Scan by Schlaflos
Jacqueline Carey
DIE GEHEIMNISSE DES NACHTPALAIS Die Auserwählte - Band 1 Aus dem Amerikanischen von Ann Lecker Über die Autorin: Jacqueline Carey, geboren 1964 in Highland Park, Illinois, studierte Psychologie und Englische Literatur. Bevor sie begann, die Welt zu bereisen, lebte sie ein Jahr lang in London und arbeitete als Buchhändlerin. Jacqueline Carey lebt heute im Westen von Michigan. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten (eine davon in der Anthologie Feueratem, erschienen in der Reihe Excalibur - Fantasy bei Knaur), Essays und ein Sachbuch. Ihr internationaler Durchbruch kam 2001 mit dem Romanzyklus um Die Auserwählte. Knaur Die amerikanische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Kushiels Darf bei Tor, New York. In der Reihe Excalibur - Fantasy bei Knaur wird Kushiels Darf mit freundlicher Genehmigung der Autorin in drei Bänden Die Geheimnisse des Nachtpalais, In den Händen des Feindes, Im Namen der Königin - erscheinen. www.knaur-fantasy.de e uns Ihre Meinung zu diesem Buch:
[email protected] Deutsche Erstausgabe 2002 Copyright ® 2001 by Jacqueline Carey Copyright ® 2002 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Redaktion: Angela Troni Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: Becker Illustrators, Hamburg/Ertugal Edirne Die Karte zeichnete Achim Norweg nach der Vorlage aus der oben genannten Originalausgabe. Satz: Ventura Publisher im Verlag Druck und Bindung: Norhaven Paperback A/S Printed in Denmark ISBN 3-426-70272-X 13 5 4 2
DANKSAGUNG Ich danke meinen Eltern, Marty und Rob, für ihre Liebe und Unterstützung sowie Julie, die immer an mich geglaubt hat. Ein ganz besonderes Dankeschön geht an meine Großtante Harriett, meine treueste Anhängerin.
Dramatis Personae
Der Haushalt Delaunays Anafiel Delaunay - Edelmann Alcuin nö Delaunay - Delaunays Schüler Phedre nö Delaunay - Delaunays Schülerin; anguisette Guy - Delaunays Diener Joscelin Verreuil - Cassilinischer Mönch (Siovale) Mitglieder der Königlichen Familie: Terre D'Ange Ganelon de la Courcel - König von Terre d'Ange Genevieve de la Courcel - Königin von Terre d'Ange (verstorben) Isabel L'Envers de la Courcel - Gattin von Rolande; Prinzgemahlin (verstorben) Rolande de la Courcel - Sohn von Ganelon und Genevieve; Dauphin (verstorben) Ysandre de la Courcel - Tochter von Rolande und Isabel; Dauphine Barquiel L'Envers - Isabels Bruder; Duc L'Envers (Namarre) Baudoin de Trevalion - Sohn von Lyonette und Marc; Prinz von königlichem Geblüt Bernadette de Trevalion - Tochter von Lyonette und Marc; Prinzessin von königlichem Geblüt Lyonette de Trevalion - Schwester von Ganelon; Prinzessin von königlichem Geblüt; die Löwin von Azzalle Marc de Trevalion - Duc de Trevalion (Azzalle) Mitglieder der königlichen Familie: La Serenissima Benedicte de la Courcel - Bruder von Ganelon; Prinz von königlichem Geblüt 11 Maria Stregazza de la Courcel - Gattin von Benedicte Dominic Stregazza - Gatte von Therese; Vetter des Dogen von La Serenissima Marie-Celeste de la Courcel Stregazza - Tochter von Benedicte und Maria; Prinzessin von königlichem Geblüt; mit dem Sohn des Dogen von La Serenissima vermählt Therese de la Courcel Stregazza - Tochter von Benedicte und Maria; Prinzessin von königlichem Geblüt Adel der d'Angelines Isidore d'Aiglemort - Sohn von Maslin; Duc d'Aiglemort (Camlach) Maslin d'Aiglemort - Duc d'Aiglemort (Camlach) Marquise Solaine Belfours - Adlige; Geheimsiegelbewahrerin des Reiches Rogier Clavel - Edelmann; Mitglied des Gefolges derL'Envers Childric d'Essoms - Edelmann; Mitglied des Kanzleigerichts Cecilie Laveau-Perrin - Gattin des Chevalier Perrin (verstorben); ehemalige Adeptin des Cereus-Hauses; Lehrmeisterin von Phedre und Alcuin Quincel de Morhban - Duc de Morhban (Kusheth) Seigneur Rinforte - Vorsteher der Cassilinischen Bruderschaft Edmee de Rocaille - Verlobte von Rolande (verstorben) Melisande Shahrizai - Adlige (Kusheth) (Tabor, Sacriphant, Persia, Marmion, Fanchone - Mitglieder des Hauses Shahrizai; Melisandes Blutsverwandte) Percy de Somerville - Comte de Somerville (L'Agnace); Prinz von königlichem Geblüt; Königlicher Oberbefehlshaber Gaspar Trevalion - Comte de Fourcay (Azzalle); Marcs Vetter 12 Nachtpalais Liliane de Souverain - Adeptin des Jasmin-Hauses; Phedres Mutter Miriam Bouscevre - Doyenne des Cereus-Hauses Juliette, Ellyn, Etienne, Calantia, Jacinthe, Donatien Zöglinge des Cereus-Hauses
Bruder Louvel - Priester des Elua Jareth Moran - Stellvertreter des Cereus-Hauses Suriah - Adeptin des Cereus-Hauses Didier Vascon - Stellvertreter des Valeriana-Hauses Skaldia Waldemar Selig - Stammesführer; Kriegsherr Tsingani Anasztaizia - Hyacinthes Mutter Hyacinthe - Phedres Freund; »Prinz des Fahrenden Volkes« Alba Cruarch von Alba - König der Pikten Drustan mab Necthana - Sohn der Necthana; Prinz der Pikten Foclaidha - Gattin des Cruarch Necthana - Schwester des Cruarch Drei Schwestern Gebieter der Meeresstraße - herrscht über die Meere zwischen Alba und Terre d'Ange Sonstige Vitale Bouvarre - Kaufmann; Verbündeter der Stregazza Pierre Cantrel - Kaufmann; Phedres Vater 13 Maestro Gonzago de Escabares - aragonischer Historiker; ehemaliger Lehrmeister Delaunays Thelesis de Mornay - des Königs Dichterin Mierette nö Orchis - ehemalige Adeptin des Orchis-Hauses Quintilius Rousse - Königlicher Admiral Meister Robert Tielhard - Marquist Japheth nö Eglanteria-Vardennes - Dramatiker 14 Damit niemand annimmt, ich sei ein Kuckuckskind, das von lüsternem Bauernvolk unehelich gezeugt und in einem schlechten Erntejahr in die Leibeigenschaft verkauft wurde, will ich vorausschicken, dass ich einem der Dreizehn Häuser entstamme und im Nachtpalais selbst großgezogen wurde, auch wenn es mir nicht viel genützt hat. Es fällt mir schwer, meinen Eltern dafür böse zu sein, obgleich ich sie um ihre Naivität beneide. Niemand hatte ihnen bei meiner Geburt gesagt, dass sie mich mit einem Unglück verheißenden Namen beschenkt hatten. Sie nannten mich Phedre, ohne zu wissen, dass dies ein hellenischer Name ist, auf dem ein Fluch lastet. Bei meiner Geburt hatten sie, so glaube ich, noch Grund zur Hoffnung. Als ich die Augen zum ersten Mal aufschlug, waren sie noch von unbestimmter Farbe, und schließlich ändert sich das Aussehen eines neugeborenen Kindes ununterbrochen, verwandelt sich von Woche zu Woche. Blonde Strähnen weichen pechschwarzen Locken, anfängliche Blässe reift zu einem satten Goldbraun und so fort. Doch nach15 dem ich alle Stufen meiner frühkindlichen Wandlung durchlaufen hatte, war es offenkundig. Ich hatte einen Makel. Natürlich fehlte es mir nicht an Schönheit, selbst als Säugling nicht. Immerhin bin ich eine D'Angeline, und seit der Heilige Elua damals den Boden unserer großen Nation betrat und sie zu seiner Heimat ernannte, ist auf der ganzen Welt bekannt, was es bedeutet, ein D'Angeline zu sein. Die sanften Züge meiner Mutter spiegelten sich in zierlicher Vollkommenheit in meinem Gesicht wider. Auch wenn meine Haut für den Kanon des Jasmin-Hauses zu hell war, gab es gegen ihren elfenbeinfarbenen Teint nichts einzuwenden. Mein Haar, das sich anmutig und in üppiger Pracht lockte, war schwarz wie die Schatten der Nacht, was in manchen Häusern als besonderer Vorzug erachtet wurde. Meine Glieder waren gerade gewachsen und geschmeidig, meine Knochen ein Wunder an zierlicher Kraft. Nein, das Problem war ein anderes. Es waren meine Augen; und nicht einmal beide, sondern lediglich das eine.
Ein so kleines Detail bestimmte über ein ganzes Schicksal. Es war nichts weiter als ein winziges Körnchen, ein kleiner Fleck, ein bloßer Farbpunkt. Hätte er eine andere Färbung gehabt, wäre vielleicht alles anders gekommen. Als meine Augen sich klärten, leuchteten sie in der Farbe, welche die Dichter Bister nennen, dunkel und glänzend wie ein Waldweiher im Schatten uralter Eichen. Außerhalb von Terre d'Ange würde man vielleicht Braun dazu sagen, doch die Sprache jenseits der Grenzen unseres Landes ist äußerst unzureichend, wenn es um die Beschreibung von Schönheit geht. Bister, also satt und dunkel glänzend - bis auf das linke Auge, in dessen Iris ein bunter Fleck leuchtete. 16 Er leuchtete rot, und doch ist Rot nur eine sehr unvollkommene Bezeichnung für seine tatsächliche Farbe. Scharlachrot, könnte man sagen, oder Karmesinrot; röter als der Kehllappen eines Hahns oder der glasierte Apfel im Maul eines Schweins. So kam ich auf die Welt, mit einem fluchbeladenen Namen und einem winzigen blutroten Punkt, der in meinem Blick prangte. Meine Mutter war Liliane de Souverain, eine Adeptin des Jasmin-Hauses, deren Familie schon seit Generationen im Dienste Naamahs stand. Mit meinem Vater verhielt es sich ganz anders: Er war der dritte Sohn eines Handelsfürsten, doch war der Scharfsinn, durch den sein Vater zu hohen Würden in der Cite Eluas gelangt war, leider schon in jenem Samen verschwendet worden, mit dem seine älteren Brüder gezeugt worden waren. Er hätte uns dreien gewiss einen besseren Dienst erwiesen, hätten seine Neigungen ihn zu einem anderen Haus geführt; zum Bryonia-Haus, zum Beispiel, dessen Adepten im geschickten Umgang mit Geldangelegenheiten ausgebildet werden. Aber Pierre Cantrel hatte einen schwachen Verstand und starke Begierden, so dass er, wenn klingende Münze den Beutel an seinem Gürtel füllte und aufwallende Lust den Beutel zwischen seinen Beinen fast zum Bersten brachte, zum lasziven und sinnlichen Jasmin-Haus eilte. Und dort, umgeben von der Ebbe seines Geistes und der Flut in seinen Lenden, verlor er obendrein auch noch sein Herz. Von außen betrachtet mag es nicht so erscheinen, aber im Palais der Nachtblumen, das nur vom einfachen Volk aus den Provinzen mit anderen Namen belegt wird, herrschen komplizierte Gesetze und Regeln. So muss es auch sein, denn wir dienen nicht nur Naamah allein - wie seltsam, dass ich es immer noch betone -, sondern auch den großen Abgeordnetenhäu17 sern, den Nachfahren Eluas und seiner Gefährten und von Zeit zu Zeit sogar dem Königshaus selbst. Obgleich die königliche Familie nicht gerne zugeben mag, wie häufig wir ihren Söhnen und Töchtern tatsächlich schon gedient haben. Außenseiter behaupten, die Adepten würden wie Vieh gezüchtet, um Kinder zu zeugen, die dem jeweiligen Kanon der Häuser entsprechen. Dem ist jedoch nicht so; oder zumindest ist dies nicht verwerflicher als die Tatsache, dass andere Ehen aus politischen oder finanziellen Gründen arrangiert werden. Wir heiraten aus ästhetischen Gründen, das ist wahr, doch soweit ich zurückdenken kann, wurde noch niemand in einen Bund gezwungen, der ihm oder ihr zuwider gewesen wäre. Dies wäre ein grober Verstoß gegen die Gebote des Heiligen Elua. Dennoch entspricht es der Wahrheit, dass meine Eltern ein zu ungleiches Paar waren, und als mein Vater um die Hand meiner Mutter anhielt, sah sich die Doyenne des Jasmin-Hauses genötigt abzulehnen. Dies war nicht weiter verwunderlich, denn meine Mutter war treu nach den Maßstäben ihres Hauses geformt, mit honigfarbener Haut, Haaren so schwarz wie Ebenholz und großen dunklen Augen, die schwarzen Perlen glichen. Mein Vater dagegen war von hellerem Teint. Er hatte flachsblondes Haar und dunkelblaue Augen. Wer konnte da voraussagen, was die Vermischung ihrer Anlagen hervorbringen würde? Mich, natürlich, was der Doyenne im Übrigen Recht gab. Ich habe das nie geleugnet. Da er sie nicht mit der Erlaubnis des Nachtpalais ehelichen konnte, lief mein Vater kurzerhand mit meiner Mutter davon. Es stand ihr frei, mit ihm zu gehen, denn sie hatte ihre Marque mit neunzehn vollendet. Alle Adeptinnen und Adepten des Nachtpalais tragen in Andenken an Naamah traditionelle Muster auf dem Rücken, die ihnen von Marquisten auf die Haut 18 gezeichnet werden. Sie dürfen jedoch nur Gaben zur Gestaltung ihrer Marque verwenden, die ihnen Freiersleute aus freien Stücken zur Huldigung Naamahs überreicht haben. Sobald ihre Marque vollendet ist, können sie das Nachtpalais verlassen und ihre Dienste auf eigene Rechnung anbieten. So machten sich meine Eltern, ausgestattet mit dem prallen Geldbeutel meines Vaters, der Gunst meines Großvaters und der Mitgift meiner Mutter, die sie für ihre Marque erhalten hatte, auf und davon.
Ich bin mir sicher, auch wenn ich sie seit meinem vierten Lebensjahr nicht mehr gesehen habe und daher nicht fragen konnte, dass beide glaubten, meine Mutter würde ein vollkommenes Kind, einen wahren Schatz für das Haus zur Welt bringen, den die Doyenne mit offenen Armen empfangen würde. Dort würde man mich großziehen, umsorgen und mich lehren, den Heiligen Elua zu lieben und Naamah zu dienen, und sobald ich meine Marque vollendet hätte, würde das Haus meinen Eltern ihren Pflichtteil auszahlen. Daran glaubten sie einst, davon bin ich überzeugt. Gewiss war dies ein schöner Traum. Das Nachtpalais ist nicht allzu grausam, und während meine Mutter im Kindbett lag, nahm das Jasmin-Haus sie wieder bei sich auf. Zwar konnte sie nicht auf Unterstützung für ihren unerwünschten Ehemann aus den Geldtruhen des Hauses hoffen, aber ihre Ehe war anerkannt und geduldet, da sie in gebührender Form vor einem Landpriester Eluas geschlossen worden war. Hätten die Ereignisse ihren vorgesehenen Lauf genommen und wären mein Aussehen und mein heranreifendes Wesen im Einklang mit dem Kanon des Hauses gewesen, wäre ich dort großgezogen worden. Hätte ich dem Kanon eines der anderen Häuser entsprochen - wie dies beinahe der Fall war -, hätte die Doyenne oder der Doyen eine Bürgschaft für meine Erziehung 19 bis zu meinem zehnten Lebensjahr geleistet, wenn ich feierlich in mein neues Haus aufgenommen worden wäre. In beiden Fällen, hätte sie sich dazu entschlossen, wäre meiner Mutter die Ausbildung der Adepten anvertraut worden, und man hätte ihr im Gegenzug für meine Marque ein Ruhegeld gewährt. Da meines Vaters Beutel, wenn auch feurig, nicht gerade üppig ausgestattet war, hätten sie sicher diesen Weg gewählt. Aber als sich herausstellte, dass der scharlachrote Fleck in meinem Auge mich für immer brandmarken würde, fasste die Doyenne einen endgültigen Entschluss. Ich hatte einen Makel. Unter den Dreizehn Häusern gab es kein einziges, dessen Kanon sich mit solch fehlerhaftem Gut nachsichtig zeigte. Das Jasmin-Haus würde nicht für meinen Unterhalt aufkommen, und wenn meine Mutter bleiben wollte, musste sie für uns beide sorgen, und zwar als Dienerin und nicht als Lehrerin. Auch wenn er sonst nicht viel besaß, so hatte mein Vater seine leidenschaftlichen Eigenheiten, und Stolz war eine davon. Er hatte meine Mutter zur Frau genommen, und ihre Dienste sollten nur noch ihm zuteil werden und nicht länger vor Naamahs Altar dargereicht werden. Er bat seinen Vater, ihm die Verantwortung für eine Handelskarawane in Richtung Caerdicca Unitas zu übertragen, und nahm meine Mutter und mich zwei Jahre alten Knirps mit auf die Reise, damit wir gemeinsam unser Glück versuchten. Unterwegs ließ er sich mit Straßenräubern und Söldnern gleichermaßen ein, zwischen denen kaum noch ein Unterschied bestand, seit Tiberium gefallen und die Sicherheit der Straßen nicht mehr gewährleistet war. Daher wird es, denke ich, niemanden überraschen, dass er nach langer und mühsamer Reise mit Verlust handelte. Zwar herrschen die Caerdicci nicht mehr über ein großes Reich, doch sind sie gerissene Händler. 20 So kam es, dass uns das Schicksal zwei Jahre später des Reisens überdrüssig und nahezu mittellos wiederhatte. Natürlich ist mir nur wenig davon in Erinnerung geblieben. Am besten kann ich mich an die Reiseroute, die Farben und Gerüche erinnern, und an einen Söldner, der sich dazu berufen fühlte, meine kleine Person zu schützen. Er war ein Stammesangehöriger der Skaldi, ein Nordmann, größer als ein Ochse und hässlicher als die Nacht. Ich liebte es, an seinem Schnurrbart zu ziehen, der an beiden Mundwinkeln herunterhing. Er schmunzelte darüber, und mich brachte es zum Lachen. In Languedoc und beredten Gesten gab er mir zu verstehen, dass er eine Frau und eine Tochter in meinem Alter hatte, die er sehr vermisste. Als sich die Wege der Söldner und der Karawane trennten, fehlte er mir noch viele Monate später. Was meine Eltern betrifft, so kann ich mich nur noch daran erinnern, dass sie viel zusammen und sehr verliebt waren und für mich nur wenig Zeit oder Interesse aufbrachten. Unterwegs war mein Vater vollauf damit beschäftigt, die Tugendhaftigkeit seiner jungen Frau zu verteidigen. Sobald sich herumgesprochen hatte, dass meine Mutter das Zeichen Naamahs trug, erhielt sie täglich Angebote, die manche sogar mit Gewalt durchzusetzen versuchten. Doch er beschützte ihre Tugendhaftigkeit vor allen außer vor sich selbst. Als wir in die Stadt zurückkehrten, begann ihr Bauch sich schon zu wölben. Mein Vater war keineswegs verzagt und hatte die Stirn, seinen alten Herrn um eine weitere Chance zu bitten, da, wie er behauptete, die Reise zu lang, die Karawane zu schlecht ausgestattet und er selbst
noch zu unerfahren in den Gepflogenheiten des Handels gewesen sei. Dieses Mal, so schwor er, würde alles anders werden. Und dieses Mal stellte mein Großvater, der Handelsfürst, eine Bedingung. Er wollte meinen Eltern eine 21 zweite Chance gewähren, wenn sie etwas Eigenes als Bürgschaft beisteuerten. Was hätten sie anderes tun sollen? Wohl nichts. Da mein Vater meiner Mutter untersagte, ihre Talente feilzubieten, war ich ihr einziges Gut. Gerechterweise muss man sagen, dass sie sicher vor dem Gedanken zurückgeschreckt wären, mich auf dem freien Markt in die Leibeigenschaft zu verkaufen. Es sollte zwar dennoch dazu kommen, doch ich glaube, dass keiner der beiden dies voraussehen konnte. Nein, stattdessen nahm meine Mutter, der ich eigentlich dafür dankbar sein müsste, all ihren Mut zusammen und bat um eine Unterredung mit der Doyenne des Cereus-Hauses. Cereus ist und war immer schon die Königin aller Dreizehn Häuser. Es wurde vor sechshundert Jahren von Enediel Vintesoir gegründet, und aus ihm ging schließlich das Nachtpalais hervor. Seit der Zeit Vintesoirs war es Sitte, dass die Doyenne des Cereus-Hauses das Nachtpalais mit einem Sitz im Obersten Gericht der Cite vertrat; ebenso heißt es, dass viele Doyennes dieses Hauses das Vertrauen des Königs genossen haben sollen. Es mag wahr sein; soweit ich unterrichtet bin, ist es durchaus möglich. Zu Lebzeiten seines Begründers diente das Cereus-Haus nur Naamah und den Nachfahren Eluas. Doch seit dieser Zeit erfuhr der Handel einen großen Aufschwung, und während das Palais zu voller Pracht erblühte, wurde seine Kundschaft auffallend bürgerlicher, wie man durch meinen Vater bestätigt sieht. Aber nach allem, was man hörte, war die Doyenne des Cereus-Hauses nach wie vor eine beeindruckende Persönlichkeit. Wie jeder weiß, ist Schönheit am ergreifendsten, kurz bevor die kalte Hand des Todes nach ihr greift, um sie welken zu lassen. Auf solch zerbrechlicher Vergänglichkeit war der Ruhm des Cereus-Hauses begründet. In den Zügen der Doyenne 22 konnte man immer noch den gespensterhaften Widerhall ihrer einst strahlenden Schönheit erkennen, so wie eine getrocknete Blume zwar spröde und zerbrechlich ihre Form bewahrt, doch jegliche Essenz verloren hat. Wenn Schönheit vergeht, beugt die Blume im vorgesehenen Lauf der Dinge ihr Haupt auf dem Stängel und stirbt. Doch manchmal, wenn die Blütenblätter welken, kommt dahinter ein Gerüst aus gehärtetem Stahl zum Vorschein. So verhielt es sich auch mit Miriam Bouscevre, der Doyenne des Cereus-Hauses. Dünn und fein wie Pergament war ihre Haut und ihr Haar vom Alter weiß, aber ihre Augen, ach! Sie saß unbeweglich und aufrecht wie ein siebzehnjähriges Mädchen auf ihrem Stuhl, und sie hatte Augen wie ein Luchs, so grau wie Stahl. Ich erinnere mich noch, wie ich im Innenhof auf marmornen Fliesen stand und die Hand meiner Mutter hielt, während sie stammelnd von ihrer verzweifelten Lage berichtete. Die Entstehung wahrer Liebe, die Flucht, die Anordnung ihrer eigenen Doyenne, der Misserfolg der Karawane und die Forderung meines Großvaters. Ich erinnere mich auch, wie sie von meinem Vater immer noch voller Liebe und Bewunderung sprach, überzeugt, dass die nächste Börse, die nächste Reise ihn zum Erfolg bringen würden. Ich weiß noch, wie sie mit mutiger und zitternder Stimme all die Jahre im Dienste Naamahs anführte und Eluas Gebot zitierte: Liebe, wie es dir gefallt. Und ich erinnere mich, wie schließlich der Fluss ihrer Stimme versiegte und die Doyenne eine Hand hob. Sie hob sie nicht wirklich, sondern regte gerade einmal zwei mit unzähligen Ringen geschmückte Finger. »Bring das Kind zu mir.« Wir näherten uns ihrem Stuhl, und meine Mutter zitterte, während ich seltsam furchtlos war, so wie Kinder es in den 23 unpassendsten Momenten zu sein pflegen. Die Doyenne hob mein Kinn mit einem Ringbeladenen Finger und musterte meine Züge. Durchfuhr etwa ein irgendwie geartetes Zucken, eine gewisse Unsicherheit ihre Haltung, als ihr Blick auf den scharlachroten Fleck in meinem linken Auge fiel? Auch heute noch bin ich mir nicht sicher; und falls es so war, ging es schnell vorüber. Sie zog die Hand zurück und wandte den Blick wieder meiner Mutter zu, streng und durchdringend. »Jehan hat die Wahrheit gesprochen«, sagte sie. »Das Kind ist ungeeignet, den Dreizehn Häusern zu dienen. Die Kleine ist jedoch wohlgestaltet, und dass sie die Erziehung des Palais genossen hat, könnte
eine beträchtliche Abfindung einbringen. Als Anerkennung für deine vielen Jahre in unserem Dienst mache ich dir dieses Angebot.« Die Doyenne nannte eine Summe, und ich konnte spüren, wie ein Schauer der Erregung meine Mutter am ganzen Körper erzittern ließ. Dieses Zittern war einer ihrer Reize. »Gütige Herrin ...«, begann meine Mutter. Doch die alte Doyenne, die uns mit Adleraugen betrachtete, schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab. »Dies sind die Bedingungen«, verkündete sie mit unbarmherziger Stimme. »Du wirst zu niemandem ein Wort sagen. Wenn ihr euch niederlasst, dann nur außerhalb der Stadt. Und das Kind, das du in vier Monaten zur Welt bringen wirst, wird für alle Welt dein erstgeborenes sein. Niemand soll behaupten, das Cereus-Haus stehe dem ungewollten Balg einer Hure bei.« In diesem Augenblick hörte ich meine Mutter vor Schreck einen kurzen Moment die Luft anhalten und beobachtete, wie die Augen der alten Frau vor Befriedigung schmaler wurden. Das bin ich also, dachte damals mein kindliches Selbst; das ungewollte Balg einer Hure. 24 »Das ist nicht...« Die Stimme meiner Mutter bebte. »Dies ist mein Angebot.« Die betagte Stimme war gnadenlos. Sie verkauft mich an diese grausame alte Frau, dachte ich, und ein erregendes Kribbeln des Schreckens durchfuhr mich. Schon damals erkannte ich es, ohne es zu wissen. »Wir werden das Kind bis zu seinem zehnten Lebensjahr großziehen, als wäre es eines der unseren. Sollte die Kleine irgendwelche Fähigkeiten haben, werden wir diese fördern. Ihre Abfindung wird ihr Respekt einbringen. Dies alles kann ich dir anbieten, Liliane. Kannst du ihr genauso viel bieten?« Meine Mutter stand da, meine Hand in der ihren, und blickte auf mein ihr zugewandtes Gesicht herab. Es ist die letzte Erinnerung, die ich von ihr habe, diese großen, dunklen, leuchtenden Augen, die meine zu ergründen suchten und schließlich auf meinem linken Auge verharrten. Durch unsere verschränkten Hände spürte ich das Beben, das sie zu unterdrücken bemüht war. »Dann nimm sie.« Sie ließ meine Hand los und stieß mich heftig von sich. Ich stolperte nach vorne und fiel gegen den Stuhl der Doyenne. Die alte Frau regte sich nur, um leicht an der seidenen Kordel eines Klingelzugs zu ziehen. Von weitem vernahm man den Klang eines silbernen Glockenspiels, worauf eine Adeptin unauffällig hinter einer kaum sichtbaren Wand hervortrat, mich ohne große Mühe mit sich nahm und an einer Hand wegführte. Bis zur letzten Sekunde wandte ich den Kopf zurück, um noch einen letzten Blick meiner Mutter zu erhaschen, doch sie hatte sich abgewandt, während ein lautloses Weinen sie durchzuckte. Die Sonne, die durch die hohen Fenster einfiel und durch die Blumen einen grünlichen Schatten erzeugte, ließ ihr ebenholzfarbenes, dichtes Haar blau schimmern. »Komm«, sagte die Adeptin besänftigend, und ihre Stimme 25 strömte so frisch und sanft dahin wie fließendes Wasser. Während sie mich wegführte, blickte ich voller Vertrauen zu ihr auf. Sie war ein Kind des Cereus-Hauses, blass und erlesen. Ich war in eine andere Welt eingetreten. Kann es da noch verwundern, dass ich die geworden bin, die ich heute bin? Delaunay behauptet, dies sei immer mein vorgezeichnetes Schicksal gewesen, und vielleicht hat er Recht, aber eines weiß ich gewiss: Als mich die Liebe verstieß, war es die Grausamkeit, die Mitleid für mich hegte. 26 Ich erinnere mich noch genau an den Augenblick, als ich das Gefühl des Schmerzes entdeckte. Das Leben im Cereus-Haus ging bald seinen eigenen unveränderlichen und unaufhörlichen Gang. Es lebten mehrere von uns jüngeren Kindern hier; außer mir insgesamt vier andere. Ich teilte mir mit zwei Mädchen das Zimmer, beides grazile, leise sprechende Wesen mit Manieren so fein wie erlesenstes Porzellan. Die Ältere, Juliette, hatte Haare, die sich in ihrem siebenten Lebensjahr zu messingfarbenem Gold verdunkelten, und man vermutete, dass das Dahlia-Haus eines Tages ihre Marque kaufen würde. Durch ihre zurückhaltende und ernste Art war sie für den Dienst in diesem Haus wie geschaffen. Die Jüngere, Ellyn, war ohne jeden Zweifel für das Cereus-Haus bestimmt. Sie besaß diese zierlich schimmernde Blässe; ihre Haut war so hell, dass ihre Lider blau schimmerten, wenn sie die Augen schloss, und sie hatte Wimpern, die sich wie eine Welle auf ihrer zarten Wange brachen. Ich hatte nur wenig mit ihnen gemein. Mit den anderen auch nicht, um die Wahrheit zu 27
sagen - weder mit dem hübschen Etienne, Ellyns Halbbruder, mit seinen Engelslocken von blassestem Gold, noch mit Calantia, trotz ihres fröhlichen Lachens. Sie waren bekannte Größen, deren Wert festgelegt, deren Zukunft gesichert war; sie waren gebilligten Verbindungen entsprungen und dazu bestimmt, wenn nicht in diesem, dann gewiss in einem anderen Haus zu dienen. Versteht mich nicht falsch, ich war nicht verbittert. Die Jahre vergingen auf diese Weise angenehm und anspruchslos in der Gesellschaft der anderen. Die Adepten waren freundlich und wechselten sich darin ab, uns ein erstes Grundwissen zu vermitteln; Poesie, Gesang und Musik, wie man Wein einschenkt und ein Schlafgemach vorbereitet und am Tisch als hübsche Zierde aufwartet. Auch mir war all dies gestattet, solange ich die Augen immer gesenkt hielt. Ich war, was ich war: das ungewollte Balg einer Hure. Dies mag grausam klingen, aber wisset, was ich noch im Cereus-Haus lernte: Der Heilige Elua liebte mich trotzdem. Denn war nicht auch er nur das ungewollte Balg einer Hure? Meine Eltern, die in der Schwärmerei ihrer irdischen Hingabe gefangen waren, hatten sich nie bemüht, mich die Grundlagen unseres Glaubens zu lehren. Im Cereus-Haus genossen sogar die Kinder die Vorzüge einer priesterlichen Unterweisung. Bruder Louvel kam jede Woche und setzte sich im Schneidersitz zu uns in die Kinderstube, um uns an den Lehren Eluas teilhaben zu lassen. Ich mochte ihn sehr, weil er schön war, mit seinen langen, blonden Haaren, die er zu einem seidigen Zopf zusammenflocht, und Augen so blau wie die Tiefen des Ozeans. Er war einst Adept des Gentiana-Hauses gewesen, bis ein Gönner seine Marque kaufte und ihm die Freiheit gab, seinen schwärmerischen Träumen zu folgen. Sich um Kinder zu küm28 mern war einer davon. Er nahm einen oder gleich zwei von uns auf seinen Schoß und ließ für uns die alten Sagen mit seiner Träumerstimme wieder aufleben. So erfuhr ich, während ich auf dem Knie eines ehemaligen Adepten schaukelte, wie der Heilige Elua auf die Welt kam: Als Yeshua ben Yosef sterbend am Kreuz hing, durchbohrte ein tiberischer Soldat seine Seite mit der grausamen Klinge einer Speerspitze. Die Frauen trauerten, als man Yeshua herunternahm, allen voran Magdalena, die ihr dichtes, rötlich-goldenes Haar herabfallen ließ, um seinen leblosen und nackten Körper damit zu bedecken. Ihre bitteren Tränen tropften auf den vom Blute des Messias tiefrot gefärbten und durchtränkten Boden. Aus diesem Bund brachte die trauernde Erde ihren teuersten Sohn hervor: den Heiligen Elua, geliebtester aller Engel. Ich lauschte mit der gespannten Faszination eines Kindes, als Bruder Louvel uns von der Wanderschaft Eluas erzählte. Von den Yeshuiten als Teufelsbrut verabscheut und vom Reich der Tiberer als Nachkomme seines Feindes verschmäht, zog Elua durch die Welt, durch weite Wüsten und karges Land. Der Eine Gott, dessen Sohn ihn gezeugt hatte, verachtete Elua, so wandelte er schließlich barfuss auf dem Busen seiner Mutter Erde und sang dabei, und wo er auch ging, sprossen Blumen in seinen Fußspuren. Als man ihn in Persis gefangen nahm und der König ihn in Ketten legen ließ, schüttelte er nur lächelnd den Kopf; da fingen Weinreben an zu sprießen und schmückten seine Zelle. Die Kunde seiner Wanderschaft war auch bis in den Himmel gedrungen, und als er in Gefangenschaft geriet, verließ eine kleine Schar die Gemeinschaft der Engel und folgte seinem Ruf. Sie setzte sich über den Willen des Einen Gottes hinweg und kam im antiken Persis auf die Erde. Naamah, die älteste Schwester, ging lächelnd zum König 29 und bot sich mit gesenkten Lidern im Austausch für Eluas Freiheit an. Von ihrer Schönheit berauscht, nahm der König von Persis an, und noch immer erzählt man die Geschichte von des Königs Freudennacht. Als sie die Tür zu Eluas Zelle öffneten, strömte der lieblichste Blumenduft hervor, und Elua trat singend und mit einem Rebenkranz gekrönt heraus. Aus diesem Grund, erklärte uns Bruder Louvel, verehren wir Naamah und treten in ihren Dienst als eine heilige Pflicht. Doch der König verriet Elua und seine Anhänger und gab ihnen starken Wein zu trinken, der mit Baldrian versetzt war. Während sie schliefen, ließ er sie auf ein Boot ohne Segel bringen und aufs Meer hinaustreiben; aber als er erwachte, begann Elua zu singen, woraufhin die Geschöpfe der Tiefen seinem Ruf folgten und das Boot sicher über das Meer brachten. Sie gingen in Bhodistan an Land, und Naamah und die anderen folgten Elua, ohne zu wissen oder sich darüber zu bekümmern, ob das Auge des Einen Gottes auf sie gerichtet war, und wo sie auch gingen, sangen sie und flochten sich die Blumen ins Haar, die im Gefolge Eluas aufblühten. Die Menschen in
Bhodistan gehören einem sehr alten Volk an, und sie fürchteten sich davor, sich von der Vielzahl ihrer Götter abzuwenden, die bald launisch, bald mitfühlend sind. Doch erkannten sie das Licht, das in ihm strahlte, und ließen nicht zu, dass ihm jemand Leid zufügte, auch wenn sie ihm selbst nicht folgen wollten. So wanderte er singend umher, und die Menschen machten das Zeichen des Friedens und wandten sich ab. Wenn er Hunger verspürte, legte sich Naamah auf dem Markt für klingende Münze mit Fremden nieder. Von dort aus führte Eluas Weg nach Norden, er wanderte lange durch unwirtliches und steiniges Land, und die Engel und Geschöpfe der Erde wachten über ihn, weil er sonst umgekommen wäre. Ich liebte diese Geschichten, wie die vom Adler 30 des Tiroc-Passes, der jeden Morgen über die Felsen und das Eis flog und tief über dem Kopf des Heiligen Elua kreiste, um ihm eine Beere in den Mund fallen zu lassen. In den düsteren Wäldern des skaldischen Hinterlands waren die Raben und Wölfe seine Freunde, aber die Stammesangehörigen beachteten ihn nicht und schwangen ihre schrecklichen Äxte, während sie ihre Götter anriefen, die immerzu nach Blut und Eisen dürsten. So wanderte er weiter, und wo er entlangschritt, streckten Schneeglöckchen ihre Köpfe aus dem Schnee. Schließlich erreichte er das noch namenlose Terre d'Ange, ein reiches und wunderschönes Land, wo Oliven, Trauben und Melonen wuchsen und Lavendel in duftender Fülle blühte. Hier hießen die Menschen ihn mit offenen Armen willkommen und antworteten ihm mit Liedern, als er über die Felder ging. So verhielt es sich mit Elua und Terre d'Ange, dem Land meiner Geburt und meiner Seele. Sechs Jahrzehnte lang weilten sie hier, der Heilige Elua und seine Anhänger, Naamah, Anael, Azza, Shemhazai, Camael, Cassiel, Eisheth und Kushiel. Und alle außer Cassiel folgten dem Gebot des Heiligen Elua, welches meine Mutter vor der Doyenne zitiert hatte: Liebe, wie es dir gefällt. So wurde Terre d'Ange zu dem, was es heute ist, und die Welt erfuhr von der Schönheit der D'Angelines, die dem Geschlecht des Heiligen Elua und seiner Anhänger entsprungen sind. Nur Cassiel hielt standhaft an den Geboten des Einen Gottes fest und schwor der irdischen Liebe zugunsten der Liebe des Göttlichen ab; aber Elua hatte sein Herz berührt, und er blieb immer an seiner Seite, wie ein Bruder. Während dieser Zeit, erzählte uns Bruder Louvel, beschäftigten den Einen Gott der Tod seines Sohnes Yeshua ben Yosef und das Schicksal seines auserwählten Volkes. Die Zeit der Gottheiten vergeht nicht wie die unsere, und ganze drei Generationen können zwischen einem Gedanken und dem nächsten 31 leben und sterben. Als ihm die Lieder der D'Angelines zu Ohren kamen, richtete er seinen Blick auf Terre d'Ange, auf Elua und diejenigen, die dem Himmel entflohen waren, um ihm zu folgen. Der Eine Gott entsandte seinen Oberbefehlshaber, sie zurückzuholen und Elua vor seinen Thron zu bringen, doch dieser kam ihm mit einem Lächeln entgegen und gab ihm den Friedenskuss, während er ihm Blumenkränze um den Hals legte und sein Glas mit süßen Weinen füllte, woraufhin der Führer von Gottes Heerscharen beschämt und mit leeren Händen zurückkehrte. Der Eine Gott musste erkennen, dass sein Glaube keinen Einfluss auf Elua hatte, in dessen Adern der rote Wein seiner Mutter Erde, den sie ihm durch ihren Leib gegeben hatte, und die Tränen der Magdalena flössen. Doch war er dadurch von irdischer Natur und somit der Sterblichkeit unterworfen. Der Eine Gott dachte lange darüber nach und sandte schließlich nicht den Engel des Todes zu Elua und seinen Anhängern, sondern seinen obersten Herold. »Wenn du hier bleibst und liebst, wie es dir gefällt, wird deine Nachkommenschaft die Erde Übervölkern«, sagte der Bote des Einen Gottes. »Und dies darf nimmer sein. Folge mir nun friedvoll zur Rechten deines Gottes und Herrn, und alles ist vergeben.« Bruder Louvel war ein guter Geschichtenerzähler; er hatte eine melodische Stimme und wusste an den richtigen Stellen Pausen zu setzen, so dass seine Zuhörer an seinen Lippen hingen und auf den nächsten Atemzug gespannt waren. Was würde Elua antworten? Wir konnten kaum erwarten, es zu erfahren. Er offenbarte uns Folgendes: Der Heilige Elua lächelte den obersten Herold an, wandte sich zu seinem Gefährten Cassiel und streckte die Hand nach seinem Messer aus. Nachdem er es genommen hatte, zog er die Spitze über seine Handfläche und 32 schlitzte sie auf. Leuchtend rotes Blut quoll heraus und fiel in dicken Tropfen zur Erde, aus denen
Anemonen erblühten. »Meines Großvaters Himmelreich ist blutleer«, sagte Elua dem Boten, »ich bin es aber nicht. Möge er mir einen besseren Ort anbieten, an dem wir lieben und singen und wachsen können, wie es unser Brauch ist, einen Ort, an dem unsere Kinder und unsere Kindeskinder mit uns zusammenkommen können, und ich werde gehen.« Der Herold hielt inne und wartete auf die Antwort des Einen Gottes. »Solch einen Ort gibt es nicht«, antwortete dieser. Daraufhin, so erzählte uns Bruder Louvel, geschah etwas, das seit vielen Jahren nicht mehr und seitdem nie wieder geschehen war: Unsere Mutter Erde sprach zu ihrem einstigen Gemahl, dem Einen Gott, und sagte: »Wir könnten ihn erschaffen, du und ich.« So wurde das wahre Terre d'Ange erschaffen, dasjenige, welches jenseits irdischer Wahrnehmung liegt und dessen Pforte wir erst betreten dürfen, nachdem wir durch das dunkle Tor geschritten sind, das aus dieser Welt herausführt. Und so verließen Elua und seine Anhänger diese Ebene und gingen nicht durch das dunkle, sondern geradewegs durch das strahlende Tor in das jenseits gelegene großartigere Land. Aber dieses Land liebte er zuerst, und so nennen wir es nach ihm und ehren Elua und sein Andenken in Stolz und Liebe. Am Tag, als er mit der Erzählung des Eluine-Zyklus fertig war, brachte uns Bruder Louvel ein Geschenk mit; für jeden Einzelnen einen Strauß Anemonen, den wir mit einer langen Nadel an unseren Kitteln befestigten. Die Blumen waren von dem tiefen, kräftigen Rot, von dem ich glaubte, es deute auf wahre Liebe hin, doch er erklärte uns, dass die Anemonen ein Zeichen des Verständnisses für das irdische Blut Eluas seien, das er für seine Liebe zur Erde und zum Volke der D'Angelines vergoss. 33 Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, auf dem Anwesen des Cereus-Hauses umherzustreifen und den Unterricht des Tages auf mich einwirken zu lassen. An jenem Tag, erinnere ich mich, war ich in meinem siebten Lebensjahr und wie jeder andere Adept stolz auf die Anemonen, die vorne an meinem Kleid steckten. Im Vorraum des Empfangszimmers versammelten sich wie immer all jene Adepten, nach denen man geschickt hatte, um sich für die Begutachtung und Auswahl durch die Freiersleute bereitzuhalten. Ich ging gerne dorthin, weil mir die kultivierte Atmosphäre der Dringlichkeit, die leichte Spannung gefiel, die den Wartenden anzusehen war, während sie sich darauf einstellten, um die Gunst der Freiersleute zu wetteifern. Nicht dass unverhohlener Wettbewerb gestattet gewesen wäre; solch eine Zurschaustellung ungehöriger Gefühle hätte man als unschicklich empfunden. Aber es war dennoch zu spüren, und man hörte immer wieder Geschichten - eine Flasche Duftwasser, die gegen Katzenurin ausgetauscht worden war, zerfetzte Haarbänder, zerschnittene Träger, der schräg abgeschnittene Absatz eines Schuhs. Ich habe solche Dinge nie beobachtet, aber die Möglichkeit lag immer in der Luft. An diesem Tag war alles still, und nur zwei Adepten warteten ruhig, da man schon im Vorhinein nach ihnen persönlich verlangt hatte. Ich setzte mich lautlos und ohne ein Wort zu sagen an den kleinen Brunnen in der Ecke und versuchte mir vorzustellen, ich wäre einer dieser Adepten und wartete gelassen darauf, mich mit einem Freiersmann niederzulegen. Doch bei dem Gedanken, mich einem Fremden hinzugeben, überkam mich stattdessen eine erschreckende Erregung. Nach dem, was uns Bruder Louvel erzählt hatte, wurde Naamah von einer mystischen Reinheit erfüllt, als sie zum König von Persis ging und sich auf dem Marktplatz mit Fremden niederlegte. Aber das erzählen sie im Gentiana-Haus und nicht in Alyssum, wo es heißt, sie habe sich davor gefürchtet, ihre Sittsamkeit abzulegen, und auch nicht im Melissa-Haus, wo man sagt, sie sei aus Mitgefühl zu ihm gekommen. Ich weiß es, weil ich den Gesprächen der Adepten zuhörte. In Bryonia wird erzählt, sie habe ein gutes Geschäft damit gemacht, und im Camellia-Haus, dass ihre Vollkommenheit ihn zwei Wochen lang erblinden ließ, nachdem sie sich entschleiert hatte, und er sie deshalb aus verständnisloser Angst verriet. Dahlia behauptet, sie habe sich wie eine Königin hingegeben, während Heliotrop sagt, sie habe sich in der Liebe geaalt wie in der Sonne, die auf Misthaufen und Königsgemächer gleichermaßen scheint. Das Jasmin-Haus, für das ich eigentlich bestimmt war, behauptet, sie habe es aus reiner Lust getan, und Orchis meint für eine Lerche. Eglanteria sagt, sie habe durch die Lieblichkeit ihres Gesangs verzaubert. Was Valeriana behauptet, weiß ich nicht, denn von den beiden Häusern, die den pikanteren Vorlieben entgegenkommen, erfuhren wir weniger; aber ich hörte einmal, dass Mandragora erzählt, Naamah habe ihre Freier wie Opfer ausgewählt und sie ausgepeitscht, bis sie in Gewaltberauschter Ekstase vollkommen befriedigt
und halb tot gewesen seien. Von diesen Dingen erfuhr ich, weil die Adepten, wenn sie glaubten, ich würde nicht zuhören, immer wieder zu erraten versuchten, für welches Haus ich bestimmt gewesen wäre, hätte ich nicht diesen Makel. Auch wenn ich wie wohl jedes Kind meine wechselhaften Launen hatte, war ich weder bescheiden, fröhlich oder würdevoll, noch klug, leidenschaftlich oder sonst etwas genug, um mich für ein ganz bestimmtes Haus auszuzeichnen, und ich hatte anscheinend kein besonderes Talent für Poesie oder Gesang. So fragten sie sich damals vergebens; doch nach jenem Tag, denke ich, konnte kein Zweifel mehr bestehen. 34 35 Der Anemonenstrauß, den Bruder Louvel mir geschenkt hatte, war unordentlich geworden, und ich zog die Nadel heraus, um ihn wieder zu richten. Es war eine lange, spitze, außerordentlich glänzende Nadel mit einem Perlmuttkopf. Ich saß am Brunnen und bewunderte sie, ohne einen weiteren Gedanken an die Anemonen zu verschwenden. Ich dachte an Bruder Louvel, an seine Schönheit und daran, wie ich mich ihm hingeben würde, sobald ich eine richtige Frau geworden war. Ich dachte auch an den Heiligen Elua, seine lange Wanderschaft und seine erstaunliche Antwort an den obersten Herold des Einen Gottes. Das Blut, das er vergossen hatte, könnte wer weiß? - in meinen eigenen Adern fließen, so dachte ich und beschloss, es zu überprüfen. Ich drehte die Handfläche der linken Hand nach oben, nahm die Nadel fest in die rechte und stieß sie in mein Fleisch. Die Spitze drang mit überraschender Leichtigkeit ein. Für einen kurzen Augenblick schien es mir kaum etwas auszumachen; doch dann blühte der Schmerz auf wie eine Anemone, ausgehend von der Spitze, die ich mir in die Handfläche gebohrt hatte. Meine Hand sang voller Qual, und meine Nerven wurden in einen Zustand höchster Erregung versetzt. Es war ein ungewohntes Gefühl, zugleich schlecht und gut, schrecklich gut, wie wenn ich an Naamah dachte, die sich zu Fremden legte, nur besser - stärker. Ich zog die Nadel wieder heraus und beobachtete fasziniert, wie mein eigenes rotes Blut den kleinen Einstich füllte, eine scharlachrote Perle in meiner Handfläche, die dem Fleck in meinem Auge glich. In diesem Moment wusste ich nicht, dass mich ein Adept voller Erstaunen dabei beobachtet und sofort einen Dienstboten nach der Doyenne hatte schicken lassen. Gefesselt von dem Schmerz und dem dünnen Tropfen Blut, bemerkte ich nichts, bis ihr Schatten auf mich fiel. »So«, sagte sie, während sie mit ihrer alten Klaue mein linkes Handgelenk umklammerte und meine Hand nach oben riss, um die Innenseite zu betrachten. Die Nadel fiel mir aus den Fingern, und mein Herz klopfte in panischer Erregung. Ihr stählerner Blick durchbohrte den meinen und erkannte dort die schmerzerfüllte Lust. »Für dich kommt dann wohl das Valeriana-Haus infrage?« In ihrer Stimme lag grimmige Befriedigung; dieses Rätsel war gelöst. »Schickt einen Boten zum Doyen, lasst ihm ausrichten, wir hätten hier jemanden, dem es von Nutzen sein könnte, im Ertragen von Schmerzen unterwiesen zu werden.« Ihre stahlgrauen Augen wanderten noch einmal über mein Gesicht, ruhten auf meinem linken Auge und hielten inne. »Nein, wartet.« Wieder durchfuhr sie ein Zucken, eine Unsicherheit, etwas, was in ihrer Erinnerung wieder aufblitzte. Sie ließ mein Handgelenk los und wandte sich ab. »Lasst nach Anafiel Delaunay schicken. Sagt ihm, wir hätten hier etwas Interessantes für ihn.« 36 37 Warum lief ich am Tag, bevor ich Anafiel Delaunay, einstmals mächtiger Fürst des Hofs - sein wahrer Herrscher -und potenzieller Käufer meiner Schuldigkeit, treffen sollte, davon? Um ehrlich zu sein, kann ich keinen Grund nennen, außer dass ich immer den Drang verspürte, die Gefahr um ihrer selbst willen zu suchen; wegen des Schauders, der mich überkam, oder wegen des möglichen Nachspiels - wer kann das sagen? Ich war mit einer der Küchenmägde befreundet, und sie hatte mir den Birnbaum im Garten hinter den Küchen gezeigt, der entlang der Mauer wuchs, so dass man an ihm hoch und über die Mauer klettern konnte. Ich wusste, das Treffen stand kurz bevor, denn die Doyenne hatte mir einen Tag zuvor mitgeteilt, dass ich die kommenden Vorbereitungen betreffend vorgewarnt werden würde. Und wahrhaftig, die Adepten tuschelten, ich würde wie für einen Prinzen zurechtgemacht werden; gewaschen, gekämmt und geschmückt. Niemand wollte mir natürlich sagen, wer Anafiel 38
Delaunay war oder warum ich dankbar sein sollte, dass er hierher kam, um mich anzusehen. Wenn damals überhaupt jemand die ganze Wahrheit kannte, würde es mich sehr überraschen, jetzt davon zu erfahren. Doch die Doyenne des Cereus-Hauses sprach seinen Namen mit einer gewissen Geheimnistuerei aus, und keiner der Adepten hätte gewagt, gegen ihre Weisung zu handeln. Hin- und hergerissen zwischen Respekt und Angst, nahm ich schließlich Reißaus. Mit geschürzten Röcken war es ein Leichtes, den Birnbaum hochzuklettern, und unverletzt sprang ich am hintersten Ende der Mauer wieder hinunter. Das Cereus-Haus steht auf dem Kamm eines Bergs, der über die Cite Eluas ragt. Die Mauer bietet ihm Schutz, und nur der Duft seiner Gärten unterscheidet dieses Haus von anderen Anwesen, die sich unter ihm ausbreiten und bis zur Stadtmitte erstrecken. Wie die anderen ist es durch diskrete Insignien über dem Tor gekennzeichnet, durch das die Freiersleute auf das Anwesen eingelassen werden. Drei Jahre lang hatte ich hinter diesen Mauern gelebt; nun da ich draußen war, starrte ich mit offenem Mund auf den Kessel der Stadt hinunter, der vor mir lag und von sanften Hügeln umringt wurde. Dort teilte der Fluss die Cite wie ein Breitschwert, und dort lag bestimmt der Palast, der in der Sonne schimmerte. Eine Kutsche fuhr mit großer Geschwindigkeit an mir vorbei. Die Vorhänge waren zugezogen, aber der Kutscher warf mir einen kurzen, fragenden Blick zu; meine Erscheinung war mehr als auffällig, ein kleines Mädchen in einem Damastkleid und dunklen Locken, die mit Bändern hochgesteckt waren. Wenn die nächste Kutsche anhielt, würde das jenseits der Mauern sicherlich jemand hören, und nur einen Augenblick später würden die Wachen der Doyenne herauskommen und mich sanft, aber bestimmt zurückbringen. 39 Elua war der Magdalena ungewollt geboren worden, und was hatte er getan? Er wanderte ohne Unterlass über die Erde; also beschloss ich, seinem Beispiel zu folgen. Ich machte mich auf, den Berg hinab. Je näher ich der Stadt kam, umso weiter weg erschien sie mir. Die breiten, eleganten Straßen, die von Bäumen und eingezäunten Herrenhäusern gesäumt waren, wichen langsam engeren, verwinkelten Gassen. Diese waren mit Menschen jedweder Art bevölkert, die ärmer wirkten, als ich es von meinem bisherigen Umgang her gewohnt war. Ich wusste damals nicht, dass es unterhalb des Mont Nuit, auf dem die Dreizehn Häuser lagen, eine niedere Art der Unterhaltung gab; Cafes, die von Dichtern und vornehmen Leuten von schlechtem Ruf besucht wurden, Freudenhäuser ohne Rang und Namen, Künstlerbuden, zweifelhafte Apotheker und Wahrsager. Wie ich später erfuhr, verlieh es den Adligen, die sich in das Nachtpalais wagten, die besondere Würze. Es war später Vormittag. Ich hielt mich am Straßenrand, ganz überwältigt von dem Lärm und Getümmel. Über mir lehnte sich eine Frau über eine Balustrade und leerte eine Waschschüssel auf die Straße. Das Wasser spritzte mir vor die Füße, so dass ich zurücksprang und beobachtete, wie es sich seinen Weg nach unten bahnte und zwischen dem Kopfsteinpflaster kleine Bäche bildete. Ein Edelmann, der aus einem nicht gekennzeichneten Etablissement herausgestürmt kam, stolperte fast über mich und fluchte. »Pass doch auf, Kind!« Seine Stimme war schroff. Er eilte die Straße hinunter, während seine Lackschuhe im Takt auf dem Pflaster dahinklapperten. Mir fiel auf, dass seine Kniehose Falten warf und verdreht war, als ob er sich in aller Eile angezogen hätte, außerdem war die Kapuze seines Umhangs nach außen gekehrt. Ein Freiersmann des Cereus-Hauses ging immer ruhig und gelassen, und erst nachdem er ein Glas Wein oder Likör genossen hatte; aber ein Freiersmann des CereusHauses würde auch nie in grober Baumwolle gekleidet zu einem Schäferstündchen kommen. An der nächsten Ecke öffnete sich ein kleiner Platz, der angenehm im Schatten einiger Bäume lag und in dessen Mitte ein Brunnen stand; es war Markttag, und das Geschrei der Verkäufer erschallte aus allen Richtungen. Ich war ohne Proviant weggerannt, und beim Anblick der Esswaren, deren Duft mir in die Nase stieg, rief es mir mein Magen wieder in Erinnerung. Ich blieb beim Stand der Süßwarenhändlerin stehen und betrachtete nachdenklich ihre Auslage an Konfekt und Marzipan; ohne darüber nachzudenken, nahm ich ein Mandelgebäck. »Wer anfasst, muss auch kaufen!« Die Stimme der alten Frau tönte scharf in meinen Ohren. Erschrocken ließ ich das Gebäck fallen und blickte zu ihr hoch. Einen kurzen Augenblick funkelte sie mich mit hochroten Kopf finster an, die ländliche Schönheit ihres stämmigen Körpers lag unter dem vielen Nierenfett verborgen, das sie sich durch das übermäßige Kosten ihrer Waren angefuttert hatte. Zitternd starrte ich sie an, da erkannte ich hinter ihrer gewichtigen, mürrischen Miene ein nicht mitleidloses Herz und fürchtete mich plötzlich nicht mehr so
sehr. Aber dann sah sie meine Augen, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »Teufelsbrut!« Ihr Arm hob sich wie ein großer Brotlaib, und ein fleischiger Finger zeigte auf mich. »Habt Acht vor diesem Kind!« Niemand hatte mir gesagt, dass die Nachbarschaft unterhalb des Mont Nuit so außerordentlich abergläubisch war. Händler drehten sich um und streckten die Hände nach mir aus, um mich zu ergreifen. Panische Angst überfiel mich, und ich nahm 40 41 Reißaus. Leider war das erste Hindernis, das mir in den Weg kam, ein Pfirsichstand, den ich prompt umriss. Ich stolperte über die Waren des Händlers und legte mich der Länge nach unter den Marktmarkisen hin. Irgendetwas zermatschte unangenehm unter meinem linken Ellenbogen, und der Gestank zerquetschter Pfirsiche umgab mich wie ein Pesthauch. Ich hörte, wie der Händler vor Wut losbrüllte, als er hinter dem umgestürzten Marktstand hervorstürmte. »Psst!« Unter einem anderen Stand schaute ein kleines, dunkelhäutiges Gesicht hervor; ein Junge, ungefähr in meinem Alter. Er grinste, und seine Zähne hoben sich weiß gegen den dunklen Teint seiner Haut ab. Mit einer schmutzigen Hand winkte er mich zu sich. Ich strampelte wie verrückt auf dem mit Obst übersäten Boden, um aufzustehen, und spürte, wie eine Naht aufplatzte, als ich mich aus jemandes Griff losriss, der mich hinten am Kleid festhielt. Mein jugendlicher Retter verlor keine Zeit, schubste mich vor sich und führte mich auf allen vieren und in unglaublichem Tempo unter einer verworrenen Folge von Ständen hindurch. Helle Aufregung raste durch meine Adern, und als wir aus dem Markt herausbrachen und vor dem Geschrei hinter uns die Beine in die Hand nahmen, dachte ich, mein Herz würde gleich zerspringen. Einige jüngere Männer verfolgten uns halbherzig, gaben jedoch auf, sobald wir in dem Straßenlabyrinth verschwunden waren. Wir rannten dennoch weiter und hielten erst an, als mein Retter uns in Sicherheit wiegte und mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter in einem Hauseingang verschwand. »Jetzt sind wir sicher«, erklärte er zufrieden. »Sie sind zu faul, um weiter als ein paar Straßen zu rennen, wenn du nicht gerade was wirklich Großes geklaut hast, wie einen Schinken.« Er drehte sich, um mich anzusehen, und pfiff durch die Zähne. 42 »Du hast 'nen Fleck im Auge, wie Blut. Hat die alte Henne deswegen so laut rumgegackert?« Nach den drei Jahren, die ich im blassen, ohnmächtigen Cereus-Haus verbrachte hatte, kam er mir wirklich wie ein exotisches Wesen vor. Seine Haut war so braun wie die eines Bhodistanis, seine Augen schwarz und fröhlich, und seine Haare fielen ihm in rabenschwarzen Locken bis auf die Schultern. »Ja«, sagte ich, und weil ich ihn für schön hielt, fügte ich hinzu: »Aus welchem Haus kommst du?« Er setzte sich auf die Fersen. »Ich lebe auf der Rue Coupole, in der Nähe des Tempels.« Der Treppenabsatz war dreckig, aber mein Kleid war noch dreckiger. Ich raffte es um die Knie und setzte mich hin. »Meine Mutter war aus dem Jasmin-Haus. Du hast ihre Hautfarbe.« Mit einer Hand berührte er die Bänder, die in mein Haar geflochten waren. »Die sind hübsch. Auf dem Markt würden die 'n paar Münzen einbringen.« Seine Augen wurden so groß, dass man die Augäpfel sehen konnte. »Du bist aus dem Nachtpalais.« »Ja«, erwiderte ich erst, doch dann: »Nein. Ich habe diesen Fleck im Auge. Sie wollen mich verkaufen.« »Oh.« Er dachte einen Augenblick darüber nach. »Ich bin Tsingani«, erklärte er schließlich, und Stolz klang in seiner Stimme. »Na ja, meine Mutter ist es zumindest. Außer an Markttagen sagt sie auf dem Platz die Zukunft voraus und macht für andere Leute die Wäsche. Ich heiße Hyacinthe.« »Phedre«, stellte ich mich vor. »Wo wohnst du?« Ich zeigte den Berg hinauf oder in die Richtung, in der ich glaubte, dass der Berg liegen könnte; in dem Straßengewirr hatte ich vollkommen die Orientierung verloren. »Aha.« Er atmete tief ein und ließ die Zunge gegen die Zähne 43 schnalzen. Er roch nicht unangenehm nach ungewaschenem Jungen. »Soll ich dich nach Hause bringen? Ich kenne hier alle Straßen.«
In diesem Moment hörten wir beide Hufschlag, der sich rasch und zielstrebig näherte und sich von dem allgemeinen Lärm der Stadt abhob. Hyacinthe wollte gerade Reißaus nehmen, aber sie hatten uns schon eingeholt und brachten die Pferde unter großem Lärm zum Stehen. Es waren zwei Wachen der Doyenne in den Farben des Cereus-Hauses, einem dunklen, dämmrigen Blau, auf dem eine feine goldene Cereus-Blüte abgebildet war. Sie hatten mich erwischt. »Dort drüben!«, rief der eine und zeigte mit dem Finger auf mich. Seine tiefe Stimme klang verärgert. Er hatte schöne und regelmäßige Gesichtszüge; die Mitglieder der Cereus-Garde wurden sowohl nach ihrem Aussehen als auch nach ihrer Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen ausgewählt. »Du hast die Doyenne verärgert und den Markt in Aufruhr versetzt, Mädchen.« Mit einer behandschuhten Hand griff er nach unten, packte mich fest am Kragen und riss mich hoch. Hilflos schaukelte ich hin und her. »Es reicht jetzt.« Er setzte mich vor sich auf den Sattel und wendete sein Pferd, während er gleichzeitig seinem Begleiter einen Blick zuwarf und ihm mit einer Kopfbewegung den Rückzug anordnete. Hyacinthe rannte auf die Straße, was unter den Hufen der Pferde nicht ganz ungefährlich war, während der andere Wachposten fluchte und mit der Reitgerte nach ihm schlug. »Aus dem Weg, du dreckiger Tsingani-Lümmel.« Hyacinthe wich der Peitsche mit einer Leichtigkeit aus, die von lang erprobter Geschicklichkeit herrührte, und rannte den Pferden ein paar Schritte hinterher, als wir davonritten. 44 »Phedre!«, schrie er. »Komm zurück und besuch mich mal! Vergiss nicht, Rue Coupole!« Ich reckte den Hals, um an der blau gewandeten Brust der Wache vorbeizusehen und einen letzten Blick von ihm zu erhaschen, denn es machte mich traurig, ihn gehen zu lassen. Für ein paar Minuten war er mein Freund gewesen, und ich hatte noch nie zuvor einen wahren Freund gehabt. Bei unserer Rückkehr ins Cereus-Haus gab man mir deutlich zu verstehen, wie sehr ich in Ungnade gefallen war. Es war mir versagt, beim abendlichen Gastmahl zu bedienen, und ich wurde ohne Abendessen auf mein Zimmer geschickt, obgleich Ellyn, die ein weiches Herz hatte, ein kleines Stück Brot in ihrer Serviette für mich versteckte. Am nächsten Morgen holte mich die Adeptin Suriah ab. Sie hatte mich schon am ersten Tag im Cereus-Haus groß und schön bei der Hand genommen, und ich bildete mir ein, dass sie mir freundlich zugetan war. Sie brachte mich zu den Bädern und flocht meine Haare auseinander, während sie mir geduldig und wachsam zusah, wie ich in dem tiefen Marmorbecken herumplanschte. »Suriah«, sagte ich, während ich mich zur Inspektion präsentierte, »wer ist Anafiel Delaunay, und warum könnte er mich wollen?« »In deinen Haaren hängt der Geruch der gemeinen Bordelle.« Sie drehte mich sanft um und goss mir lieblich und äußerst fein duftende Seife über den Kopf. »Messire Delaunay ist am königlichen Hof bekannt.« Ihre schlanken Finger entlockten der Seife einen Schaum, der sich auf meiner Kopfhaut herrlich beruhigend anfühlte. »Und er ist Dichter. Das ist alles, was ich weiß.« »Welche Art von Dichtung?« Gehorsam folgte ich ihrer Anweisung, tauchte unter und schüttelte unter Wasser das 45 Haar, um die Seife herauszuspülen. Fachmännisch nahm sie meine Haare zusammen, als ich wieder auftauchte, und presste sanft das überschüssige Wasser aus den Locken. »Die Art Dichtung, die einen Adepten des Eglanteria-Hauses erröten lassen würde.« Heute lächle ich darüber, wenn ich mich an meine damalige Entrüstung erinnere. Delaunay lachte laut, als ich ihm später davon erzählte. »Er schreibt unanständige Gedichte? Du meinst, ich werde wie eine Jahrmarktsgans herausgeputzt, um an einen Samenbefleckten Schreiberling mit einer Hand im Tintenfass und der anderen in der Hose verkauft zu werden?« »Sei still.« Suriah wickelte mich in ein Handtuch und nibbelte mich trocken. »Wo hast du bloß diesen Wortschatz her? Nein, es heißt, er sei ein wahrlich großer Dichter, zumindest war er das. Aber er beleidigte einen Fürsten, vielleicht sogar ein Mitglied der königlichen Familie, und nun schreibt er nicht mehr, außerdem sind seine Gedichte verboten. Er ging irgendeine Abmachung ein, Phedre, aber ich kenne nicht die ganze Geschichte. Es wird geflüstert, dass er einst der Liebhaber einer sehr mächtigen Person war, sein Name ist am Hofe immer noch bekannt, und es gibt Menschen, die ihn fürchten, das ist jetzt aber genug. Wirst du dich benehmen?« »Ja.« Ich lugte über ihre Schulter. Ihr Kleid war im Rücken so tief ausgeschnitten, dass ich ihre
Marque sehen konnte, verschlungene Muster aus hellgrünen Reben und nachtblauen Blumen, die sich an ihrer Wirbelsäule hochrankten und von der Nadel des Marquisten in ihre helle Haut eingestochen worden waren. Das Werk war fast vollbracht. Nur noch ein oder zwei Freiergaben, und sie würde sie fertig stellen können. Mit einer letzten Blüte, um das Muster am Nacken abzuschließen, würde Suriah ihre Marque vollendet haben. Hiernach hätte sie ihre Schuldigkeit gegenüber Naamah und der Doyenne gleicher46 maßen getan, und es würde ihr freistehen, das Cereus-Haus zu verlassen, wenn sie es wünschte, oder zu bleiben und einen Pflichtteil ihrer Einnahmen an das Haus abzugeben. Sie war neunzehn, genauso alt wie meine Mutter damals. »Suriah, was ist ein Tsingano?« »Einer vom fahrenden Volk, den Tsingani.« Mit einem Kamm ordnete sie meine nassen Locken und runzelte missbilligend die Stirn, was die Schönheit ihrer Züge keineswegs schmälerte. »Was hast du mit denen zu schaffen?« »Nichts.« Ich schwieg und gab mich ihrer Pflege hin. Wenn die Wachen der Doyenne nichts gesagt hatten, würde ich es auch nicht tun, denn vor den Erwachsenen Geheimnisse zu haben, ist häufig die einzige Macht, die zu besitzen ein Kind sich erhoffen kann. Zu gegebener Zeit machte man mich zurecht und bereitete mich darauf vor, Delaunay zu treffen. Da ich noch ein Kind war, schminkten sie mich natürlich nicht, doch sie puderten meine reine Haut ganz leicht und schmückten meine glänzenden, frisch gewaschenen Haare mit Seidenbändern. Jareth Moran, der Stellvertreter der Doyenne, holte mich zu der Unterredung persönlich ab. Ehrfürchtig drückte ich ihm die Hand und trottete neben ihm her. Ein oder zwei Mal lächelte er auf mich herab. Wir trafen uns nicht im Innenhof, sondern im Empfangszimmer der Doyenne, einem Raum, der elegant ausgestattet und für Unterredungen und behagliche Stunden gleichermaßen gedacht war. . Ein Kniekissen war vor zwei' Stühle gelegt worden. Jareth ließ meine Hand los, als wir eintraten, und ging zügig an seinen Platz hinter dem Stuhl der Doyenne. Ich hatte kaum Zeit, einen Blick auf die beiden Personen zu werfen, bevor ich meinen Platz einnahm und mich abeyante vor sie hinkniete. 47 Die Doyenne erkannte ich; Anafiel Delaunay kam mir auf den ersten Blick vor allem hager, groß und von gelblichrotbraunen Farben umhüllt vor, als ich mich mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen hinkniete. Für einen scheinbar endlosen Augenblick herrschte bloßes Schweigen. Ich saß mit vor meinem Körper gefalteten Händen auf den Fersen, und obgleich jede Faser meines Körpers darauf brannte aufzusehen, wagte ich es nicht. »Sie ist wohlgestaltet«, hörte ich schließlich eine gelangweilte Stimme; der Vollklingende Tenor eines Mannes, kultiviert, aber ohne jegliche Intonation, wie es sich nur Adlige erlauben können hervorzukehren. Ich weiß das jetzt, weil Delaunay mir beibrachte, auf solche Dinge zu achten. Damals dachte ich lediglich, dass er mich nicht mochte. »Sicher, der Zwischenfall, den Ihr mir beschrieben habt, ist faszinierend. Aber ich sehe nichts an ihr, das mein Interesse übermäßig wecken könnte, Miriam. Ich habe seit zwei Jahren einen Schüler und bin nicht auf der Suche nach einem weiteren.« »Phedre.« Der Befehl im Ton der alten Doyenne ließ mich ruckartig aufsehen, und ich starrte sie mit großen Augen an. Sie musterte Delaunay und lächelte leicht, so dass ich meinen Blick auf ihn richtete. Anafiel Delaunay saß behaglich in seinem Stuhl, lässig zurückgelehnt, den Ellenbogen auf die Armlehne gelegt, und betrachtete mich, das Kinn auf die Hand gestützt. Er hatte die typisch feinen Gesichtszüge der D'Angelines, lang und lebhaft, und topasfarben gefleckte graue Augen mit langen Wimpern. Sein Haar war von einem ansprechenden Kupferrot, und er trug ein dunkelbraunes Wams aus Samt. Sein einziger Schmuck bestand aus einer feinen, ziselierten Goldkette. Die Ärmel waren gelblich rotbraun, und aus ihren Schlitzen schim48 merte ein Hauch topasfarbener Seide hervor. Träge streckte er seine wohlgeformten Beine aus, die in einem satten Braun gekleidet waren, wobei der Absatz eines blank polierten Stiefels auf der Spitze des anderen ruhte. Während er mich eingehend betrachtete, sackte der Stiefelabsatz unvermittelt mit einem dumpfen Schlag zu Boden. »Eluas Juwelen!« Er brach in schallendes Gelächter aus, das mich überraschte. Ich sah, wie Jareth und
die Doyenne einen kurzen Blick tauschten. In einer flüssigen, eleganten Bewegung erhob sich Delaunay aus dem Stuhl und ging vor mir auf die Knie. Er nahm mein Gesicht in beide Hände. »Weißt du, wessen Zeichen du trägst, kleine Phedre?« Seine Stimme war jetzt liebkosend, und mit seinen Daumen streichelte er mir über die Wangen, meinen Augen gefährlich nah. Ich zitterte zwischen seinen Händen wie ein Kaninchen in der Falle und sehnte mich... sehnte mich danach, dass er etwas mit mir tun möge, etwas Schreckliches, auch wenn ich mich gleichzeitig davor fürchtete. Ich verkrampfte vor lauter Anstrengung, dieses Gefühl zu unterdrücken. »Nein«, flüsterte ich. Um mich zu beruhigen, strich er mir noch einmal kurz über die Wange, nahm seine Hände weg und stand auf. »Kushiels Pfeil«, sagte er und lachte. »Ihr habt eine anguisette in Eurer Obhut, Miriam, eine wahre anguisette. Seht, wie sie immer noch am ganzen Körper bebt, gefangen zwischen Angst und Verlangen.« »Kushiels Pfeil.« Unsicherheit schwang in Jareths Stimme. Die Doyenne saß regungslos da, ein verschmitzter Ausdruck lag in ihrem Gesicht. Anafiel Delaunay ging zum Beistelltisch und schenkte sich unaufgefordert ein Glas Likör ein. »Ihr solltet Eure Archive besser in Ordnung halten«, sagte er amüsiert und zitierte dann in einer tieferen Stimme: »>Mäch49 tiger Kushiel mit strafender Rute/Einst Hüter der ehernen Tore/Sticht mit dem Pfeil, der getränket im Blute/Unheilbar das Aug Auserkorenere« Seine Stimme kehrte wieder zum Gesprächston zurück. »Aus den Marginalien der Leucenaux-Fassung des Eluine-Zyklus natürlich.« »Natürlich«, murmelte die Doyenne gefasst. »Habt großen Dank, Anafiel. Jean-Baptiste Marais vom Valeriana-Haus wird hocherfreut sein, davon zu erfahren.« Delaunay hob eine Augenbraue. »Ich behaupte nicht, dass die Adepten des Valeriana-Hauses sich nicht auf die Kunst der Algolagnie verstehen, Miriam, aber wie lange ist es schon her, seit eine wahre anguisette unter ihrem Dach weilte?« »Zu lange.« Ihr Ton war zuckersüß, und sie blickte drein, als könne sie kein Wässerchen trüben. Ich beobachtete die Szene, fasziniert und von allen vergessen. Ich wünschte mir nichts inständiger, als dass Anafiel Delaunay sich durchsetzen möge. Er hatte seine Dichterhände auf mich gelegt und mein Wesen von Grund auf verändert, hatte das Zeichen meiner Schande in eine Perle von großem Wert verwandelt. Nur Melisande Shahrizai benannte mein Wesen mit solcher Bestimmtheit und Promptheit; aber das war Jahre später und steht auf einem anderen Blatt. Während ich das Gespräch weiter beobachtete, zuckte Delaunay viel sagend mit den Schultern. »Tut es, und ihr Talent wird vergeudet sein, sie wird nichts weiter als der Prügelknabe für ungeschickte Händlersöhne sein. Aber ich kann aus ihr ein so einzigartiges Instrument machen, dass Fürsten und Königinnen verleitet sein werden, erlesene Musik auf ihr zu spielen.« »Nur dass Ihr natürlich schon einen Schüler habt.« »Das ist richtig.« Er trank seinen Likör in einem Zug aus, setzte das Glas ab und lehnte sich mit über der Brust ver50 schränkten Armen und einem Lächeln im Gesicht gegen die Wand. »Um Kushiels Pfeil willen bin ich bereit, noch einen zweiten zu erwägen. Habt Ihr schon eine Abfindung festgelegt?« Die Doyenne leckte sich die Lippen, und ich frohlockte zu sehen, wie sie zitterte vor Aufregung, mit ihm zu handeln, ebenso wie meine Mutter vor ihr gezittert hatte. Sie war hoch, höher als jede andere Abfindung, die während meiner Jahre im Cereus-Haus festgelegt worden war. Ich hörte, wie Jareth der Atem stockte. »Einverstanden«, antwortete Delaunay prompt und streckte sich mit gleichgültiger Miene. »Mein Verwalter wird morgen früh den Vertrag aufsetzen. Sie wird wie üblich bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hier großgezogen, ja?« »Wie Ihr wünscht, Anafiel.« Die Doyenne neigte den Kopf vor ihm. Aus meinem knienden Blickwinkel konnte ich sehen, wie sie sich vor Zorn in die Wange biss, die Abfindung so niedrig veranschlagt zu haben, dass er sich nicht einmal herabließ, darum zu feilschen. »Wir werden an ihrem zehnten Geburtstag nach Euch schicken.« Damit war meine Zukunft entschieden.
