruhe wieder her, dann wandte er sich an Atlan und sagte: »Melde, daß wir Reliquiensammler wieder unserer normalen Aufgabe nachgehen und niemals mehr den Frieden brechen werden, Atlan!« »Das werde ich tun«, erwiderte Atlan. »Wo leben eigentlich die Türmer?« wollte Razamon wissen. »Das läßt sich nur schwer erklären, denn der Weg dorthin ist kompliziert«, erklärte der Sprecher der Reliquiensammler. »Dann gib uns jemanden mit, der uns hinführt!« sagte der Pthorer. Atlan blickte ihn fragend an, und Razamon nickte lächelnd. »Kungorrat soll euch führen«, sagte der Sprecher.
* »Dort ist es«, sagte Kungorrat, nachdem er die drei »Inspekteure« über drei Stunden lang durch ein wahres Labyrinth von Höhlengängen und Korridoren geführt hatte. Atlan blickte in die angegebene Richtung und sah eine schmale Wendeltreppe, die vom Grund einer schachtförmigen Höhle nach oben führte. Flackerndes bläuliches Licht fiel von oben herab und spiegelte sich
in den blanken Teilen der Metalltreppe. »Warum kommst du nicht mit?« fragte Razamon. »Ich fürchte mich«, antwortete Kungorrat. »Die Türmer sind seltsame Wesen und leben in einer unheimlichen Atmosphäre.« »Wushwigha schien mit ihnen gut ausgekommen zu sein«, erwiderte Lebo Axton. »Wushwigha stand unter ihrem Bann«, erklärte der Reliquiensammler. »Er war nicht mehr er selbst.« »Dann geh zurück, Kungorrat«, meinte der Pthorer. »Und vielen Dank!« »Ich danke euch, Inspekteure!« rief Kungorrat und entfernte sich eilig. Atlan blickte Razamon an. »Du hoffst immer noch, daß die Türmer den Hauptturm bewohnen?« Der Pthorer nickte. »Und daß wir einen Weg in ihn gefunden haben, der nicht von Kuashmo bewacht wird.« Er eilte auf die Wendeltreppe zu und stieg ohne Zögern hinauf. Atlan und Axton folgten ihm. Als Atlan hinter Razamon durch das Loch stieg, durch das die Wendeltreppe führte, sah er als erstes große Warenballen, die ringsum aufgestapelt waren. Von oben verbreitete eine in einer Schale brennende blaue Flamme eine zuckende Helligkeit. Außerdem roch es nach verbrannten Kräutern. Atlan zog sein Messer und schlitzte eines der Warenbündel auf. Getrocknete und gepreßte Kräuter kamen zum Vorschein. Lebo Axton nahm etwas von den Kräutern zwischen zwei Finger und verrieb sie, dann roch er daran. »Ich würde nichts davon in der Pfeife rauchen«, meinte er. »Wahrscheinlich handelt es sich um eine Droge, die süchtig macht.« »Das erwähnte Traumkraut«, sagte Atlan. Razamon hob den Kopf und schnüffelte. »Dann sollten wir nicht lange hier bleiben, denn ich wette, daß der Rauch hier von verbranntem Traumkraut kommt.« Er wand sich zwischen den Ballen hindurch, gefolgt von Atlan und Axton. Wenig
Burg der Geheimnisse später standen die drei Männer in einer zirka fünfzehn Meter durchmessenden Halle, in deren Mitte eine breite, stabil aussehende Wendeltreppe nach oben führte. An fünf Stellen schwelten kleine Haufen getrockneter Kräuter und verbreiteten unangenehm süßlich schmeckenden Rauch. Etwa ein Dutzend hagerer, blaßgesichtiger Hominide hockte, in fadenscheinige Decken gehüllt, um die Schwelfeuer und wiegte den Oberkörper im Rhythmus eines leisen schwermütigen Gesanges. Keiner von ihnen blickte zu den Eindringlingen. »Die Türmer«, flüsterte Razamon. »Sie sind geistig weggetreten – und wir werden es auch bald sein, wenn wir nicht schnellstens verschwinden.« Er lief auf die Wendeltreppe zu und begann mit dem Aufstieg. Atlan und Axton musterten noch einige Sekunden lang die Türmer und bemerkten, daß sie alle mit Schmuckketten aus den verschiedensten Rohkristallen behangen waren. »Das müssen die Kristalle sein, die Wushwigha ihnen beschaffte«, meinte Lebo Axton. »Aber wir sollten wirklich nicht länger hier bleiben. Mir wird schon ganz anders.« Atlan nickte. Sie stiegen ebenfalls die Treppe hinauf, konnten den Pthorer aber erst ganz oben, auf der von einem niedrigen Geländer umgebenen Plattform des Turmes, einholen. »Es ist tatsächlich der Hauptturm!« sagte Atlan nach einem kurzen Rundblick. Razamon nickte und deutete mit ausgestrecktem Arm nach Westen. »Und das dort muß das Augenfeld sein!« Atlan blickte in die angegebene Richtung und sah in zirka achthundert Metern Entfernung westlich der Burg Odiara ein rundes, etwa vier Kilometer durchmessendes Tal, umgeben von steilen Felswänden, und nur zur Burg hin offen. In diesem Tal gab es eine achteckige Fläche, deren Kantenlänge einen Kilometer betragen mochte – und in dieser Fläche gab es zahlreiche Gebilde, die nur als künstliche Augen gedeutet werden konnten.
19 »Beim alten Quinto!« entfuhr es Lebo Axton. »Das ist ja gespenstisch!« Das ist es wirklich! dachte Atlan, während er die in achteckigen Rahmen installierten, zirka neun Meter durchmessenden Augen musterte. Sie ragten halbkugelförmig empor und waren kristallweiß. Am höchsten Punkt befand sich eine schwarze Kreisfläche: die Pupille. Blaue Linien um die Pupille stellten die Iris dar. Unwillkürlich fixierte Atlan eines der Augen, weil er erwartete, daß es blinzeln würde wie ein natürliches Auge. Doch diese Augen blinzelten nicht. Sie ragten starr aus ihren Rahmenfeldern und schienen genau in den Himmel zu schauen. »Sie sind tot«, sagte Razamon. »Meinst du tatsächlich, sie hätten jemals gelebt?« sagte Lebo Axton ironisch. »Es handelt sich doch um künstliche Gebilde.« »Zweifellos wurden sie konstruiert und installiert, damit sie etwas beobachteten«, erklärte der Pthorer. »Da sie wie organische Augen aussehen, müssen sie zumindest so ähnlich wie organische Augen funktioniert haben.« Atlan nickte. »Das können sie aber nicht, wenn sie verschmutzt sind, nicht wahr?« warf er ein. »Ob die milchige Schicht, die sie überzieht, Schmutz ist, weiß ich natürlich nicht«, erwiderte Razamon. »Auf jeden Fall muß sie die Funktion der Augen stark beeinträchtigen.« »Und das ist offenbar Kuashmos Problem«, meinte Atlan. »Ich wette sogar, daß das Augenfeld von Dorkh, das Pendant zum Wachen Auge von Pthor ist. Nur frage ich mich, warum Kuashmo davor zurückschreckt, uns als vermeintlichen Inspekteuren zu sagen, was mit dem Augenfeld los ist.« Ein Warnimpuls seines Extrasinns veranlaßte Atlan, sich umzudrehen. Er sah, daß Kuashmo hinter ihnen über die Wendeltreppe auf die Turmplattform gekommen war. »Fragen wir ihn selbst!« sagte er zu sei-
20
H. G. Ewers
nen Gefährten.
4. Kuashmo machte den Eindruck eines Menschen, der plötzlich feststellte, daß alle seine Hoffnungen zusammengebrochen waren. »Ich dachte, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis das Augenfeld wieder einwandfrei funktioniert«, erklärte er verzweifelt. »Es hatte sich doch auch früher immer wieder von selbst regeneriert. Statt dessen lieferte es immer schlechtere Bilder – und zuletzt bekam ich überhaupt nichts mehr auf die Kontrollschirme.« »Hast du nicht gesehen, daß die Augen verschmutzt sind?« fragte Atlan. »Ja, aber ich habe ja jede Nacht die Roboter hinausgeschickt und hoffte, es käme alles wieder in Ordnung«, sagte Kuashmo niedergeschlagen. »Was haben die Roboter damit zu tun?« fragte Razamon. »Was sollten sie denn unternehmen?« »Ich weiß es auch nicht genau!« jammerte Kuashmo. »Wie kann ich das denn wissen!« Seine Verzweiflung schlug in Trotz um. »Aber im SCHLOSS hat man sich die ganze lange Zeit auch nicht darum gekümmert!« rief er vorwurfsvoll. »Es schien so, als wollte man im SCHLOSS nichts mehr von den Daten wissen, die das Augenfeld früher beschaffte.« »Das SCHLOSS!« sagte Atlan. »Freunde, das ist der letzte Beweis dafür, daß Dorkh ebenso ein Dimensionsfahrstuhl ist wie. Pthor. Das SCHLOSS scheint unter normalen Umständen hier die gleiche Funktion zu erfüllen wie die FESTUNG dort.« »Aber die Umstände sind nicht mehr normal«, meinte Lebo Axton. »Offensichtlich erwartet Duuhl Larx von uns, daß wir sie wieder normalisieren und Dorkh wieder funktionsfähig machen.« »Das wäre Grund genug für uns, die Finger vom Augenfeld zu lassen«, sagte Atlan leise. »Ich kann mir zwar nicht denken, daß
es allein ausschlaggebend für das Funktionieren dieses Dimensionsfahrstuhls ist, aber wir müssen auch mit der Möglichkeit rechnen, daß der geringste Anstoß genügt, um Dorkh wieder in Schwung zu bringen.« »Woran wir wirklich nicht interessiert sind«, meinte Razamon. »Überhaupt möchte ich nicht warten, bis Duuhl Larx uns wieder abholen läßt«, sagte Atlan. »Mein Platz ist auf Pthor.« »Ohne ein raumtüchtiges Fahrzeug kommen wir niemals hin«, wandte Lebo Axton ein. »Aber falls es so etwas überhaupt auf Dorkh gibt, dann wahrscheinlich nur in diesem mysteriösen SCHLOSS.« »Ich weiß gar nicht, wovon ihr redet«, warf Kuashmo ein. »Das mußt du auch nicht wissen«, erklärte Atlan. »Sage uns nur, wie man zu dem SCHLOSS kommt! Wir haben in der Wüste die Orientierung verloren.« Kuashmos Miene verriet impulsive Ablehnung. »Ich weiß nicht, wie ihr zu dem SCHLOSS kommt«, erwiderte er. »Es heißt, daß es irgendwo im Osten liegt. Mehr weiß ich auch nicht.« »Das ist nicht viel«, meinte Lebo Axton. »Aber du gibst uns sicher ein Fahrzeug, so daß wir es nicht zu schwer haben werden, das SCHLOSS zu suchen und zu finden, nicht wahr, Kuashmo?« »Das ist unmöglich«, wehrte Kuashmo ab. »Ich darf erstens kein Fahrzeug herausgeben, und zweitens gibt es auf Burg Odiara nur die Flugschalen – und sie versagen, sobald sie einen engen Bereich um die Burg verlassen.« »Dann gehen wir eben zu Fuß!« stellte Razamon fest. Er blickte in Kuashmos Richtung, als der Langbeiner nicht sofort antwortete und sah, daß er verschwunden war. »Er hat sich aus dem Staub gemacht!« schrie er entrüstet. »Dann hat er wohl etwas dagegen, daß wir seine Burg verlassen«, erklärte Atlan und stürmte los, um Kuashmo einzuholen.
Burg der Geheimnisse Aber der Langbeiner raste die Wendeltreppe so schnell hinunter, daß Atlan nicht aufzuholen vermochte. Unten schrie er den Türmern etwas zu, worauf sie sich dem Arkoniden in den Weg stellten. Zwar griffen sie nicht an, aber Atlan brauchte Zeit, um die in seinem Weg stehenden Türmer wegzustoßen – und als er das Haupttor des Turmes erreichte, sah er, daß Kuashmo sich in den Schutz von etwa dreißig Robotern geflüchtet hatte, die sich auf dem Burghof versammelten. Atlan wartete, bis seine Freunde ihn eingeholt hatten, dann ging er mit ihnen zu Kuashmo und sagte: »Du wirst uns mit Vorräten und Waffen versorgen und das Tor für uns öffnen, Kuashmo!« Kuashmo sah ihn gar nicht mehr höflich, sondern ausgesprochen feindselig an. »Ich werde das alles gern tun, sobald ihr herausgefunden habt, wie sich das Augenfeld regenerieren läßt. Wenn die Herren vom SCHLOSS Kontrolleure nach Burg Odiara schicken, weil das Augenfeld nicht richtig funktioniert, dann verstehen diese Kontrolleure bestimmt mehr davon als ich. Es dürfte deshalb im Sinn der Herren vom SCHLOSS sein, daß ihr euch des Augenfelds annehmt.« »Wir werden wohl oder übel in den sauren Apfel beißen müssen«, meinte Lebo Axton. Atlan blinzelte in die tiefstehende Sonne. »Morgen inspizieren wir das Augenfeld«, teilte er Kuashmo mit. »Sorge dafür, daß wir bei Tagesanbruch eine Flugschale bekommen, mit der wir hinüberfliegen können!« Kuashmo verneigte sich tief. Sein Lächeln war wieder so zuvorkommend wie am Anfang. »Ich werde alles vorbereiten lassen, Atlan«, versprach er.