51 Das Leben innerhalb der Mauern des Nachtpalais war schon immer eine geschlossene Gesellschaft, und ich wäre noch im selben Augenblick mit Delaunay gegangen, in dem die Vereinbarung getroffen worden war, hätte er es nur erlaubt; aber er wollte mich nicht, noch nicht. Ich war zu jung. Da ich in den Dienst eines Freundes des königlichen Hofes treten sollte, muss ich das Cereus-Haus ins rechte Licht rücken. So gab die Doyenne Anweisungen, sicherzustellen, dass ich eine ordentliche Ausbildung erhielt. Literatur und Rhetorik wurden meinem Lehrplan hinzugefügt, und ab meinem achten Lebensjahr begann ich, die Grundlagen des Caerdicci zu erlernen, der Sprache der Gelehrten. Natürlich erwartete niemand, eine Gelehrte aus mir zu machen, aber es hieß, Delaunay habe in seiner Jugend an der Universität von Tiberium studiert, und er genoss den Ruf eines gebildeten Mannes. Er sollte sich nicht für ein Kind schämen müssen, das im Cereus-Haus großgezogen worden war. Zur großen Überraschung meiner Lehrer fand ich Gefallen an meinen Studien und verbrachte sogar 52 meine freien Stunden in den Archiven, wo ich die Rätsel der Caerdicci-Dichtung zu entschlüsseln suchte. Ganz besonders mochte ich die Werke von Feiice Dolophilus, der sich aus Liebe zu seiner Geliebten lustvoll entmannt hatte, aber als Jareth mich bei ihrer Lektüre ertappte, unterband er es. Delaunay, so schien es, hatte wohl Anweisung gegeben, dass ich ihm so rein und unverdorben übergeben werden sollte, wie es für ein Kind, das im Nachtpalais aufgezogen wurde, überhaupt möglich war. Wenn er mich unwissend haben wollte, so war es mit Sicherheit schon zu spät. Im Alter von sieben Jahren gab es nur wenig, was ich - theoretisch - nicht über die Bräuche Naamahs wusste. Die Adepten klatschten; wir hörten zu. Ich hatte von dem königlichen Juwelier gehört, dessen Arbeiten die schönsten Damen am Hof schmückten; er selbst zog wunderhübsche Jünglinge vor, die mit nichts weiter als ihrer Unschuld bekleidet waren. Ich hatte auch von dem Richter gehört, der für die Weisheit seines Rats bekannt war und das persönliche Gelübde abgelegt hatte, in einer Nacht mehr Frauen zu befriedigen als der Heilige Elua. Ich hatte von einer Edelfrau gehört, die sich als Yeshuitin ausgab und aus Angst vor Verfolgung eines besonders gut aussehenden und männlichen Leibwächters bedurfte, und mir war auch bekannt, welch andere Pflichten er ausgiebig erfüllte; von einer anderen Edelfrau, die allenthalben den Ruf einer großmütigen Gastgeberin genoss, war mir zu Ohren gekommen, dass sie Dienstmädchen beschäftigte, welche die Kunst des Blumenarrangierens und des languisements beherrschten. Von allen diesen Dingen hatte ich gehört und hielt mich aufgrund dieses Wissens für sehr klug, ohne auch nur zu erahnen, wie klein die Summe meiner Kenntnisse war. Die Mühlen der Welt drehten sich außerhalb des Nachtpalais, ein kompliziertes Räderwerk, bei dem die Politik in ständigem Wandel begriffen 53 war, während wir hier drinnen über die Vorlieben dieser oder jener Freiersleute sprachen und unbedeutende Rivalitäten zwischen den Häusern pflegten. Ich war zu jung, um mich an den Tod des Dauphin zu erinnern, der in einer Schlacht an der skaldischen Grenze erschlagen worden war, doch ist mir das Dahinscheiden seiner verwitweten jungen Frau in lebhafter Erinnerung geblieben. Ein Tag der Trauer wurde ausgerufen; wir trugen schwarze Bänder, und die Tore des Cereus-Hauses wurden geschlossen. Auch dessen würde ich mich vielleicht nicht mehr entsinnen, hätte ich nicht für die kleine Prinzessin, die Dauphine, getrauert. Sie war in meinem Alter und nun ganz allein, elternlos, nur ihr betagter, ernster Großvater, der König, war ihr noch geblieben. Eines Tages, so dachte ich, würde ein gut aussehender, berittener Herzog zu ihrer Rettung eilen, so wie es eines Tages - bald - Anafiel Delaunay zu meiner tun würde. Um solch bedeutungslosen Unsinn kreisten meine Gedanken, denn niemand befasste sich mit Fragen wie Gewinn, Verlust oder politischer Macht oder gar mit der Möglichkeit eines Giftanschlags, niemand fragte sich, ob der königliche Mundschenk auf mysteriöse Weise verschwunden war oder nicht oder ob der Haushofmeister eine neue Silberkette trug und geheimnisvoll lächelte. Dieses Wissen war nicht für die Dienerinnen und Diener Naamahs bestimmt. Wir waren Nachtblumen, die in der Hitze der Sonne verwelken, von der Politik ganz zu schweigen. So behaupteten die Adepten; wenn die Doyennes und Doyens der Dreizehn Häuser anders dachten, dann behielten sie dieses Wissen für sich und nutzten es zu ihrem Vorteil, wo sie nur konnten. Nichts verdirbt die Lust eitler Vergnügungen so sehr wie zu viel Wissen, und das Nachtpalais war auf eitlen
Vergnügungen aufgebaut. 54 Das bisschen, das ich in Erfahrung bringen konnte - das über mühsam zusammengeklaubte Einzelheiten hinausging, wie die Tatsache, dass der männliche Körper über siebenundzwanzig und der weibliche über fünfundvierzig Stellen verfügt, die große Lust hervorrufen, wenn sie entsprechend stimuliert werden -, lernte ich von den niederen Ständen; den Köchen, Küchenjungen, livrierten Dienern und Stallburschen. Leibeigen oder nicht, ich hatte keine Stellung im Cereus-Haus, und sie duldeten mich lediglich am Rande ihrer Gesellschaft. Und ich hatte einen wahren Freund: Hyacinthe. Denn seid versichert, dass es mich, nachdem ich einmal die Süße der Freiheit und des Wiedereingefangenwerdens gekostet hatte, immer wieder danach verlangte. Mindestens einmal in jeder Jahreszeit - und häufiger während der warmen Monate - kletterte ich über die Mauer, unbegleitet und unbemerkt. Von dem hoch gelegenen Anwesen des Nachtpalais machte ich mich auf den Weg zur grellen und ordinären Vorbühne der Stadt, die sich am Fuße des Mont Nuit ausbreitete, und dort konnte ich Hyacinthe für gewöhnlich finden. Wenn er nicht gerade Waren von den Markthändlern stibitzte, was er hauptsächlich aus Spaß an der Freude und Schalk tat, machte er gute Geschäfte als Botenjunge. Es gab immer irgendeine Intrige, die gerade im Vorhof der Nacht (so nannten sie ihr Viertel) ausgeheckt wurde; ein Zwist zwischen Liebenden oder ein Wettstreit zwischen Dichtern. Für einen Kupfercentime war Hyacinthe zur Stelle und überbrachte eine Botschaft; für etwas mehr hielt er auch Augen und Ohren offen und erstattete Bericht. Trotz der gutmütigen Flüche, die ihn immer begleiteten, galt er als ein Glückskind, denn er hatte die Wahrheit gesprochen: Seine Mutter war die einzige Tsingano-Wahrsagerin im Vorhof 55 der Nacht. Sie war ebenso dunkelhäutig, wenn nicht noch dunkelhäutiger als ihr Sohn, hatte tief liegende, müde Augen und war über und über mit Gold behängt; Münzen baumelten von ihren Ohren, und eine Kette aus Golddukaten klimperte um ihren Hals. Hyacinthe erzählte mir, es sei bei den Tsingani Brauch, ihren Reichtum auf diese Weise mit sich herumzutragen. Ich erfuhr erst viel später, was er mir nicht sagte; seine Mutter war von den Tsingani ausgestoßen worden, weil sie Naamah mit einem Mann gehuldigt hatte, der nicht zu ihrem Volk gehörte - das den Heiligen Elua ohnehin nicht verehrt, obgleich ich nie richtig verstanden habe, woran sie eigentlich glauben -, und Hyacinthe, der weit davon entfernt war, ein Tsingani-Prinz zu sein, war auf der Straße geboren und ein Kuckuckskind. Dennoch hielt sie weiterhin an den Bräuchen fest, und ich glaube, sie besaß tatsächlich die Gabe der dro-monde, die Schleier der Zukunft zu teilen. Einmal beobachtete ich, wie ein Mann, ein Maler, der gerade zu Ruhm gelangte, ihr Geld gab, damit sie ihm aus der Hand las. Sie sagte ihm, dass er durch seine eigene Hand sterben werde, und er lachte; doch als ich das nächste Mal zum Vorhof der Nacht entwischte, erzählte mir Hyacinthe, dass der Mann an einer Vergiftung gestorben war, weil er die Spitze seines Pinsels immer mit der Zunge angefeuchtet hatte. So sah mein geheimes Leben aus, wenn ich mich dem strengen Blick des Cereus-Hauses entziehen konnte. Die Wachen der Doyenne wussten natürlich, wo sie mich finden konnten; wenn Hyacinthes Spur an Schelmereien nicht ohne Schwierigkeiten verfolgt werden konnte, machten sie es einfach so, wie ich es mir angewöhnt hatte, und fragten bei den Bordellwirten und Weinschänken nach. Irgendjemand wusste zwangsläufig, wo wir waren. Es wurde zu einer Art Spiel, herauszufinden, wie 56 lange ich meine Freiheit bewahren konnte, bevor mich eine Hand im Panzerhandschuh ergriff und in beschämender Weise quer über einen Sattel hievte, um mich zum Cereus-Haus zurückzubringen. Die Wachen, denke ich, betrachteten es als solches, denn das Leben am Nachtpalais war für einen Kämpfer sehr eintönig. Ich stellte zumindest eine Herausforderung dar, wenn auch nur eine kleine. Die Doyenne sah das etwas anders. Nach meiner dritten Flucht war sie berechtigterweise außer sich vor Wut und ordnete eine Züchtigung an. Ich zappelte und strampelte wie wild, als ich geradewegs vom Sattel vor sie in den Innenhof gebracht wurde. Noch nie zuvor hatte ich einen Schandpfahl gesehen, der zu seinem vorgesehenen Zweck benutzt wurde. Andere Erlebnisse verschwimmen angesichts dieser lebhaften Erinnerung. Die Doyenne saß auf ihrem Stuhl und blickte über meinen Kopf hinweg. Die Wache, die mich hergebracht hatte, zwang mich in die Knie und packte meine Handgelenke mit einer Hand. Ehe ich's mich versah, band er sie an den
Eisenring am oberen Ende des Pfahls. Die Doyenne wandte sich ab. Jemand hinter mir packte mich am Kragen und riss mein Kleid in der Mitte auseinander, so dass der Rücken ganz frei lag. Ich erinnere mich noch, die Luft war warm und duftete nach Blumen, und eine feuchte Brise wehte von den Brunnen herüber, die dort ungezwungen sprudelten. Ich spürte sie auf meinem nackten Rücken. Die marmornen Fliesen fühlten sich hart unter meinen Knien an. Die Auspeitschung war nicht allzu grausam, wie solche Dinge eben gehandhabt wurden. In Anbetracht meines kindlichen Alters benutzte der Züchtiger der Doyenne eine weiche 57 Hirschlederpeitsche und schlug nur mit halber Kraft zu, pizzicato eben. Aber ich war ein Kind, meine Haut war zart, und die Peitschenschnur prasselte wie ein Feuerregen auf meine nackten Schultern herab. Der erste Hieb war der intensivste, als die feinen Lederriemen Schmerzensbäche über meine Haut jagten und einen feurigen Schauer am Ende meiner Wirbelsäule erweckten. Einmal, zweimal, dreimal; dieser ekstatische Schmerz hätte mich tagelang vor Lust erbeben lassen können, während ich die Erinnerung daran weiter in mir wach hielt. Doch der Züchtiger machte ununterbrochen weiter, und die Bäche schwollen zu Flüssen an, zu reißenden Strömen, einer Schmerzenswoge, die mich überwältigte und überflutete. Dies war der Augenblick, als ich zu flehen begann. Ich kann mich jetzt nicht mehr an all die Dinge erinnern, die ich herausschrie. Ich weiß nur noch, wie ich mich wand und krümmte, die gebundenen Hände in starrer Bitthaltung ausstreckte, wie ich weinte, Reue gelobte und versprach, mich ihr nie wieder zu widersetzen - aber die Peitsche fiel weiter herab, ohne Unterlass, und setzte meinen unglücklichen Rücken in Brand, bis ich glaubte, er stehe ganz in Flammen. Adepten des Hauses wohnten dem Schauspiel bei, aber ihre Gesichter zeigten kein Mitleid, wie man es sie gelehrt hatte. Die Doyenne selbst hatte den Blick die ganze Zeit über abgewandt; ihr feines, altehrwürdiges Profil war alles, was sie mir schenkte. Ich weinte und flehte, doch die Schläge prasselten wie Regen herab, bis eine wohlige Mattigkeit meinen Körper durchströmte und ich gedemütigt und gebrochen gegen den Pfahl sackte. Erst dann banden sie mich los, brachten mich weg und versorgten meine Striemen, während ich mich in allen Teilen meines Körpers großartig, wund und schläfrig fühlte, schmerzlich bestraft. 58 »Es ist eine Krankheit, die in deinem Blut steckt«, erklärte mir Hyacinthe verständig, als ich das nächste Mal zum Vorhof der Nacht entwischt war. Wir saßen auf der offenen Veranda seines Hauses in der Rue Coupole, teilten uns gestohlene Weintrauben und spuckten die Kerne auf die Straße. »Das sagt jedenfalls meine Mutter.« »Glaubst du, das stimmt?« Seit der Maler tatsächlich gestorben war, teilte ich die tiefe Ehrfurcht des Viertels für die prophetische Gabe seiner Mutter. »Vielleicht.« Gedankenverloren spuckte er einen Kern aus. »Ich fühle mich nicht krank.« »Nicht auf diese Weise.« Obwohl er nur ein Jahr älter war als ich, liebte es Hyacinthe, sich aufzuspielen, als habe er die Weisheit mit Löffeln gefressen. Seine Mutter brachte ihm die dromonde bei, ihre Kunst des Wahrsagens. »Es ist wie mit der Fallsucht. Es bedeutet, dass du von einem Gott berührt worden bist.« »Oh.« Ich war enttäuscht, denn das war nicht viel mehr als Delaunay schon gesagt hatte, nur hatte er sich etwas genauer ausgedrückt. Von Hyacinthes Mutter hatte ich auf eine unzweideutigere Antwort gehofft. »Was sagt sie über meine Zukunft?« »Meine Mutter ist eine Tsingani-Prinzessin«, erwiderte Hyacinthe in einem erhabenen Ton. »Die dromonde ist nichts für Kinder. Glaubst du, wir haben Zeit, uns mit den Angelegenheiten einer unerfahrenen Palasthure abzugeben?« »Nein«, stimmte ich ihm verdrossen zu. »Wahrscheinlich nicht.« Ich war zu leichtgläubig, wie mir Delaunay später lachend erklärte. Schließlich wusch Hyacinthes Mutter die Wäsche anderer Leute und sagte auch Pöbel die Zukunft voraus, der weitaus schlechter gestellt war als jeder Diener und jede Dienerin 59 Naamahs. Tatsächlich lernte ich, dass Hyacinthe in vielen Dingen irrte; hätte er nur gewusst, dass es für Tsingani-Männer verboten war, zu versuchen, die Schleier der Zukunft zu teilen. Was seine Mutter ihm beibrachte, war unter seinem Volk tabu, vrajna.
»Vielleicht, wenn du älter bist«, tröstete mich Hyacinthe. »Wenn du genug Gold hast, ihren Reichtum zu mehren.« »Bei Gastwirten tut sie es für Silbergeld«, erwiderte ich gereizt, »und bei Geigern für Kupfermünzen. Du weißt ganz genau, dass jedes bisschen Geld, das ich über die Vertragssumme hinaus bekomme, als Bezahlung an den Marquisten geht. Außerdem werde ich erst dann richtig dienen, wenn ich eine Frau geworden bin, so lauten die Gesetze der Gilde.« »Vielleicht reifst du früh heran.« Von meinem Schicksal unbekümmert, steckte er sich eine Traube in den Mund. In diesem Moment hasste ich ihn ein wenig für seine Freiheit. »Noch dazu, ein sinnvoll ausgegebener Taler mag dir um ein vieles an Weisheit vergolten werden.« Mit einem breiten Grinsen im Gesicht sah er aus den Augenwinkeln zu mir herüber. Ich hatte ihn mehr als einen Kunden mit ähnlichen Weisheiten seines Geldes entledigen hören. Ich grinste zurück und liebte ihn dafür. 60 Der Maskenball der Wintersonnenwende lag vor meinem zehnten Geburtstag, denn ich war im Frühjahr geboren, aber die Doyenne entschied, dass es mir erlaubt sein sollte, ihm beizuwohnen. Es schien, als müsste ich das Nachtpalais nicht verlassen, ohne ihn ganz und in all seiner Pracht zu sehen. Jedes Haus veranstaltet zu einer bestimmten Zeit des Jahres seinen eigenen Maskenball, und jeder, so sagte man mir, sei eine großartige Angelegenheit mit einer würdigen Geschichte - doch der Mittwinterball sei etwas ganz Besonderes. Seine Wurzeln reichen noch weiter in die Vergangenheit zurück als Eluas Ankunft, denn er zelebriert das Ende des alten Jahres und die Rückkehr der Sonne. Der Heilige Elua, so heißt es, sei von dem einfachen Ritual der Bauern so entzückt gewesen, dass er es bereitwillig als einen Brauch annahm, der seine Mutter Erde und ihren Sonnengemahl ehrte. Stets war es die Rolle des Cereus-Hauses, der Königin aller Häuser, gewesen, den Mittwinterball auszurichten. In der Längsten Nacht sind die Türen zu allen anderen Häusern verschlossen und ihre Mauern leer, denn alle 61 kommen zum Cereus-Haus. Freiersleute haben keinen Zutritt, wenn sie nicht das Zeichen Naamahs tragen, ein Geschenk, das nur nach Gutdünken der Doyennes und Doyens vergeben wird. Selbst jetzt, da die Nacht der Dreizehn Häuser im Licht der Profitgier verblasst, stehen diese Einladungen auf einem ganz anderen Blatt und werden nur von denen getragen, die Anspruch erheben können, von königlichem Geblüt zu sein, und die der Umarmung Naamahs als würdig erachtet werden. Schon Tage vor dem großen Ereignis war das Haus erfüllt von Geheimnistuerei und geschäftigem Treiben. Geheimnistuerei, weil niemand wusste, wem aus unseren Reihen die Ehre gebühren sollte, die Hauptrollen in dem großen Maskenball zu spielen; die Winterkönigin wählte man immer unter den Adeptinnen des Cereus-Hauses aus. Der Sonnenprinz konnte natürlich aus jedem der Dreizehn Häuser stammen, und der Wettbewerb war hart. Hyacinthe erzählte mir, dass sie im Vorhof der Nacht Wetten auf die Erwählten abschlössen. Es heißt, der Sonnenprinz bringe seinem Haus ein Jahr voller Glück. Ich weiß jetzt, warum; Delaunay erklärte es mir. Es gibt eine sehr, sehr alte Geschichte, älter sogar als Elua, über den Sonnenprinzen, der sich mit der Winterkönigin vermählt, um seinen Herrschaftsanspruch auf das Land zu erheben. Solche Geschichten, sagte er, seien immer die ältesten, denn sie entstammen den Träumen unserer ersten Vorfahren und dem ewigen Wechsel der Jahreszeiten. Ob dies wahr ist oder nicht, weiß ich nicht; aber ich weiß gewiss, dass Anafiel Delaunay nicht der Einzige war, der diese Geschichte in jener Nacht kannte. Aber dies sollte erst noch geschehen, und in den vorangehenden Tagen waren die Geheimnisumhüllten Mauern des Cereus-Hauses von großer Betriebsamkeit erfüllt. Die Bewohner warfen die Türen der Großen Halle auf und putzten sie 62 so sorgfältig, wie man es noch selten gesehen hatte. Sie schrubbten die Wände, polierten die Säulengänge, wachsten und bohnerten den Boden, bis er wie mahagonifarbener Satin glänzte. Sie kehrten jedes Stäubchen Asche aus dem riesigen Kamin und bauten wacklige Gerüste auf, damit mehrere Gruppen wendiger Malergehilfen die mit Fresken verzierte Decke von dem Ruß säubern konnten, der sich seit einem Jahr dort abgelagert hatte. Langsam erstrahlten die »Großtaten Naamahs« wieder in ihrem alten Glanz, sogar die Farben schienen frisch und neu unter der Schmutzschicht hervor. Als man die leere und makellose Halle für bereit erklärte, schmückten sie den Saal mit frischen weißen Kerzen, die alle noch unverbraucht waren und nach süßem Bienenwachs dufteten, und großen immergrünen Zweigen. Dann drapierten sie glänzend weiße Stoffe über die langen Tische, auf denen
später das großzügige Festmahl, das die Köche gerade in den Küchen zubereiteten, reich gedeckt werden sollte. Es war vollkommen offensichtlich, dass ich an allen meinen Lieblingsorten unwillkommen war, da alle vom Portier bis hinunter zum niedrigsten Küchenmädchen damit beschäftigt waren, alles für den Mittwinterball herzurichten. Sagt, was ihr wollt, aber niemand trat ohne Stolz in den Dienst des Nachtpalais. Sogar in die Stallungen durfte ich keinen Fuß setzen, weil der Stallmeister mit zusammengebissenen Zähnen darüber wachte, dass alle Boxen sorgfältig gescheuert wurden. Wenn Ganelon de la Courcel, König von Terre d'Ange, höchstpersönlich dem Ball beiwohnen sollte (und das hatte es in früheren Zeiten durchaus gegeben), würden seine Pferde hier besser versorgt als in den königlichen Ställen. Natürlich hatte ich schon früher diese Vorbereitungen beobachten können, doch dieses Jahr war es etwas anderes, weil ich dabei sein würde. Von meinen einstigen Gefährten sollte nur 63 die zerbrechliche Schönheit Ellyn beim Fest aufwarten, da Juliettes Marque, wie wir alle erwartet hatten, an das Dahlia-Haus verkauft worden war, und die fröhliche Calantia war an ihrem zehnten Geburtstag ins Orchis-Haus gewechselt, um dort ihre Erziehung fortzusetzen. Ellyns hübscher Halbbruder Etienne war noch zu jung und musste die Längste Nacht in der Kinderstube verbringen. Es waren jedoch zwei weitere Zöglinge hinzugekommen, die ich noch nicht getroffen hatte, denn auch das Cereus-Haus kaufte die Marques von Kindern anderer Häuser; die blasse Jacinthe, deren Augen für den Kanon von Cereus nur fast zu dunkel waren, und ein Junge, Donatien, der niemals sprach. Wie Ellyn waren sie dazu bestimmt, in die Mysterien Naamahs eingeweiht zu werden, und ich beneidete sie um ihren fest zugewiesenen Platz. In der Längsten Nacht sollte es jedoch keine Verträge und keine finanziellen Transaktionen geben. Unter den Dienerinnen und Dienern Naamahs und ihren ausgewählten Gästen sollte es nur Liebschaften ganz nach Lust und Laune geben; unsere Rolle war es, die Festivitäten zu zieren. Es ist Tradition, in der Längsten Nacht joie zu trinken, jenen klaren, berauschenden Likör, der aus dem Saft einer seltenen weißen Blume gewonnen wird, die in den Bergen wächst und inmitten der Schneewehen erblüht. Wir sollten zwischen den Gästen herumgehen und winzige, mit joie gefüllte Kristallgläser anbieten, die wir auf Silbertabletts trugen. Da es das Privileg des Cereus-Hauses war, die Winterkönigin zu erwählen, hielten wir an diesem Motiv fest, mit Kostümen aus Weiß und Silber. Ich hoffte, Suriah zu treffen, um ihr meines zu zeigen. Wir waren alle vier als Winterkobolde verkleidet und trugen blendend weiße Tuniken aus hauchdünner Gaze, um die Bewegung des im Wind treibenden Schnees 64 nachzuahmen, mit fransigen Ärmeln, die mit Glasperlen versehen waren und wie Eiszapfen nach unten hingen, wenn wir unsere Tabletts zum Anbieten hochhoben. Einfache weiße, mit Silber verbrämte Halbmasken, die für Kinder geeignet waren, verbargen unsere Gesichter, und auf den Lippen trugen wir lediglich einen Hauch Karmesinrot. Ein Bandwirker-Geselle frisierte unser Haar auf ganz wundervolle Weise, indem er in unsere Locken weiße Bänder flocht, um das Bild eines Schneegestöbers heraufzubeschwören. Aber Suriah kam nicht zu uns, und ein anderer Adept gab uns in der Küche Anweisungen. Er trug ein weißes, mit Hermelin besetztes Brokatgewand, und die Maske eines Schneefuchses, der über seinen Augen die Zähne fletschte, saß auf seiner Stirn. »Nein, so«, sagte er ungeduldig und korrigierte die Haltung von Donatiens Arm, während dieser sein Tablett hob. »Nein, nein, weich und elegant. Du hebst keine Humpen in einem Wirtshaus, mein Junge! Was lernt ihr eigentlich im Mandragora-Haus?« Das fragte ich mich auch. Der Züchtiger der Doyenne war ein ehemaliger Adept des MandragoraHauses gewesen. Donatien zitterte, und die feinen Gläser klirrten wie ein Glockenspiel auf dem Tablett, doch er hob es mit einer anmutigen Bewegung. »Schon besser«, lobte der Adept widerwillig. »Und der Ausruf?« »Freude.« Er hatte es mehr gehaucht als ausgesprochen, und Donatien sah aus, als könne er vor Anstrengung jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Der Adept schenkte ihm ein ironisches Lächeln. »Was für eine zerbrechliche Blüte ... wunderbar, Herzchen. Sie werden den Tag, an dem du volljährig wirst, in ihren Kalen65 dern anstreichen. Dann ist jetzt ja alles klar. Achtet darauf, erst die Gäste und dann die Doyennes und Doyens zu bedienen. Danach gilt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«
Er wandte sich zum Gehen und zog die Maske herunter. »Aber ...« Jacinthe hatte sich zu Wort gemeldet. Der Adept drehte sich um, das Gesicht nun hinter den verschlagenen Zügen des Schneefuchses verborgen, dunkle Schatten blitzten hinter den Augenhöhlen auf beiden Seiten der spitzen, listigen Schnauze hervor. »Woran erkennen wir sie?«, fragte das Mädchen vernünftig. »Alle sind maskiert.« »Ihr werdet sie schon erkennen«, erwiderte der Schneefuchs. »Oder irren.« Mit diesem nicht besonders beruhigenden Rat überließ er uns den schroffen Anweisungen des Küchenpersonals. Auf der anderen Seite der Türen hörten wir den Klang der Trompeten, welche die Ankunft der ersten Gesellschaft ankündigten. Die Musiker stimmten eine gemessene Melodie an. Im drückenden Küchendunst bellte der Küchenchef Anordnungen durch den Raum, und alle beeilten sich zu tun, was er sie geheißen hatte. Wir vier tauschten unsichere Blicke aus. »Um Naamahs willen!« Der zweite Sommeliergehilfe nahm sich unserer an, gab uns Tabletts und schob uns zur Tür. »Cereus hält gerade Einzug. Geht jetzt und stellt euch an eure Plätze entlang der Wände, wartet, bis alle Häuser und die ersten Gäste erschienen sind.« Er scheuchte uns hinaus. »Geht, geht! Ich will niemanden von euch hier wieder sehen, bevor alle Gläser leer sind!« In der Großen Halle bemerkte ich, dass Kniekissen entlang der Wände platziert worden waren. Wir nahmen unsere Warteplätze ein und hatten einen guten Ausblick auf die Prozession, als sie durch die marmornen Säulengänge hereinkam. Das Tablett war nicht leicht, so voll, wie es mit Gläsern beladen war, doch war ich dazu ausgebildet worden, so wie wir alle. Während ich die eintretenden Festgäste betrachtete, vergaß ich bald die Anstrengung in Armen und Schultern. Ich erkannte die Doyenne sofort, als sie auf Jareths Arm gestützt die Halle betrat. Sie war als große Schneeeule maskiert und trug eine riesige, weiße Federmaske, die ihr ganzes Gesicht bedeckte. Ich wusste, es ging das Gerücht um, dass dies ihr letzter Mittwintermaskenball sei. Jareth trug die Maske eines Adlers mit weißen, dunkelbraun gefleckten Federn. Die Adepten des Cereus-Hauses folgten ihnen, als weiß-silberne Geschöpfe oder winterliche Geister; bei all dem Wirrwarr an Seide, Gaze und silbernen Verzierungen, Hörnern, Kapuzen und Masken verlor ich den Überblick. Dabei war das erst der Anfang. Alle Dreizehn Häuser hielten Einzug. Selbst jetzt, da seine Blütezeit längst vergangen ist, sage ich denen, die das Nachtpalais nie in seiner ganzen Pracht gesehen haben: Ich weine für euch. Ich habe mich von meinem Geburtsort weiter entfernt, als ich es je für möglich gehalten hätte, und ich habe großartigen Zeremonien am königlichen Hof beigewohnt, doch an keinem anderen Ort habe ich solch einen Rausch an Schönheit und Schönheit an sich gesehen. Es ist, wie nichts anderes auf der Welt, durch und durch von den D'Angelines geprägt. Hätte mich Delaunay damals schon ausgebildet, was nicht der Fall war, hätte ich es bemerkt und könnte jetzt exakt wiedergeben, was das Motto eines jeden Hauses war, doch einige der Höhepunkte sind mir für immer in Erinnerung geblieben. Dahlia forderte in güldenes Tuch gehüllt die Vorrangstellung des Cereus-Hauses heraus, und die Gentiana-Adepten, denen Beweihräucherer voranschritten, kamen als Seher verkleidet. Das Eglanteria-Haus trat, verwegen wie immer, singend, spie66 67 lend und Rad schlagend als Tsingani-Truppe auf, während die Adepten von Alyssum, die für ihre Bescheidenheit berühmt waren, gotteslästerlich provokativ in den Gewändern von Yeshuitenpriestern und priesterinnen erschienen. Jasmin stellte sich wie üblich zur Schau und präsentierte sich als Exotika aus fernen Ländern, und die junge Stellvertretern! seines Doyens tanzte in nichts weiter als dunkler Haut, nachtschwarzem Haar und einem Hauch von Schleiern. Dies verärgerte den Doyen des Valeriana-Hauses, der für seine Adepten ein Haremsmotiv ausgewählt hatte, aber solche Dinge kommen nun einmal vor. Was mich betrifft, so erinnerte mich das an meine Mutter, an die ich mich noch vage entsinnen konnte, doch dies auch nur für einen kurzen Augenblick, denn die Prozession war noch nicht zu Ende. Man könnte annehmen, und dies nicht ohne Grund, dass meine Neugierde vor allem den Adepten des Valeriana-Hauses galt. Für dieses Haus wäre ich bestimmt gewesen, hatte die Doyenne gesagt, hätte ich nicht diesen einen Makel. Und ich war neugierig, so neugierig, dass ich einige Dinge in Erfahrung
gebracht hatte: Ich unterwerfe mich, war das Motto des Hauses; seine Adepten neigten von Natur aus dazu, Lust in extremem Schmerz zu empfinden, und wurden darin ausgebildet, ebensolchen zu empfangen. Es schien nur zu logisch; aber es sind die Gegensätze, die sich anziehen. Ich tat das Valeriana-Haus als den Paschatraum ab, der es war, und fieberte stattdessen dem Einzug der Adepten des Mandragora-Hauses entgegen, die als Hof des Tartarus ausstaffiert waren. Dort, zwischen all dem Firlefanz und Frohsinn der anderen Maskierten (Orchis, jetzt kommt es mir wieder in den Sinn, hatte sich ein atemberaubendes Wassermotiv ausgesucht, mit Meerjungfrauen und phantastischen Meerestieren) schlugen sie einen herrlich düsteren Ton an. Schwarzer Samt, so finster 68 wie eine mondlose Nacht, und Seide, tief glänzend wie ein schwarzer Fluss unter Sternen; bronzene Masken mit Hörnern und spitzen Schnäbeln, zugleich schön und grotesk. Ich spürte, wie mich ein Schauder durchfuhr, und hörte den kristallenen Klang von Gläsern, die gleichzeitig erzitterten. Es war nicht mein Tablett; ich sah mich um und erblickte Donatien, der ganz blass geworden war. Ich fühlte mit seiner Angst und beneidete ihn darum. Dann, endlich, war die Prozession zu Ende, die Trompeten erschallten erneut, und die Gäste kamen hereingeströmt. Von königlichem Geblüt oder nicht, sie waren ein bunt gemischter Reigen, der Pracht des Nachtpalais entsprechend; Wölfe, Bären und Hirsche, Elfen und Kobolde, Helden und Heldinnen aus alten Legenden, ein durchgängiges Motiv konnte man aber nicht ausmachen. Als alle hereingekommen waren, konnte ich jedoch erkennen, dass sie ein stattliches Aufgebot abgeben würden, sobald sich die Menge vermischte. Die Trompeten erklangen ein weiteres Mal, und alle - Doyennes und Doyens, Mitglieder des Königshauses und Adepten gleichermaßen - zogen sich entlang des Säulengangs zurück, denn dies kündigte den Einzug der Winterkönigin an. Sie kam allein herein, hinkend. Es heißt, die Maske der Winterkönigin sei vor vierhundert Jahren von Olivier dem Obskuren gefertigt worden, der sich so herausragend auf sein Handwerk verstand, dass niemand sein wahres Gesicht kannte. Zweifelsohne war sie sehr alt, hauchdünne Lederschichten, die er zunächst eingeweicht und dann zu dem Gesicht eines uralten Weibes geformt hatte, anschließend bemalt und lackiert, bis sie nicht mehr das Leben selbst, sondern seine Erhaltung verhöhnte. Eine alte Perücke aus grauem Rosshaar krönte ihr Haupt, sie ging in graue Lumpen gehüllt, ein schäbiges Tuch um die Schultern gewickelt. 69 Das war also die Winterkönigin. Alle verbeugten sich, als sie die Große Halle betrat, und jene unter uns, die knieten, senkten den Kopf. Auf einen alten Schwarzdornstab gestützt, humpelte sie zum oberen Ende des Säulengangs und wandte sich der Menge zu. Sie streckte sich nur leicht und hob ihren Stab in die Höhe. Trompeten schmetterten, die Menge jubelte, und die Musiker stimmten eine fröhliche Melodie an; der Maskenball der Wintersonnenwende hatte begonnen. Was den Sonnenprinzen anging, so würde er erst später kommen; oder er war höchstwahrscheinlich schon hier, gab sich aber noch nicht in seinem Kostüm zu erkennen. Erst wenn die Horologen den Augenblick ankündigten, würde er erscheinen, um die Winterkönigin zu neuer Jugend zu erwecken. Nun war der Ball eröffnet. Ich erhob mich von meinem Kissen, vom langen Knien ganz steif, und begann meine Runde durch die Halle. Wir hatten alle vier auf die Kostüme in der Prozession geachtet; wie der Schneefuchs gesagt hatte, war es doch gar nicht so schwer. Auch wenn wir die Spieler nicht kannten, vermochten wir doch die Gruppen sehr leicht auseinander zu halten. »Freude«, sagte ich leise und hob mein Tablett mit gesenkten Augen. Jedes Mal nahm jemand ein Glas, trank es in einem Zug aus und stellte es leer wieder zurück. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich die anderen drei und versuchte abzuschätzen, wann alle Gäste mit einem Glas joie bedient worden seien. Ich brannte darauf, den Doyen des Mandragora-Hauses zu bedienen, der eine bronzene Krone über seiner Maske trug und in der rechten Hand eine neunschwänzige Katze hielt. Mein Tablett war jedoch schon leer, bevor alle Gäste versorgt worden waren, und ich musste in die Küche zurück, wo der eifrige Sommeliergehilfe das Tablett erneut mit winzigen Gläsern voller klarem Elixier füllte. 70 In der Großen Halle hatten livrierte Diener damit begonnen, eine Servierplatte voller luxuriöser
Speisen nach der anderen hereinzubringen, bis die Tafeln unter ihrer Last ächzten; und ich musste ihnen mit meinem Tablett voller joie ständig ausweichen. In der Mitte der Halle hatten einige Paare eine Pavane begonnen, und ich konnte in einer der hinteren Ecken sehen, dass ein Akrobat von Eglanteria die Gäste unterhielt. Vor mir stand ein beleibter Gast, der die sehr unvorteilhafte Wahl getroffen hatte, sich als Rosenkavalier zu kostümieren. Hinter ihm erhaschte ich einen Blick aufwirbelnden schwarzen Samt und einen bronzenen Schimmer und wollte mich gerade daran vorbeizwängen, als eine fremde Weste mir die Sicht versperrte. Sie war aus bronzenem Brokat und mit Knöpfen in der Form silberner Eicheln versehen; ich erinnerte mich, dass ihr Besitzer ein Gast war, der sich als Faunus verkleidet hatte. Um meinen Ärger zu verbergen, murmelte ich förmlich »Freude« und hielt ihm mein Tablett hin. »Phedre.« Ich kannte die Stimme, der volle Tenor eines Mannes, zugleich amüsiert und gelangweilt, und sah überrascht auf. Hinter der schlichten Maske blitzten seine grauen, topasfarben gefleckten Augen hervor, und der lange Zopf auf seinem Rücken war rostrot. »Messire Delaunay!« »Richtig.« Warum klang er so amüsiert? »Ich hätte nicht gedacht, dich hier anzutreffen, Phedre. Du bist doch nicht etwa zehn geworden, ohne es mir zu sagen, oder?« »Nein, mein Herr.« Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. »Die Doyenne meinte, mir sollte es erlaubt sein, zu bedienen, damit ich den Ball wenigstens einmal sehen kann.« Er strich mir mit den Fingerspitzen über mein mit Bändern verziertes Haar und zupfte mit kritischem Blick eine Locke 71 zurecht. »Du wirst diesem Ball so oft beiwohnen, wie es dir beliebt, wenn ich mich nicht gänzlich täusche. Doch wirst du en masque nie wirklich erfolgreich sein, mein Herz, nicht mit diesen Augen. Kushiels Pfeil wird dich immer verraten.« Ich hätte für alle Ewigkeit dort stehen bleiben können, während er meiner Erscheinung so viel Aufmerksamkeit schenkte; ich weiß nicht, warum. »Habt Ihr mich daran erkannt, Herr?«, fragte ich ihn, damit er sich noch länger mit mir befasste. »Überhaupt nicht. Du hast ja nie aufgesehen.« Daraufhin grinste er ganz unerwartet; sogar mit der Maske ließ es ihn jünger erscheinen. Er war damals gerade einmal Mitte dreißig, glaube ich. Ich habe es nie genau herausfinden können, selbst dann nicht, als ich viel mehr über ihn wusste als in jenem Augenblick. »Denk darüber nach, Phedre. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, werde ich dir sagen, warum. Und halte heute Nacht deine Pfeilgezeichneten Augen offen, mein Liebes. Es könnte mehr zu sehen geben als bezahlte Flagellanten mit einer Vorliebe für schwarzen Samt.« Er nahm ein Glas vom Tablett und trank es mit einem Schluck aus. »Freude!«, rief er aus, stellte es leer wieder zurück und wandte sich ab. Während ich das Tablett auf einer Hand balancierte, nahm ich das Glas, aus dem er getrunken hatte, und führte es an die Lippen. Mit der Zungenspitze fing ich einen winzigen Tropfen reinstes joie auf, der noch am Boden des Glases haftete. Das Aroma brannte auf meinem Gaumen, rein und scharf, zugleich eisig kalt und glühend heiß. Ich beobachtete ihn, wie er sich durch die Menge wand, und genoss den Geschmack und meine geheime Teilhabe an ihm; doch dann stellte ich das Glas rasch und mit Schuldgefühlen zurück und brach zu einer neuen Runde auf. In jener Nacht nahm ich zum ersten Mal die tiefer liegenden Strukturen wahr, die in Terre d'Ange herrschten, die Strudel 72 und Strömungen der Macht und Politik, die unsere unwissenden Leben regierten. Trotz dieser Begegnung kann man, denke ich, kaum behaupten, dies wäre allein auf Delaunays Einfluss zurückzuführen. Bei all dem Aufruhr, den die späteren Ereignisse hervorriefen, hätte ich dem sicherlich Beachtung geschenkt, mit oder ohne Warnung. Nach den Berechnungen der Horologen war es noch eine Stunde bis Mitternacht, als Prinz Baudoins Gesellschaft erschien. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Überblick verloren, wie viele Male ich schon mit meinem Silbertablett herumgegangen war und wie oft der zweite Sommeliergehilfe mich mit frischen Gläsern versorgt hatte. Man hatte uns im Wechsel eine kleine Atempause gewährt und uns gestattet, unsere Teller an den großen Tafeln zu füllen. Ich sicherte mir einen ganzen Kapaun in reichlich Traubensoße, ein zartes Stück Wildbret mit Korinthen verziert und sogar einen kleinen Salat
mit Gemüse und war überaus zufrieden. Ich hatte gerade meinen Dienst wieder aufgenommen, als ich den Tumult hörte; eine neue Gesellschaft war angekommen, laut und in bester Laune. Ich drängte mich durch die Menge, bis ich die vorderste Reihe der Zuschauer erreichte. Es waren vier junge Männer, und schon ihre Kleidung und ihr Verhalten ließen für mich keinen Zweifel offen, dass sie von königlichem Geblüt waren, wahre Nachfahren Eluas und seiner Gefährten. »Prinz Baudoin!«, entfuhr es jemandem in stiller Ehrfurcht, und ich hatte schon eine Vermutung, welcher von ihnen es war; von schlanker Figur und mit rabenschwarzem Haar, heller Haut und meergrauen Augen, dem Merkmal des Hauses Trevalion. Die anderen fügten sich ihm, obgleich er sich betrunken auf die Schulter eines Kameraden stützte. Er trug eine Maske mit Azzas Antlitz, die unübertrefflich schön war, obgleich sie schief auf seinem reinen Gesicht mit 73 den typischen Zügen eines D'Angeline saß, und dazu einen großen, samtenen Hut mit einer herabhängenden Feder. Als er die versammelte Menge erblickte, riss er sich vom stützenden Arm seines Begleiters los und hob den Becher in seiner rechten Hand. »Freude!«, rief er mit klarer und tragender Stimme, welcher der Wein kaum etwas anhaben konnte. »Freude dem Nachtpalais in der Längsten Nacht!« Zu meiner Linken hörte ich den schwachen Klang zitternden Kristalls; Donatien. Er sah kurz zu mir herüber, vollkommen verängstigt. Na gut, dachte ich, dann soll es eben so sein. Ich drängte mich an einem Hirsch mit Geweih vorbei und näherte mich der Gesellschaft des Prinzen. Ich konnte spüren, wie alle Blicke im Nachtpalais auf mir ruhten, und mein Herz schlug mir bis zum Hals. »Freude«, erwiderte ich sanft und hielt das Tablett hoch. »Was ist das?« Eine Hand umgriff meinen Oberarm fest wie eine Zange und grub ihre Finger in mein Fleisch, dass ich nach Luft schnappen musste. Ich sah zu dem Begleiter des Prinzen auf und erwiderte seinen Blick. Er trug eine Jaguarundi-Maske, hinter der jedoch seine dunklen und grausamen Augen leuchteten und lächelten. Sein Haar, das ihm gerade auf die Schultern fiel, war von so blassem Gold, dass es im Kerzenlicht fast silbern schimmerte. »Denys, probier es.« Einer der anderen nahm ein Glas vom Tablett, das ich ihm hinhielt, und stürzte den Inhalt hinunter. »Uhuuu!« Er schüttelte den Kopf, der von einer Wolf-Maske verhüllt wurde, und leckte sich die Lippen. »Reines joie, Isidore, trink mit!« Ich stand zitternd da, während die Nachfahren Eluas mit gierigen Händen nach meinem Tablett griffen. Sie leerten ein Glas nach dem anderen und zerschmetterten sie anschließend auf dem glänzenden Parkettboden. Der Prinz lachte hoch und wild auf, wie erschallende Trompeten. Seine Maske hing schief über seiner weißen Stirn, und ich konnte ein hektisches Funkeln in seinen Augen erkennen. »Gib mir einen Glückskuss, kleine Freudenbringerin!«, erklärte er laut und riss mich in seine Arme. Mein Tablett wurde zwischen uns zusammengedrückt und fiel krachend zu Boden, so dass noch mehr Gläser zu Bruch gingen. Für eine atemlose Sekunde berührten seine nach joie schmeckenden Lippen die meinen; doch dann wurde ich beiseite geschoben und vergessen, und die Gesellschaft des Prinzen drängte tiefer in die Große Halle hinein. Der Mann in der Jaguarundi-Maske blickte noch einmal in meine Richtung und schenkte mir sein grausames Lächeln. Ich kniete mich auf den Boden und sammelte die Glasscherben auf dem Tablett ein, ohne auf die Tränen zu achten, die mir in die Augen schössen; ich hätte nicht einmal sagen können, ob es der Kuss war oder die Tatsache, dass man mich beiseite schob, was mein Herz so schmerzlich ergriff. Aber ich war ein Kind, und solche Dinge sind schnell vergessen. In der Küche warf mir Jacinthe hasserfüllte Blicke zu, aber ich war nur noch von Stolz erfüllt, dass ein Prinz von königlichem Geblüt mich Freudenbringerin genannt und mich geküsst hatte, damit ich ihm Glück brachte. Welche Ironie; wie Anafiel Delaunay ihm hätte sagen können, brachte doch mein Name Unglück. Hätte ich Glück im Überfluss gehabt, hätte ich es mit ihm geteilt. Manche würden ihn einen Narren nennen, weil er Melisande vertraut hatte, und vielleicht war er das auch; dennoch hätte er den Verrat eines anderen, den er noch viel länger gekannt hatte, nicht kommen sehen. Aber in jener Nacht waren solche Intrigen noch weit davon entfernt, gesponnen zu werden. So als ob die Festlichkeit nicht schon längst in vollem Gange gewesen wäre, gewann sie weiter 74
75 an Tempo. Vornehme Pavanes wichen Galliarden und Narrentänzen, und die Musiker spielten wie im Taumel, die Gesichter schweißgebadet. Der Ball war so riesig, dass sogar die Gesellschaft des Prinzen in der Menge unterging. Ich lief mit meinem Tablett umher, schwindlig vom Lärm und der Hitze. Die immergrünen Äste über dem prasselnden Kaminfeuer verströmten einen Kiefernduft, der über das Geruchsgetöse Hunderter Wettstreitender Parfüms und hitzigen Fleisches aufstieg, das noch durch die stechenden Opiumwolken aus den Weihrauchgefäßen des Gentiana-Hauses verstärkt wurde. Langsam gingen uns die Gläser aus. Der Stil des Abends war nun vorgegeben, und ich konnte nicht mehr überblicken, wie viele Gäste und Adepten ihren joie hinunterstürzten und die Gläser mit lauten Rufen auf dem Boden zerschmetterten. Es gab nichts, was wir vier hätten tun können; wir drehten weiter unsere Runden mit nur noch spärlich gefüllten Tabletts, während die livrierten Diener des Cereus-Hauses sich blitzschnell inmitten der Menge mit Schaufel und Besen zu schaffen machten. Dies waren die tiefgründigen Probleme, mit denen ich beschäftigt war, als hinter dem fröhlichen Trällern der Musik das langsame Schlagen der Sturmglocke begann. Es war die Längste Nacht; wir alle hatten es fast vergessen. Doch nicht die Horologen - sie vergessen nichts -, und der Nachtschreier schlug den Gong in bedächtigem Tempo, durchbrach den Lärm und ließ den Trubel abschwellen. Tänzer trennten sich, und die Tanzfläche leerte sich, als die Feiernden auseinander gingen. Die Winterkönigin trat erneut hinter einem Wandschirm hervor und humpelte auf ihren Schwarzdornstab gestützt an das obere Ende des Säulengangs. Jemand jubelte, wurde jedoch sofort zum Schweigen gebracht. Alle blickten in Richtung der fest verschlossenen Türen der Großen Halle in Erwartung des Sonnenprinzen. 76 Einmal, zweimal, dreimal; am anderen Ende pochte der Schaft eines Speeres gegen die Türen, die beim dritten Schlag mit dem bebenden Klang der Pauken eines Musikers aufschwangen. Er stand in der Tür: der Sonnenprinz. Er bot einen gülden strahlenden Anblick, sein Wams, seine Beinkleider und sogar die Stiefel waren aus goldenem Tuch. Der ebenfalls goldene Umhang fiel bis auf den Boden und fegte über das Parkett, als der Prinz die Halle betrat. Die Maske eines lächelnden Jünglings, die vor Blattgold nur so strahlte, verbarg sein Gesicht und ihre Sonnenstrahlen seinen Kopf. Ich hörte Gemurmel und Mutmaßungen, als er den Säulengang hinunterschritt, einen vergoldeten Speer in der Hand. Am Ende des Ganges verbeugte er sich; doch als er sich wieder aufrichtete, hob er auch die Spitze des Speers in einer flüssigen Bewegung und berührte die Brust der Winterkönigin. Sie senkte den Kopf und ließ ihren Schwarzdornstab aus der Hand gleiten. In der Stille fiel er krachend zu Boden. Dann hob sie ihre Maske, wischte sich die Perücke vom Kopf und wand sich aus den einengenden Lumpen und Tüchern. Ich hielt den Atem an, denn die Winterkönigin, jung und schön, war Suriah. Doch der Ball war noch nicht vorbei. Der Sonnenprinz sank auf die Knie und ergriff die Hand der Winterkönigin. Mit einer raschen Bewegung zog er einen Ring hervor und steckte ihn ihr auf den Finger; mit Gewalt, denn ich sah, wie Suriah zusammenzuckte. Dann stand er auf, ergriff erneut ihre Hand und wandte sich der Menge zu. Als er seine Maske abnahm, sahen wir: Es war Prinz Baudoin. Nach einem kurzen Moment der Überraschung schwang der Nachtschreier seinen Klöppel, schlug den Gong mit schallendem Ton und ließ die Glocke mit bebender Stimme für das neue 77 Jahr sprechen; da füllten die Trompeten mit einem blechernen Ruf die Leere der Stille, um der Verwegenheit eines jungen, betrunkenen Prinzen aus adligem Hause zuzujubeln. Die erschöpften Musiker spürten neue Energie in sich aufwallen, als ihr Kapellmeister mit dem Fuß den Takt anschlug, und erneut schwangen sie sich zu einer lebhaften Melodie auf. In all diesem Trubel blieb mein Blick irgendwie an Anafiel Delaunay hängen. Er beobachtete sie; die liebliche und verwirrte Suriah, deren mit Ringen geschmückte Hand der Prinz mit seinen wilden, funkelnden Augen in die Höhe hielt; und hinter der weisen, schlichten Maske des Faunus waren Delaunays Züge gefasst und nachdenklich. So wurde ich in die Welt der Politik eingeführt. 78 Nach dem Ball der Wintersonnenwende, so seid versichert, konnten für mich die Wochen bis zu meinem zehnten Geburtstag nicht schnell genug vergehen. Mehr denn je hatte ich keinen wirklichen
Platz im Cereus-Haus; der Kinderstube war ich schon entwachsen, und für die Zöglinge und Eleven, zu denen ich sowieso nie gehören würde, war ich noch zu jung. Das Haus war wegen der Ereignisse des Balls noch immer in heller Aufregung und deutete die Kühnheit des Prinzen Baudoin als ein Zeichen, dass die alten Zeiten wieder zurückkehren mochten, als die Nachfahren Eluas noch uneingeschränkt Vergnügen und Rat bei den Dienerinnen und Dienern Naamahs suchten. So viel konnte ich in Erfahrung bringen: Baudoin war der Neffe des Königs, und zwar durch dessen königliche Schwester, Prinzessin Lyonette, die mit Marc, Duc de Trevalion, vermählt war. Er war erst neunzehn und hatte sich durch sein wildes Benehmen an der Universität von Tiberium, von der er wegen zahlloser Eskapaden ausgeschlossen worden war, einen Namen gemacht. 79 Darüber hinaus wusste ich nur wenig. Hyacinthe erzählte mir, im Vorhof der Nacht gehe das Gerücht um, es seien, so unwahrscheinlich es auch erschien, zwei Wetten auf Baudoin de Trevalion als Sonnenprinz abgeschlossen worden, und niemand - nicht einmal er - wusste, in wessen Tasche die beträchtlichen Gewinnsummen gewandert waren. Insgesamt war viel Geld verloren worden, und die Wechselbürgen in den Kontoren hatten mit dieser Längsten Nacht ein gutes Geschäft gemacht. Als die Winterkälte widerwillig der feuchten Wärme des Frühlings wich und der feinste, hellgrüne Schleier die Äste überzog, wurde ich zehn. Für die Kinder des Nachtpalais ist das eine großartige und feierliche Angelegenheit. An diesem Tag verlässt man die Kinderstube und zieht in die Unterkünfte der Zöglinge, um Seite an Seite mit jenen begünstigten Eleven zu leben, die mündig geworden und in die Mysterien Naamahs bereits eingeweiht sind, die ihnen, so sagt man, in den frühen Morgenstunden ihrer gerade begonnenen Ausbildung Geheimnisse zuflüstere. Man nimmt den Namen seines Hauses an, und es wird eine Zeremonie mit leicht verdünntem Wein und dem feierlichen Brechen eines Honigkuchens abgehalten, der von allen Adepten des eigenen Hauses geteilt wird. Nichts von alledem hat man mir gewährt. Stattdessen hat man, wie schon zuvor, nach mir geschickt, um im Empfangsraum der Doyenne zu warten, wo ich mich ein weiteres Mal abeyante auf das Kissen kniete. Anafiel Delaunay war da, außerdem die Doyenne und Jareth, ihr Stellvertreter. Sie war älter und quengelig geworden, ich konnte aus den Augenwinkeln erkennen, wie sehr ihre Hand zitterte, als sie die Papiere zur Durchsicht hielt. »Es ist alles in Ordnung«, sagte Jareth, um sie zu beruhigen, 80 und tätschelte ihre Hand. Dann warf er einen ungeduldigen Blick zur Tür, vor welcher der Vorsteher des Hauses mit dem offiziellen Siegel der Gilde auf und ab ging. »Ihr müsst nur noch unterschreiben, und Phedre hat die Erlaubnis, mit Messire Delaunay zu gehen.« »Ich hätte mehr verlangen sollen!«, beklagte sich die Doyenne. Sie hatte lauter gesprochen, als sie dachte, wie es bei älteren Menschen oft vorkommt. Anafiel Delaunay legte eine Hand auf meinen Kopf und streichelte einen Moment lang meine Locken. Ich wagte einen kurzen Blick nach oben und sah, dass er mich beruhigend anlächelte. Die Doyenne unterschrieb mit zittriger Hand, an der die krausen Adern bläulich durch die dünne, alte Haut schienen, und der Vorsteher des Hauses trat mit seiner Wachskerze nach vorne, um das offizielle Siegel der Gilde auf die Dokumente zu stempeln und somit zu bestätigen, dass alles entsprechend den Gesetzen der Gilde der Dienerinnen und Diener Naamahs ausgeführt worden war. »Das wär's.« Jareth verbeugte sich mit gefalteten Händen und berührte mit den Fingerspitzen seine Lippen. In diesen Tagen strahlte er eine Fröhlichkeit aus, die beim geringsten Anlass ausbrach und von der Überzeugung herrührte, die Doyenschaft des Cereus-Hauses bald in Händen zu halten. »Möge Naamah Euer Unterfangen segnen, Messire Delaunay. Es war uns ein Vergnügen.« »Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite«, antwortete Delaunay ruhig und erwiderte die Verbeugung, jedoch nicht wie zu seinesgleichen. »Miriam«, wandte er sich an die Doyenne in einem ernsteren Ton. »Ich wünsche Euch Gesundheit.« »Pah.« Sie verabschiedete sich von ihm und winkte mich zu sich. »Phedre.« Ich stand auf, wie man es mir beigebracht hatte, und kniete vor ihrem Stuhl, als mich plötzlich die schreckliche Angst überkam, sie würde die Abmachung wider81 rufen. Doch ihre krallenartige Hand strich über meine Wange, und ihre Augen, die hinter den Tränen, die sie verschleierten, nicht weniger stählern waren, erforschten mein Gesicht. »Ich hätte mehr verlangen sollen«, wiederholte sie fast freundlich.