* Nachdem sie wieder eine ausgiebige Mahlzeit zu sich genommen hatten, beschlossen die drei Männer, sich noch etwas
21 in der Burg umzusehen. Sie mieden diesmal die Region, in der sie mit den Vogelspähern zusammengetroffen waren und hielten sich mehr nach rechts. Nachdem sie in einem spiralförmig verlaufenden Korridor zwei Stunden lang immer tiefer gegangen waren, erreichten sie eine riesige, aber ziemlich niedrige Halle. Starke weißgelbe Lampen waren an der Decke angebracht und beleuchteten einen gewaltigen Garten. Im Unterschied zu normalen Gärten standen die Pflanzen hier jedoch nicht in Erde, sondern wurzelten in lockerem Kies, der von Wasser umspült wurde. »Hydroponische Gärten!« sagte Lebo Axton bewundernd. »Mindestens dreißig Hektar!« Atlan musterte die Hominiden, die zwischen den niedrigen Vegetationsbecken herumgingen und aus großen Plastiktrommeln, die sie über den Schultern hängen hatten, ab und zu etwas in die Nährflüssigkeit warfen. »Es würde mich nicht wundern, wenn diese Leute zur Gilde der Gärtner gehörten«, meinte er. Axton nickte. »Jetzt wissen wir, woher die Früchte und Gemüse kommen, die Kuashmo uns auftischen ließ.« Sie gingen den Hauptweg zwischen den hydroponischen Gärten entlang und bewunderten die gesunden und reichlich tragenden Pflanzen. Die Gärtner, an denen sie vorbei kamen, musterten sie zwar, verhielten sich aber passiv. Atlan blieb bei einem der Gärtner lange genug stehen, um zu sehen, was er aus seiner »Botanisiertrommel« nahm und in die Nährflüssigkeit warf. Es handelte sich um fingerlange madenartige Würmer, die sich sofort zwischen den Kieseln der hydroponischen Becken verkrochen. Wenig später sah der Arkonide auch, was aus den Würmern wurde: schlangenartige Wasserbewohner, die sich wahrscheinlich von Wurzelparasiten ernährten und damit der Gesunderhaltung der Pflanzungen
22 dienten. Als sie die Halle in ihrer gesamten Länge durchquert hatten, blieben sie stehen und sahen sich an. »Wir hätten unterwegs viele Male eine Abzweigung nehmen können, die aus der Halle führt«, sagte Axton. »Aber es gefällt uns hier einfach zu gut.« »Es geht eben nichts über einen gepflegten Garten«, meinte Atlan. »Dazu noch die saubere Luft … Aber wir sind schließlich nicht hier, um uns zu erholen, obwohl das uns auch guttut.« Razamon deutete auf das offene Tor in der diesseitigen Abschlußwand der Halle. »Wir haben uns erholt«, erklärte er. »Gehen wir also wieder an die Arbeit!« Sie gingen durch das Tor und gerieten in ein Labyrinth von engen Korridoren und natürlichen Höhlungen. An manchen Stellen waren Stahlplatten in den Felsboden eingelassen, die wie Gullydeckel aussahen. Unter ihnen rauschte Wasser. Die Freunde überlegten bereits, ob sie umkehren sollten, als ihnen ein Hominide entgegenkam, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Auch er ähnelte weitgehend Kuashmo, aber er trug eine hellblaue Röhrenhose aus Leder, dazu kniehohe Schaftstiefel, ein hellbraunes Hemd und eine dunkelbraune Lederjacke, darüber einen breiten Gürtel mit zahlreichen Halterungen, in denen Instrumente staken. In den Händen hielt der Hominide eine Wünschelrute aus schwarzem Holz. Er sah nicht nach links oder rechts, sondern hatte den Blick auf den Boden geheftet und bewegte sich langsam vorwärts. »Ein Wünschelrutengänger!« entfuhr es Razamon. Der Hominide blieb stehen und sah zu den drei Männern. »Was sucht ihr hier?« fragte er verärgert. »Ihr stört mich bei der Arbeit.« »Das tut uns leid!« sagte Lebo Axton. »Wir werden auch gleich wieder verschwinden. Wir suchen nur nach einem Weg, wie
H. G. Ewers man aus dem Berg herauskommt.« »Da kann ich euch auch nicht helfen«, sagte der Wünschelrutengänger. »Ich habe zwar von zwei Quellen gehört, aus denen der Süße und der Bittere Fluß entspringen sollen, die beide in die Wüste Churrum fließen, aber gesehen habe ich sie noch nicht. Mein Gebiet ist hier oben, wo ich mit den Mitgliedern meiner Gilde nach Wasser für die hydroponischen Anlagen suche. Die alten Quellen versiegen nämlich nach und nach.« »Wir wünschen euch Erfolg«, sagte Atlan und deutete nach unten. »Aber es ist wahr, daß es zwei Flüsse gibt, die aus dem Berg hinaus fließen?« »Ja, aber sehr viel tiefer«, erklärte der Wünschelrutengänger. »Noch unter der Ebene der Grabsucher und wahrscheinlich im Gebiet der Fänger.« »Der Fänger?« fragte Lebo Axton ahnungsvoll. »Was fangen denn die Fänger?« »Früher fingen sie Tiere, die von draußen hereinkamen in den Berg, weil es dort viele Salzlager gibt. Heute sollen sie auch Leute fangen, die sich auf ihre Ebene verirren. Sie benutzen sie als Köder für die Giftechsen, deren Fleisch besonders schmackhaft ist.« »Danke für die Auskunft«, sagte Atlan. »Gehen wir tiefer?« fragte Razamon. Atlan schüttelte den Kopf. »Das würde zu spät werden. Ich denke, wir gehen wieder nach oben und ruhen noch ein wenig bis zum Morgen, damit wir frisch sind, wenn wir zum Augenfeld fliegen.«
* Am nächsten Morgen war Lebo Axton verschwunden, als Atlan und Razamon aufwachten. Doch bevor sie sich Sorgen um ihn machen konnten, tauchte er wieder auf. »Ich habe nur dafür gesorgt, daß Vinzenz uns mit einer Flugschale zum Augenfeld fliegt«, erklärte er. »Das Ekel Kuashmo wollte uns ursprünglich von einem Ding begleiten lassen, dessen Sprechapparat nicht
Burg der Geheimnisse mehr funktioniert. Vinzenz verriet es mir. Dadurch hätten wir natürlich kaum etwas erfahren.« »Ausgezeichnet!« lobte Atlan den ehemaligen USO-Spezialisten. Sie brachen auf, wurden oben von Kuashmo und Vinzenz empfangen und in die Flugschalengarage begleitet. Es waren noch fünf weitere Roboter dabei, die sich Kuashmo offenbar als Leibgarde zugelegt hatte. Nachdem sie mit Vinzenz eine Flugschale bestiegen hatten, aktivierte Kuashmo das Fahrzeug durch einen Kodeimpuls, den er mit seinem tragbaren Funkgerät ausstrahlte. Erst danach ließ es sich fliegen. Durch das Tor unter dem Dach, das sich automatisch öffnete, steuerte Vinzenz die Schale ins Freie und nahm Kurs auf das Hochtal mit dem Augenfeld. Dort angekommen, ließ Vinzenz die Flugschale langsam dicht über dem Augenfeld kreisen. Die drei Männer beugten sich über die Ränder des Fahrzeugs und blickten hinab. »Die milchige Schicht ist einfach Staub, der durch Regen und Tau zusammengebacken wurde«, sagte Razamon. »Es ist ganz klar, daß die Augen durch diese Schicht hindurch nichts sehen können.« »Ich frage mich, warum man die Augen nicht längst gesäubert hat«, meinte Atlan. »Vinzenz, kannst du auf einem der Stege landen, den die Rahmen der einzelnen Augen bilden?« »Selbstverständlich, Atlan«, erwiderte der Roboter. Kurz darauf setzte die Flugschale auf einem etwa meterbreiten Steg auf. Für die Augen der drei Männer ergab sich eine völlig neue Perspektive, denn die sie umgebenden, etwa viereinhalb Meter hohen Einzelaugen schlos-sen sie vollkommen von der Außenwelt ab. Atlan stieg aus dem Fahrzeug, ging auf dem Steg in die Hocke und wischte mit der Hand über die Randfläche eines Auges. Zu seiner Überraschung ließ sich die Schmutzschicht mühelos abwischen.
23 »Habt ihr das gesehen?« fragte Atlan seine Gefährten. Razamon schwang sich ebenfalls aus der Flugschale. Auch er wischte mit der Hand über die Randfläche eines Auges. »Dann begreife ich nicht, warum Kuashmo ein Problem daraus macht«, erklärte er. »Ich schon«, sagte Lebo Axton. »Eben habe ich überschlägig ausgerechnet, daß das Augenfeld aus zirka siebzigtausend Einzelaugen bestehen muß. Wenn wir drei das machen wollten, hätten wir nicht einmal die Hälfte geschafft, bis das erste Viertel wieder verschmutzt wäre. Es wäre eine Sisyphusarbeit.« »Und die Blechkerle lassen sich dabei nicht einsetzen«, erwiderte Atlan. »Sie würden mehr Schaden anrichten.« »Wir sind auch nicht dafür vorgesehen«, erklärte Vinzenz. »Dafür sind die Augenputzer da.« »Die Augenputzer!« rief Razamon. »Ist das wieder so eine Gilde? Und warum tun die Kerle nicht ihre Pflicht?« »Die Augenputzer sind Tiere«, sagte Vinzenz. »Ich kann sie euch zeigen, wenn ihr wieder einsteigt.« Atlan und Razamon stiegen wieder ein. Vinzenz steuerte die Flugschale ungefähr zwanzig Meter hoch und über einen kleinen quadratischen Raum zwischen vier Einzelaugen. Erst jetzt fiel es Atlan auf, daß es noch sehr viele dieser Zwischenräume gab. Er spähte nach unten und entdeckte in einer schmutzigen Grube mehrere kugelförmige Gebilde mit Durchmessern zwischen zehn Zentimetern und einem halben Meter. »Sie sehen aus wie zusammengerollte, überdimensionale Kellerasseln«, stellte er fest. »Das sind die Augenputzer«, erläuterte Vinzenz. »Sie rollen sich nur bei Tageslicht zusammen. Nachts laufen sie auf den Augen herum und fressen alle Ablagerungen auf. Jedenfalls haben sie das früher getan und sollten es heute auch noch tun. Aber sie bleiben auch nachts in ihren Gruben, obwohl Kuashmo uns in jeder Nacht losschickt, da-
24 mit wir die Augenputzer durch helles Scheinwerferlicht aufscheuchen.« »Habe ich richtig verstanden, daß die Augenputzer früher die Ablagerungen auffraßen, sich also davon ernährten?« fragte Axton. »Das ist richtig«, antwortete der Roboter. »Wovon ernähren sie sich dann, seit sie die Ablagerungen nicht mehr fressen?« fragte Axton. »Das weiß ich nicht«, erklärte Vinzenz. »Würdest du noch einmal auf einem Steg landen?« sagte Atlan. Der Roboter gehorchte. Atlan stieg abermals aus und begab sich zu der nächsten Grube. Obwohl er sich vor dem Schmutz und Unrat ekelte, der den Boden der Grube bedeckte, holte er ein Seil aus der Flugschale und ließ sich von Razamon in die Grube abseilen. Insgesamt sieben jener »Riesenasseln« befanden sich dort, aber zwei davon waren tot, wie der Arkonide schnell feststellte. Ihre Körper waren halbverwest, und fünf kleine Exemplare kletterten auf ihnen herum und ernährten sich offensichtlich von der faulenden Biomasse. Atlan ließ sich wieder aus der Grube herausziehen. »Die Lebenden ernähren sich von den Toten«, sagte er. »Aber das ist natürlich keine befriedigende Erklärung dafür, daß die Augenputzer irgendwann ihre Arbeit einstellten. Das kann nur auf äußere Einflüsse zurückzuführen sein. Etwas muß die Lebensgewohnheiten der Tiere einschneidend verändert haben.« Er ließ sich in weitere Gruben abseilen und fand überall ähnliche Zustände vor. Allmählich bildete sich ein Verdacht bei ihm heraus. Dieser Verdacht verstärkte sich, als er Paarungsvorgänge und einmal sogar die Geburt von drei Jungen beobachtete. Er sah, daß das Muttertier gleich nach der Geburt in einen Dämmerzustand fiel und wenig später starb. Im Verlauf der nächsten halben Stunde starb auch das Vatertier. Die drei Jungen
H. G. Ewers waren auf sich angewiesen, aber sie litten deshalb keine Not, sondern fraßen die Abfälle, die in der Grube herumlagen. Atlan war sicher, daß sie sich auch über ihre Eltern hermachen würden, sobald ihr Fleisch durch den Fäulnisprozeß weich genug geworden war, daß sie mit ihren schwachen Beißwerkzeugen Stücke davon abreißen konnten. Der Arkonide kehrte in die Flugschale zurück. »Ich werde versuchen, eine logische Erklärung für das Versagen der Augenputzer zu finden«, sagte er. »Am Anfang der verhängnisvollen Entwicklung muß ein Überangebot von Nahrung in den Gruben gestanden haben. Vielleicht fiel irgendwann soviel Staub vom Himmel, daß die Augenputzer sich von dem ernähren konnten, der in ihren Gruben landete. Dadurch brauchten sie nicht auf die Augen zu klettern, was sicher beschwerlich für diese Tiere gewesen ist. Sie konnten sich von dem in ihre Gruben gefallenen Staub ernähren, bis sie Nachkommen zeugten. Die Beobachtungen, die ich anstellte, scheinen darauf hinzudeuten, daß die Augenputzer sich nur einmal fortpflanzen können, weil sie bald nach der Geburt ihrer Jungen sterben. Die halbverdauten Ausscheidungen, die sie hinterließen, sowie ihre verwesenden Körper versorgten die Jungen so reichlich mit Nahrung, daß auch sie nicht mehr auf die Augen kletterten, sondern in den Gruben blieben. Das reichliche Nahrungsangebot in den Gruben muß dann zu einer Vorverlegung der Geschlechtsreife geführt haben. Dadurch wurde ein unheilvoller Kreislauf in Gang gesetzt. Reichliche, eiweißreiche Nahrung führte zu früher Geschlechtsreife und entsprechend früher Fortpflanzung. Die Tiere paarten sich und bekamen Nachwuchs, bevor sie ihre normale Körpergröße erreichten. Entsprechend mußten die Jungen kleiner als normal geboren worden sein. Da sie infolge des frühen Todes ihrer Eltern und ihrer Kleinheit stets ein überreiches Nahrungsangebot vorfanden, wurden sie von
Burg der Geheimnisse Generation zu Generation immer früher geschlechtsreif und pflanzten sich immer früher fort. In einigen Gruben habe ich gesehen, daß sich die Augenputzer bereits paarten, wenn sie nur ein Fünftel der Körpergröße jener Erwachsenen erreicht hatten, die ich als größte Exemplare sah. Das ist dann der Zeitpunkt, an dem die Entwicklung ohne Hilfe von außen nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, denn die Augenputzer der jüngsten Generationen pflanzen sich bereits fort und sterben, bevor sie eine Größe erreicht haben, die es ihnen erlauben würde, über die hohen Mauern zu den Augen zu klettern.« Eine Weile sagte niemand etwas, dann meinte Razamon: »Dann werden früher oder später Junge geboren werden, die die Geschlechtsreife überhaupt nicht mehr erreichen, sondern vorher sterben. Das bedeutet dann das Aussterben der Art.« »Kann man dagegen etwas unternehmen?« fragte Lebo Axton. Atlan zuckte die Schultern. »Ich denke schon. Aber das wird davon abhängen, ob wir Kuashmo begreiflich machen können, was mit den Augenputzern geschehen ist. Außerdem müßte er mir noch einige Fragen beantworten.« »Du willst also wirklich, daß wir ihm helfen?« fragte Razamon erstaunt. Atlan lächelte. »Wenn wir ihm helfen, sieht es so aus, als würden wir dadurch indirekt Duuhl Larx helfen, nicht wahr! Aber in der Schwarzen Galaxis sind die Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen entartet, so daß etwas, das in einer normalen Galaxis günstig für Duuhl Larx sein würde, hier das Gegenteil bewirken könnte. Außerdem wollen wir zum SCHLOSS, und ich bin sicher, daß dort nur besonders Ausgewählte Zutritt haben. Eine ›gute Tat‹ könnte sich eventuell als Eintrittskarte erweisen.« »Und dazu führen, daß die Herren vom SCHLOSS uns falsch einschätzen«, bemerkte Lebo Axton dazu. »Vinzenz, bringe uns
25 zu Kuashmo zurück!«
5. Kuashmo hörte sich den Bericht Atlans interessiert an, dann sagte er: »Einige der von dir erwähnten Fakten waren mir bereits bekannt, aber ich vermochte die von dir dargelegten Zusammenhänge nicht zu erkennen. Bist du sicher, daß deine Schlüsse richtig sind, Atlan?« »Ziemlich sicher«, erwiderte der Arkonide. »Ich brauche nur noch eine Auskunft von dir, als letzten Beweis sozusagen. Irgendwann muß sehr viel mehr Staub als normal vom Himmel gefallen sein. Wann war das? Ich meine, gibt es ein anderes Ereignis, das ungefähr zur gleichen Zeit beziehungsweise kurz vorher stattfand?« Kuashmo dachte angestrengt nach, dann meinte er: »Es muß ungefähr zwei Tage vor dem Zeitpunkt gewesen sein, an dem der weiße Staub herniederregnete, da beobachtete ich auf den Kontrollschirmen ein vom Augenfeld registriertes Ereignis. Die Stadt Tirn wurde durch den Götterblitz zerstört. Damals stieg eine gewaltige pilzförmige Wolke bis über den Himmel hinaus.« Atlan sah seine Gefährten bedeutungsvoll an. »Das ist es, was ich ahnte. Zweifellos wurde Tirn durch eine Atomexplosion zerstört. Dafür spricht auch der Zustand, in dem wir ihre Überreste antrafen. Der Staub, der zwei Tage später auf die Burg und auf das Augenfeld fiel, war radioaktiver Niederschlag von dieser Explosion. Die Augenputzer, die davon fraßen, erkrankten unheilbar. Bei denjenigen Tieren, die noch nicht geschlechtsreif waren, bewirkte die Strahlenkrankheit eine vorzeitige Reife und Fortpflanzung. Ähnliche Beispiele für den Versuch der Natur, eine bedrohte Art zu erhalten, hat es auch auf vielen anderen Welten gegeben.« »Du meinst, der radioaktive Niederschlag leitete den verhängnisvollen Kreislauf ein?«
26 fragte Razamon. »Nur so kann es gewesen sein«, erwiderte Atlan. »Das Überangebot an Staub allein genügte nicht. Frühreife und vorzeitiges Absterben der Elterntiere waren die Folge der Strahlenerkrankung – jedenfalls am Anfang.« »Ich begreife nicht ganz, was du meinst, Atlan«, sagte Kuashmo. »Vor allem erkenne ich nicht, wie deine Erkenntnisse dabei helfen könnten, das Augenfeld wieder funktionsfähig zu machen.« »Das ist doch ganz einfach«, erklärte der Arkonide. »Der Kreislauf muß nur unterbrochen werden. Lasse von deinen Robotern mindestens zwanzigtausend gesunde, noch nicht geschlechtsreife Augenputzer aus den Gruben holen. Sie müssen in leeren Räumen der Burg, von denen es bestimmt mehr als genug gibt, sicher verwahrt werden und dürfen nur ein Minimum an Nahrung erhalten. Anschließend müssen alle Putzergruben von deinen Robotern gereinigt werden. In ihnen darf nichts zurückbleiben, was den Putzern als Nahrung dienen könnte. Wenn danach die geborgenen Augenputzer in die leeren Gruben gesetzt werden, bleibt ihnen nichts weiter übrig, als auf die Augen zu klettern und den Belag abzuweiden.« Kuashmo blickte Atlan aus großen Augen an. »Das ist ein sehr guter Plan!« rief er entzückt. »So werde ich es machen!« »Na, fein«, sagte Razamon. »Dann brauchst du uns ja nicht mehr und kannst uns gehen lassen.« Kuashmo starrte ihn verblüfft an. »Aber ihr werdet doch nicht gehen wollen, ohne den Erfolg von Atlans Plan gesehen zu haben! Außerdem wäre es doch auch möglich, daß der Erfolg sich nicht wie erhofft einstellt. Was sollte ich dann tun ohne eure Hilfe!« »Wir sollen deine ›Gastfreundschaft‹ also noch einige Zeit genießen«, meinte Lebo Axton verdrießlich. »Ich werde euch alle Wünsche erfüllen«, versicherte Kuashmo. »Und ich werde euch
H. G. Ewers belohnen, wenn das Augenfeld durch eure Hilfe wieder funktionsfähig wird.« »Dann werden wir wohl bleiben müssen, denn auf die Belohnung sind wir gespannt«, erwiderte Atlan ironisch.
* Kuashmo machte sich mit Feuereifer an die Arbeit. Er setzte alle seine Roboter – bis auf seine Leibgarde – ein, um gesunde, noch nicht fortpflanzungsfähige Augenputzer einsammeln zu lassen. Diese Tiere wurden anschließend in schnell hergerichteten Einzelzellen in der Burg untergebracht. Atlan, Razamon und Lebo Axton verfolgten die Aktionen der Roboter von der obersten Plattform des Hauptturmes aus. Die Bergung der gesunden Augenputzer verlief noch einigermaßen zügig. Doch als die Roboter anschließend darangingen, die Gruben von Unrat sowie toten und sterbenden Putzern zu säubern, kamen sie nur quälend langsam voran. Für solche Arbeiten waren sie einfach zu plump. »Es kann vier Wochen dauern, bis genügend Gruben gereinigt sind und die ersten Putzer darin ausgesetzt werden können«, meinte Lebo Axton. »Wollen wir wirklich so lange warten?« »Ich bin dagegen!« sagte Razamon zornig. »Wir werden versuchen, die Quellen des Süßen und des Bitteren Flusses zu finden«, erklärte Atlan. »Da wir dabei die Ebene der Fänger durchqueren müssen, brauchen wir mehr Waffen.« Der Speer und der Morgenstern waren nachts aus ihrer Unterkunft verschwunden. »Außerdem brauchen wir mindestens einen Handscheinwerfer, ein langes Seil sowie Trinkwasser und Proviant.« »Wir werden kommende Nacht alles zusammensuchen«, erwiderte Razamon eifrig. »Es wäre doch gelacht, wenn wir es nicht schaffen würden.« Sie blieben den ganzen Tag über auf der obersten Plattform des Hauptturmes und sahen den Robotern auf dem Augenfeld zu.
Burg der Geheimnisse Einmal tauchten drei Roboter bei ihnen auf und brachten Lebensmittel und Getränke. Atlan hielt es für ein gutes Zeichen, daß Kuashmo sie weiterhin so gastfreundlich versorgte. Sie merkten erst am Abend, daß sie sich getäuscht hatten. Als sie den Turm verlassen wollten, versperrten ihnen auf halber Höhe fünf Roboter den Weg. Zwar waren die Maschinenwesen unbewaffnet, aber da sie die Wendeltreppe stur blockierten, vermochten die drei Männer nichts gegen sie auszurichten. Niedergeschlagen kehrten sie auf die oberste Plattform zurück. »Kuashmo traut uns offenbar nicht mehr«, sagte Razamon verbittert. »Er will sichergehen, daß wir verfügbar sind, falls bei der Durchführung des Planes Pannen auftreten«, erklärte Lebo Axton. »Kannst du nicht versuchen, Vinzenz zu erreichen?« fragte Atlan ihn. »Er hört doch auf dich und könnte uns vielleicht helfen.« Axton dachte nach, dann lächelte er. »Sicher fliegt er nachts mit den anderen zum Augenfeld. Wenn es dunkel ist, können wir uns bemerkbar machen. Aber dazu brauchen wir etwas. Wartet hier auf mich!« Er eilte die Wendeltreppe hinunter, bevor seine Gefährten ihm Fragen stellen konnten. Eine halbe Stunde später kehrte er zurück, einen Ballen getrockneter Kräuter auf dem Rücken und in der Hand einen glimmenden Stock. Inzwischen war es dunkel geworden. »Unsere Bewacher haben mir geglaubt, daß wir den Rauch der Kräuter einatmen müssen, um gesund zu bleiben«, berichtete er. »Sie ließen mich zwar nicht selbst zu den Türmern gehen, aber sie besorgten mir das hier.« Er ließ den Ballen fallen, riß ihn auf und schob vorsichtig den glimmenden Stock hinein. Nachdem er kräftig geblasen hatte, schlugen Flämmchen aus den Kräutern. Er riß die zusammengepreßten Kräuter über den Flämmchen auseinander, so daß ausreichend Luft hindurchströmte. Wenig später loderten helle Flammen aus dem Ballen, angefacht von dem Nachtwind,
27 der durchs Gebirge wehte. Die drei Männer verzogen sich auf die Seite, von der der Wind blies, damit sie nicht den benebelnden Rauch einatmen mußten. Immer wieder blickten sie in die Nacht und zu den hellen Lichtern, die zwischen der Burg und dem Augenfeld hin und her flogen. Doch keine der Flugschalen änderte den Kurs und kam zu ihnen. Sie hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, da tauchte über ihnen die dunkle Masse einer Flugschale auf. Sie war unbeleuchtet, deshalb hatten sie sie erst so spät entdeckt. Die Flugschale landete, und der Roboter darin sagte: »Ich bin Vinzenz. Euer Feuer muß etwas zu bedeuten haben, deshalb bin ich gekommen. Vorsichtshalber ließ ich meinen Scheinwerfer desaktiviert, damit Kuashmo mich nicht sehen konnte.« »Das war sehr klug von dir, Vinzenz«, lobte Lebo Axton ihn. »Kuashmo läßt uns von anderen Dienern im Turm festhalten. Aber wir können nicht so lange warten, wie Kuashmo das möchte, denn wir haben noch andere Aufgaben zu erfüllen. Du mußt uns helfen.« »Ich werde euch helfen, denn du hast mich zu deinem persönlichen Diener umprogrammiert, Lebo«, erklärte der Roboter. »Doch du mußt mir sagen, wie ich euch helfen kann.« »Das ist ganz einfach«, erklärte Razamon. »Du bringst uns mit deiner Flugschale vom Turm und läßt uns vor dem Gebäude aussteigen, in dem sich der Speisesaal befindet!« »Ohne Proviant, Wasser und Waffen?« fragte Lebo Axton. »Als ob wir noch Zeit hätten, uns das besorgen zu lassen!« entgegnete der Pthorer ärgerlich. »Unter uns wachen fünf Roboter.« »Sie verhalten sich passiv«, warf Atlan ein. »Es besteht für uns also kein Grund, übereilt zu handeln. Vinzenz, kannst du uns Proviant und Wasser sowie Waffen und Handscheinwerfer besorgen – und natürlich
28
H. G. Ewers
etwas, in dem wir Wasser und Proviant transportieren?« »Und ein Seil?« fragte Axton. »Ich werde es versuchen«, erwiderte Vinzenz. »Allerdings gibt es in dem Teil der Burg, der mir zugänglich ist, keine Waffen – außer denen, die Kuashmo unter Verschluß hält. An sie komme ich jedoch nicht heran.« »Notfalls können wir Waffen von den Vogelspähern oder einer anderen Gilde erbeuten«, schlug Razamon vor. Lebo Axton nickte. »Also, gut. Du brauchst also nicht unbedingt auch Waffen zu besorgen, Vinzenz. Aber alles andere brauchen wir unbedingt.« »Ja, Meister«, erwiderte der Roboter. Er startete seine Flugschale wieder und verschwand in der Nacht.
* Diese Nacht und den ganzen folgenden Tag ließ sich Vinzenz nicht blicken. Dafür erschien Kuashmo in Begleitung dreier Roboter auf der Turmplattform und erkundigte sich danach, wie es seinen »Gästen« ginge. Razamon wäre ihm am liebsten an die Kehle gefahren. Atlan bemerkte es noch rechtzeitig und legte ihm warnend die Hand auf den Unterarm. »Uns geht es gut«, erwiderte er. »Wir sehen, daß die Roboter Fortschritte beim Augenfeld machen. Wie geht es den geborgenen Augenputzern?« »Es hat einige Todesfälle gegeben, aber die betreffenden Tiere waren offenbar bereits krank gewesen«, berichtete Kuashmo. »Die meisten Augenputzer scheinen jedoch durchzukommen.« »Das freut mich«, sagte Lebo Axton. »Allerdings verstehe ich nicht, warum du uns daran hinderst, den Hauptturm zu verlassen. Wir würden lieber in unseren Unterkünften schlafen, anstatt auf der harten und zugigen Plattform.« »Das leuchtet mir ein«, meinte Kuashmo. »Ich werde dafür sorgen, daß eine sichere Unterkunft in einem Nebenturm für euch
vorbereitet wird. Das können die fünf Diener erledigen, die weiter unten warten. Dafür lasse ich euch diese drei Diener hier.« »Das hast du davon!« schimpfte Razamon auf Interkosmo, nachdem Kuashmo gegangen war. »Jetzt haben wir drei Wächter direkt auf dem Hals.« »Es wäre besser gewesen, zu schweigen«, stimmte Atlan ihm zu. »Aber was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen versuchen, die drei Diener über die Brüstung zu stürzen, sobald Vinzenz hier auftaucht. Da sie sehr unbeholfen sind, werden sie nicht schnell genug reagieren, wenn immer zwei von uns einen an den Beinen packen und hochhebeln.« Lebo Axton rieb sich die Hände. »Es wird mir Spaß machen, sie zu Schrott zu verarbeiten!« stieß er grimmig hervor. Der alte Roboterhaß bricht durch! warnte Atlans Extrasinn. Paß auf, daß er nicht außer Kontrolle gerät, sonst zerstört er womöglich auch Vinzenz! Atlan nahm sich vor, Lebo Axton im entscheidenden Moment scharf im Auge zu behalten. Zwar hatte sich Sinclair Marout Kennons Gehirn in seiner Vollprothese trotz seines Robotertraumas stets beherrschen können, wenn es die Durchführung einer USOMission erforderte, aber das Bewußtsein Kennons befand sich weder in seinem ursprünglichen, verkrüppelten Körper noch in einer Vollprothese, sondern im Körper Grizzards. Es hatte nicht nur sehr viel durchgemacht, sondern war durch die unvermeidliche Rückkopplung mit Grizzards Körperchemie verändert worden. Folglich ließen sich seine Reaktionen nicht mehr präzise vorhersagen. Doch der Augenblick der Entscheidung ließ noch lange auf sich warten. Nicht so lange auf sich warten ließ dagegen Kuashmo. Er tauchte kurz nach Einbruch der Dunkelheit auf der Turmplattform auf und teilte seinen »Gästen« mit, daß sie ihre neue Unterkunft beziehen könnten. Aus seinem Tonfall hörte Atlan heraus, daß die neue Unterkunft noch ausbruchssi-
Burg der Geheimnisse cherer sein mußte als der Hauptturm. Der Arkonide traf seine Entscheidung entsprechend schnell und kompromißlos. Durch Handzeichen gab er Razamon und Axton zu verstehen, daß sie sich der drei Roboter annehmen sollten. Razamon und Axton handelten, als hätten sie das stundenlang geübt. Der erste Roboter befand sich bereits auf dem langen Weg zum Innenhof, da hatten weder Kuashmo noch die beiden anderen Roboter etwas davon bemerkt. Erst, als die beiden Männer den zweiten Roboter über die Brüstung hebelten, wurden der dritte Roboter und Kuashmo aufmerksam. Kuashmo blieb jedoch friedlich, denn Atlan hielt ihm die Spitze seines Wurfmessers an die Kehle. Der dritte Roboter dagegen versuchte zwar, sich zu wehren, aber er verlor das Gleichgewicht, als er beide Arme gleichzeitig hob. Razamon und Axton brauchten seinen Sturz nur in die richtige Richtung abzulenken – und wenig später zerschellte auch er klirrend auf dem Marmorboden des Burghofs. »Was … was soll das?« stammelte Kuashmo. »Frage nicht so dämlich!« fuhr Razamon ihn an. »Wir haben es schon lange satt, durch dich bevormundet zu werden!« Er nahm Kuashmo den Lederkilt ab und riß ihn in Streifen, mit denen er ihn so gründlich fesselte und knebelte, daß er sich niemals selbst befreien noch um Hilfe rufen konnte. Wenig später tauchte eine unbeleuchtete Flugschale auf. Rasch drehte Atlan Kuashmo mit dem Gesicht zu Boden, dann stieg er mit seinen Gefährten in das Fahrzeug. »Starten!« befahl Lebo Axton. Der Roboter in der Flugschale gehorchte und startete. Die Flugschale beschrieb einen halben Kreis über dem Burghof, dann senkte sie sich neben dem Gebäude mit dem »Rittersaal« auf den Boden. »Hast du alles besorgt, Vinzenz?« flüsterte Axton.