Es heißt, Geld sei eine der wenigen Freuden, die lange währen, und mir wurde klar, dass dies trotz allem in gewisser Hinsicht ein Segen war. Auf einmal verspürte ich große Zuneigung zu der alten Frau, die mich aufgenommen hatte, als meine eigene Mutter mich nicht mehr wollte, und schmiegte mich an ihre liebkosende Hand. »Phedre«, sagte Delaunay sanft, was mich wieder daran erinnerte, dass ich einen neuen Herrn hatte, und ich erhob mich gehorsam. Er lächelte Jareth gefällig an. »Lasst ihre Sachen zu meiner Kutsche bringen.« Jareth verbeugte sich. So verließ ich das Cereus-Haus und das Nachtpalais, aus dem ich stammte. Ich weiß nicht, was ich in Delaunays Kutsche erwartete; aber was auch immer es gewesen sein mag, es geschah nicht. Seine Kutsche stand im Vorhof, ein eleganter Vierspänner mit gut zusammenpassenden, hochblütigen Braunen. Ein Eleve brachte ein kleines Bündel, das alle Dinge enthielt, die ich mein Eigen nennen konnte, was nicht viel mehr als nichts war und vom Kutscher am Heck verstaut wurde. Delaunay ging vor und klopfte mit der Hand auf die Samtkissen, um mir zu bedeuten, ich solle mich setzen. Er gab dem Kutscher aus dem Fenster ein Zeichen, und wir fuhren mit großer Geschwindigkeit los, woraufhin er sich auf seinem Platz zurücklehnte und die Vorhänge zur Hälfte zuzog. Ich saß wie auf glühenden Kohlen und wartete, während tausend Fragen mir durch den Kopf schössen. Nichts geschah. Delaunay, für seinen Teil, beachtete mich 82 nicht weiter und blickte vor sich hin summend aus dem halb zugezogenen Fenster. Nach einer Weile war ich es müde, darauf zu warten, dass irgendetwas geschah, und setzte mich auf meiner Seite ans Fenster, wo ich den Vorhang ein wenig zurückzupfte. Noch als Kleinkind hatte ich bereits die Welt gesehen; doch seit meinem vierten Lebensjahr hatte ich mich nicht weiter als bis zum Vorhof der Nacht gewagt. Jetzt blickte ich aus dem Fenster, sah die Stadt Eluas an mir vorbeirollen und frohlockte. Die Straßen wirkten sauber und neu, die Parks kündigten den nahen Frühling an, und die Häuser und Tempel strebten alle der Erde freudig trotzend in die Höhe. Wir überquerten den Fluss, und die hellen Segel der Handelsschiffe ließen mein Herz schneller schlagen. Die Kutsche brachte uns in ein elegantes Viertel, das zwar in der Nähe des Palastes, aber schon am Stadtrand gelegen war. Wir fuhren durch ein enges Tor und in einen einfachen Hof. Der Kutscher hielt an und kam herüber, um die Tür zu öffnen; Delaunay stieg aus, doch ich zögerte, unsicher, und blickte an seiner Schulter vorbei auf ein schlichtes, elegantes Stadthaus. Die Tür öffnete sich, und eine Gestalt, nicht viel größer als ich selbst, stürmte heraus, nahm sich dann zusammen und ging eines schicklicheren Schrittes weiter auf uns zu. Ich erblickte aus der Kutsche heraus den schönsten Jungen, den ich je gesehen hatte. Sein Haar war weiß; und für jene, die Alcuin nie kennen gelernt haben, sage ich das ganz im Ernst: Es war weiß, weißer als das Fell eines Schneefuchses. Es fiel wie Seide über seine Schultern, wie ein Fluss im Mondenschein. Ein Albino hätte man meinen können - denn auch seine Haut war unübertrefflich hell, aber seine Augen waren dunkel, so dunkel wie Stiefmütterchen bei Nacht. Ich, die ich inmitten von Schönheiten 83 aufgewachsen war, gaffte ihn vor Erstaunen mit offenem Mund an. Ganz zappelig vor Ungeduld stand er an Delaunays Seite, und ein Lächeln, das zugleich freundlich und begierig war, ließ seine dunklen Augen strahlen. Nun fiel mir wieder ein, dass Delaunay schon einen Schüler hatte. »Alcuin.« Ich konnte die Zuneigung in Delaunays Stimme deutlich hören. Es wühlte mein Innerstes auf. Er legte eine Hand auf die Schulter des Jungen und wandte sich an mich. »Das ist Phedre. Heiße sie willkommen.« Als ich aus der Kutsche stieg, stolperte ich; er nahm meine Hände in die seinen, kühl und weich, und küsste mich zur Begrüßung. Ich konnte Delaunays ironisches Lächeln in einiger Entfernung spüren. Ein livrierter Diener trat aus dem Haus, um den Kutscher zu bezahlen und mein kleines Bündel hineinzutragen, und Delaunay führte uns freundlich ins Innere. Der Junge Alcuin hielt meine Hand weiter fest und zog mich leicht hinter sich her. Delaunays Haus war elegant und angenehm. Ein anderer livrierter Diener verbeugte sich, als wir eintraten, was ich kaum bemerkte, und Alcuin ließ meine Hand los, um vorauszupreschen, blickte
dann aber mit einem schnellen, eifrigen Lächeln zu mir zurück. Schon jetzt hasste ich ihn für alles, was er über unseren gemeinsamen Herrn wusste. Wir gingen durch mehrere Räume zu einem Privatbereich, einem begrünten Innenhof, auf dessen Terrasse die ersten ausschlagenden Reben grünliche Schatten auf den Steinboden warfen und ein Brunnen sprudelte. In einer Nische stand eine Statue Eluas, ein Tisch war mit gekühlten Melonen und hellen Trauben gedeckt worden. Alcuin wirbelte herum und breitete die Arme schwungvoll 84 aus. »Für dich, Phedre!«, rief er lachend. »Sei willkommen!« Er ließ sich auf eines der Sofas fallen, die in einem gemütlichen Kreis standen, schlang die Arme um sich und grinste. Unauffällig glitt ein Diener in den Hof und reichte gekühlten Wein für Delaunay und frisches Wasser für Alcuin und mich. »Sei willkommen.« Delaunay schloss sich dem Toast lächelnd an und schätzte meine Reaktion ab. »Iss. Trink. Setz dich.« Ich nahm ein Stück Melone, nahm auf dem Rand eines Sofas Platz und beobachtete beide, wobei ich mich offenkundig unwohl fühlte, da meine Rolle hier noch gänzlich unbestimmt war. Delaunay lehnte sich mit einem amüsierten Blick bequem zurück. Alcuin folgte seinem Beispiel und sah fröhlich vor Erwartung in die Runde. Ich konnte nicht anders, als mich umzudrehen und nach einem Kniekissen Ausschau zu halten. Es gab keins. »In meinem Haushalt nehmen wir es mit der Etikette nicht so genau, Phedre, weder im Stehen noch auf Knien«, sagte Delaunay freundlich, der meine Gedanken erraten hatte. »Es ist eine Sache, die standesgemäßen Höflichkeiten zu beachten, aber es ist etwas anderes, Menschen wie Leibeigene zu behandeln.« Ich blickte auf, um ihm in die Augen zu sehen. »Ihr besitzt meine Marque«, sagte ich frei heraus. »Ja.« Er musterte mich mit diesem abschätzenden Blick. »Aber ich besitze nicht dich. Und wenn deine Marque eines Tages vollendet ist, möchte ich, dass du mich als jemand in Erinnerung behältst, der dir zum Aufstieg verholfen hat, und nicht als jemand, der dich unterdrückt hat. Verstehst du das?« Ich zupfte an einem Knopf des samtenen Sofapolsters. »Euch gefällt es, wenn Menschen Euch etwas schulden.« Einen Moment lang herrschte vollkommenes Schweigen, 85 dann brach er plötzlich in dieses erstaunliche Lachen aus, das ich schon einmal gehört hatte, und Alcuins höheres Lachen erschallte über seinem. »Ja«, erwiderte Delaunay nachdenklich. »Das könnte man sagen. Obgleich ich mich selbst gerne als einen Menschenfreund in der Tradition des Heiligen Elua betrachte.« Er zuckte mit den Schultern und tat die Angelegenheit in seiner belustigten Art ab. »Man hat mir mitgeteilt, man hätte dich ein wenig in der Sprache der Caerdicci unterrichtet.« »Ich habe alles von Tellicus dem Älteren gelesen und die Hälfte von dem Jüngeren!«, erwiderte ich, weil mich seine Einstellung wurmte. Die Dichtung von Feiice Dolophilus erwähnte ich nicht. »Gut.« Er blieb unbeeindruckt. »Dann bist du nicht zu weit hinter Alcuin zurück, und ihr könnt gemeinsam Unterricht nehmen. Sprichst du andere Sprachen? Nein? Das macht nichts. Sobald du dich hier eingelebt hast, werde ich dafür sorgen, dass du in Skaldisch und Cruithne unterrichtet wirst.« Mir wurde ganz schummrig; ich nahm meinen Teller Melonen und legte ihn wieder zurück. »Messire Delaunay«, setzte ich an und wählte meine Worte vorsichtig. »Ist es nicht Euer Wille, dass ich für den Dienst Naamahs ausgebildet werde?« »Ach, das.« Mit einer Handbewegung legte er die Lehren des Nachtpalais ad acta. »Man sagte mir, du kannst singen und leidlich Harfe spielen, die Doyenne behauptete, du hast ein feines Gehör für Poesie. Ich werde einen Lehrer anstellen, damit du in diesen Künsten weiter unterrichtet wirst, bis du mündig bist und selbst entscheidest, ob du Naamah dienen möchtest. Aber es gibt Dinge von größerer Bedeutung.« Ich richtete mich im Sofa auf. »Die Künste des Salons sind von größter Bedeutung, mein Herr!« »Nein.« Seine grauen Augen funkelten. »Sie haben ihren Wert, Phedre, und nichts weiter. Doch was ich dir beibringe, 86 wird dir gefallen, glaube ich. Du wirst lernen zu sehen, zu erkennen und zu denken, und diese Lektionen werden dir ein Leben lang von Nutzen sein.« »Ihr werdet mich in Dingen unterrichten, die ich schon kann«, erwiderte ich mürrisch. »Tatsächlich?« Delaunay lehnte sich im Sofa zurück und steckte sich eine Traube in den Mund. »Dann
erzähle mir etwas über die Kutsche, in der wir hierher kamen, Phedre. Beschreibe sie mir.« »Es war eine schwarze Kutsche.« Ich funkelte ihn zornig an. »Ein Vierspänner, mit hochblütigen, braunen Rössern. Mit Sitzen aus rotem Samt, goldenen Borten an den Vorhängen und Streifen aus Wollsatin an den Innenwänden.« »Sehr gut.« Er blickte zu Alcuin. »Und du ...?« Der Junge setzte sich mit verschränkten Beinen auf dem Sofa auf. »Es war eine gemietete Kutsche«, sagte er prompt, »denn es waren keine Insignien auf der Tür und der Kutscher trug einfache Kleidung und keine Livree. Sie stammt höchstwahrscheinlich aus einem besseren Wirtshaus, denn die Pferde waren wohl gebaut und passten zusammen, auch war ihr Fell nicht verschwitzt, so dass Ihr sie höchstwahrscheinlich hier in der Stadt gemietet habt. Der Kutscher war zwischen achtzehn und zweiundzwanzig und stammt seinem Hut nach zu urteilen vom Lande, aber er hat schon lange genug in der Stadt gelebt, um ohne Richtungsanweisungen auszukommen und nicht auf Münzen zu beißen, wenn er von einem Edelmann bezahlt wird. Er hatte keine anderen Fahrgäste und fuhr sofort wieder weg, daher nehme ich an, dass Ihr heute seine einzigen Fahrgäste wart, Herr. Wenn ich Eure Identität und Eure Tätigkeit herausfinden wollte, wäre es, denke ich, nicht so schwer, den Kutscher dieses Vierspänners ausfindig zu machen und Nachforschungen anzustellen.« 87 Seine dunklen Augen tanzten vor Freude, richtig geantwortet zu haben; es lag keine Arglist darin. Delaunay lächelte ihn an. »Noch besser«, sagte er und blickte dann zu mir herüber. »Siehst du?« Ich murmelte etwas vor mich hin; ich weiß nicht, was. »Das ist die Art Ausbildung, die ich von dir erwarten werde, Phedre«, fuhr er mit strengerer Stimme fort. »Du wirst lernen zu sehen, zu erkennen und darüber nachzudenken, was du gesehen hast. Beim Ball der Wintersonnenwende hast du mich gefragt, ob ich dich an deinen Augen erkannt hatte, und ich sagte nein. Ich musste nicht erst den Fleck in deinem Auge sehen, um zu wissen, dass Kushiels Pfeil dich gezeichnet hat. Es sprach aus jeder Faser deines Körpers, als du den Züchtigern des MandragoraHauses nachgeblickt hast. Dein Mal ist zum Ruhme Eluas und seiner Gefährten, in deren Adern dein Blut fließt, selbst als Kind bist du davon gezeichnet. Mit der Zeit kannst du deine Bestimmung annehmen, wenn du es wünschst. Aber du musst einsehen, mein Liebes, dass dies erst der Anfang ist. Verstehst du jetzt?« Sein Gesicht war von besonderer Schönheit, wenn dieser strenge und ernste Ausdruck darauf lag, wie in den Porträts alter Adliger aus den Provinzen, die ihre Abstammung in einer ununterbrochenen Ahnenfolge bis zu einem der Gefährten Eluas zurückverfolgen konnten. »Ja, mein Herr«, antwortete ich und liebte ihn dafür. Wenn Anafiel Delaunay von mir verlangte, mich wie Naamah in den Bordellen hinzugeben, würde ich es tun, dessen war ich mir sicher ... und wenn es ihm beliebte, aus mir ein Instrument für mandragorische Virtuosen zu machen, würde ich lernen, dieses Instrument zu sein. Ich dachte an seine Worte in der Längsten Nacht, und eine Verbindung tat sich mit derselben Leichtigkeit vor meinem geistigen Auge auf, mit der ein Säugling die Brust findet. »Mein Herr«, 88 fragte ich ihn, »habt Ihr im Vorhof der Nacht darauf gesetzt, dass Baudoin de Trevalion den Sonnenprinzen spielen würde?« Ein weiteres Mal wurde ich mit seinem unerwarteten Gelächter belohnt, doch dieses Mal länger und ungehemmt. Alcuin grinste und umschlang ausgelassen seine Knie. Schließlich rang mein neuer Herr seine Erheiterung wieder unter Kontrolle, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich die Augen. »Ach, Phedre«, seufzte er. »Miriam hatte Recht. Sie hätte mehr verlangen sollen.« 89 So begannen meine langen Lehrjahre bei Anafiel Delaunay, • während deren ich lernte zu sehen, zu erkennen und zu denken. Damit jedoch niemand annimmt, ich hätte meine Zeit mit nichts Anspruchsvollerem als der Betrachtung und Beobachtung meiner Umgebung verbracht, kann ich Euch versichern, dass dies nur einen Bruchteil meiner Ausbildung und wohl ihren unbedeutendsten Teil ausmachte. Wie Delaunay angedeutet hatte, lernte ich Sprachen; Caerdicci, bis ich es im Schlaf sprechen konnte, Cruithne (wofür ich keine Notwendigkeit sah) und Skaldisch, das mir wieder den Stammesangehörigen in Erinnerung rief, der sich vor vielen Jahren auf der Handelsstraße zu meinem Beschützer ernannt hatte. Alcuin, so stellte sich heraus, sprach Skaldisch mit einer Gewandtheit, die ihm vor langer Zeit eingeprägt worden war, denn in dieser Sprache hatte bereits eine skaldische Amme mit ihm gesprochen, als er noch in der Wiege lag. Sie hatte ihn auch vor dem Überfall ihrer eigenen
Leute gerettet und in die Obhut Delaunays gegeben, doch das erfuhr ich erst später. Zusätzlich zu den Sprachen mussten wir die Geschichte studieren, bis uns der Kopf schmerzte. Wir verfolgten die Spuren der Zivilisation vom goldenen Alter Hellas' über den Aufstieg Tiberiums bis zu seinem Fall, herbeigeführt durch die gleich starken Fäuste zweier Geschwister, der damaligen Thronanwärter. Die Anhänger Yeshuas behaupteten, seine Ankunft habe den Fall Tiberiums und die Wiedereinsetzung des Einen Gottes prophezeit; Historiker, so erklärte uns Delaunay vorsichtig, meinten jedoch, dass sein Fall eher auf die Vertreibung yeshuitischer Finanziers aus der Stadt Tiberium zurückzuführen sei. Leere Schatzkammern, so behauptete er weiter, waren am Ende der Grund für die Zersplitterung des großen tiberischen Reiches in den lockeren Zusammenschluss der Nationalstaaten, aus denen die Republik Caerdicca Unitas bestand. Der zweite, nicht weniger kühne Schlag wurde den einst so mächtigen tiberischen Heeren auf der grünen Insel Alba versetzt, als sich inmitten der einander bekriegenden Splittergruppen ein Stammeskönig namens Cinhil ap Domnall, bekannt als Cinhil Ru, erhob, dem es gelang, sich mit den Dalriada von Eire zu verbünden und die Stämme gegen die Armeen des Kaisers zu vereinen. So kam es, dass die Insel ein für alle Mal unter die Herrschaft der Cruithne gestellt wurde, die von den Gelehrten die Picti genannt werden. Sie sind ein wildes, halb zivilisiertes Volk, und ich sah keinen Grund, ihre Sprache zu lernen. Sobald die tiberischen Soldaten aus Alba verjagt worden waren, begannen sie ihren uneingeschränkten Rückzug und wurden durch Berserker und - so will es die Legende - von Raben- und Wolfgeistern aus dem skaldischen Hinterland vertrieben. Durch diese blutbefleckte Tapisserie zog sich die Geschichte von Terre d'Ange wie ein glänzender, goldener Faden. Da wir ein friedvolles Land waren, das sich mit Früchten und Blumen 90 91 unter der gesegneten Sonne zufrieden gab, begann unsere Geschichte, so schilderte uns Delaunay, erst mit der Ankunft Eluas. Anmutig wichen wir vor den tiberischen Heeren zurück, die unsere Trauben und Oliven aßen, sich mit unseren Frauen vermählten und unsere Grenzen vor den Skaldi schützten. Wir führten unverändert unsere Rituale aus und hielten weiterhin an unserer Sprache und unseren Liedern fest. Nachdem die Armeen Tiberiums auf ihrem Rückzug wie eine Sturmwelle über unser Land hinweggefegt waren, betrat Elua wandernden Schrittes die erwartungsvolle Leere, und das Land hieß ihn wie einen Bräutigam willkommen. So wurde Terre d'Ange geboren, und so erwarben wir Geschichte und Stolz. In den sechs Jahrzehnten Eluas zerstreuten sich seine Gefährten und drückten Land und Leuten ihren göttlichen Stempel auf. Der Heilige Elua beanspruchte selbst keine Ländereien, erfreute sich aber daran, nach Belieben umherzustreifen, ein wandernder Bräutigam, der alles liebte, was er sah. Wenn er an einem Ort verweilte, dann in seiner Stadt, der Cite, weshalb sie auch die Königin aller Städte ist und von der ganzen Nation geliebt wird; allerdings verweilte er nur selten dort. All dies wusste ich, und doch war es etwas ganz anderes, diese Dinge von Delaunay zu lernen: nicht Geschichten, sondern Geschichte. Denn ich lernte auch, dass die Schilderungen eines Erzählers irgendwann einmal zu Ende gehen, die große Geschichte hingegen immer weiter voranschreitet. Diese Ereignisse, die zu Sagen geworden und deshalb in weite Ferne gerückt sind, spielen eine Rolle in der Gestaltung aller Dinge, die wir um uns herum beobachten, und zwar Tag für Tag. Wenn ich mir all das klar machte, so Delaunay, könne ich anfangen zu verstehen. Offensichtlich sollte ich alles verstehen. Erst als ich begann, das labyrinthische Gewirr höfischer Politik genauer zu be92 trachten, verzweifelte ich wahrhaftig an meinem behüteten Leben im Nachtpalais. Alcuin hatte schon seit mehr als zwei Jahren solche Dinge erlernt und konnte mühelos den Stammbaum aller sieben souveränen Herzogtümer, der königlichen Familie und ihrer unzähligen Liebschaften, die Aufgaben des Finanzministers, die Grenzen richterlicher Gewalt und sogar die Verordnungen der Gilde des Gewürzhandels aufsagen. Dafür und für so vieles andere hasste ich ihn; und doch gebe ich freimütig zu, dass ich ihn auch sehr mochte. Es war unmöglich, Alcuin nicht zu mögen, der selbst nahezu die ganze Welt in sein Herz schloss. So unwahrscheinlich das jemandem, der im Nachtpalais aufgewachsen war, auch erscheinen mochte, aber er war sich seiner atemberaubenden Schönheit überhaupt nicht bewusst, die immer weiter gedieh, je älter er wurde. Er hatte einen lebhaften Verstand und ein sagenhaftes Gedächtnis, um
das ich ihn beneidete, und doch war er darauf nicht stolz, denn er wollte einzig Delaunay gefallen. Wenn Delaunay Gäste empfing, was in jener Zeit recht oft geschah, bediente Alcuin in der Regel seine Gäste. Im Gegensatz zu den Festivitäten und Vergnügungen, die vom Cereus-Haus veranstaltet wurden, handelte es sich hierbei um zivilisierte, intellektuelle Anlässe. Am liebsten lud Delaunay nur wenige Freunde ein, die sich dann im Innenhof auf den Liegesofas wie die alten Hellenen zurücklehnten und ein elegantes Mahl genossen, während sie die Nacht in geselliger Unterhaltung zum Tage machten. An diesen Abenden war Alcuin immer dabei, um Wein oder Likör zu reichen, und auch wenn ich seinen Mangel an Raffinesse mit Verachtung betrachtete, konnte ich doch nicht leugnen, dass er einen bezaubernden Anblick bot, so voller natürlicher Anmut und sanftem Eifer, mit seinem schlohweißen Haar, das die Schatten der Reben grün schimmern ließen. 93 Wenn er mit seinem ernsten Lächeln den Weinkrug anbot, lächelten die Gäste meistens zurück und hielten ihr Glas hin, ob sie es wieder gefüllt haben wollten oder nicht, nur um zu sehen, wie die Freude am Dienen seine dunklen Augen zum Leuchten brachten. Dies war natürlich Delaunays Absicht, und ich bin mir sicher, dass in jenem Innenhof sich manch eine Zunge dank Alcuins Lächeln lockerte. Ich habe noch nie einen Menschen mit scharfsinnigerem Verstand als Anafiel Delaunay kennen gelernt. Doch all jenen, die solche Dinge als Beweis dafür anführen, dass er uns rücksichtslos ausnutzte, sei gesagt: Es ist eine Lüge. Zweifelsohne liebten wir ihn beide, jeder auf seine besondere Art, und ich bin mir vollkommen sicher, dass Delaunay uns auch in Liebe zugetan war. Ich hätte dafür genügend Beweise vorbringen können, noch bevor es zu bestimmten Ereignissen kam, auch wenn ich sie damals nicht wirklich begrüßte. Die Gäste wechselten im Übrigen so stetig, dass es kaum mehr möglich schien, dass ein Mann so viele Bekannte aus derart weit entfernten Teilen der Nation haben konnte. Er wählte seine Gäste mit großer Sorgfalt aus, und nie gab es eine Gesellschaft, die nicht harmonierte, außer er wollte es so. Delaunay kannte Hofbeamte und Richter, adlige Herren und Damen, Kaufleute und Händler, Dichter und Maler und Geldverleiher. Er kannte Sänger, Krieger und Goldschmiede, Züchter feinster Pferde, Gelehrte und Historiker, Tuchhändler und Hutmacher. Er kannte nicht nur Nachfahren des Heiligen Elua und seiner Gefährten, sondern auch Mitglieder aus allen Großen Häusern. Ich erfuhr, dass GasparTrevalion, Comte de Fourcay und ein Blutsverwandter von Marc, Duc de Trevalion, ein sehr guter Freund von ihm war. Gaspar, ein intelligenter und zynischer Mann mit grauen Schläfen, verstand sich darauf, die politi94 sehen Winde zu erschnuppern und zu erkennen, aus welcher Richtung sie wehten. Ohne Zweifel hatte er Delaunay damals erzählt, wie die Prinzessin Lyonette ihrem Sohn Baudoin die Kunde von einem kränklichen König und einem unbesetzten Thron ins Ohr geflüstert hatte, und welches Vorzeichen die Leute in der symbolischen Vermählung am Ball der Wintersonnenwende sehen könnten. Diese Dinge umgaben mich täglich und waren Teil meines Lebens, und was ich nicht selbst beobachten konnte, erfuhr ich später, wenn Delaunay Alcuin zu den Ereignissen des Abends befragte. Er legte immer großen Wert darauf, mich bei diesen Sitzungen mit einzubeziehen, damit ich mein Wissen noch erweiterte, mit dem mein schmerzender Schädel jetzt schon voll gestopft war. Lange Zeit nahm ich ihm übel, dass er Alcuin bevorzugte, wo ich doch besser ausgebildet war zu dienen; dennoch hörte ich zu. Ich verstand erst viel später, warum er mich während jener ersten langen Jahre im Verborgenen hielt. Jene, die Delaunay in den Kreis seiner Klientel aufzunehmen beabsichtigte, würde er mit Sorgfalt auswählen. Sie gehörten zur Elite und zu den misstrauischsten Persönlichkeiten der Nation, die zu tief in die Ränke um Geld und Macht verstrickt waren, um sich ohne weiteres dazu verleiten zu lassen, Bettgeheimnisse zu verraten. Bei Alcuin war Delaunay klug genug, die Räder der Lust in Gang zu setzen, noch bevor der Tag gekommen war. Es gab Adlige, die seit Jahren sehnsüchtig warteten und beobachteten, wie er mit quälender Langsamkeit von einem bildhübschen Kind zu einem atemberaubenden Jüngling heranwuchs. Wenn sie ihre Geheimnisse ausplauderten, lag jahrelanger Druck hinter der Kraft, mit welcher der Damm schließlich barst. Mit mir war es etwas anderes. Das Verlangen, das ich hervorrief- hervorrufen würde -, brannte heißer und war leichter 95 zu entfachen. Delaunay, ein hervorragender Menschenkenner, wusste das und entschloss sich
klugerweise, mich vor seinen Gästen versteckt zu halten. Wie nicht zu vermeiden war, sprach sich schnell herum, dass er einen zweiten Schüler aufgenommen hatte; wenn ihn seine Gäste bestürmten, das Geheimnis um mich zu lüften, lächelte er nur und winkte ab. So verbreitete sich die Kunde von mir, während ich mich mühsam bis zu meiner Adoleszenz kämpfte und meine Hingabe lediglich Tinte und Pergament galt. Es gab nur eine einzige Ausnahme: Melisande. Ein genialer Geist braucht schließlich ein Publikum. Bei all seiner Raffiniertheit war Delaunay doch ein Künstler und wie jeder andere seiner Art anfällig für das Verlangen, sich seiner Brillanz zu rühmen. Und es gab nur wenige, sehr wenige Menschen, die fähig waren, seine Kunst zu schätzen. Ich wusste damals nicht, wie schlau das Spiel angelegt war, das sie miteinander spielten, oder welche Rolle ich darin einzunehmen hatte. Ich wusste lediglich, dass er sie zu seinem Publikum erwählt hatte. Ich hatte nun schon seit dreieinhalb Jahren in seinem Haus gelebt und nahm seit einiger Zeit Stunden bei einem Akrobatikmeister, den Delaunay Elua weiß wo aufgetrieben hatte. Er glaubte, das heißt, Delaunay glaubte, es sei förderlich, seine Fähigkeiten auf den verschiedensten Gebieten zu schulen, und so unterzog man Alcuin und mich einer endlosen Reihe körperlicher Ertüchtigungen, um sicher zu stellen, dass unser Wohlgefeilter Geist in kräftige Körper gebettet war. Meine Unterrichtsstunde, in der ich Handstandüberschlag geübt hatte, war gerade zu Ende gegangen, und ich wischte mir mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn, als Delaunay mit ihr die Turnhalle betrat. Der Akrobatikmeister war gerade dabei, seine Sachen zu packen, und bat bei ihrem Anblick 96 darum, sich rasch zurückziehen zu dürfen, was Delaunay ignorierte. Melisande Shahrizai zu beschreiben kommt dem Versuch gleich, um mit den Worten der Dichter zu sprechen, den Gesang der Nachtigall zu malen; es ist schlichtweg unmöglich. Sie war damals dreiundzwanzig Jahre alt, obgleich es so schien, als könne ihr die Zeit nichts anhaben, unabhängig davon, in welche Richtung sie auch floss. Wenn ich sage, dass ihre Haut an Alabaster erinnerte, ihr Haar von so tiefem Schwarz war, dass es blau schimmerte, wenn Licht darauf fiel, und ihre Augen Saphiren glichen, die Edelsteine vor Neid erblassen ließen, spreche ich nur die Wahrheit; aber sie war eine D'Angeline, und dies kann lediglich andeuten, wie schön sie war. »Melisande«, sagte Delaunay, wobei Stolz und Vergnügen in seiner Stimme schwangen. »Das ist Phedre.« Da ich ebenfalls eine D'Angeline bin und aus dem Nachtpalais stamme, könnt ihr versichert sein, dass mich Schönheit nicht leicht in Ehrfurcht versetzt. Die Shahrizai sind ein altes Haus von Höflingen, und viele, die nur wenig von der Nomenklatur Terre d'Anges wissen, glauben, sie gehörten dem Geschlecht Shemhazais an. Doch dies trifft nicht zu. Die Namensvettern unter den Nachfahren der Gefährten Eluas sind derart miteinander verflochten, dass nur ein Gelehrter vom Volke der D'Angelines sie verstehen kann. Ich, die ich diese Dinge studiert hatte, brauchte keine historischen Kenntnisse, um sagen zu können, von wem das Haus der Shahrizai abstammte. Als ich höflich aufsah, um in die blauen Augen Melisande Shahrizais zu schauen, durchbohrte mich ihr Blick wie ein Speer, meine Knie wurden weich, und ich wusste, sie war eine Nachfahrin Kushiels. »Wie reizend.« Sie durchquerte die Halle mit sorgloser An97 mut und warf die Schleppe ihres Kleids schwungvoll über einen Arm. Kühle Finger streichelten über meine Wange, lackierte Nägel fuhren über meine Haut. Ich erbebte. Mit einem leichten Lächeln hielt sie mein Kinn hoch und zwang mich, ihr ins Gesicht zu sehen. »Anafiel«, sagte sie gelassen und amüsiert zugleich, während sie sich zu ihm umwandte. »Ihr habt eine wahre anguisette gefunden.« Er lachte und gesellte sich zu uns. »Ich war überzeugt, sie würde Euch gefallen.« »Mmm.« Sie ließ mich los, und ich fiel fast zu Boden. »Ich hatte mich schon gefragt, was Ihr versteckt haltet, Ihr alter Zauberer, Ihr. Ich kenne Leute, die eine beträchtliche Summe darauf gesetzt haben.« Delaunay drohte ihr spielerisch mit dem Finger. »Wir hatten eine Abmachung, Melisande. Oder wollt Ihr, dass Vetter Ogier erfährt, warum sein Sohn in letzter Minute die Hochzeit abblasen ließ?« »Ich habe nur... laut gedacht, mein Süßer.« Sie liebkoste sein Gesicht mit derselben Geste wie zuvor bei mir. Delaunay lächelte nur. »Ihr müsst unbedingt an mich denken, wenn Ihr meint, sie sei so weit, Naamah zu dienen, Anafiel.« Sie drehte sich noch einmal zu mir um und lächelte süß. »Du möchtest doch Naamah dienen, oder etwa nicht, mein Kind?«
Ihr Lächeln ließ mich erzittern, und endlich verstand ich, was Delaunay gemeint hatte. Die Erinnerung an den Züchtiger der Doyenne und die Adepten des Mandragora-Hauses verblasste angesichts der erlesenen Grausamkeit, die in dieses Lächeln gemeißelt war. Ich würde gerne behaupten, dass ich damals den langen Gang der Geschichte erahnte, der sich vor uns erstreckte, ebenso wie die Rolle, die ich spielen sollte, und wie erschreckend weit ich dafür gehen würde, aber das wäre eine Lüge. Ich dachte an nichts dergleichen. Ich dachte an gar 98 nichts. Stattdessen vergaß ich all meine Manieren, meine langjährige Erziehung im Nachtpalais und schwelgte in ihren blauen Augen. »Ja«, antwortete ich flüsternd. »Herrin.« »Gut.« Sie wandte sich wieder ab und ließ mich einfach stehen, während sie Delaunays Hand nahm und ihn zur Tür führte. »Es gibt da eine kleine Angelegenheit, die ich mit Euch zu besprechen wünsche ...« So verlief meine erste Begegnung mit Melisande Shahrizai, die einen ebenso scharfsinnigen Verstand hatte wie Delaunay und ein viel kälteres Herz. 99 Und hier«, erklärte Delaunay, während er mit dem Finger auf die Stelle zeigte, »liegt die Festung von Comte Michel de Ferraut, der sechshundert Männer befehligt und die Grenzen beim Himmelrandpass sichert.« Geschichte, Politik, Geografie ... die Unterrichtsstunden nahmen kein Ende. Gemäß der Diaspora der Gefährten ist das Land Terre d'Ange in sieben Provinzen aufgeteilt, und der König - oder in nicht allzu ferner Zeit die Königin - regiert von der Cite aus, in ehrfürchtigem Gedenken an den Heiligen Elua. Die sanfte Eisheth ließ sich in den südlichen Küstengebieten nieder, in denen sowohl Träumer und Seefahrer, Heiler und Händler als auch die Tausenden von Vögeln und die wilden Ritter der Salzmarschen leben. Ihre Provinz nennt sich Eisande und ist die kleinste der sieben. Dort leben auch vollkommen unbehelligt noch einige Tsingani. Ebenfalls in den Süden ging Shemhazai, allerdings weiter westlich in Richtung der gebirgigen Grenzen Ara-gonias, mit dem unser langer Friede immer noch Bestand hat. Siovale heißt diese blühende Provinz, die sich durch eine große Tradition der Gelehrsamkeit auszeichnet, denn Shemhazai schätzte Wissen sehr. Im Landesinneren nördlich von Siovale liegt L'Agnace, die traubenreiche Provinz Anaeis, der zuweilen Stern der Liebe genannt wird. Längsseits entlang der Felsküste schließt sich die Provinz Kusheth an, wo Kushiel sich niederließ, ganz bis zur Pointe d'Oeste hinauf. Wie sein Namenspatron ist es ein hartes, raues Land. Weiter im Norden liegt die Provinz Azzalle, welche sich an der Küste entlangschmiegt, an einer Stelle sogar in Sichtweite der weißen Felsen von Alba. Würde der Gebieter der Meeresstraße nicht die Gewässer beherrschen, die zwischen uns liegen, könnte ernsthaft die Gefahr eines mächtigen Bündnisses zwischen Azzalle und Alba bestehen. Dies ließ mich aufhorchen, denn Trevalion ist das herrschende Herzogtum in Azzalle, und bei dem Gedanken an Baudoin de Trevalions Kuss schlug mein Herz immer noch höher. Unterhalb der Provinz Azzalle liegt Namarre, wo einst Naa-mah lebte, ein wunderschönes und sehr fruchtbares Land, durch das viele Flüsse fließen. An der Stelle, an welcher der Fluss Naamah entspringt, befindet sich ein Schrein, zu dem alle ihre Dienerinnen und Diener einmal in ihrem Leben pilgern. Im Osten, an der Grenze zu den skaldischen Territorien, liegt die lang gezogene, schmale Provinz Camlach, in der sich der kriegerische Camael niederließ und die ersten Armeen jener strahlenden, grimmigen Truppen der D'Angelines gründete, die seit so langer Zeit die Nation vor Invasionen schützen. Dies alles, so lernte ich von Delaunay, ist Ausdruck des Wesens meiner Heimat und der Aufteilung der Macht innerhalb ihrer Grenzen. Langsam wurde ich mir der Bedeutung dieser Aufteilungen gewahr, ebenso der Auswirkungen der Macht, 100 101 die jede Provinz für sich beanspruchte, wobei eine jede in gewissem Maße das Wesen ihres engelsgleichen Gründers widerspiegelte. Unter den Gefährten Eluas beanspruchte einzig und allein Cassiel keine eigene Provinz, sondern blieb treu an der Seite seines wandernden Gebieters. Er verlieh
seinen Namen nur einmal im Land; an die Cassilinische Bruderschaft, einen Mönchsorden, dessen Mitglieder den Grundsätzen des Cassiel die Treue schwören. Ihr Dienst ist ähnlich streng wie der Dienst Naamahs und weit härter, was wohl der Grund für seine schwindende Beliebtheit ist. Nur die ältesten Adelsfamilien in den Provinzen halten an der Tradition fest, die innerhalb der Familie von Generation zu Generation weitergegeben wird, einen jüngeren Sohn der Cassilinischen Bruderschaft zu verpflichten. Wie wir werden sie im Alter von zehn Jahren zu Zöglingen, doch führen sie ein hartes, asketisches Leben, das bestimmt ist von Waffenunterweisung, Keuschheit und Verzicht. »Du verstehst jetzt, Phedre, warum Camlach von jeher von größter strategischer Bedeutung ist.« Delaunays Finger folgte der Grenzlinie auf einer Karte. Ich blickte in seine fragenden Augen und seufzte. »Ja, Herr.« »Gut.« Sein Finger wanderte über das Papier zurück. Er hatte wunderschöne Hände, mit langen, spitz zulaufenden Fingern. »Hier an dieser Stelle, siehst du, fand der Kampf statt.« Er zeigte auf ein dichtes, gebirgiges Gebiet. »Erinnerst du dich noch daran, was der Eisenhändler gestern Abend sagte? Die Skaldi bedrohen wieder die Pässe, wie sie es seit der Schlacht der Drei Prinzen nicht mehr getan haben.« Trauer klang in seiner Stimme. »Als Prinz Rolande getötet wurde«, erinnerte ich mich. »Der Dauphin war einer der Drei Prinzen.« 102 »Ja.« Delaunay stieß die Karte mit einer schroffen Bewegung von sich. »Und die anderen beiden?« »Des Königs Bruder, Benedicte, und ...« Ich versuchte angestrengt, mich an den Dritten zu erinnern. »Percy von L'Agnace, Comte de Somerville, leiblicher Vetter des Prinzen Rolande«, ergänzte Alcuin mit sanfter Stimme. Er strich sich die weißen Haare aus dem Gesicht und lächelte. »Blutsverwandter mütterlicherseits von Königin Genevieve, was ihn nach geltendem Eherecht zu einem Prinzen königlichen Geblüts machte, obgleich er nur selten auf den Titel besteht.« Ich blickte ihn finster an. »Das wusste ich auch.« Er zuckte mit den Schultern und schenkte mir sein unfassbares Lächeln. »Hört auf zu streiten.« Delaunays Ton war streng und sein Blick düster. »Wir mussten für diesen Sieg einen hohen Preis bezahlen, als Rolande de la Courcel sein Leben ließ. Er war der geborene Regent und hätte nach dem Ableben seines Vaters den Thron übernommen und mit Stärke und Großmut regiert. Gewiss hätte niemand es gewagt, gegen ihn die Waffen zu erheben. Wir haben die Sicherheit unserer Grenzen mit Instabilität in der Cite bezahlt, und nun sind auch noch unsere daraus gewonnenen Vorteile bedroht.« Er erhob sich mit einer unwirschen Bewegung vom Tisch, ging in der Bibliothek auf und ab und blieb vor einem der Fenster schließlich stehen, um in Schweigen gehüllt auf die Straße hinauszublicken. Alcuin und ich tauschten stumme Blicke. Delaunay war in vieler Hinsicht der gütigste aller Lehrer, denn er rügte uns mit nichts Strengerem als einem unfreundlichen Wort, und dies auch nur, wenn wir es wirklich verdient hatten. Doch lauerte eine dunkle Seite in ihm, die nur manchmal an die Oberfläche gelangte, und wir, die wir auf 103 seine Launen genauer achteten als ein Bauer auf das Wetter, waren klug genug, sie nicht heraufzubeschwören. »Wart Ihr auch dort, mein Herr?« wagte ich schließlich zu fragen. Er antwortete, ohne sich zu uns umzudrehen, und seine Stimme war ausdruckslos. »Wenn ich sein Leben hätte retten können, hätte ich es getan. Wir hätten nicht zu Pferde angreifen sollen, das war der Fehler. Der Erdboden war zu uneben. Aber Rolande handelte immer übereilt. Das war sein einziger wunder Punkt als Anführer. Als er die dritte Angriffswelle einleitete, ritt er zu weit voraus: Das Pferd seines Fähnrichs strauchelte und ging zu Boden, und wir wurden dadurch aufgehalten, dass wir uns um ihn scharten. Nicht lange ... aber lange genug, damit die Skaldi ihn umzingeln konnten.« Er wandte sich mit demselben düsteren Blick zu uns um. »Solch winzige Details bestimmen das Schicksal von Weltreichen. Wegen eines strauchelnden Pferdes ist die Hälfte der Nachfahren Eluas fest entschlossen, Prinzgemahl zu werden und den Thron durch Heirat zu beanspruchen. Und Prinzen von Geblüt wie Baudoin de Trevalion schmieden Pläne, ihn mittels Hochrufen an sich zu reißen. Denkt daran, meine Lieben, und wenn ihr etwas plant, dann tut es gut und sorgfältig.« »Ihr glaubt, Baudoin will den Thron?«, fragte ich erstaunt; nach mehr als drei Jahren kämpfte ich immer noch damit, die Muster zu verstehen, die Delaunay studierte. Alcuin sah nicht überrascht aus.
»Nein. Nicht ganz.« Mein Lehrer lächelte ironisch. »Aber er ist der Neffe des Königs, und ich denke, seine Mutter, die aus gutem Grund die Löwin von Azzalle genannt wird, würde ihren Sohn gerne darauf sitzen sehen.« »Aha.« Ich blickte verständnislos, aber dann erkannte ich endlich klar und deutlich dieses Muster Baudoins Handlun104 gen, Delaunays Anwesenheit beim Wintersonnenwendenball. »Mein Herr, was hat das mit skaldischen Plünderern an der östlichen Grenze zu tun?« »Wer weiß?« Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht nichts. Aber man kann nie voraussagen, wie Ereignisse an einem Ort das Geschehen an einem anderen beeinflussen können, denn der Teppich der Geschichte wird aus vielen Fäden gewebt. Wir müssen unbedingt alle Kett- und Schlussfäden im Auge behalten, um das Muster auf dem Webstuhl voraussehen zu können.« »Werden die Skaldi in Terre d'Ange einfallen?«, fragte Alcuin leise, und ein schwacher Schimmer der Angst blitzte in seinen dunklen Augen auf. Delaunay lächelte freundlich und streichelte ihm übers Haar. »Nein«, sagte er mit Bestimmtheit. »Sie sind so unorganisiert wie die Stämme von Alba vor der Ankunft Cinhil Rus, außerdem sichern Edelmänner wie der Comte de Ferraut und Duc Maslin d'Aiglemort die Pässe. Seit der Schlacht der Drei Prinzen haben sie ihre Streitkräfte verstärkt, damit so etwas nie wieder geschehen kann. Aber wir sollten es im Kopf behalten, meine Lieben, und ihr wisst, was wir darüber denken.« »Jedes Wissen ist von Nutzen.« Ich konnte es im Schlaf aufsagen. Wenn Delaunay ein Motto hatte, dann sicherlich dieses. »Ganz genau.« Er schenkte mir ein Lächeln, und seine Anerkennung ließ mein Herz höher schlagen. »Geht und amüsiert euch, ihr habt eine Pause verdient«, fügte er hinzu und entließ uns. Wir machten uns gehorsam, jedoch wie immer widerwillig auf, da wir nur ungern seiner Anwesenheit beraubt wurden. Jenen, die ihn nie gekannt haben, sei gesagt, dass Delaunay einen Charme versprühte, der bei allen, die ihn umgaben, starke Gefühle hervorrief; zum Guten wie zum Schlechten, sollte 105 ich hinzufügen, denn ich lernte später etliche kennen, die meinen Lehrer verachteten. Aber jene gehörten zu den Menschen, die andere um ihre Vortrefflichkeit beneiden. Was auch immer er tat, Anafiel Delaunay tat es mit einer Anmut, die sich den meisten Menschen auf dieser Welt entzieht. Einen Zuhälter nannten ihn diejenigen, die ihn verunglimpfen wollten, und später den Hurenbock der Spitzel, aber ich kannte ihn besser als die meisten, und stets agierte er mit vollkommener Würde. Was seine geheimnisvolle Aura nur noch verstärkte. »Es ist nicht sein echter Name«, sagte mir Hyacinthe. »Woher weißt du das?« Er warf mir sein weißes Grinsen zu, das im Halbdunkel noch heller schien. »Ich habe herumgefragt.« Er schlug sich auf die schmale Brust. »Ich wollte herausfinden, wer der Mann ist, der dich mir weggenommen hat!« »Aber ich bin doch zurückgekommen«, erwiderte ich sanft. Zu meinem großen Verdruss hatte Delaunay sich sehr darüber amüsiert. Meinen ersten unerlaubten Ausflug hatte ich mit Bedacht geplant und in Angriff genommen, als er außer Haus bei Hofe war. In Knabenkleider gehüllt, die ich aus Alcuins Schrank entwendet hatte, kletterte ich aus einem Fenster im zweiten Stock. Ich hatte mir eine Karte der Stadt genau angesehen und machte mich zu Fuß, allein und ohne Hilfe, auf den Weg zum Vorhof der Nacht. Es war ein unglaubliches Wiedersehen gewesen. Um der alten Zeiten willen stibitzten wir auf dem Markt Pasteten vom Teigwarenhändler und rannten den ganzen Weg bis zur Ter-tiuskreuzung, wo wir uns unter die Brücke kauerten und die noch warmen Teigtaschen gierig aufaßen, während die Soße uns am Kinn heruntertropfte. Danach hatte mich Hyacinthe in ein Gasthaus mitgenommen, wo er mit den fahrenden Schau106 Spielern, die dort wohnten, Bekanntschaft geschlossen hatte. Er stolzierte umher und machte sich wichtig, weil er Tratsch kannte, für den der eine oder andere bezahlen würde. Schauspieler sind für ihre Intrigen berüchtigt, noch berüchtigter als die Adepten des Nachtpalais. Erfüllt vom Reiz meines Abenteuers und der erwartungsvollen Furcht vor seinen Folgen, bemerkte ich es kaum, als ein Junge von acht oder neun Jahren sich einen Weg durch die Menge bahnte und etwas
in Hyacinthes Ohr flüsterte. Zum ersten Mal sah ich meinen Freund die Stirn runzeln. »Er sagt, ein Mann in Livree hat ihn geschickt«, teilte mir Hyacinthe mit. »Braun und Gold, mit einer Weizengarbe auf dem Wappen?« »Delaunay!«, stieß ich hervor. Meine Brust zog sich vor Angst zusammen. »Das sind seine Farben.« Mein Freund blickte verärgert drein. »Sein Diener ist draußen mit einer Kutsche. Er sagt, du sollst Ardile schicken, wenn du so weit bist.« Der Junge nickte eifrig mit dem Kopf; und so erfuhr ich, dass Hyacinthe begonnen hatte, sich ein eigenes kleines Netz an Boten und Laufburschen im Vorhof der Nacht aufzubauen, und dass Anafiel Delaunay nicht nur wusste, dass ich mich aus dem Haus gestohlen hatte und wohin ich gegangen war, sondern auch, wer Hyacinthe war und was er tat. Delaunay überraschte einen immer wieder. Als ich zurückkam, wartete er schon auf mich. »Ich werde dich nicht bestrafen«, sagte er ohne Umschweife. Ich weiß nicht, was für ein Ausdruck auf meinem Gesicht lag, aber er schien ihn zu belustigen. Mein Lehrer zeigte auf einen Stuhl ihm gegenüber. »Komm herein, Phedre, setz dich.« Sobald ich mich gesetzt hatte, stand er auf und ging im Zimmer auf und ab. Das Licht der Lampe schimmerte auf seinem rost107 braunen Haar, das zu einem glänzenden Zopf geflochten war, der die edlen Linien seines Gesichts hervorhob. »Dachtest du etwa, ich wüsste nichts von deiner Vorliebe für unerlaubte Ausflüge?«, fragte er mich und blieb vor mir stehen. »Es gehört zu meinem Geschäft, Dinge in Erfahrung zu bringen, und das beinhaltet gewiss vor allem Dinge, die Mitglieder meines Hauses betreffen. Was die Doyenne vorzog, geheim zu halten, mein Schatz, haben ihre Wachen bereitwillig ausgeplaudert.« »Ich bereue es, mein Gebieter!«, rief ich schuldbeladen aus. Doch er warf mir nur einen belustigten Blick zu und setzte sich wieder. »Nur insoweit, als es dir gefällt, zu bereuen, meine Liebe. Und auch wenn deine Reue wirklich groß ist, so empfindest du sie erst nach der Tat, was sie somit zu einer einzigartig unwirksamen Abschreckung macht, nicht wahr?« Ich nickte verwirrt. Delaunay seufzte und schlug die Beine übereinander, wobei sein Gesichtsausdruck nun ernster wurde. »Phedre, ich habe nichts gegen deinen ehrgeizigen jungen Freund. Du könntest in diesem Viertel durchaus von Dingen erfahren, von denen du an keinem anderen Ort hören würdest. Und«, Belustigung flackerte wieder in seinem Blick auf, »in einem bestimmten Maße habe ich auch nichts gegen deine Vorliebe für unerlaubte Ausflüge.« Er lehnte sich vor, um an dem Ärmel von Alcuins Hemd zu zupfen, das ich trug. »Und gegen deine Verkleidung. Aber in der Stadt lauern viele Gefahren für ein Kind, das allein unterwegs ist, und ich kann nicht zulassen, dass du ihnen schutzlos ausgesetzt bist. Wenn du in deiner Freizeit deinen Freund besuchen möchtest, wirst du von nun an Guy darüber informieren.« Ich wartete auf mehr. »Das ist alles?« »Das ist alles.« 108 Ich dachte darüber nach. Guy war ein Mann mit zahllosen Fähigkeiten, der leise und selten sprach und Delaunay mit größter Loyalität und Tüchtigkeit diente. »Er wird mir folgen«, stellte ich schließlich fest. »Oder mich verfolgen lassen.« Delaunay lächelte. »Sehr gut. Du kannst gerne mit meinem Segen versuchen, ihn zu erspähen und ihm zu entkommen. Wenn dir das gelingt, Phedre, brauche ich mir um dich alleine keine Sorgen mehr zu machen. Aber du wirst ihm Bescheid geben, wenn du dieses Grundstück verlässt, aus welchem Grund auch immer.« Seine Selbstgefälligkeit war zum Verrücktwerden. »Und wenn ich es nicht tue?«, fragte ich und warf herausfordernd den Kopf in den Nacken. Seine abrupt veränderte Miene jagte mir einen Schrecken ein, machte mir wirklich Angst, ohne einen einzigen Schauer der Erregung. Seine Augen wurden kalt, und seine Gesichtszüge verhärteten sich. »Ich stamme nicht aus Kushiels Geschlecht, Phedre. Ich spiele nicht mit Trotz und Bestrafung, und da du mir etwas bedeutest, werde ich nicht zulassen, dass du dich wegen einer kindischen Laune in Gefahr bringst. Ich fordere keinen bedingungslosen Gehorsam, aber ich fordere dennoch Gehorsam. Wenn du ihm nicht Folge leisten kannst, werde ich deine Marque verkaufen.« Dieser Warnung, die mir in den Ohren klang, schenkte ich Beachtung, dessen seid versichert. Ich sah
seine Augen und hegte keinen Zweifel, dass er meinte, was er sagte. Dies bedeutete natürlich, dass irgendwo in meiner Nähe Guy, still und effizient, Wache hielt, wenn ich mit Hyacinthe in der Küche seiner Mutter saß. »Was ist es dann?«, fragte ich meinen Freund. »Wer ist er wirklich?« Er schüttelte den Kopf, und seine schwarzen Ringellocken 109 tanzten umher. »Keine Ahnung. Aber dafür weiß ich etwas anderes.« Er grinste und triezte mich. »Ich weiß, warum seine Dichtung verboten wurde.« »Warum?« Ich konnte kaum erwarten, es zu erfahren. In der Ecke, in der sie über dem Herd vor sich hin murmelte, wandte sich Hyacinthes Mutter um und blickte ängstlich zu uns herüber. »Weißt du, wie Prinz Rolandes erste Verlobte starb?«, fragte er. Es war lange vor meiner Geburt passiert, aber dank Delaunays stetigem Unterricht kannte ich mich in der Geschichte der königlichen Familie sehr gut aus. »Sie brach sich bei einem Sturz das Genick«, antwortete ich. »Ein Jagdunfall.« »So heißt es«, erwiderte er viel sagend. »Aber nachdem Rolande Isabel L'Envers heiratete, war in den Bordellen und Tavernen ein Lied zu hören. Es handelte von einer adligen Dame, die einen Stallburschen verführte und ihn bat, den Sattelgurt ihrer Nebenbuhlerin an dem Tag durchzuschneiden, an dem sie mit ihrem Liebsten auf die Jagd ging.« »Delaunay hat es geschrieben? Warum?« Hyacinthe zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? So habe ich es jedenfalls gehört. Die Leibgarde der Prinzgemahlin schnappte den Troubadour, der das Lied verbreitete. Als sie ihn verhörten, nannte er Delaunay als Verfasser des Gedichts. Der Troubadour wurde nach Eisande verbannt, und es heißt, er wäre unterwegs auf mysteriöse Weise umgekommen. Isabel ließ Delaunay zu einer Befragung an den Hof bringen, doch er weigerte sich, sich als den Verfasser des Liedes zu bekennen. Deshalb wurde er nicht verbannt, aber um seine Schwiegertochter zu besänftigen, verbot der König Delaunays Dichtung und ließ jedes vorhandene Buch seiner Werke zerstören.« »Dann ist er also ein Feind der Krone«, verwunderte ich mich. 110 »Nein.« Hyacinthe schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. »Wenn er das wäre, hätte man ihn sicher verbannt, Geständnis hin oder her. Die Prinzgemahlin forderte es zwar, aber er ist am Hof immer noch willkommen. Jemand hat ihn in dieser Sache beschützt.« »Wie hast du davon erfahren?« »Ach, das.« Ein verschmitztes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Es gibt da einen gewissen Hofdichter, der in hoffnungsloser Leidenschaft für die Frau eines gewissen Wirts entbrannt ist und sie in seinen Reimen als Engel des Vorhofs der Nacht bezeichnet. Sie bezahlt mich mit Münzen, damit ich ihm sage, dass er weggehen und sie nicht weiter behelligen soll, und er entlohnt mich mit Geschichten, damit ich ihm berichte, wie sie blickte, als sie es sagte. Ich werde für dich herausfinden, was ich kann, Phedre.« »Du wirst an diesem Wissen verzweifeln.« Die Worte waren düster und, wie ich dachte, an Hyacinthe gerichtet; aber als ich aufsah, merkte ich, wie seine Mutter mit ausgestrecktem Arm auf mich zeigte. Ein entsetzliches Vorzeichen glänzte in ihren dunklen, tief liegenden Augen, und die Schönheit ihres dunkelhäutigen, verwitterten Gesichts wurde von baumelndem Gold umrahmt. »Ich verstehe das nicht«, murmelte ich verwirrt. »Du versuchst, das Geheimnis deines Herrn zu ergründen.« Sie tippte mit ihrem ausgestreckten Finger auf mich. »Du glaubst, du tust das aus Neugierde, aber ich sage dir: Du wirst den Tag verwünschen, an dem sich dir alles offenbart. Versuche nicht, sein Kommen zu beschleunigen.« Damit wandte sie sich wieder ihrem Herd zu und schenkte uns weiter keine Beachtung mehr. Ich sah Hyacinthe an. Der Schalk war aus seinem Gesicht gewichen; er achtete nur wenige Dinge, aber die Gabe der dromonde seiner Mutter gehörte 111 dazu. Wenn sie den Stammgästen im Vorhof der Nacht die Zukunft voraussagte, behalf sie sich mit einem alten, abgegriffenen Kartenspiel, aber ich wusste von Hyacinthe, dass dies nur zur Schau diente. Die dromonde kam, wenn geheißen, und manchmal auch ungebeten, der zweite Blick, der die Schleier der Zeit teilte. Schweigend dachten wir über ihre Warnung nach. Delaunays Worte kamen mir unaufgefordert in den
Sinn. »Jedes Wissen ist von Nutzen«, sagte ich. 112 Am Ende meines vierten Jahres im Dienste Anafiel Delaunays wurde ich volljährig. Im Nachtpalais wäre ich in die Mysterien Naamahs eingeweiht worden und hätte an meinem dreizehnten Geburtstag mit meiner Ausbildung begonnen; Delaunay hatte sich zu meinem unglaublichen Verdruss jedoch dazu entschlossen, zu warten. Ich dachte, ich würde vor Ungeduld sterben - was natürlich nicht geschah -, bis er mir endlich die Frage stellte. »Du bist von einem Kind zu einer jungen Frau herangewachsen, Phedre«, begann er. »Möge Naamahs Segen mit dir sein.« Dann nahm er mich bei den Schultern und sah mich mit ernster Miene an. »Ich werde dir jetzt eine Frage stellen, und ich schwöre beim Heiligen Elua, ich möchte, dass du sie mir freimütig beantwortest. Wirst du das tun?« »Ja, Herr.« Seine topasfarben gefleckten Augen erforschten meine. »Ist es dein Wunsch, dem Dienste Naamahs geweiht zu werden?« Ich wartete mit meiner Antwort, glücklich über die Gelegenheit, in aller Ruhe sein geliebtes Gesicht, 113 zugleich anmutig und streng, betrachten zu können. Seine Hände auf meinen Schultern, ah! Ich wünschte, er würde mich häufiger berühren. »Ja, Herr«, antwortete ich schließlich und ließ meine Stimme sicher und bestimmt klingen. Als könnte es da einen Zweifel geben! Aber natürlich musste Delaunay erst sein Ehrgefühl zufrieden stellen. Weil ich ihn liebte, verstand ich das. »Gut.« Er drückte meine Schultern und ließ mich lächelnd wieder los. Kaum merkliche Falten kräuselten sich an seinen Augenwinkeln. Wie alles an ihm waren sie wunderschön. »Wir kaufen auf dem Markt eine Taube und bringen dich zum Tempel, damit du geweiht werden kannst.« Wenn ich mich an meinem zehnten Geburtstag um eine feierliche Zeremonie betrogen gefühlt hatte, entschädigte mich dieser Tag reichlich. Delaunay klatschte in die Hände, um nach der Haushälterin zu rufen, und gab Anweisung, ein großes Fest vorzubereiten. Der Unterricht fiel an dem Tag aus, und sie schickten Alcuin und mich fort, damit wir unsere schönsten Festtagskleider anlegten. »Ich bin ja so froh«, flüsterte mir Alcuin zu, während er meine Hand nahm und mir sein geheimnisvolles Lächeln schenkte. Er hatte dieses Jahr bereits seinen vierzehnten Geburtstag gefeiert und war Naamah geweiht worden; da ich in Delaunays Augen immer noch ein Kind war, hatte man mich von den Riten ausgeschlossen. »Ich auch«, flüsterte ich zurück und lehnte mich zu ihm herüber, um ihn auf die Wange zu küssen. Alcuin errötete, und die Farbe, die ihm unter seiner hellen Haut ins Gesicht schoss, stand ihm sehr gut. »Komm«, sagte er und zog mich fort. »Er wartet.« Auf dem Markt schlenderten wir zwischen den Tempelhändlern umher, während die Kutsche geduldig wartete und Delau114 nay mir mit großer Geste erlaubte, genau die richtige Taube für meine Darbringung auszuwählen. Sie sahen alle ziemlich gleich aus, so wie Vögel das zu tun pflegen, doch ich betrachtete sie sorgfältig und entschied mich schließlich für einen schönen weißen Vogel mit korallenroten Füßen und wachsamen schwarzen Augen. Delaunay bezahlte den Verkäufer und erstand den schönsten Käfig; eine zauberhafte Pagode mit vergoldeten Stäben. Die Taube sträubte sich ein wenig, als der Verkäufer sie hineinschob, und flatterte mit den Flügeln gegen die Gitterstäbe. Ein gutes Zeichen, da es bedeutete, dass sie gesund war. Im Nachtpalais hätte die Weihe im hauseigenen Tempel stattgefunden, aber unter dem Schutz eines adligen Bürgers gingen wir zum Großen Tempel. Es ist ein reizendes kleines Gebäude aus weißem Marmor, umgeben von Gärten. Überall in den Bäumen saßen Tauben, heilig und unversehrt. Eine Altardienerin kam uns an den offenen Türen entgegen. Sie betrachtete Delaunay kurz und verbeugte sich. »Im Namen Naamahs seid willkommen, Herr. Wie können wir Euch dienen?« Ich stand neben ihm und hielt den Tragegriff des Vogelkäfigs fest umklammert. Delaunay legte eine Hand auf meinen Kopf. »Sie ist hier, um dem Dienste Naamahs geweiht zu werden.« Die Altardienerin lächelte mich an. Sie war jung, nicht älter als achtzehn, und sah wie der soeben erwachte Frühling aus, mit rotgoldenem Haar und grünen Augen, die an den Augenwinkeln nach oben geschwungen waren wie bei einer Katze. Obwohl sie noch so jung war, trug sie den fließenden,
scharlachroten Chorrock der Priesterschaft Naamahs mit einer Ungezwungenheit, die von langer Gewohnheit herrührte. Daraus schloss ich, dass sie schon als kleines Kind von ihren Eltern oder einer Mutter geweiht worden war, die es sich nicht leisten 115 konnte, sie aufzuziehen. Wie sie sich ausdrückte, ließ darauf schließen, dass sie in der Stadt geboren war. »So«, sagte die Altardienerin sanft. »Sei willkommen, Schwester.« Sie musste sich nur leicht herunterbeugen - sie war kaum größer als ich -, um mir den Willkommenskuss zu geben. Ihre Lippen waren weich, und sie duftete nach Sonnengewärmten Kräutern. Als sie sich umwandte, um Alcuin zu küssen, fiel mir auf, dass sie von gleicher Größe waren. »Sei willkommen, Bruder.« Sie ging einen Schritt zurück und wies uns mit einer Bewegung durch die Tür. »Tretet ein und betet. Ich hole den Priester.« Im Innern war der von Sonnenlicht durchflutete Tempel mit nichts als Blumen und Kerzen geschmückt. Am höchsten Punkt des Kuppelgewölbes öffnete sich ein Rundfenster zum Himmel. Wir näherten uns dem Altar mit der prachtvollen Statue Naamahs, die mit offenen Armen dastand und alle Andächtigen willkommen hieß. Ich setzte den Vogelkäfig ab, kniete mich hin und betrachtete ihr Gesicht, das Mitgefühl und Verlangen ausstrahlte. Delaunay kniete auch nieder, ernst und ehrerbietig, während Alcuins Gesichtsausdruck entrückt war. Als der Priester in Begleitung von vier Altardienern erschien - die Dienerin, die uns begrüßt hatte, unter ihnen -, erblickten wir einen großen und schlanken Mann, seinem Alter entsprechend gut aussehend, mit feinen Zügen, die sein Gesicht prägten, und silbernem Haar, das zu einem langen Zopf geflochten war. Er bedeutete uns aufzustehen. »Ist es dein Wunsch dem Dienste Naamahs geweiht zu werden?«, fragte er mich mit feierlicher Stimme. »Es ist mein Wunsch.« Er winkte mich zu sich und schob seine scharlachroten Ärmel zurück. Einer der Altardiener hielt ihm eine Schale mit Wasser hin, woraufhin der Priester einen Weihwedel hineintauchte und mich mit einigen Tropfen besprenkelte. »Im Namen von Naamahs heiligem Fluss weihe ich dich ihrem Dienst.« Er nahm einen Honigkuchen von einem anderen Diener, brach ihn auseinander und legte mir ein Stück auf die Zunge. »Möge dein Fleisch für die Süße der Lust bestimmt sein«, fuhr er fort. Ich kaute und schluckte es herunter, den Geschmack des Honigs im Mund. Nun reichte die Altardienerin mit den grünen Augen dem Priester einen Kelch, den er an die Lippen führte. »Möge dein Blut zum Rausch der Leidenschaft aufwallen.« Der letzte Altardiener hielt eine kleine Menge Öl hoch, und der Priester tauchte seine Finger hinein. Während er Chrisma auf meine Stirn strich, hielt er meinen Blick fest. »Möge deine Seele im Dienste Naamahs immer Barmherzigkeit finden«, intonierte er sanft. Unter dem Öl konnte ich die Kühle seiner Fingerspitzen auf meiner Haut spüren, dazu die Macht, die ihm verliehen war. Naamahs Gesicht, überweltlich und sinnlich, schwamm vor meinen Augen. Ich schloss sie und spürte, wie die Luft des Tempels um mich herumwirbelte und von Licht und himmlischer Magie erfüllt war. Alle Geschichten, die ich von Naamah gehört hatte und die in den Dreizehn Häusern erzählt wurden, waren wahr, und irgendwie waren sie es auch nicht. Naamah war all das und mehr. »So sei es«, schloss der Priester, und ich öffnete die Augen wieder. Er und die Altardiener hatten sich zurückgezogen. Er nickte mir zu. »Du kannst jetzt deinen Dienst anbieten, mein Kind.« Alcuin hielt den Vogelkäfig für mich. Vorsichtig öffnete ich ihn, umfing die Taube mit beiden Händen und nahm sie heraus. Sie war weißer als Schnee und wog fast nichts in meiner Hand, aber ich konnte spüren, wie das warme Leben in ihr pulsierte, fühlte den schnellen, ängstlichen Herzschlag. Ihre 116 117 Federn waren weich, und ich fürchtete, der sanfte Druck meiner Hände könnte ihre zierlichen Knochen brechen, wenn sie sich bewegte. Ich drehte mich wieder zum Altar, kniete mich ein weiteres Mal hin und hielt die Taube zu Naamahs Statue empor. »Heilige Naamah, ich bitte dich, meinen Dienst anzunehmen«, sagte ich und flüsterte dabei, ohne zu wissen, warum. Ich öffnete die Hände. In die Freiheit aufgescheucht, erhob sich die Taube in die Lüfte, ihre Schwingen flatterten heftig im Sonnenlicht. Bestimmt und zielstrebig flog sie zur Spitze der Kuppel hoch, drehte eine Runde und wirbelte dann mit ihrem weißen, sonnenbeschienenen Gefieder spiralförmig aus dem Rundfenster,
hinaus in den offenen Himmel. Der Priester verfolgte ihren Flug mit einem Lächeln. »Sei willkommen«, sagte er, während er sich zu mir herunterbeugte, um mir aufzuhelfen, und mir den Willkommenskuss gab. Er blickte mich freundlich an, und seine Augen strahlten eine Gelassenheit aus, die von dem Frieden und der Weisheit Tausender Vereinigungen herrührte. »Sei willkommen, Dienerin Naamahs.« So wurde ich dem Leben geweiht, zu dem ich seit meiner Geburt bestimmt war. In der darauf folgenden Woche begann meine Ausbildung. Delaunay hatte Alcuins Einweisung in die Ausbildung, die einem Diener Naamahs gebührt, ein wenig hinausgezögert. Da wir fast gleichaltrig waren, hatte unser Lehrer gewartet, damit wir gemeinsam beginnen konnten. Unser Unterricht sollte wohl gleichzeitig beginnen. »Ich habe eine Vorführung arrangiert«, eröffnete er uns ruhig, nachdem er uns hatte holen lassen. »Es schickt sich nicht, dass ihr ohne eine in die Mysterien Naamahs eingeführt 118 werdet. Edmonde Noualt, der Doyen des Camellia-Hauses, war so freundlich, meiner Bitte nachzukommen.« Es entsprach voll und ganz Delaunays Art und seinem feinen Taktgefühl, eine Vereinbarung mit einem Haus zu treffen, mit dem mich nichts verband, um keine Erinnerungen an meine Kindheit im Nachtpalais heraufzubeschwören. Ich verschwieg ihm, dass es mir nichts ausgemacht hätte. Das hätte nur die Güte seines Geschenks verdorben. Auch wenn es zahllose Variationen von Paarungen und der Lust gibt, besteht die Vorführung für eine neu geweihte Dienerin oder einen neu geweihten Diener Naamahs immer aus der traditionellen Vereinigung von Mann und Frau. Guy fuhr uns an jenem Abend zum Camellia-Haus. Ich war überrascht, dass es noch förmlicher war als Cereus, obwohl ich es hätte wissen müssen; der Kanon von Camellia ist die Perfektion, und die Adepten halten bis ins kleinste Detail daran fest. An der Tür empfing uns die Stellvertreterin des Doyens, eine atemberaubend schöne, große Frau mit langem, offen getragenem, schwarzem Haar, deren Haut der Farbe frischen Elfenbeins glich. Sie begrüßte uns geziemend, und wenn Neid oder Neugierde in dem Blick lag, der auf Alcuins unglaublicher Schönheit oder dem unerwarteten scharlachroten Fleck in meinem Auge ruhte, so verbarg sie es gut. »Kommt«, sagte sie und winkte uns herein. »Da ihr dem Dienste Naamahs geweiht worden seid, kommt und seht eine Darbietung ihrer Mysterien.« Das Vorführzimmer war dem des Cereus-Hauses sehr ähnlich, eine tiefer gelegene, runde Dreiviertelbühne, die mit Kissen ausstaffiert und von gut gepolsterten Bankreihen umgeben war. Ein Gazevorhang war vor die Bühne gezogen, und ich konnte dahinter die samtenen Vorhänge erkennen, die den Eingang verbargen. 119 In allen Dreizehn Häusern gilt das ungeschriebene Gesetz, dass rituelle Vorführungen prinzipiell allen Adepten des Hauses offen stehen, und so war ich auch nicht überrascht, als weitere Menschen hereinkamen. Ein privates Stelldichein ist etwas anderes, aber die Riten Naamahs sind allen ihren Dienerinnen und Dienern zugänglich. Ohne mir auch nur den geringsten Gedanken darüber zu machen, verfiel ich in eine alte Angewohnheit und kniete mich in der vorgeschriebenen Stellung auf die Kissen; abeyante, mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen. Es war seltsam tröstlich, obgleich ich Alcuins Seitenblick spürte, als er versuchte, meine Haltung nachzuahmen. Irgendwo im Hintergrund begann ein Flötist zu spielen. Zu Beginn der zweiten musikalischen Passage raschelten die samtenen Vorhänge, und das Paar trat ein. Der Mann war groß und hatte schwarzes Haar, das wahrhaftige Abbild - tatsächlich war er ihr Bruder - der Stellvertreterin des Camellia-Hauses. Die Frau war eine Handbreit kleiner als er und hatte eine helle Haut und Haar so rostrot wie ein Herbststurm. In diesem Haus ist Vollkommenheit der einzige Maßstab. Als sie sich einander zuwandten und sich vollständig entkleideten, war es offenkundig, sogar durch die Gazeschleier hindurch, dass beide die Maßstäbe ihres Kanons reichlich erfüllten. Ihre Verbindung wirkte wie ein Tanz. Mit den Fingerspitzen, die leicht auf ihrer Hüfte ruhten, berührte er sie ehrerbietig und ließ sie in einer sanften Liebkosung ihren Körper hinaufgleiten, wobei er das herrliche Gewicht ihrer Haare hob, um es durch seine Hände fließen und in einer glänzenden Masse wieder herunterfallen zu lassen. Er streichelte ihr Gesicht und zog mit den Händen den geschwungenen Bogen ihrer Brauen und ihre
vollkommenen Lippen nach. Sie schmiegte ihre Hand um sein Kinn, ließ sie entlang 120 der muskulösen Säule seines Halses hinabgleiten und legte ihre Handfläche auf die blassen Ebenen seiner Brust. Die Talente Naamahs liegen uns im Blut und sind rechtmäßig unser aller Besitz; aber man muss kein Künstler sein, um Kunst zu genießen. Diese beiden waren Adepten des Nachtpalais, und dies war ihre Kunst. Während das Vorspiel weiterging, lüfteten sich die Gazeschleier einer nach dem anderen. Ich beobachtete die beiden Akteure entrückt, und mein Atem ging schnell, wenn ich ihn nicht gerade vor Spannung anhielt. Sie umschlangen und küssten sich; er hielt ihr Gesicht in den Händen, als sei es ein wertvoller Gegenstand, und sie wiegte sich wie eine Weide in seinem Kuss. So beten wir Dienerinnen und Diener Naamahs. Schließlich löste sie sich aus dem Kuss, kniete vor ihm nieder und warf ihr Haar nach vorn, so dass es an seinen Lenden wie eine Kaskade hinabfloss, seidene Ranken, die sich um seinen aufgerichteten Phallus wanden. Ich konnte nicht sehen, wie sich ihr Mund bewegte, als sie ihn mit einem languisement verwöhnte, aber sein Gesicht entspannte sich vor Lust und seine Pomuskeln strafften sich. Mit beiden Händen fasste er sich an den Hinterkopf, löste seinen Zopf und schüttelte sein üppiges Haar aus, das ihm schwarz und seidig über die Schultern fiel. Kein Laut war von den Versammelten zu hören, es herrschte eine ehrfürchtige Stille, die durch die liebliche Musik der Flöte noch unterstrichen wurde. Nun zog er sich zurück und kniete sich vor ihr hin, während sie sich langsam in den Kissen zurücklehnte und ihre Beine für ihn öffnete, um ihn an ihrem Wohlgefühl teilhaben zu lassen. Jetzt versperrte mir sein Haar den Blick auf die beiden, da es wie ein schwarzer Teppich über die Schenkel der Frau ausgebreitet war, als der Mann ihre Spalte mit der Zunge teilte und nach der Perle Naamahs tastete, die in ihren Falten verborgen war. 121 Er musste sie wohl gefunden haben, denn die Frau krümmte sich vor Lust und streckte ihm die Arme entgegen, um ihn an sich zu ziehen. Der Mann hielt sich über ihr, während die Spitze seines Phallus über ihrer Öffnung ragte. Sein Haar ergoss sich über seinen gebeugten Kopf und verband sich mit ihrem, schwarz und rostrot. Ich hatte noch nie so etwas Schönes wie diesen Liebesakt gesehen. Plötzlich hielt der Flötenspieler inne: Jemand schrie auf. Mit einer flüssigen Bewegung drang der Mann in die Frau ein und bewegte sich so tief wie möglich in ihr. Ein sanfter, flüsternder Trommelschlag begleitete die Melodie, als er erneut zustieß und ihr Körper sich hob, um ihn zu empfangen. Immer noch auf den Knien, die Hände fest ineinander verschränkt, weinte ich über die unendliche Schönheit des Dargebotenen. Die beiden wirkten wie Vögel, die sich im Flug paaren. Es war ein Ritual und kein bloßes Schauspiel; ich konnte die Verehrung und das Verlangen schmecken, das es ausstrahlte, als es meinen Mund wie der Honig des Priesters überschwemmte. Wie Wellen brach er sich an ihr, und sie kam ihm wie die Flut entgegen. Die beiden bewegten sich schneller, und die Musik stieg zu einem Crescendo an, bis die Frau aufstöhnte, die Hände in die angespannten Rückenmuskeln des Mannes gepresst, die Beine um seinen Körper geschlungen. Mit einer letzten Kraftanstrengung beugte der Mann sich nach hinten. Ich konnte spüren, wie die Hitze in meinen eigenen Schenkeln aufstieg, als die beiden gleichzeitig zum Höhepunkt kamen. Und dann, zu früh, schlössen sich die Gazevorhänge wieder und verschleierten die beiden Körper in der süßen Folge der Lust. Ich sah, wie der Mann sich neben seine Partnerin legte und sich ihre Hände verschränkten, während sie umschlungen auf den Kissen lagen. An meiner Seite entfuhr Alcuin ein lang 122 angehaltener Seufzer, und wir sahen uns mit ernsten Gesichtern an. Alsbald kam ein Adept, um uns in einen Salon zu führen, wo man uns stärkenden Likör reichte und sich die Stellvertreterin des Camellia-Hauses persönlich um uns kümmerte. Geziemend verlieh sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die Vorführung unser Gefallen gefunden hatte und wir unserem Herrn Anafiel Delaunay, der immer noch die Macht besaß, am königlichen Hof den Ton anzugeben, unseren guten Eindruck mitteilen würden. Ob sie es uns übel nahm oder dafür verachtete, dass wir seinen Schutz genossen, könnte ich nicht sagen. 123 Mit gutem Grund nahm ich an, dass wir nach der Vorführung mit unserer formellen Ausbildung in den Künsten Naamahs beginnen würden. Das taten wir auch, jedoch keinesfalls so, wie ich mir das
vorgestellt hatte. Delaunay verpflichtete eine Lehrmeisterin, die gewisslich die ausgezeichnetste Lehrerin war, die man in diesen Künsten haben konnte. Ich hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass sie weit über fünfzig war und dass all unsere Unterrichtsstunden im Klassenzimmer stattfanden, und nicht im Schlafgemach. In der Blüte ihrer Jahre hatte Cecilie Laveau-Perrin zu den Adeptinnen des Cereus-Hauses gezählt, und sie war noch bei meiner alten Herrin, der Doyenne, ausgebildet worden. Als eine der wenigen unter den Adepten des Nachtpalais hatte sie den Gipfel des Erfolgs erklommen, indem sie eine so ausreichend große Anhängerschaft unter den Angehörigen des Hochadels um sich versammelte, dass sie, nachdem sie ihre Marque vollendet hatte, ihr eigenes Haus eröffnen konnte. Sieben Jahre lang war sie der Stern des Königshauses. Adlige und Dichter kamen in Scharen zu ihren Gesellschaften, 124 und sie hielt ihren eigenen Hof, wobei sie die Gunst ihres Schlafgemachs ganz nach Belieben gewährte - oder gar nicht. Schließlich entschloss sie sich zu heiraten und zog sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Ihre Wahl fiel auf Antoine Perrin, Chevalier des Schwanenordens, ein ruhiger und standhafter Mann, der seine Landgüter verlassen hatte, um dem König als militärischer Berater zu dienen. Die beiden führten ein ruhiges Leben und luden nur selten und aus rein intellektuellen Anlässen Gäste ein. Nach seinem zeitigen Tod behielt sie diesen Lebensstil bei. Delaunay, so schien es, war einer der wenigen Menschen, die sie aus beiden Welten kannten. Ich wusste von alledem, weil ich das Treffen belauschte, bei dem Cecilie einwilligte, unsere Ausbildung zu übernehmen. Es ist kein sehr edles Unterfangen, aber ich fühlte keine Schuld dabei. Genau dazu war ich schließlich ausgebildet worden. Delaunay hatte uns eingetrichtert: Erwerbt Wissen mit allen möglichen Mitteln. Neben dem Hof gab es einen Vorratsraum, in dem Gartenkräuter zum Trocknen aufgehängt wurden. Wenn man klein genug war, konnte man zwischen einem schmalen Wandschrank und dem offenen Fenster kauern und fast jede Unterhaltung mithören, die im Hof geführt wurde. Nachdem alle Höflichkeiten ausgetauscht waren, äußerte Delaunay also seine Bitte. Cecilies Stimme hatte all ihren Charme behalten, gleichmäßig und lieblich. Ich konnte immer noch den zarten Tonfall des Cereus-Hauses heraushören - die aufmerksamen Pausen, ein kaum merklicher Anflug von Atemlosigkeit -, aber ich bezweifle, dass dies einem ungeschulten Ohr aufgefallen wäre. Die Jahre der Zurückgezogenheit hatten ihn schwächer werden lassen. »Was Ihr von mir verlangt, ist unmöglich, Anafiel.« Ich hörte 125 ein Rascheln; sie schüttelte den Kopf. »Ihr wisst, dass ich mich seit langem vom Dienste Naamahs zur Ruhe gesetzt habe.« »Geht Ihr so leichtfertig mit Eurem Versprechen um?«, entgegnete ihr seine Stimme sanft. »Ich bitte Euch nicht, sie körperlich zu unterweisen, Cecilie. Ihr sollt sie nur unterrichten. All die großen Texte ... die Ecstatica, die Reise Naamahs, die Trois Milles Joies ...« »Wollt Ihr auch, dass ich den Jungen mit >Antinous' Ode an seinen Geliebten« bekannt mache?« Ihre Stimme war unbeschwert, doch zum ersten Mal hörte ich den stählernen Klang heraus. »Nein!«, brauste Delaunay auf. Als er wieder sprach, wusste ich, dass er es von einem anderen Standort aus tat. Er war aufgestanden und ging auf und ab. Er hatte seine Stimme jetzt wieder unter Kontrolle, und sein Ton war kühl. »Dieses Gedicht laut zu rezitieren ist verboten. Das wisst Ihr ganz genau.« »Ja«, sagte sie schlicht und bot keine Entschuldigung an. »Warum tut Ihr das?« »Das fragt Ihr, die Ihr einst die größte Kurtisane Eurer Zeit wart?« Er war zu charmant; es geschah nur selten, dass ich Delaunay ausweichend antworten hörte. Doch damit gab sie sich nicht zufrieden. »Das habe ich nicht gemeint.« »Warum. Warum, warum, warum.« Seine Stimme zitterte, er ging wieder auf und ab. »Warum? Ich will es Euch sagen. Weil es Orte gibt, an die ich nicht gehen kann, und Menschen, die ich nicht erreiche, Cecilie. Im Kanzleigericht, im Schatzamt, Ministerialbeamte mit Zugang zum Geheimsiegel ... überall, wo die für das Reich wichtigen Entscheidungen getroffen werden, verwehren mir Isabels Verbündete den Zutritt. Man kann sie zwar nicht beeinflussen, aber man kann sie verführen. 126 Ich kenne ihre Laster, ich kenne ihre Begierden. Ich weiß, wie ich sie erreichen kann.« »Das weiß ich alles.« Ihr Ton war sanft und mäßigte seinen. »Ich kenne Euch schon seit langem. Ihr habt mich ins Vertrauen gezogen, und ich weiß, wie Ihr denkt. Aber nun, Anafiel, will ich von Euch
wissen, warum. Warum tut Ihr das?« Eine lange Pause entstand, und meine Muskeln schmerzten langsam von der Anstrengung, in diesem beengten Raum zu kauern. Kein Lüftchen wehte, und die stickige Luft des Vorratraums war von dem süßen und beißenden Geruch des Rosmarins und Lavendels erfüllt. »Ihr wisst, warum.« Mehr sagte er nicht; ich biss mir auf die Zunge, damit ich sie nicht unwillkürlich dazu drängte, ihn weiter zu befragen. Doch was immer er auch meinte, sie hatte verstanden. Wie sie selbst sagte, kannte sie ihn schon lange. »Immer noch?«, fragte sie freundlich. Und dann: »Ach, aber Ihr habt ein Versprechen gegeben. Nun gut. Ich werde meines auch halten, Anafiel, soweit es in meiner Macht steht. Ich werde Eure Schüler in den großen Texten der Liebe unterrichten -in jenen, die nicht verboten sind -, und ich werde ihnen Vorträge über die Künste Naamahs halten. Wenn Ihr schwört, dass beide aus eigenem Wunsch in diesen Dienst getreten sind, werde ich es tun.« »Ich schwöre es.« Erleichterung klang aus seiner Stimme. »Wie viel wissen sie?« »Genug.« Er wurde zurückhaltender. »Genug, um zu verstehen, um was es hier geht. Nicht genug, um sie in Lebensgefahr zu bringen.« »Isabel L'Envers ist tot, Anafiel.« Sie sprach sanft, so wie man mit einem Kind redet, das Angst vor der Dunkelheit hat. »Glaubt Ihr wirklich, ihr Groll lebt über den Tod hinaus fort?« 127 »Er lebt in denen fort, die ihr gehorchten«, erwiderte er grimmig. »Isabel L'Envers de la Courcel war meine Feindin, aber wir wussten, wo wir miteinander standen. Wir hätten sogar Verbündete werden können, wenn Rolandes Tochter alt genug gewesen wäre, auf den Thron zu steigen. Jetzt ist alles anders. »Mmm.« Ich hörte ein schwaches Klirren, als die Tülle des Weinkrugs den Rand des Glases berührte. »Maslin d'Aiglemorts Wunde hat sich entzündet. Er starb vor zwei Tagen, habt Ihr davon gehört? Isidore wird in vierzehn Tagen als Duc d'Aiglemort vereidigt, und er hat den König um fünfhundert weitere Gefolgsmänner gebeten.« »Er wird alle Hände voll zu tun haben, die Grenzen zu sichern.« »Richtig.« Der sanfte Unterton des Cereus-Hauses war einer nachdenklichen Schärfe in ihrer Stimme gewichen. »Dennoch hat er die Zeit gefunden, Namarre zu besuchen und dort Melisande Shahrizai in ihrem Landhaus seine Hochachtung zu bezeugen. Jetzt sieht man Melisande in der Begleitung des Prinzen Baudoin, und es heißt, die Löwin von Azzalle sei verärgert.« »Melisande Shahrizai sammelt Herzen wie der königliche Gärtner Sämlinge«, erwiderte Delaunay abweisend. »Gaspar sagt, Marc wird mit seinem Sohn reden, falls es vonnöten sein sollte.« Ein weiteres sanftes Klirren, als ein Glas auf einen der niedrigen Steintische zurückgestellt wurde. Ich hatte gelernt, solche Feinheiten herauszuhören, selbst mit einem steifen Hals. »Vielleicht. Aber unterschätzt keine der beiden, weder die Shahrizai noch die Löwin. Ich glaube nicht, dass sie diesen Fehler miteinander begehen. Schließlich hat Euer Unvermögen, Frauen zu verstehen, zu Eurem Niedergang geführt, Anafiel.« 128 Ich hörte das Rascheln ihrer Gewänder, als sie aufstand. »Ich werde morgen früh vorbeikommen, dann kann die Erziehung der Kinder beginnen. Gute Nacht, mein Lieber.« Ich achtete auf die Geräusche, die ihren Abgang begleiteten, schälte mich aus meinem Versteck und rannte hinauf zu Alcuin, um ihm zu berichten, was ich gerade erfahren hatte. Und natürlich, um darüber zu spekulieren, was das alles bedeuten könnte. Bei Tageslicht war Cecilie Laveau-Perrin groß und schlank, mit feinen Gliedern und strahlend blauen Augen in der Farbe frisch erblühter Lobelien. Es ist schon seltsam, wie bei den Adepten des CereusHauses das darunter liegende Stahlgerüst in jenen zum Vorschein tritt, die nicht welken und verblassen. Was das anging, erinnerte sie mich an die Doyenne, aber sie war jünger und freundlicher. Dennoch war sie eine strenge Aufseherin und brachte uns dazu, den ersten der großen Texte, von denen Delaunay gesprochen hatte, zu lesen und auswendig zu lernen. Für Alcuin war es eine Offenbarung. Als wir die Vorführung sahen, hatte ich das Ausmaß seiner Naivität nicht gänzlich erfasst. So erstaunlich es mir auch erschien, er hatte keine Vorstellung vom Ablauf der Handlungen, mit denen man Naamah huldigt. Ich, die ich diesen Tanz noch nie selbst vollzogen hatte, kannte dennoch jeden Schritt wie im Schlaf. Alcuin hingegen besaß nichts als den