29 »Ich bin nicht Vinzenz«, erwiderte der Roboter. »Aber Vinzenz hat mich umprogrammiert und zu euch geschickt. Er wurde von Dienern Kuashmos so scharf überwacht, daß er die Sachen nicht in der Flugschale verstauen konnte. Sie liegen in einem Versteck, und er wartet dort auf euch.« »Er ist wirklich ein Schatz«, sagte Axton. »Du führst uns zu dem Versteck?« »Ich führe euch«, erklärte der Roboter. Er brachte die drei Männer in das Gebäude und führte sie dann eine Weile durch vertrautes Terrain, bis sie in eine Art Thronsaal kamen, in dem unter anderem Regale mit verstaubten Büchern standen. Der Roboter setzte sich auf einen thronartigen Sessel und berührte mehrere Ornamente auf den Armlehnen. Plötzlich schwang der Sessel mit einem Stück des Podests, auf dem er stand, zur Seite. Eine viereckige Öffnung wurde sichtbar, unter der eine schmale Wendeltreppe in die Tiefe führte. »Geht hinunter!« sagte der Roboter. »Du gehst voran!« befahl Lebo Axton mißtrauisch. »Ich werde zurückgehen und mit meiner Flugschale im Gebirge abstürzen«, erklärte der Roboter, erhob sich und wankte stampfend und klirrend davon. Axton sah sich mit haßverzerrtem Gesicht nach einem Gegenstand um, den er dem Roboter über den Schädel schlagen konnte, aber Atlan hielt ihn fest und sagte: »Man kann das Mißtrauen auch übertreiben, Lebo. Vinzenz hat diesem Roboter gesagt, wie er sich verhalten soll – und Vinzenz kannst du vertrauen. Er möchte nur, daß für Kuashmo eine falsche Spur gelegt wird, damit er uns seine Diener nicht hinterher schickt.« Axton seufzte schwer, dann lächelte er verzerrt. »Alles klar, Lordadmiral«, sagte er. »Du weißt warum …?« »Natürlich, Sinclair«, erwiderte der Arkonide mitfühlend. »Ich kenne mich mit den Schicksalen und Traumata Tausender von USO-Spezialisten aus, die viele Male durch
30 die Hölle gingen und jedesmal neue Wunden empfingen – körperliche wie seelische. Alle diese Wunden brennen auch in mir.« »Entschuldige, Atlan«, sagte Lebo Axton. »Ich weiß, daß dir jedes Schicksal deiner Mitarbeiter tief unter die Haut geht und du mit ihnen leidest. Es ist anmaßend von mir, wenn ich immer wieder nur auf meinem Trauma herumreite.« »Und es ist dumm, wenn du dich selbst zerfleischst«, erklärte Atlan und stieß Axton freundschaftlich auf die Geheimtür zu. Axton stolperte auf die Öffnung zu, dann fing er sich, drehte sich um und grinste, bevor er die Wendeltreppe hinabstieg. Wenige Minuten später trafen sie mit Vinzenz zusammen und freuten sich über die Dinge, die er besorgt hatte: drei kleine, grellweiß strahlende Handscheinwerfer, wie die Roboter sie benutzten, sowie Ersatzbatterien, Feuerstein und Zunder, zwei Messer, ein langes Seil, drei Pakete mit Dörrfleisch und Dauerbrot, sowie andere Eßwaren und drei gefüllte Wasserbeutel aus Leder. Dazu Tücher und Bänder, damit der Proviant und die Wasserbeutel zu drei Packen verschnürt und auf dem Rücken getragen werden konnten. Lebo Axton war so begeistert, daß er den Roboter umarmte und auf den Schädel küßte. »Du bist ein wirklicher Freund, Vinzenz!« beteuerte er. »Ich bin nur ein Roboter, Meister«, widersprach Vinzenz. »Und ich gehorche dem Programm, das du mir eingegeben hast.« Ernüchtert ließ Axton von ihm ab. »Immerhin hast du nicht nur blind gehorcht, sondern sogar Eigeninitiative entwickelt«, erklärte er. »Ich danke dir jedenfalls.« »Wir alle sind dir dankbar, Vinzenz«, erklärte Atlan. »Willst du uns nicht begleiten, mein Freund?« »Ich habe eure positiven Emotionsäußerungen mir gegenüber registriert«, sagte Vinzenz und ließ dadurch erkennen, daß er keiner Gefühle mächtig war, sondern tat-
H. G. Ewers sächlich nur gemäß seiner Programmierung durch Axton gehandelt hatte. »Wenn mein Meister mir befiehlt, euch zu begleiten, gehorche ich selbstverständlich. Ursprünglich beabsichtigte ich allerdings, zurückzubleiben und einzugreifen, falls Kuashmo euch eine Robotertruppe nachschicken sollte. Ich könnte mich ihr anschließen und sie irreführen.« »Das klingt gut, obwohl du uns als Führer zu den beiden Quellen sicher auch nützlich gewesen wärst«, sagte Lebo Axton. »Wohl kaum, denn ich kenne den Weg nicht«, erwiderte Vinzenz. »Aber ich weiß, wo ein Weiser wohnt, der euch den Weg zeigen kann. Es handelt sich um Dhosh von der Gilde der Grabsucher. Er wurde vor langer Zeit aus seiner Gilde ausgestoßen und lebt seitdem in einem Versteck bei den Gärten. Die Gärtner versorgen ihn mit allem, was er zum Leben braucht, denn sie achten seine Weisheit.« »Den Weg zu den Gärten kennen wir«, sagte Razamon. »Laßt uns also keine Zeit verlieren!« Vinzenz wartete, bis die drei Männer verschwunden waren, dann trat er den Rückweg an.
6. »Dhosh?« wiederholte der Gärtner und musterte die drei Männer, dann schob er seinen Strohhut zurück. »Dhosh, der Weise?« Atlan hatte den Eindruck, als schwänge so etwas wie gutmütiger Spott in der Stimme des Hominiden mit. »Richtig«, erwiderte Lebo Axton ungeduldig. »Wir wissen von einem Freund, daß Dhosh bei euch lebt.« Er bezwang seine Ungeduld. »Würdest du so freundlich sein und uns zu ihm führen?« »Warum nicht?« sagte der Gärtner. »Laßt mich nur erst die letzten Zigools aussetzen.« Er fuhr fort, aus seiner »Botanisiertrommel« fingerlange, madenartige Würmer zu holen und in die Nährflüssigkeit eines hydroponischen Beckens zu
Burg der Geheimnisse streuen. »Die Zigools sind sehr wichtig für die Gesundheit unserer Kulturen«, erklärte er dabei. »Sie sorgen dafür, daß die Wurzelschmarotzer nicht überhand nehmen. Außerdem erzeugen sie in ihren Därmen ein Enzym, das mit ihren Ausscheidungen in die Nährflüssigkeit gerät und von den Pflanzen aufgenommen und als Katalysator für die Bildung von Proteinen aus Zucker genutzt wird.« Razamons Augen funkelten zornig. Atlan sah, daß der Pthorer vor Ungeduld den Gärtner am liebsten am Genick gepackt und gezwungen hätte, sie sofort zu Dhosh zu führen. Er blickte ihn vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf. Schließlich kam es wirklich nicht auf eine Stunde mehr oder weniger an. Ständig schwatzend erreichte der Gärtner eine Sektion, in der vier andere Gärtner damit beschäftigt waren, erntefrisches Gemüse in den Einfülltrichter einer Maschine zu schaufeln. »Früher war es nicht nötig, Gartenerzeugnisse bester Qualität in die Kompostiermaschinen zu werfen«, erklärte der Gärtner. »Aber seitdem jede Gilde in der Burg ihre eigenen, egoistischen, Ziele verfolgt, hat der Wächter ihre Versorgung eingestellt.« »Kuashmo?« fragte Lebo Axton. Der Gärtner blickte ihn leicht verwundert an. »Wer sonst! Jedenfalls nimmt der Wächter uns nur noch ein Zehntel der Ernten ab. Alles andere wird zu Kompost verarbeitet, soweit wir es nicht selbst verbrauchen oder an Bedürftige verteilen können. Es ist ein Wunder, daß die Gilden ihre eigenen hydroponischen Gärten bebauen, anstatt uns zu bestehlen.« Er verschloß seine »Botanisiertrommel« und ging an der Kompostiermaschine vorbei und in einen niedrigen Gang hinein. Die Wände wiesen mehrere vergitterte Öffnungen auf – und hinter ihnen erblickten die drei Männer schäferhundgroße sechsbeinige
31 Tiere, die mit kurzen Rüsseln schmatzend Gemüsebrei aus Trögen fraßen. Vor der letzten vergitterten Öffnung blieb der Gärtner stehen, schob einen Riegel zurück und deutete in den dahinterliegenden Stall. Atlan blickte hinein – und blinzelte verblüfft, als er auf einer Schütte aus verschmutzten Stroh einen alten bärtigen Hominiden sah, der in uralte Fetzen gekleidet war und einen mageren Arm nach dem Gitter ausstreckte. In der schmutzigen Hand hielt er eine von Essensresten verkrustete Schüssel, und sein zahnloser Mund lallte unverständliche Worte. »Besuch für dich, Dhosh!« rief der Gärtner freundlich. Er griff in eine Tasche seines grünen Kittels und holte ein paar Früchte heraus, die er in die Schüssel fallen ließ. »Das soll Dhosh sein?« fragte Razamon fassungslos. »Nennt er das weise, in einem Nutzviehstall zu hausen und von den Brocken zu leben, die ihm vorgeworfen werden?« »Warm!« brachte der Bärtige halbwegs deutlich heraus. »Und satt!« Er lächelte selig. »Er ist senil«, meinte Lebo Axton. Atlan musterte Dhosh genauer, dann wandte er sich an den Gärtner. »Stimmt es, daß Dhosh vor langer Zeit aus der Gilde der Grabsucher ausgestoßen wurde?« Er fing einen sehr aufmerksamen Blick des Alten auf, ließ sich aber nichts anmerken. »Genau genommen wurde er wegen eines Delikts verurteilt«, antwortete der Gärtner. »Ich weiß nicht mehr, um was es sich handelte, aber seine Gilde wollte ihn töten und hätte es auch getan, wenn er nicht einige Zeit verschwunden gewesen wäre.« Atlan lächelte. »Und als sie ihn schließlich nach langer Zeit fand, in diesem Nutztierstall und in verwahrlostem Zustand, verschonte sie ihn, weil Geisteskranke unter dem Schutz der Götter stehen, nicht wahr?« Dhoshs Gesichtsausdruck verriet, daß er
32 sich in die Enge getrieben fühlte. Der Gärtner musterte Atlan zum erstenmal mit voller Aufmerksamkeit. »Du bist sehr klug …« »Atlan!« stellte der Arkonide sich vor. »Aber Dhosh ist tatsächlich weise. Nur deshalb lebt er noch.« Er wandte sich an den Alten. »Keine Sorge, Dhosh. Meine Freunde und ich sind zu dir gekommen, weil wir den Weg zu den Quellen des Süßen und des Bitteren Flusses nicht allein finden würden.« Als der Alte ihn zweifelnd anschaute, fragte er: »Sehen wir so aus wie Grabsucher, Dhosh?« Lebo Axton nahm seinen Packen vom Rücken, wickelte ihn auf und holte eine kleine flache Plastikflasche heraus, die er dem Alten reichte, nachdem er sie aufgeschraubt und einen großen Schluck daraus getrunken hatte. Dhosh musterte Axton aufmerksam, dann roch er an der Flasche. Sein Gesicht verklärte sich plötzlich. Im nächsten Augenblick hatte er die Flasche angesetzt und trank. Aber nach wenigen Schlucken setzte er die Flasche ab, obwohl deutlich zu erkennen war, daß er sich dazu zwingen mußte. Er atmete tiefer, und sein Gesicht rötete sich. »Das tat gut«, sagte er völlig klar und deutlich. »Danke, Atlan und dir, mein Freund!« »Lebo!« stellte Axton sich vor. »Beim Parraxynt!« entfuhr es Razamon. »Du bist ein gewitzter Bursche, Dhosh! Ich heiße Razamon und hoffe, daß du uns den Weg zu den beiden Quellen zeigen kannst.« »Warum wollt ihr dorthin?« fragte Dhosh. »Weil wir die Freiheit lieben«, antwortete Atlan. »Wir haben Kuashmo bei der Lösung eines Problems geholfen, aber er wollte uns in der Burg festhalten, weil er meint, wir könnten ihm bei der Lösung weiterer Probleme helfen. Da wir uns nicht gern festhalten lassen, wollen wir durch einen der subplanetarischen Flußläufe die Burg Odiara verlassen.« Dhoshs Augen leuchteten auf.
H. G. Ewers »Freiheit!« flüsterte er sehnsüchtig. »Ich wurde ausgestoßen, weil ich die Freiheit suchte. Allein wagte ich mich nicht durch die Ebene der Fänger, aber mit euch zusammen könnte es gelingen. Nehmt ihr mich mit auf eurem weiteren Weg?« Atlan musterte den Alten skeptisch. Er hatte bisher nicht daran gedacht, ihn mitzunehmen, und er hielt das auch jetzt noch für undurchführbar. Immerhin war Dhosh ein alter, gebrechlicher Mann, der sich keinen tagelangen Marsch durch die Wüste Churrum zumuten konnte. Andererseits würden sie den Weg zu den Quellen wohl kaum ohne Dhoshs Hilfe finden. Atlan beschloß, auf den Wunsch des Alten einzugehen und später zu versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Gelang das nicht, dann allerdings würde er zu seinem Wort stehen müssen. »Wir nehmen dich mit, wenn du nach der Ankunft bei den Quellen immer noch darauf bestehst«, versprach er. Dhosh blickte ihm prüfend in die Augen, dann erklärte er: »Du bist ein Mann, der sein Wort niemals bricht, Atlan. Deshalb vertraue ich dir.«
* »Wenn wir den Alten mitnehmen, bürden wir uns eine Last auf, die zuviel für uns ist«, sagte Razamon. Die drei Männer waren allein. Dhosh hatte sich von dem hilfsbereiten Gärtner zu einer kleinen warmen Quelle bringen lassen, wo er sich den Schmutz abwaschen wollte. »Ohne ihn kommen wir wahrscheinlich nicht zu den Quellen«, erwiderte der Arkonide. »Also müssen wir diesen Preis bezahlen. Aber wir werden Dhosh genau erklären, welche Schwierigkeiten uns in der Wüste Churrum erwarten, sobald wir bei den Quellen sind. Ich hoffe, er wird einsehen, daß es besser für ihn ist, wenn er zu den Gärtnern zurückkehrt.« Die drei Männer blickten auf, als der Alte in Begleitung des Gärtners zurückkehrte.
Burg der Geheimnisse Dhosh hatte sich verwandelt. Seine Haut schimmerte rosig; der vorher graue und stumpfe Kopfpelz glänzte wieder wie goldbrauner Samt. Der wirre Bart war abgeschnitten, die Gesichtshaut rasiert. Der Gärtner hatte ihm statt seiner Fetzen ein grünes Seidenhemd, einen hellbraunen Lederkilt und Schnürsandalen gegeben. »Ich bin bereit, Freunde!« rief Dhosh. Er umarmte und küßte den Gärtner und bedankte sich für alles, dann wandte er sich einer Stahltür in der Wand mit den Gittern zu und öffnete sie. Eisige Luft schlug Atlan entgegen, als er dem Alten in den schmalen Gang hinter der Stahltür folgte. Zielsicher tappte Dhosh vorwärts. Es ging zuerst geradeaus, dann schmale Steinstufen hinab und etwa hundertfünfzig Meter tiefer in ein ausgedehntes Höhlensystem, in dem stellenweise uraltes Eis lag. Atlan hielt sich stets dicht hinter oder neben dem Alten, um den Weg mit seinem Handscheinwerfer zu beleuchten. Aber er hatte den Eindruck, als hätte Dhosh sich auch im Dunkeln mühelos zurechtgefunden. Am Ende des Höhlensystems blieb Dhosh vor einem Felstor stehen, hinter dem ein breiter Gang zu sehen war. Dhosh drehte sich um und sagte mit listigem Lächeln: »Ihr würdet bestimmt den Weg durch das Felstor nehmen – wie viele andere, die versucht haben, die Quellen zu erreichen. Doch so bequem der Weg auch aussieht, er führt nicht zu den Quellen, sondern ins Verderben.« Er bog nach links ab und kletterte einen Pfad, der als solcher nicht zu erkennen war, die steile und zerrissene Höhlenwand hinauf. Nach ungefähr zwölf Metern ging es zwischen klippenartig vorspringenden Felswänden hindurch, die verblüffend Theaterkulissen ähnelten. Die Kulissenwände verbargen perfekt das etwa einen Meter durchmessende Loch im Fels, das sich dicht unter der Höhlendecke befand. Dhosh zwängte sich hindurch und
33 blieb in dem dahinter liegenden niedrigen Gang keuchend liegen. Atlan kroch neben ihn, packte seinen Wasserbeutel aus und gab dem Alten etwas zu trinken. Allmählich erholte sich Dhosh wieder, aber an der grauen Färbung seines Gesichts war zu erkennen, daß die Anstrengung ihn dem Grab deutlich nähergebracht hatte. »Wir müssen weiter«, sagte Dhosh nach ungefähr einer Viertelstunde. »Ich bin zwar kein junger Mann mehr, aber wenn wir ab und zu eine Pause einlegen, schaffe ich es schon noch.« Atlan und Razamon wechselten einen Blick. Der Pthorer nickte mit dem Kopf in Dhoshs Richtung, dann verdrehte er vielsagend die Augen. Atlan wußte, er hatte recht, aber er wußte auch, daß sie ohne den Alten diesen Weg niemals gefunden hätten. Etwa zwei Stunden lang führte Dhosh sie durch den niedrigen Gang, der sich in weiten Spiralen nach unten wand, dann hielt er vor einem schmalen Riß in der Felswand an und deutete darauf. »Sieh hindurch, Atlan!« forderte er den Arkoniden auf. Atlan kroch an den Riß und spähte hindurch. Er blickte auf eine breite Podesttreppe aus massivem Fels, die in eine große Halle mündete. In die Hallenwände waren schmale Leuchtstäbe eingelassen. Und auf dem Boden der Halle lagen mehrere Skelette von Hominiden! »Das ist der Weg, den alle Unkundigen gehen würden, nicht wahr?« fragte Atlan beklommen. »Der Weg durch das Felsentor«, bestätigte Dhosh. »Die meisten Unkundigen enden in diesem Saal der Halluzinationen. Sie glauben, ihren Weg zielstrebig fortzusetzen und irren doch nur hilflos in der Halle umher.« »Aber was ruft diese Halluzinationen hervor?« warf Razamon ein. Dhosh schickte ihm einen undefinierbaren Blick, antwortete ihm aber nicht, sondern setzte seinen Weg fort.
34
H. G. Ewers
Zehn Minuten später endete der Gang vor einem Steinschuttberg, der ihn ausfüllte. »Was nun?« fragte Lebo Axton. »Wir müssen den Schutt wegräumen«, erklärte Dhosh. »Aber das muß leise geschehen, denn es können nur Grabsucher gewesen sein, die sich in die Tiefe gearbeitet haben und dabei dieses Gangstück mit Schutt füllten – und sie müssen noch in der Nähe sein. Ich spüre es.«
* Razamon, Atlan und Lebo Axton bildeten eine Kette, so daß immer einer die Steinbrocken aufhob und einer sie hinter ihnen ablegte. Das ging natürlich nicht völlig lautlos, aber sehr laut waren die hervorgerufenen Geräusche nicht. Dhosh lauschte die ganze Zeit über an der Wand. Plötzlich hob er die Hand und stieß ein warnendes Zischen aus. Die drei Männer hielten inne, ohne ihre gekrümmten Rücken entspannen zu können. Dazu war der Gang zu niedrig. »Was gibt es?« flüsterte Razamon. »Hört!« flüsterte der Alte zurück. Atlan bemühte sich, nicht auf das Rauschen des Blutes in seinen Ohren zu hören. Er blickte zu Lebo Axton und sah an dessen schmerzverzerrtem Gesicht, daß auch seine Rückenmuskeln völlig verkrampft waren. Nach einer Weile angestrengten Lauschens hörte er ein leises Summen, das rasch lauter wurde und dann wieder abebbte. Nur ein auf die Nerven gehendes dünnes Singen blieb noch länger und verstummte nicht ganz. »Das war eine Fahrstuhlkabine«, flüsterte Dhosh. »Demnach sind die Grabsucher fündig geworden, denn sonst richten sie niemals einen Fahrstuhl ein.« »Wieso denn ein Fahrstuhl, um ein Grab zu suchen?« fragte Axton und wischte den Schweiß aus den Augen. »Die Gräber der Goldkönige liegen sehr tief«, erwiderte der Alte. »Deshalb können die Grabsucher nicht auf Leitern den Ziel-
schacht hinunter und hinauf klettern und dabei noch Fundstücke transportieren.« Er deutete auf den Schutt. »Ihr könnt weitermachen!« Ächzend und stöhnend setzten die drei Männer ihre Arbeit in vorgebeugter Haltung fort. Nach etwa einer halben Stunde stieß Dhosh abermals ein warnendes Zischen aus. Wieder hielten die Männer inne – und wieder hörten sie bald darauf das an- und abschwellende Summen und das Singen der nachschwingenden Fahrseile. »Wir müssen gleich durch sein«, sagte der Alte. »Und was dann?« fragte Lebo Axton. »Der Gang geht auf der anderen Seite des Fahrstuhlschachts weiter«, erklärte Dhosh. »Natürlich wird er ebenso verschüttet sein wie der auf dieser Seite. Wir müssen eben auch dort den Schutt wegräumen.« »Das gefällt mir«, erwiderte Atlan sarkastisch. »Gibt es denn keine Möglichkeit, auf die Fahrstuhlkabine zu springen?« »Dazu fährt sie viel zu schnell«, sagte Dhosh entsetzt. »Aber wie sollen wir den Schutt auf der anderen Seite des Schachtes wegräumen, wenn der Fahrstuhl ständig fährt?« fragte Razamon. »Da müßte sich praktisch einer drüben hinquetschen und die Steinbrocken herüber werfen. Das ist zu umständlich.« »Vor allem dürfen die Grabsucher nichts von uns bemerken«, erklärte der Alte. »Sie würden sonst den Schacht mit Gas fluten.« »Das sind aber freundliche Zeitgenossen«, meinte Lebo Axton. »Warum sollen wir dann rücksichtsvoll sein? Ich schlage vor, wir räumen den letzten Schutt einfach in den Schacht, wenn sich die Kabine gerade unter uns befindet. Wenn wir schnell genug arbeiten, wird sie so stark belastet, daß sie festsitzt. Wir können dann den Schutt von der Gangfortsetzung auf der anderen Seite ebenfalls einfach in den Schacht werfen.« »Was würden die Grabsucher in diesem Fall unternehmen?« fragte Atlan. »Sie würden wahrscheinlich an einen
Burg der Geheimnisse Bergrutsch aus natürlicher Ursache denken«, antwortete Dhosh. »In dem Fall würde ein Arbeitstrupp an einem Hilfsseil herabgelassen, um den Schutt von der Oberseite der Kabine zu entfernen.« »Und wenn sie vermuten würden, daß die Panne durch Fremdeinfluß hervorgerufen wurde?« fragte Razamon. »Dann würden sie den Schacht auf jeden Fall mit Gas fluten«, sagte der Alte. »Ich denke, wir sollten es dennoch riskieren«, meinte Axton. Atlan nickte. Sie warteten, bis sie abermals das Summen hörten. »Er fährt wieder hinunter«, sagte Dhosh. Als das Summen verklungen war, stemmten sich Razamon und Atlan gegen den Rest des Schutts zwischen ihnen und dem Schacht. Sekunden später stürzten die ersten Gesteinstrümmer in den Schacht – und etwa fünfzehn Sekunden danach schlugen sie polternd und krachend auf dem Kabinendach auf. Bald hatten Razamon und Atlan rund zehn Zentner Schutt den Schacht hinabgestoßen, und die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer beleuchteten das Innere des ungefähr dreieinhalb Meter durchmessenden Schachtes, der in Abständen von vier Metern mit meterbreiten dicken Stahlringen abgeteuft war. Über diese Kette von Stahlringen liefen zwei gegenüberliegende Schienen, die sowohl als Führung für Kabine und Gegengewicht als auch vorher als Leitern für die Schachtbauer gedient hatten. »Eine beachtliche Leistung«, sagte Atlan. »Ich hatte mir den Schacht primitiver vorgestellt.« »Er ist primitiv genug«, erwiderte Dhosh. »Wenn das Gestein nicht aus Marmor bestünde und es Verschiebungen gäbe, würde diese Abteufung nicht genügen.« »Führen wir keine Fachgespräche!« rief Razamon und sprang zur anderen Seite des Schachtes. Er hielt sich an der Führungsschiene fest, beugte sich nach rechts und räumte den
35 Schutt aus der verschütteten Weiterführung des Ganges. Atlan folgte seinem Beispiel. Bald hatten sie einen Hohlraum geschaffen, der groß genug war, daß sie sich alle vier darin aufhalten konnten. Dhosh sprang allerdings nicht über die gähnende Tiefe des Schachtes, sondern ließ sich mit Hilfe des Seiles hinüberziehen. Razamon, der sich förmlich durch den Schutt wühlte, war gerade in die freie Weiterführung des Ganges durchgebrochen, als ein lautes Hornsignal ertönte. »Schnell, schnell!« rief Dhosh voller Panik. »Sie haben gemerkt, daß der Bergrutsch keine natürliche Ursache hat, und sie werden den Schacht mit giftigem Gas fluten!« »Obwohl sich ihre eigenen Leute auf der Schachtsohle befinden?« fragte Atlan. »Darauf nehmen sie keine Rücksicht«, erklärte der Alte. Razamon stieß eine Verwünschung aus und schaufelte mit seinen großen Händen noch schneller. Bald konnten sie alle in den freien Teil des Ganges kriechen. Dhosh eilte an Razamon vorbei und hastete gebückt weiter. Nach knapp einer Minute erreichte er eine Stelle, an der sich ein breiter Spalt im Fels daneben geöffnet hatte. Dadurch war ein senkrecht nach oben führender Kamin entstanden. »Wir müssen hinauf!« sagte der Alte schnaufend. »Da das Gas schwerer als Luft ist, füllt sich der Schacht und das umliegende Gangsystem von unten auf. Wenn wir Glück haben, können wir hoch genug klettern und werden nicht erreicht.« »Dann klettern wir mal!« sagte Razamon und zog den Alten zu sich heran. »Zuerst Atlan, dann Lebo! Ich werde mit Dhosh folgen, denn er kommt sowieso nicht aus eigener Kraft hoch. Vorwärts, es riecht schon ganz komisch!«
7. Sie lagen, nachdem sie ungefähr hundertzwanzig Meter hoch gestiegen waren, in einer halbrunden Höhlung, die durch eine
36 Gasblase vor undenklichen Zeiten im Marmor entstanden sein mußte. Von der Flutung des Schachtes und der Nebengänge durch Gas hatten sie nur durch die Bewegung der verdrängten normalen Luft etwas bemerkt. Da es über ihnen nicht weiterging, war ihnen weiter nichts übrig geblieben, als in der Höhlung abzuwarten, bis der Tod sie erreichte – oder bis er an ihnen vorüberging. Als Dhosh plötzlich zusammensackte, rissen sie ihn hoch und standen aufrecht in der Höhlung, wissend, daß das Gas über ihre Füße und Knie langsam emporkroch. Doch nach einer Viertelstunde lebten sie immer noch, und Dhosh kam sogar wieder zu sich. Da wußten sie, daß der Tod noch einmal an ihnen vorübergegangen war, wenn auch nur um Haaresbreite. Sie warteten noch eine Stunde, dann stiegen sie den Kamin wieder hinab. Atlan machte den Anfang, da es ihm am wenigsten schaden würde, falls er etwas Gas einatmete. Zweimal geschah das tatsächlich. Doch das schwere Gas sank stetig tiefer, so daß sie innerhalb einer guten Stunde den Kamin verlassen und ihren Weg durch den Gang fortsetzen konnten. Nach einer weiteren Stunde kamen sie an ein Loch im Boden. Unter ihm ging es eine Wendeltreppe hinab, die so schmal war, daß sie rückwärts kriechen mußten. Außerdem mußten sie sich beeilen, denn an verschiedenen Geräuschen hörten sie, daß mehrere Hominide hinter ihnen her waren: eine Gruppe Grabsucher, die nach ihnen suchte. Wenig später hörten sie auch von rechts Geräusche. »Eine zweite Gruppe«, sagte Dhosh atemlos. »Sie soll uns wahrscheinlich den Weg abschneiden.« »Dann werden wir kämpfen müssen!« stellte Razamon grimmig fest. »Das wäre Selbstmord«, erklärte der Alte. »Die Grabsucher schießen vergiftete Pfeile aus Blasrohren ab und werfen mit Molekularsäure gefüllte Glaskolben. Uns bleibt wei-
H. G. Ewers ter nichts übrig, als in die Grabkammer des Goldkönigs Visurtha auszuweichen und zu versuchen, durch die Seelenröhre zu entkommen.« Sie rutschten etwas schneller die Wendeltreppe hinab, während sich hinter ihnen und rechts von ihnen die Geräusche verstärkten. Auf einem Treppenabsatz blieb Dhosh stehen und deutete auf einen Stahlring, der in eine Seitenwind eingelassen war. »Ihr müßt daran ziehen!« stieß er keuchend hervor. »Dahinter geht es in die Grabkammer.« »Die Verfolger werden sich denken können, daß wir diesen Fluchtweg benutzt haben«, wandte Atlan ein. »Wohl kaum«, erwiderte der Alte. »Seht ihr den goldschimmernden Fleck an der Wand? Es handelt sich um das Grabsiegel. Kein Bewohner des Berges Odiara wird es wagen, das Grabsiegel aufzubrechen, denn ein versiegeltes Grab ist durch einen Bannfluch belegt. Wer es dennoch wagt und überlebt, wird von den Grabsuchern solange verfolgt, bis er gestellt und bestraft worden ist. Nur einmal ist jemand dennoch davongekommen.« »Du?« fragte Lebo Axton. Der Alte kicherte. »Ja, ich war es«, gab er zu. »Ich brach das Siegel des Zugangs zur Grabkammer des Goldkönigs Trunghlon und warf einen Blick auf die Geheimnisse der Vorzeit.« Razamon ergriff den Stahlring und zog mit aller Kraft daran. Nach einiger Zeit wurde ein Riß in der Marmorwand sichtbar, der genau durch den daumennagelgroßen goldenen Fleck ging. Allmählich verbreiterte sich der Riß zu einem Spalt, dann schwang eine zwei Meter hohe und anderthalb Meter breite Marmorplatte zur Seite und gab eine rechteckige Öffnung frei. Unterdessen hatten sich die Verfolger weiter genähert. Deshalb zögerten Atlan und seine Gefährten nicht länger. Sie drangen in den Gang ein, der einen rechteckigen Querschnitt hatte und dessen Wände mit goldenen Einlegearbeiten verziert waren, die Sze-
Burg der Geheimnisse nen aus einer fremdartigen Mythologie darstellten. Mit Hilfe des an der Innenseite der Tür befestigten Stahlrings schloß Razamon den Zugang wieder, dann eilten sie weiter. Es ging zuerst etwa hundert Meter geradeaus, dann eine in den Marmor gehauene normale Podesttreppe ungefähr fünfzig Meter hinab – und dann standen die Männer in einer etwa dreißig Meter langen, zwanzig Meter breiten und fünf Meter hohen Kammer mit schwarzem Marmorboden, massiv goldenen Wandplatten und einer milchglasartigen Decke. Mitten in der Kammer gab es ein halbmeterhohes Podest, und darauf stand ein Sarkophag aus grauweißem Metall. Atlan strich mit der Hand darüber und zog sie schnell wieder zurück. »Es ist eisig«, sagte er überrascht. »Der Sarkophag besteht aus dem Vorzeitmetall Suranit«, erklärte der Alte. »Seine Temperatur liegt unveränderlich auf dem Gefrierpunkt von Wasser. Kein bekanntes Werkzeug vermag es zu beschädigen, und niemand weiß noch, wie es hergestellt werden kann.« »Weshalb sucht ihr Grabsucher eigentlich diese Stätten auf?« fragte Lebo Axton. »Um den Goldkönigen Opfer zu bringen«, antwortete der Alte. »Es heißt, daß sie eines Tages wieder aus ihren Gräbern steigen und die Herrschaft über Dorkh übernehmen. Dann werden diejenigen, die ihnen geopfert haben, reich belohnt werden.« Razamon trat an den Sarkophag heran und stemmte sich gegen die schwere Deckplatte. Er schrie überrascht auf, als sie sich leicht bewegen ließ und lautlos aufklappte. Auch Atlan und Axton sprangen auf das Podest, um einen Blick in den Sarkophag zu werfen. Atlan atmete unwillkürlich schneller, als er den goldenen Menschen sah, der im Sarkophag lag. Es handelte sich nicht nur um einen Hominiden wie bei Kuashmo und den anderen Bewohnern von Burg und Berg Odiara, sondern um einen echten Humanoi-
37 den. Er gleicht einem ägyptischen Gottkönig! durchfuhr es den Arkoniden. Aber es war natürlich fragwürdig, zwischen den ägyptischen Gottkönigen und diesem Goldkönig von Dorkh eine Verbindung herstellen zu wollen, ganz davon abgesehen, daß König Visurtha aus massivem Gold zu bestehen schien und nicht nur eine vergoldete Mumie war. »Sicher ist das nur die Nachbildung eines Lebewesens«, meinte Razamon. Er streckte die Hand nach dem Goldkönig aus, brachte es aber nicht fertig, ihn zu berühren. Aber als er die Hand zurückziehen wollte, rutschte er aus – und seine Hand stieß voll gegen das Gesicht Visurthas. Ein laut hallender Gongschlag ertönte. Der Goldkönig richtete seinen Oberkörper auf. Die Lider in dem starren Gesicht öffneten sich. Zwei Augäpfel aus lupenreinen wasserhellen Diamanten blitzten und funkelten. Der Pthorer schrie entsetzt auf und schlug die Hände vors Gesicht. Atlan sprang hinter den Sarkophag und versuchte, den Deckel zuzuklappen. Es gelang ihm nicht. Dhosh zitterte heftig. Er zog etwas aus einer Tasche seines Kilts, das einer vertrockneten Fledermaus ähnelte und warf es in den Sarkophag. Ein unmenschlicher Schrei ertönte. Aus dem Sarkophag waberte grelles Leuchten. Der »Leichnam« des Goldkönigs wurde transparent, dann verschwand er von einem Augenblick zum andern. Mit dumpfem Knall fiel der Deckel zu. An der Rückwand der Grabkammer knackte es. Ein Spalt öffnete sich. Dhosh lallte Unverständliches, dann lief er auf den Spalt zu und durch ihn hindurch. Atlan packte Razamon an den Schultern und schüttelte ihn. Aber der Pthorer schien weder zu sehen noch zu hören. Er reagierte überhaupt nicht. Da warf Atlan ihn sich über die Schulter und eilte ebenfalls auf den Spalt zu und in den schmalen Gang dahinter. Lebo Axton
38
H. G. Ewers
folgte ihm.