Instinkt seines liebenswürdigen Herzens und begierigen Fleisches, so wie jeder Bauer auf dem Feld. Später verstand ich, dass dies zum Teil seinen Charme ausmachte, wie Delaunay es beabsichtigt hatte. Die unverdorbene Anmut, die immer ein Wesenszug Alcuins bleiben würde, machte seinen Charme hauptsächlich aus und wirkte auf den überkultivierten Gaumen unwiderstehlich verführerisch. Doch 129 damals verstand ich das noch nicht. So beobachtete ich ihn immer während der Abende, in denen wir gemeinsam lernten, wie er mit offenem Mund las und sich Verwunderung auf seinen Gesichtszügen abzeichnete. »Die Liebkosung getrennter Spreu«, las er dann murmelnd. »Lege deine Hände auf die Hüften deiner Geliebten und lass die Hände langsam an ihrem Körper entlanggleiten, nimm und hebe das Haar deiner Geliebten, so dass es wie Spreu über dem Dreschboden schwebt, und lass es wie sanften Regen herunterfallen. Kanntest du das, Phedre?« »Ja.« Ich blickte in seine großen, dunklen Augen. »Sie haben das auch bei der Vorführung gemacht. Weißt du noch?« Seit meiner Kindheit kannte ich all diese Dinge und war damit aufgewachsen, sie zu erlernen. Langsam, aber sicher machte es mich wahnsinnig, nichts von dem wirklich anzuwenden. »Ich erinnere mich. Die Liebkosung des Sommerwinds.« Er las die Anweisungen laut vor und schüttelte verwundert den Kopf. »Funktioniert das wirklich?« »Ich zeig's dir.« Auch wenn ich in der Praxis nicht mehr davon wusste als er, hatte ich all diese Dinge wenigstens schon ausgeführt gesehen. Alcuins Züge waren ernst und unsicher. Ich legte meine Fingerspitzen leicht auf seinen Kopf, wobei ich sein milchweißes Haar kaum berührte, und ließ sie langsam nach unten gleiten; sein seidig fallendes Haar entlang, über seine Schultern bis zu seinen schlanken Armen. Während ich dies tat, wurde mein Herzschlag immer schneller, und eine seit- ' same Gewissheit stieg in meinem Blut hoch. Noch immer berührte ich ihn kaum, meine Fingerspitzen glitten leicht über seine blasse Haut, doch wo sie entlangstrichen, richteten sich die feinen Härchen auf seinen Armen wie ein Weizenfeld auf, durch das der Sommerwind weht. »Siehst du?« »Oh!« Alcuin zog sich zurück und betrachtete mit Verwun130 derung seine von höchster Lust erregte Haut. »Du weißt so viel!« »Dafür bist du in den Dingen, die Delaunay wirklich wichtig sind, besser als ich«, erwiderte ich kurz angebunden. Es stimmte. So viel ich auch gelernt hatte, mit der lebhaften Leichtigkeit, mit der Alcuin beobachtete und Dinge in Erinnerung behielt, konnte ich es nicht aufnehmen. Er konnte sich ganze Unterhaltungen merken und sie Wort für Wort wiedergeben, bis hin zur Stimmlage des jeweiligen Sprechers. »Alcuin.« Ich veränderte meinen Tonfall und nahm die murmelnde, betörende Intonation des Cereus-Hauses an, die ich in Cecilies Stimme hatte mitschwingen hören. »Wir könnten üben, wenn du willst. Es würde uns beiden beim Lernen helfen.« Alcuin schüttelte den Kopf, wobei sein schlohweißes Haar knisterte, und sah mich mit weit aufgerissenen, aufrichtig blickenden Augen an. »Delaunay möchte das nicht, Phedre. Das weißt du.« Es stimmte; unser Lehrer hatte dies unmissverständlich klargemacht, und nicht einmal die verlockende Aussicht, sein Wissen zu erweitern, vermochte Alcuin zum Ungehorsam zu verleiten. Mit einem Seufzer wendete ich mich wieder meinen Büchern zu. Aber natürlich gab es nichts, was mich davon abhalten konnte, an mir selbst zu üben. Es begann in jener Nacht, in der Dunkelheit meiner kleinen Kammer, die ich ganz für mich alleine hatte. Im Unterricht beschäftigten wir uns gerade mit den Liebkosungen des Vorspiels. Ich warf meine Decke von mir, damit ich nackt auf dem Bett lag, und flüsterte ihre Namen, während ich ihre Muster auf meiner Haut nachzog, bis mein Blut unter der Berührung meiner Finger kochte. Und doch unterließ ich es, nach der Erlösung zu streben, die, 131 wie ich wusste, erlangt werden konnte, und hielt mich strikt an die Lektionen, die Cecilie uns erteilte. Ich vermag nicht zu sagen, warum, außer dass es eine Qual war und gerade deshalb von besonderem Reiz. Älter und weiser im Dienste Naamahs als Delaunay, erkannte Cecilie Laveau-Perrin bald meine missliche Lage. Wir rezitierten gerade Emmeline von Eisandes Tagebuch der Siebenhundert Küsse (von denen ich die meisten nicht an mir selbst ausprobieren konnte), als ich ihren wissenden Blick auf mir spürte und stockte. »Diese Studien machen dich ungeduldig, nicht wahr?«, fragte sie mich. »Nein, gnädige Frau.« Seit langem zum Gehorsam erzogen, kam meine Antwort unwillkürlich. Ich sah auf, um ihrem Blick zu begegnen, und schluckte. »Gnädige Frau, ich wurde im Nachtpalais
großgezogen. Hätte man mir erlaubt, dort zu bleiben, hätte meine Ausbildung schon vor einem Jahr begonnen. Ich könnte jetzt schon für meine Marque Geld zur Seite legen, vielleicht sogar schon den Marquisten bezahlen, damit er die Umrisse zeichnet, wenn mein Jungfernpreis hoch genug wäre. Ja, ich bin ungeduldig.« »Es ist also das Geld, das dich anspornt, hm?« Sie streichelte mir übers Haar und lächelte ein wenig. »Nein«, gab ich zu und schmiegte mich in ihre Berührung. »Dann ist es wohl Kushiels Pfeil, der dich anstachelt.« Sie' wartete, bis ich wieder aufblickte und nickte, nicht wenig überrascht. Sie hatte nie davon gesprochen, und niemand im Cereus-Haus hatte mein wahres Wesen erkannt. Cecilie lachte. »Anafiel Delaunay ist nicht der einzige Gelehrte auf der Welt, mein Schatz, und ich habe sehr viel gelesen, seit ich das Palais der Nachtblumen verließ. Sei unbesorgt, ich werde Anafiels Geheimnis so lange bewahren, bis er so weit ist, deine Natur zu 132 offenbaren. Aber bis dahin kannst du nichts anderes tun, als die eigens von dir ersinnten Qualen zu erleiden.« Schamesröte überzog mein Gesicht. »Es gibt keine Erfüllung, die nicht durch das Hinauszögern der Lust noch süßer würde.« Sie tätschelte meine glühende Wange. »Wenn du deine Fähigkeiten verbessern willst, nimm einen Spiegel und eine Kerze, damit du siehst, was du tust, und die Züge der Lust erforschen kannst.« In jener Nacht tat ich es. Bei Kerzenschein zog ich die Muster der Erregung auf meiner Haut nach und beobachtete, wie sie sich veränderte und errötete. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, dass Cecilie und Alcuin davon wussten, und fragte mich in einem köstlichen Schauder der Schuld und Scham, ob einer der beiden Delaunay erzählt hatte, was ich heimlich tat. So ging meine Erziehung weiter. 133 In den darauf folgenden zwei Jahren taten wir nichts anderes als lernen, bis ich glaubte, daran sterben zu müssen. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, war Hyacinthe, mein einzig wahrer Freund, keine große Hilfe. »Ich kann dich nicht anfassen, Phedre«, sagte er mit Bedauern und schüttelte seine schwarzen Ringellocken. Wir saßen im »Wirtshaus zum jungen Hahn«, wo er sein inoffizielles Hauptquartier aufgeschlagen hatte. »Nicht auf diese Weise. Ich bin Tsingani, und du bist eine unfreie Dienerin. Es ist vrajna, verboten, nach den Gesetzen meines Volkes.« Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch bevor ich etwas sagen konnte, löste sich eine kichernde junge Edelfrau aus einer Gruppe Nachtschwärmer, die an einem langen Tisch in der Mitte des Wirtshauses saßen. Es war damals Mode unter wagemutigen, adligen jungen Frauen und Männern, sich in Gruppen von sieben oder acht im Vorhof der Nacht herumzutreiben, wo sie Bierhumpen hoben und sich mit Dichtern, Schauspielern und Bürgerlichen einließen. 134 Auch Hyacinthe war sozusagen in Mode gekommen. »0 Prinz des Fahrenden Volkes«, begann sie feierlich, kicherte dann erneut los und warf ihren lachenden Freunden einen Blick zu, so dass sie den Rest kaum mehr herausbekam. »0 ... 0 Prinz des Fahrenden Volkes, wenn ich dich ... dich mit Gold entlohne, wirst du mir dann die Zukunft voraussagen, wie sie in meiner Hand geschrieben steht?« Beim Schimmer einer Goldmünze nahm Hyacinthe - der sich, soweit ich wusste, noch nie aus dem Vorhof der Nacht herausgewagt hatte - seine beste »Prinz-des-Fahrenden-Volkes«-Haltung an, erhob sich und machte eine tiefe, elegante Verbeugung; seine dunklen Augen funkelten heiter. »0 Abendstern«, erwiderte er zugleich schmeichelnd und wichtigtuerisch, »ich stehe Euch zu Diensten. Für eine Münze erhaltet Ihr eine Antwort, wie sie die Schicksalsgöttinnen in Eurer schönen Handfläche niedergeschrieben haben. Was möchtet Ihr wissen, gnädiges Fräulein?« Ohne mir Beachtung zu schenken, ordnete sie ihre Röcke und setzte sich näher zu Hyacinthe hin als nötig. Sie tat, als ob sie ihm gerade eine große Gunst zuteil werden ließe, als sie ihm die Hand reichte, und flüsterte dann: »Ich möchte wissen, ob Rene LaSoeur mich zur Frau nehmen wird.« »Hm.« Konzentriert betrachtete Hyacinthe ihre Handfläche. Sie blickte auf seinen gesenkten Kopf herab. Ich konnte ihre schnellen, flachen Atemzüge sehen, die ihre Brust hoben, die sie mit einem gewagt tiefen Dekollete unter einer gewagt teuren Filigrankette zur Schau stellte. Auf der anderen Seite des Wirtshauses drängten sich ihre Freunde und beobachteten das Schauspiel. Die jungen
Edelmänner umringten einen der ihren, stießen ihm die Ellbogen in die Seite und lachten. Er ertrug es mit verschränkten Armen, und ein Anflug des Missfallens ließen seine Nasenflügel erbeben. Eine der jungen Edel135 frauen lächelte verschwiegen und gefasst. Man brauchte nicht von der dromonde heimgesucht zu werden, um die Frage beantworten zu können; aber Hyacinthe redete los, ohne aufzusehen, und schüttelte den Kopf. »Schönes Fräulein, die Antwort ist Nein. Ich sehe eine Hochzeit, aber nicht jetzt, sondern in drei Jahren, außerdem ein Schloss mit drei aufrechten Türmen und einem, der in sich zusammenfällt.« »Der Comte de Tour Perdue!« Hastig zog sie ihre Hand zurück und bedeckte ihren Mund. Ihre Augen glänzten. »Oh, oh!« Sie streckte die Hand nach Hyacinthe aus und legte ihre Finger auf seinen Mund. »Oh, meine Mutter wird überglücklich sein, das zu hören. Ihr dürft niemandem davon erzählen. Schwört es!« Mit einer schnellen und eleganten Handbewegung ergriff er ihre Finger, mit denen sie ihn zum Schweigen bringen wollte, und küsste sie. »Königin, ich bin verschwiegener als die Toten. Möget Ihr froh und glücklich sein.« Sie nestelte an dem Beutel, der an ihrem Gürtel hing, und gab ihm eine weitere Münze. »Danke, oh, danke! Ihr wisst, kein Wort darüber!« Er erhob sich, um sich noch einmal zu verbeugen, als sie zu ihren Freunden zurückeilte und irgendeinen erfundenen Unsinn daherplapperte, um ihr plötzliches Glück zu verbergen. Dann setzte Hyacinthe sich wieder hin und ließ die Münze verschwinden, wobei er sehr selbstzufrieden aussah. »Hat es gestimmt?«, fragte ich ihn. »Wer weiß?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich sah, was ich sah. Es gibt mehr als ein Schloss mit einem zerfallenen Turm. Sie glaubt, was ihr beliebt.« Es kümmerte mich nicht, ob Hyacinthe Träume und Halbwahrheiten an herausgeputzte Adlige verkaufte, aber eine andere Sache bekümmerte mich doch. »Weißt du, Delaunay hat eine Schriftrolle von einem Gelehrten, der mit einer Gruppe Tsingani umherreiste und ihre Bräuche niederschrieb. Er sagt, es sei für einen Tsingano-Mann vrajna, sich in der dromonde zu versuchen, Hyacinthe. Es ist schlimmer als alles andere, schlimmer als sich mit einer gadje Dienerin einzulassen. Was deine Mutter dir beibringt, ist verboten. Und du kannst sowieso kein echter Tsingano sein, nicht mit dem reinen Blut der D'Angelines, das durch deine Adern fließt. Deine Mutter wurde deswegen aus der Gruppe ausgestoßen, oder nicht?« Ich sprach rücksichtslos, angetrieben von meinen verhinderten Begierden und der Verärgerung darüber, ihn die Wünsche alberner Edelfräulein befriedigen zu sehen. Dieses Mal war ich vielleicht zu weit gegangen. Seine Augen funkelten stolz und böse. »Du redest von Dingen, die du nicht verstehst und über die du kein Recht hast zu urteilen! Meine Mutter ist eine Prinzessin der Tsingani, und ich beherrsche die Gabe der dromonde kraft meines Blutes! Was weiß der gadje Gelehrte von deinem Delaunay schon davon?« »Genug, um zu erschließen, dass Tsingani-Prinzessinnen nicht die Wäsche anderer Leute waschen, um Geld zu verdienen!«, schoss ich zurück. Überraschenderweise lachte Hyacinthe. »Wenn er das glaubt, hat er wahrlich wenig von den Tsingani gelernt. Wir haben viele Jahrhunderte überlebt, wie auch immer. Außerdem verdiene ich jetzt so viel Geld, dass sie nicht mehr länger die Wäsche anderer Leute waschen muss.« Er sah mich ernst an und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist an dem, was du sagst, schon etwas dran. Ich weiß es nicht. Wenn ich alt genug bin, werde ich die Familie meiner Mutter ausfindig machen. Aber bis dahin muss ich den Worten meiner Mutter vertrauen. Ich weiß genug über ihre Gabe, dass ich es nie wagen würde, ihr zu trotzen.« 136 137 »Oder du fürchtest dich vor Delaunay«, setzte ich murrend hinzu. »Ich fürchte niemanden!« So wie er seine schmächtige Brust aufplusterte, sah er wieder wie der Junge aus, den ich anfangs kennen gelernt hatte. Auch ich musste lachen, und unser Streit war vergessen. »He, Tsingano!« Der Ruf stammte von einem der jungen Adligen, betrunken und arrogant. Er kam zu unserem Tisch herübergeschwankt, eine Hand über dem Heft seines Rapiers. Sein Blick wirkte grausam und er trug teure Kleidung. Mit einer nachlässigen Bewegung warf er seine Geldbörse auf den Tisch. Sie landete
mit einem schweren, dumpfen Knall. »Wie viel für eine Nacht mit deiner Schwester?« Ich weiß nicht, was wir beide geantwortet hätten. Ich war es gewohnt, gut verhüllt in den Vorhof der Nacht zu schleichen, und wir saßen immer in einer der dunkleren Ecken, fern vom Kamin. Hyacinthe war bekannt und mit nicht geringer Beliebtheit geduldet, und der Wirt sowie die Stammgäste gestatteten ihm das kleine Geheimnis meiner Besuche, ohne meine Anwesenheit ergründen zu wollen. All diese Dinge schössen mir blitzartig durch den Kopf, woraufhin mich Vergnügen und Stolz erfüllten, dass der Blick dieses adligen Jünglings die Dunkelheit durchdrungen hatte und begierig auf mir ruhte. Unmittelbar nachdem mir dieser Gedanke gekommen war, durchlief mich eine Woge der Erregung bei der Aussicht, mich direkt vor Delaunays Nase zu verkaufen und mit diesem Fremden zu gehen, dessen kampfbereite Hände und nachlässiges Angebot die Art handfester Behandlung versprachen, nach der ich mich verzehrte. Für die Länge eines Atemzugs dachte ich an all diese Dinge und sah, wie Hyacinthe die pralle Geldbörse beäugte. 138 Dann erschien Delaunays Diener Guy. »Ihr könnt Euch ihren Jungfernpreis nicht leisten, mein Freund.« Seine Stimme, die ich nur selten vernahm, klang so sanft wie immer, doch die Spitze seines Dolchs blitzte unter dem Kinn des adligen Jünglings auf, und ich erblickte einen zweiten Dolch, den er auf Magenhöhe hielt. Ich hatte ihn das Wirtshaus nicht einmal betreten sehen. Der junge Edelmann stand mit gehobenem Kinn und böse funkelnden Augen da und wurde von einer Stahlspitze zu demütigender Achtsamkeit gezwungen. »Geht jetzt, und gesellt Euch wieder zu Euren Begleitern.« Die ruhige Stimme und der kalte Stahl waren überzeugender, als es Muskelkraft und Lautstärke je hätten sein können. Ich sah, wie der adlige Bursche schwer schluckte und seine Arroganz gänzlich von ihm abfiel. Er wandte sich wortlos ab und ging dorthin zurück, wo er hergekommen war. Ohne einen Kommentar steckte Guy seinen Dolch in die Scheide zurück. »Wir gehen jetzt«, eröffnete er mir, zog mir dabei die Kapuze meines Mantels über den Kopf und band sie mir unter dem Kinn zu. Ich folgte ihm gehorsam und konnte nur kurz zum Abschied in Hyacinthes Richtung winken, als Guy mich aus dem überfüllten Wirtshaus führte. Mein Freund, der seit unserer frühesten Bekanntschaft an meine plötzlichen und erzwungenen Abgänge gewöhnt war, nahm es gelassen. Für mich war es eine lange Kutschfahrt nach Hause. Ich kuschelte mich in meinen Mantel, bis Guy endlich zu sprechen begann. »Es ist nicht immer an uns, zu entscheiden.« Im Wageninnern war es dunkel, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen, sondern nur seine ausdruckslose Stimme hören. »Meine Eltern gaben mich in die Obhut der Cassilinischen Bruderschaft, als ich noch ein Säugling war, Phedre, und die Bruderschaft schloss mich aus, als ich mit vierzehn meinen Eid mit 139 der Tochter eines Bauern brach. Ich machte mich auf zur Stadt und verfiel einem Leben als Verbrecher. Obwohl ich gut darin war, verachtete ich mich dafür und wollte nur noch sterben. Eines Tages, als ich dachte, ich könnte nicht mehr tiefer fallen, nahm ich den Auftrag des Mittelsmanns einer sehr mächtigen Person an, einen Edelmann auf seinem Nachhauseweg von einer Feier zu ermorden.« »Delaunay?«, entfuhr es mir erstaunt. Guy ignorierte den Einwurf. »Ich fasste den Entschluss, mein Ziel zu erreichen oder zu sterben, doch der Edelmann entwaffnete mich. Ich wartete auf den Todesstoß, aber stattdessen fragte er mich: >Mein Freund, Ihr kämpft wie ein Mann, der von der Cassilinischen Bruderschaft ausgebildet worden ist. Wie kann es dann sein, dass Ihr Euch zu solch einer wenig brüderlichen Tat verpflichtet habt?< Auf seine Frage hin fing ich an zu weinen.« Ich wartete auf mehr, aber Guy verstummte für einen langen Augenblick. Keine anderen Geräusche als der Hufschlag der Pferde und das unmelodische Pfeifen des Kutschers waren zu hören. »Wir suchen uns unsere Schuld nicht aus«, sagte er schließlich. »Aber wir stehen beide in Anafiel Delaunays Schuld. Versuche nicht, ihn zu betrügen. Deine Schuldigkeit mag eines Tages beglichen sein, meine gilt jedoch bis in den Tod, Phedre.« Die Nacht war kühl, und seine Worte trafen mich bis ins Mark. Ich zitterte in meinem dicken Mantel, und während ich über seine Worte nachdachte, verwunderte ich mich über die Macht Delaunays, sogar ein von Verbrechen und Verzweiflung verhärtetes Herz zu berühren. Aber selbst wenn Guy Delaunay bis in den Tod dienen musste, so war er dennoch nicht, was ich war: sein Schüler. Die
140 Worte des Dieners - das meiste, was er je in meiner Anwesenheit gesprochen hatte -, fügten sich in das riesige Puzzle in meinem Kopf und warfen eine wichtige Frage auf. »Wer wollte Delaunays Tod?« In der Dunkelheit der Kutsche konnte ich seinen Blick auf mir spüren. »Isabel de la Courcel«, kam die ausdruckslose Antwort. »Die Prinzgemahlin.« Dieser Zwischenfall wird mir für immer in Erinnerung bleiben, denn es war der erste dieser Art - und auch der letzte. In der ganzen Zeit, in der ich ihn kannte, sprach Guy nie wieder von seiner Geschichte oder unserer gemeinsamen Schuld Delaunay gegenüber. Und doch hatten seine Worte die gewünschte Wirkung, denn nie wieder versuchte ich, mich meiner Schuldigkeit zu entziehen. Delaunays Vergangenheit und seine seit langem bestehende Feindschaft mit der Prinzgemahlin blieb das zentrale Rätsel meines Lebens. Obschon sie seit ganzen sieben Jahren tot und begraben war, wie ich sehr wohl wusste, lebte die Fehde der beiden dort fort, wo sie die Fäden der Informationen berührte, die Delaunay sammelte. Zu welchem Zweck, war mir unklar, und ich verbrachte mit Hyacinthe und Alcuin gleichermaßen lange Stunden des ergebnislosen Spekulierens; Alcuin war von dem Geheimnis, das Anafiel Delaunay umgab, ebenso fasziniert wie ich, wenn nicht noch mehr. Während Alcuin, tief versunken in den Lehren Cecilie Laveau-Perrins, von einem kleinen Jungen zu einem jungen Mann heranwuchs, beobachtete ich, wie die Art seiner Achtung für Delaunay sich wandelte. Die einst spontane kindliche Zuneigung, die so reizend gewesen war, wich einer anderen Art der Bewunderung, zugleich zart und gerissen. Ich beneidete ihn um den Genuss dieser langsamen Entdeckung, und Delaunays Reaktion beunruhigte mich; ein vor141 sichtiges Abstandnehmen, das Bände sprach. Ich glaube nicht, dass unser Lehrer sich dessen bewusst war; aber ich merkte es. Einige Wochen vor AIcuins sechzehntem Geburtstag errangen die Verbündeten von Camlach einen großen Sieg über die skaldischen Plünderer. Angeführt von dem jungen Duc Isidore d'Aiglemort, vereinigte der Hochadel seine Streitkräfte, und es gelang ihnen, die Skaldi ganz aus den Bergen bis weit in ihr eigenes Hoheitsgebiet zurückzudrängen. An ihrer Seite ritten Prinz Baudoin de Trevalion und seine Ruhmesreiter. Der Duc d'Aiglemort hatte offenbar erfahren, dass die Skaldi bereit waren, einen konzertierten Angriff auf die drei Großen Pässe der Camaelinischen Gebirgskette zu unternehmen. Niemand stellte die Klugheit seiner Entscheidung infrage, Camlach unter seinem Banner zu den Waffen zu rufen ... aber bei Delaunays Zusammenkünften und in den dunklen Winkeln des Vorhofs der Nacht hörte ich, wie über den glücklichen Zufall geflüstert wurde, dass Baudoin de Trevalion und die wilde Schar seiner persönlichen Leibgarde just zu diesem Zeitpunkt zu Besuch in Aiglemort waren. Dennoch war es ein großer Sieg, der größte Landgewinn seit der Schlacht der Drei Prinzen, und der König wäre ein Narr gewesen, hätte er Camlach einen königlichen Triumph verwehrt ... oder Prinz Baudoins Rolle in der Schlacht nicht anerkannt. Und ein Narr war Ganelon de la Courcel bestimmt nicht. Wie es der Zufall so wollte, sollte der Triumphzug am Vorabend von AIcuins Geburtstag stattfinden, und die Prozessionsroute führte an Cecilies Stadthaus vorbei. Da sie das Zusammenfallen beider Ereignisse als ein Vorzeichen deutete, veranstaltete sie eine Feier und öffnete ihr Haus, fast so wie in alten Zeiten. Nur waren wir diesmal alle eingeladen. Solange ich Delaunay kannte, hatte er um sein Aussehen nie großes Aufsehen gemacht - obgleich er immer höchst elegant gekleidet war -, aber am Tag des Triumphzuges brütete er über seine Kleidung wie ein Adept, der einen Liebhaber erwartet. Schließlich entschied er sich für ein Wams und Beinkleider aus einfachem schwarzem Samt, auf dem sich sein geflochtenes Haar wie ein kastanienbraunes Flammengeflecht abhob. »Warum ist es so wichtig, mein Herr?«, fragte ich und legte die Parfümkugel zurecht, die an seinem Gürtel hing. Natürlich hatte Delaunay seinen eigenen Kammerdiener, aber bei besonderen Anlässen durfte ich die Details überprüfen. Niemand wuchs im Cereus-Haus auf, ohne einen geschulten Blick und flinke Finger für solche Feinheiten zu entwickeln. »Für Cecilie natürlich.« Er schenkte mir sein breites Grinsen, das wie immer unerwartet und hinreißend war. »Sie hat solch eine Zusammenkunft schon seit Jahren, noch bevor Antoine starb, nicht
mehr abgehalten. Ich möchte sie nicht in Verlegenheit bringen.« 143 Er hatte sie also geliebt; ich hatte schon vermutet, dass es früher einmal so gewesen war. Delaunay hatte in den fünf Jahren, in denen ich in seinem Haus lebte, unzählige Geliebte gehabt, das war nichts Neues. Mehr als einmal hatte ich sie gehört, nachdem alle anderen Gäste gegangen waren; Delaunays leise Stimme und das Erbeben eines Frauenlachens. Sie waren keine Bedrohung für mich. Am Ende gingen sie, während ich hier blieb. Alcuin war natürlich etwas anderes, aber... wenn ich ehrlich bin, berührte mich seine Ergebenheit einer Geliebten gegenüber, die vor sehr langer Zeit eine der strahlendsten Blüten des Palais der Nachtblumen gewesen war. Tränen brannten mir in den Augen, und um sie zu verbergen, atmete ich den süßlichscharfen Duft aus Bienenwachs und Gewürznelken der Ambrakugel ein und presste meine Wange gegen das in Samt gekleidete Knie meines Lehrers. »Phedre.« Delaunay zog mich hoch, und ich sah blinzelnd zu ihm auf. »Du wirst meinem Haus Ehre machen, wie immer. Aber vergiss nicht, dies ist Alcuins Debüt. Zeige dich wohlwollend.« Er schenkte mir sein ansteckendes Lächeln. »Dann komm. Sollen wir ihn zur Begutachtung rufen?« »Ja, Herr«, sagte ich leise und tat mein Bestes, wohlwollend zu klingen. Hätte man mich gefragt, hätte ich darauf gewettet, dass Delaunay Alcuin wie einen Prinzen kleiden würde. Ich hätte mich geirrt. Man konnte seinen Feinsinn leicht unterschätzen. Wir versammelten uns also, um einen königlichen Triumphzug zu verfolgen; Cecilies Gäste würden Edelleute in Scharen sehen, herausgeputzt in ihren feinsten Gewändern. Wenn Alcuin auch nur annähernd königlich wirkte, dann als der Stalljunge des Königs. So dachte ich auf den ersten Blick. 144 Auf den zweiten Blick erkannte ich, dass sein weißes Hemd nicht aus Segeltuch, sondern aus Batist war, mit so feinem Faden gesponnen, dass man kaum das Gewebe erkennen konnte, und was ich zunächst für gewöhnliche Beinkleider aus Steifleinen gehalten hatte, entpuppte sich als Reithosen aus feinstem Moleskin. Seine kniehohen Stiefel waren aus schwarzem Leder, das so lange poliert worden waren, bis man sich in ihnen spiegeln konnte. Sie hatten ihm sein außergewöhnliches Haar so lange gebürstet, bis es wie ein glänzender, elfenbeinfarbener Fluss herabfiel. Es strömte über Schultern und Rücken und unterstrich Alcuins Gesicht, das seine ernste, schüchterne Schönheit im Laufe der Jahre nicht verloren hatte. Die dunklen und ernsten Augen des Jungen verstärkten diesen Eindruck nur noch. Delaunay war ein Genie. Die bäuerliche Kleidung - oder ihre elegante Imitation - trug auf unerklärliche Weise dazu bei, den überirdischen Charme Alcuins noch weiter zu unterstreichen. »Sehr schön«, erklärte Delaunay. Ich hörte Zufriedenheit und vielleicht noch etwas anderes in seiner Stimme. Sei wohlwollend, sagte ich mir in Gedanken; schließlich gestattet er dir mitzukommen. »Du siehst atemberaubend aus«, bewunderte ich Alcuin aufrichtig, und das tat er auch. »Du ebenfalls!« Er nahm meine Hände und lächelte, ohne jede Spur des Neids. »Oh, Phedre ...« Ich machte einen kleinen Schritt zurück und erwiderte kopfschüttelnd sein Lächeln. »Das ist heute deine Nacht, Alcuin. Meine wird noch kommen.« »In nicht mehr allzu ferner Zeit, sonst wirst du uns noch zum Wahnsinn treiben«, erklärte Delaunay heiter. »Dann lasst uns gehen. Die Kutsche wartet schon.« Das Haus von Cecilie Laveau-Perrin war größer als Delau145 nays und lag näher zum Palast. An der Tür empfing uns ein livrierter Lakai, der uns eine breite Wendeltreppe hinaufführte. Die gesamte dritte Etage war für die Feierlichkeiten bestimmt; ein offener Raum mit hohen Decken, in dessen Mitte sich eine große, mit Silberbesteck und weißem Leinen gedeckte Tafel befand; ein Salon, der Annehmlichkeit und Eleganz miteinander verband und schließlich dem Parkett des Ballsaals wich. Runde Türen öffneten sich vom Tanzboden auf den Balkon, von dem aus man die Route des Triumphzuges überblickte. Ein Quartett, dem kaum jemand Beachtung schenkte, spielte auf einem Podium in der Ecke eine gemessene Melodie. Trotz der Kälte, es war immer noch Winter, drängten sich die Gäste, die schon eingetroffen waren, auf dem Balkon. »Anafiel!« Mit dem unfehlbaren Instinkt, der ihre Gastfreundschaft berühmt gemacht hatte, bemerkte Cecilie noch im selben Augenblick unsere Ankunft und kam eleganten Schritts durch eine der Türen,
um uns zu begrüßen. »Wie schön, Euch zu sehen.« Trotz all der Stunden, die ich unter ihrer Anleitung verbrachte hatte, nahm ich erst in jenem Moment die Stärke ihrer Anziehungskraft wahr. Nicht alle Adepten des Nachtpalais überstehen das Dahinschwinden der Jugend mit Anmut; Cecilie war es gelungen. Auch wenn einige graue Strähnen ihr goldenes Haar durchzogen, erschienen die jugendlicheren Schattierungen dadurch nur umso strahlender, und die feinen Linien um ihre Augen waren Zeichen von Fürsorge und Weisheit. »Ihr seht traumhaft aus«, sagte Delaunay liebevoll. Sie lachte, ausgelassen und bezaubernd. »Ihr lügt immer noch wie ein Dichter, Anafiel. Komm, Alcuin, lass mich dich betrachten.« Mit kritischem Blick legte sie seinen Kragen zurecht und ließ ihn offen stehen, damit man die zarte Kuhle an seinem Hals sehen konnte. »So.« Sie tätschelte ihm die Wange. 146 »Der Triumphzug hat gerade erst den Palast verlassen, du hast noch genug Zeit, meine Gäste kennen zu lernen. Du weißt, ein Wort von dir genügt, wenn du das Ganze beenden möchtest?« »Ich weiß.« Alcuin schenkte ihr sein heiterstes Lächeln. »Na gut. Du musst es mir nur zuflüstern oder den Kopf schütteln.« Sie wandte sich zu mir um. »Phedre ...« Dann schüttelte sie den Kopf, und ihre Diamantohrringe erzitterten und funkelten im Licht. »Gib Acht, dass du keine Brände entfachst, meine Liebe.« Ich murmelte etwas Zustimmendes, obgleich ich die Bemerkung seltsam fand, aber meine Aufmerksamkeit war schon auf den Balkon gerichtet, wo ich in wenigen Augenblicken endlich Männer und Frauen kennen lernen würde, die in nicht allzu langer Zeit zu meinen eigenen Freiersleuten zählen könnten. Ich bot nicht annähernd einen derart strahlenden Anblick wie Alcuin an diesem Tag - Delaunay hatte für mich ein außerordentlich schlichtes Kleid aus dunkelbraunem Samt und ein seidenes Haarnetz ausgewählt, das meine Lockenpracht im Zaum hielt - dennoch dachte ich auch nicht daran, mich übersehen zu lassen. Unsere Ankunft verursachte einen kleinen Aufruhr. Die Gäste waren von Cecilie sorgsam ausgewählt worden und bewegten sich in Kreisen, die sich mit Delaunays zwar überschnitten, aber nicht überlagerten. Manche, wie Gaspar Trevalion, Comte de Fourcay, zählten zu seinen Freunden. Andere nicht. Ich beobachtete ihre Gesichter, als wir angekündigt wurden, und nahm Notiz davon, wer lächelte und wessen Blicke hinwegglitten, um die anderer zu suchen und wortlos zu kommunizieren. Letztere waren diejenigen, die es zu erreichen galt. Jeder, der vermögend genug war, konnte den vereinbarten Preis bezahlen und eine gewisse Summe für meine Marque erübrigen, aber Geld war niemals, wonach Delaunay strebte. Wir waren eine Investition anderer Art. Es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, warum mein Lehrer mir gestattet hatte, ihn zu begleiten. Alcuin bewegte sich unter den Nachfahren Eluas wie ein Stallburschenprinz und zog lüsterne Blicke auf sich; wo er auch ging, hörte ich, wie ihm ein Raunen folgte. «... Diener Naamahs ...« und »... Vorabend seines Geburtstags ...« Delaunay und Cecilie hatten etwas geplant; darüber hatten sowohl ich als auch die Gäste keinen Zweifel. Aber während Delaunay sich unter die Leute mischte, in aller Ruhe plauderte und Alcuin zugleich verborgen und unverhohlen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, war es mir möglich, still am Rande zu bleiben, zu beobachten und zu lauschen. »Anafiel Delaunay stellt seine Fallen mit interessanten Ködern.« Ich vernahm die amüsierte Bemerkung eines großen Mannes mit dunklem Haar, das zu einem festen Zopf geflochten war, und den schmalen Augen eines Raubvogels. Seigneur Childric d'Essoms, erinnerte ich mich wieder, vom Kanzleigericht. Er unterhielt sich mit einem schmächtigen Mann in Dunkelblau, dessen Namen ich nicht gehört hatte. »Seid Ihr interessiert?« Sein Begleiter hob die Augenbrauen. D'Essoms lachte und schüttelte seinen eleganten Kopf. »Ich ziehe würzige Freuden den süßlichen vor. Aber es ist nicht uninteressant, oder?« Ja, dachte ich, und legte die Bemerkung in meinem Gedächtnis ab, so wie Delaunay es mir beigebracht hatte. Es ist spannend, Eure Interessen zu kennen, mein Herr, wie auch Eure Vorlieben. Die beiden Männer trennten sich, und ich folgte dem kleineren und versuchte, seinen Namen zu verstehen, als eine große 148 Frau mit einer kunstvollen Frisur ihn begrüßte. Aber just in diesem Moment erschallten die Trompeten, und jemand rief, dass der Triumphzug sich nähere. Alle drängten an den Rand des Balkons. Ich hatte Delaunay und Cecilie aus den Augen verloren und war hinter der Menschenmenge
gefangen. Einen Moment lang schien es, als bestünde meine Sicht auf den königlichen Triumphzug aus den in Brokat und Seide gehüllten Hinterteilen von Cecilies Gästen; doch dann wurde ein korpulenter Herr mit grauem Bart und einem freundlichen Lächeln auf mich aufmerksam und machte für mich an der Brüstung Platz. Ich dankte ihm, hielt mich am Steingeländer fest und beugte mich nach vorne, um besser sehen zu können. Alle Terrassen entlang der Route waren restlos überfüllt, und Menschenmassen säumten die Straßen. Der Triumphzug, der durch den metallenen Ruf der Trompeten angekündigt wurde, war in der Ferne zu sehen und schimmerte in der schwachen Wintersonne. Eine Abordnung der Palastgarde ritt voraus und drängte die Zuschauer entlang der Gebäude zurück. Hinter ihnen folgte der Standartenträger, der alleine ritt. Wir waren nah genug, um die Gesichter zu erkennen; seines war jung, streng und attraktiv. Er hatte das Heft fest im Griff, und die Standarte flatterte unter uns im Wind, eine goldene Lilie auf sattgrünem Hintergrund, die von sieben goldenen Sternen umringt wurde: das Zeichen des Heiligen Eluas und seiner Gefährten, das Emblem von Terre d'Ange. Nach dem Standartenträger folgten weitere Gardereihen und schließlich Ganelon de la Courcel, Nachfahre Eluas, König von Terre d'Ange. Ich wusste, dass der König betagt war, dennoch überraschte mich sein vom Alter gezeichneter Anblick. Obgleich er aufrecht und groß im Sattel saß, waren sein Haar und sein Bart nahezu vollkommen weiß, seine grimmigen Augen waren tief 149 eingesunken und zum Teil von angegrauten, weißen Augenbrauen verdeckt. An seiner Seite ritt Ysandre de la Courcel, seine Enkelin, Kronprinzessin und Thronfolgerin von Terre d'Ange. Wäre dies ein allegorisches Stück gewesen, hätten sie den Alten Winter und den Neuen Frühling darstellen können, denn Ysandre de la Courcel war so frisch und schön wie der erste Frühlingstag. Sie ritt im Damensitz auf ihrem Schecken und trug ein Kleid in der Farbe der ersten Krokustriebe, die durch die kalte Erde stoßen, und darüber einen Umhang in königlichem Purpur. Ein einfaches, goldenes Band hielt ihr wallendes Haar zusammen, welches von zartestem Blond war, und ihr Gesicht war jung und schön. Auf der Straße jubelten ihr die D'Angelines mit herzlichen Rufen zu, doch auf dem Balkon nahm ich ein Raunen wahr. Ysandre de la Courcel war jung, beliebt und schön, Erbin eines Königreichs; und merklich unverheiratet, also weder verlobt noch versprochen. Obschon ihr Gesichtsausdruck nichts preisgibt, muss sie sich dieses Raunens bewusst sein, dachte ich, während ich sie von oben herab beobachtete. Gewiss verfolgte es sie, wo immer sie ging. Das Emblem der de la Courcel, des königlichen Hauses, wehte neben ihnen, tiefer als die Fahne von Terre d'Ange, jedoch allen anderen voran, wie es Brauch war. Ein silberner Schwan auf mitternachtsblauem Grund, den die kleine, darunter versammelte Gesellschaft irgendwie hilflos erscheinen ließ. Ganelon de la Courcels Linie endete mit Ysandre. Sein einziger Sohn war tot, und sein einziger Bruder, Prinz Benedicte, hatte in die herrschende Caerdicci-Familie in La Serenissima eingeheiratet und war mit einer Frau vermählt, die ihm nur Töchter schenkte. All diese Dinge wusste ich natürlich; doch sie mit eigenen Augen zu sehen ließ sie erst real werden. Auf jenem Balkon, 150 umgeben von dem unaufhörlichen Raunen, beobachtete ich den betagten König und die junge Kronprinzessin, die nicht älter war als ich, und spürte die hungrigen Gelüste, die der unsichere Thron hervorrief. Hinter dem König ritten seine Schwester und ihr Ehemann, die Prinzessin Lyonette und ihr Duc, Marc de Trevalion. Die Löwin von Azzalle sah allzu erfreut aus; das Gesicht des Duc hingegen war unergründlich. Drei Schiffe und der Polarstern prangten auf ihrem Banner, und unter diesem Wappen ritt auch ihr ungestümer Sohn. Ich konnte die Sprechchöre hören, die von der Straße her aufwallten, als sie vorbeiritten: »Baudoin! Baudoin!« Der Prinzensohn unterschied sich nur wenig von dem jungen Fürsten, der vor fünf Jahren die Rolle des Sonnenprinzen an sich gerissen hatte. Ein wenig älter vielleicht; eher in der Blüte seiner Jugend als an deren Schwelle, doch der wilde Glanz in seinen meergrauen Augen war immer noch derselbe. Ein ausgewählter Kader an Ruhmesreitern, seine persönliche Leibgarde, auf die er als Prinz von königlichem Geblüt ein Anrecht hatte, umgab ihn in loser Formation. Auch sie fielen in den Chor ein und riefen seinen Namen, während sie gleichzeitig ihre Schwerter in die Luft hoben, um das Licht darin einzufangen.
An seiner Seite, gelassen und heiter, ritt Melisande Shahrizai, Baudoins ganze Freude und der einzige Dorn im Auge der Löwin von Azzalle. Ihr rabenschwarzes Haar fiel in Wellen herab und glänzte wie schwarzes Wasser im Mondenschein, und ihre Schönheit ließ die junge Dauphine, die ihnen Voranritt, farblos und unvollendet erscheinen. Es war erst das zweite Mal, dass ich sie sah, doch sogar in der Ferne erschauerte ich. »Das ist wohl deutlich genug«, murmelte der korpulente Herr, der mir Platz gemacht hatte. In seiner Stimme schwang 151 ein leichter Akzent. Ich wollte mich umdrehen, damit ich sein Gesicht sehen konnte, aber ich wurde so eng gegen die Steinbrüstung gedrängt, dass ich es nicht auf unauffällige Weise hätte tun können. Ein einsamer Reiter folgte der Gesellschaft des Hauses Trevalion unter der Standarte der Provinz Camlach, ein flammendes Schwert auf schwarzem Grund. Es hatte eine ernüchternde Wirkung auf die versammelten Massen und erinnerte uns alle daran, dass eine Schlacht der Anlass des Tages war. »Wenn d'Aiglemort sie gebeten hätte, unter seinem Banner zu reiten«, erklärte eine leise Frauenstimme nicht weit von mir entfernt, »hätten sie sein Recht anerkannt.« »Meint Ihr, er ist politisch genug, um gefährlich zu sein?« Der Mann, der ihr antwortete, klang amüsiert. »Die Nachfahren Camaels denken mit ihren Schwertern.« »Dem Heiligen Elua sei Dank, dass es so ist«, erwiderte ein anderer scharf. »Ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, Teil eines skaldischen Stammesbesitzes zu werden.« Die Verbündeten von Camlach stellten ein eindrucksvolles Aufgebot, und auf welche Rechte er auch immer verzichtet haben mochte, der junge Duc d'Aiglemort ritt verdientermaßen in ihrer Mitte. Ich zählte die Banner und ordnete die Gesichter den Namen zu, die mich Delaunay hatte auswendig lernen lassen. Ferraut, Montchapetre, Valliers, Basilisque; all die großen Güter von Camlach. Abgebrühte Krieger, die meisten von ihnen, hager und scharfsinnig. Isidore d'Aiglemort überragte sie alle und funkelte wie der silberne Adler auf seiner Standarte. Seine Augen waren dunkel und gnadenlos, und als sein Blick über die Menge hinwegglitt, fiel mir wieder ein, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Er war der Mann in der Jaguarundi-Maske auf dem Ball der Wintersonnenwende gewesen. 152 »Es wäre interessant, ihn auf die Probe zu stellen«, sinnierte eine andere Frau mit schleppendem Tonfall. »Einen Gebirgslöwen auf die Probe zu stellen ist sicher auch interessant«, erwiderte einer der Männer scharf, der sich schon vorher zu Wort gemeldet hatte, »aber ich würde niemandem raten, einen mit ins Bett zu nehmen!« Ich schenkte dem darauf folgenden Gelächter keine Beachtung und beobachtete, wie die Verbündeten von Camlach vorbeiritten. Obgleich sie nur von einer symbolischen Gruppe repräsentiert wurden - der Großteil der Streitmächte war in Camlach zurückgeblieben, um die wiedergewonnene Grenze zu sichern -, gaben sie eine gewaltige Schar ab. Azzalle und Camlach kesselten das Reich im Westen und im Osten ein. Der allgemeine Beifall für Baudoin de Trevalion in Verbindung mit der Streitkraft, welche von den Verbündeten Camlachs repräsentiert wurde, sandte eine Botschaft aus, die in ihrem Mangel an Finesse wirklich beängstigend war. Nach dem Heer von Camlach folgte die Kolonne mit den Siegestrophäen, Kriegsbeute, deren man sich in der Schlacht bemächtigt hatte. Unmengen von Waffen wurden zur Schau gestellt, und ich erzitterte beim Anblick der wuchtigen Streitäxte. Die Skaldi sind große Dichter - ich weiß es, weil ich ihre Sprache lange genug studiert habe -, aber ihre Lieder handeln nur von Blut und Stahl. Und diejenigen, die sie besiegen, versklaven sie. Wir D'Angelines sind zivilisiert. Selbst wer wie ich in die Schuldknechtschaft verkauft wurde, hat die Hoffnung, sich irgendwann seine Freiheit erkaufen zu können. Schließlich war auch der Beutezug vorbei, und Cecilies Gäste gingen langsam zurück ins Haus. Ich drehte mich um und sah in das lächelnde Gesicht des Mannes mit Bart hinter mir. Seine Gesichtszüge waren unverkennbar nicht die eines D'Angeline. Ich erinnerte mich wieder an seinen kaum hörbaren Akzent und erkannte ihn als einen Aragonier. 153 »Ihr gehört dem Hause von Anafiel Delaunay an, glaube ich. Hat Euch die Parade gefallen?«, fragte er mich freundlich. »Ja, Herr.« Ich kannte seinen Stand nicht, doch die Antwort kam unwillkürlich. Er lachte. »Ich bin Gonzago de Escabares und kein Herr, sondern ein ehemaliger Historiker. Kommt, nennt mir Euren Namen und lasst uns gemeinsam hineingehen.«
»Phedre«, erwiderte ich. »Ah.« Er schnalzte mit der Zunge und bot mir seinen Arm dar. »Ein Unglück verheißender Name, mein Kind. Dann will ich Euer Freund sein, denn die alten Hellenen sagten, ein guter Freund könne sich zwischen einen Menschen und seine moira stellen. Wisst Ihr, was das bedeutet?« »Schicksal.« Ich antwortete, ohne darüber nachzudenken, denn Delaunay hatte die strikte Anweisung erteilt, dass weder Alcuin noch ich das Maß unserer Bildung ohne seine Zustimmung preisgeben sollten. Doch nach einigem Überlegen fiel mir ein, wie die beiden miteinander in Verbindung standen. »Ihr wart einer seiner Lehrer an der Universität von Tiberium.« »So ist es.« Er verbeugte sich höflich und schlug dabei die Hacken leicht zusammen. »Ich bin kurz darauf in den Ruhestand gegangen und reise, wie es mir beliebt, zu den Orten, von denen ich schon so lange gesprochen habe. Aber ich hatte das Privileg Euren ... Euren Delaunay zu unterrichten, ihn und seinen ...« »Maestro!« Delaunays Stimme, in der ungetrübte Freude lag, unterbrach uns, als wir den Ballsaal betraten. Strahlend durchquerte er den Raum mit großen Schritten und umarmte den älteren Mann mit großer Zuneigung. »Cecilie hat mir nicht erzählt, dass Ihr hier sein würdet.« Gonzago de Escabares keuchte bei seiner Umarmung und klopfte Delaunay auf den Rücken. »Anafiel, mein Junge, ich 154 bin alt und erlaube mir ein Vergnügen. Dort, wo das Rad der Geschichte sich dreht, begebe ich mich hin, um es knirschen zu sehen. Wenn es sich in Terre d'Ange dreht, wo ich meine alternde Gestalt mit solcher Schönheit umgeben kann, umso besser.« Er tätschelte Delaunays Wange und lächelte. »Ihr habt nichts von Eurer verloren, junger Antinous.« »Ihr schmeichelt mir, Maestro.« Mein Lehrer nahm de Escabares Hände in die seinen, doch sein Lächeln wirkte reserviert. »Ich muss Euch jedoch daran erinnern ...» »Ah!« Der Gesichtsausdruck des aragonischen Professors veränderte sich, wurde schärfer und trauriger. »Ja, natürlich, verzeiht mir. Aber es ist gut, Euch zu sehen, Anafiel. Sehr gut.« »Das ist es.« Delaunay lächelte wieder aufrichtig. »Können wir später reden? Es gibt da jemanden, den ich Phedre gerne vorstellen möchte.« »Natürlich, natürlich.« Der Mann tätschelte meine Schulter mit derselben gefälligen Zuneigung. »Geht nur, mein Kind, und vergnügt Euch. Jetzt ist nicht die Zeit, sich mit alternden Pedanten abzugeben.« Delaunay lachte, schüttelte den Kopf und führte mich weg. Im Stillen verfluchte ich den Zeitpunkt seines Kommens, doch mit lauter Stimme fragte ich lediglich: »Er hat Euch an der Universität unterrichtet?« »Die Tiberer sammeln Gelehrte, wie sie früher Königreiche anhäuften«, erwiderte er geistesabwesend. »Maestro Gonzago war einer der besten.« Ja, mein Herr, dachte ich, er nannte Euch Anafiel und Antinous, ein Name aus dem Titel eines verbotenen Gedichts, aber er stolperte über den Namen Delaunay, der, wie Hyacinthe behauptet, gar nicht Euer wahrer Name ist, und er hätte mir noch so einiges mehr erzählt, hättet Ihr nicht eingegriffen; also 155 achtet darauf, dass ich, während ich tue, was Ihr sagt, nicht auch tue, was Ihr mir beigebracht habt. Aber diese Dinge behielt ich für mich und folgte ihm gehorsam, als er sich so heftig umdrehte, dass ich mit einer blonder Frau mit Hakennase zusammenstieß, die sich mit einem lauten Aufschrei umwandte. »Phedre!« In Delaunays Stimme schwang Tadel. »Solaine, es tut mir sehr Leid. Dies ist Phedres erste Zusammenkunft dieser Art. Mein Kind, das ist die Marquise Solaine Belfours, bei der du dich sofort entschuldigen wirst.« »Kann das Mädchen nicht für sich alleine sprechen, Delaunay?« Die Frau klang verärgert; Solaine Belfours hegte keine freundlichen Gefühle für Delaunay, was ich sehr genau bemerkte, obwohl ich ihm einen ärgerlichen Blick zuwarf, weil er mich in diese missliche Lage gebrachte hatte. Der Zusammenstoß war sein Werk gewesen; kein Kind wurde im Cereus-Haus ausgebildet, ohne zu lernen, wie man sich anmutig und unauffällig durch eine Menschenmenge bewegt. »Die Marquise ist Siegelbewahrerin des Reiches«, erklärte mir Delaunay beiläufig und legte eine Hand auf meine Schulter, um mir die Bedeutung ihrer Stellung zu veranschaulichen. Er erwartete Reue von mir, das wusste ich; doch auch wenn mein Lehrer seine Ziele und ihre Schwächen kennen mochte, so war er doch nicht wie ich. Mein Wissen war angeboren.
»Entschuldigung«, murmelte ich ungnädig, und während ich mürrisch zu ihr aufblickte, spürte ich tief in mir den Reiz, ihr zu trotzen. Ihre blaugrünen Augen wurden kalt, ihr Mund schmal. »Euer Mündel braucht wohl eine Lektion, Delaunay.« Sie wandte sich plötzlich ab und stolzierte durch den Ballsaal. Ich blickte zu meinem Lehrer auf und sah, wie er die Stirn vor Unsicherheit und Überraschung kräuselte. Gib Acht, dass du keine Brände entfachst, hatte Cecilie 156 gesagt. Ihre Bemerkung ergab für mich jetzt mehr Sinn, auch wenn ich deshalb nicht notwendigerweise mit ihr übereinstimmte. Ich schüttelte Delaunays Hand von meiner Schulter. »Kümmert Euch um Alcuin, Herr. Ich komme sehr gut alleine zurecht.« »Zu gut vielleicht.« Er lachte reumütig und schüttelte den Kopf. »Mach keinen Ärger, Phedre. Ich habe mit diesem Abend genug zu tun.« »Natürlich, Herr.« Ich lächelte ihn unverschämt an. Mit einem weiteren verzweifelten Kopfschütteln ging er davon. Mir selbst überlassen, kam ich, so darf ich wohl behaupten, recht gut zurecht. Etliche Gäste hatten Begleiter mitgebracht, und wir stellten uns einander vor. Ein schlanker, dunkler Jüngling aus dem Eglanteria-Haus erinnerte mich mit seinem aufgeweckten Grinsen an Hyacinthe. Er führte einen akrobatischen Tanz mit Reifen und Bändern vor, und alle klatschten ihm Beifall. Sein Freiersmann, Seigneur Chavaise, lächelte vor Stolz. Und dann war da noch Mierette, aus dem Orchis-Haus, die ihre Marque vollendet hatte und jetzt einen eigenen Salon führte. Erfüllt von der Fröhlichkeit, für die ihr Haus berühmt war, sorgte sie für Gelächter und Sonnenschein, und wo immer sie ging, sah ich Freude und Frohsinn die Gesichter der Gäste erleuchten. Viele von ihnen beäugten jedoch Alcuin, der sich dessen unbewusst gelassen und mit dunklen Augen durch die Versammlung bewegte. Ich beobachtete die Gesichter der Anwesenden und bemerkte, dass unter ihnen allen sich einer besonders hervortat. Ich kannte ihn, denn Vitale Bouvarre verkehrte hin und wieder mit Delaunay; er war kein Freund, glaube ich, aber er war in Delaunays Haus schon zu Gast gewesen. Er war Händler, von niederer Herkunft - es ging sogar das Gerücht um, es gebe Caerdicci-Blut in seiner Linie -, aber er war auf 157 Grund eines exklusiven Handelsvertrages mit der Stregazza-Familie in La Serenissima außerordentlich wohlhabend. Sein Blick folgte Alcuin, und sein Gesichtsausdruck wirkte krank vor Verlangen. Als die letzten Sonnenstrahlen verschwunden waren und Dunkelheit durch die langen Fenster um den Balkon herum drang, klatschte Cecilie in die Hände und rief uns alle zum Essen. Nicht weniger als siebenundzwanzig Gäste waren um die lange Tafel versammelt, und bemühte Diener, die in makellos weiße Gewänder gekleidet waren, geleiteten uns zu unseren Stühlen. Unablässig wurden Speisen hereingetragen, Suppen und Terrinen, gefolgt von geschmorten Tauben, Lammbraten, Salaten, Gemüse und einem Gericht aus weißen, zu Schaum geschlagenen Rüben, das alle zu einer Gaumenfreude ländlicher Finesse erklärten; der Wein floss in Strömen aus gekühlten Krügen in die erst halb geleerten Gläser. »Einen Toast!«, rief Cecilie, als der letzte Gang - ein Dessert aus in Muskateller gebratenen und mit Nelken gewürzten Winteräpfeln - abgetragen worden war. Sie hob ihr Glas und wartete, bis alle still waren. Sie hatte immer noch die Gabe, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; die Tafel verstummte. »Auf die Sicherheit unserer Grenzen«, erklärte sie mit sanfter Stimme und ließ die Worte ihre Wirkung entfalten. »Auf die Sicherheit und das Wohl des gesegneten Terre d'Ange.« Ein zustimmendes Raunen erklang am ganzen Tisch; in diesem Punkt waren wir uns alle einig. Ich trank mit willigem Herzen und entdeckte niemanden, der es mir nicht gleichtat. »Thelesis«, sagte Cecilie. Am oberen Ende der Tafel erhob sich eine Frau. Sie war klein, dunkel und keine, wie ich dachte, besondere Schönheit. Ihre Züge waren nicht außergewöhnlich, und ihr größter Vorzug, die leuchtenden dunklen Augen, wurde von einer tiefen Stirn geschmälert. Und dann sprach sie. Es gibt viele Arten von Schönheit. Wir sind D'Angelines. »Es weht ein lieblich Hauch«, begann sie laut und schlicht, und ihre Stimme füllte jeden Winkel des Raums, der in goldenes Licht getaucht war. »Durch Wiese, Feld und Hain/Die Nacht, sie zieht
herauf/Die Ernte kommt herein.« So schlicht war ihr Gedicht, und doch sah ich es, sah ich alles vor mir. Sie sprach die Worte ungekünstelt, einfach und wunderschön. »Die Biene fliegt zum Hort/Honig füllt die Waben«, und dann nahm ihre Stimme einen leisen und einsamen Klang an. »Doch Regen fällt hier immerfort/Und ich bin fern der Meinen.« Jeder kennt die Worte von Des Verbannten Klagelied. Thelesis de Mornay hatte es im Alter von dreiundzwanzig Jahren verfasst, als sie an der verregneten Küste Albas im Exil lebte. Ich selbst hatte es schon ein dutzend Mal gehört und auf Geheiß von mehr als einem Lehrer aufgesagt. Dennoch füllten Tränen meine Augen, als ich die Worte jetzt hörte. Wir waren D'Angelines, diesem Land verbunden, welches der Heilige Elua so sehr geliebt hatte, dass er sein Blut dafür vergoss. In der Stille, die nun folgte, nahm Thelesis de Mornay wieder ihren Platz ein. Cecilie ließ ihr Glas erhoben. »Meine Damen und Herren«, sagte sie in ihrer sanften Stimme, die von der Intonation des CereusHauses geprägt war. »Lasst uns nie vergessen, wer wir sind.« Mit feierlicher Miene erhob sie ihr Glas und neigte es, um ein Trankopfer darzureichen. »Möge Elua gnädig mit uns sein.« Ihre Feierlichkeit ergriff uns alle, und viele folgten ihrem Beispiel. Ich tat es und sah, dass Delaunay und Alcuin es auch taten. Als Cecilie wieder aufblickte, blitzte der Schalk in ihren Augen. »Und jetzt«, erklärte sie, »lasst die Spiele beginnen! Kottabos!« 158 159 Unter großem Gelächter zogen wir uns in den Salon zurück, vereint durch die Liebe zu unserem Land und die unbeschwerte Heiterkeit unserer Gastgeberin. Ihre Diener hatten wohlweislich den Teppich entfernt und an seiner statt ein silbernes Gestell aufgebaut. Es stand auf einem Dreifuß, der einen spiegelblank polierten, breiten, silbernen Trichter durchbohrte und auf seiner Spitze balancierte. Ziselierte Figuren stellten um den Rand herum ein Trinkgelage nach dem Vorbild der Alten Hellenen dar. Die D'Angelines betrachten das Goldene Zeitalter von Hellas als die letzte große Zivilisation vor der Ankunft Eluas, weswegen solche Dinge nie aus der Mode kommen. Aus der Mitte des Trichters lief der Ständer bis in eine Höhe von vier Fuß spitz zu und endete dort. Auf seinem Blätterknauf balancierte der silberne Teller des plastinx. Cecilies Dienerschaft ging mit Weinkrügen und neuen Bechern umher; flache, silberne Weinbecher mit verzierten Henkeln. Um zum Bodensatz zu kommen, musste man natürlich erst einmal austrinken, was eingeschenkt wurde, und obgleich ich den Wein nur in Maßen genossen hatte, spürte ich, wie mein Blut aufwallte, als ich meinen Becher leerte. Es ist eine Kunst, die geübt sein will, den Henkel um den Finger zu wirbeln und die letzten Weintropfen dergestalt hinwegzuschleudern, dass sie den plastinx treffen und in den Trichter hinunterstoßen, damit er wie ein Becken erklingt. Als es an mir war, mein Glück zu versuchen, hatten schon fünf oder sechs andere vor mir gespielt, und auch wenn einige den plastinx getroffen hatten, war es doch noch niemandem gelungen, ihn vom Schaft zu stoßen. Ich schaffte nicht einmal Ersteres, und Thelesis de Mornay lächelte mich freundlich an. Cecilie glückte es unter großem Applaus, doch der plastinx klirrte gegen den Rand, bevor er in die Schale des Trichters fiel. Seigneur Childric d'Essoms wirbelte seinen Becher so schnell herum, dass die letzten Tropfen seines Weins wie ein Pfeil aus einer Armbrust hervorgeschossen kamen und den plastinx direkt vom Schaft auf den Boden fegten. Alle jubelten und lachten, auch wenn sein Versuch nicht zählte. Sowohl Mierette vom Orchis-Haus als auch Gaspar, Comte de Fourcay, brachten die Schale zum Klingen sowie zur Überraschung aller Gonzago de Escabares, der sich ins Fäustchen lachte. Alcuin, der neben einer großen Frau mit Kopfschmuck auf dem Sofa gesessen hatte, erging es noch schlechter als mir, er verspritzte seinen Wein nur. Seine Nachbarin führte seine Finger an ihre Lippen und leckte die Tröpfchen des Weins von ihnen. Alcuin errötete. Vitale Bouvarre war so erschüttert, dass er den Henkel seines Bechers losließ und ihn mit dem Wein von sich warf. Obwohl der plastinx in die Schale fiel, wurde sein Versuch nicht als gültiger Schuss gezählt. Als Delaunay an die Reihe kam - irgendwie traf es sich, dass er es als Letzter versuchte -, wirkte er in seinem schwarzen, samtenen Gewand ruhig, gelassen und streng. Er saß zurückgelehnt auf einem der Sofas und stützte sich auf einem Arm ab, als er den Becher herumwirbelte und den Bodensatz mit einer eleganten Bewegung fliegen ließ. Seine Treffsicherheit war unfehlbar, und der silberne plastinx purzelte ordentlich in die Schale, die wie ein Glockenspiel erklang. Nicht alle klatschten Beifall, wie ich bemerkte, doch diejenigen, die ihm zujubelten, taten es aus vollem Halse und erklärten ihn zum Sieger.
»Ein Pfand, ein Pfand!«, rief Mierette aus, die freudestrahlend und prachtvoll auf ihrem Sofa saß. »Messire Delaunay erbittet von der Gastgeberin ein Pfand!« Cecilie willigte ein und lachte. »Was möchtet Ihr haben, Anafiel?«, fragte sie neckisch. Delaunay lächelte und ging zu ihr hinüber. Über sie gebeugt, 160 161 erbat er einen Kuss - einen lieblichen, dachte ich - und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Cecilie lachte wieder, und mein Lehrer ging zurück zu seinem Sofa. »Gerne will ich diese Bitte gewähren«, erklärte Cecilie schalkhaft. »Punkt Mitternacht wird Alcuin nö Delaunay, der Naamah geweiht ist, sechzehn Jahre alt werden. Der Besitzer seiner Marque wünscht, dass wir eine Auktion für seinen Jungfernpreis abhalten. Ist irgendjemand dagegen?« Seid gewiss, dass niemand etwas dagegen einzuwenden hatte, und wie auf ein Stichwort - ich bin mir sicher, dass sie das geplant hatten, Delaunay und Cecilie - drang die ferne Stimme eines Horologen, der auf dem Platz die Mitternachtsstunde ausrief, durch die Balkonfenster in die erwartungsvolle Stille. Cecilie hob ihr Glas. »So soll es sein! Ich erkläre die Versteigerung für eröffnet!« In einer flüssigen, anmutigen Bewegung erhob sich Alcuin von seinem Sofa, stellte sich mit ausgestreckten Armen vor uns und drehte sich langsam. Ich habe Hunderte von Adepten der Königin der Dreizehn Häuser bei ihrer Zurschaustellung gesehen, doch nicht einer von ihnen konnte sich dabei an Würde mit ihm messen. Childric d'Essoms, der kein Interesse an Delaunays Köder bekundete, war der Erste, der ein Gebot machte. »Zweihundert Dukaten!«, rief er. Weil ich ihn in jener Nacht beobachtet hatte, erkannte ich den Eifer des Jägers in seinem Blick und wusste, dass es ihm hier nicht um Verlangen ging. »Ihr beleidigt den Jungen«, erklärte Alcuins Sofagenossin; ich entsann mich ihres Namens, der Madame Dufreyne lautete. »Zweihundertfünfzig.« Vitale Bouvarre sah aus, als würde er vor Wut gleich platzen. »Dreihundert«, bot er mit erstickter Stimme. Alcuin lächelte in seine Richtung. 162 »Dreihundertfünfzig«, erklärte Solaine Belfours gelassen. »Du meine Güte.« Mierette leerte ihren Becher auf einen Zug und stellte ihn vorsichtig ab. Sie spielte mit ihrem goldenen, wie ein Wasserfall herabfallenden Haar und blickte fröhlich zu Cecilie. »Cecilie, Ihr seid zu gemein. Wie oft ergibt sich für unsereins solch eine Gelegenheit? Ich biete vierhundert, wenn der Junge es mir vergilt.« »Vierhundertfünfzig!« erwiderte Vitale heftig. Jemand anderes machte ein höheres Gebot; ich weiß nicht mehr, wer es war, denn genau in diesem Augenblick geriet die ganze Angelegenheit außer Kontrolle. Für einige der Bieter, wie Childric d'Essoms, war es nämlich lediglich ein Spiel, und ich glaube, zumindest ihm bereitete es den größten Spaß, sich an der Verzweiflung anderer zu ergötzen, als die Jagd immer hitziger wurde. Bei anderen war ich mir nicht so sicher. Mierette nö Orchis bot höher, als ich vermutet hätte, und ich konnte nie in Erfahrung bringen, ob es Verlangen oder die Verschwörung mit Cecilies Plänen war, die sie antrieb. Was den Rest betraf, so gab es keinen Zweifel. Es war eindeutig, dass sie Alcuin begehrten, ruhig und schön und wie kein anderer auf dieser Welt, mit seinem weißen Haar, das ihm wie ein Vorhang über die Schultern fiel, und seinen dunklen, geheimnisvollen Augen. Während alledem blieb Delaunay vollkommen regungslos und ließ sich auch nichts anmerken. Als die Gebote die tausend Dukaten überschritten hatten, warf er Cecilie einen kurzen Blick zu, woraufhin sie ihrem Sekretär ein Zeichen gab, der mit einem Vertrag und einer griffbereiten Feder hervortrat. Am Ende lag es in der Hand von Vitale Bouvarre, Madame Dufreyne und einem anderen Mann, dem Chevalier Gideon Landres, der Ländereien in L'Agnace besaß und Parlaments163 mitglied war. Wir, die wir schon erkannt hatten, wie alles enden würde, beobachteten und warteten. »Sechstausend Dukaten!« Vitale Bouvarre warf das Angebot in den Raum, als wäre es ein Handschuh. Sein Gesicht war feuerrot. Madame Dufreyne legte die Finger an den Mund, rechnete leise und schüttelte den Kopf. Der Chevalier verschränkte lediglich die Arme und blickte ungerührt. So kam es, und Alcuins Jungfernpreis brachte sechstausend Dukaten ein. Ich, die ich im Nachtpalais aufgewachsen war, hatte noch nie von einer solchen Summe gehört; doch seltsamerweise war das in diesem Augenblick nicht mein erster Gedanke, vielmehr dachte ich an Hyacinthes Mutter, die ihren
ganzen Reichtum mit sich trug und nie auch nur hoffen konnte, so viel an ihrem Körper zu haben, wie Alcuin in einer einzigen Nacht einbrachte. Nachdem die Angelegenheit abgeschlossen war, setzte Cecilies Sekretär geschwind den Vertrag auf, obgleich ich nicht glaube, dass Vitale auch nur einen Blick auf das warf, was er da unterschrieb. Die Nacht war immer noch jung, aber er wollte von dieser Zusammenkunft nichts mehr wissen. »Kommt«, sagte er zu Alcuin mit heiserer Stimme. »Meine Kutsche wartet.« Er blickte einmal kurz zu Delaunay. »Mein Fahrer wird ihn morgen zurückbringen. Ist das akzeptabel?« Delaunay, der nur wenig gesprochen hatte, nickte zustimmend. Alcuin sah ihn nur einmal an; ein ernster, eindringlicher Blick, den unser Lehrer entschlossen erwiderte. Ich erinnere mich noch, wie Cecilie in die Hände klatschte, als die beiden gingen, und die Musiker eine fröhliche Melodie anstimmten; doch um ehrlich zu sein, ist es durchaus möglich, dass mein Wahrnehmungsvermögen etwas durch den Wein beeinträchtigt war. Es wurde getanzt, und ich wagte mich mit Gonzago de Escabares und dem Chevalier Landres aufs Parkett, der seinen Verlust gelassen hinnahm, und einmal mit Childric d'Essoms, der lächelte und mich von oben bis unten beäugte wie der Habicht den Spatzen. Dann führte mich Seigneur Chavaise zu einem stampfenden Rhythmus mit Pauken und Fingertrommeln durch den Saal, außerdem tanzte ich mit seinem Liebhaber aus dem Eglanteria-Haus, dem behänden Jüngling, der für uns Saltos geschlagen hatte; dabei hielt ich sogar den Takt und war dankbar für die Unterrichtsstunden, die Delaunay mir aufgehalst hatte. Spät in der Nacht, so erinnere ich mich, kam Delaunay mit Thelesis de Mornay zu mir, um mich ihr vorzustellen, woraufhin sie mit ihren schlanken, dunklen Fingern sanft mein Gesicht berührte und die Verszeilen über Kushiels Pfeil aus dem Leucenaux-Text rezitierte, da wurde es einen Moment lang ganz still, und ein Raunen ging durch den Raum. Also wussten alle, was der scharlachrote Fleck in meinem Auge bedeutete, und ich wäre mit jedem von ihnen gegangen, hätte mich Delaunays fester Griff an meinem Ellenbogen nicht wie ein Anker daran erinnert, wo meine Pflichten lagen. 164 165 Alcuin war während eines Großteils der darauf folgenden Woche sehr schweigsam. Ob er und Delaunay darüber sprachen, weiß ich nicht. Es gibt gewisse Dinge, nach denen man nicht fragt, gewisse Privatsphären, die wir respektierten. Doch nach einigen Tagen des Schweigens hielt ich es nicht mehr länger aus. Ich fragte Alcuin, wie es gewesen sei. Wir lernten gerade gemeinsam und saßen uns am großen Tisch in Delaunays Bibliothek gegenüber, während wir beim Schein einer Lampe lasen. Alcuin, der in eine theoretische Abhandlung über den Gebieter der Meeresstraße vertieft war, markierte die Stelle, die er gerade las, mit dem Finger und blickte zu mir auf. »Es war in Ordnung«, antwortete er ruhig. »Messire Bouvarre war zufrieden. Er möchte mich wieder sehen, wenn er aus La Serenissima zurückkommt.« Seine Einsilbigkeit verwirrte mich, und ich suchte nach etwas, mit dem ich ihn weiter zum Reden bringen konnte. »Hat er dir etwas für deine Marque gegeben?« 166 »Nein.« Ein Anflug von Zynismus, düster und erwachsen, blitzte in seinen Augen auf. »Nicht nachdem er sechstausend Dukaten für das Privileg bezahlt hat, meine Jungfernschaft zu bekommen. Aber er hat mir versprochen, mir bei seiner Rückkehr eine Glasperlenkette mitzubringen. Man hat mir gesagt, sie fertigen sehr schöne Glasarbeiten in La Serenissima.« Er schloss sein Buch und fügte hinzu: »Messire Bouvarre hat vermutlich kein großes Interesse daran, dass ich meine Marque in absehbarer Zeit vollende.« Ich hatte die Begierde gesehen, die Vitale Bouvarres Gesicht wie eine Krankheit zeichnete; ich verstand. »Warum gerade er? Delaunay und Cecilie haben die Gäste sorgfältig ausgewählt, sie wussten, wer am höchsten bieten würde. Was will Delaunay von ihm?« »Gift.« Er hatte es so leise ausgesprochen, dass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Alcuin strich sich das Haar aus dem Gesicht und legte die Stirn leicht in Falten. »In La Serenissima sind sie in seiner Handhabung Experten, wie für die Glasarbeiten. Des Königs Bruder, Prinz Benedicte, ist mit Maria Stregazza vermählt, deren Familie die Stadt regiert. Und die Stregazza haben mit Vitale Bouvarre ein exklusives Handelsabkommen geschlossen, nur vier Monate, nachdem Isabel de la Courcel an einer Vergiftung starb.« »Das ist nicht erwiesen.«
»Nein.« Alcuin schüttelte den Kopf. »Wenn es erwiesen wäre, würde man die Stregazza nicht verdächtigen. Aber nachdem Rolande in der Schlacht der Drei Prinzen getötet worden war, fing Isabel de la Courcel an, Mitgliedern ihrer eigenen Familie wichtige Positionen zuzuschanzen, um die Macht an sich zu reißen, und es war von einer Verlobung zwischen Ysandre und einem L'Envers-Vetter die Rede. Das Ganze endete mit ihrem Tod.« Er zuckte mit den Achseln. »Es mag sein, dass Prinz 167 Benedicte so eine Sache nicht dulden würde, das glaubt zumindest Delaunay. Aber die Stregazza würden es tun, und Benedicte ist immer noch der Zweite in der Thronfolge von Terre d'Ange.« »Hat dir Bouvarre irgendetwas erzählt?« »Er sagte nur, in La Serenissima hätte alles seinen Preis, sogar Leben und Tod. Nicht mehr bis jetzt.« Alcuin schwieg wieder einen Moment lang. »Manchmal, wenn ich bei einem Essen bediene und mithören soll, was Delaunay nicht hören kann, weiß ich meinen Geist von dem abzulenken, was meine Hände tun, und mich ganz auf das Zuhören und Erinnern zu konzentrieren. Aber mit Bouvarre war das nicht so einfach, wie wenn ich Wein einschenke«, schloss er im Flüsterton. »Er hat dich doch nicht misshandelt?« Das konnte ich mir kaum vorstellen; es stand nicht in Alcuins Vertrag, und Delaunay hätte Bouvarre auf Vertragsbruch verklagt, wenn er seinen Schützling verletzt hätte. »Nein. Ich kann wohl behaupten, dass er vorsichtig genug war.« Abscheu lag in seiner Stimme. »Phedre, Naamah legte sich aus Liebe zu Elua zu Fremden. Ich würde auch mehr als das für ihn tun.« Ich musste nicht erst fragen, um zu wissen, dass er Delaunay meinte, und ich sagte ihm nicht, dass jedes der Dreizehn Häuser des Nachtpalais einen anderen Grund für Naamahs Prostitution nennt. Stattdessen fragte ich ihn einfach, im Glauben die Antwort zu kennen: »Warum?« »Weißt du das denn nicht?« Alcuin blickte mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Ich nahm an, meine Geschichte sei ein offenes Buch, obgleich ich später herausfand, dass er nicht wusste, wie ich ins Cereus-Haus gekommen war. »Ich wurde in Trefail, in den Camaelinen geboren. Einer von Prinz Rolandes Männern schwängerte meine Mutter, ein Dorfmädchen, als sie das ganze Jahr lang an der Grenze patrouillierten.« »Kein Wunder, dass Baudoin es schaffte, in Camlach zu sein«, sprach ich meinen Gedanken laut aus. Alcuin nickte. »Wie Rolande, nicht wahr? Egal wie, die Familie meiner Mutter setzte sie vor die Tür. Es wurde geklatscht, sie war kurz vorm Verhungern, als Rolande davon erfuhr. Er ließ meinen Vater vor ein Kriegsgericht stellen, zahlte der Familie meiner Mutter eine Mitgift und stellte eine Amme ein, da ihre Milch versiegt war. Am Rande von Camlach leben einige Skaldi, Stammesverbannte, die nicht den Wunsch hegen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Das war alles, was er bekommen konnte.« »Alcuin.« Es war faszinierend und zum Aus-der-Haut-Fahren. »Was hat das mit Delaunay zu tun?« »Ich weiß es nicht.« Er schüttelte den Kopf, sein dichtes, elfenbeinfarbenes Haar schwang hin und her. »Nur dass er in jenem Jahr an der Seite Prinz Rolandes in der Schlacht der Drei Prinzen ritt und sechs Jahre später, als die Skaldi die Grenze erneut überrannten, zurückkam, um mich zu holen. Ich fragte ihn, ob er mein Vater sei, doch er lachte nur und sagte Nein. Dann erklärte er mir, dass er seine Versprechen immer halte, und manchmal auch die anderer. Seitdem habe ich bei ihm gelebt.« »Möchtest du deine Mutter nicht gerne kennen lernen?« Ein Schauder durchfuhr ihn. »Delaunay war den Skaldi nur einen halben Schritt voraus. Wir hatten die Stadt gerade vierhundert Meter zurückgelassen, als wir die Schreie losbrechen hörten. Er setzte mich vor sich auf den Sattel und hielt mir die Ohren zu. Es gab nichts, was er hätte tun können. Wir sahen den ganzen Weg durch das Gebirge den Rauch, der hinter uns aufstieg. Ich weinte für meine Amme, aber meine Mutter habe 168 169 ich nie gekannt. Und ich werde nie wieder dorthin zurückkehren.« Ich fühlte mit ihm; und beneidete ihn ehrlich gesagt auch ein wenig, denn meine Geschichte war nicht annähernd so romantisch. Im Gebirge auf der Flucht! Das war sicherlich aufregender, als in die Leibeigenschaft verkauft zu werden. »Du solltest ihn noch einmal danach fragen. Du hast das Recht, es zu wissen.« »Er hat das Recht, nichts zu sagen.« Alcuin stand auf, um das Buch wegzustellen, das er gerade gelesen hatte, wandte sich dann zu mir um und sah mich von der Seite an. »Ich kann mich nur noch an wenig aus meiner Kindheit erinnern«, sagte er sanft, »aber ich weiß noch, dass meine Amme
Skaldisch mit mir redete. Sie erzählte mir, dass ein mächtiger Prinz, der von den Engeln abstammte, versprochen hatte, mich immer gut versorgt zu sehen. Delaunay hält Rolande de la Courcels Versprechen.« Wir unterhielten uns noch bis tief in die Nacht - Delaunay war an jenem Abend auf einer Feier außer Haus -, und ich erfuhr, dass Alcuins Marque keine Frage von Verträgen war wie in meinem Fall. Unser Lehrer hatte sich jahrelang nach Lust und Laune am königlichen Hof und in der gehobenen Gesellschaft bewegt, aber es war Alcuins Entscheidung gewesen, ihm zu folgen und sich dem Dienste Naamahs zu verschreiben, um eine Schuld zu begleichen, die nie bezahlt werden konnte. Ich dachte an Guys Geschichte und die unsichtbaren Fesseln, die uns an Anafiel Delaunay banden. Dann dachte ich über Alcuins Geschichte nach und fragte mich, welche unsichtbaren Fesseln Delaunay an den vor langer Zeit erschlagenen Prinzen Rolande banden. Doch Hyacinthe hatte schließlich eine Theorie dazu. »Was wissen wir eigentlich über Prinz Rolandes erste Ver170 lobte?«, fragte er rhetorisch, als er im »Jungen Hahn« mit den Stiefeln auf dem Tisch dasaß und mit einem Hähnchenschlegel herumwedelte. Ich hatte ihm geholfen, eine Liaison zwischen einer verheirateten Edelfrau und einem gut aussehenden Schauspieler zu arrangieren, und er hatte mit gebratenem Kapaun und Humpen voller Bier für uns beide geprasst. »Ich meine, außer der Tatsache, dass sie sich bei einem Jagdunfall das Genick gebrochen hat. Wir wissen, dass Delaunay angeblich die Verse zu einem Lied geschrieben hat, in dem unterstellt wird, Isabel L'Envers trüge daran die Schuld. Obwohl er nie gestanden hat, wissen wir, dass sein Gedicht hiernach verboten wurde, was vermuten lässt, dass jemand am königlichen Hof es für wahr hielt und es genügend Beweise gab, um den König davon zu überzeugen. Und wir wissen, dass Delaunay nicht verbannt wurde, was wiederum vermuten lässt, dass ihn jemand in Schutz nahm und gute Gründe hatte, dies zu tun. Einige Jahre später löst er das Versprechen von Prinz Rolande ein, was darauf schließen lässt, dass er ihm etwas schuldig war. Wo fängt das Ganze an? Mit der Verlobten des Prinzen. Wer war sie also?« Manchmal verzweifelte ich daran, dass Hyacinthe besser als ich in den Dingen war, in denen man mich ausgebildet hatte. »Edmee, Edmee de Rocaille, die Tochter des Comte de Rocaille, Gebieter eines der größten Güter in Siovale. Es gibt dort eine kleine Universität, wo die Nachfahren Shemhazais sich dem Studium der Wissenschaften widmen können.« Ich zuckte mit den Achseln und trank einen kleinen Schluck Bier. »Er spendete seine Bibliothek, die sehr berühmt ist.« Hyacinthe zerrte mit seinen weißen Zähnen an dem Hähnchenschenkel und verschmierte sich das Kinn mit Fett. »Hatte er Söhne?« 171 »Weiß ich nicht.« Ich starrte ihn entgeistert an. »Du glaubst, Delaunay ist ihr Bruder?« »Warum nicht?« Er nagte seinen Kapaun bis auf den Knochen ab und nahm einen großen Schluck Bier. »Wenn er das Gedicht geschrieben hat - und selbst wenn er es nie gestanden hat, habe ich es ihn auch noch nie abstreiten hören -, hatte er ein sehr großes Interesse daran, ihre Mörderin in Misskredit zu bringen. Doch wenn er nicht ihr Bruder war, dann vielleicht etwas anderes.« »Was zum Beispiel?« Ich beäugte meinen Freund argwöhnisch über den Rand meines Humpens. Er setzte seinen Becher ab, nahm die Füße vom Tisch und lehnte sich mit einem verschwörerischen Glanz in den Augen nach vorne. »Ihr Liebhaber.« Er sah, wie eine ungläubige Antwort sich in meinem Geiste formte, und hob den Finger. »Nein, warte, Phedre. Vielleicht liebte er sie und verlor sie an den Thronerben, liebte sie aber dennoch weiter. Und als sie ein tragisches Ende fand, ging er auf der Suche nach Gerechtigkeit in die Cite und fand nur Verschwörung vor - und innerhalb eines Jahres heiratete der Prinz eine andere. Als adliger junger Bursche vom Land mit einer schnellen Zunge, aber ohne die geringste Ahnung von Politik wagt er alles und macht sich die Prinzgemahlin zur Feindin, findet aber im Prinzen einen Fürsprecher, dessen Ehrgefühl ihn dazu verleitet, einen jungen, vorschnellen Dichter zu beschützen. Was meinst du?« »Ich meine, du verbringst zu viel Zeit mit Schauspielern und Dramatikern«, erwiderte ich, aber ich musste mir dennoch einige Fragen stellen. Die ersten Fäden des Knäuels kamen mit dem Tod der Verlobten des Prinzen Rolande an die Oberfläche. »Wie auch immer, Delaunay hat an der Universität von Tiberium studiert. Er kam nicht wirklich geradewegs aus den Provinzen.« »Ach, na ja.« Hyacinthe trank einen weiteren Schluck und wischte sich den Schaum von den Lippen.
»Pedanten und Pädagogen. Was kann man von denen schon lernen?« Daraufhin musste ich lachen; so intelligent er auch war, Hyacinthe hielt an den Vorurteilen der Straße fest. »So einiges. Aber sag mal, hast du mit der dromondc geschaut?« »Du weißt genau, dass ich es nicht getan habe.« Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Erinnerst du dich noch, was meine Mutter gesagt hat? Ich will für dich Mutmaßungen anstellen, Phedre, wo immer du zu wenig Abstand zu den Dingen hast, um sie richtig zu erkennen, aber ich werde meine Gabe nicht benutzen, um die Ankunft dieses Tages zu beschleunigen.« »Wenn es ums Schicksal geht, hältst du deine Zunge im Zaum«, grummelte ich vor mich hin. »Ach ja?« Er grinste. »Ich bin Tsingani. Aber meine Theorien sind gut, oder?« Widerwillig gab ich es zu, und wir sprachen von anderen Dingen, bis Guys blasses Gesicht vor dem Fenster des »Jungen Hahns« erschien, um mich an meine Schuld zu erinnern und mich nach Hause zu rufen. Nur kurze Zeit nach unserer Unterhaltung fanden zwei wichtige Ereignisse statt, von denen eines gewiss nur für mich bedeutsam war. Das erste war hingegen für das Reich im Allgemeinen von Belang: Der Cruarch von Alba stattete dem Hof der D'Angelines einen Besuch ab. So wird ihr Führer unter den Cruithne gerufen; im allgemeinen Sprachgebrauch nannten wir ihn natürlich den piktischen König, wie auch die Caerdicci-Gelehrten ihn bezeichneten. Dieses Ereignis war durchaus beachtenswert, denn es geschah nur selten, dass der Gebieter der Meeresstraße eine solche Überfahrt überhaupt zuließ. Denn seit Menschengedenken hat der Gebieter der Meeres172 173 Straße über die Drei Schwestern geherrscht, jene winzig kleinen Inseln vor der Küste Azzalles, und beim Namen des Heiligen Elua schwöre ich, es ist wahr, was sie sagen: Die Winde und die Wasser gehorchen seinem Befehl. Ihr könnt es glauben oder nicht, aber ich habe es seither mit eigenen Augen gesehen und weiß, es ist wahr. Es hat uns großen Schutz vor den Langschiffen der Skaldi geboten, aber es hat uns auch davon abgehalten, uns mit den Cruithne, deren Land reich an Blei und Eisenerz ist, zu verbünden oder Handel zu treiben. Warum der Gebieter der Meeresstraße diese diplomatische Mission geduldet hatte, wusste niemand; aber sie war erfolgreich gewesen, und nun waren Pikten in unserem Land, mit denen verhandelt werden musste. Dieses Ereignis sorgte für beträchtlichen Aufruhr in unserem Haus. Es gab nur sehr wenige D'Angelines, die des Cruithne mächtig waren, und Delaunay war gerufen worden, der königlichen Audienz als Übersetzer beizuwohnen. Ich schäme mich, zuzugeben, dass ich dieser Angelegenheit weniger Aufmerksamkeit schenkte, als ich es hätte tun sollen, da mich wie gesagt ein anderes bedeutendes Ereignis beschäftigte. Cecilie LaveauPerrin hatte Delaunay erklärt, dass es nichts mehr gebe, was sie mir beibringen konnte. Was es für mich noch zu lernen gab, sagte sie, übersteige ihren Horizont; es sei am besten, ein Adept des Valeriana-Hauses würde mich in diesen Dingen unterweisen. Auch wenn Delaunay dies mit Skepsis betrachtete, musste er doch zugeben, dass seine Kenntnisse in den Künsten der Algolagnie ebenso wie die Cecilies ausschließlich theoretisch waren. Deshalb vereinbarte er mit dem Stellvertreter des Valeriana-Hauses eine einweisende Führung für mich. Der Ruf des Königs an Delaunay kam, nachdem er diese Vereinbarung getroffen hatte, und ich denke, er hätte sie abgesagt, wäre er mit seinen Gedanken nicht woanders gewesen. Aber er war 174 voll und ganz mit der bevorstehenden Audienz beschäftigt, daher beließ er es dabei. So kam es, dass Alcuin, der Cruithne fast genauso fließend sprach wie Delaunay, ihn begleiten und die Unterhaltung transkribieren sollte. Die königliche Karosse fuhr vor, um die beiden abzuholen, während Delaunays Kutscher mich zum Valeriana-Haus geleiten sollte. Hätte ich gewusst, was eines Tages geschehen würde, hätte ich darum gebeten, der Audienz beiwohnen zu dürfen, denn ich war dieser Sprache ebenso mächtig wie Alcuin und hatte außerdem die schönere Handschrift. Es wäre kein kleiner Verdienst gewesen, den Cruarch von Alba und seinen Erben kennen gelernt zu haben - seiner Schwester Sohn, nicht seiner, da die piktische Erbfolge matrilineal geregelt ist; eine Tatsache, die mein Leben auf eine Art und Weise beeinflussen sollte, die ich mir kaum vorstellen konnte. Aber uns ist es nicht vergönnt, in die Zukunft zu blicken, und ich, die ich des Verlangens in meinem Blut müde wurde, das stetig ungestillt in mir wuchs, war es mit dem für mich vorgesehenen Arrangement wohl zufrieden. Ein Barbarenkönig ist gewiss eine faszinierende Sache, aber ich war eine anguisette, die zu den stumpfen Qualen der Jungfräulichkeit verdammt war. So ging ich zum
Valeriana-Haus. 175 Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade ich so wenig über das Haus wusste, für das ich bestimmt gewesen wäre, hätte das Schicksal mein linkes Auge nicht gezeichnet. Der Pförtner ließ uns sogleich herein, und wir durchquerten einen langen Eingang, der gut hinter Bäumen verborgen war. Im Innenhof empfingen mich zwei Eleven, ein Junge und ein Mädchen. Das Alyssum-Haus wird wegen seiner Bescheidenheit geschätzt, doch hatte ich noch nie jemanden aus dem Nachtpalais gesehen, der ein so bangendes Dekorum wahrte wie diese beiden, die ihren Blick stetig gesenkt hielten, als sie mich ins Haus führten. Das Empfangszimmer war üppig eingerichtet und für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Ein Feuer prasselte im Kamin, und die Lampen verbrannten Duftöl. Während ich wartete, betrachtete ich die prächtigen Tapisserien, die die Wände bedeckten. Szenen aus der hellenischen Mythologie, dachte ich zunächst, musterte sie dann jedoch etwas genauer. Geschichten von Vergewaltigung und Folter traten aus ihren fein gewebten Fäden hervor; flüchtende Jungfrauen; flehende Jünglinge und rachsüchtige Götter und Göttinnen, die sich Befriedigung verschafften. Ich setzte mich und starrte gebannt auf die verzerrten Gesichtszüge einer Nymphe, die ein grinsender Satyr gerade von hinten nahm, als der Stellvertreter des Doyens den Raum betrat. »Phedre nö Delaunay«, sprach er mich mit sanfter Stimme an, »seid willkommen. Ich bin Didier Vascon, der Stellvertreter dieses Hauses.« Er trat vor, um mir den Willkommenskuss zu geben, wobei er diese einfache Geste der Höflichkeit irgendwie gefügig wirken ließ; es erregte mich und stieß mich gleichermaßen ab. »Ihr seid also die anguisette.« Er erforschte meine Gesichtszüge und betrachtete nachdenklich den roten Fleck von Kushiels Pfeil. »Wir hätten es erkannt. Sie waren Narren im CereusHaus.« Sein Tonfall verriet eine Spur von Groll. »Es ist ihr Stolz, der sie davon abhält, ihr Unwissen über die Größe von Naamahs Künsten zuzugeben. Habt Ihr je einen Kushiel-Schrein gesehen?« Er stellte die Frage mit neutraler Stimme, und ich wunderte mich außerordentlich über diesen plötzlichen Wandel in seinem Auftreten und den Themawechsel. »Nein, Herr.« Seine Augenlider zuckten nur ganz leicht bei dieser Anrede; du hältst dich für etwas Besseres als mich, sagten sie, aber du hältst mich nicht zum Narren. Laut sagte er nur: »Das dachte ich mir. Wir haben hier einen, viele unserer Freier sind Kushiel geweiht. Möchtet Ihr ihn sehen?« »Ja, bitte.« Er rief nach Dienern mit Fackeln und führte mich einen langen Gang entlang bis zu einer Wendeltreppe, die in die Dunkelheit hinabführte. Man konnte kaum etwas erkennen. Ich heftete den Blick fest auf seinen Rücken, der sich stetig vor mir herbewegte. Das Licht der Fackeln schien durch den 176 177 hauchdünnen weißen Stoff seines Hemds hindurch, und ich konnte seine Striemen erkennen, die sich wie eine Liebkosung um seine Rippen schmiegten. »Hier.« Unten angekommen, öffnete er eine Tür. Der dahinter liegende Raum mit Steinmauern wurde von einem weiteren Feuer erleuchtet und geheizt, das Licht überflutete eine bronzene Skulptur Kushiels. Eluas Gefährte stand erhöht auf einem Podest hinter einem Altar und Opferbecken, einen strengen Blick auf seinem schönen Gesicht, die Geißel und die Rute in den Händen. Ich stand lange da und betrachtete ihn. »Wisst Ihr, warum Kushiel seine Pflichten aufgab, um Elua zu folgen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« »Er war einer der Züchtiger Gottes, auserwählt, den Seelen der Sünder Qualen zuzufügen, damit sie am Ende aller Tage bereuen mögen.« Didier Vascon war nur noch eine geisterhafte Stimme hinter mir. »So behaupten es die yeshuitischen Legenden. Von allen Engeln verstand nur Kushiel, dass der Akt der Züchtigung ein Akt der Liebe war, und die Sünder in seiner Obhut verstanden es ebenfalls und liebten ihn dafür. Er verabreichte ihnen Schmerz wie Balsam, und sie flehten ihn darum an, weil sie darin nicht Erlösung, sondern eine Liebe fanden, die über das Göttliche hinausging. Dem Einen Gott missfiel dies, denn Ihn verlangt es vor allem nach Verehrung, aber Kushiel erkannte in dem Geiste des Heiligen Elua, der uns verkündete: >Liebet, wie es euch gefällt<, einen Funken, dem er folgen wollte.« Mit einem tiefen Schauder seufzte ich auf. Niemand hatte mir diese Geschichte je erzählt, die von Geburt an mein war. Ich fragte mich, wie anders mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn man mich im
Valeriana-Haus erzogen und ausgebildet hätte, und wandte mich zu Didier um. »Fühlt es sich so an?« 178 Er zögerte, bevor er antwortete. »Nein.« Als er antwortete, war seine Stimme ausdruckslos vor widerwilliger Wahrheit. »Aber nur so empfinde ich Lust. Es ist der Dienst, für den ich geboren und ausgebildet wurde. Es heißt, Kushiels Pfeil kennzeichnet seine wahren Opfer. Vielleicht werdet Ihr es so empfinden.« In diesem Moment erkannte ich, dass er neidisch war. »Wie werden die Adepten für diesen Dienst ausgebildet?«, fragte ich ihn, um das Thema zu wechseln. »Kommt.« Er gab den Fackelträgern ein Zeichen, geleitete mich durch eine Tür auf der anderen Seite des Raums und fuhr mit seinen Erklärungen fort, als wir durch die große Steinhalle weitergingen. »Es beginnt mit der Lektion der würzigen Süßigkeiten. Habt Ihr schon davon gehört? Nein? Wir beginnen damit bei den Sechsjährigen. Ein Adept erklärt ihnen, dass die Lust des Geschmacks von dem leichten Schmerz herrühre, den das Gewürz hervorruft. Diejenigen, die das verstehen, behalten wir, die Marques der anderen verkaufen wir an andere Häuser. Danach ist es nur noch eine Frage von Beständigkeit und Konditionierung. Einem Zögling oder Eleven des Valeriana-Hauses ist es nie gestattet, Lust ohne Schmerz oder Schmerz ohne Lust zu empfinden.« Er blieb vor einer weiteren Tür stehen und sah mich eigenartig an. »Ihr habt nie solch eine Ausbildung genossen?« Ich schüttelte den Kopf. Er zuckte mit den Achseln. »Das ist wohl Delaunays Sache.« Er stieß die Tür auf. »Dies ist eine unserer Lustkammern. Wir sind bestrebt, ein geeignetes Umfeld für die besonderen Wünsche aller unserer Freiersleute zu schaffen.« Mehrere Bedienstete waren damit beschäftigt, die Wandleuchter und die Kohlenpfanne anzuzünden. Ich blickte umher und erschauderte wieder. Luxuriöse Teppiche lagen in der 179 Mitte des Raums und waren von gefliesten Gängen umgeben. Die Wände waren ungeschmückt, aber nicht leer; an der einen Wand befanden sich im Stein befestigte Handfesseln und Ketten für die Armund Fußgelenke, an einer anderen ein großes hölzernes Rad mit Klemmen, um einen mit gespreizten Gliedern darauf zu befestigen. »Wir haben eine wechselseitige Vereinbarung mit dem Mandragora-Haus«, erklärte Didier Vascon weiter und beobachtete mich, wie ich die Ausstattung von oben bis unten begutachtete. »Manche der zu uns kommenden Freiersleute finden Gefallen daran, nur zuzusehen, so dass wir einen Geißler und einen Gehilfen bestellen, um die Marter an einem unserer Adepten auszuführen. Und natürlich hat Mandragora manchmal Freier, die zu ihrer Erregung unbedingt einer Erniedrigung beiwohnen müssen, für die wir dann die Objekte zur Verfügung stellen.« Seine Worte hallten entfernt in meinen Ohren. Ich ging in die Mitte des Raums, berührte leicht ein gepolstertes Seitpferd und blickte ihn fragend an. »Hier.« Er war über meine Unwissenheit recht belustigt und drückte mich mit flinker Hand auf dessen Rücken herunter, so dass meine Wange auf dem gepolsterten Leder auflag. »Natürlich würdet Ihr darauf festgebunden werden. Manche Freiersleute haben eine besondere Vorliebe für den Hintern. Das Seitpferd bietet ihrer Zügellosigkeit viele Vorzüge.« Mit puterrotem Gesicht richtete ich mich auf und schnaubte ihn an. »Ich bin nicht hier, um von Eurer Hand ausgebildet zu werden!« Didier zog die Augenbrauen hoch und hob die Hände. »Mögen Eure Freiersleute das Vergnügen haben, Euch zu brechen«, murmelte er. »Mir liegt nichts daran. Aber ich habe ein Entgelt dafür genommen, dass Ihr nicht vollkommen unwissend zu ihnen geht. Kommt hier entlang.« Er winkte mich zu einem Kabinettschrank und fing an, mir die einzelnen Gegenstände zu erklären. »Natürlich stellen wir allerlei Arten von Zubehör zur Verfügung: Halsbänder, Augenbinden, Knebel, Gürtel, wonach auch immer der Freier verlangen könnte. Ringe, Liebeskugeln, aides d'amour, Kneifzangen ...« »Ich wurde im Cereus-Haus aufgezogen«, erinnerte ich ihn und fragte mich, ob er mich für so unbedarft hielt, dass ich noch nie zuvor eine Hodenpresse oder einen geschnitzten Phallus gesehen hatte. «... Kneifzangen«, fuhr er unbeirrt fort, als hätte ich ihn nicht unterbrochen. Er nahm eine der Klemmen und drückte sie mit gehobenen Augenbrauen auseinander. »Diese werden häufig an den Brustwarzen oder Schamlippen befestigt. Benutzt Ihr solche im Cereus-Haus?« »Nein.« Ich zog an einer anderen Schublade, doch sie war verschlossen. Didier nahm einen Schlüssel von der Kette an seiner Hüfte und öffnete sie. Eine Reihe schmalschaftiger, messerscharfer
Stahlklingen hoben sich schimmernd gegen eine rote Samtauskleidung ab; sie glichen den Instrumenten eines Chirurgen, nur dass sie wunderschön waren. »Flechettes«, erklärte er. »Für ihre Benutzung verlangen wir eine Empfehlung und eine Garantie.« Er erschauderte ungewollt neben mir, und seine Stimme veränderte sich. »Ich hasse sie.« Ich stellte mir vor, wie eine anonyme Hand die scharfe Spitze einer Flechette in meine Haut presste, langsam durchzog und eine leichte Blutspur der hellen Klinge folgte. Sie würde sich deutlich gegen meine Haut abheben. Ich löste mich aus meinem Tagtraum und bemerkte, wie Didier mich wieder beobachtete. »Ihr seid wirklich, was man von Euch behauptet, nicht wahr?« Sein Neid war mit einem seltsamen Gefühl des Mitleids 180 181 vermischt. »Ich hoffe, Delaunay überprüft seine Freiersleute sorgfältig. Kommt, ich zeige Euch die oberen Etagen.« Mein Rundgang durch das Valeriana-Haus ging noch einige Zeit durch eine Unzahl von weiteren Räumen weiter; Serailboudoirs, Bäder, ein Lustgarten, königliche Gemächer, ein Harem, ein Thronzimmer, ein Raum voller Schaukeln und Harnische und sogar ein Kinderzimmer, obgleich Didier sich beeilte hinzuzufügen, dass sie sich an die Gesetze der Gilde hielten, was das Mindestalter der Adepten betraf. In der Geißelkammer hielt er einen langen Vortrag über die verschiedenen Arten von Peitschen und Ruten; kurze Reitpeitschen mit Schlaufen, geflochtene Reitpeitschen, Geißeln, Lederziemer und Siebenstriemer, die neunschwänzige Katze und der Ochsenziemer, Birkenruten, Rohrstöcke, Riemen und Klatschen. Natürlich zögen es viele Freiersleute vor, erklärte er mir mit seiner tonlosen Stimme, ihr eigenes Instrumentarium mitzubringen. Während meines gesamten Besuchs traf ich auf keinen einzigen Freiersmann. Diskretion gehörte zu den Grundsätzen des Nachtpalais, aber im Cereus-Haus gab es immer Freiersleute, die es wie einen Salon betrachteten, wo man Freunde und Bekannte traf, um sich ihrer Gesellschaft und an den Diensten Naamahs zu erfreuen. Das Valeriana-Haus zeichnete sich indes durch eine Atmosphäre gedämpfter Heimlichkeit aus. Feste und Feiern würden mit großer Sorgfalt vorbereitet, erläuterte Didier, für auserlesene Gästelisten. Nachdem ich alles gehört und gesehen hatte, war ich froh, zu Delaunay und nicht ins Valeriana-Haus gegangen zu sein. Obgleich es nichts gab, das mich nicht auf irgendeine Weise faszinierte, erschien es mir als ein trostloses Leben, ohne Geheimnisse und die Gefahr - und sogar die verfluchte intellektuelle Strenge -, die ein Leben als Dienerin Naamahs im Hause Anafiel Delaunays versprach. Jeder Funke des Ungehorsams 182 oder der Rebellion war in den Adepten des Valeriana-Hauses seit langem erstickt worden; wie konnte es auch anders sein, wenn ihr Motto Ich unterwerfe mich lautete? Der Mächtige Kushiel wandte sich jedoch nicht den Unterwürfigen zu, sondern denen, die ungehorsam waren und es wagten, die Qualen der Niederwerfung zu erleiden. Dies glaubte ich damals und glaube es noch heute, doch ich kann wohl behaupten, dass ich es zu jener Zeit auch nicht getan hätte, wäre mir nur andeutungsweise bewusst gewesen, wie lang und schwierig der Weg sein würde. Auf jeden Fall könnt Ihr versichert sein, dass ich das Valeriana-Haus wenn auch ohne die Weisheit der Erfahrung, um diesen Glauben zu untermauern, so doch um einiges wissender in den Spielarten meiner Kunst verließ. Ich kehrte voller neu gefundenem Wissen in Delaunays Haus zurück und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass er Gäste zu einem Abendessen in kleiner Runde geladen hatte, in der man von nichts anderem als dem Cruarch von Alba sprach. Doch wenn ich Trost fand, dann in der Tatsache, dass Delaunay bester Laune war und mich aufforderte, ihm auf seinem Sofa Gesellschaft zu leisten. »Wenn du alt genug bist, in den Dienst Naamahs zu treten, hast du es gewiss verdient, an unserer abendlichen Runde teilzunehmen«, erklärte er und klopfte auf das Kissen neben sich. Er war immer noch für den Hof gekleidet und strahlte vor Eleganz sowie dem Rausch guten Weins und guter Unterhaltung. »Du kennst natürlich den Comte de Fourcay... Gaspar, verneigt Euch vor ihr, sie ist jetzt fast eine Frau ... und unsere Dichterin, Thelesis, ich kauere in Eurem Schatten ... das ist Quintilius Rousse aus Eisande, der fähigste Admiral, der je eine Flotte kommandiert hat, und Seigneur Percy von L'Agnace, Comte de Somerville, von dem du schon gehört hast.« Ich weiß nicht mehr, was ich stammelte - zweifellos etwas 183
Unpassendes -, als ich aufstand, um meinen Knicks zu machen. Ich war an Gaspar Trevalion gewöhnt, der fast wie ein Onkel für mich war (sofern meine Vorstellung von Verwandtschaft ging); Thelesis de Mornay schüchterte mich ein, obwohl ich sie schon kannte. Aber die neu Dazugestoßenen ... der Kommandeur der Flotte von Eisande war eine Legende in den drei Nationen, und der Comte de Somerville war ein Prinz von königlichem Geblüt, der den Angriff auf die Skaldi mit Prinz Rolande und Prinz Benedicte angeführt hatte. Man flüsterte, wenn der König je einen Kriegsherrn ernennen müss-te, würde seine Wahl gewiss auf den Comte de Somerville fallen. Da er in einer der Geschichten aus meiner Kindheit vorkam, hatte ich einen Mann so alt wie den König erwartet, aber er war gerade mal fünfzig, kräftig und gesund, mit goldenem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar. Ein leichter Apfelgeruch umgab ihn; ich erfuhr später, dass dies ein Merkmal der Nachfahren Anaeis im Allgemeinen und der Somerville-Familie im Besonderen war. Er lächelte mich wohlwollend an, damit ich mich weniger vor ihm fürchtete. »Delaunays anguisette!«, rief Quintilius Rousse aus und winkte mich zu sich auf das Sofa, das er mit Alcuin teilte. Er nahm meinen Kopf in beide Hände, verpasste mir einen Kuss und ließ mich mit einem Grinsen wieder los. Sein verwittertes Gesicht wurde auf einer Seite von einer wulstigen Narbe nach unten gezogen, wo er von einem gerissenen Ankertau getroffen worden war, aber seine blauen Augen funkelten unerschrocken. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihn gut aussehend oder hässlich fand. »Wie schade, dass ich keinen Gefallen an Schmerz finde, was?« Er tätschelte Alcuins Knie; dieser lächelte ihn heiter an. Ich konnte sehen, dass er den rauen, aber herzlichen Admiral recht gerne mochte. Alcuin schätzte Offenheit. »Ihr seid doch eine Schülerin der Spinne, warum, glaubt Ihr, ließ Älterer Bruder den Cruarch passieren?« Ich brauchte einen Augenblick, um zu erfassen, dass er mit der Spinne Delaunay meinte, und mich daran zu erinnern, dass Älterer Bruder ein Seemannsausdruck für den Gebieter der Meeresstraße war, der über die Drei Schwestern herrschte. »Wenn ich darauf eine Antwort wüsste«, erwiderte ich, während ich mich wieder zu Delaunay setzte und meine Röcke zurechtlegte, »wäre ich nicht die Schülerin, sondern der Lehrer.« Quintilius Rousse brach in schallendes Gelächter aus, und die anderen lachten leise. Delaunay strich mir übers Haar und lächelte. »Quintilius, mein Freund«, warf er ein, »wenn Ihr diese Frage nicht beantworten könnt, wer dann? Außer vielleicht unsere anmutige Muse ...?« Er blickte Thelesis fragend an, die ihren dunklen Kopf schüttelte. »Er ließ mich zum Preis eines Liedes passieren«, erklärte sie, und ihre volltönige Stimme schlug uns alle in den Bann; natürlich, ich erinnerte mich wieder, sie hatte in Alba im Exil gelebt und war sicher deshalb gebeten worden, der Audienz beizuwohnen. »Einmal hin und einmal zurück. Soweit ich es beurteilen kann, wird er von seinen Launen geleitet. Welche Laune konnte der Cruarch von Alba wohl befriedigen? Das ist hier die Frage.« Alcuin räusperte sich. Es war nur ein leises Geräusch, doch alle schenkten ihm ihre Aufmerksamkeit. »Sie sprachen von einer Vision.« Er warf Delaunay einen entschuldigenden Blick zu. »Ich saß nicht weit von der albischen Delegation entfernt, aber es ist schwierig, wortgetreu zu transkribieren und gleichzeitig mitzuhören, Herr. Dennoch vernahm ich etwas von einer Vision der Schwester des Königs. Es ging um einen schwarzen Keiler und einen silbernen Schwan.« 184 185 »Die Schwester des Königs.« Quintilius Rousse verzog das Gesicht. »Heiliger Strohsack, Lyonette? Was führt sie jetzt schon wieder im Schilde?« »Nein, nein.« Alcuin schüttelte den Kopf. »Die Schwester des Cruarch, des piktischen Königs, die Mutter seines Erben.« »Lyonette interessiert sich nicht für sie«, warf Gaspar Trevalion ein, »aber ich habe bemerkt, wie sie die Frau des Cruarch unter ihre Fittiche nahm, oder sollte ich unter ihre Tatzen sagen? Man hatte fast den Wunsch, die arme Frau davor zu warnen, dass sich unter diesen samtenen Pfoten Klauen verbergen.« »Lyonette de la Courcel de Trevalion wäre gut beraten, sich vor solcher Beute zu hüten«, warf Thelesis leise ein. »Die Frau des Cruarch, Foclaidha, stammt von den Brugantii ab, die unter der Ägide des roten Stiers stehen. Die Löwin von Azzalle sollte sich lieber vor ihren Hörnern in Acht nehmen.« »Ihre Söhne sind stramme Burschen«, bemerkte Quintilius Rousse verblüfft. »Habt Ihr bemerkt, wie
groß der älteste war? Auch schien er nicht gerade erfreut, die zweite Geige hinter einem Krüppel spielen zu müssen.« »Ihr bezieht Euch auf den Prinzen der Picti?« Comte de Somervilles Ton hätte als herablassend empfunden werden können, wäre die Zuneigung, die er dem Flottenkommandeur entgegenbrachte, nicht so offenkundig gewesen. »Ein dunkler kleiner Kerl, aber fast gut aussehend unter dem Blau. Schade um das Bein. Wie war noch sein Name?« »Drustan.« Delaunay nannte ihn mit einem Lachen. »Denkt nicht einmal daran, Percy!« »Aber nie im Leben.« Die Augen des Comte de Somerville funkelten vor Freude. »Ihr wisst, ich bin dazu viel zu diplomatisch, alter Freund.« Ich nahm einen kleinen Schluck von meinem Wein, während sich mein Kopf bei dem hohen Niveau der Unterhaltung zu drehen begann. »Malen sie sich wirklich blau an?«, fragte ich. Die Frage klang in meinen eigenen Ohren beklagenswert naiv. »So wirklich wie die Dienerinnen Naamahs ihre Marque verdienen«, antwortete Thelesis de Mornay freundlich. »Die Krieger der Cruithne tragen die Zeichen ihrer Kaste auf ihren Gesichtern und Körpern und lassen sie sich mit blauem Waid von den Nadeln ihrer eigenen Marquisten eintätowieren. Unsere feinen Herren mögen darüber lachen, aber die Musterungen des jungen Drustan legen Zeugnis von seiner Abstammung ab und bescheinigen, dass er sich seine Sporen in der Schlacht verdient hat. Lasst euch nicht von seinem verkrüppelten Fuß täuschen.« »Aber was«, fragte Gaspar Trevalion, »wollen sie?« Nachdem er die Frage in den Raum gestellt hatte, blickte er von Sofa zu Sofa. Niemand wagte eine Antwort. »Sind sie hier, um mit uns Handel zu treiben? Eine Vision zu erfüllen? Schutz vor den Langschiffen der Skaldi zu erbitten? An der Küste Azzalles geht das Gerücht um, die Skaldi hätten versucht, die Nördlichsten Gewässer zu überqueren, um Alba zu plündern, aber was können wir schon dagegen tun? Selbst Quintilius Rousse kann keine Flotte über die Meerenge bringen.« Der Admiral hustete. »Es wird ... auch erzählt ... dass die Schiffe der D'Angelines eine südwestliche Route versucht und dass die Cruithne und die Dalriada ihnen kein herzliches Willkommen bereitet haben. Ich glaube nicht, dass sie nach Schutz auf dem Meer verlangen.« »Handel.« Delaunay ließ einen Finger geistesabwesend über den Rand seines Glases gleiten. »Alle wollen handeln. Es ist eine Form von Macht, von Freiheit. Die Verbreitung einer Kultur ist ihr Garant für Unsterblichkeit. Wie sehr muss es sie 186 187 reizen, über die Meerenge zu blicken und eine unberührbare Welt zu sehen. Dazu wir, das Juwel des Landes, in so greifbarer Nähe und doch so fern. Habt Ihr Euch nie gefragt, warum die Skaldi von jeher unsere Grenzen bestürmen?« Er blickte jäh auf, sein Verstand war jetzt hellwach. »Nein? Wir sind, meine Freunde, von dem Erbe des Heiligen Elua und seiner Gefährten gezeichnet. Unser Land gedeiht, während andere Nationen dahinvegetieren. An die Brust dieses goldenen Landes geschmiegt, leben wir in Saus und Braus in den Tag hinein und ziehen unsere Söhne und Töchter zu unvergleichlicher Schönheit heran -, da fragen wir uns noch, warum wir unsere Grenzen verteidigen müssen. Wir erheben Begierde zu einer Kunstform und schreien pfui, wenn sie ihren blutigen .Widerhall wachruft.« »Wir haben mehr als nur Begierde zu einer Kunstform erhoben«, warf der Comte de Somerville ein, und in seiner Stimme lag eine grimmige, stählerne Mahnung. »Wir verteidigen unsere Grenzen.« »Und ob wir das tun«, pflichtete ihm Quintilius Rousse bei. »Und ob.« Solchen Deklarationen folgt für gewöhnlich eine kampfesfreudige Feierlichkeit; auch damals hörte ich es und habe es seitdem wieder gehört. In ihrer Stille schüttelte Alcuin den Kopf. »Aber der Gebieter der Meeresstraße interessiert sich nicht für den Handel«, beharrte er leise. »Es muss also noch mehr hinter dieser Sache stecken.« Ich habe schon einmal erwähnt, dass Alcuins Gabe, sich Fakten ins Gedächtnis zurückzurufen und rasch Verbindungen herzustellen, die meine weit übertraf. In jener Nacht erkannte ich an Delaunays Gesicht, an seinen geöffneten Lippen eine leichte Überraschung; während jenes Moments wurde mir klar, dass in dieser einen Sache, dieser hellwachen Intuition, der 188 Schüler den Lehrer tatsächlich übertraf. Doch wo Alcuin in die Tiefe ging, blickte Delaunay in die Ferne - und wie immer wusste er von Dingen, die er uns vorenthielt. Damals kam er zu einem folgenschweren Schluss, denn ich beobachtete sein Gesicht, als dieser sich in seinem Geiste formte. »Wie auch immer«, sagte er schließlich, und seine Stimme klang fröhlich, als er nach seiner Lyra griff,
die er so gut wie jeder Edelmann und besser als die meisten spielte. »Heute speist der König mit unserem blau tätowierten Edelmann zu Abend, und Ysandre de la Courcel, die Blume des Reichs, wird einem klumpfüßigen Barbarenprinzen beibringen, die Gavotte zu tanzen. Thelesis, meine liebe Muse, würdet Ihr uns die Ehre eines Liedes erweisen?« Ich glaube, von allen Gästen wusste sie am besten, worum es ihm hier ging; dennoch tat sie ihm den Gefallen und sang in ihrer tiefen, erhebenden Stimme. So verging mein erster Abend als akzeptiertes, nahezu erwachsenes Mitglied von Anafiel Delaunays Haus. Gaspar Trevalion verabschiedete sich nüchtern, während Quintilius Rousse, der viel getrunken hatte, seinen Rausch in Delaunays Gastgemächern ausschlief. Was Alcuin betraf, so achtete er auf ein Nicken Delaunays am Ende der Zusammenkunft und begleitete in jener Nacht den Comte de Somerville. Ich glaube nicht, dass ein Vertrag aufgesetzt worden war, aber der Comte war großzügig, und am nächsten Tag wurde ein Termin mit dem Marquisten vereinbart, um die ersten Linien von Alcuins Marque zu zeichnen, wo seine Wirbelsäule in seinen zarten Hintern überging. 189 Delaunay weilte während des Besuchs des Cruarch von Alba noch zwei weitere Male am Hof, und bei diesen Gelegenheiten ging er allein. Diesmal gab es im Nachhinein auch keine abendliche Gesellschaft, und es wurden keine Mutmaßungen angestellt; falls er noch etwas erfahren hatte, behielt er es für sich. Soweit man sonst in Erfahrung bringen konnte, tauschten der König von Terre d'Ange und der König der Pikten Geschenke und Höflichkeiten aus, anschließend ritt die albische Delegation zur Küste zurück und segelte über die Meerenge, begleitet von böigen Winden, Meeresvögeln und dem offensichtlich guten Willen des Gebieters der Meeresstraße. Nachdem er seine Lehenstreue gegenüber Haus Courcel bekräftigt hatte, kehrte der Comte de Somerville zu seinem Heer und seinen weitläufigen Apfelplantagen zurück. Quintilius Rousse ging, nachdem er unsere Vorräte erschöpft und die Hälfte der Auslese des letzten Jahres getrunken hatte, vergnügt nach Eisande und zu seiner Flotte zurück, und einige Zeit später hörten wir, dass er eine offene Seeschlacht gegen die Schiffe des Kalifen von Khebbel-im-Akkad gewonnen und somit eine Handelsroute für Gewürze und Seidenstoffe aus dem Osten gesichert hatte. Solche Neuigkeiten ließen den Besuch eines Barbarenanführers einer winzig kleinen Insel an Bedeutung verlieren, weswegen es kaum verwundert, dass die Erinnerung an die Pikten schnell verblasste. Das Leben geht schließlich weiter. Natürlich war mir viel daran gelegen, dass mein Leben weiterging, und zwar möglichst bald. Alcuins Erfolg als Lustknabe ersten Ranges hielt weiter an. Das Gerücht der Auktion und seines Jungfernpreises verbreitete sich schnell, und ich glaube, Delaunay erhielt fast täglich Anfragen. Dies entsprach seinen Wünschen; er wollte selektiv auswählen und Nein sagen können, wenn er es wünschte. Doch möchte ich dies eine vorausschicken: Nie ging er mit einem der Freiersleute einen Vertrag ein, bevor er unser Einverständnis eingeholt hatte. Die Wahl, die Delaunay für Alcuins drittes Rendezvous traf, kam einem wahren Geniestreich gleich. Cecilie Laveau-Perrin war die Auktion in Erinnerung geblieben, und so bestellte sie seine Dienste für die Geburtstagsnacht von Mierette nö Orchis, in der sie den Jungen in nichts weiter als rote Bänder gekleidet ihrer Freundin überreichte. Mierettes Lachen, so sagte man, erklang bis unters Dach. Später erklärten es die Leute zu einem brillanten Schachzug, weil es sich hiernach herumsprach, dass Delaunays Protege sogar eine Adeptin des Nachtpalais beflügeln konnte, was im Übrigen auch der Wahrheit entspricht; aber ich bringe einen anderen Grund vor. Von jenem Rendezvous kam Alcuin mit schweren Lidern und einem Lächeln im Gesicht zurück. Er mochte ihr Geschenk gewesen sein, doch war Mierette nö Orchis im Besitz des Geheimnisses, Freude im Akt der Verehrung Naamahs zu schenken. Das ist der Kanon des Orchis-Hauses, 190 191 und dieses Geheimnis teilte sie mit Alcuin. Ich erinnere mich gut daran, zum einen wegen des sanften Lächelns, das Alcuin sich bemühte, Delaunay nicht zu zeigen, und zum anderen wegen des Gesprächs, das unser Herr und Meister an jenem Tag mit mir führte. Er bat mich zu ihm in den Innenhof, an den Ort, wo er am liebsten alle bedeutungsvollen Ereignisse stattfinden ließ. Ich saß mit ernster Miene auf einem der Sofas und harrte seiner Aufmerksamkeit, während er den Säulengang auf und ab schritt, die Hände im Rücken verschränkt.
»Du weißt, ich habe Anfragen erhalten, Phedre«, begann er, ohne mich dabei wirklich anzusehen. »Anfragen, die dich betreffen.« »Nein, Herr.« Es stimmte; weder er noch sonst jemand hatte auch nur ein Wort darüber fallen lassen, obgleich mein eigener Geburtstag schon einige Wochen zurücklag. Ich fragte mich, ob Alcuin davon gewusst hatte, und beschloss, ihn ordentlich durchzuschütteln, sollte ich herausfinden, dass es so war. »0 ja, in der Tat. Schon seit Alcuins Debüt.« Er sah mich nun von der Seite an. Es war noch früh am Abend, und die langen Sonnenstrahlen brachten den topasfarbenen Schimmer in seinen grauen Augen zur Geltung. Mir fiel es schwer, mich auf das zu konzentrieren, was er sagte. »Ich hatte den Eindruck, du würdest es nicht übel nehmen, wenn ich eines dieser Angebote annähme.« Dies erregte meine Aufmerksamkeit. »0 Herr!« Ich atmete tief durch und wagte kaum, daran zu glauben. Ich hatte schon angefangen zu denken, dass mein heranreifender Körper unberührt an der Rebe verdorren musste. »Nein, Herr, ich würde es ... nicht übel nehmen.« »Das dachte ich mir.« Diesmal lag Belustigung in seinem 192 Blick. »Aber es gibt da etwas, das wir zuerst klären müssen. Du brauchst ein Signale.« Dieses Wort stieß auf verständnislose Ohren. »Herr?« »Didier hat dir nichts darüber erzählt?« Er setzte sich. »Es handelt sich um eine Vorsichtsmaßnahme, die das Valeriana-Haus ersonnen hat. Ich habe mich lange mit seinem Doyen besprochen, um zu erfahren, was von Notwendigkeit ist. Gelegentlich gehen die Freiersleute im Sinnestaumel zu weit. Du weißt, dass Protest Teil des Spiels ist, oder? Das Signale geht darüber hinaus. Wird dieses ausgesprochen, ist das Spiel gänzlich beendet. Du musst eines haben, Phedre.« Sein Blick wurde ernst. »Wenn die Freiersleute sich über das Signale hinwegsetzen, machen sie sich der Häresie schuldig. Es schützt dich also vor Verletzungen, vor der Entweihung des Grundsatzes des Heiligen Elua. Man sagte mir, es sei am besten, ein Wort auszuwählen, das nicht als Liebesspiel missverstanden werden kann. Möchtest du darüber nachdenken?« Ich schüttelte den Kopf; das Wort kam mir in den Sinn, ohne zu überlegen. »Hyacinthe.« Es war das erste und vielleicht das einzige Mal, dass ich Delaunay verblüfft sah. »Der Tsingano?« Hätte er nicht vor mir gesessen, hätte ich seine Überraschung an seiner Stimme erkannt. »Das ist das Erste, was dir in den Sinn kommt, wenn du an Schutz denkst?« »Er ist mein einziger Freund.« Stur hielt ich dem Blick meines Lehrers stand. »Alle anderen verlangen etwas von mir, selbst Ihr, Herr. Wenn Ihr wünscht, dass ich ein anderes auswähle, werde ich es tun. Aber Ihr habt gefragt, und das ist meine Antwort.« »Nein.« Nach einem kurzen Augenblick zuckte er mit den Schultern. »Warum nicht? Es ist keine schlechte Wahl. Niemand braucht zu wissen, dass du von dem unehelichen Kind 193 einer Tsingani-Wahrsagerin sprichst. Ich werde es in deinen Vertrag aufnehmen lassen und dafür sorgen, dass deine Freiersleute darüber in Kenntnis gesetzt werden.« Ich konnte sehen, dass ihn meine Worte nachdenklich gestimmt hatten, und fragte mich, ob er nicht sogar ein wenig eifersüchtig war. Zumindest hoffte ich es, wagte jedoch nicht, die Sache weiter zu verfolgen. »Von wem kamen die Anfragen?«, erkundigte ich mich stattdessen. »Und auf wessen Angebot seid Ihr geneigt einzugehen, Herr?« »Es gab etliche Angebote.« Delaunay stand auf und schritt wieder auf und ab. »Die meisten wurden indirekt durch Dritte und Vierte an mich weitergegeben, wie es häufig üblich ist, wenn es um besondere ... Talente ... wie die deinen geht. Ein Angebot ausgenommen.« Ein Runzeln kräuselte seine Stirn. Er blickte mich widerwillig an. »Childric d'Essoms kam persönlich auf mich zu, um mir ein Angebot zu unterbreiten.« Ein Name und das passende Gesicht dazu. Ich spürte, wie sich mein Körper anspannte, doch ich fragte lediglich: »Warum sollte er das tun? Er hasst Euch, und er kennt Euer Spiel, Herr. Er hat bei Alcuins Auktion nur mit geboten, um die anderen zu reizen.« »Das ist Teil des Ganzen. Er ist vernarrt in den Anblick von Schmerz.« Er setzte sich wieder. »D'Essoms ist ein Jäger. Er spielt liebend gerne, und er ist ein kluger Spieler, klug genug, um zu wissen, dass du als Falle gedacht bist. Er glaubt, er könne den Köder schlucken und sich des Hakens entziehen, und er will, dass ich es weiß. Er ist zu arrogant, um sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, einen Preis wie dich zu fordern und mir dabei gleichzeitig einen Stoß zu versetzen.« »Was wollt Ihr von ihm?« Eine ganz einfache Frage, doch unglaublich bedeutungsschwer. Abgesehen
davon, ihm Lust zu verschaffen und den Anblick von Schmerz zu bieten, war dies 194 meine Aufgabe; dies war der Grund, warum Delaunay meine Marque gekauft hatte. Auch wenn er uns das größere Ziel dahinter nicht nannte, hatten Alcuin und ich schon lange erkannt, dass er uns vor allem für das schätzte, was wir in Erfahrung bringen konnten. »Jede Neuigkeit, die er preisgeben könnte«, erwiderte Delaunay grimmig. »D'Essoms nimmt im Kanzleigericht einen hohen Rang ein. Es gibt keine Bewilligung, keinen Vertrag, keine Ernennung, die nicht irgendwann über seinen Schreibtisch geht. Er weiß, wer wofür eine Bittschrift eingereicht hat und was im Austausch dafür abgetreten worden ist. Er weiß, wer auf welchen Posten berufen werden wird und warum. Und er weiß sehr wahrscheinlich, wer vom Tod Isabel L'Envers profitierte.« »Und Edmee de Rocaille?« Ich erschauderte innerlich, als ich die erste Verlobte des Prinzen Rolande nannte. Delaunay sah mich scharf an. »Isabel L'Envers profitierte von Edmee de Rocailles Tod«, erwiderte er sanft, »ebenso Childric d'Essoms, denn er erhielt seine Berufung nicht lange, nachdem sich Isabel mit Rolande vermählte. Du fragst, was ich gerne wissen möchte? Ich möchte wissen, wer jetzt D'Essoms Fäden in der Hand hält. Isabel ist tot. Wem dient er also und zu welchem Zweck? Finde das für mich heraus, Phedre, und ich werde dir viel zu verdanken haben.« »Wie Ihr wünscht, Herr.« Ich war entschlossen, es zu tun, und wenn es mich umbrachte. In jenen Tagen war ich tatsächlich immer noch so naiv, nicht in Betracht zu ziehen, wie real diese Möglichkeit wirklich war. »Dann willigst du in dieses Angebot ein?« Ich wollte gerade Ja sagen, hielt dann aber inne. »Wie hoch ist die Summe?« Delaunay lächelte über meine Frage. »Du bist ein wahres 195 Kind des Nachtpalais, Phedre. Viereinhalbtausend.« Als er meinen Gesichtsausdruck sah, verschwand sein Lächeln. »Meine Liebe, Alcuins Jungfernpreis wäre niemals so hoch gewesen, wäre er nicht versteigert worden, und ich fürchte, die Freiersleute, die du anziehst, gehören nicht zu denen, die ihre Neigungen in der Öffentlichkeit kundtun. Wenn du von Kushiels Pfeil so wahrhaftig getroffen worden bist, wie ich glaube, wird die Erfahrung deine Gabe nur noch weiter verfeinern. Dein Preis wird mit der Zeit steigen und nicht sinken.« Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und sah mich aufrichtig an. »Alcuin muss auf den Vorzug seiner Einzigartigkeit setzen, und um sie zu bewahren, darf er nur selten einen Vertrag eingehen. Sein Debüt äußerst hoch anzusetzen war notwendig. Aber du, Phedre ... das Valeriana-Haus weiß seit Menschengedenken von keiner anguisette. Es ist tatsächlich schon so lange her, seit die Welt deinesgleichen gesehen hat, dass sogar Cereus, die Königin der Häuser, deine Natur nicht erkannt hat. Dies eine verspreche ich dir: Solange du lebst, wirst du einzigartig sein.« Ich hätte wieder sieben Jahre alt sein und im Empfangszimmer der Doyenne stehen können, wo Delaunay mich mit vier Verszeilen von einem wenig geschätzten Bastard zu einer Auserwählten der Gefährten Eluas machte. Ich wollte weinen, aber Delaunay machte sich nichts aus Tränen. »Childric d'Essoms wird auf seine Kosten kommen«, erwiderte ich stattdessen. »D'Essoms wird mehr bekommen, als er ausgehandelt hat.« Mein Lehrer blickte mich streng an. »Ich möchte, dass du vorsichtig bist, Phedre. Versuche nichts, frage ihn nichts. Lass ihn den Haken schlucken und glauben, er hätte diesen Sieg über mich errungen. Wenn alles gut geht, wird er ein drittes, ein viertes Mal nach dir verlangen. Bis dahin riskiere nichts. Verstehst du?« »Ja, Herr. Und wenn es schlecht läuft?« 196 »Wenn es schlecht läuft, werde ich dir die Hälfte der Vertragssumme für deine Marque geben, und du musst ihn nie wieder sehen.« Delaunay kniff mich recht heftig in den Arm. »Phedre, du wirst unter keinen Umständen zögern, das Signale zu geben. Ist das klar?« »Ja, Herr. Hyacinthe.« Ich sagte es absichtlich ein zweites Mal, nur um ihn zu ärgern. Aber er ignorierte es. »Außerdem gelten dieselben Regeln wie immer. Du wirst deine Bildung nicht preisgeben. Soweit d'Essoms informiert ist, hast du alle deine Fähigkeiten im Nachtpalais erworben.« »Ja, Herr.« Ich hielt inne. »Ihr habt Alcuin mit an den Hof genommen, um die albische Unterredung zu transkribieren.« »Ach, das.« Über Delaunays Gesicht breitete sich sein unerwartetes Grinsen aus. »Ich sagte, er habe
eine schöne Handschrift. Ich verriet niemandem, dass er Cruithne spricht. Alle außer dem König denken, dass Alcuin nur das verstand, was ich ihm übersetzte. Und unser schöner Sekretär wurde an jenem Tag von mehreren interessierten Machthabern in Augenschein genommen.« So interessant diese Neuigkeit auch war, faszinierte mich doch vielmehr die Tatsache, dass Delaunay tatsächlich durchblicken ließ, Ganelon de la Courcel, König von Terre d'Ange, sei über seine Pläne informiert. Ich wünschte, ich könnte das Gleiche von mir sagen. Aber »Ich werde vorsichtig sein, Herr«, war alles, was ich laut aussprach. »Gut.« Er stand auf und sah zufrieden aus. »Dann werde ich die Vorbereitungen treffen.« 197 Am Tag meines ersten Rendezvous war Delaunay, so schwöre ich, nervöser als ich. Sogar um Alcuin hatte er nicht so viel Aufhebens gemacht. Später, als ich meine Kunst besser beherrschte, verstand ich auch Delaunay besser. So weitreichend und anspruchsvoll sein Wissen und seine Vorlieben auch sein mochten, gab es dennoch eine Schwelle, die seine eigenen Begierden nie übertraten. Wie viele Leute wusste er, dass ein Hauch an Dominanz dem Liebesspiel etwas mehr Würze verleihen konnte, aber auch nicht mehr als ein Hauch. Da er die Begierden anderer so sorgfältig studierte, vergaß man schnell, dass es sich dabei um ein rein intellektuelles Verständnis handelte. In seinem tiefsten Innern konnte er aber nicht nachvollziehen, was es bedeutete, die Berührung der Peitsche wie einen Kuss zu erflehen. Daher seine Nervosität. Als ich dies durchschaut hatte, liebte ich ihn dafür nur umso mehr; obgleich ich ihm natürlich schon längst verziehen hatte. Es gab nichts, das ich Delaunay nicht verzeihen würde. 198 »So«, hauchte er, als er sich zu mir vor den großen Spiegel stellte und eine widerspenstige Locke meines Haars zurücksteckte. »Du siehst gut aus.« Er legte die Hände auf meine Schultern, und ich sah in den Spiegel. Meine Augen erwiderten den Blick, dunkel und schimmernd wie Bister, das mit Ausnahme des scharlachroten Flecks von eines Künstlers Stift verwischt worden war. In meinem Spiegelbild funkelte der Fleck in meinem rechten Auge so lebhaft wie ein einzelnes Rosenblütenblatt, das auf ruhigen Wassern schwimmt. Delaunay mochte den Anblick meines Haars, das in dem seidenen Haarnetz gefangen war, seine Fülle in Zaum gehalten. Die Strähnen ließen sich davon kaum bändigen und lasteten schwer gegen das Geflecht, wobei sie die zarte Form meines Gesichts und die elfenbeinfarbene Blässe meiner Haut noch unterstrichen. Es gilt als vulgär, die Jugend zu schminken, und so hatte mein Lehrer mir nur einen Hauch Karmesin auf den Lippen erlaubt. Ähnlich dem Fleck in meinem Auge, stachen sie so lebhaft hervor wie Rosenblütenblätter. Ich konnte mich nicht erinnern, je einen solch sinnlichen Schmollmund an mir gesehen zu haben. Was meine Kleidung betraf, hatte sich Delaunay für Schlichtheit entschieden; doch dieses Mal war das Kleid aus rotem Samt, einem dunklen und satten Farbton. Das Mieder schmiegte sich an meine Gestalt, und ich bemerkte mit Freude, wie meine Brüste, weiß und verführerisch, aus dem Ausschnitt hervorlugten. Eine Reihe winzig kleiner schwarzer Knöpfe zierte den Rücken. Ich fragte mich, ob Childric d'Essoms sie aufknöpfen oder auseinander reißen würde. Im Nachtpalais würde man ihm dies in Rechnung stellen, aber ich bezweifelte, dass Delaunay solche Banalitäten in seine Verträge aufnahm. Das Mieder saß tief auf meinen Hüften, um meine schmale 199 Taille und meinen flachen Bauch zu betonen. Mir gefiel der jugendliche Reiz meines Körpers, und ich war glücklich darüber, dass er noch besser zur Geltung gebracht wurde. Der Stoff schmiegte sich eng um meine fülligen Hüften und fiel in geraden Falten herab, unerwartet schlicht, abgesehen von der Farbe und dem prächtigen Gewebe. »Dir gefällt, was du siehst«, bemerkte Delaunay amüsiert. »Ja, Herr.« Ich sah keinen Grund, mich zu verstellen; mein Aussehen war sein Kapital. Ich drehte mich und reckte den Hals, wobei ich mir vorzustellen versuchte, wie ich von hinten aussehen würde, wenn ich meine Marque vollendet hätte und die Linien der Kreuzblume über den Rand des Stoffes hervorschauten, um meinen Nacken zu schmücken. »Mir gefällt es auch. Hoffen wir, dass Childric es genauso empfindet.« Delaunay nahm die Hände von meinen Schultern. »Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte er, während er zu seinem Schrank ging. »Hier.« Er kam zurück und legte mir, wo seine Hände geruht hatten, einen Umhang mit Kapuze um die Schultern. Er war aus Samt, mit Seide gefüttert und von einem weit tieferen Rot als mein Kleid,
ein so dunkles und sattes Rot, dass es fast schwarz erschien, die Farbe von Blut, das in einer mondlosen Nacht vergossen wurde. »Die Farbe wird sangoire genannt«, erklärte er und beobachtete mein Gesicht, als ich sein Geschenk entgegennahm. »Wie mir Thelesis erzählte, wurde im siebten Jahrhundert nach Elua verfügt, dass nur anguisettes sie tragen dürften. Ich musste bis nach Firezia schicken lassen, um Färber zu finden, die noch wussten, wie man die Rezeptur dafür herstellt.« Der Umhang war wunderschön; wirklich und wahrhaftig schön. Ich weinte bei seinem Anblick, und dieses Mal schmähte Delaunay mich nicht dafür, sondern nahm mich in die Arme. 200 Wir sind D'Angelines; wir wissen, was es heißt, beim Anblick von Schönheit zu weinen. »Sei vorsichtig, Phedre«, raunte er. Seine Stimme ließ mich bis in die Haarspitzen erschauern. »Childric d'Essoms wartet auf dich. Vergiss nicht dein Signale, und denk daran, dass Guy dort sein wird, falls irgendetwas schief gehen sollte. Ich würde dich nicht ohne Schutz in das Haus meines Feindes schicken.« Mein Blut raste bei der Berührung seiner Arme, die mich umschlangen, und ich drehte mich in ihnen, um sein Gesicht zu suchen. »Ich weiß, Herr«, flüsterte ich. Aber Delaunay löste die Umarmung und wich einen Schritt zurück. »Es wird Zeit«, sagte er und sein Ausdruck wurde distanziert und zurückhaltend. »Geh, und möge der Segen Naamahs dich beschützen.« So machte ich mich auf den Weg zu meinem ersten Rendezvous. Es war schon dunkel, als die Kutsche losfuhr. Guy, tadellos in Livree, saß mir gegenüber stumm auf den Polstern, und auch ich sprach nicht zu ihm. D'Essoms Haus war klein, aber in nächster Nähe zum Palast gelegen; er hatte im Palast eine Suite mit mehreren Gemächern, wie ich später erfuhr, aber er zog es vor, seine eigenen Unterkünfte für Tändeleien dieser Art zu unterhalten. Der Diener, der die Tür öffnete, schien überrascht, mich in Begleitung von Guy zu sehen, was er mit einem überheblichen Naserümpfen bekundete. »Hier entlang«, sagte er zu mir und wies mir die Richtung. Dann wandte er sich an Guy: »Ihr könnt indes im Dienstbotentrakt verweilen.« Als hätte er nichts gesagt, ging Guy nach vorn und verbeugte sich knapp und elegant vor mir; ich hatte nicht gewusst, dass er zu solch höflichem Gebaren fähig war. »Meine Herrin Phedre nö Delaunay«, verkündete er mit seiner ausdruckslosen 201 Stimme, wobei er die Aufmerksamkeit des Dieners auf sich zog und bannte. »Sie wird von Seigneur d'Essoms erwartet.« »Aber natürlich.« Völlig durcheinander streckte er den Arm aus. »Gnädigste ...« Guy stellte sich blitzschnell zwischen uns. »Ihr werdet ihren Umhang nehmen«, wies er den Diener sanft an. Ob es nun Delaunays Art war, die er angenommen hatte, oder die Überreste seiner Ausbildung bei der Cassilinischen Bruderschaft, es bezwang d'Essoms Diener, wie es vor langer Zeit den adligen Jüngling bezwungen hatte. »Ja. Ja, natürlich.« Der Mann schnippte mit den Fingern und gab einer verwunderten Magd, die der Anweisung folgte, hektische Zeichen. »Nimm den Umhang der Dame«, herrschte er sie an. Ich löste den Verschluss und ließ den Stoff von den Schultern fallen. Er glitt prächtig und prunkvoll in die wartenden Hände. Delaunay wusste, was er tat. D'Essoms Diener hielt bei dem Gewicht des samoirefarbenen Umhangs die Luft an und reichte ihn der Magd, die verstohlen den Flor des dichten Samts streichelte, als sie ihn vorsichtig über den Arm faltete. Ich reckte den Kopf, während ich ihre neugierigen Blicke entgegennahm und erwiderte, und ließ sie meines purpurrot gezeichneten Auges gewahr werden. Edelleute klatschen, doch ebenso die Dienerschaft. Der erste Eindruck zählt. »Hier entlang, Herrin«, wiederholte D'Essoms Diener noch einmal, doch in seiner Stimme klang Respekt, als er den Arm ausstreckte. Ich nahm es wohlwollend zur Kenntnis und erlaubte meinen Fingerspitzen nur ganz leicht über seinen Arm zu streifen. In dieser Art und Weise geleitete er mich zu Childric d'Essoms. Seine Exzellenz wartete in seinem Trophäenzimmer. Jedenfalls nannte ich den Raum am Ende so; wie er ihn bezeichnete, 202 habe ich nie erfahren. An zwei Wänden befanden sich Fresken, die Jagdszenen darstellten. Die dritte Wand wurde von einem Kamin eingenommen, in dem ein Feuer brannte und über dem das Wappen der d'Essoms und eine ganze Palette an Waffen hing.
An der letzten Wand stand etwas anderes. Childric d'Essoms sah genauso aus, wie es mir an Cecilies Feier aufgefallen war; zu einem strammen Zopf geflochtenes Haar, dazu die schmalen Augen eines Raubvogels. Er trug ein in gedämpften Farben gehaltenes Brokatwams, Beinkleider aus Baumwollsatin und hielt ein Glas Likör in der Hand. »Lasst sie, Philipe«, sagte er abschätzig. Sein Diener verbeugte sich und schloss die Tür hinter mir, als er hinausging. Ich war mit meinem ersten Freiersmann allein. Mit großen, schnellen Schritten schloss er die Lücke zwischen uns. Nahezu gleichgültig hob er seine freie rechte Hand und schlug mir ins Gesicht. Ich taumelte seitwärts, den Geschmack von Blut im Mund, und erinnerte mich wieder an die tödliche Genauigkeit, mit der er seine letzten Tropfen bei dem Kottabos-Spiel hinweggeschleudert hatte. Immer noch hielt er das Glas Likör in der Hand, ohne einen einzigen Tropfen verschüttet zu haben. »In meiner Gegenwart wirst du auf die Knie gehen, du Hure«, bemerkte er gelassen. Ich kniete nieder, abeyante, und meine roten Samtröcke breiteten sich auf den Fliesen um mich herum aus. Trotz des Feuers waren sie kalt. Ich beobachtete die polierten Stiefel meines Freiersmanns, als er um mich herumging. »Warum schickt Anafiel Delaunay eine anguisette, um meinesgleichen zu ködern?«, fragte er und trat hinter mich. Ich spürte, wie er seine Hand in meine im Netz gefangenen Locken vergrub, als er meinen Kopf mit einem Ruck nach hinten zerrte, 203 und blickte zu seinen zusammengekniffenen, glänzenden Augen auf. Mein Hals fühlte sich verletzlich und ungeschützt an. »Ich weiß nicht, Herr«, flüsterte ich mit vor Angst bebender Stimme. »Ich glaube dir nicht.« Er presste seinen Schenkel fest gegen meinen Hinterkopf und ließ die Hand hinuntergleiten, um meinen Hals zu umfassen. »Sag mir, Phedre nö Delaunay, was dein Herr von mir will. Glaubt er, man könne mich so leicht in die Falle locken, hm?« Er unterstrich seine Worte mit einem Ruck. »Meint er, ich würde meine Geheimnisse in beiläufigem Bettgeflüster mit einer gemieteten Hure ausplaudern?« Wieder zuckten seine mich umklammernden Finger. Er drückte auf die Stelle, wo mein Puls schlug, und schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen. »Ich ... weiß ... nicht.« Ich flüsterte die Worte noch einmal, und eine seltsame melancholische Sehnsucht durchströmte meinen Körper, als mir allmählich die Sinne schwanden. Mit letzter Kraft wandte ich den Kopf um und spürte die Muskeln seines Schenkels unter meiner Wange. Mein Atem schien heiß und schwer. »Elua!« D'Essoms erstarrte, als er das Wort aushauchte. Er lockerte den Griff um meinen Hals und nahm meinen Hinterkopf in die Hand. »Du bist es wirklich, nicht wahr?« Ich bemerkte Verwunderung und Belustigung in seiner Stimme; er ist sich nicht sicher gewesen, dachte ich, und vermerkte die Tatsache, dass es ihm über viertausend Dukaten wert gewesen war, dennoch einen Sieg über Delaunay für sich in Anspruch zu nehmen. »Dann beweis es, kleine anguisette, so wie du bist, auf den Knien. Befriedige mich.« So sprach er, aber es hätte seiner Worte nicht bedurft. Ich wandte mich schon auf Knien um, ergriff mit befreiten Händen seine Stiefel und ließ meine Handflächen über das glatte Leder nach oben gleiten. Ich wusste, was er wollte, kannte seine 204 Begierde so sicher wie das Meer den Gezeitendrang des Mondes. Die Muskeln seiner Schenkel zuckten unter meinen gleitenden Händen. Mit einem Fluch schleuderte er sein Glas zur Seite. Ich hörte, wie es irgendwo zerschmetterte, als meine Fingerspitzen sanft über seinen steifen Phallus strichen, der gegen den Stoff seiner Hose drückte. Er grub beide Hände in mein Haar, während ich die Knöpfe löste. Die Kunst des languisements ist ebenso alt wie raffiniert, und ich schäme mich, zugeben zu müssen, dass ich keine ihrer Annehmlichkeiten anwendete. Doch das gehört wiederum nicht immer zum Wesen meiner Kunst. D'Essoms stöhnte, als sein Phallus hervorschnellte und seine Spitze meine geteilten Lippen streifte. Seine Hände umklammerten meinen Kopf und drängten mich, ihn bis zum Schaft in den Mund zu nehmen. Ach, wenn er nur gewusst hätte! Ich nahm ihn begierig an, Lippen und Zunge arbeiteten wie rasend und setzten endlich das Wissen Tausender Unterrichtsstunden und mehr in die Tat um. Er stöhnte erneut, als er zum Höhepunkt kam, stieß mich von sich und riss das Netz von meinem Haar. Mit ausgestreckten Gliedern fiel ich nach hinten, während mein Haar in wilder Unordnung um meine
Schultern wallte. Childric d'Essoms kam auf mich zu. »Hure!«, schrie er und schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht. Ich leckte mir die Lippen und schmeckte Blut gemischt mit seinem Samen. »Unwürdiger Bastard Naamahs!« Ein weiterer Schlag traf mich. Ich blickte durch die Haare, die mir in die Augen fielen, und sah, wie sein Phallus sich erneut aufrichtete. Mit einem Schauer gewann d'Essoms wieder die Kontrolle über sich. »Steh auf«, befahl er, wobei er die Worte nur mühsam ausstieß. »Zieh dich aus.« Ich erhob mich, griff mit zitternden Fingern nach hinten und begann, die schwarzen Bernsteinknöpfe einen nach dem 205 anderen zu öffnen. D'Essoms beobachtete mich mit zusammengekniffenen Augen. »Da«, sagte er harsch und zeigte auf ein Lager aus Kissen. Ein weißes Stück Stoff war darüber ausgebreitet. »Ich möchte ein neues Wappen schaffen, zu Ehren von Anafiel Delaunay.« Als ich das rote Samtkleid zu Boden gleiten ließ, stieß er mich nach hinten, so dass ich nackt auf das Lager stolperte. »Ich habe deinen Jungfernpreis bezahlt«, erklärte d'Essoms drohend, während er auf mich zukam. »Bete, dass du deinen Herrn nicht hintergangen hast, und verleihe mir das Siegesabzeichen, Phedre. Auf den Rücken.« Er pirschte sich wie ein wildes Tier an mich heran, während er die Kleider von sich warf, ragte über mir und zwang meine Beine über seine Schultern. Ich weiß nicht, wie es für andere Frauen ist. Hier gab es kein Vorspiel, wie ich es bei der Vorführung im Camellia-Haus gesehen hatte; doch was mich betraf, war ich bereit, so bereit wie noch keine andere Adeptin für ihre erste Vereinigung. Mit einer flüssigen Bewegung durchbohrte mich d'Essoms bis ins Innerste, und während ich auch vor Schmerz aufschrie, schwebte das Gesicht Naamahs vor meinem Blick, und ich stöhnte vor Lust auf. Wieder und wieder stieß er in mich hinein, und ich spürte, wie sich mein Körper seinen Händen fügte, während Wogen des Schmerzes und der Lust mir entgegenschlugen, wie die Schwingen von Naamahs Tauben im Tempel. Er war Delaunays Feind, und ich hätte ihn hassen müssen. Ich bemerkte, dass ich die Arme eng um seinen Hals geschlungen hatte, und ich schrie seinen Namen, als er in mir kam. Dies mochte ihn ernüchtert haben. Ich weiß es nicht. Er entzog sich und atmete schwer neben mir, während er endlich 206 sein Haar aus der Enge des Zopfes löste. Er sah besser aus, wenn ihm das Haar lose über die Schultern fiel. »Das zumindest ist mein.« Er zog das Stück weißer Seide unter mir hervor, auf dem der leuchtend rote Fleck meines jungfräulichen Blutes zu sehen war. Seine räuberischen Augen waren seltsam ruhig. »Du weißt, was ich wünsche, Phedre?« »Ja, Herr«, flüsterte ich. Gehorsam erhob ich mich von seinem Lager und ging zu der Vorrichtung an der vierten Wand; der letzten Wand. Man brauchte mir nichts zu erklären. Ich stellte mich mit gespreizten Beinen an das Andreaskreuz, seinen Schandpfahl. Als er die Riemen an meinen Hand- und Fußgelenken befestigte, spürte ich seinen Atem auf meiner Haut. Das grobe Holz des Kreuzes rieb meine Hüftknochen wund. »Du bist das wunderbarste Geschöpf, das ich je gesehen habe«, murmelte er und zog die Fesseln stramm, mit denen er mein linkes Handgelenk band. Meine Finger spreizten sich in verängstigtem Protest auseinander. »Sag mir, was Delaunay will.« »Ich weiß es nicht.« Ich stöhnte auf, als er heftig an meinem rechten Fußgelenk zerrte und es an das Kreuz band. »Wirklich?« Er stand auf und sein Atem kitzelte mein Ohr. Ich spürte, wie die schleifenden Enden einer Peitsche meine Lenden liebkosten. »Ich schwöre es!« Dann begann die Peitsche hinabzusausen. Ich konnte nicht mitzählen, wie oft. Es war nicht wie bei meiner Bestrafung durch den Züchtiger der Doyenne, als ich noch ein Kind war, denn es gab keinen Fürsprecher, keine Begrenzung der Hiebe. Ich weiß nur, dass ich mich gegen das raue Holz wand und flehte, und immer noch prasselten die Peitschenhiebe gnadenlos auf mich herab, die Childric d'Essoms' 207
Hass auf meinen Herrn Ausdruck verliehen. Einmal gab ich auf und ließ mich in meinen Fesseln sacken, ohne Widerstand zu leisten; daraufhin kam er zu mir, griff mir zwischen die Beine und erregte mich mit den Fingern, bis ich ihn gedemütigt um eine Erlösung anderer Art anflehte. Dann fielen die Peitschenhiebe erneut. Endlich ermüdete sein Arm, und er stellte sich noch einmal hinter mich. Ich spürte, wie seine Finger meine Pobacken auseinander spreizten. »Ich habe Anafiel Delaunay einen Jungfernpreis gezahlt«, flüsterte er mir ins Ohr. Ich spürte, wie das stumpfe Ende seines Penis in meinen Anus eindrang, und grub die Finger in das grobe Holz des Kreuzes. Splitter glitten unter meine Nägel. »Und ich werde ihn bis zum letzten Centime auskosten.« Genau das tat er auch. 208 17 Cecilie kam danach zu Besuch und nahm mich auf einen Ausflug zu einem Heiligtum Naamahs mit, das einige Meilen vor der Stadt lag und für seine heißen Quellen berühmt war. Nach so vielen Jahren als ihre Schülerin war es seltsam, mit ihr wie unter fast Gleichgestellten zu verkehren, aber sie war liebenswürdig wie immer, und jegliche Verlegenheit zwischen uns war schnell verflogen. Die Frühlingsluft war noch recht kühl, aber die Sonne schien warm und hell, und es tat gut, zu sehen, wie die zartgrünen Triebe neuen Lebens überall aus der Erde schössen, als wir über Land fuhren. Die Priesterinnen und Priester Naamahs hießen uns im Tempel herzlich willkommen, und obgleich sie diskret waren, glaube ich wohl, dass sie den Namen von Cecilie Laveau-Perrin erkannten. »Schließlich«, erklärte meine Begleiterin im Badehaus, während sie anmutig in eine der Roben schlüpfte, die man uns gegeben hatte, »sind wir Dienerinnen Naamahs, meine Liebe. Wir können uns sehr wohl die Annehmlichkeiten gönnen, die uns von Nutzen sind.« 209 Die heißen Quellen sprudelten in felsigen Becken, über denen Dampfwölkchen in die Luft aufstiegen. Nur wenige frühe Blumen blühten, unerschrocken und blass, aber man konnte schon das Zwitschern von Vögeln vernehmen, welche die baldige Ankunft des Sommers verhießen. Ich folgte Cecilie vorsichtig über die Felsen und tat es ihr gleich, als sie aus ihrer Robe schlüpfte und in das warme, leicht prickelnde Wasser eintauchte. »Ahhh.« Sie seufzte vor Vergnügen und machte es sich auf den Felsen bequem, die schon vor langer Zeit vom Wasser und den sich aalenden Körpern unzähliger Badender glatt geschliffen worden waren. »Es heißt, die Wasser hätten heilende Kräfte, weißt du. Komm, lass mich mal sehen.« Sie begutachtete die Striemen auf meinem Rücken, den ich ihr gehorsam zuwandte. »Sie sind nicht tief. In einer Woche werden sie nicht mehr zu sehen sein. Ich habe gehört, Childric d'Essoms liebe, als jage er einen Keiler. Stimmt das?« Ich dachte daran, wie er seinen Penis einem Speer gleich geschwungen hatte, und hätte fast aufgelacht. »Wahrlich, es stimmt«, erwiderte ich. Die Wärme des Wassers begann in meine Knochen zu sickern, erfüllte meine Glieder mit einer angenehmen Mattigkeit und ließ die leichten Schmerzen, die d'Essoms meinem Fleisch zugefügt hatte, zu einer lieblichen, wohligen Pein werden. »Zumindest macht ihn seine Rage leidenschaftlich.« »Gibt es irgendetwas, auf das dich mein Unterricht nicht vorbereitet hat?« »Nein«, antwortete ich wahrheitsgetreu und schüttelte den Kopf. »Seigneur d'Essoms wünschte nur wenig im Sinne der Künste.« »Andere werden sie zu schätzen wissen«, versicherte sie mir und fügte hinzu: »Phedre, wenn du Fragen hast, zögere nicht, sie mir zu stellen.« Damit ließ sie das Thema fallen, und ein Funkeln trat in ihre Augen, das ich vom Boudoir-Klatsch im Cereus-Haus sehr wohl kannte. »Glaubst du, er wird wieder nach dir verlangen?« Ich dachte an d'Essoms' Rage, die wilden Peitschenhiebe auf meiner Haut, seinen heißen Atem in meinem Nacken und musste lächeln. »Dessen könnt Ihr gewiss sein«, murmelte ich und lehnte den Kopf zurück, um mein Haar unterzutauchen. Es fiel seiden und vom Wasser durchtränkt den Rücken herab, als ich mich wieder aufrichtete. »Er wird sich einreden, er tue es nur, um Delaunay bei seinem eigenen Spiel zu schlagen«, erklärte ich ihr. »Aber nur er wird das glauben.« »Sei vorsichtig.« Die Ermahnung in ihrer Stimme war so streng, dass ich aufhorchte und ihr einen Blick zuwarf. »Wenn d'Essoms dahinter kommt, dass du weißt, was du da tust, wird es ihm Angst einjagen. Und das, meine Liebe, wird ihn wahrlich gefährlich machen.« Cecilie seufzte auf und sah durch den aufsteigenden Dampf auf einmal müde und gealtert aus. »Anafiel Delaunay weiß nicht, was
er tut, wenn er ein Kind mit deinen Neigungen mit so viel Wissen ausstattet und in die sichere Gefahr schickt.« Es gab Hunderte von Fragen, die mir auf der Zunge brannten, aber ich wusste zu genau, dass sie mir keine Antworten geben würde. »Mein Herr weiß sehr genau, was er tut«, erwiderte ich stattdessen. »Hoffentlich hast du Recht.« Cecilie sprach die Worte mit Bestimmtheit, während sie sich in der heißen Quelle aufrichtete und wieder wie die wertvollste Blüte des Cereus-Hauses aussah, die sie einst gewesen war. »Komm, es ist noch nicht zu spät, uns dem Mittagsmahl anzuschließen, und die Dienerinnen Naamahs verfügen in ihrem Heiligtum über eine vorzügliche Küche. Wenn wir nicht zu sehr trödeln, werden wir 210 211 genug Zeit haben, noch ein Bad zu nehmen, bevor wir in die Stadt zurückmüssen.« An jenem Tag genossen wir ein vorzügliches Abendmahl und machten uns vor Sonnenuntergang auf den Weg zurück in die Stadt. Am Abend erstattete ich Delaunay Bericht, über den er recht zufrieden schien, er lobte mich sogar dafür, nichts weiter unternommen zu haben, als d'Essoms den Köder unseres Rendezvous mitsamt dem Haken schlucken zu lassen. »Sag ihm nichts«, ermahnte er mich, und Zufriedenheit klang in seiner Stimme, »und er wird dir mit der Zeit etwas verraten, Phedre, in der Erwartung selbst etwas zu erfahren. Es liegt in der Natur des Menschen, zu geben, in der Hoffnung, etwas dafür zu erhalten. Seigneur d'Essoms wird geben. Daran besteht kein Zweifel.« Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm einen kleinen Beutel heraus und warf ihn mir zu. Überrascht fing ich ihn unwillkürlich auf. Delaunay grinste. »Er ließ dies heute Nachmittag durch einen Boten schicken. Eine Freiergabe für deine Marque. Es ist wohl sein Wunsch, dass der Marquist seine Eroberung deiner als zarten Wink an mich in deine Haut ritzt. Möchtest du sie zurückweisen?« Der Beutel wog schwer in meiner Hand. Es war das erste eigene Geld, das ich je verdient hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Wenn es Eurer Sache nützt, Herr, dann soll es so sein. Er war der Erste.« Wäre ich weniger realistisch gewesen, hätte ich auf irgendein Zeichen der Eifersucht gehofft. Delaunay blickte in die Ferne und nickte. Er war nicht unzufrieden. »Dann soll es so sein. Ich werde einen Termin mit dem Marquisten vereinbaren.« So begann meine Karriere als Dienerin Naamahs. Genau eine Woche später hatte ich mein erstes Treffen mit dem Marquisten. Wie Cecilie vorausgesagt hatte, waren die 212 Striemen, die meinen Rücken und meine Seiten verunstalteten, in der Zwischenzeit vollkommen verschwunden und hinterließen eine reine Oberfläche für die Kunst des Marquisten. Die Auserwählten Kushiels heilen schnell; wir haben es nötig. Weil Delaunay Delaunay war, kam nur das Beste für seine Adepten infrage; ich ging zu demselben Mann wie Alcuin, einem Meister seiner Kunst. Robert Tielhard übte sein Metier seit vierzig Jahren aus, und seine Dienste waren teuer. Ich hatte dies schon lange gewusst, denn Delaunay hatte auch für den Kauf meiner Marque teuer bezahlt. Ich war zwar nicht Alcuin, der sich bis zur letzten Klausel und Verordnung an die Vorschriften aller Gilden der Nation erinnern konnte, aber ich kannte die Regeln meiner eigenen gut genug. Die Gilde der Dienerinnen und Diener Naamahs gestattet keine unumwundene Sklaverei. Delaunay war nicht wirklich im Besitz meiner Marque, sondern verwahrte sie vielmehr im Namen Naamahs - aber bis ich sie vollendete, war ich seinem Dienst verpflichtet. Alle Vertragssummen gehörten Delaunay; nur Gaben von Freiersleuten, die mir aus freien Stücken als Huldigung Naamahs überreicht worden waren, konnte ich auf meine Marque verwenden. Die erste Stunde im Laden des Marquisten verbrachte ich nackt und auf dem Bauch liegend, den Kopf auf die Arme gestützt, während Meister Robert Tielhard murmelnd und mit einem Tastzirkel in der Hand um meinen Rücken herumschritt und meine Maße nahm, die er auf Papier übertrug. Als er fertig war, richtete ich mich auf und zog mich wieder an, während ich die meisterhafte Skizze eines Teils von mir bewunderte, den ich nur selten zu Gesicht bekam. Vor allem gefiel mir die Rundung meines unteren Rückens, der sich ab der schmalen Taille wie der Klangkörper einer Geige verbreiterte. »Ich mache das nicht, um Eurer Eitelkeit Genüge zu tun, 213 Uli
junges Fräulein!«, bemerkte Meister Tielhard schnippisch und wandte sich an seinen Lehrburschen. »Lauf die Straße hinunter, Junge, und hole Messire Delaunay aus der Weinschänke.« Er nahm nicht weiter Notiz von mir, während ich wartend auf seinem Zeichentisch saß, sondern holte aus seinem Kabuff eine Schriftrolle und befestigte sie neben meiner Skizze an einer Korkwand. Ich erkannte Alcuins Marque an dem Grundriss, den er schon auf der Haut trug, aber als ich den Entwurf in seiner Ganzheit sah, verschlug es mir dennoch den Atem. Er war unvergleichlich schön, und ich verstand, dass Robert Tielhard sich zu Recht Meister nennen durfte. Jedes der Dreizehn Häuser hat sein eigenes Marque-Motiv, aber für die Dienerinnen und Diener Naamahs, welche keinem Haus angehören, gelten andere Regeln. Ihre Marques sind - mit gewissen Einschränkungen - höchst individualisiert. Natürlich ist die Gestaltung äußerst stilisiert, aber ein geübtes Auge kann die zugrunde liegenden Formen ausmachen, und ich erblickte bald einige in Alcuins Marque. Elegante Schnörkel am unteren Ende deuteten einen Gebirgsfluss an, und der schlanke, geschmeidige Stamm einer Birke, um den sich ein feines Muster aus Birkenblättern rankte, ragte in die Höhe. Ein zarter Strauß krönte die Spitze. Die Linien waren kräftig, die Farben aber sanft: leichte Grau- und Anthrazittöne, die Alcuins ungewöhnlichem Teint entsprachen, mit einem Hauch Hellgrün um die Blattränder. Für mich entwarf Meister Robert Tielhard jedoch etwas völlig anderes. Als Delaunay lachend den Laden des Marquisten betrat, schwebten eine Brise Wein und gute Laune mit ihm herein, er konzentrierte sich jedoch sogleich auf die anstehende Aufgabe und studierte gemeinsam mit Meister Tielhard verschiedene 214 Blätter, wobei Skizze um Skizze entworfen, verfeinert und wieder verworfen wurde. Ich wurde langsam ungeduldig, aber er ließ mich nichts sehen, bevor sie eine Skizze hatten, die ihnen beiden gefiel. »Was meinst du, Phedre?« Delaunay drehte sich mit einem Grinsen um und hielt mir den vorläufigen Entwurf hin. Er war kühn, um einiges kühner als Alcuins Marque. Mit einiger Anstrengung erkannte ich die zugrunde liegende Vorlage, welche auf einem sehr alten Muster basierte: der Wilden Rose. Irgendwie war es Meister Tielhard gelungen, die Kraft der archaischen Linien beizubehalten und ihnen gleichzeitig eine Feinheit zu verleihen, die von der Rebe, der Fessel und der Peitsche gleichermaßen sprach. Die dornigen Linien waren tiefschwarz und wurden nur in einigen ausgewählten Mulden mit einer scharlachroten Träne betont - ein Blütenblatt, ein Tropfen Blut, der Fleck in meinem Auge. Archaisch, aber raffiniert. Ich war begeistert. Wie viele Besuche beim Marquisten es auch erfordern würde, um den Entwurf zu vollenden und seine Makellosigkeit nach jeder rauen Behandlung durch meine Freiersleute wiederherzustellen, er war es wert. »Herr, er ist wundervoll«, antwortete ich ihm aufrichtig. »Das dachte ich mir.« Delaunay war sichtlich zufrieden, während Meister Tielhard sich murmelnd daranmachte, den Entwurf auf die Originalskizze meiner Maße zu übertragen. Es war erstaunlich, zu beobachten, wie die Grundzüge unter den sicheren Gesten seiner mürrischen Hände erblühten. Sein Lehrbursche kauerte in der Nähe und reckte den Hals, um an Delaunay vorbeizusehen. »Ich bin in der Weinschänke«, sagte mein Lehrer zu Meister Tielhard. »Ihr schickt den Jungen, wenn sie fertig ist?« Tief konzentriert antwortete der Marquist mit einem beja215 henden Brummen. Delaunay streifte meine zerzausten Locken mit einem Kuss, winkte noch einmal kurz und ging. Ich wartete noch ein Weilchen, bis Meister Tielhard den Entwurf zu seiner vollen Zufriedenheit kopiert hatte. Anschließend war es für mich wieder an der Zeit, meine Kleider abzulegen und nackt dazuliegen, während er den Anfang meiner Marque ein weiteres Mal nachzog und seine Maße mit dem Tastzirkel überprüfte. Der Federkiel kratzte auf der Haut, und die Tinte kitzelte mich. Als ich zappelte, versetzte er mir geistesabwesend einen Klaps auf den Hintern, so wie jemand, der ein unruhiges Kind tadelt. Danach blieb ich regungslos liegen. Nach einer kleinen Ewigkeit waren die Konturen umrissen. Das Kinn auf den Ellenbogen gestützt, beobachtete ich, wie Meister Tielhard sein Werkzeug zusammensuchte; das Tintenfass und seine Nadelkämme. Sein Lehrbursche beobachtete mich nervös und aufgeregt aus den Augenwinkeln. Der Junge war nicht älter als vierzehn, und ich musste bei dem Gedanken, welche Wirkung ich auf ihn hatte, lächeln. Er errötete, während er die Tinte mischte, und versuchte, es zu verbergen, indem er sich
am Kohlenbecken zu schaffen machte und so viel Kohle darin aufhäufte, bis es im Laden des Marquisten so mollig warm wie in einem Backofen war. Meister Tielhard herrschte ihn dafür an, woraufhin er wieder rot wurde. Mir machte das nichts aus; da ich nackt war, fühlte ich mich wohl. Endlich war es für den Marquisten an der Zeit, mit dem Zeichnen zu beginnen. Wie es der Brauch war, begann er am unteren Ende der Wirbelsäule, am allerletzten Wirbel unterhalb der kleinen Mulde. Ich konnte nicht sehen, wie er einen Nadelkamm auswählte und ihn in das Fass tauchte, aber ich spürte, wie der Stich von einem Dutzend dicht aneinander gedrängter Nadeln mich durchfuhr und die nasse Tinte in meine Haut sickerte. 216 Dann schlug er den Nadelkamm mit seinem Schlegel, ein Dutzend Nadeln durchstachen meine Haut und durchtränkten sie am unteren Ende meiner Wirbelsäule mit einem Klecks schwarzer Tinte. Der Schmerz, der mich durchzuckte, war wie ein erlesener Schauder. Ich gab einen unfreiwilligen Laut von mir, und meine Hüften bewegten sich aus eigener Kraft, um sich gegen die harte Oberfläche unter mir zu pressen und mein Schambein in den Zeichentisch zu bohren. Meister Tielhard gab mir erneut einen Klaps. »Verdammte anguisettes«, brummte er böse, während er sich auf seine Arbeit konzentrierte. »Grandpere sagte immer, sie seien schlimmer als diejenigen, die herumschreien oder bluten. Jetzt weiß ich, warum.« Ich nahm sein Gejammer nicht weiter zur Kenntnis und hielt mit größter Anstrengung still, während er weiter mit dem Schlegel zuschlug, immer und immer wieder, und so die Umrisse meiner Marque in meine Haut stach. Ich genoss jeden Augenblick. 217 Damit begann eine Zeit, die in vielerlei Hinsicht die schönste meines Lebens war. Alles, was mir Delaunay vor so langer Zeit prophezeit hatte, traf ein. Das Gerücht von Delaunays anguisette verbreitete sich wie ein Feuer, das stetig unter der Oberfläche schwelt und brennt und mit keinen Mitteln gelöscht werden kann. Man trat weiterhin mit Angeboten an ihn heran, meistens diskret, selten direkt. Irgendwann während dieses ersten Jahres wurde mir Delaunays Gerissenheit in der Frage unserer Offenbarung bewusst. Alcuins Freiersleute bildeten eine erlesene Gruppe, von denen Delaunay die meisten sorgsam und gezielt ausgesucht hatte. Freunde, Bekannte oder herzliche Feinde, sie waren als Gäste in das Haus unseres Lehrers gekommen und hatten Alcuin von einem schönen Jungen zu einem jungen Mann heranwachsen sehen. Delaunay hatte mit seiner Auktion ein Netz ausgeworfen, interessierte sich aber nur für ganz bestimmte Fische. Als er es einzog, wählte er seinen Fang mit Sorgfalt aus. Mit mir war das etwas anderes. Viele Freiersleute, wie Childric d'Essoms, hatte soi 218 Delaunay vorausgesehen; aber mit anderen, vielen anderen hatte er nicht gerechnet. Während er mit Alcuin sein Netz in bekannten Gewässern gespannt hatte, war ich eine Angelschnur, die ins Meer ausgeworfen wurde, und nicht einmal Anafiel Delaunay konnte voraussehen, wer sich dadurch ködern lassen würde. Damit aber niemand annimmt, mein Rendezvous mit Childric d'Essoms hätte den Ton für alle anderen Freiersleute angegeben, will ich eiligst jeden eines Besseren belehren. Mein zweites Rendezvous, bei dem ein Mitglied des Finanzministeriums für das Privileg meines Dienstes teuer bezahlte, hätte nicht unterschiedlicher sein können. Auf den ersten Blick hielt ich Pepin Lachet, ein Mann von schmächtiger Statur und würdevollem Auftreten, für einen von den Freiersleuten, die viel mehr Alcuin als mich verpflichten. Im Schlafgemach tat er denn auch nichts weiter, als sich zu entkleiden, auf das Bett zu legen und mir mit gleichgültiger Stimme zu gebieten, ihn zu befriedigen. Während Childric d'Essoms mich nur wenig gefordert hatte, musste ich bei Pepin Lachet alle Register ziehen. Ich zog mich aus, kletterte auf das Bett und kniete neben ihm, während ich mit der »Liebkosung schleifender Weidenruten« begann. Ich löste mein Haar, breitete es über ihm aus, so dass es wie Wasser über ihn strömte, und zog es an seinem Körper entlang. Ungerührt und nicht im Geringsten erregt, lag er einfach nur da. Keineswegs entmutigt, machte ich mich an das Vorspiel und begann zunächst voller Selbstvertrauen.