* Sie liefen ungefähr dreihundert Meter weit, während hinter ihnen das grelle Leuchten durch den Deckel des Sarkophags drang, die Grabkammer ausfüllte und danach in den Gang kroch. Eine schwere Stahltür versperrte ihnen den Weg. Dhosh zerrte an dem Ring, der an ihr befestigt war. Er war wie von Sinnen vor Furcht. Lebo Axton half ihm, aber auch beide Männer zusammen bekamen die Tür nicht auf – und hinter ihnen näherte sich das wabernde Leuchten. Atlan legte Razamon auf den Boden und unterstützte die Bemühungen Dhoshs und Axtons. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn das wabernde Leuchten sie erreichte und einhüllte, und er ahnte, daß der Tod nicht das Schlimmste war, was ihnen davon drohte. Er verdoppelte seine Anstrengungen. Millimeterweise gab die Tür nach, aber es reichte noch lange nicht. Das wabernde Leuchten war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Atlan spürte plötzlich eine Welle des Grauens, die ihm vorauseilte. Dhosh stieß einen Schrei aus, dann sank er wimmernd zu Boden. Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung rissen Axton und Atlan die Tür einen halben Meter weit auf. Axton ergriff den Alten unter den Armen und schleifte ihn durch die Öffnung. Atlan sprang zurück und packte Razamon unter den Armen. Er erstarrte vor Entsetzen, als ein Ausläufer des wabernden Leuchtens ihn berührte und ihn zu lähmen drohte. Unter äußerster Anspannung seines Willens schüttelte der Arkonide den verhängnisvollen Einfluß ab und zog Razamon hinter sich her durch die Öffnung und auf das oberste Podest einer Treppe. Dort ließ er den Pthorer fallen und wandte
sich gemeinsam mit Axton der Tür zu. Die beiden Männer stemmten sich mit der Kraft der Verzweiflung dagegen – und als ein wabernder Leuchtfinger durch die Öffnung griff, gelang es ihnen, die Tür zu schließen. Es gab einen dumpfen Laut, dann war sie zu. Atlan und Axton sanken zu Boden. Sie waren unfähig, weiterzugehen, geschweige denn, den Alten und Razamon mitzunehmen. Körperlich und psychisch erschöpft, lagen sie einfach da und warteten darauf, daß das wabernde Leuchten durch die geschlossene Tür kroch, wie es durch den geschlossenen Deckel des Sarkophags gekrochen war. Langsam vergingen die Sekunden und Minuten. Irgendwann begriff Atlan, daß das wabernde Leuchten ihnen nicht durch die geschlossene Tür folgte und daß sie vor seinem grauenhaften Einfluß gerettet waren. Erst da nahm er seine Umgebung wieder bewußt war, sah Lebo Axton mit offenen, blicklosen Augen an der Tür lehnen und sah, daß Razamon und Dhosh neben ihm lagen. Der Alte sah Atlan unverwandt an. Sein Blick wirkte nicht starr, sondern lebendig. »Was war das?« fragte der Arkonide. »Der Geist König Visurthas«, flüsterte Dhosh. »Als Razamon den Goldkönig berührte, wurde der Geist durch die Seelenröhre zurückgeholt. Aber es war zu früh für eine Wiederbelebung Visurthas. Deshalb versuchte sein Geist, von einem von uns Besitz zu ergreifen.« »Aber er kann die Tür nicht durchdringen?« fragte Atlan. »Nicht, solange er nicht seinen Körper besitzt«, antwortete der Alte. Lebo Axton seufzte. In seinen Augen kehrte das Leben zurück. Atlan beugte sich über Razamon. Das Gesicht des Pthorers war noch immer völlig ausdruckslos, die Augen waren starr und unbeweglich. Atlan fühlte nach dem Puls und vermochte ihn erst nach längerer Zeit ganz schwach wahrzunehmen. Er schlug genau siebenmal in der Minute.
Burg der Geheimnisse »Was hat er?« fragte Lebo Axton matt. »Er ist offenbar im Zustand stark herabgesetzter Lebensfunktionen«, erklärte der Arko-nide. »So etwas wie scheintot.« »Er hat in die Augen des Goldkönigs gesehen«, sagte Dhosh. »Es heißt, daß man in diesem Fall bis zur Wiedererweckung des betreffenden Goldkönigs schläft.« Atlan starrte den Alten erschrocken an. Er glaubte natürlich nicht daran, daß die Goldkönige irgendwann wiedererweckt werden würden, es sei denn, sie wären nicht wirklich tot, sondern auf unbegreifliche Weise konserviert. Razamon würde aber kaum erwachen, sobald Visurtha erwachte. So etwas gab es nicht. Er stand lediglich unter einem schweren Schock. Mit den Mitteln der modernen Medizin würde es nicht allzu schwer sein, ihn aus diesem Schock zu befreien. Aber auf Dorkh gab es ja nicht einmal eine Hausapotheke. Atlan ohrfeigte Razamon. Aber noch nicht einmal die Wangen röteten sich. So leicht war er also nicht aus seinem Schockzustand herauszuholen. Ein leiser Pfiff ertönte. Dhosh zuckte zusammen, dann flüsterte er: »Es sind Fänger in der Nähe. Sie befinden sich auf der Jagd. Wir müssen ein Versteck suchen, damit sie uns nicht entdecken.« »Wir befinden uns also schon auf der Ebene der Fänger«, sagte Lebo Axton. »Dann müssen ja auch die beiden Quellen hier irgendwo sein.« »Die Quellen sind tiefer – unter der Ebene der Fänger«, erwiderte Dhosh. »Aber uns hat man gesagt …« »Ja, diese Lüge wurde vor langer Zeit absichtlich von den Fängern verbreitet«, erklärte Dhosh. »Sie sollte Burgbewohner, die die Quellen suchten, dazu verleiten, so lange auf der Ebene der Fänger umherzuirren, bis sie eingefangen wurden.« Er richtete sich auf. Für sein Alter ist er nach all den Strapazen noch recht gut beisammen! dachte At-
39 lan. Ich fühle mich wie zerschlagen. Aber wir können Razamon dennoch nicht zurücklassen. Er lud sich den Pthorer wieder über die Schulter und folgte dem Alten die Treppe hinab.
* Sie hatten das untere Ende der Treppe erreicht. Die Lichtkegel ihrer drei Scheinwerfer enthüllten eine bizarre Höhlenlandschaft. Unterschiedlich dicke, von zahllosen Rissen durchzogene Marmorwände ragten schwarz und steil empor. Zwischen ihnen gab es schmale und breite Gänge, Terrassen und natürliche Treppen. Wieder zuckte Dhosh zusammen, als ein Pfiff ertönte. Er kam von rechts. Kurz darauf kam von links ebenfalls ein Pfiff. »Wir müssen geradeaus«, sagte der Alte und deutete auf einen breiten Gang zwischen zwei schwarzen Marmorwänden, der terrassenförmig anstieg. Atlan seufzte und folgte Dhosh und Axton. Das Gewicht Razamons drückte schwer auf seiner Schulter. Es nützte kaum noch etwas, daß er den schlaffen Körper in kurzen Abständen von einer Schulter auf die andere wechselte. Zwei Pfiffe von links! Lauter diesmal! Dhosh wurde von Panik ergriffen und rannte los. Er schaffte es bis auf die zweite Marmor-Terrasse, dann brach er erschöpft zusammen. Atlan brauchte mit seiner Last doppelt so lange für die gleiche Entfernung. Lebo Axton warf sich den Alten über die Schulter, als der Arkonide ihn erreichte. Hintereinander gingen die beiden Männer weiter, Axton noch einigermaßen frisch, Atlan mit rasselndem Atem und wankend. Sie erreichten die höchste Terrasse. Von dort ging es in einem gewundenen Hohlweg abwärts. Ein Pfiff von hinten! Weiter! Weiter! Links stieg eine natürliche Treppe in einer Marmorwand empor. Die Stufen waren un-
40 terschiedlich groß und unterschiedlich geformt. Atlan und Razamon wären an ihr vorbeigegangen, wenn nicht von vorn ebenfalls ein Pfiff gekommen wäre. Mühsam quälten sie sich die Stufen hinauf, die teilweise so schmal waren, daß sie ihre Füße querstellen mußten. Atlans Atem ging pfeifend. Die Stufen hörten in etwa zehn Metern Höhe dort auf, wo die Marmorwand in zwei schief auseinander stehende dünnere Wände geborsten war. Eine schmale Rinne führte in eine dunkle Höhle. Lebo Axton und Atlan wankten hinein. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer stachen in die Dunkelheit und enthüllten nach wenigen Metern das Ende der Höhle. Und das Ende der Flucht! Sie legten ihre Lasten ab, lehnten sich keuchend gegen die Wände, schalteten ihre Scheinwerfer ab und versuchten, neue Kräfte zu sammeln. Es dauerte einige Zeit, bis das Rauschen des Blutes in Atlans Ohren verebbte und das Zittern seiner Beine nachließ. Das Pulsieren des Zellaktivators verriet ihm, wie groß seine Erschöpfung gewesen war. Ohne das wundervolle Gerät wäre er nicht so weit gekommen. »Lebo?« »Ja?« flüsterte Axton. »Wir haben sie abgehängt, nicht wahr?« »Das können wir nur hoffen«, erwiderte Atlan leise. Seine Hoffnung war nicht allzu groß, denn er sagte sich, daß die Fänger das Terrain ihrer Ebene gründlich kannten. Falls sie sie entdeckt hatten, brauchten sie nur alle bekannten Schlupfwinkel zu untersuchen. Aber es war nicht sicher, daß sie von der Existenz der vier Eindringlinge etwas ahnten. Sie mochten hinter Tieren hergewesen sein und nur zufällig den Weg der vier Männer tangiert haben. Sie kommen! raunte ihm sein Extrasinn zu. Atlan wollte es nicht glauben, denn er hörte und sah nichts von anderen Lebewe-
H. G. Ewers sen, und er hoffte, daß seine letzte Stunde noch nicht schlagen würde. Doch die Illusion zerrann, als in der Rinne vor der Höhlung drei Gestalten auftauchten, die Zerrbilder des terranischen Robin Hood hätten sein können, wären die langen Augenschlitze nicht gewesen, hinter denen es hellgrün flackerte. Außerdem trugen sie weder Pfeil noch Bogen, sondern hauchdünne grüne Netze und spitze silberne Stäbe. Atlan und Lebo Axton zogen ihre Messer. Sie waren entschlossen, sich so teuer wie möglich zu verkaufen. Doch die drei Fänger erwiesen sich als Meister ihres Berufs. Ihre Netze flogen in die Höhlung, bevor Atlan und Axton überhaupt reagiert hatten. Die beiden Männer verstrickten sich bei ihrem Bemühen, freizukommen und sich zu wehren, nur immer mehr in dem dünnen, aber zähen Netzwerk. Sekunden später stachen die Spitzen der silbernen Stäbe nach ihnen. Atlan fühlte einen brennenden Schmerz am Hals, wo die Spitze ihn getroffen hatte, dann kreisten feurige Räder vor seinen Augen – und dann riß ihn ein unwiderstehlicher Sog ins Nichts …
8. Atlan erwachte durch einen scharfen Schmerz am linken Fuß. Er wollte die Augen öffnen, als ein Warnimpuls seines Extrasinns sein Bewußtsein erreichte. Er ließ die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf die Wahrnehmungen seiner anderen Sinne. Bald wußte er, daß er an Hand- und Fußgelenken gefesselt, irgendwo aufgehängt und getragen wurde. Schaukelbewegungen verrieten ihm, daß er wahrscheinlich mit Stricken an einer Stange festgebunden war, die vorn und hinten von je einem Mann getragen wurde. Von einem Jäger! Nur undeutlich erinnerte sich der Arkonide an das Aussehen der Fänger, die ihn und
Burg der Geheimnisse seine Gefährten überwältigt hatten. Da er über ein photographisches Gedächtnis verfügte und sich nicht im Zustand totaler Entkräftung befand, konnte das eigentlich nur bedeuten, daß er unter den Nachwirkungen eines Narkotikums litt. Wieder spürte er einen scharfen Schmerz, diesmal am rechten Fuß. Scharren, Schnaufen und undeutliche Worte verrieten ihm, daß seine Träger einen schwierigen Geländeabschnitt bewältigen mußten. Er durfte also davon ausgehen, daß sie ihm nicht mehr Aufmerksamkeit widmeten, als unbedingt erforderlich. Vorsichtig öffnete er die Augen. Als erstes sah er schräg über sich die von Scheinwerferlicht erhellten Wände einer Schlucht, dann eine Holzstange, an der seine Handgelenke mit Stricken festgebunden waren. Vor sich schaukelten seine gefesselten Fußgelenke, ebenfalls mit Stricken an der Holzstange befestigt – und davor ging ein Hominide, gekleidet in lange braune Wollstrümpfe, eine kurze olivfarbene Pluderhose, ein braunes Hemd und eine olivfarbene Lederweste. Der Schädel wurde von einem speckigen olivgrünen Hut bedeckt, an dessen linker Seite eine Sammlung großer Krallen oder Reißzähne baumelte. Das Schuhwerk bestand aus braunen Stiefeletten mit dicken Sohlen. Bei diesem Anblick erinnerte sich Atlan wieder daran, daß er beim Anblick der ersten Fänger an Zerrbilder des terranischen Robin Hood gedacht hatte. Natürlich gab es Unterschiede, aber die Ähnlichkeiten waren dennoch verblüffend. Der erste Träger stolperte. Diesmal pendelte Atlan so, daß er mit der rechten Schulter gegen die Schluchtwand stieß. Er verbiß sich den Schmerz. Sein Gehirn durfte sich nicht mit Nebensächlichkeiten abgeben. Es mußte sich mit Überlegungen befassen, wie er und seine Gefährten überleben konnten. Deine Gefährten werden noch gelähmt und bewußtlos sein! teilte ihm sein Logiksektor mit. Ihr wurdet mit vergifteten Speer-