In der folgenden Stunde versuchte ich jede Technik, die Cecilie uns gelehrt hatte, und bearbeitete mit Fingern, Lippen und der Zunge jeden Zentimeter von Pepin Lachets Körper, von den Ohrläppchen bis zu den Enden seiner Zehen. Verzweifelt bediente 219 ich mich schließlich eines recht derben Handgriffs, den für gewöhnlich nur die niederen Prostituierten anwenden und der »den Hasen abziehen« genannt wird. Pepin Lachets Glied reagierte und reckte sich zu einem halbherzigen Salut in die Höhe. Aus Angst, auch diesen kleinen Erfolg wieder zu verlieren, setzte ich mich auf ihn und begann, mich hastig auf ihm zu bewegen, doch anstatt weiter zu wachsen, erschlaffte sein Penis und schlüpfte aus mir heraus. Den Tränen nahe, erwiderte ich seinen kühlen Blick. »Ihr seid in diesen Dingen nicht sonderlich bewandert, nicht wahr?«, fragte er mich verächtlich und stieß mich von sich. »Ich werde Euch zeigen, wie man das macht.« »Herr, es tut mir Leid ...« Ich verstummte, als er aus dem Nachttisch seidene Fesseln hervorholte, und wehrte mich auch nicht, als er meine Arm- und Fußgelenke an die Bettpfosten band. Dann holte er die Kneifzange hervor, und sein Penis richtete sich, ohne dass ich ihn berührte, mit einem Mal auf. Plötzlich verstand ich. Wo Childric d'Essoms rohe Gewalt angewendet hatte, war Pepin Lachet der Inbegriff von Feingefühl. Ich nehme an, es bedarf eines sensiblen Geistes, die königlichen Schatzkammern im Gleichgewicht zu halten. Er bearbeitete mich, wie es schien, stundenlang. Als ich bei den Qualen, die ich erlitt, aufschrie, stopfte er mir einen gepolsterten Lederknebel in den Mund, fragte mich aber zuerst, ob ich den Wunsch hätte, das Signale zu geben. Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie Tränen der Scham mir aus den Augenwinkeln flössen. Mein ganzer Körper war vor Schmerz entflammt und erfüllt vor Lust. »Wenn Ihr das Signale zu geben wünscht«, sagte er förmlich, während er meinen Mund weit aufriss und den dicken Knebel hineinsteckte, »rüttelt an dem Bettpfosten, und ich werde darauf hören. Ver220 steht Ihr?« Ich nickte, da ich nicht mehr sprechen konnte. »Gut.« Damit machte er sich weiter an mir zu schaffen, bis ich fast den Knebel durchbiss. Nach jedem Rendezvous folgte immer die Unterredung. Ich habe den Überblick darüber verloren, wie viele wertvolle Neuigkeiten wir Delaunay zu Füßen legten, wie viele Teile des Puzzles er nach unseren Berichten zusammenfügte. Zu jener Zeit erkannten wir zwar ein saftiges Bröckchen, wenn wir es hörten, doch weder Alcuin noch ich begriffen, welches Ziel unser Lehrer verfolgte. Der Fluss an Botschaften tröpfelte unaufhörlich weiter, denn stetig wuchs das Unbehagen im Reich. Der König erlitt einen leichten Schlaganfall, durch den er eine Lähmung in der rechten Hand zurückbehielt. Ysandre de la Courcel blieb unverheiratet. Bewerber und Anwärter umschlichen den Thron wie Wölfe im Frühwinter; auch wenn sie noch so sehr darauf achteten, gebührenden Abstand zu wahren, so wurde ihr Hunger doch immer größer. Das ehrgeizigste Rudelmitglied war kein Wolf, sondern ein Löwe, die Löwin von Azzalle. Obgleich ich Lyonette de la Courcel de Trevalion in dieser ganzen Zeit nie kennen lernte, hörte ich viel von ihr und ihren ständigen Intrigen. Von einer erfuhr ich sogar aus erster Hand. Die Marquise Solaine Belfours hatte mich für ein zweitägiges Rendezvous auf ihrem Landsitz verpflichtet. Delaunay hatte mit ihr sein Ziel sehr gut ausgewählt. Mit großer Freude stellte sie mir Aufgaben, die ich unmöglich erfüllen konnte, um mich dann für mein Versagen zu züchtigen. Bei dieser Gelegenheit führte sie mich in ihr Empfangszimmer, wo sie den Gärtnern angeordnet hatte, unzählige blühende Blumen zu einem großen Haufen aufzutürmen. Sie lagen oben auf der 221 Anrichte, eine Fülle an Blüten und ineinander verhedderten Zweigen, und tropften auf die Holzoberfläche, wobei sie großzügig Schmutz und Blätter zurückließen. »Ich reite aus«, teilte die Marquise mir auf ihre übliche arrogante Art mit. »Wenn ich zurückkomme, wünsche ich, dass du mir in diesem Zimmer, das du ordentlich aufgeräumt haben wirst, mit einem Glas Likör aufwartest. Hast du mich verstanden, Phedre?« Ich hasse es, wenn ich zu niederen Arbeiten gezwungen werde, was Solaine Belfours irgendwie herausgefunden hatte; Frauen sind in solchen Dingen im Großen und Ganzen schlauer als Männer. Mir graute es vor diesen Rendezvous, ganz davon abgesehen, dass sie in ihrer Wut einfach großartig war. So fluchte und schimpfte ich fast eine Stunde lang, während ich die Zweige von den Blumen trennte
und mir die Finger zerstach, als ich Rosen, Astern und Zinnien in verschiedene Gefäße warf. Ihre Bediensteten brachten Eimer mit Wasser, eine Kehrschaufel, Lumpen und Wachs für die Anrichte herein, halfen mir jedoch in keiner Weise, da man es ihnen strikt verboten hatte. Ich weiß nicht, ob die ländliche Dienerschaft genauso viel klatscht wie die in der Stadt, aber diese hier machte sich über den Grund meines Hierseins mit Sicherheit keine Illusionen. Natürlich war es unmöglich, die Aufgabe in der vorgegebenen Zeit zu vollenden, und als Solaine Belfours noch in ihrer Reiterkluft durch die Tür schritt, fing ich gerade damit an, den Schmutz in die Kehrschaufel zu fegen. Rasch fiel ich auf die Knie, aber sie war mit ihrer Reitgerte schneller und erwischte mich quer über die Schultern. »Elende Schlampe! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst das Zimmer für mich aufräumen? Wie nennst du das hier?« Mit einer Hand wischte sie das Durcheinander aus Wasser und Schmutz von der Anrichte, streifte 222 einen Handschuh ab und schlug mich damit ins Gesicht. Ich warf das Haar zurück und sah sie grimmig an, wobei ich es gar nicht nötig hatte, Missmut vorzutäuschen. »Ihr verlangt zu viel«, erwiderte ich trotzig. Solaine Belfours hatte blaugrüne Augen, in der Farbe von Aquamarinen; wenn die Marquise wütend war, funkelten sie so kalt und hart wie Edelsteine. Ihr Anblick verschlug mir den Atem. »Ich verlange nur, ordentlich bedient zu werden«, erwiderte sie kühl. Sie nahm ihre Gerte in die nackte Hand und schlug sie sachte gegen die Innenfläche der anderen, die immer noch in dem Handschuh steckte. »Du hingegen maßt dir zu viel an. Zieh dein Kleid aus.« Es war nicht mein erstes Rendezvous mit ihr, und ich wusste, wie die Szene ablaufen würde. Es ist schon seltsam, dieses Spielen und Nicht-Spielen. Dass meine Rolle geschrieben worden war, um ihren Begierden zu entsprechen, wusste ich wohl und spielte sie auch dementsprechend; doch als die Gerte mein nacktes Fleisch immer und immer wieder erbeben ließ und ich die Frau anflehte, es wieder gutmachen zu dürfen, war das kein Spaß mehr. Es ist fast wie ein Sieg, wenn sich die Freiersleute ergeben. So sehr ich die Marquise auch verachtete, als sie mir erlaubte, einen Akt der Reue zu vollziehen, indem ich die Knöpfe ihrer Reithose öffnete und meinen Mund gegen ihr erhitztes Fleisch presste, erbebte ich am ganzen Leib. Ich schloss die Augen, als ihre Hände auf meinem Kopf ruhten und sie die nun träge Gerte locker in der Hand hielt. Sanft streichelte sie mir über den Rücken und erinnerte mich so an ihre Grausamkeiten. Just in diesem Moment störte uns ihr Verwalter, der mit gesenktem Blick hereinkam, um die Ankunft eines Boten mit einer dringenden Nachricht von Lyonette de Trevalion anzukündigen. 223 »Heiliger Elua!« Ihre Stimme klang verärgert und leicht beunruhigt. »Was will sie denn nun schon wieder? Führt den Boten herein.« Sie trat einige Schritte zurück, knöpfte ihre Reiterkluft wieder zu und richtete sich das Haar. Ich blieb, wie ich war, auf den Knien. Nun warf sie mir einen ganz und gar verärgerten Blick zu. »Ich bin mit dir noch nicht fertig. Zieh dich an und warte.« Das musste man mir gewiss nicht zweimal sagen. Im Cereus-Haus hatte man mir beigebracht, unauffällig zu sein, und von Delaunay hatte ich den Wert dieser Lektion zu schätzen gelernt. Ich kniete abeyante, ruhig und kaum sichtbar, als der Kurier der Löwin von Azzalle eintrat. Ich kann nicht sagen, wie er aussah; Delaunay würde mich vielleicht dafür tadeln, aber ich wagte nicht, den Blick zu heben. Es war mein Glück, dass die Marquise wie viele andere nicht lesen konnte, ohne die Worte laut vor sich hin zu murmeln. Ich bin dazu in der Lage und Alcuin auch, aber nur, weil Delaunay dafür sorgte, dass wir es lernten. Solaine Belfours vermochte es wie gesagt nicht, und so erfuhr ich von Lyonette de Trevalions Anliegen. Es ging das Gerücht um, der Kalif von Khebbel-imAkkad habe eine Allianz zwischen unseren beiden Ländern durch die Heirat seines Erben mit der Prinzessin Ysandre vorgeschlagen. Lyonette de Trevalion bat Solaine, eine Order an den akkadischen Botschafter aufzusetzen und mit dem Geheimen Siegel zu versehen, um den Kalifen mit falschen Versprechungen hinzuhalten, bis er die Rechte an der Insel Cythera abtrat. Ich muss sicher nicht weiter hinzufügen, dass Lyonette de Trevalion beabsichtigte, diese Order auffliegen zu lassen, in der Hoffnung, die akkadische Allianz zu vereiteln. Solaine Belfours war die Geheimsiegelbewahrerin des Reiches; sie hatte sowohl die Möglichkeit als auch die Fähigkeit, 224 es zu tun, obgleich es Hochverrat war, eine königliche Order zu fälschen. Ich spürte den Luftzug, als sie auf und ab ging, und das Zischen ihrer Gerte, die sie geistesabwesend gegen ihren Stiefel schlug.
»Was bietet Eure Herrin im Gegenzug an?«, fragte sie den Boten. Eine tiefe Stimme antwortete. »Einen Titel in Azzalle, Herrin. Die Grafschaft von Vicharde mit zweihundert bewaffneten Männern und einem Einkommen von vierzigtausend Dukaten im Jahr.« Die Gerte zischte erneut; ich konnte es aus den Augenwinkeln erkennen. »Sagt ihr, ich nehme an«, erwiderte Solaine Belfours bestimmt. »Aber ich verlange, den Titel in Händen zu halten, bevor die Order herausgeht, und ich verlange sicheres Geleit nach Azzalle.« Selbst aus der Entfernung konnte ich ihr kühles Lächeln erkennen. »Sagt ihr, ich wünsche als Eskorte keinen Geringeren als Prinz Baudoin und seine Ruhmesreiter. Wollen wir doch mal sehen, ob sie es ernst meint.« Durch das Rascheln und Knarzen konnte ich ausmachen, dass sich der Kurier verbeugte. »Wie Ihr wünscht, Herrin. Titel in Händen und Prinz Baudoin als Eskorte. Ich werde Eure Worte überbringen.« »Gut.« Einige Zeit, nachdem der Bote gegangen war, spürte ich endlich ihren Blick. Er ruhte einen Moment lang auf mir, bevor ich aufsah. Sie lächelte und schwang ihre Gerte in großen Spiralen. Bei diesem Anblick erschauerte meine Haut unfreiwillig. »Mir ist nach Feiern zumute, Phedre«, begann sie mit freudiger Bosheit. »Was für ein glücklicher Zufall, dass du gerade hier bist.« So wie sich die Dinge entwickelten, lehnte Lyonette de Trevalion das Gegenangebot von Solaine Belfours ab, und wie die Marquise richtig vorhergesehen hatte, war Prinz Baudoin der entscheidende Punkt. Was auch immer die Löwin von Azzalle 225 geplant hatte, es war ihr nicht wert, ihren geliebten Sohn zu riskieren. Bald wurde auch bekannt, dass das Gerücht einer Allianz tatsächlich nichts weiter war als ein Gerücht. Ysandre de la Courcel würde den Sohn des Kalifen nicht heiraten, und die Insel Cythera blieb fest in akkadischer Hand. Dennoch wertschätzte Delaunay diese Neuigkeit, denn sie offenbarte ihm, wer mit wem in Verbindung stand, und brachte ein wenig Licht in die undurchsichtigen Machenschaften von Lyonette de Trevalion. Während dieser ganzen Zeit war Baudoin de Trevalions Name weiterhin unter den Adligen des Reiches in aller Munde. Während die Verbündeten von Camlach ihre Verbände auflösten, nach Hause zurückkehrten und nur leicht bewaffnete Wachen an den Grenzen postierten, ritten Baudoin und seine Ruhmesreiter, die mit einem besonderen Dispens des Königs ausgestattet waren, entlang den Grenzen von Camlach. Sie jagten den skaldischen Plünderern gehörig Angst ein, und nicht wenige Gebirgsdörfer der D'Angelines erzitterten vor ihnen, denn sie mussten für die Versorgung seines wilden Haufens genügend Nahrungsvorräte und heiratsfähige Jungfern heranschaffen. Am Hofe entzog sich Baudoin weiterhin einer Fülle von ehelichen Fallstricken und zeigte sich, trotz der Missbilligung seiner Eltern, in der Gesellschaft von Melisande Shahrizai. Man erzählte sich, Lyonette de Trevalion habe gedroht, ihn zu enterben, sollte er diese Frau heiraten, und ich denke, es entsprach zu einem großen Teil der Wahrheit, wenn auch nur aufgrund der Ereignisse, zu denen es noch kommen sollte. Die Löwin von Azzalle äußerte gewiss keine leeren Drohungen, und Melisande war klug genug, um einschätzen zu können, welche Gegner sie nicht von Angesicht zu Angesicht zu besiegen vermochte. 226 Ich hatte sie, seit ich den Dienst Naamahs aufgenommen hatte, nur einmal gesehen, und das bei einer von Delaunays Zusammenkünften; obgleich ich viel an sie gedacht hatte, seid dessen versichert. In Delaunays Innenhof glänzte sie mit ihrer Schönheit ebenso wie mit ihrem scharfen Verstand. Zu mir war sie höflich und freundlich; doch als ich ihr einmal auf dem Rückweg von einem meiner Streifzüge in die Küche begegnete, ließ ihr Lächeln meine Knie weich werden. »Dreh dich um«, flüsterte sie. Ich tat es, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Mit den geschickten Fingern einer Adeptin knöpfte sie mir das Mieder auf; ich hätte wirklich schwören können, der Stoff öffnete sich sehnsuchtsvoll bei ihrer bloßen Berührung. Ich spürte ihre Nägel auf meiner Haut, die den Umriss meiner Marque von unten nach oben nachzogen. Ihr an mich gedrängter Körper strahlte eine wohlige Wärme aus, und ich konnte das Duftwasser riechen, das sie benutzte, leicht und würzig, vermischt mit dem Eigengeruch ihres Körpers. »Dein Name wird häufig in gewissen Kreisen genannt, Phedre.« Sie berührte mich nur mit den Fingerspitzen, aber sie stand so dicht hinter mir, dass ich ihren Atem warm in meinem Nacken spürte. Die Belustigung in ihrer Stimme erinnerte mich an Delaunay; sonst nichts. »Du hast noch nie das Signale gegeben, nicht wahr?« »Nein«, hauchte ich, kaum in der Lage das Wort richtig auszusprechen.
»Das dachte ich mir.« Melisande Shahrizai legte ihre Hand flach auf mein Kreuz, wo sie wie ein Brandmal glühte, zog sie dann zurück und knöpfte schnell und geübt mein Gewand wieder zu. Ich konnte hören, wie sie in der Dunkelheit lachte. »Irgendwann einmal werden wir sehen, wer wahrer trifft, Kushiels Linie oder Kushiels Pfeil.« 227 Ich kann wohl behaupten, dass keine von uns beiden ahnte, als wie wahr sich ihre Worte erweisen würden und in welcher Weise. Melisande wusste sehr genau, was Delaunay mit Alcuin und mir vorhatte; sie wusste auch, dass ich der für sie bestimmte Köder war. Und sie hatte die feste Absicht, ihn zu schlucken - aber erst, wenn es ihr beliebte. Meine Freiersleute waren nicht gerade für ihre Beherrschtheit bekannt. Ich hatte bei Delaunay von Kindesbeinen an gelernt, mich in Geduld und Intrigen zu üben, und ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass mich der Gedanke an eine Freiersfrau, die mir darin in nichts nachstand, in helle Aufregung versetzte. Wenn ich nun an Baudoin de Trevalion dachte, tat ich es mit einem gewissen Maß an Mitleid und Neid. Die Bedrohung durch die Skaldi war wohl zunächst einmal gebannt, so hieß es jedenfalls gemeinhin bei Hofe. Wo die Grenzfürsten von Camlach sich nicht aufhielten, ritten Baudoin und seine Ruhmesreiter. Delaunay war sich dieser Sache nicht so sicher. Er lud seinen alten Freund und Lehrmeister, Gonzago de Escabares, zu sich ein, als dieser von einer akademischen Pilgerreise nach Tiberium zurückkam. Sie sprachen vertraulich, nur Alcuin und ich durften ihrer Unterredung beiwohnen. »Es gibt Gerüchte, Antinous«, deutete der aragonische Historiker über den Rand seines Weinglases an und sah dabei wie ein weiser Satyr aus. Wieder tauchte dieser Name auf. Meine Marque erstreckte sich über gut ein Drittel meines Rückens, und doch wusste ich über Delaunays Geheimnis nicht mehr als zuvor. Dieses Mal nahm er es nicht zur Kenntnis. »Es gibt immer Gerüchte«, erwiderte er, während er mit dem Ende seines Zopfes spielte. »Manchmal habe ich den Eindruck, jeder Stadtstaat in ganz Caerdicca Unitas unterhält sein 228 eigenes Parlament mit der erklärten Absicht, Gerüchte zu verbreiten. Wie lauten Eure Gerüchte, Maestro?« Gonzago de Escabares griff nach einem Fladenbrot, das mit Gänseleber und Schnittlauch gefüllt war. »Die sind einfach zu köstlich. Euer Koch muss meinem unbedingt das Rezept niederschreiben.« Er aß mit größter Sorgfalt, leckte sich die Finger und wischte sich die Krümel aus dem Bart. »Es heißt, die skaldischen Stämme hätten einen Führer gefunden«, berichtete er, als er fertig war. »Ihren eigenen Cinhil Ru.« Delaunay hielt einen Moment überrascht inne, dann brach er in sein typisches, schallendes Gelächter aus. »Ihr beliebt zu scherzen, nicht wahr? Die Skaldi haben sich zu unseren Lebzeiten noch nie so ruhig verhalten, Maestro.« »Eben.« Der Aragonier verschlang ein weiteres Fladenbrot und hielt Alcuin sein Glas hin, damit er es wieder füllte. »Sie haben einen Anführer gefunden, der seinen Verstand einzusetzen weiß.« Delaunay schwieg, während er über die möglichen Folgen des gerade Gesagten nachdachte. Die skaldischen Stämme waren zahlreich, zahlreicher als die Stämme von Alba und Eire, die sich zusammengeschlossen hatten, um die tiberische Armee zu schlagen, die größte militärische Streitmacht, die Europa je gesehen hatte. Gefangen auf einer Insel und seit Jahrhunderten vom Gebieter der Meeresstraße von der Außenwelt abgeschnitten, hatten die Armeen des Königreichs Alba nie eine wirkliche Bedrohung für unsere Grenzen dargestellt. Eine vereinte skaldische Streitmacht wäre da etwas ganz anderes. »Was sagen die Gerüchte?«, fragte unser Lehrer schließlich. Gonzago setzte sein Weinglas ab. »Nicht viel bis jetzt. Aber Ihr wisst, unter den Söldnern, die über die Handelsrouten reisen, gibt es immer Skaldi. Es stammt von ihnen. Zunächst 229 war es nichts weiter als ein bloßes Raunen, noch nicht einmal ein Gerücht, von großen Umwälzungen im Norden. Mit der Zeit bemerkten die Händler, dass sich ihre Anzahl ständig änderte ... es kamen zwar nicht mehr Skaldi, aber immer wieder neue, die ihren Standort wechselten und von anderen abgelöst wurden. Skaldi gingen und Skaldi kamen. Es ist schwer, sie zu unterscheiden«, fügte er noch hinzu, »denn sie wirken alle wild und ungepflegt. Aber ein Lederhändler aus Milazza, mit dem ich sprach, war davon überzeugt, dass die Skaldi, die er zum Schutz seiner Karawane anheuerte, immer
verschlagener wurden.« Ich dachte an den skaldischen Stammesangehörigen, der mich vor langer Zeit unter seine Fittiche genommen hatte, konnte mich jedoch nur schwach an den lachenden, schnauzbärtigen Riesen erinnern. Er war überhaupt nicht verschlagen gewesen, sondern sehr freundlich. Alcuin saß mit weit aufgerissenen Augen auf seinem Sofa. Mit den Skaldi verband er nichts als Blut, Eisen und Feuer. »Er hatte den Eindruck, sie sammelten Informationen«, schloss Delaunay und zupfte unruhig an seinem Zopf, während sein Geist auf Hochtouren arbeitete. »Doch zu welchem Zweck?« »Das kann ich Euch nicht sagen.« Gonzago zuckte mit den Achseln und knabberte an einem Fladenbrot. »Aber ein Name macht an skaldischen Lagerfeuern die Runde: Waldemar oder Waldemar Selig, Waldemar der Gesegnete, dem Eisen nichts anhaben kann. Außerdem hat man letzten Sommer vierzehn Tage lang keinen einzigen Skaldi in ganz Caerdicca Unitas gesehen, und es ging das Gerücht um, Waldemar Selig habe eine große Versammlung aller Stämme Skaldias irgendwo in den alten helvetischen Stammesgründen einberufen. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber mein alter Freund, der Lederhändler, 230 erzählte mir, einer seiner Freunde, welcher der Familie des Herzogs von Milazza nahe steht, schwor, der Herzog habe für seine älteste Tochter einen Heiratsantrag von einem König Waldemar von Skaldia erhalten.« Gonzago zuckte erneut mit den Achseln und streckte seine offenen Hände in einer aragonischen Geste aus. »Was soll man mit solchen Gerüchten anfangen? Mein Freund berichtet, der Herzog von Milazza habe herzlich gelacht und den skaldischen Abgesandten mit sieben Wagenladungen voller Seide und Barchent nach Hause geschickt. Ich sage Euch, ich misstraue dieser Ruhe an den skaldischen Grenzen.« Delaunay klopfte mit dem Nagel eines Zeigefingers auf seinen Vorderzahn. »Und in der Zwischenzeit tollt Baudoin de Trevalion an den Grenzen Camlachs herum, spießt hungernde Wegelagerer auf und erntet Ruhm dafür, dass er das Reich schützt. Ihr habt Recht, Maestro, man sollte diese Entwicklungen im Auge behalten. Solltet Ihr auf Euren Reisen irgendetwas in Erfahrung bringen, so setzt mich davon in Kenntnis.« »Ihr wisst, das werde ich, mein Lieber.« Gonzago de Escabares Ton wurde weicher, und seine braunen Augen blickten freundlich drein. »Glaubt nicht, ich würde nicht immer noch an Euer Versprechen denken, Antinous.« Ich versuchte immer noch, diesen letzten undurchsichtigen Satz zu enträtseln, als Delaunays scharfer Blick auf Alcuin und mich fiel. Er klatschte forsch in die Hände. »Phedre, Alcuin, ab ins Bett mit euch. Der Maestro und ich haben noch viel zu besprechen, und nichts davon ist für eure Ohren bestimmt.« Ich muss wohl nicht eigens erwähnen, dass wir gehorchten, aber ich will hinzufügen, dass zumindest einer von uns widerwillig ging. 231 Trotz der Bedenken von Gonzago de Escabares nahmen die einzigen bedeutenden Neuigkeiten, die sich in den folgenden Monaten außerhalb unserer Grenzen ereigneten, ihren Ursprung nicht innerhalb der skaldischen Territorien, sondern im Königreich Alba. Das Gerücht, welches die Wasser überquerte, lautete folgendermaßen: Der Cruarch von Alba war tot, erschlagen, so hieß es, von seinem eigenen Sohn, der die alten matrilinealen Nachfolgeriten zu stürzen und die Herrschaft in Alba an sich zu reißen suchte. Der rechtmäßige Erbe des Cruarch, sein klumpfüßiger Neffe, war mit seiner Mutter und seinen drei jüngeren Schwestern an die Westküste Albas geflohen, wo ihnen die Dalriada von Eire, die dort einen Stützpunkt hatten, Asyl gewährten. Niemand hatte sich zuvor je sonderlich um die Regentschaft auf Alba bekümmert, aber da dieser Cruarch seinen Fuß auf den Boden der D'Angelines gesetzt hatte, verdiente dieses Ereignis zumindest unser vorübergehendes Interesse. In einem Gemeinschaftsunternehmen mit dem königlichen Haus von Aragon erhielt Quintilius Rousse die Order, 232 seine Flotte durch die südliche Cadishon-Meerenge zu führen und die Küstenlinie auszukundschaften; er berichtete, dass Älterer Bruder seine Souveränität über die albischen Gewässer behauptete. So stärkte Ganelon de la Courcel seine Allianz mit dem König von Aragon, und Quintilius Rousse hatte einen Vorwand, einen Teil seiner Flotte an der Küste von Kusheth vor Anker zu lassen. Bei Delaunay prahlte er über seine Gerissenheit, aber ich mochte ihn so sehr, dass ich ihm dies gern verzieh.
Delaunay wurde zweimal an den Hof berufen, sprach danach jedoch nicht darüber. Von de Escabares erreichte uns hingegen keine Nachricht, ebenso wenig wie neue Gerüchte über Waldemar Selig. An den Grenzen von Camlach blieb es ruhig; so ruhig, dass es Prinz Baudoin langweilte, in den Bergen nach Ruhm zu streben, und er anfing, seine Zeit zwischen dem königlichen Hof und seinem Heim in Azzalle aufzuteilen. Sein Vater, der Duc de Trevalion, stritt mit dem König. Azzalle unterhielt eine eigene kleine, aber fähige Flotte, und der Duc war ungehalten darüber, dass der König statt seiner Quintilius Rousse aufgefordert hatte, die Küstenlinie auszukundschaften. Er hatte einigen Grund, sich gekränkt zu fühlen, denn Azzalle lag nahezu in Rufweite von Alba, während Quintilius' Flotte vierzehn Tage gebraucht hatte, die gesamte Halbinsel Aragonias zu umrunden. Dass dieses Gemeinschaftsunternehmen die Beziehungen zum Haus von Aragon stärkte, wusste Duc Marc sehr gut; aber Quintilius war nicht von königlichem Geblüt, und die Kränkung schmerzte. Ich vermag nicht einzuschätzen, ob der König dem Duc de Trevalion in dieser Frage misstraute. Ich weiß aber, dass er seiner Schwester und ihrem allzu offensichtlichen Ehrgeiz für ihren Sohn misstraute und zu klug war, eine Gelegenheit verstreichen zu lassen, ihre Macht zu untergraben, zu233 mal er daraus auch noch einen politischen Nutzen ziehen konnte. All diese Dinge hörte und wusste ich - zwischen Delaunay und Gaspar Trevalion kam es wegen des Streits zwischen Haus Courcel und Trevalion zum Zerwürfnis -, aber während dieser Zeit lasteten sie nur wenig auf meinem Gewissen. Ich war jung und schön und wählte meine Freiersleute unter den Nachfahren Eluas aus. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass mir all dies nicht zu Kopf stieg. Seine Freiersleute auswählen zu können verleiht einem eine gewisse Macht, die ich vorteilhaft einzusetzen lernte. Dreimal in Folge lehnte ich Angebote von Childric d'Essoms ab, bis sogar Delaunay die Klugheit meiner Entscheidung infrage stellte, aber darin war ich eine Meisterin meiner Kunst. Als ich sein viertes Angebot annahm - sein letztes, so warnte mich sein Diener -, war seine aufgestaute Wut wahrlich außerordentlich. In jener Nacht verbrannte er mich mit einem glühend heißen Schürhaken. In jener Nacht entfuhr ihm aber auch der Name seines Schutzherrn. Die Dienerinnen und Diener Naamahs sind natürlich nicht die Einzigen, die unter dem Schutz mächtiger Frauen und Männer stehen; in der höfischen Gesellschaft ist fast jeder Beschützer oder Schützling. Lediglich die Dienste unterscheiden sich voneinander. Delaunay schätzte ich unter anderem deshalb sehr, weil er sich dieser höfischen Ordnung nicht unterwarf. Ich nehme an, dies ist einer der Gründe, warum d'Essoms ihn so hasste. Der andere Grund erschloss sich durch den Namen, den er so unbeabsichtigt aussprach. Ohne Ausnahme gefiel es Childric d'Essoms, mich dazu zu drängen, Delaunays Motive offen zu legen. Wo Solaine Belfours eine Vielzahl von Gründen suchte, 234 um mich zu bestrafen, brauchte d'Essoms nur diesen einen: Delaunay. Als er den Schürhaken benutzte, wusste er, dass er zu weit gegangen war. Ich sackte in meinen Fesseln mit gespreizten Gliedern gegen das von ihm bevorzugte Andreaskreuz, während ich mit der nahenden Bewusstlosigkeit rang und daran dachte, dass Delaunay mich dafür schelten würde, das Signale nicht gegeben zu haben. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte nicht geglaubt, dass er es wirklich tun würde. Aber d'Essoms hatte den Schürhaken auf die Innenseite meines Schenkels gedrückt, und der Gestank meines eigenen versengten Fleisches stieg mir in die Nase. Als er ihn wegziehen wollte, war der Schürhaken hängen geblieben und hatte einen Fetzen Haut mitgerissen. Von bloßer Lust konnte hier keine Rede mehr sein, jedenfalls nicht so, wie es irgendjemand außer einer anguisette verstehen würde. Der Schmerz spannte meinen ganzen Körper wie eine gezupfte Harfensaite, und hinter geschlossenen Augen sah ich nichts als rotes Licht. Ich befand mich in ihr und war ein Teil von ihr, zugleich die gespannte, bebende Saite und der hohe, getragene Ton, den sie hervorbrachte, ein Ton von reinster Schönheit, der nur in den Tiefen der Pein erklingt. Durch den karmesinroten Dunstschleier hindurch hörte ich wie aus großer Ferne die aufgeregte Stimme d'Essoms und spürte, wie er mir die Wangen tätschelte. Ich konnte den Widerhall eines lauten Aufpralls irgendwo im Raum hören und wusste, dass er den Schürhaken vor Entsetzen von sich geschleudert hatte. »Phedre, Phedre, sprich zu mir! Oh, um des Heiligen Eluas willen, sprich zu mir, Kind!« Angst und Sorge schwangen in seiner Stimme; mehr als er je zugegeben hätte. Ich spürte seine Hände, spürte, wie er mich mit grober Zärtlichkeit tätschelte und rüttelte, und hörte seine gemurmelten Worte.
»Barquiel 235 L'Envers wird meinen Kopf fordern, wenn Delaunay Anzeige erstattet ... Phedre, Kind, wach auf, sag mir, dass es dir gut geht, es ist nichts weiter als eine Verbrennung ...« Mit hängendem Kopf öffnete ich die Augen, und der rote Schleier wich zurück, verblasste in meinem rechten Auge und zog sich zu einem einzelnen Punkt in meinem linken zusammen. Als Childric d'Essoms sah, wie sich meine Augenlider hoben, schrie er erleichtert auf. Sogleich löste er meine Fesseln und bettete meinen schlaffen Körper vorsichtig auf den Boden, als er an dem Kreuz herunterglitt. Während er mich inmitten seines Trophäenzimmers in den Armen wiegte, rief er nach seinem Leibarzt. In diesem Moment wusste ich, dass er mir gehörte. Wie ich vermutet hatte, war Delaunay nicht besonders erfreut, obgleich er sich bei meiner Rückkehr jeglichen Kommentars enthielt. Er ordnete für mich absolute Bettruhe an und ließ einen yeshuitischen Arzt kommen, um nach mir zu sehen. Obgleich die Yeshuiten in vielen Ländern gemieden werden, heißt man sie in Terre d'Ange willkommen, denn der Heilige Elua entstammt dem Blute Yeshuas, was wir auf ewig in Erinnerung behalten. Der Doktor wirkte mit seinem ernsten Gesicht und den für sein Volk so typischen Locken Ehrfurcht gebietend, aber seine Berührung war sanft, und ich schlief ruhiger, nachdem er mir zur Entgiftung einen Wickel gemacht und einen neuen Verband um meinen Schenkel gelegt hatte. Es war ihm sichtlich unangenehm, mich in so intimer Weise zu berühren, was mir ein Lächeln entlockte. »Ich komme in zwei Tagen wieder, um sie zu untersuchen«, erklärte er Delaunay in seinem förmlichen und nicht akzentfreien D'Angeline. »Aber ich möchte Euch bitten, die Wunde morgen früh zu inspizieren. Bei Brandgeruch lasst bitte unverzüglich nach mir schicken.« Delaunay nickte, dankte ihm und wartete höflich, bis der Doktor aus meinem Zimmer geführt worden war. Dann wandte er sich mir mit seinem ungerührten Blick zu und hob die Augenbrauen. »Ich hoffe, das war es wert«, bemerkte er knapp. Ich war nicht gekränkt, denn ich wusste, dass ich ihm wichtig war. »Möget Ihr darüber entscheiden, Herr.« Ich wand mich in meinem Bett und legte mir die Kissen so zurecht, dass ich aufrecht sitzen konnte, bis Delaunay leise vor sich hin fluchte und mir half, wobei seine vorsichtigen Bewegungen eine andere Sprache als sein Ton sprachen. »In Ordnung«, erwiderte er, unfähig, seine Belustigung über mein heuchlerisches Getue zurückzuhalten, die in seinem Blick schimmerte. »Im Eingang häufen sich Liebesgeschenke von Childric d'Essoms, als Sühne für diese Verletzung, und wenn er nicht demnächst damit aufhört, schickt er bald noch ein Paar Rinder oder sogar eine Ausgabe des Verlorenen Buches von Raziel. Was hast du denn so Wertvolles in Erfahrung gebracht, dass du dich dafür wie ein Stück Lamm grillen lässt?« Zufrieden, dass ich nun seine volle und unvoreingenommene Aufmerksamkeit hatte, lehnte ich mich entspannt gegen die Kissen und sagte es geradeheraus. »Childric d'Essoms ist Barquiel L'Envers verpflichtet.« In jenem Augenblick glich Delaunays Miene dem Schauspiel eines Sturms, der über den Horizont hinwegfegt. Duc Barquiel L'Envers war der leibliche Bruder der seit langem verstorbenen Isabel. »D'Essoms ist also der Mittelsmann für die Bestrebungen des Hauses L'Envers«, überlegte er laut. »Ich fragte mich schon, wer die Fackel am Brennen hält. Er muss hinter L'Envers' Beförderung ins Kalifat stecken. Du hast ihm doch nichts gesagt?« Sein Blick war hastig und stechend. »Herr!«, protestierte ich, 236 237 während ich mich aufrecht hinsetzte und dabei vor Schmerz zusammenzuckte. »Phedre, es tut mir Leid.« Delaunays Gesichtsausdruck veränderte sich, als er sich zu mir ans Bett kniete und meine Hand ergriff. »Diese Neuigkeit ist wahrlich eine Perle von sehr großem Wert, aber sie rechtfertigt keinesfalls den Schmerz, den du erlitten hast. Versprich mir, dass du das nächste Mal das Signale geben wirst.« »Herr, ich kann nun mal nicht aus meiner Haut, und genau aus diesem Grund habt Ihr meine Marque gekauft«, erwiderte ich überlegt. »Aber ich hätte nie gedacht, dass er den Schürhaken wirklich benutzt, glaubt mir.« Ich sah, dass meine Worte ihn beruhigten, und versuchte die Gunst des Augenblicks zu nutzen. »Herr, was war zwischen Euch und Isabel L'Envers, dass Euch ihr Hass sogar bis nach ihrem
Tod verfolgt?« Wenn ich annahm, ihn in einem schwachen Augenblick erwischt zu haben, so irrte ich; seine Gesichtszüge nahmen diesen strengen Ausdruck an, den ich so liebte. »Phedre, wir haben doch schon darüber gesprochen, und es ist wirklich das Beste, wenn du die Beweggründe für mein Tun nicht kennst. Erinnere dich bitte an meine Worte. Wenn Childric d'Essoms wirklich dachte, du wüsstest etwas und gäbst es nicht preis, wäre er nicht so freundlich mit dir umgegangen. Er ist nicht gerade für seine Sanftmut bekannt.« Damit küsste er mich auf die Stirn, verabschiedete sich und bat mich, zu schlafen und zu genesen. Elua sei Dank heilt meine Haut sehr schnell, ein Vermächtnis von Kushiels Pfeil. Als der yeshuitische Arzt wiederkehrte, bestätigte er, dass die hässliche Brandwunde rein von jeglicher Spur von Eiter sei, und gab Delaunay eine Heilsalbe zum Auftragen, die das Nachwachsen der Haut fördern und Vernarbungen vorbeugen sollte. Im Valeriana-Haus sah ich Adepten, 238 deren Haut von wulstigen Narben übersät war, doch ich blieb davon immer verschont. Delaunay hatte stets einen Vorrat an Salben und Linderungsmitteln im Haus, die man auf die Art Striemen, wie ich sie erhielt, auftragen konnte; obgleich ich sagen muss, dass nichts so gut wirkte wie die Heilsalbe des Yeshuiten. Da ich meine Kunst eine Weile nicht ausüben konnte, verbrachte ich meine freie Zeit mit Hyacinthe. So wie meine hatte sich auch seine gesellschaftliche Stellung geändert. Er hatte seine Mutter schließlich überzeugt, sich von einem Teil ihres hart verdienten Goldes zu trennen, um seinen eigenen Reichtum zu mehren, und jetzt besaßen sie das Gebäude auf der Rue Coupole. Es war nicht weniger klein und schmutzig als zuvor, aber sie konnten es ihr Eigen nennen. Sie lebten, wie sie es immer getan hatten, im unteren Stockwerk und vermieteten Zimmer an einen nicht abreißenden Strom von Tsingani-Familien, die mit jedem Pferdemarkt und jeder Gauklertruppe, die den Handelsrouten folgte, in die Stadt kamen. Seine Mutter war älter und kleiner geworden, aber der wilde, grimmige Blick ihrer tiefliegenden Augen war immer noch der gleiche. Ich bemerkte, wie die umherziehenden Tsingani ihr Respekt zollten, doch ich bemerkte auch, dass sie Hyacinthe mieden, obgleich ich ihn nie darauf ansprach. Die Tsingani betrachteten ihn als halb D'Angeline und mieden ihn deshalb, aber unter den D'Angelines war er der Prinz des Fahrenden Volkes, und die Bewohner von Mont Nuit bezahlten weiterhin gutes Geld, damit er ihnen aus der Hand las. Hyacinthe hatte seinen Traum, das Volk seiner Mutter zu finden und sein Geburtsrecht als ihr Sohn zu beanspruchen, noch nicht aufgegeben; aber ihre Familie gehörte nicht zu den Tsingani, die durch die Tore der Stadt schritten und sich für 239 einige Zeit in ihr niederließen. Sie hatten dies einmal und nur dieses eine Mal getan, erzählte er mir denn so hatte es ihm seine Mutter erzählt -, und dabei ihre schönste Tochter an die Verlockungen der Liebeskunst der D'Angelines verloren. Jetzt traten nur noch die ärmsten Gruppen durch die Tore der Stadt, während die Blüte des Tsingani-Adels durch die Welt wanderte und der Longo Drom, der langen Straße, folgte. Das glaubte jedenfalls Hyacinthe, und es stand mir nicht zu, ihn darüber eines Besseren zu belehren; vielleicht war es ja wirklich so gewesen. Für den Augenblick wirkte er mehr als zufrieden, der unbestrittene Prinz des Fahrenden Volkes in Mont Nuit zu bleiben, worüber ich sehr froh war, denn er war mein Freund. Doch sagte ich ihm nie, dass ich seinen Namen als mein Signale gewählt hatte. Ich mochte Hyacinthe von ganzem Herzen, aber er hätte wie ein stolzer Hahn damit geprahlt, und ich konnte seine Eitelkeit nur in Maßen ertragen. »Childric d'Essoms steht also unter der Fuchtel der L'Envers-Familie«, wiederholte er, als ich ihm die Neuigkeit berichtete, und pfiff durch die Zähne. »Das sind mal echte Neuigkeiten, Phedre. Was für Schlüsse zieht dein Delaunay daraus?« »Keine.« Ich verzog das Gesicht. »Mit zunehmendem Alter wird er immer verschlossener und tut auch noch so, als würde er uns mit dieser Geheimnistuerei beschützen. Obwohl ich manchmal glaube, er erzählt Alcuin Dinge, die ich nicht hören soll.« Wir saßen am Küchentisch, und ich hatte meinen sangoire-farbenen Umhang, den ich in jenen Tagen überall trug, abgelegt, denn die Luft war stickig und roch nach gekochtem Kohl. Seine Mutter stocherte murmelnd im Herd herum und beachtete uns nicht weiter - eine beruhigende Konstante in meinem Leben. Hyacinthe grinste mich an. Er warf eine Silbermünze in die Luft, fing sie mit einer
Hand, ließ sie über die Fingerknöchel 240 wandern und in seiner hohlen Hand verschwinden. Er hatte diesen Trick von einem Straßenzauberer im Austausch für zwei Wochen Miete gelernt. »Du bist eifersüchtig.« »Nein«, protestierte ich und gestand dann: »Ja, vielleicht.« »Hat er mit dem Jungen geschlafen?« »Nein!«, rief ich aus, gleichermaßen über diese Unterstellung und seinen Gebrauch des Wortes »Jungen« empört, wo doch Alcuin nicht jünger als er selbst war. »Delaunay würde so etwas nie tun!« Hyacinthe zuckte mit den Achseln. »Dennoch musst du diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Du würdest sofort damit prahlen, wenn du die Glückliche wärst.« »Ich bin aber nicht die Glückliche.« Dass eine solche Verheißung nicht einmal entfernt in Aussicht war, stimmte mich verdrießlich. »Nein, er geht mit Alcuin ungezwungener um, weil er dessen Freiersleute für weniger gefährlich als meine hält oder für feinfühliger, wenn es mal zur Sache geht. Wie auch immer, seit er Alcuin als seinen Schreiber an den Hof mitgenommen hat, stecken sie in politischen Fragen immer die Köpfe zusammen. Ich kann die Logik darin nicht erkennen, dass der Cruarch erschlagen wurde und jetzt ein anderer an seiner Stelle regiert.« Hyacinthes Mutter murmelte lauter am Herd. Früher hatte mein Freund solch unheilschwangerem Grollen keine Beachtung geschenkt; jetzt, so bemerkte ich, veränderte sich seine Miene, und er sah aus wie ein Hund auf der Fährte. »Was ist denn, Mutter?« Sie wiederholte die Worte unverständlich, drehte sich dann um und schwenkte eine Schöpfkelle in unsere Richtung. Ich erinnerte mich an ihren ausgestreckten Finger, der in meinem Herzen eine Note der Angst hatte erklingen lassen. »Seht Euch vor«, sagte sie dann in unheilverkündendem Ton. »Lasst nicht den Cullach Gorrym außer Acht.« 241 Ich sah Hyacinthe an, der verwirrt blinzelte. »Ich verstehe deine Worte nicht«, wandte er sich vorsichtig an seine Mutter. Sie zitterte, senkte die Schöpfkelle und hielt die andere Hand vor die Augen. Ihr Gesicht sah eingesunken und alt aus. »Ich weiß nicht«, gab sie mit schwacher Stimme zu. »Der schwarze Keiler.« Ich räusperte mich und fühlte mich seltsam reumütig. Beide blickten mich fragend an. »Es ist Cruithne, Madame, die Worte, die Ihr spracht.« Da ich mein Wissen in Gegenwart meiner Freiersleute seit so langer Zeit verborgen hielt, machte es mich jetzt verlegen, es preiszugeben. »Lasst nicht den schwarzen Keiler außer Acht.« »Nun gut.« Ihr Gesicht entspannte sich und nahm wieder seinen üblichen mürrischen Ausdruck an. Eigensinnig reckte sie das Kinn und trotzte mir, meinem Wissen und meinem sangoire, weil ich ihr widersprochen hatte. »Da hörst du's, kleines Fräulein. Lasst nicht den schwarzen Keiler außer Acht.« Dies war die zweite Prophezeiung, die mir die Mutter des Prinzen der Fahrenden, meines einzigen Freundes, ohne Bezahlung gewährte; und so eindeutig die erste gewesen war, undurchsichtig erschien mir die zweite. Ich sah noch einmal zi Hyacinthe hinüber, der beide Hände hob und dabei den Kopl schüttelte. Was auch immer der schwarze Keiler sein mochte, wusste es genauso wenig wie ich. Als ich nach Hause zurückkam, berichtete ich Delaunay, die den Tag damit verbracht hatte, sich eine neue Garderobe anpassen zu lassen, von dem Vorfall. Da es ihm missfiel, so viel Zeit für Schneider zu verschwenden, war er übel gelaunt und schnell bei der Hand, die Warnung abzutun. »Gerade du solltest wissen, dass Weissagungen der Tsingani reine Torheit sind«, antwortete er scharf. Ich starrte Delaunay an. »Sie hat die Gabe. Ich habe es gesehen. Herr, sie versuchte nicht, mich zu belügen, weder jetzt, noch als sie mir sagte, ich würde den Tag verwünschen, an dem ich hinter Euer Geheimnis käme.« »Sie ...« Mein Lehrer hielt inne. »Das hat sie gesagt?« »Ja, Herr.« Alcuin brachte den Weinkrug, um Delaunays Glas zu füllen. Sein Haar fiel nach vorne, als er einschenkte, und Delaunay ließ eine seiner glänzenden Strähnen geistesabwesend durch die Finger gleiten, während er in die Flamme einer Öllampe blickte. »Herr«, warf Alcuin sanft ein, als er sich wieder aufrichtete. »Wisst Ihr noch, ich habe Euch doch von dem Geflüster der albischen Delegation erzählt? Die Schwester des Cruarch hatte eine Vision von einem silbernen Schwan und einem schwarzen Keiler.« »Aber wer ist ...?« Delaunays Gesichtsausdruck veränderte sich. »Alcuin, lass morgen nach Thelesis
de Mornay schicken. Sag ihr, ich möchte sie sprechen.« »Wie Ihr wünscht, Herr.« 242 243 20 Was aus jener Unterredung wurde, habe ich nie erfahren oder zumindest erst viel später, als es keine Bedeutung mehr hatte. Ich hätte darüber verärgert sein können, hätten nicht meine eigenen Interessen Delaunays Intrigen eine Zeit lang überlagert. Melisande Shahrizai gab eine Geburtstagsfeier für Prinz Baudoin de Trevalion. Sie hatte dazu das gesamte Cereus-Haus für eine ganze Nacht verpflichtet, und wir waren alle drei eingeladen. Ich hatte weder das Versprechen vergessen, das sie mir bei unserer letzten Begegnung gegeben hatte, noch ihre Worte, als wir uns zum ersten Mal trafen. Du hast den Wunsch, Naamah zu dienen, nicht wahr, mein Kind? Wie viele Freiersleute ich bis dahin auch schon gehabt hatte, keiner von ihnen hatte meine Knie je mit einem bloßen Blick zu Butter werden lassen. Falls ich es noch nicht erwähnt habe, Melisande war ausgesprochen reich. Das Haus Shahrizai ist an sich schon wohlhabend, und darüber hinaus standen ihr 244 noch die Besitztümer von zwei verstorbenen Ehemännern zur Verfügung. Hätte es die Gerüchte um jene Todesfälle nicht gegeben, wäre es durchaus vorstellbar gewesen, dass Lyonette de Trevalion Melisande als würdige Schwiegertochter angesehen hätte, obgleich ich das bezweifeln möchte. Nach allem, was ich gehört hatte, war sie keine Frau, die Rivalitäten zwischen Gleichgestellten duldete. Ich persönlich glaube jedoch nicht, dass Melisande Shahrizai auch nur einen von ihnen umgebracht hat. Beide waren steinreich und uralt, und ich denke nicht, dass sie es nötig hatte. Obgleich sie beim ersten Mal erst sechzehn und bei der zweiten Hochzeit gerade neunzehn Jahre alt war, kann ich mir kaum vorstellen, dass sie damals weniger kalkulierend war als bei unserer ersten Begegnung; und so wie ich sie einschätze, war sie viel zu klug, lediglich für Gold unnötige Risiken einzugehen. Obwohl ich damals nicht wusste, wie geschickt sie andere benutzte, um ihre Ziele zu erreichen. Jetzt weiß ich es. Wie auch immer es um die Wahrheit bestellt sein mag, Melisande wurde dadurch zu einer sehr reichen Frau, und überall in der Stadt sprach sich in Windeseile die Nachricht von Baudoins Geburtstagsfeier herum. Einladungen, in goldener Tinte auf dickes Pergament geschrieben und mit Duftwasser parfümiert, wurden überbracht und eifersüchtig bewacht. Die Gerüchte überschlugen sich, was die Gästeliste und die möglichen persönlichen Beleidigungen anging, die sich durch Auslassungen offenbarten. Melisande überbrachte die Einladung persönlich und schritt in einer Wolke desselben feinen Dufts, den die Karte ausströmte, majestätisch ins Haus. Delaunay öffnete das Pergament und hob die Augenbrauen. »Mein ganzes Haus?«, fragte er trocken nach. »Ich hoffe, 245 Euch ist bewusst, dass meine Proteges nicht in der Vertragssumme für das Cereus-Haus inbegriffen sind, Melisande.« Als sie lachte, reckte sie das Kinn, so dass die liebliche Linie ihres Halses zu sehen war. »Ich wusste, Ihr würdet das sagen, Anafiel. Deshalb bin ich gekommen, um Euch persönlich einzuladen. Ja, natürlich. Das ist schließlich mein Fest, und Eure kleinen Schüler sind interessanter als drei Höflinge zusammengenommen.« »Ich dachte, es wäre Baudoins Fest.« Seine Stichelei ließ sie unbeeindruckt. Sie blickte ihn lediglich unter ihren dichten Wimpern hervor an und lächelte. »Natürlich ist es für Baudoin, aber es ist mein Fest, Anafiel. So gut solltet Ihr mich inzwischen kennen.« Delaunay erwiderte ihr Lächeln und strich mit dem Handballen über den Rand des Pergaments. »Wenn Ihr glaubt, den Sohn der Löwin von Azzalle dazu bringen zu können, seiner Mutter zu trotzen, lauft Ihr Gefahr, Eure Grenzen zu überschreiten, Melisande. Sie ist ein Furcht erregender Feind.« »Ach, mein lieber Delaunay, immer auf der Jagd nach Neuigkeiten«, antwortete sie leichthin, während sie ihre Hand auf die seine legte und nach der Einladungskarte griff. »Wenn Ihr nicht zu kommen wünscht...?« »Nein.« Er schüttelte grinsend den Kopf und trat mit der Einladung in der Hand einen Schritt zurück.
»Wir werden kommen, dessen könnt Ihr sicher sein.« »Ich bin überglücklich, das zu hören.« Melisande Shahrizai machte einen spöttischen Knicks in seine Richtung und wandte sich zum Gehen. Sie sah mich im Schatten stehen und warf mir eine Kusshand zu, als sie hinausging. Delaunay bemerkte mich und runzelte die Stirn. Wie ich in diesem Moment dreinblickte, kann ich mir nicht vorstellen. »Was auch passiert«, warnte er mich, »du musst Augen und 246 Ohren offen halten, Phedre. Und warne auch Alcuin. Melisande Shahrizai tut nichts ohne Grund, und es ist mir ein Rätsel, was sie hiermit bezweckt. Das Ganze macht mich misstrauisch.« Ein Schatten fiel aufsein Gesicht. »Das heißt wohl, ich muss wieder nach meinem Schneider schicken lassen«, fügte er hinzu, und diese Aussicht stimmte ihn verdrießlich. Verdrossen oder nicht, Delaunay sorgte dafür, dass wir auf Baudoins Fest alle eine gute Figur machten. Bei seinem auserlesenen Geschmack war es erstaunlich, wie wenig Geduld er für die Herstellung feiner Gewänder aufbrachte - aber das Endergebnis war deshalb, wie ich Euch versichern kann, nicht weniger großartig. Zu guter Letzt strahlte Alcuin in mitternachtsblauem Samt, in dem er wie eine bei Mondlicht geträumte Vision wirkte. Delaunay trug ein dunkles Braun, das ihn wie eine herbstliche Augenweide aussehen ließ, mit seinem rostbraunen Haar und den safrangelben Schlitzen in seinen Ärmeln. Und ich war entzückt, als ich erfuhr, dass er einen weiteren Ballen sangoire in Auftrag gegeben hatte, um daraus ein Kleid für mich schneidern zu lassen. Obgleich der Rücken nicht so tief ausgeschnitten war, wie ich es mir gewünscht hätte - es gilt für eine Dienerin Naamahs als vulgär, eine unvollendete Marque zur Schau zu stellen -, hatte es ein tiefes Dekollete, und ich trug einen Rubinanhänger, den mir Childric d'Essoms geschenkt hatte und der sich in die Mulde zwischen meinen Brüsten schmiegte. Seit dem Tag, an dem ich das Cereus-Haus in Delaunays Kutsche verlassen hatte, war ich nicht mehr dorthin zurückgekehrt, und es war ein seltsames Gefühl, zurückzukommen. Von meinem ersten Besuch abgesehen, hatte ich mich diesem Ort immer nur schmählich über den Sattel einer Wache geworfen genähert. Hinter den verschlossenen Toren konnte ich sehen, dass der Bau voller Licht und Fröhlichkeit erstrahlte. Ich 247 erschauerte, als wir den Eingang erreichten und Delaunay aus der Kutsche stieg. »Geht es dir gut?«, flüsterte Alcuin, der sich nach vorne beugte, um meine Hand zu nehmen. Sein Gesicht strahlte nichts weiter als freundliche Sorge aus, und ich bereute die vielen Male, bei denen ich neidisch auf ihn gewesen war. »Mir geht es gut.« Ich erwiderte seinen Händedruck, raffte meine Röcke und folgte Delaunay. Prinz Baudoin de Trevalions Geburtstagsfeier war schon in vollem Gange. Es war Sommer, und nahezu jede Tür im Haus stand offen. Obwohl ich dort sechs Jahre verbracht hatte, hatte ich noch nie zuvor ein solches Fest gesehen. Große Vasen voller Rosen, Heliotrop und Lavendel standen überall und die Blüten verströmten Duft in Hülle und Fülle. In jeder Nische spielten Musiker, und es seufzten und betasteten sich Liebhaber in jeder Ecke. Für jeden Adepten und jede Adeptin des Cereus-Hauses war die Vertragssumme einer ganzen Nacht bezahlt worden. Kein Gast würde zurückgewiesen werden. Schon der Gedanke daran verschlug mir den Atem und traf mich wie eine Woge neidischer Begierde. Sich in einer solchen Lage zu befinden, für die ganze Nacht gekauft, auf ein Fingerschnippen hin für jeden verfügbar! Ich wünschte fast, ich wäre eine Adeptin des Cereus-Hauses. Doch dann erinnerte ich mich wieder daran, dass ich ein Gast war, und allein bei diesem Gedanken schwindelte es mich noch mehr. Wir wurden zur Großen Halle geleitet, die beleuchtet und geschmückt war, wie ich es nur zum Ball der Wintersonnenwende je gesehen hatte. Es hatte sich schon eine große Menschenmenge in prächtigem Gefieder versammelt, deren Gelächter und Liebesgesäusel sich mit der Musik vermischte, dazu hingen Hunderte von ersprießlichen Düften in der Luft. 248 Bildschöne Eleven beider Geschlechter trugen Tabletts mit Speisen und Getränken umher und boten sie allen und jedem an. Die livrierten Lakaien riefen unsere Namen aus, woraufhin ein gut aussehender blonder Mann in den Farben des Cereus-Hauses sich anmutig aus der Menge löste und zu uns herüberkam. »Phedre!«, rief er und gab mir den Willkommenskuss. »Willkommen. Willkommen zu Hause.« Es war
Jareth Moran, ein wenig älter, aber sonst immer noch der Gleiche. Ich blinzelte vor Überraschung, als ich sah, dass er die Kette eines Doyen mit dem Siegel des Cereus-Hauses um den Hals trug. Er wandte sich lächelnd zu Delaunay. »Messire Delaunay, wie schön, Euch zu sehen. Seid willkommen. Und Ihr müsst Alcuin nö Delaunay sein.« Er drückte Alcuins Hand nur einen kurzen Moment, als er einen Anflug von Zurückhaltung in dessen dunklen Augen aufflackern sah. Ich hatte die erlesene Höflichkeit des Nachtpalais vergessen; oder besser gesagt, hatte nie zu denjenigen gehört, denen sie zuteil wurde. »Seid willkommen.« »Die Doy...«, begann ich und korrigierte mich dann. »Die alte Doyenne?« Jareth blickte ernst, obwohl ich sehen konnte, dass es aufgesetzt war. »Sie starb vor sieben Jahren, Phedre. Es war ein friedvoller Tod, sie ging im Schlaf von uns.« Er berührte seine Kette. »Seitdem bin ich Doyen.« »Es tut mir Leid«, murmelte ich, von unerklärlichem Schmerz erfüllt. So grimmig die alte Frau auch gewesen war, sie war Teil meiner Kindheit. »Ich bin sicher, Ihr seid ein würdiger Nachfolger.« »Ich tue mein Bestes.« Jareth lächelte freundlich. »Ihr erinnert Euch noch an Suriah? Sie ist nun meine Stellvertreterin.« »Komm«, forderte Delaunay Alcuin auf und machte eine Kopfbewegung in Richtung der Großen Halle. »Gesellen wir 249 uns zu den Feiernden, mein Lieber. Ich bin sicher, Phedre und der Doyen haben viel zu besprechen.« Ich sah ihnen nach, wie sie in der Menge verschwanden. Am anderen Ende der Halle stand auf einem Podest eine Tafel für Prinz Baudoin und wenige Auserwählte. Suriah war ebenfalls dort; der Prinz fütterte sie gerade mit Leckerbissen. Melisande Shahrizai blickte amüsiert drein. »Sie war die Winterkönigin.« »Das hat ihr Rang und Namen eingebracht.« Jareths Stimme veränderte sich und nahm einen pragmatischen Ton an, von Adept zu Adept. »Die Leute erzählen die Geschichte immer noch jeden Winter. Ich wäre ein Narr gewesen, hätte ich jemand anderen gewählt.« Er war nie ein Narr gewesen. »Nein«, erwiderte ich zustimmend. »Ihr habt die richtige Wahl getroffen.« Sogar aus der Entfernung konnte ich erkennen, dass ihre blasse Schönheit langsam welkte. Auch wies nichts an ihr auf den unerwartet harten Kern hin, der nur bei den wenigen Adepten, die den Verlust der zarten Blüte der Jugend überlebten, unter der feinen Schale verborgen lag. Ich glaubte nicht, dass Suriah es einmal zur Doyenne bringen würde, und es tat mir Leid um sie. »Sie war immer freundlich zu mir.« »Ich hoffe, Ihr haltet das Cereus-Haus in liebevoller Erinnerung, Phedre.« Ich blickte in Jareths blaue Augen und erkannte, dass es ihm wirklich wichtig war; in bestimmten Kreisen konnte mein Wort den Ruf seines Hauses zerstören. »Ja«, antwortete ich aufrichtig. »Auch wenn ich nie richtig dazugehört habe, wirklich gemieden hat mich ja niemand, und dass man mich ab und zu schlecht behandelt hat, das hatte ich wohl verdient und«, ich lächelte ihn schalkhaft an, »auch sehr genossen.« Er errötete; im Cereus-Haus ist es ein Zeichen von Feingefühl, die vehementeren Leidenschaften unanständig zu finden. »Es gibt keine 250 bessere Ausbildung als die des Cereus-Hauses«, fügte ich hinzu. »Sie ist mir zugute gekommen, und ich kann nur Gutes über meine Zeit in Eurem Hause sagen.« »Das freut mich«, erwiderte er, gewann seine Gelassenheit zurück und verbeugte sich vor mir. »Es ist uns eine Ehre, Euch großgezogen zu haben.« Dann griff er in eine Tasche seiner Weste und holte ein Zeichen des Cereus-Hauses hervor. »Bitte, nehmt dies in dem Wissen an, dass Ihr hier immer willkommen seid.« Das tat ich und dankte ihm anmutig. Jareth lächelte. »Genießt die Nacht«, sagte er dann. »Es kommt nur selten vor, dass eine Dienerin Naamahs die Gelegenheit hat, als Freiersfrau aufzutreten.« Damit verabschiedete er sich von mir und eilte mit geschmeidigen Bewegungen weiter, um die noch immer eintreffenden Gäste zu begrüßen. Weder Delaunay noch Alcuin waren irgendwo zu sehen, aber sie bahnten sich sicher gerade ihren Weg zum Podest, und ich beeilte mich, mich ihnen anzuschließen. Es wäre unschicklich für ein Mitglied von Delaunays Haus, nicht zugegen zu sein, wenn er dem Prinzen seine Aufwartung machte. Ich hatte es nicht verlernt, anmutig durch eine Menge zu schlüpfen, und musste mich selbst daran erinnern, dass es keinen Grund gab, den Blick gesenkt zu halten; dennoch verspürte ich eine ungerechtfertigte Erregung angesichts der Kühnheit, anderen Freiersleuten
offen ins Gesicht zu blicken. Es war wirklich seltsam, wieder hier zu sein. Eine Hand voll Menschen hatte sich am Fuß des Podests versammelt und wartete darauf, dem Prinzen einen freudigen Geburtstag zu wünschen, dort entdeckte ich auch Delaunay und Alcuin. Wie immer umgab Delaunay eine Aura der Reglosigkeit, diese aufmerksame Ruhe verlieh ihm eine Würde, die jene aller anderen um ihn herum weit übertraf. 251 Auf dem Podest herrschte alles andere als würdevolles Benehmen. Prinz Baudoin, älter als der wilde Jüngling, dem ich zum ersten Mal in dieser Halle begegnet war, hatte weder sein gutes Aussehen noch den hektischen, fröhlichen Schimmer verloren, der seine meergrauen Augen zum Leuchten brachte. Wie ich vom hinteren Teil der Halle aus gesehen hatte, hielt er die arme Suriah auf seinem Schoß und umfing sie mit einem Arm. Die Adepten des Cereus-Hauses waren für ein solch unwürdiges Benehmen nicht geschaffen; wenn das Fest in dieser Art weitergehen sollte, hätte Melisande besser daran getan, ein anderes Haus zu mieten - Orchis vielleicht oder Jasmin. Sie saß zu Baudoins Rechter, und ich erkannte in diesem Moment, dass sie das Unbehagen der Adeptin unterhaltsam fand. Melisande hatte diese Wahl also ganz bewusst getroffen. Zwei Männer aus Baudoins Garde, beide ranghohe Adelssöhne, genossen das Privileg, an seiner Tafel zu sitzen. Einer von ihnen folgte dem Beispiel des Prinzen und balancierte eine Adeptin auf seinem Schoß. Dem anderen stand ein Junge zur Seite, der immer wieder sein Weinglas füllte. »Gut, gut.« Baudoin lümmelte auf seinem Stuhl, spähte hinter Suriah hervor und betrachtete Delaunay eingehend, als wir an der Reihe waren, auf das Podest zu treten. »Messire Anafiel Delaunay! Ich hoffe, Ihr habt Euren Streit mit meinem Verwandten, dem Comte de Fourcay, beigelegt. Er hat schließlich nur wenig Freunde. Sagt, was habt Ihr mir mitgebracht? Ein bezauberndes Pärchen Bettgefährten?« »Mein Prinz beliebt zu scherzen.« Delaunay verbeugte sich elegant, und Alcuin und ich folgten seinem Beispiel. »Alcuin und Phedre nö Delaunay aus meinem Haus. Bitte nehmt unsere aufrichtigsten Wünsche für einen freudigen Geburtstag entgegen.« Er drehte sich zu Alcuin um, der das Geschenk für den 252 Prinzen hochhielt; eine filigrane, silberne Parfümkugel, die einen duftenden Bernstein enthielt. Delaunay nahm sie von Alcuin entgegen und reichte sie dem Prinzen mit einer weiteren Verbeugung. »Hübsch.« Baudoin nahm die Duftkugel, roch daran und schüttelte sie dann an Suriahs Ohr. Der liebliche Klang einer versteckten Glocke ertönte. »Sehr hübsch. Ihr dürft nun das Fest genießen, Anafiel. Ihr und Eure kleinen Spielgefährten. Hand aufs Herz, meine Mutter sprach die Wahrheit über Euch! Nur Ihr würdet Huren in ein Freudenhaus mitbringen, Messire.« Delaunay verzog die ganze Zeit über keine Miene, aber Alcuin wurde rot, das in ihm aufsteigende Blut deutlich sichtbar unter seiner hellen Haut. Da rief einer der Leibgardisten des Prinzen - dessen Hände übrigens frei waren: »Ich kenne die hier. Seht nur, ihre Augen! Das ist Delaunays anguisette, das Mädchen, das gerne Schmerzen erleidet.« Er zog das Schwert, das er zum Schutz des Prinzen bei sich trug, führte die Spitze unter die Röcke meines Kleids und hob sie langsam. »Dann lasst uns doch mal einen Blick darauf werfen!«, erklärte er lachend. Baudoins Interesse war geweckt; er stieß Suriah zur Seite und beugte sich nach vorne, um mich genauer zu mustern. Delaunay war so schnell, dass ich nicht einmal sah, wie er sich bewegte. Man hörte den Klang von Stahl, der auf Stein schlägt, und der Wachsoldat hielt sich die leere, schmerzende Hand, während seine Klinge auf dem Boden unter Delaunays Stiefel festsaß. Er wirkte gefährlich, als er dem Blick Baudoins standhielt. »Herr, darf ich Euch daran erinnern, dass diese Mitglieder meines Hauses Eure Gäste sind, von Eurer Dame persönlich eingeladen.« »Phedre?«, flüsterte Suriah, ging um die Tafel herum und nahm mein Gesicht in beide Hände. »Du bist es. Heilige Naamah, du bist ja aufgeblüht, mein Kind!« 253 Immer noch im Sitzen, winkte Baudoin nachlässig mit der Hand. »Schon gut, schon gut, Delaunay, Eure Botschaft ist angekommen, gebt Martin sein Schwert zurück. Jungs, da Euch das ganze CereusHaus zur Verfügung steht, müssen wir Messire Delaunay wohl kaum Umstände wegen seiner Spielgefährten bereiten.« Trotz seiner gelassenen Art war er wahrlich der Herr im Hause; schließlich war er ein Prinz von königlichem Geblüt. Delaunay hob das Schwert des Wachsoldaten auf und
reichte es ihm mit einer steifen Verbeugung, die Martin erwiderte. Der Mann steckte sein Schwert zurück und setzte sich. Alle blieben stumm, als Baudoin sein Glas erhob und in einem Zug leerte. Er setzte es mit einem Knall wieder ab und betrachtete mich nachdenklich. Sein Blick blieb an dem scharlachroten Fleck in meinem Auge hängen und wanderte schließlich an meinem von sangoirefarbenem Samt umschmeichelten Körper entlang, als würde dieser ihm zu seiner Erbauung angeboten. Dieses Mal errötete ich. »Eine echte anguisette also?«, grübelte er. Melisande Shahrizai beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte etwas in sein Ohr. Er hörte ihr mit hochgezogenen Augenbrauen zu, lächelte, führte schließlich ihre Hand an seine Lippen und küsste sie leidenschaftlich, während er mit nahezu abgöttischer Zuneigung in ihre saphirblauen Augen blickte. »Ihr sucht Euresgleichen«, murmelte er ihr zu und winkte wieder in unsere Richtung. »Seid mir zu Willen, geht jetzt und amüsiert Euch. Euer Prinz befiehlt es.« »Ja, Herr«, erwiderte Delaunay kühl und gab uns ein Zeichen, ihm voranzugehen. Sein Ton blieb ohne Wirkung auf Baudoin, aber ich erhaschte einen Schimmer der Belustigung in Melisandes Blick, als sie uns nachsah. Von der Begegnung zermürbt, tauchte ich in der Menge unter und nahm ein Glas Likör von einem hübschen, weiblichen 254 Zögling an. Ich leerte das Glas auf Anhieb und setzte es auf das Tablett zurück. Ich hatte nichts gegessen, und der Likör brannte süß in meinem Hals. Das Mädchen stand in gehorsamer Bereitschaft da, so wie ich es einst getan hatte. Sie war vielleicht dreizehn und erreichte bald das Alter, in dem es sein Gelübde ablegen würde; die Kleine hatte blondes Haar und war von zierlicher Gestalt, eine wahre Nachtblume. Ich berührte ihre Wange und spürte, wie sie erschauderte. Genau das machte eine Freiersfrau aus, diese Macht zu haben. Es brachte mich so sehr aus der Fassung, dass ich mich entfernte; dabei spürte ich ihren verwunderten Blick auf meinem Rücken. Delaunay hatte uns die Anweisung gegeben, Augen und Ohren offen zu halten, aber es fiel mir sehr schwer, mich zu konzentrieren. Ich bewegte mich durch die Menge, gesellte mich zu der einen oder anderen Gruppe, um mich zu unterhalten, und versuchte die Muster zu erkennen, die diesem Freudenfest zugrunde lagen, aber meine Adern glühten von dem Likör, den ich getrunken hatte, und die Musik, die Kerzen und der Duft der Blumen machten mich schwindlig. Es wimmelte nur so von Freunden und Anhängern des Prinzen Baudoin, die in sorgloser Lautstärke verkündeten, dass sie nach einem öffentlichen Referendum verlangen sollten. Sie wollten fordern, dass der König Baudoin als seinen Nachfolger benennen und das Parlament einschreiten sollte. Nichts von dem Gerede war neu und nichts davon schien dringlicher oder ernster als vor einem Jahr. Da ich des Herumlaufens müde wurde und den Avancen eines gewissen hartnäckigen Chevaliers zu entkommen wünschte, der mich bedrängte, mit ihm zu tanzen, schlüpfte ich aus der Großen Halle und machte mich zu einer selten genutzten Liebesnische im ersten Stock auf, die mir in meiner Kindheit manchmal als Zuflucht gedient hatte. 255 Das aufflackernde Licht einer Lampe und die flehende Stimme eines Mannes ließen mich innehalten, bevor ich eintrat. Ich zog mich in den Schatten zurück. »Ich habe fünf Mal nach Euch schicken lassen! Wie könnt Ihr nur so grausam sein, mich zurückzuweisen?« In seinem Ton klang Verzweiflung, und ich erkannte die Stimme. Es war Vitale Bouvarre. Alcuin hingegen sprach kühl und distanziert. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch hier anzutreffen, mein Herr. Ihr seid nicht als ein Freund des Prinzen Baudoin bekannt.« »Aber auch nicht als sein Feind!« Nach der Bestürzung in Vitale Bouvarres Stimme war es einen Moment lang still. »Die Herrin Shahrizai zahlt für Neuigkeiten über die Stregazza, und die Stregazza zahlen für Gerüchte über das Haus Trevalion. Was kann das schon schaden? Ich bin schließlich Kaufmann, mein süßer Junge.« Sein Ton wurde schmeichlerisch. »Warum beliebt es Euch nicht, Euer Gewerbe auszuüben?« Ich hörte ein Rascheln und Kratzen; Alcuin hatte die Berührung abgeschüttelt. »Ich bin ein Diener Naamahs, kein Galeerensklave, mein Herr. Sieben Mal bin ich auf Euer Angebot eingegangen, und sieben Mal habt Ihr mit Euren Gaben geknausert!« Eine weitere Pause. »Ihr werdet eine Freiergabe von mir bekommen.« Bouvarres Stimme zitterte. »Nennt jede Summe! Nur sagt es.«
Alcuin atmete tief durch, und seine Stimme wurde leidenschaftlich, als er antwortete. »Genug, um meine Marque zu vollenden. Und die Antwort auf Delaunays Frage. Das ist mein Preis.« Daraufhin stockte sogar mir der Atem. Es folgte eine lange Zeit der Stille, dann sprach Bouvarre erneut. »Ihr verlangt zu viel«, erklärte er dumpf. »Das ist mein Preis.« Alcuins Stimme klang unnachgiebig. Ich war über die Heftigkeit seiner Gefühle erstaunt. Ich hatte von Anfang an gewusst, dass er seine Arbeit nicht sonderlich schätzte, doch ich hatte bis dahin nicht einmal geahnt, wie sehr er sie verabscheute. Und wenn er es vor mir verborgen hatte, wie viel besser hatte er es vor Delaunay verbergen müssen? Sehr gut, denke ich, denn unser Lehrer hätte nie zugelassen, dass Alcuin weiterhin Naamahs Dienst verrichtete, hätte er davon gewusst. Es war nicht nur gegen seine Natur, es war auch Gotteslästerung. »Und wenn ich sie bezahle«, begann Bouvarre, seine Stimme erneut zittrig, »werde ich Euch nie wieder sehen.« »Wenn Ihr sie bezahlt«, erwiderte Alcuin sanft, »werdet Ihr mich noch einmal sehen, mein Herr. Wenn Ihr es nicht tut, werdet Ihr mich nie wieder sehen.« Wieder langes Schweigen, dann noch einmal Bouvarre. »Es ist zu viel«, wiederholte er. »Ich werde darüber nachdenken.« Alcuin antwortete nicht. Ich hörte Stoffrascheln, als Bouvarre sich zum Gehen wandte, und zog mich noch weiter in die Dunkelheit zurück, um nicht entdeckt zu werden. Die Gefahr war recht gering, denn seine Augen verrieten, wie aufgewühlt er war, als er an mir vorbeieilte. Als Alcuin nicht herauskam, schlich ich mich vor, um einen Blick zu erhaschen. In der Nische stand eine kleine Statue Naamahs, vor der er kniete. Das Licht einer Lampe flackerte auf dem gespenstigen Weiß seines Haars, als er zu ihr aufblickte. »Vergib mir, meine Herrin und Göttin«, hörte ich ihn murmeln. »Wenn ich deine Grundsätze verletze, dann nur, um denen unseres Herrn Elua zu gehorchen. Was ich tue, das tue ich aus Liebe.« Ich hatte genug gehört; er sollte nicht mitbekommen, dass ich alles beobachtet hatte. Den Adepten des Cereus-Hauses wie auch den Schülern Anafiel Delaunays wird beigebracht, sich 256 257 geräuschlos zu bewegen, wenn es vonnöten ist. Ich schlich mich leise davon. Liebende umschlangen sich in den Gängen und Boudoirs, Festgäste tanzten und tranken in der Großen Halle, Musiker spielten, Eleven bedienten, und Adepten boten Vergnügen an; inmitten dieser ausgelassenen Fröhlichkeit schien ich die Einzige zu sein, die sich einsam und allein fühlte. Als Kind hätte ich mir nicht vorstellen können, dass es noch Größeres zu erreichen gab. Eine Kurtisane von solcher Bedeutung zu sein, dass ich einem Fest wie diesem beiwohnen konnte - sogar noch bevor ich meine Marque vollendet hatte! -, als der geladene Gast der Geliebten eines Prinzen ... war mehr, als ich mir je erträumt hatte. Aber meine Freude wurde von zu viel Wissen getrübt; das Wissen, das mich Delaunay gelehrt hatte, das Wissen um Alcuins Abscheu für diese Welt, die ich nur zu gut kannte. Diese Welt, in der ich keinen Platz hatte, weder als Freiersfrau noch als Dienerin. Ich vermisste Hyacinthe und wünschte, er wäre hier. Ich wünschte sogar, die alte Doyenne wäre hier. Von Melancholie getragen, suchte ich Trost in einem der kleineren Gärten, wo ich hoffte, mit meinen ungewohnten Gefühlen allein zu sein und von dem mondbeschienenen Spiel des Springbrunnens getröstet zu werden. Aber auch dies war mir nicht vergönnt, denn die Fackeln waren längst entzündet, und es hatten sich schon etliche Gäste in dem Garten eingefunden. In einer unbeleuchteten Ecke wand sich kichernd und stöhnend ein umschlungener Haufen von Liebhabern. Ich versuchte, sie anhand ihrer Glieder zu zählen, was mir aber nicht gelang; mindestens drei, vielleicht aber auch vier. Unter einem Zierapfelbaum lag ein weiteres Paar eng umschlungen. Da es keinen anderen Ort gab, an den ich gehen konnte, setzte ich 258 mich trotzdem an den Brunnen, tauchte meine Finger in das dahinplätschernde Wasser und fragte mich, ob der alte, goldene Karpfen der Doyenne immer noch lebte. Ich spürte, wie mich jemand am Nacken berührte. »Phedre.« Ich erkannte ihre Stimme; ein kalter Schauer rann mir über den Rücken. Ich sah auf und erblickte Melisande Shahrizai, die auf mich herablächelte. »Warum sitzt du hier ganz alleine?«, erkundigte sie sich. »Du wirst doch gewiss nicht meine
Gastfreundschaft verschmähen?« Ich erhob mich schnell und glättete meine Röcke. »Nein, Herrin.« »Gut.« Sie stand so nahe bei mir, dass ich ihre Wärme spüren konnte. Es war zu dunkel, um das Blau ihrer Augen zu sehen, aber ich konnte den lasziven Schwung ihrer Wimpern erkennen. »Weißt du, was man in Kusheth über Sünder in Kushiels Obhut sagt?«, fragte sie und strich mit einer Fingerkuppe über meine Unterlippe. Ich schüttelte den Kopf, von ihrer Nähe betäubt. »Man sagt, als er ihnen Gelegenheit zur Reue gab, lehnten sie es aus Liebe zu ihrem Herrn ab.« Mit derselben Hand löste sie mein Haar und ließ es wie einen Wasserfall herabströmen. »Ich glaube, ich habe heute Nacht das perfekte Geschenk für Prinz Baudoin gefunden«, sagte sie beiläufig und vergrub die Hand in meinem Haar. »Dich.« Sie verstärkte ihren Griff, zog mich fest an sich und küsste mich. Ich schnappte nach Luft, als sie mich losließ, und setzte mich hart auf den Rand des Brunnens, während mein Körper durch die plötzliche Berührung mit ihr von Kopf bis Fuß pulsierte. Sie hatte mich in die Lippe gebissen, und ich prüfte mit der Zunge, ob sie blutete. Melisande lachte, ein perlendes Geräusch im Mondenschein. 259 »Leider«, sagte sie leichtherzig, »ist er heute Nacht schon beschäftigt, und ich habe ihm versprochen, mich dazuzugesellen. Aber ich werde gleich morgen mit Delaunay über ein Arrangement für den Prinzen sprechen. Schließlich schulde ich Baudoin ein Abschiedsgeschenk.« Sie wandte sich um und machte ein Zeichen in die Dunkelheit hinter ihr. Ein schöner junger Mann, dem Kanon des CereusHauses entsprechend, trat willfährig hervor. »Jean-Louis«, stellte Melisande ihn vor und legte ihm eine Hand auf die Brust. »Phedre ist mein Gast. Gereiche ihr zur Freude.« Er verbeugte sich anmutig. »Ja, Herrin.« Sie tätschelte seinen Arm und verließ den Garten. »Sei sanft zu ihr«, sagte sie über die Schulter gewandt mit belustigter Stimme. Zu meiner großen Enttäuschung war er es. Ich habe nie erfahren, ob Alcuin oder Delaunay die Gastfreundschaft Melisandes in derselben Art und Weise in Anspruch nahmen; ich bezweifle es. Unser Lehrer warf auf der Kutschfahrt nach Hause einen Seitenblick auf meine zerzauste Erscheinung, enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars. Getreu ihrem Wort schickte Melisande am nächsten Tag einen Diener vorbei, der Delaunay eine Einladung mit der Aufforderung übergab, sie an jenem Abend aufzusuchen. Ich beschäftigte mich den ganzen Tag und wandte mich in den späten Stunden meinen allzu vernachlässigten Studien zu. Ich machte mich daran, eine kleine Sammlung von skaldischen Kriegsgesängen zu übersetzen; der jüngere Sohn eines tiberischen Staatsmannes, der in seiner Jugend ausgiebig gereist war, hatte sie zusammengestellt. Ein Freund Delaunays, ein Caerdicci-Komponist, vertrat die Ansicht, man könne jede Kultur durch ihre Lieder verstehen. So war ich immer noch wach, als Delaunay zurückkam und mich in der Bibliothek verborgen vorfand, voller Eifer und Tintenflecke. Er warf mir einen viel sagen260 261 den Blick zu, der bedeutete, dass er meine List durchschaut hatte, und seufzte, während er sich in seinem Lieblingsstuhl niederließ. »Du hast also Baudoins Aufmerksamkeit erregt? Melisande beabsichtigt, ihm eine Nacht mit dir zu schenken.« Ich zuckte mit den Achseln, verschloss das Tintenfass und wischte den Federkiel an einem Stück Stoff ab. »Ist das nicht von Vorteil, Herr? Ihr wisst, ich bin über die Maßen vorsichtig.« »Du bist also einverstanden.« Er streckte die Hand nach der ersten Fassung meiner Übersetzung aus. »Zeig mir, was du geschrieben hast.« Ich reichte sie ihm und beobachtete ihn beim Lesen. »Wie könnte ich es nicht sein? Er ist ein Prinz von königlichem Geblüt. Außerdem, Herr, ist Gaspar Trevalion Euch gegenüber immer noch verschlossen, und Solaine Belfours hat sich mit Prinzessin Lyonette überworfen, wir haben somit keinen Zugang mehr zu den Machenschaften in Azzalle.« Delaunay sah mich scharf an. »Baudoin de Trevalion ist ein Löwenjunges und äußerst gefährlich, Phedre, und dass Melisande Shahrizai in seinem Schatten steht, macht ihn umso gefährlicher. Wenn du dich darauf einlässt, möchte ich dich dringend bitten, den Mund zu halten. Ein Wort von ihr, und er würde deinen Kopf fordern.« Er reichte mir die Übersetzung zurück. »Sehr schöne Arbeit. Mache eine saubere Abschrift davon, wenn du fertig bist, die werde ich dann an den Maestro schicken. Das wird ihn interessieren.«
Ich strahlte übers ganze Gesicht bei seinem Lob, blieb jedoch bei der Sache. »Melisande Shahrizai ist Eure Freundin, Herr. Habt Ihr so wenig Vertrauen zu ihr, dass Ihr glaubt, sie würde mich verraten?« Wenn ich heute daran denke, dass ich ihm solch eine Frage stellte. Er beugte sich vor, stützte den Ellenbogen auf ein Knie und 262 das Kinn auf die Hand. Das Licht der Lampe fing einige silberne Strähnen in seinem kastanienbraunen Haar ein. »Melisande spielt ein durchtriebenes Spiel, und ich weiß nicht, was sie damit bezweckt. Sollten sich unsere Interessen je überkreuzen, würde ich mich nicht darauf verlassen, dass unsere Freundschaft irgendeinen Schutz bieten könnte. Melisande weiß zu gut, wie weit ich gehen würde, um ...« Er besann sich und verstummte, während er den Kopf schüttelte. »Es ist ohne Bedeutung. Hör auf meine Worte, wenn ich dich zur Diskretion ermahne, Phedre.« »War sie Eure Geliebte?« Wenn sich jemand in einer Sache querstellt, wird er oftmals bei einer anderen nachgeben. Delaunay hatte mir diesen Trick beigebracht, und jetzt wandte ich ihn bei ihm an. »Vor langer Zeit.« Er grinste mich an. Es hatte also keine Bedeutung mehr, sonst hätte er es nicht so leichtherzig offenbart. »Wir passten in vielerlei Hinsicht gut zusammen, wenn auch nicht in dieser. Es kann aber auch sein, dass wir zu gut zusammenpassten. Wenn in der Liebe keiner nachgeben will, ist sie in den Augen Naamahs nicht gefällig.« Delaunay zuckte mit den Achseln und stand auf. »Dennoch glaube ich nicht, dass einer von uns beiden dem anderen Grund gegeben hat, es zu bereuen«, fügte er hinzu. »Gut und schön, es ist dein Wille, darauf einzugehen, und so werde ich morgen den Vertrag aufsetzen lassen.« »Es ist mein Wille.« Dieses Rendezvous erregte mein Interesse, und das leugnete ich auch nicht. Man einigte sich auf einen Termin wenige Wochen später, doch die Zeit verstrich nur langsam. Ich beschäftigte mich, so gut ich konnte, und machte mir mit der ordentlichen Abschrift der skaldischen Lieder für Gonzago de Escabares große Mühe. Es waren Kriegsgesänge, und ich zeigte 263 sie Alcuin, aber sie interessierten ihn nicht, was ich ihm nicht verübeln konnte. Von Vitale Bouvarre kam keine Nachricht, und ich sprach Alcuin nicht auf das an, was ich mitgehört hatte. Auch erzählte ich Delaunay nichts davon. Aber als ich mit Cecilie Laveau-Perrin einen Ausflug zum Heiligtum Naamahs machte, redete ich mit ihr darüber, denn es lastete schwer auf mir, und ich wusste, sie würde es verstehen. Sie entstammte dem Nachtpalais. »Du tust gut daran, dich nicht einzumischen«, beruhigte sie mich. »Alcuin hat sich ihrem Dienst geweiht, und es ist eine Sache zwischen ihm und Naamah. Wenn sein Herz aufrichtig ist, wird sie ihm vergeben. Naamah ist barmherzig.« »Sein Herz ist immer aufrichtig gewesen«, sagte ich in dem Wissen, dass es so war. »Nun, dann.« Cecilie lächelte sanft, und ich fühlte mich erleichtert. Von allen Leuten, die ich kannte, war niemand freundlicher und weiser als Cecilie. So dachte ich damals und tue es auch jetzt noch. Obgleich ich den Eindruck hatte, als wäre es nie so weit, kam schließlich der Tag meines Rendezvous und mit ihm ein Kleid aus goldenem Tuch, das Melisandes Bote überbrachte. Meine Garderobe war mittlerweile schon recht stattlich, denn Delaunay war in diesen Dingen sehr großzügig, aber ich hatte noch nie etwas so Erlesenes besessen. Dazu gab es ein passendes, goldenes Haarnetz, das mit Perlen besetzt war. Ich kleidete mich mit großer Sorgfalt an und bewunderte mich im Spiegel. Alcuin saß auf der Kante meines Betts und beobachtete mich mit ernsten, dunklen Augen. »Sei vorsichtig, Phedre«, warnte er mich sanft. »Ich bin immer vorsichtig«, gab ich zurück und erwiderte seinen Blick im Spiegel. 264 Er lächelte fast unmerklich. »Du warst mit d'Essoms nicht vorsichtig, und du wirst es mit Melisande auch nicht sein. Du könntest dich in ihr verlieren, ich habe es gesehen. Und sie vermag uns einzuschätzen.« Ich steckte eine widerspenstige Locke in das Haarnetz. »Ich gehöre Prinz Baudoin heute Nacht.« Alcuin schüttelte den Kopf. »Sie wird dort sein. Es bereitet ihm Lust, wenn sie im Schlafgemach anwesend ist. Ich habe davon gehört. Melisande Shahrizai ist der Ansporn für Baudoins Begierden.« Schon der Gedanke daran ließ mein Herz höher schlagen, aber ich bemühte mich, es nicht zu zeigen. »Ich werde vorsichtig sein«, versprach ich. Dann erschien auch schon die Kutsche, und wir sprachen nicht mehr davon. Alcuin begleitete mich nach unten, wo ich mich Delaunay zur Begutachtung
präsentierte. »Sehr schön«, murmelte er, während er mir den sangoire um die Schultern legte und ihn für mich schloss. »Ein Mitglied des Delaunay-Hauses mit einem Prinzen von königlichem Geblüt. Wer hätte das gedacht?« Er lächelte, aber in seiner Stimme lag eine Zurückhaltung, die ich nicht deuten konnte. »Ich werde stolz auf dich sein.« Er küsste mich auf die Stirn. »Lass es dir gut gehen.« Durch seinen Segen beruhigt, ging ich hinaus zu Melisandes Kutsche, während Guy mir wie ein Schatten folgte. Ich weiß nicht, wie viele Anwesen Melisande Shahrizai besitzt, aber darunter ist auch ein Haus in der Cite. Ich hatte angenommen, dass es sich in der Nähe des Palastes befand, aber es lag in einer ruhigen Gegend nicht weit von den Außenbezirken der Cite entfernt, ein prächtiges, kleines Schmuckstück von einem Haus, ringsherum von Bäumen umgeben. Später erfuhr ich, dass sie auch Gemächer im Palast hatte. Aber 265 diesen Ort wählte sie, wenn sie privat Gäste empfangen wollte - um ihretwillen wie auch um Prinz Baudoins willen. Ich war nicht sicher, auf welche Art Empfang ich mich gefasst machen sollte, aber als ihre Bediensteten uns in ihr Heim geleiteten, hieß mich Melisande wie einen Gast willkommen. »Phedre!«, rief sie aus und gab mir den Willkommenskuss. »Ich bin froh, dass du eingewilligt hast. Du kennst meinen Herrn, Prinz Baudoin de Trevalion?« Ich blickte an ihr vorbei, sah ihn und machte einen Knicks. »Es ist mir eine Ehre, mein Prinz.« Er trat vor, nahm meine Hände und hob mich hoch. Ich erinnerte mich wieder daran, wie er mich am Ball der Wintersonnenwende ungestüm umarmt hatte. »Es ist mir eine Ehre, solch ein Geschenk entgegenzunehmen«, erwiderte er und blickte an mir vorbei, um Melisande anzulächeln. »Eines, das so von der Hand der Gefährten Eluas berührt ist.« Melisande erwiderte sein Lächeln und legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. Gefangen zwischen beiden, erbebte ich. »Komm«, sagte sie. »Wir möchten, dass du für uns spielst, während wir essen. Ist das annehmbar?« Ich zwang mich zu nicken. »Es ist mir ein Vergnügen.« Sie wandte sich an einen Bediensteten. »Kümmere dich um Messire Delaunays Diener und sorge dafür, dass er gut untergebracht ist. Wir begeben uns zu Tisch.« Obgleich ich diese Kunst beherrschte, war es schon einige Zeit her, seit man mich gebeten hatte, zum Vergnügen eines Freiersmanns zu spielen. Ich verstand sofort, was sie damit bezweckten, als ich sie begleitete; das samtene Kniekissen und die Harfe ließen daran keinen Zweifel. Ich setzte mich, nahm das Instrument und spielte leise, während sie zu Abend aßen. Es war seltsam, erst als Gast willkommen geheißen zu werden, um sich dann in solcher Art und Weise ignorieren zu lassen. 266 Bedienstete in der schwarz-goldenen Livree der Shahrizai gingen schnell und leise aus und ein, um eine große Auswahl an schmackhaften Speisen zu servieren. Melisande und Baudoin aßen und neckten sich während ihres Abendmahls in verhaltenem Ton, wobei sie wie bei Liebhabern üblich über unbedeutende Dinge sprachen. Ich spielte und fühlte mich dabei mehr als merkwürdig. Als sie ihr Mahl beendet hatten und die Speisen abgetragen waren, ordnete Melisande an, ein drittes Glas Wein zu füllen, bevor sie die Dienerschaft entließ. »Phedre, geselle dich zu uns«, forderte sie mich auf und stellte das Glas an Baudoins Seite. »Trink.« Ich setzte die Harfe ab, erhob mich gehorsam und ging zu ihnen herüber. Neben Baudoin blieb ich stehen. Ich probierte den Wein, der sehr gut schmeckte; fein und würzig, mit einem Beigeschmack von Korinthen und reichhaltiger Erde. »Du bist also im Cereus-Haus aufgewachsen«, sinnierte Baudoin, während seine grauen Augen zu glänzen begannen. Er fasste meine Taille und hob mich mühelos und geschmeidig auf seinen Schoß, ohne dass auch nur ein Tropfen meines Weins danebenging. Der Prinz war ein ausgebildeter Krieger und dabei ungewöhnlich stark. »Wirst du dich wie die Adepten jenes Hauses vor Unbehagen winden, so behandelt zu werden?« »Nein, mein Prinz.« Seine Hände lagen nun auf meinen Hüften und drückten mich hinunter. Durch die Schichten aus güldenem Stoff und seine samtenen Hosen spürte ich, wie sich sein Phallus unter meinem Hintern regte. Mir stockte der Atem. »Phedre ist eine anguisette, mein Prinz.« Auf der anderen Seite des Tisches strahlte Melisandes Gesicht im Kerzenlicht, blass, schön und herzlos. »Wenn sie sich windet, dann gewiss nicht, weil ihr
unbehaglich zu Mute ist.« »Das kann man sich kaum vorstellen.« Er strich mit der Hand 267 über meinen Körper, umfasste meine Brust und drückte sie. Meine Brustwarze wurde unter seiner Handfläche hart und fest. »Aber Ihr sprecht ja die Wahrheit«, sagte Baudoin zu Melisande, während er mich zwickte. Ich hielt den Atem an, als mich der Schmerz durchfuhr, und sank in seine Arme. »Und Ihr habt sie in Gewänder gekleidet, die eines Prinzen würdig sind.« Dann fasste er in mein Haar, grub die Finger in das goldene Netz und zog meinen Kopf zurück. Ich spürte seinen Mund auf meinem entblößten Hals, spürte, wie er an meiner Haut saugte. »Soll ich sie mir zum Nachtisch nehmen?«, fragte er und hob lachend den Kopf. Melisande zuckte mit den Achseln, während sie an ihrem Wein nippte und uns kühl und wunderschön beobachtete. »Ihr habt die ganze Nacht, mein Prinz, dies ist nicht das Dessert, sondern der erste Gang. Nehmt sie Euch hier am Tisch, wenn Ihr wollt.« »Das werde ich«, erwiderte er und lächelte sie an. »Denn ich möchte doch einmal sehen, ob ihre Lust tatsächlich ungeheuchelt ist.« Damit stand er auf, drückte mich auf den Tisch hinunter und hob meine Röcke. Mit einer Hand auf meinem Nacken hielt er mich mühelos an Ort und Stelle, während er sich die Hose aufknöpfte. Meine Wange wurde fest gegen das weiße Tischtuch gedrückt; als er in mich eindrang, konnte ich nur noch meinen umgeworfenen Becher Wein und die hellrote Lache sehen, die über das Tuch floss. Baudoin de Trevalion war alles andere als unerfahren und hatte in der Obhut Melisande Shahrizais eine jahrelange Ausbildung genossen. Wenn ich hoffte, er würde schnell zum Höhepunkt kommen und meiner Demütigung ein baldiges Ende bereiten, so hoffte ich vergebens. Ich schloss die Augen und wimmerte, während er sich in mir mit tiefen, langsamen 268 Stößen bewegte. »Es ist tatsächlich wahr, meine Liebe«, hörte ich ihn über mir sagen. Lachen und Erstaunen klangen in seiner Stimme. »Sie ist heißer als Camaels Schmiedefeuer und feuchter als Eisheths Tränen.« Ein Stuhl scharrte über den Boden, und ich vernahm, wie Melisande sich erhob. Am Rascheln ihres Gewands erkannte ich, dass sie sich hinter ihn gestellt hatte. Ich konnte hören, wie ihre Hände über die Vorderseite seines Wamses glitten, und wusste, dass sie ihm ins Ohr flüsterte. »Gebt es ihr, mein Liebling«, hauchte ihre klangvolle Stimme. »Ich will sehen, wie Ihr sie zum Höhepunkt bringt.« Tränen flössen unter meinen geschlossenen Lidern hervor, als er lachte und ihrem Befehl gehorchte, indem er mich mit harten, heftigen Stößen fast wahnsinnig vor Lust werden ließ. »Mmm.« Melisandes flüsternde Stimme klang anerkennend. »Mein Herz, das macht Ihr gut.« Mit den Fingerspitzen streifte sie mir über die Wange und wies mich kühl an. »Jetzt, Phedre.« Ich gehorchte willenlos und erschauderte von der Heftigkeit meines Orgasmus, als ich aufschrie. Baudoin lachte wieder, stieß noch ein-, zweimal zu und kam schließlich selbst zum Höhepunkt. »Ah«, entfuhr es ihm, als er sich aus mir herauszog. »Wir sollten eine von diesen hier haben, meine Liebste. Sollen wir uns vielleicht eine auf dem Markt kaufen, was meint Ihr?« Von seinem Gewicht befreit, richtete ich mich langsam auf und wandte mich Melisandes amüsiertem Blick zu. »Eine wie Phedre werdet Ihr dort nicht finden, mein Prinz«, versicherte sie ihm. »Und ihr Dienst ist nur Naamah und Anafiel Delaunay geweiht. Aber kommt, Ihr habt erst vom kleinsten Teil dessen gekostet, was es bedeutet, eine Adeptin zu haben, die von Kushiels Pfeil berührt worden ist. Wenn Ihr alles kosten wollt ... wir haben die ganze Nacht zu unserer Verfügung. Es sei denn, 269 du wünschst das Signale zu geben?«, fügte sie an mich gewandt ironisch hinzu. »Meine Herrin weiß, dass ich das nicht wünsche«, antwortete ich leise. Mir war es gleichgültig, wie geschickt Baudoin de Trevalion als Liebhaber war; er würde nie das Signale von meinen Lippen hören. Noch würde es Melisande Shahrizai hören, solange sie seiner Lust diente. Wenn sie warten konnte, so konnte ich es auch. Das schwor ich mir. Melisande lachte. »Nun gut«, sagte sie, während sie zu den Türen auf der anderen Seite des Raums ging und sie aufstieß. »Lasst uns spielen.« Hinter dem Esszimmer lag eine Lustkammer. Durch die Tür konnte ich sehen, dass sie in das Licht des Kaminfeuers getaucht, mit Kissen ausgelegt und mit einem kompletten Geißelinstrumentarium ausgestattet war. Selbst ein hölzernes Rad mit Stahlfesseln stand bereit, eine exakte Nachbildung des Rades, das ich in den Hallen des Valeriana-Hauses gesehen hatte. Baudoin musterte Melisande und
lächelte. Ich dachte an Hyacinthes Namen und biss mir auf die Zunge. Aber auch wenn es wahr ist, dass jede Seele von Kushiels Feuer berührt worden ist, so ist es ebenso wahr, dass in den meisten nur eine kleine Flamme schwelt. In Baudoin de Trevalion brannte dieses Feuer nur, wenn Melisande in ihm den Funken entfachte. Vor ihr fürchtete ich mich, nicht vor ihm; ich bot keinen Widerstand, als sie mich in die Lustkammer führten und sanft meines güldenen Gewands entkleideten. Melisandes Berührung war kühl, als sie mich zum Rad geleitete und die Fesseln um meine Hand- und Fußgelenke legte. Baudoin begutachtete das Arsenal an Geißeln, nahm eine Peitsche mit zwei ledernen Riemen und befingerte den Schlitz in der Mitte. »Wie wird es gemacht?«, fragte er und wandte sich mit gehobenen Brauen zu Melisande um. »Stoße ich einen skaldischen Schlachtruf aus und stürze mich dann auf sie?« Er wog die zweistriemige Peitsche in beiden Händen und hielt sie wie eine Axt. »Waldemar Selig!«, schrie er und lachte. Erstaunt fuhr ich auf dem Rad zusammen. Melisande sah Baudoin geduldig an. »Es gibt kein >wie<, mein Prinz. Tut einfach, was Euch beliebt.« Nachdem sie sichergestellt hatte, dass ich festgeschnallt war, zog sie an dem Rad. Es war handwerklich nicht nur hervorragend verarbeitet, sondern auch wunderbar erhalten und lief gleichmäßig und lautlos. Die Lustkammer, ebenso wie Melisande und Baudoin, drehten sich vor meinen Augen. Ich hatte nicht damit gerechnet, wie verwirrend es sein würde, als das Blut mir in den Kopf schoss und wieder zurückfloss, wenn ich wieder aufrecht nach oben stand. Als mich das Rad wieder auf den Kopf stellte, sah ich, dass Melisande eine Geißel auswählte. »So zum Beispiel, mein Liebling«, erklärte sie Baudoin. Die Welt um mich herum geriet ins Schwanken, als Melisande das Handgelenk scharf vorschnellen ließ, und verschwand dann für einen kurzen Augenblick in einem roten Dunstschleier, als die schweren Enden der Geißel mir in die Haut schnitten. Der Klang einer Harfensaite erfüllte meinen Kopf, und ich sah Kushiels Gesicht, streng und bronzefarben, in der Ferne schweben. Dann verschwand es, und es blieben nur noch die schwindelnde Vision und die Ebbe des Blutes in meinem Kopf zurück. Melisande legte die Geißel zurück und nickte Baudoin zu. »Wie es Euch beliebt«, wiederholte sie leise. Hiernach steigerte er sich immer weiter. Mein Fleisch erkannte den Schlag der zweistriemigen Peitsche und spürte da, wo sie auf mich niederprasselte, die Woge dumpfen Schmerzes, welche die feine, scharfe Linie des Mittelschlitzes heraufbeschwor und die sich anfühlte, als werde meine Haut mit jedem neuen Hieb zerschlitzt. Das Rad drehte sich, und ich wusste 270 271 weder, wo ich war, noch wo der nächste Schlag mich treffen würde; aber der rote Dunstschleier kehrte nicht wieder zurück. Als Baudoin des Spiels endlich müde wurde, wandte er sich zu Melisande um und zog sie huldvoll hinüber zu den Kissen. Mich ließen sie einfach halb kopfüber hängen. Bevor der Druck meines Blutes zu groß wurde und ich in Bewusstlosigkeit versank, sah ich, wie er ihr Kleid öffnete und es langsam nach unten zog, während er vor ihr kniete und mit den Lippen dem Pfad folgte, den es vorgab. Als Melisande merkte, dass ich sie beobachtete, lächelte sie, dann erkannte ich nichts mehr. Ich weiß nicht, wie lange ich dort hing oder wer mich herunternahm; am nächsten Morgen erwachte ich in einem fremden Bett und wurde von den Bediensteten wie ein Gast behandelt. Während ich beim Frühstück saß, kam Melisande in das Esszimmer und sah frisch und gelassen aus. »Die Kutsche steht bereit, und Delaunays Diener wartet auf dich.« Sie legte einen Beutel auf den Tisch neben mir. »Natürlich darfst du das Kleid behalten, und das hier ist zu Ehren Naamahs.« Ihre blauen Augen, aus denen Belustigung sprach, ruhten auf mir. »Du bist wirklich ein Geschenk, das eines Prinzen würdig ist, Phedre.« »Herzlichen Dank, Herrin«, entfuhr es mir unwillkürlich, als ich die Börse an mich nahm. Meine Glieder fühlten sich steif an. Die Börse war schwer und das Gold darin klirrte. Ich betrachtete sie nachdenklich. »Eines Abschiedsgeschenks würdig, Herrin? Wer nimmt seinen Abschied?« Ihre wundervoll geschwungenen Augenbrauen hoben sich leicht, und Melisande neigte den Kopf zur Seite. »Ganz Delaunays Schülerin«, erwiderte sie und schenkte mir ihr wohltönendes Lachen. »Ich werde darauf antworten, wenn du mir sagst, was du über Waldemar Selig weißt.« Ich schwieg. Melisande lachte wieder und beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. »Bestelle deinem Herrn
meine Grüße«, sagte sie, während sie sich aufrichtete und liebevoll mein Haar streichelte. »Wir werden uns wieder sehen, meine anguisette. Und vielleicht wird beim nächsten Mal kein Prinz zwischen uns stehen.« Mit diesen Worten entschwand sie. 272 273 22 Es versteht sich von selbst, dass ich Delaunay von diesem Wortwechsel berichtete. Eigentlich erzählte ich ihm nie alles, was während eines Rendezvous geschah; es gab Dinge, so hatte ich in der Zwischenzeit gelernt, die besser unausgesprochen blieben. Meist sah er die Striemen und wusste genug. Von den Dingen, die keine Striemen hinterließen, sprach ich nicht. Aber ich versäumte es nie, ihm jegliche Neuigkeit oder unbedachte Unterhaltung zu enthüllen, die für ihn von Interesse sein könnte. Auch diesmal hatte ich mich nicht geirrt. Mein Lehrer legte die Stirn in Falten und ging auf und ab, während er über das Berichtete nachgrübelte. »Baudoin dachte, es sei ein skaldischer Schlachtruf?«, fragte er. Ich nickte. »Gab er denn zu erkennen, dass die Worte Waldemar Selig von irgendeiner Bedeutung für ihn waren?« »Nein.« Ich schüttelte den Kopf, meiner Sache vollkommen sicher. »Er sprach im Scherz, und es hatte keine weitere Bedeutung für ihn. Aber es hatte eine Bedeutung für Melisande.« 274 »Doch er ließ nicht erkennen, ob er wusste, dass du ... wie nannte sie es? Ein Abschiedsgeschenk warst?« Ich schüttelte wieder den Kopf. »Nein, Herr. Nichts in seinem Verhalten verriet solch ein Wissen, und Melisande war so vorsichtig, erst darüber zu sprechen, als wir allein waren.« Ich musterte ihn und dachte daran, wie er dafür gesorgt hatte, dass sie mich sah, als Delaunays anguisette noch ein streng gehütetes Geheimnis war. »Jeden Künstler verlangt es nach einem Publikum, Herr, und sie hat Euch dazu auserwählt. Was auch immer geschehen wird, es ist ihr Wunsch, Euch wissen zu lassen, dass sie der Architekt ist.« Delaunay warf mir einen seiner tiefen, nachdenklichen Blicke zu. »Du magst Recht haben«, erwiderte er. »Aber eine Frage bleibt offen: Was soll geschehen?« In weniger als einer Woche fanden wir es heraus. Gaspar Trevalion brachte uns schließlich die Neuigkeit, nachdem er sich dazu genötigt gesehen hatte, jegliche Gedanken eines Streits zwischen ihm und Delaunay beiseite zu schieben. Donnernder Hufschlag erklang auf dem gepflasterten Hof mit unmissverständlicher Dringlichkeit. Ich hatte den Comte de Fourcay seit meinen allerersten Tagen in Delaunays Haus gekannt, und selbst während ihrer Auseinandersetzungen hatte ich ihn nie die Stimme erheben hören. An diesem Tag hallte sie von den Hofmauern wider. »Delaunay!« Wenn irgendjemand daran gezweifelt hatte, dass Delaunays Haushalt sich in Windeseile in Bewegung setzen konnte, der wurde eines Besseren belehrt. Mein Lehrer war im Handumdrehen aus der Tür und hielt nur einmal kurz inne, um nach seinem selten benutzten Schwert zu greifen, das im Studierzimmer hing. Guy erschien aus dem Nichts, in jeder Hand einen Dolch, und stieß zwei livrierte Diener vor sich 275 aus der Tür. Alcuin und ich folgten ihnen wenige Schritte dahinter. Von zehn bewaffneten Männern umzingelt, saß Gaspar Trevalion auf seinem Rappen und scherte sich weder um unsere Anwesenheit noch um das Schwert in Delaunays Hand. Sein Pferd, schweißgebadet und außer Atem, tänzelte schnaubend hin und her; Gaspar zog die Zügel fester an und blickte mit einem Furcht erregenden Ausdruck im Gesicht auf Delaunay herab. »Isidore d'Aiglemort hat gerade Haus Trevalion des Hochverrats bezichtigt«, stieß er grimmig hervor. Delaunay starrte ihn an und senkte sein Schwert. »Ihr scherzt.« »Nein.« Gaspar schüttelte mit unverändert Furcht erregender Miene den Kopf. »Er hat Beweise: Briefe von Foclaidha von Alba an Lyonette.« »Was?« Delaunay starrte ihn immer noch ungläubig an. »Wie?« »Brieftauben.« Der Rappe tänzelte unter ihm; Gaspar beruhigte ihn. »Sie standen seit dem Besuch des Cruarch in ständigem Briefwechsel. Delaunay, mein Freund, was soll ich tun? Ich habe mit dieser Angelegenheit nichts zu schaffen, aber ich habe in Fourcay ein Heim und eine Familie, an die ich denken muss. Der König hat schon seine schnellsten Reiter zum Comte de Somerville geschickt. Er
ruft die königliche Armee zusammen.« Man konnte zusehen, wie es hinter Delaunays Stirn z arbeiten begann. »Ihr schwört, Ihr wusstet nichts davon?« Gaspar versteifte sich im Sattel. »Mein Freund, Ihr kennt mich«, erwiderte er leise. »Ich bin gegenüber Haus Courcel so loyal wie Ihr.« »Es wird einen Prozess geben. Es muss einen Prozess geben.« Delaunay ließ die Spitze seines Schwertes auf dem Pflasterstein ruhen und lehnte sich darauf. »Schickt Eure drei besten Männer nach Fourcay«, befahl er bestimmt. »Sagt Ihnen, sie sollen die Wache antreten lassen und niemandem Zutritt gewähren, der nicht eine Order in des Königs Handschrift bei sich trägt. Wir werden einen Brief an Percy de Somerville aufsetzen. Es ist noch genug Zeit, ihn abzufangen, bevor er die Grenze von Azzalle erreicht. Er kennt Euch und wird sich nicht ohne Befehle des Königs gegen Fourcay wenden. Lyonette steckt hinter dieser ganzen Sache, nicht das Haus Trevalion. Der König wird wohl kaum Eure ganze Familie zur Rechenschaft ziehen.« Der verzweifelte Ausdruck in Gaspars Gesicht entspannte sich ein wenig, aber nicht vollends. »Baudoin ist darin verwickelt.« Mir stockte der Atem bei diesen Worten, und Alcuins Finger umklammerten meinen Ellenbogen. Ich sah ihn an, und er schüttelte den Kopf, um mich zum Schweigen zu ermahnen. Delaunay blickte finster drein und gab nicht zu erkennen, dass er ihn gehört hatte. »Am besten kommt Ihr erst einmal mit herein«, beruhigte er Gaspar, »und erzählt mir, was Ihr wisst. Schickt Eure Männer umgehend auf den Weg nach Fourcay. Wir werden einen Brief an de Somerville verfassen, und Ihr werdet den König um eine Audienz bitten. Ganelon de la Courcel ist kein Narr. Er wird Euch anhören.« Nach einem kurzen Augenblick nickte Gaspar knapp, gab seinen Männern Anweisungen und warf ihnen einen Beutel Geld für die Reise zu. Wir hörten den Hufschlag ihrer Pferde durch die Straßen der Cite verschwinden. In der Ferne ertönte lautes Wehgeschrei, als die Neuigkeit wie eine Welle durch das gemeine Volk von Terre d'Ange brach. 276 277 »Kommt herein«, wiederholte Delaunay und streckte die Hand aus. Gaspar ergriff sie wortlos und stieg ab. Im Haus wies unser Herr die Dienerschaft an, Speisen und Wein zu bringen. Ich glaubte ihn verrückt, in solch einem Augenblick einen Gast zu bewirten, aber nachdem Gaspar einen Bissen Brot und etwas Käse zu sich genommen und einen großen Schluck Wein getrunken hatte, seufzte er und schien entspannter zu werden. Seitdem habe ich immer wieder beobachten können, dass es in Zeiten großer Erschütterung sehr beruhigend wirken kann, etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Alcuin und ich blieben im Hintergrund und versuchten, uns unsichtbar oder nützlich zu machen, und Delaunay ließ uns gewähren. »Was ist passiert?«, fragte er ruhig. Im Lauf der nächsten Stunde offenbarte uns Gaspar, so gut er konnte, die ganze Geschichte. Er hatte sie von einem Freund, der zu den Hofherren des Königs gehörte, so dass sie aus zuverlässiger Quelle stammte. Gaspar war mit dieser Neuigkeit auf direktem Weg zu Delaunay geritten, da er nicht wusste, an wen er sich sonst wenden sollte. Aber er war überzeugt, dass sein Freund, der sich um sein Wohlergehen sorgte, die Wahrheit gesprochen hatte. Die Geschichte, die er gehört hatte, lautete wie folgt: Isidore d'Aiglemort hatte durch die unbedachte Prahlerei eines Ruhmesreiters des Prinzen Baudoin, der sich nach einer fruchtlosen Patrouille entlang der Grenze Camlachs sinnlos betrunken hatte, von der Sache erfahren. D'Aiglemort hatte daraufhin Nachforschungen angestellt und war, nachdem ihm Beweise vorlagen, sofort mit dieser Angelegenheit zum König geeilt. Tag und Nacht war er geritten, um die Cite schnellstmöglich zu erreichen. Mit typisch camaelinischer Unverblümtheit hatte er sich nicht einmal die Mühe gemacht, eine Audienz zu erbitten, 278 sondern war sogleich in eine öffentliche Anhörung geplatzt, um seine Anschuldigungen vorzubringen: Lyonette de Trevalion hatte sich mit Foclaidha von Alba und ihrem Sohn, dem neuen Cruarch, verschworen und beschlossen, ihre Kräfte zu einen. Mit der Unterstützung einer piktischen Armee plante sie die Regentschaft von Terre d'Ange an sich zu reißen und Baudoin auf den Thron zu setzen. Im Austausch dafür würde sie die Streitkräfte Azzalles Foclaidha und ihrem Sohn zur Verfügung
stellen, damit die beiden das Königreich Alba gegen den abgesetzten Thronfolger und seine DalriadaVerbündeten verteidigen konnten. Um den Plan in die Tat umzusetzen, sollte die Flotte Azzalles direkt gegen den Gebieter der Meeresstraße segeln. Auch wenn sie nur wenig Hoffnung hatten, ihn zu schlagen, konnten sie ihn doch vielleicht lange genug ablenken, bis die piktische Armee an der engsten Stelle der Meeresstraße übergesetzt hatte. Sobald sie den Thron für sich gewonnen hätten, hätte ihnen die gesamte königliche Flotte zur Verfügung gestanden, um erfolgreich zurückzukehren. »Es war ein schlauer Plan«, schloss Gaspar seinen Bericht, während er sich die Stirn mit einem samtenen Ärmel abwischte und sein Weinglas ausstreckte, damit man es ihm wieder füllte. »Gefährlich schlau. Wenn d'Aiglemort sich nicht als loyal erwiesen hätte ... schließlich war Baudoin sein Freund. Er hätte daraus seinen Vorteil ziehen können.« Ich dachte an Melisande Shahrizais Lächeln und das finstere Glitzern von Duc d'Aiglemorts Augen hinter der Jaguarundi-Maske. Ich war mir nicht so sicher, ob er nicht immer noch seinen Vorteil daraus ziehen konnte. Delaunay musste diese Frage stellen; er stellte sie sanft. »Was ist mit Marc?« Gaspar und Lyonette hatten nichts füreinander übrig, aber Marc de Trevalion war sein Vetter und Freund. Gaspar schüttelte mit finsterer Miene den Kopf. 279 »Mein Freund, wenn ich Euch darauf eine ehrliche Antwort geben könnte, würde ich es tun. Mein Herz möchte Euch versichern, dass Marc so etwas nie Wahrmachen würde, und doch ... wegen der Sache mit Quintilius Flotte liegt er mit dem König im Streit, und es geht hier um eine Frage der Ehre. Er missbilligt schon seit langem, dass Ganelon sich nicht darum kümmert, seine Enkelin zu verheiraten und das Schicksal des Reiches zu klären. Wenn Lyonette ihm ihren Plan als Ganzes offenbart hat... ich weiß nicht.« »Ich verstehe«, erklärte Delaunay und bestand nicht weiter auf der Angelegenheit. »Wie kam d'Aiglemort an die Briefe?« Gaspar lieferte die Antwort; er brauchte nicht lange zu überlegen, und eigentlich kannten wir sie schon. »Melisande Shahrizai.« Ich öffnete den Mund, um zu sprechen. Delaunay warnte mich mit einem Blick, nichts von dem zu enthüllen, was ich über ihre Verwicklung in diese Angelegenheit wusste, aber das war mir selbst vollkommen klar. Vielmehr erstaunte mich eine ganz andere Frage. »Baudoin war ihr hörig. Warum sollte sie ihn aufgeben, wenn sie durch ihn den Thron gewinnen konnte?« »Ich würde gerne behaupten, weil Haus Shahrizai loyal ist«, begann Gaspar mit einem kurzen Lachen und strich sich mit der Hand über das graumelierte Haar, das von dem Ritt immer noch zerzaust war. »Aber sehr wahrscheinlich hat Melisande sehr genau gewusst, dass Lyonette ihrem Sohn nie erlauben würde, sie zur Frau zu nehmen. Lyonette wünscht sich eine fügsame Schwiegertochter, die vorzugsweise eine mächtige Allianz in die Ehe einbringt. Wenn sich Baudoin seiner Mutter bis heute noch nicht widersetzt hat, würde er es sicher erst recht nicht tun, wenn es in ihrer Macht stünde, für ihn den Thron zu erringen. Melisande Shahrizai ist zwar auch gefährlich, aber mit der Löwin von Azzalle kann sie es nicht aufnehmen.« Ersteres klang einleuchtend, während Letzteres ... Wenn ich nicht ihr Abschiedsgeschenk für Baudoin de Trevalion gewesen wäre, hätte ich es sogar glauben können. Aber Melisande Shahrizai hatte schon Wochen, bevor Isidore d'Aiglemort angeblich seine »Beweise« erhielt, davon gewusst. Dass der Verrat echt war, daran hatte ich keinen Zweifel, auch stellte ich die Beweise nicht infrage. Aber ich hatte auch keinen Zweifel, dass die Pläne, ihn zu enthüllen, mit größerer Gerissenheit und Finesse ausgeklügelt worden waren als der Verrat selbst. Wir konnten nichts tun; ein zweideutiges Wort, das unbedacht an eine Dienerin Naamahs gerichtet worden war, bewies überhaupt nichts. Nur ich wusste mit Sicherheit, was Melisande damit gemeint hatte - Delaunay und Alcuin ebenso. Nein, wir würden darüber Schweigen bewahren, dachte ich, und Melisande Shahrizai würde dafür Ruhm erlangen, das Richtige getan zu haben. Und der junge Duc d'Aiglemort, schon jetzt ein gefeierter Kriegsheld, würde unerwartet wieder in den Vordergrund rücken. Ich erinnerte mich daran, dass jemand einmal gesagt hatte, die Nachfahren Camaels würden mit ihren Schwertern denken. Ich glaubte nicht, dass dies auf diesen hier zutraf. In den darauf folgenden Tagen entwickelten sich die Dinge so, wie Delaunay es vorausgesehen hatte. Das Parlament trat zusammen, und man beraumte eine Verhandlung des Obersten Gerichts an. Während die königliche Armee unter dem Oberbefehl von Comte de Somerville durch Azzalle in
Richtung Trevalion eilte, erhörte der König Gaspars Gnadengesuch und versprach, gegenüber Fourcay Milde walten zu lassen, unter der Voraussetzung, dass Gaspar sich in den Gewahrsam 280 281 der Palastwache begab, bis der Prozess für beendet erklärt wurde. Nichts verbreitet sich schneller als Gerüchte. Gut einen ganzen Tag, bevor Somervilles Bote uns erreichte, hatten wir schon erfahren, dass Trevalion sich nach einer kurzen, heftigen Schlacht, die überwiegend von Baudoin und seinen Ruhmesreitern angeführt worden war, ergeben hatte. Ausgerechnet sein Vater, Marc de Trevalion, hatte die Aufgabe befohlen. Percy de Somerville nahm sein Schwert entgegen, ließ eine Garnison in Trevalion zurück und machte sich mit Lyonette, Marc, Baudoin und sogar seiner Schwester Bernadette mitsamt ihrem Gefolge auf den Weg in die Cite; alles bedeutende Mitglieder des Hauses Trevalion. Als sie im Palast ankamen, begann der Prozess. Weil Delaunay aufgerufen werden würde, im Namen von Gaspar Trevalion Zeugnis abzulegen - denn seine Loyalität wurde weiterhin infrage gestellt -, durften Alcuin und ich, in die dunklen Farben Delaunays gekleidet, dem Prozess beiwohnen. Dem Anhang der anwesenden Adligen wurden keine Sitzplätze zugewiesen, aber wir ergatterten Stehplätze an den Seiten des Audienzsaals. Auf der anderen Seite des Saals stand ein großer Tisch. Der König saß in der Mitte und seine Enkelin Ysandre zu seiner Rechten, während die siebenundzwanzig Adligen des Parlaments sie auf beiden Seiten umrahmten. Mitglieder der Palastwache säumten den Saal, und zwei Cassilinische Mönche standen regungslos hinter dem König, graue Schatten im Hintergrund, deren Anwesenheit lediglich durch das Aufblitzen des Stahls an ihren Armgelenken verraten wurde. Manchen Menschen ist es eine Wonne, einem Schaustück beizuwohnen, und sie schwelgen darin, jene von hohem Stand tief fallen zu sehen. Ich gehöre nicht dazu, und das Verfahren 282 bereitete mir keine Freude. Lyonette de la Courcel de Trevalion stand unter den Angeklagten an vorderster Stelle und wurde als Erste zur Befragung hereingeführt. Ich hatte nur einmal von Cecilies Balkon aus einen kurzen Blick auf sie erhascht, aber ich hatte mein ganzes Leben lang Geschichten über die Löwin von Azzalle gehört. Sie schritt majestätisch in den Audienzsaal, in ein prachtvolles Gewand aus blauem und silbernem Brokat gekleidet, den Farben von Haus Courcel, die jeden, der unvorsichtig genug war, es zu vergessen, daran erinnern sollten, dass sie die Schwester des Königs war. Für alle sichtbar trug sie zudem die Handfesseln ihrer Gefangenschaft zur Schau. In jenem Moment war ich überrascht, dass Ganelon de la Courcel angeordnet hatte, seine Schwester in Ketten legen zu lassen. Später erfuhr ich, dass diese dramatische Note auf Lyonettes Beharrlichkeit zurückzuführen war; aber es war nicht weiter von Bedeutung. Keiner sollte je behaupten, der Löwin von Azzalle mangele es an Stolz. Was ihre Beteiligung an dem Plan betraf, leugnete sie nichts. Die Beweise wurden vorgebracht, und sie reckte das Kinn in die Höhe, während sie trotzig ihrem Bruder ins Gesicht sah. Er war ganze zwanzig Jahre älter als Lyonette - sie war spät geboren, und die Nachfahren Eluas erfreuen sich eines langen Lebens -, und es war offensichtlich, dass die beiden sich keineswegs in geschwisterlicher Liebe zugetan waren. »Wie bekennt Ihr Euch zu diesen Anklagepunkten?«, fragte er sie, nachdem die Angelegenheit dem Parlament vorgetragen worden war. Er bemühte sich, streng zu klingen, aber nichts konnte sein Zittern oder die Lähmung verbergen, die seine rechte Hand schüttelte, obgleich er sie neben sich hielt. Lyonette lachte und warf ihr ergrauendes Haupt zurück. »Das wagt Ihr, mich zu fragen, liebster Bruder? Lasst mich Euch anklagen und dann sehen, wie Ihr Euch bekennt! Ihr lähmt das 283 Reich mit Eurem Mangel an Entschlossenheit, indem Ihr Euch an den Geist eines toten Sohnes in dem Balg einer Mörderin klammert, und dabei habt Ihr nicht einmal den Anstand, mit ihrer Heirat Bündnispartner zu gewinnen.« Ihre Augen funkelten so dunkelblau wie die des Königs. »Und Ihr wagt es, meine Loyalität infrage zu stellen? Ich gestehe, ich habe getan, was ich für richtig hielt, um den Thron für das Volk von Terre d'Ange zu sichern.« Ein Raunen ging durch die Menge; irgendwo dort verbargen sich jene, die ihre Zustimmung äußern würden, wenn sie es nur wagten. Aber die Gesichter des Königs sowie der Edelmänner und Edelfrauen des Parlaments blieben streng. Ich riskierte einen Blick zu Delaunay. Er sah starr zu Lyonette de Trevalion hinüber, und seine Augen glühten, obgleich ich nicht sagen konnte, warum. »Dann bekennt Ihr Euch also schuldig«, schloss Ganelon de la Courcel leise. »Welche Rolle hat Euer
Mann dabei gespielt, und welche Euer Sohn und Eure Tochter?« »Sie wussten von nichts«, erwiderte Lyonette verächtlich. »Nichts! Es war mein Werk, meines ganz allein.« »Wir werden sehen.« Der König schaute zu seiner Linken und zu seiner Rechten, er wirkte traurig und müde. »Wie lautet Euer Urteil, meine hohen Herren und Damen?« Die Antwort war ein bloßes Flüstern, das von der alten tiberischen Geste begleitet wurde. Einer nach dem anderen hob die Hand mit aufrechtem Daumen und wandte ihn nach unten. »Tod«, lautete die Antwort. Ysandre de la Courcel gab als Letzte ihr Votum ab. Kühl und blass blickte sie ihrer Großtante ins Gesicht, die sie vor den Adligen des Reichs als Balg einer Mörderin bezeichnet hatte. Bewusst langsam hob sie die Faust und drehte sie nach unten. »Tod.« »So soll es sein.« Die Stimme des Königs war so schwach wie der Wind, der das Herbstlaub zum Rascheln bringt. »Ihr habt drei Tage, um die Art Eurer Hinrichtung zu bestimmen, Lyonette.« Er nickte einmal, und die Palastwache eskortierte sie von einem Priester Eluas begleitet aus dem Audienzsaal. Die Verurteilte bot keinen Widerstand und ging mit erhobenem Haupt hinaus; dann wurde ihr Gemahl, Marc de Trevalion, vor das Parlament gebracht. Der Duc de Trevalion sah seinem Blutsverwandten Gaspar sehr ähnlich: älter, ein wenig schlanker, aber mit demselben rabenschwarzen, graumelierten Haar. Alter und Kummer hatten in seinem Gesicht ihre Spuren hinterlassen. Er machte eine Geste, bevor seine Anklage verlesen wurde, begegnete dann dem Blick des Königs und hob die leeren, in Ketten gelegten Hände. »In den Schriften der Yeshuiten heißt es, die Sünde Azzas sei Hochmut gewesen«, sagte er ruhig. »Aber wir sind D Angelines, und die Sünde der Engel ist der Ruhm unserer Rasse. Die Sünde des Heiligen Elua war es, die weltlichen Dinge zu sehr zu lieben. Ich habe mich genauso gegen Euch versündigt wie sie, aus Hochmut und Liebe.« Ganelon de la Courcels Stimme erzitterte. »Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt meiner Schwester geholfen und Euch gegen den Thron verschworen, Bruder?« »Ich will damit sagen, dass ich sie zu sehr geliebt habe.« Marc de Trevalions Blick verriet zu keinem Zeitpunkt Nervosität. »Bei der Liebe zu meinem Sohn, der von Eurem Geblüt ist. Ich wusste es. Ich widerrief ihre Befehle an den Admiral meiner Flotte und an den Hauptmann meiner Garde nicht. Ich wusste es.« Wieder folgte die Abstimmung, wieder zeigten die Daumen nach unten, und wieder war Ysandre de la Courcel die Letzte, 284 285 die zu entscheiden hatte. Ich beobachtete sie, und ihr Gesicht zeigte keine stärkere Gemütsregung als die Kamee auf einer Brosche, als sie sich an ihren Großvater wandte. Ihre Stimme war so kühl wie Wasser. »Schickt ihn in die Verbannung«, sagte sie. Ich war im Cereus-Haus aufgewachsen; ich war darin geübt, Stahl unter einer zerbrechlichen Blüte zu erkennen. Dies war das erste Mal, dass ich ihn in Ysandre de la Courcel sah. Doch es sollte nicht das letzte Mal sein. »Was meint Ihr?«, fragte der König das Parlament. Niemand sagte ein Wort, alle antworteten mit wohl überlegtem Kopfnicken, dann streckten sie die Hände aus und wandten die Handfläche nach oben. Der König sprach wieder, mit erstarkter Stimme. »Marc de Trevalion, für Eure Verbrechen gegen den Thron verbanne ich Euch aus Terre d'Ange und ziehe alle Eure Güter ein. Ihr habt drei Tage, um das Land zu verlassen. Solltet Ihr wieder zurückkehren, wird auf Euren Kopf eine Belohnung von zehntausend Dukaten ausgesetzt. Nehmt Ihr diese Bedingungen an?« Der einstige Duc de Trevalion sah nicht den König an, sondern dessen Enkelin, die Dauphine. »Ihr scherzt«, sagte er mit zitternder Stimme. Sie antwortete nicht. Der König reckte das Kinn. »Ich mache keine Scherze!« Seine Stimme hallte von den Dachbalken wider. »Nehmt Ihr diese Bedingungen an?« »Ja, mein König«, erwiderte Marc de Trevalion leise und verbeugte sich. Die Palastwache umstellte ihn. »Mein Gebieter ... meine Tochter wusste von nichts! Sie ist in dieser Angelegenheit unschuldig.« »Wir werden sehen«, wiederholte der König, erneut betrübt. Er wedelte mit der Hand, ohne hinzusehen. »Schert Euch aus meinen Augen!« 286
Am Tisch beriet man sich im Flüsterton. Sie hatten vorgesehen, Baudoin als Nächsten aufzurufen, das wusste ich; Delaunay hatte es von einem Freund erfahren, der die Liste erstellte. Aber sie änderten ihre Meinung und riefen an seiner statt Bernadette de Trevalion herein, seine Schwester. Ich hätte sie sofort als Baudoins Schwester erkannt, denn die beiden sahen sich sehr ähnlich, aber ihr Auftreten war so scheu, wie seines wild war. Es ist bestimmt nicht leicht, die Löwin von Azzalle zur Mutter zu haben, dachte ich, wenn man nicht das Lieblingskind ist. In nur wenigen Minuten machte die Befragung deutlich, dass Bernadette genauso viel wie Ihr Vater gewusst und genauso wenig getan hatte. Ich beobachtete das Prozedere diesmal ganz genau, sah, wie der alte König seine Enkelin anblickte, und registrierte ihr fast unmerkliches Nicken. Das Ergebnis der Abstimmung fiel wie zuvor aus: Verbannung. Vater und Tochter würden also am Leben bleiben, wenn auch für immer von dem Land abgeschnitten, das uns nährte und dessen Ruhm in unseren Adern floss. In der Menge ungesehen legte mir Alcuin den Arm um die Schulter und stützte mich. Baudoin de Trevalion wurde hereingerufen. Wie seine Mutter stellte er seine Ketten wirkungsvoll zur Schau und ließ sie rasseln, als er durch den Saal schritt. Er sah auch als Gefangener schön und großartig aus. Ein Seufzen hallte durch den Raum. »Prinz Baudoin de Trevalion«, sagte der König mit lauter Stimme. »Ihr seid des Hochverrats angeklagt. Wie bekennt Ihr Euch zu Eurer Anklage?« Baudoin warf das Haar zurück. »Ich bin unschuldig!« Ganelon de la Courcel nickte jemandem zu, den ich nicht sehen konnte. Aus den Seitenflügeln trat Isidore d'Aiglemort hervor und stellte sich vor das Gericht. 287 Sein Gesicht glich einer Maske, als er das Haupt vor Baudoin neigte, sich dann vor dem König verbeugte und vor dem Obersten Gericht seine Zeugenaussage machte. Nur seine Augen glänzten, dunkel und unergründlich. Es war dieselbe Geschichte, die Gaspar uns erzählt hatte: die Prahlerei eines betrunkenen Soldaten, die Nachforschungen eines loyalen Ducs. Baudoin schoss das Blut ins Gesicht, und er starrte den Zeugen voller Hass an. Ich erinnerte mich daran, dass sie einmal Freunde gewesen waren. Isidore d'Aiglemort zog sich zurück, und Melisande Shahrizai wurde gerufen. Jener Tag ist mir glasklar in Erinnerung geblieben. Wie viel sie von der Sache wusste, kann ich nicht mit Sicherheit sagen und habe es auch nie erfahren, aber das Haus Shahrizai war vollständig zu ihrer Unterstützung gekommen, und Melisande war von Blutsverwandten umgeben. Wie es in den alten Häusern so oft der Fall ist, trugen sie alle das Zeichen eines gemeinsamen Erbes, und die Shahrizai stachen mit ihrem blauschwarzen Haar und den langen, mit schwarzem und goldenem Brokat geschmückten Mänteln inmitten des Audienzsaals aus der Menge heraus. Sie alle hatten auch die gleichen Augen; wie Saphire, die in blasse Gesichter eingefasst worden waren. In keinen loderte Kushiels Feuer so hell wie in Melisandes, aber es loderte in ihnen allen, und ich stützte mich dankbar auf Alcuins Arm. Ich glaube nicht, dass es Melisande Shahrizai je gelingen wird, wahrhaft bescheiden zu wirken, aber sie kam dem näher, als ich es für möglich gehalten hätte. Mit gesenkten Lidern beantwortete sie die Fragen des Parlaments und gab die Geschichte eines ehrgeizigen Prinzen im Bann seiner Mutter zum Besten, sie sprach von zu gewinnenden Verbündeten und einem zu erlangenden Thron. Die Briefe, so sagte sie, habe er ihr großtuerisch gezeigt, um seine Behauptungen zu untermauern. Wie auch immer die Wahrheit lauten mag, Melisande sagte nichts, was er widerlegen konnte. Wenn Baudoin dem Duc d'Aiglemort seinen Hass entgegengeschleudert hatte, so war dies nichts im Vergleich zu der Rage, die ihn purpurn anlaufen ließ, als er ihrer Litanei zuhörte. Zum Schluss war es mehr als genug. In strengem Pflichtbewusstsein fällten die Adligen des Parlaments ihr Urteil. Einer nach dem anderen zeigte mit dem Daumen nach unten, während Baudoin sie ungläubig anstarrte. Tod. Endlich war die Reihe an Ysandre. Ungerührt wie ein Eiszapfen blickte sie Baudoin an. »Sagt mir, Vetter«, begann sie. »Hättet Ihr mich an einen fremden Herrscher verheiratet, damit ich aus dem Weg bin, oder hättet Ihr mich gleich umgebracht?« Er wusste nichts darauf zu erwidern, und das war Antwort genug. Ihre Hand bewegte sich, den Daumen nach unten gerichtet. Für Baudoin würde es keine Gnade geben. Zu viele belastende Beweise lagen vor, kein Seufzen antwortete dem des Königs. »So soll es sein«, sagte er, und niemand bezweifelte, dass es ihn schmerzte, dies auszusprechen. »Baudoin de Trevalion, Ihr seid zum Tode verurteilt. Ihr habt drei Tage, um die Art Eurer Hinrichtung zu bestimmen.« Sein Abgang war längst nicht so wirkungsvoll wie der seiner Mutter. Ich beobachtete ihn, wie er beim
Hinausgehen ungläubig über seine Füße stolperte. Sein Schicksal war typisch für den Sohn einer zu boshaften Mutter, deren Ehrgeiz das Gesetz missachtete. Vielleicht ist es doch nicht so einfach, dachte ich, das Lieblingskind der Löwin zu sein. Der Prozess gegen Gaspar Trevalion verlief reibungslos; gegen ihn lagen keine Beweise vor und auch keine Anklage außer seiner Abstammung. Ich beobachtete Delaunay während seiner Zeugenaussage, bei der er schilderte, dass Gaspar von 288 289 der Verschwörung nichts gewusst, ihn sofort unterrichtet hätte und seinem Rat gefolgt sei, dem König alles offen zu gestehen, und ich war stolz, zu seinem Haus zu gehören. Letztlich wurde Gaspar von jeglichen Vergehen freigesprochen und sein Anspruch auf Titel und Anwesen in öffentlicher Runde bekräftigt. Delaunay hatte seine Fassung wiedererlangt, sein Gesichtsausdruck verriet nichts. Aber ich bemerkte, wie Ysandre de la Courcel die ganze Zeit an seinen Lippen hing, und in ihrem Blick lag ein unbeschreiblicher Hunger. 290 Am Ende fanden die Hinrichtungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Darüber war viel gerätselt worden, denn die Löwin von Azzalle hatte gedroht, ihrem Bruder bis zu ihrem letzten Atemzug mit allen erdenklichen Mitteln Kummer zu bereiten, und sicherlich hätte eine öffentliche Hinrichtung große Feindseligkeit gegen ihn heraufbeschworen; aber schließlich hatte ihr Stolz überwogen. Sie wollte würdevoll sterben und sich nicht vor den Massen zur Schau stellen. Es sei ein schnell wirkendes Gift, so sagte man mir; sie trank es mit einem Schluck aus und legte sich nieder, um nie wieder aufzuwachen. Von Baudoin hieß es, dass er in Würde starb. Als man ihm sagte, dass seine Mutter einen Tod in der Abgeschiedenheit gewählt hatte, rief er nach seinem Schwert. Der König ordnete an, die Fesseln zu lösen, und stellte den Hauptmann seiner eigenen Garde als Sekundanten ab. Aber ungeachtet seiner Fehler war Baudoin de Trevalion ein Prinz von königlichem Geblüt und kein Feigling. Als er in sein Schwert fiel, hielt er genau auf die Spitze zu, die unmittelbar auf 291 sein Herz gerichtet war. Der Hauptmann der Garde steckte sein Schwert unbenutzt in die Scheide zurück. Eine seltsame und düstere Stimmung lag nach dem Prozess und der Hinrichtung über der Stadt. Ich fühlte es selbst. Den Tod der Verurteilten zu betrauern hätte bedeutet, mit Hochverrätern zu sympathisieren; dennoch trauerten wir alle. Denn solange ich zurückdenken konnte, hatte die Löwin in Azzalle geherrscht, und ihr wilder Junge war der Liebling der D'Angelines gewesen: der Sonnenprinz, der kühne Kriegsführer. Nun waren sie von uns gegangen, und ihr Gemahl und ihre Tochter lebten im Exil. Unsere Welt war für immer verändert. Sogar Hyacinthe, der das Schicksal des Adels von Natur aus zynisch betrachtete, war davon berührt. Er hatte eine beachtliche Summe draufgesetzt, welchen Tod Lyonette und Baudoin de Trevalion wählen würden, doch ein krankhafter Aberglaube überkam ihn, als er am folgenden Tag seinen Gewinn einstrich. »Es ist verflucht«, erklärte er erschaudernd und hielt eine silberne Münze hoch. »Siehst du, Phedre? Es liegt ein Schatten darauf.« »Was willst du jetzt damit machen?«, fragte ich. »Es weggeben?« »Und den Fluch weiterreichen?« Er sah mich erschrocken an. »Hältst du mich für so skrupellos?« Er schüttelte den Kopf, um diese Vorstellung zu verjagen. »Nein, ich kann dieses Geld nicht gewinnbringend einsetzen. Ich werde es benutzen, um Azza und Elua zu opfern. Komm, lass uns nachsehen, ob im Stall Pferde zu haben sind.« Der Jüngling, der sich an jenem Nachmittag um die Pferde kümmerte, war als langjähriger Laufbursche und Eilbote bekannt. Er brach sein Würfelspiel mit einem Stallknecht ab und sprang mit einem Grinsen auf. »Hast du vor, den jungen, 292 adligen Lebemann zu spielen, Hyas? Guter Tag heute, hier ist es ruhiger als in Cassiels Schlafgemach.« »Es wird wieder losgehen, sobald sie losziehen, um ihren Kummer zu ertränken«, sagte Hyacinthe, sich seiner Sache sicher. Mit einem Seitenblick auf mich fügte er in weniger sicherem Ton hinzu: »Bring einfach die zwei ruhigsten raus, in Ordnung? Und hol einen Damensattel für Phedre nö
Delaunay.« Der Bursche hatte mich nicht in Hyacinthes Schatten stehen sehen, aber beim Klang meines Namens machte er sich eilfertig an die Arbeit, was mich zum Lächeln brachte. Im Vorhof der Nacht war das Straßenvolk nicht so dumm, dem selbst ernannten Prinzen des Fahrenden Volkes allzu großen Respekt zu zollen, aber Delaunays anguisette war etwas anderes. Ich hatte den dunkelbraunen Umhang angelegt und nicht den sangoire, aber Hyacinthe sorgte dafür, dass seine Freunde wussten, wer ich war. Es trug zu seinem Prestige bei, und im Gegenzug sorgten sie dafür, dass ich gut bewacht wurde, so dass wir beide etwas davon hatten. Sobald wir aufgestiegen waren, ritten wir in gemächlichem Tempo durch die Cite. Hinter uns hörte ich in der Ferne Hufschlag und ein leises Fluchen und sah nach hinten, um nach Guy Ausschau zu halten. Ich fragte mich, ob er gezwungen gewesen war, ein Pferd aus Hyacinthes Stall zu mieten. Obwohl ich ihn nirgends ausmachen konnte, hatte ich keinen Zweifel, dass er sich in der Nähe aufhielt. Die Straßen waren überwiegend leer, nur gelegentlich standen Menschen in kleinen Gruppen zusammen und sprachen leise miteinander. An nicht wenigen Armen der D'Angelines entdeckte ich schwarze Binden, aber diejenigen, die sie trugen, wandten sich rasch ab, um ihre Gesichter zu verbergen. »Trauerst du um ihn?«, fragte Hyacinthe leise. Ein Fuhrmann 293 kam uns entgegen, daher antwortete ich nicht sofort. Ich war eine ebenso ungeschickte Reiterin wie Hyacinthe. »Prinz Baudom?«, fragte ich, als die Straße frei war. Mein Freund nickte. Ich dachte an seine unbedachte Arroganz, sein beleidigendes Verhalten, seine Hand auf meinem Nacken, die mich auf den Tisch niederdrückte. Und ich dachte an meine erste Begegnung mit Baudoin, bei der er vor Wein und vor Fröhlichkeit strahlte, während seine Maske schief auf seiner Stirn saß. Er hatte mich Freudenbringerin genannt und mich geküsst, damit ich ihm Glück brachte; und neun Jahre später hatte Melisande Shahrizai mich ihm mit einem Todeskuss vorgestellt. Ich hatte es gewusst, und ich hatte geschwiegen. Wahrlich, ich hatte ihm all das Glück meines unglücklich gewählten Namens beschert. »Ja.« »Es tut mir Leid.« Mit fragender Miene berührte er mich leicht am Arm. »Ist es so schlimm?« Ich hatte ihm nicht alles erzählt und konnte es auch nicht. Selbst jetzt schüttelte ich lediglich den Kopf. »Nein. Vergiss es. Lass uns weiter zum Tempel reiten.« Eine Weile ritten wir schweigend nebeneinanderher. »Es wird noch andere Prinzen geben«, bemerkte er alsbald und sah mich an. »Und eines Tages, wenn du deine Marque vollendet hast, wirst du keine vrajna-Dieneim mehr sein, weißt du.« Azzas Tempel tauchte in der Ferne auf, und die schräg einfallenden Sonnenstrahlen ließen seine kupferne Kuppel wie Flammen aufleuchten. Ich warf Hyacinthe einen viel sagenden Blick zu. »Werde ich dann deiner würdig sein, o Prinz des Fahrenden Volkes?« Hyacinthe wurde rot. »Ich wollte damit nicht sagen ... ach, vergiss es. Komm, ich werde die Opfergabe mit dir teilen.« »Ich brauche deine Mildtätigkeit nicht«, schleuderte ich ihm entgegen und stieß meiner Stute die Hacken in die Seite. Sie 294 gehorchte und fiel in einen kurzen Trab, der mich im Sattel wenig elegant auf und ab hüpfen ließ. »Wir geben uns gegenseitig, was wir entbehren und was wir annehmen können«, erwiderte er fröhlich und grinste, als er mich einholte. »So ist es doch zwischen uns immer gewesen, Phedre. Freunde?« Ich verzog noch einmal das Gesicht, aber er hatte Recht. »Freunde«, stimmte ich widerwillig zu, denn trotz unserer Streitereien schätzte ich ihn sehr. »Aber wir teilen die Opfergabe halbe, halbe, ja?« So erreichten wir ein wenig miteinander hadernd den Tempel von Azza und gaben unsere Pferde in die Obhut des Stallknechts. Ich war nicht überrascht, den Tempel an jenem Tag so gut besucht zu sehen. Haus Trevalion war von Azzas Abstammung, und ich hatte die schwarzen Armbinden bemerkt. Im Innern des Tempels brannten Hunderte von Kerzen, und ganze Reihen voller Blumen säumten die Mauern. Die Priesterinnen und Priester Azzas trugen safrangelbe Tuniken mit karmesinroten Chlamys oder Obergewändern, die von bronzenen Broschen zusammengehalten wurden. Jeder von ihnen hatte die Bronzemaske Azzas aufgesetzt, das eigene Antlitz verborgen hinter der abschreckenden Schönheit der Maske; obgleich ich wohl behaupten kann, dass keine so kunstvoll verarbeitet war wie diejenige, die Baudoin beim Ball der Wintersonnenwende getragen hatte.