41 spitzen gestochen, und du hast die Giftwirkung nur dank deines Zellaktivators bereits überwunden! Die Fänger bewegten sich zügig durch ein Labyrinth aus Schluchten, natürlichen Höhlengängen und künstlichen Korridoren. Atlan gewann den Eindruck, daß es dabei immer tiefer ging. Nach ungefähr zwei Stunden kamen sie in eine große Höhle, in der mehrere Feuer brannten. An der geringen Rauchentwicklung war zu erkennen, daß es sich um Holzkohlenfeuer handelte. Mindestens dreißig Fänger saßen an den Feuern, gingen herum oder standen in kleinen Gruppen beisammen. Zum erstenmal seit der Ankunft in der Burg Odiara wurde sich der Arkonide der Tatsache bewußt, daß alle Gruppen nur aus männlichen Vertretern ihrer gemeinsamen Art bestanden. Natürlich ließ sich bei einer fremden Art nie genau erraten, ob man männliche oder weibliche Vertreter vor sich hatte oder ob es allesamt Zwitterwesen waren. Aber ein noch wichtigeres Merkmal eines lebendigen Gemeinwesens fehlte ganz: die Kinder. Atlan verdrängte die entsprechenden Überlegungen. Sie waren in seiner Lage irrelevant, also unwichtig. Er schloß die Augen wieder, als zahlreiche Fänger sich ihm und seinen Trägern näherten. »Wo habt ihr die aufgegabelt?« hörte er nach dem ersten Stimmenwirrwarr jemanden fragen. »Sie sind aus eigenem Antrieb in unsere Ebene gekommen und gerieten mitten in unsere Treibjagd auf Aarfalkhs«, antwortete eine andere Stimme. »Es sind Fremde – bis auf einen«, sagte jemand. »Vielleicht aus den Wilden Dörfern.« »Oder aus der Stadt der Verlorenen.« »Legt sie bei meinem Feuer nieder!« sagte eine Stimme, aus der Autoritätsbewußtsein klang. »Sie sind uns hochwillkommen, denn die Späher haben eine Gruppe Tichys gemeldet, die in die unterste Ebene einge-
42
H. G. Ewers
drungen sind. Es sind große Exemplare, für deren Fleisch wir bei der Gilde der Händler viele Werkzeuge eintauschen können. Morgen werden wir die Gefangenen an günstigen Stellen plazieren.« Atlan spürte, wie seine Träger sich wieder in Bewegung setzten. Nach kurzer Zeit setzten sie ihn ab, ohne ihn jedoch von der Tragestange loszubinden. Für sie bestand ja auch kein Anlaß dazu, da sie ihn für gelähmt und bewußtlos halten mußten. Seine Gedanken jagten sich. Mit den Tichys waren wahrscheinlich Giftechsen gemeint, wie der Wünschelrutengänger sie erwähnt hatte. Und die Fänger hatten sicher vor, ihre Gefangenen am nächsten Tag als Köder für die Giftechsen auszulegen. Gab es überhaupt eine Möglichkeit, diesem grausamen Schicksal zu entgehen?
* Atlan brauchte nicht lange, um sich klar darüber zu werden, daß er, wenn er etwas mit einiger Aussicht auf Erfolg unternehmen wollte, er es noch vor dem nächsten Tag tun mußte. Der Anführer der Fänger hatte davon gesprochen, die Gefangenen an günstigen Stellen zu plazieren. Das bedeutete mit Sicherheit, daß sie in großen Abständen plaziert werden sollten. Immer vorausgesetzt, er könnte sich selbst befreien und retten, würde das eine Befreiung und Rettung der Gefährten erheblich erschweren. Der Arkonide beobachtete die in der Nähe befindlichen Fänger mit Vorsicht und Aufmerksamkeit. Mit Vorsicht, weil er sich so bewegen mußte, daß niemand etwas merkte. Er stellte zu seiner Erleichterung fest, daß sie nach einer reichlichen Mahlzeit und dem reichlichen Genuß berauschender Getränke nach und nach einschliefen. Als er sicher war, daß ihn niemand mehr beobachtete, rutschte er Zentimeter um Zentimeter näher an die dunkelrot glühenden Holzkohlestücke des Feuers heran. Nach je-
weils wenigen Zentimetern hielt er inne und lauschte. Wenn jemand merkte, daß er sich bewegte, wäre alles aus gewesen. Endlich hatte er den Rand des Feuers erreicht. Er drehte sich so, daß die Stricke, mit denen seine Handfesseln an der Tragestange befestigt waren, auf eine glühende Holzkohle zu liegen kamen. Es dauerte nicht lange, da waren die Stricke durchgebrannt. Das gleiche wiederholte er mit den Stricken, an denen die Füße hingen. Als er die hinderliche Tragestange los war, ruhte er sich, ein paar Minuten aus. Danach ging er an die Befreiung von den Hand- und Fußgelenkfesseln. Das war schwieriger – und vor allem sehr schmerzhaft, denn die Holzkohlenglut verbrannte nicht nur die Fesseln, sondern auch seine Haut. Als er endlich frei war, gab es etliche Stellen an Haut- und Fußgelenken, an denen die rohe Haut feuerrot bloßlag. Mit zusammengepreßten Zähnen lag Atlan auf dem Boden. Tränen des Schmerzes liefen ihm aus den Augen. Er mußte sich gewaltsam zusammenreißen, um nicht laut zu schreien. Nach einiger Zeit hatte er die Schmerzempfindung soweit verdrängt, daß er wieder klar denken konnte. Erfreut stellte er fest, daß er sein Wurfmesser noch besaß. Lautlos kroch er zu Lebo Axton, der ihm am nächsten lag. Als er dabei dicht an einem Fänger vorbeikam, erwachte dieser. Atlan schickte ihn mit einem Schlag des Messergriffs ins Reich der Träume zurück. Anschließend befreite er Axton von seinen Fesseln. Das gleiche tat er mit Razamon und Dhosh. Danach ergab sich das Problem, wie er die Gefährten abtransportieren konnte, denn sie waren noch immer gelähmt und bewußtlos – und Razamon stand überdies noch unter paralysierender Schockwirkung. Er kroch zu einem der Fänger, neben dem er einen Lederbeutel gesehen hatte. Der Beutel enthielt kein Wasser, sondern eine scharfriechende alkoholische Flüssigkeit. Atlan kroch mit ihm zu den Gefährten zurück und rieb ihre Schläfen kräftig ein.
Burg der Geheimnisse Er wollte schon aufgeben, da schlug Lebo Axton plötzlich die Augen auf. Der Arkonide legte ihm warnend die Hand auf den Mund und erklärte flüsternd die Lage. »Wir müssen so schnell wie möglich fort – und zwar auf die unterste Ebene!« fügte er hinzu. »Ohne Dhosh finden wir den Weg nur unter großen Schwierigkeiten, also müssen wir zusehen, daß wir auch ihn wachbekommen!« Gemeinsam rieben sie Dhoshs Schläfen ein, massierten ihm die Brust und die Fußsohlen – und nach etwa einer Stunde regte sich der Alte. Auch ihm erklärte Atlan die Lage flüsternd. Dhosh erschauderte. »Sie wollten uns als Köder benutzen«, flüsterte er. »Wir müssen fort, aber nicht nach unten, sondern nach oben, wenn Giftechsen in die unterste Ebene eingedrungen sind.« »Wenn wir nach oben auswichen, müßten wir alles noch einmal durchmachen«, gab der Arkonide zurück. »Schließlich wollen wir die Quellen erreichen. Aber wenn du lieber zu den Gärtnern zurückgehst …« Dhosh dachte nach, dann meinte er: »Ich führe euch hinunter, denn ich möchte nicht bis zu meinem Tode weiter den Irren spielen und in einem schmutzigen Stall hocken.« Atlan und Axton hoben Razamon gemeinsam auf, dann folgten sie leise und geduckt dem Alten, jederzeit darauf gefaßt, daß ein Fänger erwachte und Alarm schlug. Doch alles ging gut. Sie konnten sogar ihre gesamte Ausrüstung mitnehmen. Nach einer halben Stunde verließen sie die Höhle der Fänger und gelangten an eine Schlucht, die so tief war, daß das Licht ihrer Scheinwerfer nicht bis zum Grunde leuchtete. Aber direkt an ihrer Wand führten breite Stufen in zahllosen engen Serpentinen hinunter. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als sich ihnen anzuvertrauen.
43
* Nach ungefähr einer halben Stunde legten sie eine Pause ein. »Dorkh hat sich mir bereits jetzt als Welt der Treppen eingeprägt«, meinte Lebo Axton schnaufend. »Sollte ich einmal dazukommen, mir ein Haus zu bauen, dann darf es nicht eine einzige Stufe haben.« Atlan lächelte trotz der Schmerzen an Hand- und Fußgelenken. »Der Sandsturm war schlimmer, Lebo. Aber ich denke, wir sollten unsere Scheinwerfer für eine Weile ausschalten. Auch du, Dhosh!« »Warum?« fragte der Alte, der Razamons Scheinwerfer trug. »Weil ich wissen möchte, ob sich unter uns Lichtquellen befinden«, erklärte der Arkonide. Sie schalteten ihre Scheinwerfer aus. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckten sie tatsächlich unter sich einen schwachen Lichtschimmer. »Was meinst du dazu, Lebo?« fragte Atlan. »Es handelt sich nicht um eine punktförmige Lichtquelle, sondern um einen hellen Streifen«, antwortete Lebo Axton. »Demnach stammt das Licht nicht aus einer einzigen Lampe und auch nicht aus zweien oder dreien, sondern es ist entweder Tageslicht oder das Licht, das aus einem weit entfernten, großräumig beleuchteten Terrain hereinfällt.« Atlan nickte. »Du hast nichts verlernt, Spezialist Kennon.« »Ich fand leider bisher keine Gelegenheit dazu«, erwiderte Axton. »Wir steigen weiter ab!« entschied der Ar-konide. »Ohne die Scheinwerfer zu benutzen! Ist das klar, Dhosh?« »Ich begreife«, sagte Dhosh. »Ihr vermutet, weiter unten könnten Späher der Fänger sein.« Sie setzten ihren Weg fort. Wieder trugen
44
H. G. Ewers
Atlan und Lebo Axton Razamon gemeinsam. Bald hatten sie das Gefühl, die Arme würden ihnen aus den Schultern gerissen. Plötzlich blieb Dhosh stehen. Beinahe wären Atlan und Axton über ihn gefallen. Aber sie sagten nichts, sondern legten den Pthorer lautlos ab und stellten sich neben den Alten. Ungefähr acht Meter unter sich sahen sie das Ende der Treppe. Gleich dahinter gab es eine tief herabhängende Marmordecke – und unter ihr fiel bläulicher Lichtschein auf einer Breite von etwa einem Kilometer hervor. Gegen das Licht aber hoben sich zwei Gestalten ziemlich deutlich ab. Sie trugen die »Robin-Hood-Kleidung« der Fänger und wandten Atlan und seinen Gefährten die Rücken zu. Der Arkonide und Axton nickten sich zu. Atlan bedeutete Dhosh mit Handzeichen, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis sie zurückkehrten. Danach glitten die beiden Männer lautlos die Treppe hinab. Da die beiden Fänger nichts von ihrer Existenz ahnten und ihre ganze Aufmerksamkeit der beleuchteten Gegend hinter der herabhängenden Marmordecke widmeten, war es für Atlan und Lebo Axton reine Routine, sich ihnen unbemerkt zu nähern, sie anzuspringen und schlafen zu schicken. »Fesseln wir sie?« fragte Axton. Atlan schüttelte den Kopf. »Da wir nicht bei ihnen bleiben, wären sie durch eventuell auftauchende Giftechsen gefährdet. Wir nehmen ihnen nur die Waffen ab. In einer halben Stunde dürften sie zu sich kommen. Dann können sie zu ihrer Höhle zurückkehren.« Sie holten Razamon und Dhosh, stiegen an den beiden bewußtlosen Fängern bis zum Ende der Treppe und gingen in den Lichtschein jenseits der herabhängenden Marmordecke hinein …
9. Dumpfe Trommelklänge ließen Atlan und Lebo Axton aufhorchen. Dhosh reagierte anders. Er zitterte am ganzen Leib und konnte
sich kaum noch auf den Beinen halten. Atlan und Axton blieben stehen. »Trommeln!« sagte Axton verwundert. »Sollten das die Fänger sein?« »Es kommt von vorn, nicht von hinten«, erwiderte der Arkonide. Sie legten Razamon behutsam hin und sahen sich um. Seit ungefähr einer Stunde waren sie durch eine gigantische Höhle gegangen, über einen leicht gewellten schwarzen Marmorboden, zwischen unterschiedlich geformten schwarzen Marmorsäulen hindurch, die die etwa dreißig Meter hohe schwarze Marmordecke stützten, die manchmal nach oben gewölbt und manchmal völlig glatt war. In die glatten Flächen waren große dreieckige, kreisrunde und quadratische Leuchtkörper eingelassen, die die ganze Höhle in bläuliches Licht tauchten. »Wir sind allein«, stellte Lebo Axton fest. »Ich möchte nur wissen, wovor Dhosh sich so sehr fürchtet. Dhosh!« Der Alte hörte nicht. Er war auf die Knie gesunken, wiegte den Oberkörper hin und her und murmelte undeutliche Beschwörungen. Axton ging zu ihm und rüttelte ihn an den Schultern. »Dhosh! Hörst du mich? Antworte!« Dhosh hörte auf, Beschwörungen zu murmeln. Er wandte das Gesicht Axton zu. Es war bleich, und aus den Augenschlitzen flammte grünes Leuchten. »Es sind Tichys«, sagte er mühsam. »Wir sind verloren.« »Was sind Tichys?« fragte Lebo Axton. »Hört ihr sie nicht?« entgegnete der Alte. »Sie dlungsen immer, wenn sie ihr Opfer umstellt haben.« Axton und Atlan lauschten angestrengt. »Mit ›dlungsen‹ scheint er das Trommelgeräusch zu meinen«, sagte Atlan. »Aber es kommt nur von vorn, wenn auch auf breiter Front. Wir können demnach nicht umstellt sein.« Ein scharfes, metallisch hallendes Knacken ließ die beiden Männer nach oben
Burg der Geheimnisse schauen. Was sie sahen, erfüllte sie mit Entsetzen. In der Decke über ihnen bewegte sich etwas. Es war schwarz wie der Marmor des Berges Odiara, doch Marmor konnte sich nicht schlangenförmig bewegen wie das Ding, das mindestens hundert Meter lang sein mußte und sich mit seiner dicksten Stelle direkt über ihnen befand. »Wenn das ein Tichy ist …«, flüsterte Atlan und erschauderte. »Schnell, weg von hier!« Sie packten abermals den Pthorer und schleppten ihn fort, so schnell es ging. Über ihnen knackste es wieder. Der riesige, schlangenförmige und rund hundert Meter lange Körper hob sich deutlich vom Marmor der Höhlendecke ab. Dort, wo sich die dickste Stelle des Ungeheuers befand, löste sich ein keilförmiger, ungefähr zehn Meter langer und an der breitesten Stelle fünf Meter dicker Echsenschädel von der Decke. Drei tellergroße Augen glühten grellrot, während der Schädel sich langsam bis zum Höhlenboden senkte. Die von vorn kommenden Trommelklänge verstärkten sich – und plötzlich wurden sie von dem Ungeheuer an der Decke erwidert. Es schien sie durch das Pulsieren des aufgeblähten Halses unter dem Schädel zu erzeugen. »Dhosh!« rief Atlan, als er sah, daß sich der Schädel des Ungeheuers auf den Alten herabsenkte, der anscheinend vor Furcht gelähmt war. Er und Axton legten Razamon ab und eilten zu Dhosh. Sie konnten ihn gerade noch packen, bevor der Tichy ein riesiges Maul aufriß, um die mit einem unterarmlangen Giftdorn besetzte Zunge vorzuschnellen. Das Trommeln des Ungeheuers wurde ohrenbetäubend und versetzte Atlan und Axton in Panik. Sie rannten, den offenbar bewußtlosen Alten zwischen sich, ziellos vor dem Schädel davon, der ihnen unerbittlich folgte. Als sie sich an Razamon erinnerten, war es zu spät. Das Untier hatte von ihnen abgelassen
45 und sich dafür dem Pthorer zugewandt. Mit seinem Maul, das so weit klaffte wie ein Scheunentor, pendelte der gigantische Schädel vor Razamon hin und her. Die etwa drei Meter lange und hinten meterbreite rote Zunge mit dem gifttropfenden Dorn kroch schlangengleich über den Boden auf Razamon zu. Atlan ließ Dhosh fallen und riß sein Wurfmesser aus dem Gürtel. Er hörte nicht auf die Warnimpulse seines Extrasinns und kam gar nicht auf den Gedanken, daß das im Vergleich zu dem Ungeheuer winzige Messer völlig nutzlos war. Dennoch handelte er nicht unüberlegt. Im Augenblick der größten Gefahr wurde er eiskalt und furchtlos. Er holte aus und schleuderte das Messer genau in eines der tellergroßen Augen des Tichys. Und es traf genau. Das Ungeheuer zuckte zurück, knallte mit dem Schädel gegen die Höhlendecke – und im nächsten Augenblick brandete eine Flut psionischer Impulse auf Atlan und Axton ein. Obwohl mentalstabilisiert, reichte allein die Wucht der psionischen »Flutwelle« aus, um den Arkoniden in eine Puppe zu verwandeln, die hilflos mit Armen und Beinen zuckte. Das Untier schüttelte sich – und das Messer flog aus dem Auge und fiel klirrend neben Atlan auf den Boden. Doch der Arkonide war unfähig, die Waffe überhaupt zu erkennen. Gleichsam durch einen wirbelnden Schleier sah er, wie die Giftechse abermals zum Angriff auf Razamon ansetzte. Aber der Pthorer lag nicht länger hilflos am Boden. Mit marionettenhaften Bewegungen hatte er sich aufgerichtet und starrte das Ungeheuer an, als wollte er es hypnotisieren. Erneut schwollen die Trommelgeräusche zu einem akustischen Orkan an. Sie schienen diesmal von allen Seiten zu kommen. Undeutlich glaubte Atlan weiter hinten die Schädel weiterer Giftechsen von der Höhlendecke herabhängen zu sehen. Unter Aufbietung aller Willenskraft ver-
46
H. G. Ewers
suchte Atlan die Nachwirkungen der psionischen Flut abzuschütteln. Als die Zunge des Ungeheuers abermals in Richtung des Pthorers kroch, entdeckte Atlan das Wurfmesser neben sich. Er bückte sich, um es aufzuheben – und taumelte, als eine zweite psionische »Flutwelle« ihn überrollte. Abermals verschwamm die Umgebung vor seinen Augen. Nur schemenhaft sah er, wie die Zunge des Ungeheuers dicht vor Razamon haltmachte, sich aufrichtete – und wie der Giftdorn sich in eines der drei Augen des Tichys bohrte. Als der ganze Riesenkörper des Ungeheuers sich aus der Höhlendecke löste und beim Aufprall auf den Boden ein Beben erzeugte, verlor der Arkonide den Halt. Er ruderte hilflos mit den Armen, dann schlug er auf. Ein stechender Schmerz jagte durch seinen Schädel, dann spürte er nichts mehr …
* Er konnte nicht lange bewußtlos gewesen sein, denn als er wieder zu sich kam und sich umsah, war die Szene fast genauso eingefroren, wie er sie im Gedächtnis hatte. Razamon stand aufrecht, und vor ihm lag der Riesenschädel des Ungeheuers – und dahinter liefen letzte Zuckungen durch den schlangenförmigen, zirka hundert Meter langen Leib der Giftechse. Aber weiter hinten zuckten die Leiber von mindestens fünf weiteren gigantischen Tichys auf dem Höhlenboden. Atlan erhob sich schwankend. Dabei fiel sein Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren – und er sah eine Gruppe von Fängern, die in etwa zweihundert Metern Entfernung so reglos wie Statuen standen und herüberblickten. Zorn ergriff den Arkoniden, Zorn darüber, daß die Fänger vorgehabt hatten, seine Gefährten und ihn den grauenhaften Ungeheuern als Köder vorzuwerfen. Er deutete auf die vor Razamon liegende, verendende Echse und rief:
»Da habt ihr eure Beute! Holt sie euch! Holt auch die anderen Tichys! Sie können niemanden mehr töten!« Die Fänger rührten sich nicht. Dafür drehte sich Razamon langsam um und blickte Atlan an. »Was ist geschehen?« fragte er erstaunt. Ein leises Wimmern ließ beide Männer in eine andere Richtung schauen. Sie sahen Dhosh, der auf dem Bauch zu Razamon kroch. Hinter ihm erhob sich Lebo Axton und blickte verwundert auf die toten Echsen. Atlan eilte zu Dhosh und hob ihn hoch. »Bist du verletzt?« fragte er. Der Alte starrte unverwandt auf den Pthorer. »König Visurtha!« flüsterte er kaum hörbar. »Gnade! Bestrafe mich nicht für den Frevel an deiner Gruft!« Atlan schüttelte ihn leicht. »Komm zu dir, Dhosh! Das ist Razamon, nicht König Visurtha!« Er hielt inne, als ihn eine jähe Ahnung überfiel. »Die zweite psionische Flutwelle; sie kam von dir«, flüsterte er und blickte Razamon an. »Aber sie kann nicht von Razamon gekommen sein. Wer bist du wirklich?« »Was soll das?« fragte der Pthorer. »Du weißt, daß ich Razamon bin, Atlan.« »Du bist König Visurtha!« sagte Dhosh klar und deutlich. »Nur die Goldkönige können den Todesblick auf die Tichys schleudern. Verfüge über mich!« »Du hast die Giftechsen mit psionischen Mitteln dazu gebracht, daß sie sich selbst töteten, Razamon«, erklärte der Arkonide. »Da Razamon nicht über psionische Fähigkeiten verfügt, muß zumindest vorübergehend etwas anderes in dir gewesen sein. Vielleicht tatsächlich der Geist Visurthas. Ich vermute, vor dem Angriff der Echse schlief dieser fremde Geist in dir und zwang deinen eigenen Geist dazu, ebenfalls zu schlafen. Die psionische Ausstrahlung der Echse muß Visurthas Geist geweckt haben. Er wehrte sich seinerseits mit psionischen Mitteln. Danach hat er dich offenbar verlassen, und dein Be-
Burg der Geheimnisse wußtsein erwachte durch seine Aktivitäten.« Razamon fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich weiß von alledem nichts. Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist der Sarkophag und der Goldkönig – und seine Augen!« Er stöhnte. »Sein Blick fraß sich in mein Gehirn …« Atlan ging zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Die Hauptsache ist, daß du wieder du selbst bist.« Er lächelte. »Und daß Lebo und ich dich nicht länger tragen müssen.« Razamon erwiderte das Lächeln, dann blickte er an Atlan vorbei, sah die Gruppe der Fänger und wurde wieder ernst. »Wer ist das?« Erst da bemerkte auch der Alte die Gruppe. »Die Fänger!« kreischte er voller Panik und wollte davonlaufen. Atlan hielt ihn fest. »Von ihnen haben wir nichts mehr zu befürchten. Sie wollten uns als Köder für die Giftechsen benutzen – und sie müssen mitangesehen haben, wie Razamon die Ungeheuer zum Selbstmord trieb. Wahrscheinlich halten sie ihn, wie Dhosh vorhin, für einen Goldkönig. Sie werden solange nicht näherkommen, wie wir hier sind. Aber ich bin sicher, daß sie später dennoch kommen und das Fleisch der Echsen holen werden.« »Ach, sollen Sie doch!« sagte Lebo Axton. »Ich kann erst wieder frei atmen, wenn ich die Ungeheuer nicht mehr sehe. Gehen wir weiter!« Atlan nickte. »Zwischen uns und den beiden Quellen dürfte es wohl kein Hindernis mehr geben, Dhosh. Gehen wir!«
* Sie brauchten eine gute Stunde, bis sie die riesige Höhle hinter sich gelassen hatten. Vor ihnen stand eine Mauer aus schwarzem Marmor, die von zahllosen Rissen und Spalten durchzogen war. Einige der Spalten
47 waren breit genug, um begangen zu werden. »Welchen Weg nehmen wir, Dhosh?« fragte Razamon. Der Alte deutete, ohne zu zögern, auf einen Felsspalt, etwa dreißig Meter rechts von ihnen. »Warst du wirklich schon einmal hier?« fragte Lebo Axton ungläubig. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du lebend durch die Höhle der Tichys gekommen sein willst.« »Sie waren nicht immer dort«, erwiderte Dhosh. »Die Hauptsache ist, daß er den Weg kennt«, meinte Atlan. »Aber bevor wir weitergehen, sollten wir einen Imbiß zu uns nehmen. Ich bin nämlich sicher, daß es für uns kein Halten mehr geben wird, sobald wir die Quellen und die von ihnen ausgehenden Flüsse erreicht haben.« Seine Gefährten pflichteten ihm bei. Gut gelaunt aßen und tranken sie etwas, dann setzten sie ihren Weg fort. Die Aussicht, schon bald das Ziel ihres beschwerlichen und gefährlichen Marsches erreicht zu haben, beflügelte ihre Schritte. Dhosh führte sie zielstrebig durch ein Gewirr von unterschiedlichen Gängen. Atlan bewunderte ihn, denn er zögerte nicht ein einziges Mal an einer Abzweigung. Sie überquerten gerade eine natürliche Marmorbrücke über einem Abgrund, in dem sich Nebel ballte, als sie das Geräusch zuerst hörten. Es klang wie das Summen von Mückenschwärmen, die sich ihnen allmählich näherten. Erst nach einigen weiteren hundert Metern veränderte sich das Geräusch so, daß sie es schlagartig alle erkannten. Es war das Rauschen schnell dahinströmenden Wassers! Dhosh blieb stehen, dann drehte er sich mit leuchtenden Augen um. »Die Quellen!« rief er triumphierend. »Das sind die Quellen des Süßen und des Bitteren Flusses, die uns in die Freiheit führen werden! Bald werde ich unter freiem Himmel atmen können und die Sonne wiedersehen!«
48
H. G. Ewers
Er vollführte einen etwas grotesk wirkenden Luftsprung, dann eilte er davon. Atlan, Razamon und Lebo Axton schauten ihm lachend nach. »Er kann es nicht erwarten«, sagte Axton, als das Gelächter verstummt war. »Ehrlich gesagt, ich hätte ihm nicht zugetraut, daß er es überhaupt bis hierher schaffen würde. Die Hoffnung auf die Freiheit muß ihn verjüngt haben.« Sie gingen weiter, in der Gewißheit, daß sie den Alten hinter der nächsten oder der übernächsten Biegung wieder einholen würden. Doch dann kam nach der übernächsten Biegung eine dreifache Abzweigung – und von Dhosh war immer noch nichts zu sehen. »Dhosh!« rief Razamon. »Wo bist du? Komm hierher!« Als keine Antwort erfolgte, schüttelte er den Kopf. »Der alte Mann kann doch nicht so weit vorausgelaufen sein. Vielleicht hat er sich doch verirrt. Es wäre möglich, daß er den Weg nicht bis zum Ende kennt.« »Wir müssen nach ihm suchen«, erklärte Atlan. »Nach allem, was er für uns getan hat, dürfen wir ihn jetzt nicht im Stich lassen. Kommt, jeder nimmt eine Abzweigung! Wir kehren um, sobald wir die nächste Abzweigung erreichen, spätestens aber nach einer Viertelstunde!« Gesagt, getan! Nach einer halben Stunde trafen sie sich
am Ausgangspunkt wieder. Sie brauchten nichts zu sagen, denn sie erkannten gegenseitig an ihren Gesichtern, daß niemand etwas von Dhosh entdeckt hatte. »Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als allein weiter nach den Quellen zu suchen«, meinte Lebo Axton schließlich. »Eigentlich sollten wir Dhosh dort finden«, sagte Atlan. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich ausgerechnet auf der letzten Strecke, auf der er sich am Rauschen des Wassers orientieren kann, verirren sollte.« Unwillkürlich lauschten sie alle auf das deutliche Rauschen der Quellen. »Ich auch nicht«, erwiderte Razamon. »Und auch uns wird das Rauschen zum Ziel führen. Wir können es gar nicht mehr verfehlen. Allerdings, ohne Dhoshs Hilfe wären wir niemals bis hierher gekommen.« Atlan nickte nachdenklich. »Bald werden wir die Sonne wiedersehen. Aber wer weiß, was uns unter ihr alles noch erwartet, bevor wir das SCHLOSS erreichen.« Schweigend setzten sie sich wieder in Bewegung und tauchten in einer der Abzweigungen unter, hinter sich unsägliche Strapazen und Gefahren und vor sich das verheißungsvolle Rauschen der Quellen …
ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 450 von König von Atlantis mit: Die negativen Magier von Marianne Sydow