Wir überließen unsere Opfergaben einer Priesterin, die sich verbeugte und jedem von uns eine kleine Schale Weihrauch reichte, und nahmen unsere Plätze ein, bis wir an der Reihe waren. Während wir warteten, betrachtete ich die Statue Azzas auf dem Altar. Dasselbe Gesicht, das sich in einem Dutzend Masken widerspiegelte, blickte voller Verachtung über den Altar, dennoch war es stolz und schön. Azza streckte eine Hand 295 mit der Innenfläche nach oben von sich; in der anderen hielt er einen Sextanten, denn das war sein Geschenk an die Menschheit. Wissen, verbotenes Wissen, um damit über die Meere dieser Welt zu navigieren. Hyacinthe ging als Erster, danach war ich an der Reihe. Ich kniete vor dem Opferfeuer nieder, und ein Priester besprenkelte mich am Altar mit seinem Weihwedel, während er einen Segen aussprach. »Verzeih mir, wenn ich mich an den Nachfahrer Azzas versündigt habe«, flüsterte ich und neigte meine Schale. Die Weihrauchkörner strömten wie Gold in die Flamme, die einen kurzen Augenblick lang grünlich aufflackerte. Der aufsteigende Rauch brannte in meinen Augen. Da hinter mir noch viele andere warteten, erhob ich mich, reichte meine Schale dem wartenden Altardiener und beeilte mich dann, Hyacinthe zu folgen. Im Tempel Eluas war es ruhiger. Augenscheinlich hatten die Leute nicht vergessen, dass Lyonette und Baudoin de Trevalion als Nachfahren Eluas den Verrat umso mehr an Haus Courcel begangen hatten. Eluas Tempel besitzen keine Dächer, sondern nur Eckpfeiler, um die vier Himmelsrichtungen anzudeuten. Gemäß der Tradition steht das Innere des Heiligtums immer unter freiem Himmel und bleibt ungepflastert, damit dort Blumen und Pflanzen nach Belieben wachsen können. In dem Großen Tempel der Cite befinden sich alte Eichenbäume zu beiden Seiten des Tempels, und eine Pflanzenpracht blüht inmitten des Tempelgeländes, auf dem Blumen und Wildkräuter gleichermaßen liebevoll gepflegt werden. Als wir endlich dort ankamen, war die Abenddämmerung schon fast hereingebrochen, und der Himmel über uns verdunkelte sich, so dass die ersten Sterne wie kleine Lichtpunkte hervortraten. Barfuss und in einem blauen Gewand hieß uns eine Priesterin mit dem Begrüßungskuss willkommen, und ein Altardiener kniete nieder, um uns die Schuhe abzustreifen, damit wir in der Gegenwart Eluas nackten Fußes gehen konnten. Man nahm unsere Opfergaben entgegen und drückte uns scharlachrote Anemonen in die Hand, die wir auf den Altar legten. Die Statue Eluas, die in dem großen Tempel steht, ist eines der ältesten Werke der Kunst meines Volkes. Manche mögen sie als grob empfinden, aber mir ging es nie so. Sie ist in Marmor gehauen und übermannshoch. Mit offenem Haar und einem ewigen Lächeln auf den Lippen steht er da und blickt auf seine Welt hinab. Beide Hände sind leer. Die eine ist in Anerbietung ausgestreckt, die andere von den Narben seiner Wunde gezeichnet, dem Blut, das er vergoss, um seine Verwandtschaft mit der Menschheit zu zeigen. Vögel und hier und da eine Fledermaus flatterten um die Bäume, als Hyacinthe und ich uns der Statue in der Dämmerung näherten und der Einbruch der Nacht jegliche Farbe aus den scharlachroten Anemonen, die wir mit uns trugen, weichen ließ. Die Erde war feucht unter meinen Füßen. Wieder ließ ich Hyacinthe vorangehen, aber diesmal kamen mir keine Worte über die Lippen, als ich meine Opfer darreichte. In der Gegenwart Eluas war alles bekannt und alles vergeben. Ich berührte die Finger der marmornen Hand, die er mir entgegenhielt, kniete nieder und legte die Blüten zu seinen Füßen. Dann beugte ich mich hinunter und drückte die Lippen auf den kühlen Marmor von Eluas Fuß, wobei ein Gefühl des Friedens mich durchdrang. Ich weiß nicht, wie lange ich dort verweilte, aber irgendwann kam ein Priester zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter und bat mich aufzustehen. Als ich dies tat, blickte er mir in die Augen, und ein sanftes Lächeln überzog seine Miene. An seinem freundlichen Blick erkannte ich, dass er um mich und mein Wesen Bescheid wusste. »Kushiels 296 297 Pfeil«, sagte er leise und berührte mein Haar, »und Naamahs Dienerin. Möge der Segen Eluas auf dir ruhen, mein Kind.« Obgleich Hyacinthe in dem dahinter liegenden Hain auf mich wartete, kniete ich noch einmal nieder, ergriff die Hände des Priesters und küsste sie voller Dankbarkeit. Er gestattete mir einen Augenblick und zog mich ein weiteres Mal hoch. »Liebe, wie es dir gefällt, und Elua wird deine Schritte leiten, wie lange deine Reise auch dauern mag. Geh hin mit seinem Segen.«
Ich wandte mich ab, dankbar für die Ruhepause und mit dem Gefühl, dass die Opfergabe mein Herz erleichtert hatte. »Danke«, sagte ich zu Hyacinthe, als ich wieder zu ihm stieß. Er sah mich fragend an. »Wofür?« »Dafür, dass du mir gegeben hast, was du entbehren konntest«, erwiderte ich, als uns der Altardiener an der Pforte unser Schuhwerk reichte. Ich beugte mich über ihn und küsste ihn auf die Wange, als er in die Stiefel schlüpfte. »Dafür, dass du mein Freund bist.« »Freiersleute kannst du zu Dutzenden zählen.« Hyacinthe zog an einem Stiefel und grinste mich an. »Aber ich nehme an, dass es nur wenige gibt, die sich der Freundschaft mit Delaunays anguisette rühmen können.« Es entsprach der Wahrheit, was mich jedoch nicht davon abhielt, ihn für seine Worte auf den Rücken zu schlagen, und so gingen wir wieder, wie wir gekommen waren, nämlich im Streit, aber dafür mit erleichterten Herzen - und Geldbörsen. Der Stallknecht der Tempel brachte unsere Pferde, wir ritten gut gelaunt zum Vorhof der Nacht zurück und stürmten wild durch die schmalen Gassen in dem Versuch, Guy abzuschütteln, den wir nie zu Gesicht bekamen, dessen Anwesenheit wir jedoch immer spürten. 298 So kam es, dass wir auf die Shahrizai trafen. Wir erreichten den Marktplatz des Vorhofs der Nacht. Hyacinthe sah sie als Erster und brachte sein Pferd zum Stehen. Er bewegte sich, ohne nachzudenken, die Zügel sicher in Händen. Ich hielt mein Pferd ebenfalls an und blickte an ihm vorbei. Links und rechts von Dienern mit Fackeln flankiert, ritten die Shahrizai in einer großen Gruppe. Sie boten einen atemberaubenden Anblick in ihrem schwarz-goldenen Brokat und sangen auf ihrem Weg zum Mont Nuit mit kushelinem Akzent, während sie ihre Peitschen und Gerten schwangen. Die Frauen trugen das Haar offen, während die Männer es zu kleinen Zöpfen geflochten hatten, die wie verknüpfte Ketten um ihre blassen, hinreißenden Gesichtszüge fielen. Die Nacht war inzwischen gänzlich hereingebrochen, daher glitzerte das Licht der Fackeln auf ihren blauschwarzen Haaren und unterstrich die hellen Stellen auf ihren Brokatmänteln. Ich starrte sie über den Nacken von Hyacinthes Braunem hinweg an und entdeckte mühelos Melisande in ihrer Mitte. Als ob ein unsichtbarer Blitzstrahl uns verband, fand ihr Blick den meinen, und sie hob die Hand, was ihre Begleiter zum Halten brachte. »Phedre nö Delaunay!«, rief sie mit belustigter Stimme. »Du kommst wie gerufen. Möchtest du uns nicht zum Valeriana-Haus begleiten?« Ich hätte geantwortet, obgleich ich nicht weiß, was, wenn Hyacinthe seinem Braunen nicht die Sporen gegeben und sich zwischen mich und die Shahrizai gestellt hätte. »Sie ist heute Nacht mit mir unterwegs«, antwortete er statt meiner mit Nachdruck. Melisande lachte, und ihre Shahrizai-Verwandten fielen ein, allesamt groß und schön, Brüder und Vettern gleichermaßen. Auch wenn ich sie nicht den einzelnen Gesichtern zuordnen 299 konnte, so kannte ich doch die Namen eines jeden aus Delaunays langem Unterricht: Tabor, Sacriphant, Persia, Marmion, Fanchone. Sie waren alle schön, aber ihre Schönheit war nichts gegen die Melisandes. »Du bist also ihr kleiner Freund«, sinnierte die schöne Frau, während sie Hyacinthes Gesicht forschend betrachtete. »Der, den sie den Prinz des Fahrenden Volkes nennen. Ich weiß aus glaubwürdiger Quelle, dass du dich noch nie außerhalb der Stadtmauern aufgehalten hast. Wie auch immer, wenn ich dir Geld gebe, wirst du mir dann sagen, was die Zukunft bringt, Tsingano?« Wieder lachten die Shahrizai. Ich merkte, wie sich Hyacinthes Rücken versteifte, doch konnte ich sein Gesicht nicht sehen, als er antwortete. Es spielte keine Rolle; ich hatte es in der Stimme seiner Mutter gehört, und ich hörte es in seiner. »Dies eine sage ich dir, Stern des Abends«, erwiderte er mit kühler Stimme, während er sich förmlich vor ihr verbeugte, der ferne Klang der dromonde in seiner Prophezeiung. »Derjenige, der nachgibt, ist nicht immer schwach. Wähle deine Siege klug.« Falls ich jemals infrage gestellt hatte, dass Melisande Shahrizai gefährlich war, so hatte ich nach jener Nacht keinen Zweifel mehr daran, denn als Einzige unter ihren Verwandten lachte und spaßte sie nicht, sondern kniff die Augen nachdenklich zusammen. »Ein kostenloser Rat, von einem Tsingano? Das ist wirklich etwas. Marmion, zahl ihn aus, damit ich ihm nichts schuldig bleibe.« Wenigstens ein Name, den ich nun einem schönen Shahri-zai-Gesicht zuordnen konnte: ein jüngerer Bruder oder Vetter, vermutete ich, nach der leutseligen Eilfertigkeit zu urteilen, mit der er gehorchte und aus seiner Börse eine Goldmünze herausholte, um sie in Hyacinthes Richtung zu werfen. Die
Münze blitzte im Fackellicht auf, und mein Freund fing sie geschickt 300 in der Luft, verbeugte sich mit einer schwungvollen Gebärde und steckte sie in seinen Beutel. »Habt Dank, o Stern des Abends«, sagte er in seinem üblichen salbungsvollen Prinz-des-Fahrenden-VolkesTonfall. Das brachte Melisande nun doch zum Lachen. »Deine Freunde versäumen es nie, durch ihre Ehrlichkeit zu amüsieren«, wandte sie sich dann an mich. Ich antwortete nicht. Jemand gab den Dienern eine Anweisung, woraufhin die Shahrizai sich wieder in Bewegung setzten und ihr Lied anstimmten. Melisande folgte ihnen und wandte dann ihr Pferd um. »Was Baudoin de Trevalion angeht... du trauerst auf deine Weise«, sagte sie, während ihr Blick noch einmal meinem begegnete, »und ich auf meine.« Ich nickte, froh über Hyacinthes Gegenwart. Melisande lächelte kurz, gab ihrem Pferd die Sporen und holte ihre Gesellschaft mühelos ein. Hyacinthe atmete in einem langen Seufzer aus und strich sich die schwarzen Locken aus dem Gesicht. »Wenn ich mich nicht täusche, war das der Juwel von Haus Shahrizai, oder?« »Du hast die dromonde gesprochen, ohne es zu wissen?« Als meine sanfte Stute den Kopf zurückwarf, blickte ich nach unten und stellte fest, dass meine Hände an den Zügeln zitterten. »Dein Schicksal kennt deinen Namen, daher spielt es keine Rolle, ob derjenige, der es in Worte fasst, ihn kennt«, erwiderte er geistesabwesend. »Das war Melisande Shahrizai, stimmt's? Ich habe Lieder über sie gehört.« »Was sie auch immer singen, es ist nichts als die Wahrheit und dabei nur ein kleiner Teil von ihr.« Ich beobachtete, wie sie um die Ecke am Ende der Straße verschwanden. »Viel seltsamer ist, dass sie wusste, wer du bist, sie singen nämlich keine Lieder über dich, Hyacinthe.« Sein weißes Grinsen blitzte in der Dunkelheit auf. »Und ob 301 sie das tun. Hast du dieses eine Lied nicht gehört, das Phaniel Douartes über den Prinzen des Fahrenden Volkes und die Reiche Comtesse geschrieben hat? Im >Jungen Hahn< ist es sehr beliebt. Aber ich verstehe, was du meinst.« Er zuckte die Achseln. »Sie ist eine Freundin Delaunays, vielleicht hat er es ihr erzählt. Aber es ist schon etwas Besonderes, derart das Interesse einer fürstlichen Gefährtin zu wecken. Ich denke, du solltest dich geschmeichelt fühlen.« »Ihr Interesse gilt in erster Linie Delaunays Intrigen«, murmelte ich vor mich hin. »Im Übrigen ist sie eine Nachfahrin Kushiels. Es liegt ihr im Blut, so wie es in meinem Blick liegt.« »So viel ist offenkundig«, bemerkte Hyacinthe trocken. »Nur Kushelinen würden ihre Trauerarbeit im Valeriana-Haus verrichten, und nur du wärst verrückt genug, sie zu begleiten.« »Ich hatte nicht...« »Das würdest du auch nicht«, vernahmen wir eine dritte, tiefe und ausdruckslose Stimme hinter uns in der Dunkelheit. Ich drehte mich im Sattel und erblickte Guy, der mit verschränkten Armen dastand und sich gegen die Gassenmauer lehnte. Er hob die Augenbrauen und sah mich an. »Du würdest deinen Herrn doch nicht in solcher Weise verraten, oder, Phedre?« »Ich dachte, du wärst hinter uns hergeritten«, erwiderte ich, da mir keine bessere Antwort einfiel. Guy schnaubte. »So wie ihr zwei euch beim Reiten anstellt? Es war überhaupt kein Problem, euch zu Fuß zu folgen. Obwohl du den Dreh raushast, wenn du nicht darüber nachdenkst«, fügte er an Hyacinthe gewandt hinzu. Zu mir sagte er: »Dir hätte es Delaunay beibringen müssen. Wenn ihr zwei dann genug von dieser wilden Verfolgungsjagd habt, bringe ich dich nach Hause und sage ihm das.« Es hatte keinen Zweck, Guy zu widersprechen, wenn er sich 302 erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Wir brachten die Pferde zum Stall zurück, und er ließ die Kutsche vorfahren. Hyacinthe grinste über meinen Missmut, und es machte mich wütend, was sonst nicht der Fall war, dass ich Delaunays Willen unterworfen war. Guy hatte lediglich ein resigniertes Achselzucken für mich übrig und rief dem Kutscher zu, er solle uns nach Hause fahren. Als wir ankamen, stellte ich fest, dass Delaunay noch nicht einmal da war, und ärgerte mich doppelt darüber, dass Guy mich aus eigenem Antrieb aus dem Vorhof der Nacht weggezerrt hatte. Die Tatsache, dass er möglicherweise Besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste, als sie damit zu vergeuden, der eigensinnigen, Tausend-Dukaten-pro-Nacht-angwisette seines Herrn durch die unangenehmsten Viertel der Stadt auf Schritt und Tritt zu folgen, kam mir überhaupt nicht in den Sinn.
Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, dass ich jung und gänzlich von jugendlicher Selbstachtung erfüllt war. Hätte ich gewusst, was noch geschehen sollte, hätte ich mich an jenem Abend Guy gegenüber anders verhalten, denn er war auf seine Art sehr freundlich zu mir gewesen. Aber zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich ihn mit mürrischer Verachtung strafte. Rastlos und aufgebracht strich ich bei meiner Rückkehr durchs Haus, als sei es ein Gefängnis, und traf in der Bibliothek auf Alcuin. Ich war kurz davor, meiner Frustration Luft zu machen, doch etwas in seinem Gesichtsausdruck ließ mich innehalten, als er von dem Brief aufsah, den er gerade las. »Was ist?«, fragte ich ihn stattdessen. Alcuin faltete den Brief sorgfältig und strich die Knicke glatt. Sein glänzendes weißes Haar umrahmte sein Gesicht, während er sich seiner Aufgabe widmete. »Ein Angebot. Es 303 wurde heute Abend von einem Boten gebracht, von Vitale Bouvarre.« Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er blickte scharf zu mir auf. »Du weißt es?« Alcuin war immer besser als ich darin gewesen, das Ungesagte herauszuhören. Ich nickte. »Ich habe euer Gespräch zufällig mit angehört, in der Nacht von Baudoins Geburtstag.« Ich hielt inne. »Es tut mir Leid. Ich hatte wirklich nicht die Absicht, euch zu belauschen. Ich habe niemandem davon erzählt.« »Es macht nichts.« Gedankenverloren klopfte er mit dem gefalteten Brief gegen die Tischplatte. »Warum jetzt, frage ich mich? Hat er weniger zu befürchten, jetzt da Haus Trevalion gefallen ist? Oder hat er Angst, seinen Nutzen für die Stregazza überdauert zu haben?« Ich saß ihm gegenüber auf der Kante eines Stuhls. »Er hat gesehen, wie einige Adlige des Reiches mit dem Finger auf eines der Großen Häuser gezeigt und dadurch Vorteile erlangt haben, Alcuin. Das hat ihn mutig gemacht, und wenn der Gewinn seine Angst überwiegen würde, dann würde er es sogar öffentlich tun.« Ich schüttelte den Kopf. »Er ist krank vor Begierde, und diese Ereignisse haben ihn unvorsichtig genug gemacht, nach einem Heilmittel zu suchen, nichts weiter. Sei vorsichtig mit ihm.« »Ich werde vorsichtig sein«, erwiderte Alcuin grimmig, »dieses eine Mal noch und dann nie wieder.« »Wirst du ... das Delaunay erzählen?«, fragte ich zögerlich. Alcuin schüttelte den Kopf. »Nicht bevor es getan ist. Der Brief besagt nur, dass Vitale meiner Forderung nach einer Freiergabe nachkommen wird. Delaunay soll glauben, es sei ein Rendezvous wie jedes andere. Wenn er wüsste, wie ich mich dabei fühle, würde er mich sowieso nicht gehen lassen.« 304 Seine dunklen Augen ruhten konzentriert auf mir. »Versprichst du mir, dass du ihm nichts sagen wirst?« Er bat nicht um viel, und er hatte mich noch nie zuvor um etwas gebeten; es war nicht Alcuins Schuld, dass ihm seine Freiheit genau in jener Nacht angeboten wurde, in der ich an meinen eigenen Fesseln zerrte. »Ich verspreche es.« 305 24 Auch wenn ich es nicht im Schlafgemach tat - meine Gabe ag sogar in meiner vollkommenen Unfähigkeit dazu -, verfüge ich dennoch über großes Geschick, mich zu verstellen. So erahnte in all dieser Zeit niemand von meinen Freiersleuten je die Natur meiner Erziehung als Delaunays anguisette, außer Melisande Shahrizai, aber sie stand ohnehin auf einem ganz anderen Blatt. Selbst Childric d'Essoms, der instinktiv wusste, dass Delaunay etwas im Schilde führte, erriet nie, welche Rolle ich dabei spielte, bis zu dem Tag, an dem ich es ihm offenbarte. Aber auch wenn ich meine Fähigkeiten für recht beachtlich hielt, waren sie nichts im Vergleich zu Alcuins. Ich hatte an seiner Stimme und in seinem Gesicht abgelesen, wie abgrundtief er Vitale Bouvarre verabscheute, doch in den Tagen vor seinem letzten Rendezvous spiegelte sich nichts von diesen Gefühlen in seinem Verhalten wider. Er war so, wie er immer gewesen war, sanftmütig und freundlich, und fügte sich gelassen in alles, was das Schicksal ihm bescherte. Derjenige, der nachgibt, dachte ich, ist nicht immer schwach. Guy hielt Wort und sagte Delaunay, dass Alcuin und ich lernen sollten, vernünftig auf einem Pferd zu sitzen. Unser Lehrer stimmte zu, und Cecilie Laveau-Perrin bot großzügigerweise ihren Landsitz an. Er wurde immer noch von dem gleichen Seneschall verwaltet, der von ihrem verstorbenen Gemahl, dem Chevalier Perrin, einst eingesetzt worden war, als er seinen Posten als Berater des Königs annahm.
Wir verbrachten vier Tage auf Perrinwolde, und wenn ich daran zurückdenke, waren das die vier glücklichsten Tage meines Lebens. Delaunay entspannte sich auf dem Land, seine Reserviertheit, die so sehr Teil seiner selbst war, dass ich sie kaum mehr wahrnahm, wich fast gänzlich. Das Herrenhaus war recht schlicht, aber sauber und gut erhalten. Das Essen war einfach, aber schmackhaft, und die Frau des Seneschalls, Heloise, rühmte sich, bei den Vorbereitungen ihre Hand im Spiel gehabt zu haben. Die Reitstunden selbst waren Qual und Vergnügen zugleich. Zu Alcuins und meinem gemeinsamen Verdruss wurden wir in die Obhut eines grinsenden elfjährigen Burschen gegeben, der ohne Sattel auf seinem struppigen Pony saß, als habe er sein ganzes Leben auf dem Rücken eines Pferdes verbracht. Doch sobald wir unsere Würde beiseite schoben - was mit einem Zwischenfall, nämlich einem Sturz mit dem Kopf voran in einen Misthaufen, zusammenhing, der jedoch, wie ich mit freudiger Erleichterung berichten kann, Alcuin und nicht mich betraf-, stellten wir fest, dass er ein ausgezeichneter Lehrmeister war. Am dritten Tage waren wir beide nicht mehr so wund wie am Anfang, und Delaunay hielt uns für geübt genug, um uns in einige von den angenehmeren Seiten der adligen Reitkunst einzuweisen. An unserem letzten Tag rief der Seneschall zu einer Jagd in den frühen Morgenstunden auf, um die Fertigkeiten, die Alcuin 306 307 und ich erlangt hatten, einer abschließenden Prüfung zu unterziehen. Die Sonne ging gerade auf, und ihre langen Strahlen fielen schräg über die fruchtbare Erde. Grüne Felder, die vom herbstlichen Gold noch kaum berührt waren, rauschten an uns vorbei, als wir über sie hinwegpreschten, einige Bauern riefen uns laut hinterher und schwenkten ihre Hüte. In der Ferne schlugen die Spürhunde an. Wir holten die Reiter an der Spitze bei der Obstplantage ein; der Fuchs war in einem Erdloch verschwunden, und die Jagdhunde beschnüffelten seinen Bau und jaulten, während sich die Reiter unter freiem Himmel versammelten. Einer der bewaffneten Männer ließ einen Schrei fahren und riss sein Pferd herum; unter lautem Gejohle und großem Hallo stürmte die halbe Jagdpartie den Weg zurück, den sie gekommen war, und ich entdeckte Alcuin unter ihnen. Seine dunklen Augen glänzten, sein weißes Haar löste sich aus dem Zopf und peitschte seine Wange wie Meeresgischt, als er sein Pferd so scharf herumriss, dass es dem Tier fast die Hinterbeine wegzog. Wie für viele andere Dinge hatte er auch hierfür eine natürliche Begabung. Bis wir wieder im Herrenhaus angelangten, hatte Delaunays Gemütsruhe sichtlich nachgelassen. Natürlich war er nicht weniger herzlich, aber sein Verhalten erschien wieder distanzierter, als er lachte und scherzte und dem Gewinner das versprochene Preisgeld überreichte. Wir verabschiedeten uns nach dem Mittagessen, und ich glaube wohl, dass wir es alle bedauerten. Manche Menschen behaupten, dass allem, was auf dieser Welt gesagt und getan wird, ein Muster zugrunde liege, dass nichts ohne Grund geschehe oder zur falschen Zeit. Dazu kann ich nicht viel sagen, denn ich habe zu oft gesehen, wie Schicksalsfäden frühzeitig abgeschnitten wurden, um daran glauben zu können. Aber ich habe gewiss auch den Schlussfaden meines Schicksals erblickt, der auf dem Webstuhl hin- und herbewegt wurde. Auch wenn es ein Muster gibt, denke ich nicht, dass auch nur einer von uns genügend Abstand halten kann, um es zu erkennen; doch will ich nicht strikt behaupten, dem sei nicht so. Ich weiß es nicht. Aber eines ist mit Sicherheit wahr: Wenn Alcuin in dieser Woche nicht Reiten gelernt hätte, wären die Ereignisse höchstwahrscheinlich anders ausgegangen. Und wenn Hyacinthe nicht die Wettsumme gesetzt hätte, wie er es getan hatte ... wenn er nicht beschlossen hätte, dass sein Gewinn verflucht sei, und Guy nicht gezwungen gewesen wäre, uns durch die Stadt zu verfolgen... wer weiß? Ich will das Schicksal nicht im Nachhinein infrage stellen. Getreu meinem Wort sagte ich nichts über Alcuins Rendezvous mit Vitale Bouvarre. Delaunay hatte seine Zustimmung gegeben, und der Vertrag war, noch bevor wir nach Perrinwolde aufbrachen, unterschrieben worden. An besagtem Abend kam es dann zu einem kleineren Missverständnis darüber, wie Alcuin zum Rendezvous gebracht werden sollte Bouvarre schickte seine Kutsche, während Delaunay gedachte, Alcuin in seiner eigenen fahren zu lassen - aber diese Unstimmigkeit war schnell bereinigt. Delaunay nahm Bouvarres Angebot unter der Bedingung an, dass Guy Alcuin begleitete. Dies war eine Selbstverständlichkeit; sie war sogar Teil unseres Vertrags, so dass sich niemand etwas dabei dachte. Ob Bouvarre es sich zweimal überlegte, weiß ich nicht. Im Vertrag war lediglich festgehalten, dass
uns ein livrierter Diener aus dem Hause Delaunays begleiten müsse. Weil Delaunay nicht über Grundbesitz verfügte - so dachten wir -, stand es ihm offiziell nicht zu, bewaffnete Männer zu haben, und Guy galt demnach nie als solcher. Er war stets ein stiller Mann, und nichts an ihm verriet, dass er in Waffen geschult war. Viele trugen einen Dolch an der Hüfte zur Schau; auch wenn er zwei 308 309 trug, deutete nichts an ihm darauf hin, dass er von der Cassilinischen Bruderschaft ausgebildet worden war. Ich hatte ihn schon seit Jahren gekannt und es nie vermutet. Nachdem die Angelegenheit mit der Kutsche geklärt war, gab Delaunay Alcuin seinen Segen. Da wir nie Rendezvous für den gleichen Abend annahmen, war ich anwesend, um ' ihn zu verabschieden. Er hatte dasselbe Gewand angelegt, das er bei seinem Debüt getragen hatte, die rehfarbenen Beinkleider und das weiße Hemd; auf Vitales Bitte hin, so nahm ich an. Seine ruhige und gelassene Miene blieb die ganze Zeit unverändert, aber seine Hände waren eisig kalt, als ich sie ergriff. Ich zog seinen Kopf zu mir herunter, um ihn auf die Wange zu küssen - er war so viel größer als ich geworden -, und murmelte: »Lass es dir gut gehen.« Alcuins Wimpern zuckten, aber er gab nicht zu erkennen, dass er mich gehört hatte. So verließ er uns, um sich in die Arme Vitale Bouvarres zu begeben. Es war schon weit in den frühen Morgenstunden, als er zurückkam. Ich schlief tief und fest und dachte, ich träumte, und in meinen Träumen kehrte Gaspar Trevalion zurück und schrie im Hof laut und Furcht erregend nach Delaunay. Selbst nachdem ich erwachte, brauchte ich einige Augenblicke, um die Stimme wiederzuerkennen, denn ich hatte Alcuin noch nie die Stimme erheben hören. In höchster Eile kletterte ich aus dem Bett, warf mir das erstbeste Kleidungsstück, das mir unter die Finger kam, um die Schulten und rannte nach unten. Fast das gesamte Haus war schon versammelt, erschrocken und mit verschlafenen Augen standen sie hinter hochgehaltenen Fackeln da. Delaunay hatte sich ebenso hastig angekleidet wie ich, und sein Hemd, das sich in dem Schwertgurt um seine 310 Hüfte verfangen hatte, hing schief herunter. »Was ist los?«, schrie er, als ich den Hof erreichte. Alcuin saß rittlings auf einem der Kutschpferde, umklammerte mit den Beinen die Flanken des Tiers und kämpfte mit den durchtrennten Zügeln. Außer sich vor Angst warf es sich mit herunterhängenden Zugriemen und aufgeblähten Nüstern wild nach vorne. Alcuin versuchte verzweifelt, das Pferd in Schach zu halten, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht. »Die Kutsche wurde angegriffen!^ schrie er und zerrte heftig an den Zügeln. Der Kopf der Stute wurde nach oben gerissen, und Schaum flog aus ihrem Maul, als das Gebissstück ihr in die Lippen schnitt. Alcuins weißes Hemd schimmerte im Licht der Fackeln bernsteinfarben, aber ich konnte einen schwarzen Fleck erkennen, der sich über seine Rippen ausdehnte. »Am Fluss. Guy versucht, sie aufzuhalten, aber es sind zu viele. Er hat die Zugriemen durchtrennt.« Für den Bruchteil einer Sekunde starrte Delaunay ihn an, wandte sich dann an den Mann neben ihm und stieß ihn fort. »Hol mein Pferd!« Schon wurden im Stall die Lichter angezündet. Mittlerweile hellwach, griff Delaunay nach dem Zaumzeug des Kutschpferds und brachte es mit der Kraft seiner Arme und seines Willens zum Stehen. Alcuin schwang ein Bein über die Kuppe des Tiers, stieg ab und verzog das Gesicht, als er aufkam. »Bist du ...?« Delaunay streckte eine Hand nach ihm aus. Erstaunlich flink schlug Alcuin mit wutverzerrtem Gesicht die Hand beiseite. »Das wäre nicht passiert, wenn Ihr mir beigebracht hättet, eine Klinge zu führen!« In diesem Moment kam ein Bursche mit Delaunays Reitpferd aus den Ställen gerannt. Unser Herr wandte sich ab, war im Nu aufgestiegen und griff nach den Zügeln. »Wo?«, fragte er nur kühl. 311 Alcuin drückte sich eine Hand auf die Seite. »Nicht weit vom Ulmenhain.« Ohne zu antworten, riss Delaunay sein Pferd herum und stürmte los, dass auf den Steinplatten die Funken sprühten. Halb lachend, halb weinend sank Alcuin im Hof zu Boden. Eine prall gefüllte Börse an seinem Gürtel schlug auf dem Steinboden auf, und Goldmünzen fielen heraus. Ich rannte schnell an seine Seite. »Meine Marque, Phedre«, stöhnte er auf, als ich den unermesslichen Reichtum beiseite
schob. »Wenn ich mich nicht irre, wird Guy dafür bezahlen.« »Schhh.« Ich hielt ihn in den Armen und knöpfte geschickt sein Hemd auf; auch wenn ich sonst zu nichts zu gebrauchen war, so viel konnte ich zumindest tun. Ich schob eine Hand unter das Hemd und befühlte die Wunde, indem ich die Handfläche darüber legte, um das pulsierende Blut zurückzuhalten. Fackeln beugten sich tief über uns, mehrere Gesichter blickten herab, um etwas zu sehen. Ich wünschte, wir wären in Perrinwolde, wo Heloise sicherlich wüsste, was zu tun war. »Holt einen Arzt!«, schrie ich. »Hovel, Bevis ... lasst nach dem yeshuitischen Doktor schicken! Sofort!« Ich weiß nicht, wie lange ich Alcuin in jener Nacht auf dem eiskalten Steinboden des Hofes in den Armen hielt, während um uns herum eilige Schritte und Stimmengewirr zu hören waren. Es kam mir wie Stunden vor. Sein Blut sickerte warm durch meine Finger, und sein Gesicht wurde immer blasser, während ich über ihm Gebete flüsterte und bei Elua und all seinen Gefährten um Verzeihung bat für jeden eifersüchtigen Gedanken, den ich je gehabt hatte. Das ernste Gesicht des yeshuitischen Doktors, das sich schließlich irgendwann über Alcuin beugte, hätte keinen schöneren Anblick bieten können. »Was macht der Junge hier auf den Steinen?«, fragte er und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Wollt Ihr, dass er sich erkältet und stirbt, wenn ihn diese Wunde nicht umbringt? Du ... und du, tragt ihn ins Haus.« Ich überließ ihnen dankbar meine Last, meine Finger verklebt von Alcuins Blut. Er wandte seine Augen in meine Richtung, als sie ihn hochhoben, und dankte mir, ohne ein Wort zu sagen, woraufhin ich die verstreuten Goldmünzen einsammelte und ihnen ins Haus folgte. Alcuin wurde auf das nächstbeste Sofa gebettet, und der Doktor zerschnitt sachkundig sein Hemd mit einer Schere. Die Wunde war lang und tief, aber nicht tödlich. »Ihr habt viel Blut verloren«, bemerkte der Yeshuite sachlich, als er einen Seidenfaden einfädelte, »doch Ihr werdet, glaube ich, nicht daran sterben, weil ich jetzt hier bin.« Eine Zeit lang hantierte er mit Nadel und Faden, ohne ein Wort zu sagen, und Alcuin zischte durch die Zähne. Nach getaner Arbeit verlangte der Arzt nach starkem Weingeist, wusch die Wunde, verband sie anschließend und gab mir ein Dose mit Heilsalbe. »Ihr wisst, wie man sie benutzt, glaube ich«, meinte er, und trotz seines fremdartigen Akzents entging mir der ironische Unterton nicht. »Sagt Herrn Delaunay, er möge nach mir schicken, sollte die Wunde brandig werden.« Alcuin zerrte ungeschickt an seiner Geldbörse und ließ dabei einige Münzen herausfallen. Ich hob eine vom Boden auf und reichte sie dem Doktor. Er nahm sie entgegen und blickte mich dann mit gehobenen Augenbrauen an. »Ihr führt ein hartes Leben. Ich hoffe, es ist die Sache wert.« Ich wusste keine Antwort darauf und auch Alcuin nicht, hätte er die Kraft gehabt, zu sprechen. Der Doktor verbeugte sich, und einer der Bediensteten brachte ihn schweigend zur Tür. Sie öffnete sich, bevor er hinaustreten konnte, als Delaunay mit einem Furcht erregenden Ausdruck auf dem Gesicht und der leblosen Gestalt Guys in den Armen hereinkam. Der Doktor 312 313 hielt inne, legte eine Hand auf Guys Hals und fühlte nach dem Puls. Ohne ein Wort zu sagen, sah Delaunay ihn an. Der Doktor schüttelte den Kopf. »Für ihn ist es zu spät«, sagte er ruhig. »Ich weiß«, erwiderte Delaunay. Er hielt inne, und ein Schatten fiel über sein Gesicht, als er nach einer Höflichkeitsfloskel suchte. »Danke.« Der Yeshuite schüttelte wieder mit schwingenden Haarlocken den Kopf und murmelte etwas in seiner Muttersprache. »Es ist nicht der Rede wert«, entgegnete er, und obgleich seine Stimme schroff klang, berührte er kurz Delaunays Arm, bevor er ging. Die Tür schloss sich hinter ihm. Unser Lehrer legte Guys Leichnam vorsichtig auf den Boden und brachte den leblosen Körper in eine bequeme Lage, als könne er sich immer noch unbehaglich fühlen. »Du hättest es mir sagen sollen«, wandte er sich an Alcuin. »Du hättest mir von dem Handel, den du eingegangen bist, erzählen sollen.« »Wenn ich es Euch erzählt hätte«, flüsterte Alcuin, »hättet Ihr nicht gestattet, dass ich mich darauf einlasse.« Er schloss die Augen, und die Tränen, welche die Nadel des Yeshuiten nicht hervorgebracht hatte, sickerten unter seinen Augenlidern hervor. »Aber ich habe nie gewollt, dass ein anderer den Preis dafür bezahlt.« Delaunay sank auf die Knie, beugte den Kopf über Guys Leichnam und drückte die Hände gegen die Augen. Ich schwankte zwischen Bleiben und Gehen, da ich ihn mit seiner Trauer allein lassen wollte, wusste aber nicht, ob ich es sollte. Doch er hob den Kopf, und in seinem Blick lag eine erschreckende Dringlichkeit, die sogar Schuld und Trauer überwog. »Wer war es?«, fragte er, seine Stimme hob sich
kaum lauter als zu einem Flüstern. »Therese ... und Dominic Stregazza.« Alcuin öffnete die 314 Augen nur einen Spalt, und er konnte kaum sprechen. »Prinz Benedictes Tochter.« Erneut bedeckte Delaunay die Augen, und ein Schauder erfüllte ihn. »Danke«, flüsterte er. »Heiliger Elua, es tut mir Leid, aber danke.« 315 Es dauerte einige Zeit, bis Alcuin von seiner Verletzung genas. Zwar hatte er tatsächlich eine Menge Blut verloren, doch glaube ich wohl, dass der Schlag, der seinem Gemüt versetzt worden war, das eigentliche Problem darstellte. Er hatte ge-wusst, welches Risiko er einging, aber er hatte nie über das Schlafgemach hinaus gedacht und über Bouvarres Verzweiflung. Alcuin hatte Guy im Gegensatz zu mir nie in seiner Eigenschaft als inoffizielle Leibwache agieren sehen. Er hatte keinen Augenblick lang damit gerechnet, dass die Kutsche angegriffen würde, und auch nicht geahnt, welche Rolle Guy in dieser Bedrohung spielen würde, und das konnte er sich nicht verzeihen. Delaunay, dem Wahnsinn nahe vor Kummer und Schuldgefühlen, hätte ihn Tag und Nacht gepflegt, aber er war der Letzte, den Alcuin sehen wollte. Ich verstand das besser, als ich mir anmerken ließ. Alcuin hatte aus Liebe zu Delaunay gehandelt; jetzt konnte er es nicht ertragen, die Lorbeeren von dessen Sorge zu ernten. So kümmerte ich 316 mich während seiner unsteten Genesung um ihn und diente als Vermittlerin zwischen den beiden. Nach und nach erfuhr ich von Delaunay, was in jener Nacht passiert war, nachdem er uns verlassen hatte. Er war beizeiten angekommen, um Guy noch lebend vorzufinden, der wie ein in die Enge getriebener Wolf gegen vier Angreifer kämpfte. Bouvarres Kutscher hatte sich auf den Kutschbock verkrochen, greinend, jedoch unversehrt. Delaunays Beschreibung seiner Ankunft war kurz und bündig: Er sagte nur, dass er drei Wegelagerer erschlug, während der vierte flüchten konnte - aber da ich ihn davoneilen sah, kann ich mir sehr gut vorstellen, wie er an den Ort des Geschehens gestürmt kam. Schließlich war er ein fronterfahrener Kavallerist und ein Veteran der Schlacht der Drei Prinzen. Zuerst dachte er, er wäre rechtzeitig eingetroffen; aber als er sich Guy zuwandte, sah er die vielen blutenden Wunden und das Heft eines Dolches, das aus den Rippen des Verwundeten ragte. Guy ging zwei Schritte auf ihn zu, wankte und sank auf die Straße. Delaunay stieß einen Fluch gegen den Kutscher aus und eilte an seine Seite. Ich beschreibe es, als wäre ich dort gewesen, weil Delaunay es mir erzählte, denn es gab niemand anderen, dem er davon berichten konnte. Und wenn ich es etwas ausgeschmückt habe, dann nur, weil ich meinen Herrn zu gut kenne und weiß, was er verschwieg. Von Guys Heldentum hingegen sprach er freimütig. Guy hatte es gewusst. Er hatte gespürt, wie die Kutsche langsamer wurde, die nahenden Stiefelschritte gehört, die über die Straße stürmten, und es gewusst. Er stieß Alcuin vor sich aus der Kutsche und wehrte den ersten Angreifer ab, während er die Zugriemen durchtrennte und die Leitstute befreite. Dabei hatte Alcuin seine Wunde erlitten, aber Guy hatte ihn von unten auf 317 den Pferderücken geschoben und die Stute mit der Breitseite seines Dolches auf die Hinterbacken geschlagen. Dies alles hatte er Delaunay berichtet, bevor er starb - oder zumindest das meiste davon, denn Alcuin füllte später einige der Lücken. Mit Sicherheit sagte Guy seinem Herrn jedoch, dass es Bouvarres Männer waren, denn er stöhnte: »Herr, der Kutscher wusste davon.« Wie Delaunay es erzählte, kniete er während der ganzen Zeit an Guys Seite, und beide hielten die Hände über das Heft des tödlichen Dolchs. Nachdem Guy alles, was er wusste, berichtet hatte, rang er nach Luft, und seine Haut wurde kalt und blass. Die Kraft wich aus seiner Umklammerung, und seine Finger lösten sich vom Heft. Ich glaube, ich verstand seine letzten Worte genauso gut wie Delaunay, wenn nicht besser. »Zieht den Dolch heraus, Herr, und lasst mich gehen. Die Schuld zwischen uns ist beglichen.« Delaunay erzählte mir nicht, dass er weinte, während er dieser Bitte entsprach, aber ich kann es wohl erraten, denn ich sah seine Tränen, als er davon berichtete. Guy hatte sehr viel Blut verloren, was allein schon tödlich war, aber der Dolch hatte eine Lunge durchbohrt. Das Organ füllte sich im Handumdrehen; blutiger Schaum trat ihm über die Lippen, und er starb.
Was den Kutscher betrifft, so glaube ich gerne, dass er dachte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen, als Delaunay sich erhob und mit dem blutverschmierten Schwert in der nackten Hand auf ihn zukam. Aber Delaunay brachte ihn nicht um; es war nie seine Art, die Schwachen niederzumetzeln. »Sag deinem Herrn«, drohte er dem Kutscher, »er wird sich vor des Königs Justiz oder im Duell verantworten, aber er wird es tun müssen.« Delaunay sagte, der Kutscher habe nur mit einem Katzbuckeln geantwortet. Er beachtete den Mann nicht weiter, hob Guy in die Arme, legte ihn über seinen Sattel und machte sich langsam auf den Rückweg nach Hause. Tagelang befand sich das Haus in einem Zustand achtsamer Unruhe; achtsam, denn alle nahmen sowohl auf Alcuins Genesung als auch Delaunays Stimmung Rücksicht, doch die Unruhe war unvermeidbar. Die Bediensteten und ich kümmerten uns um Alcuin, während die Balsamierer ihre Kunst an Guy ausübten, dessen Leichnam in seinem bescheidenen Zimmer feierlich aufgebahrt lag. Delaunay verließ am zweiten Morgen für einige Zeit das Haus und kehrte verschlossen und wütend zurück. »Bouvarre?«, fragte ich ihn. »Ausgeflogen«, kam die knappe Antwort. »Hat gepackt und ist mit der Hälfte seines Haushalts nach La Serenissima geflohen.« Wie weit sich Delaunays Netz auch ausdehnte, es baute lediglich auf Neuigkeiten auf und verfügte über keinerlei Macht; auch wenn sein Wissen sich über die Grenzen von Terre d'Ange hinaus erstreckte, sein Einflussbereich tat es nicht. Vitale Bouvarre war in der Hochburg der Stregazza vollkommen sicher. Delaunay ging in der Bibliothek wie ein Tiger auf und ab, wirbelte dann plötzlich herum und blickte mich grimmig an. »Keine Rendezvous«, ordnete er an. »Solange Bouvarre nicht vor Gericht gebracht ist, werde ich keinen von euch beiden in Gefahr bringen.« Keinen von beiden, dachte ich, und starrte ihn an. »Ihr wisst es nicht?« »Was wissen?« Zu unruhig, um seinen Geist auf eine Sache zu konzentrieren, hatte er an seinem Schreibtisch innegehalten, die Linien eines halb geschriebenen Briefes nachgezogen und seinen Federkiel in das Tintenfass gebohrt. 318 319 Ich zog die Knie hoch und schlang die Arme darum. »Bouvarres Freiergabe hat den Rest von Alcuins Marque bezahlt«, erklärte ich sanft. »Das war die andere Hälfte seines Preises.« Mein Lehrer sah mich an und hielt den Federkiel in der Luft. »Er hat was getan? Warum? Warum sollte Alcuin das tun?« Herr, dachte ich, Ihr seid ein Schwachkopf. »Für Euch.« Langsam legte Delaunay den Federkiel zurück und achtete dabei darauf, den Brief nicht zu verschmieren. Ich hatte die Adresse gesehen, er war an den Vorsteher der Cassilinischen Bruderschaft gerichtet; um darum zu bitten, dass Guy als Mitglied ihres Ordens begraben werden konnte, nahm ich an. Er schüttelte den Kopf, als wollte er meine Andeutung nicht akzeptieren. »Ich hätte ihn nie darum gebeten, ein solches Risiko einzugehen. Nie. Keinen von euch. Alcuin wusste das!« »Ja, Herr«, erwiderte ich vorsichtig. »Das wussten wir beide, deshalb erzählte er es Euch auch nicht und verpflichtete mich zum Schweigen. Aber der Dienst Naamahs liegt nicht in seinem Blut wie in meinem. Er verpflichtete sich dazu, um ... um die Schuld zwischen euch zu begleichen.« Guys Worte; aus Delaunays Gesicht wich alle Farbe, als er sie vernahm. »Zwischen uns gab es keine Schuld zu begleichen«, flüsterte er. »Meine Schuldigkeit gegenüber Alcuin lag nicht hier.« »Sondern in dem Versprechen von Prinz Rolande de la Courcel?« »Er war mein Lehnsherr!« Delaunays Stimme klang hart. Sie ließ mich zurückschrecken, und als er es merkte, zeigte er sich nachgiebig. »Ach, Phedre ... ich habe euch zu gut ausgebildet. Alcuin hätte wissen müssen, dass es zwischen uns keine Schuld zu begleichen gibt.« »Dann hat er vielleicht Recht, und Ihr hättet ihn lieber in der Handhabung von Waffen als in Bettgeplänkel und Intrigen 320 ausbilden sollen, wenn Ihr das Andenken Eures Lehnsherrn ehren wolltet«, erwiderte ich unbarmherzig. Falls meine Worte zu grausam waren, nun gut, ich entschuldige mich nicht dafür. Jene Nacht war noch zu frisch in meiner Erinnerung, der kalte Steinboden und Alcuins Blut, das zwischen meinen Fingern verebbte.
»Vielleicht«, murmelte Delaunay, ohne gegen meine bissige Bemerkung zu protestieren, den Blick auf eine Erinnerung gerichtet, die sich meiner Kenntnis entzog. »Vielleicht hätte ich das tun sollen.« Ich liebte meinen Lehrer zu sehr, um ihn leiden zu lassen. »Alcuin hat sich bewusst dafür entschieden, Herr. Schmälert nicht, was er für Euch getan hat. Er trauert darum, dass Guy den Preis dafür bezahlte. Erlaubt ihm die Würde seiner Trauer, und er wird darüber hinwegkommen. Ihr werdet sehen.« »Ich hoffe, du behältst Recht.« Sein Blick wurde schärfer. »Es gibt ohnehin kein nächstes Mal. Alcuins Marque ist vollendet. Und du ...« »Ich bin Naamah geweiht, Herr«, erinnerte ich ihn sanft. »Ihr könnt mich davon genauso wenig freisprechen, wie Alcuin sein eigenes Gelübde brechen konnte.« »Nein.« Delaunay nahm seinen Federkiel. »Aber mein Wort gilt. Keine Rendezvous, bis die Angelegenheit mit Bouvarre geregelt ist.« Er tauchte den Federkiel in die Tinte; ich hatte ihn bis zum Äußersten gebracht, mehr war er nicht bereit, mit mir zu besprechen. Widerwillig räusperte ich mich. »Ja?«, fragte er und blickte auf. »Da wäre aber noch dieser Abgesandte, der nach Khebbel-im-Akkad versetzt wurde«, erinnerte ich ihn. »Derjenige, welcher ... auf seinem Posten ... exotische Vorlieben entwickelte? Er wird in etwa zehn Tagen beim König vorsprechen, und ich bin zu seinem Vergnügen verpflichtet worden.« 321 »Der junge Herr aus L'Envers' Gefolge.« Delaunay tippte gedankenverloren mit dem Ende der Feder auf seine Unterlippe. »Ich hatte ihn ganz vergessen. D'Essoms muss dich empfohlen haben.« Er sah auf seinen Brief herunter. »Wir werden sehen. Sollte es dazu kommen ... nun, dann können wir ein tragisches Unglück im Haus vorschieben, was nur zu sehr der Wahrheit entspräche. Aber warten wir's ab.« Da ich nicht den Wunsch verspürte, die Angelegenheit weiterzuverfolgen, neigte ich lediglich den Kopf in stiller Zustimmung. Nur sein Blick, der immer noch schwer auf mir ruhte, brachte mich dazu, wieder aufzusehen. »Tu dies nicht um meinetwillen, Phedre«, sagte er sanft. »Wenn es nur aus Liebe zu mir ist ... dann bitte ich dich, lass uns die Priesterschaft Naamahs inständig bitten und einen anderen Weg finden, euch von eurem Eid loszusprechen. Es gibt sicherlich eine Möglichkeit, denn Naamah ist barmherzig.« Ich blickte in sein geliebtes Gesicht, und der rote Dunstschleier legte sich ungerufen über meinen Blick. Er ging von meinem linken Auge aus und trübte schließlich meine ganze Sicht. Hinter Delaunay schwebte Kushiels Gesicht, streng und unnachgiebig, und in seinen Händen hielt er die Rute und die Geißel. Ich erzitterte bis ins Innerste. Dann dachte ich an Alcuin und Guy. »Nein, Herr«, sagte ich leise und blinzelte. Nun sah ich ein wenig klarer. »Zwar habt Ihr mein Wesen erkannt und mir einen Namen gegeben, der mir zur Ehre und nicht zur Schande gereichte, aber Kushiel hat mich dazu auserwählt. Lasst mich dienen, wie es mir vorbestimmt ist, sei es in Eurem oder in Naamahs Namen.« Nach einem kurzen Augenblick pflichtete er mir mit einem knappen Kopfnicken bei. »So soll es denn sein, aber warte auf mein Wort«, ermahnte er mich und wandte sich wieder seinem Brief zu. 322 So klärten wir die Angelegenheit zwischen uns. Und wenn ich Schuld auf mich geladen habe, dann nur, weil ich die Bedeutung der Tatsache nicht erkannte, dass der Bote, der seinen Brief abholte, die Insignien von Haus Courcel trug. Als keine Antwort kam, schlug ich ihn mir aus dem Kopf, und Delaunay schien ernsthaft versöhnt. Es gab keine Trauerfeier Guy hinterließ keine Familie, und es wäre grausam gewesen, weil Alcuin nicht hätte daran teilnehmen können -, aber Delaunay zahlte für das volle Zeremoniell, und Guy wurde auf dem Boden von Eluas Heiligtum vor den Toren der Stadt begraben. Innerhalb einer Woche hatte Alcuins Wunde angefangen, sich zu schließen, und versprach, sauber zu verheilen, obgleich sie eine hässliche Narbe hinterlassen würde. Ich überprüfte sie täglich und tränkte den Verband in einer warmen Baldrianlösung, um den Schmerz zu lindern. Auch wenn ich in der Heilkunst nicht weiter bewandert war, so hatte ich zumindest geschickte Hände, und er war mir dafür dankbar. Alcuin war ein guter Patient; er beschwerte sich nie, was jedoch keine Überraschung war, da es nicht seinem Wesen entsprach. Am siebenten Tag versuchte er sogar zu lachen, als er mich dabei beobachtete, wie ich an seiner Wunde schnüffelte, um sicherzugehen, dass sie nicht brandig wurde. »Du bist mir vielleicht eine Ärztin«, bemerkte er schwach, während er sich aufrecht gegen die Kissen lehnte und das Gesicht verzog, als die Bewegung an seinen Stichen zog. »Bleib ruhig liegen«, gab ich zurück, tauchte die Finger in den Topf mit der Heilsalbe und strich sie
auf die Wunde. So wie sie sich um seinen blassen Oberkörper wand, sah die klaffende Wunde ziemlich schrecklich aus, aber trotz alledem verheilte sie gut. »Wenn du bessere Pflege wünschst, lass Delaunay sie sich ansehen.« 323 Alcuin schüttelte nur stumm den Kopf, starrköpfig und unnachgiebig. Ich blickte in sein Gesicht und seufzte. Nichts konnte seiner jenseitigen Schönheit etwas anhaben, aber er sah dennoch abgespannt und abgezehrt aus. »Auch Guy hat seine eigene Wahl getroffen«, sagte ich ihm und wickelte ein frisches Leinentuch um die Wunde. »Er kannte die Gefahren besser als irgendeiner von uns. Schließlich hatte man ihn einst angeheuert, um Delaunay zu töten, und Delaunay hatte ihm vergeben und ihn bei sich aufgenommen. Du schmälerst die Begleichung seiner Schuld, wenn du die Schuld ganz auf dich alleine nimmst.« Es waren die ersten Worte, die zu ihm durchdrangen. »Das entschuldigt noch lange nicht mein törichtes Handeln«, erwiderte er steif. »Ach, nein«, bemerkte ich, während ich den Verband um die Watte legte. »Andere können irren, aber nicht Alcuin nö Delaunay. Wenn du nun glaubst, du machst dir wegen deines Versagens Vorwürfe, wie schuldig fühlt sich dann wohl Delaunay, weil er nicht erkannt hat, dass du den Dienst Naamahs verabscheust? Ich sage dir, du solltest mit ihm sprechen, Alcuin.« Einen Moment lang dachte ich, er würde sich erweichen lassen, aber seine Lippen verhärteten sich, und er schüttelte noch einmal kurz den Kopf und entzog sich dem Gespräch. Unverzagt machte ich mich im Zimmer zu schaffen, stellte die Waschschüssel zur Seite, faltete Umschläge, verschloss die Heilsalbe des Doktors. »Welche von den Stregazza ist eigentlich Therese?«, fragte ich, als ich der Ansicht war, er würde nicht länger auf mich achten. »Ist sie die Erstgeborene? Prinz Benedictes Töchter gehören zum Haus Courcel, glaube ich.« »Sie sind von Geburt an von königlichem Geblüt, wie Lyonette de Trevalion, aber Therese heiratete einen Vetter der 324 Stregazza. Dominic.« Ich hatte sein Interesse geweckt; seine Stimme eilte seinen Gedanken etwas voraus. Alcuin hatte sich mit königlichen Stammbäumen immer besser ausgekannt als ich. »In jeder Hinsicht eine schlechte Partie, er ist ein unbedeutender Herzog, aber sie ist ja auch nur die Zweitgeborene. Marie-Celeste ist die Älteste, und sie heiratete den Sohn des Dogen. Ihr Sohn wird sicherlich einmal La Serenissima erben. Ich wette mit dir, dass Dominic Stregazza unmittelbar nach Prinz Rolandes Ableben bestrebt war, seine Familie in die Nähe des Throns der D'Angelines zu bringen.« »Und feststellen musste, dass sein Weg von Haus L'Envers verstellt wurde«, überlegte ich laut. »Er muss sehr enttäuscht gewesen sein. Aber warum sollte es Delaunay bekümmern, wer Isabel L'Envers ermordete? Sie war in jeglicher Hinsicht seine Feindin.« Alcuin zuckte mit den Achseln, hob eine Hand und ließ sie wieder fallen. »Das weiß ich auch nicht.« »Vielleicht war sie die Frau, die er liebte, und nicht Edmee de Rocaille«, schlug ich vor. »Vielleicht lag ihr Verrat nicht darin, dass sie den Tod von Prinz Rolandes erster Verlobter verursacht hatte, sondern darin, dass sie seine zweite Frau geworden war.« Seine Augen waren weit aufgerissen. »Das glaubst du doch nicht wirklich, Phedre! Delaunay würde einen Mord nie verzeihen. Nie! Und warum sollte er mir gegenüber das Versprechen des Prinzen halten, wenn es wahr wäre?« »Schuldgefühle?« schlug ich vor. »Er wurde ganz schön böse, als ich kürzlich Rolandes Namen erwähnte. Vielleicht haben wir schon die ganze Zeit falsch gelegen, und diese Fehde zwischen Delaunay und Isabel L'Envers de la Courcel war gar keine Feindschaft, sondern eine Liebesbeziehung, die ein bitteres Ende nahm.« 325 Alcuin kaute an seiner Unterlippe und grübelte über meine Worte nach, während ich ein Lächeln verbarg. Ich hatte es nur zu bedenken gegeben, um ihn abzulenken, aber es war zu glaubhaft, um außer Acht gelassen zu werden. »Du bist verrückt, das auch nur zu denken«, wiederholte er sichtlich beunruhigt, und Farbe stieg ihm in die bleichen Wangen. »Es passt nicht zu Delaunay, sich derart zu entehren, ich weiß es.« »Gut.« Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme und schenkte ihm einen langen, durchdringenden Blick. »Du wirst es nie erfahren, wenn du nicht mit ihm sprichst. Und du hast bei
weitem die besseren Karten als ich, die Wahrheit aus ihm herauszubekommen.« Wir waren beide von ein und demselben Lehrmeister ausgebildet worden; es brauchte nur Sekunden, bis Alcuin erkannte, was ich getan hatte, und lachte. Es war sein echtes Lachen, frei und ungezwungen; dasselbe Lachen, mit dem er mich bei meiner Ankunft in Delaunays Haus begrüßt hatte. »Ach, kein Wunder, dass sie wieder und wieder für deinen Charme bezahlen! Ich habe meine Dienste wie eine Bauersfrau auf dem Markt vor Vitale Bouvarre ausgelegt, während du ihren Zungen Geheimnisse entlockst, ohne dass es ihnen bewusst wird. Wäre ich doch nur halb so begabt wie du.« »Das wünschte ich auch«, erwiderte ich mitleidig. »Oder zumindest, dass du genauso viel Vergnügen dabei empfinden würdest wie ich.« »Nur die Hälfte von diesem Vergnügen würde mich umbringen.« Er lächelte, während er ruhiger wurde, und ließ eine Falte meines Kleides durch die Finger gleiten. »Deine Freuden sind zu stark für meinen Geschmack, Phedre.« »Sprich mit ihm«, sagte ich, gab Alcuin einen Kuss und erhob mich. 326 Genesung jeder Art braucht ihre Zeit, aber der Besuch von Rogier Clavel, dem jungen Herrn aus Barquiel L'Envers' Gefolge, konnte nicht mehr aufgeschoben werden. Während des ganzen langen Tages vor unserem Rendezvous dachte ich, Delaunay würde den Vertrag lösen, aber in letzter Minute kam er mit einem Söldner nach Hause: ein Mann mit dem unmöglichen Namen Miqueth, ein tauriere aus Eisande, der seit einem Unfall, welcher eine tiefe Narbe auf seiner linken Schläfe hinterlassen hatte, Angst vor Stieren hatte. Mein neuer Leibwächter hatte seine Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen zu einer lukrativen Nebeneinkunft gemacht, und Delaunay hielt ihn für vertrauenswürdig genug. Er war schlank und dunkel, mit dichten Brauen, die in der Mitte fast zusammenstießen und ihn aussehen ließen, als runzelte er ständig die Stirn. Und obgleich ich keinen Zweifel an seiner Geschicklichkeit mit der Klinge hatte, war ich überrascht, als ich bemerkte, wie sehr mir Guys stille Anwesenheit fehlte. Wir fuhren zusammen in Delaunays Kutsche, und Miqueth zerrte mit seiner Rastlosigkeit an meinen Nerven. 327 Mein Rendezvous mit Seigneur Clavel fand im Palast statt. Zu meiner Erleichterung blieb mein Leibwächter stumm, als wir die Marmorhallen durchquerten, und gab sich damit zufrieden, hinter mir herzustapfen und jedem, dem wir begegneten, finstere Blicke zuzuwerfen. Wir befanden uns in einem der kleineren Flügel, wo die niederen Würdenträger untergebracht waren, so dass wir niemanden trafen, den ich kannte. Obgleich es einige gab, die meinen sangoirefarbenen Umhang sahen und mir in dem Wissen, wer ich war und was meine Anwesenheit zu bedeuten hatte, verstohlene Blicke zuwarfen. Rogier Clavel empfing mich begierig. Er sah aus wie ein D'Angeline, hatte aber am Hof des Kalifen ein so süßes Leben geführt, dass er dabei ein wenig rundlich geworden war. Dennoch legte er die überheblichen Manieren eines Höflings an den Tag und entließ Miqueth recht schnell, wofür ich ihm dankbar war. Delaunay und ich waren unsere Strategie mehr als einmal durchgegangen, dennoch konnte ich keine Ablenkung gebrauchen. »Phedre nö Delaunay«, empfing mich Rogier Clavel und nahm dabei einen förmlichen Ton an. Dennoch zitterte seine Stimme leicht und konnte seine Angespanntheit nicht ganz verbergen, »Ich würde es sehr schätzen, wenn Ihr diese Gewänder hier anlegen könntet.« Er schnippte mit dem Finger nach einem Diener, der die hauchdünnen Gazekleider einer Haremsdame brachte. Ich biss mir auf die Lippe, um nicht in Lachen auszubrechen; es entsprach genau dem Szenario eines der Standardtexte des Nachtpalais, »Des Paschas Traum«. Ich hatte mehr von einem Mann erwartet, der am Hofe von Khebbel-im-Akkad vollauf befriedigt worden war. Aber ich wusste, was man von mir erwartete, und zog das transparente Gewand an. Rogier verschwand, und ich wurde in ein Schlafgemach geführt, das mit einer authentisch akkadi328 sehen Einrichtung ausgestattet war. Es war mehr als hübsch, mit Seidenteppichen, die mit kunstvollen und abstrakten Mustern reich verziert waren, und goldumsäumten Kissen. Ich ließ mich darauf herabsinken, kniete abeyante nieder und wartete. Die erste meiner Lektionen und immer noch eine der wertvollsten. Nach einiger Zeit trat Rogier Clavel ein, der in seinem Paschagewand eine erhabene Figur machte. Ich unterdrückte ein Lachen, als ich sah, wie seine Hängebacken in dem weichen Gesicht unter dem prächtigen Turban erzitterten, und beugte mich herunter, um die nach oben
gebogenen Spitzen seiner Ziegenfellpantoffeln zu küssen. In Khebbel-im-Akkad wachen sie streng über ihre Frauen. So hatte ich gehört, und so wurde mir durch die Mischung aus Verachtung und Begierde bewusst, die in ihm loderte. Seigneur Clavel war der Zutritt verwehrt worden, und das machte ihn rasend. Sobald ich dies erkannte, kamen wir gut miteinander aus. Auch wenn man ihm den Harem verwehrt hatte, besaß er doch genügend Gold und hatte damit für dieses nachmittägliche Vergnügen bezahlt. Von exotischen Vorlieben, die er sich in der Fremde angeeignet hatte, konnte hier nicht die Rede sein. Er trug eine geflochtene Reitpeitsche mit goldenem Griff, und es brachte sein Blut zum Kochen, mich damit zu bestrafen. Erjagte mich über die Kissen, schlug wild nach meinem Hintern und atmete schwer vor Lust, wenn er die dünnen, roten Striemen erblickte, die sich auf meiner Haut abzeichneten. Als er zu stöhnen begann, ging ich zum languisement über, knöpfte seine weiten Pumphosen auf und nahm ihn in den Mund. Ich dachte, das würde ihm den Rest geben, aber er überraschte mich, als er mich auf den Rücken schleuderte, meine Beine in die Luft warf und den Akt der Ehrerbietung Naamahs mit dem unterdrückten Eifer zweier langer Jahre vollzog. Ihn wiederum überraschte es, dass er mich zum Höhepunkt 329 brachte, und es machte ihn danach ganz begierig, weswegen ich glatt hätte loslachen können. »Ihr habt für eine anguisette bezahlt, Herr«, flüsterte ich stattdessen. »Seid Ihr es nicht zufrieden, auch eine bekommen zu haben?« »Nein!«, erwiderte er und strich mir mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen sanft übers Haar. »Nein, bei Eluas Juwelen, nein! Ich dachte nur, es wäre eine Legende.« »Ich bin keine Legende«, sagte ich, während ich mich an ihn schmiegte und zu ihm aufblickte, damit er den scharlachroten Fleck in meinem Auge besser sehen konnte. »Gibt es denn in Khebbel-imAkkad keine anguisettes? Es heißt, es sei ein grausames Land.« »Kushiels Pfeil trifft nicht dort, wo die Hand Eluas und seiner Gefährten nicht geruht hat«, erklärte Rogier Clavel und zog durch die zarte Gaze meines Gewands meine Brüste nach. »Es ist tatsächlich ein hartes Land, und ich bin froh, mir eine kleine Ruhepause davon gönnen zu dürfen.« Ein Schatten verfinsterte sein Gesicht, »>Die Biene fliegt zum Hort<«, zitierte er Des Verbannten Klagelied mit lieblicher und zugleich melancholischer Stimme, >»Honig füllt die Waben< ... ich habe nie den Kummer, der in diesen Zeilen liegt, verstanden, bis auch ich fern der Meinen war.« Es war leichter, als ich gedacht hatte. Ich lächelte, wand mich aus seiner Umarmung und setzte mich auf die Fersen, um mein Haar hochzustecken. »Ergeht es denn allen D'Angelines so? Sehnt sich selbst Duc L'Envers nach der Heimat?« »Oh, mein Herr, der Duc«, erwiderte er und betrachtete mich mit hungrigen Blicken. »Er ist ein Nachfahre Eluas und vermag, so denke ich, überall glücklich zu werden. Der Kalif hat ihm Ländereien, Pferde und eigene Männer gegeben. Doch selbst er vermisst den Boden von Terre d'Ange, das ist wahr, und uns hat die Nachricht vom Fall des Hauses Trevalion erreicht. Der 330 Duc gedenkt nach Hause zurückzukehren, sobald seine Tochter vermählt ist, und sein Amt abzutreten. Ich bin hier, um beim König in seinem Namen ein Gesuch einzureichen.« Meine Hände verharrten in meinem Haar, und ich zwang mich, mit meiner Handlung fortzufahren, indem ich es zu einem losen Knäuel aufwickelte und es mit einer akkadischen Haarnadel feststeckte. »Die Tochter des Duc heiratet?« »Den Sohn des Kalifen.« Rogier Clavel streckte die Hände nach mir aus, zog die Haarnadel heraus und nahm meine Locken in beide Hände. »Tut... tut noch einmal, was Ihr gerade eben getan habt«, wies er mich an und zog meinen Kopf nach unten. »Und nehmt Euch diesmal mehr Zeit.« Das tat ich, und zwar gut genug; er war kein Freiersmann, den ich selbst erwählt hätte, denn in ihm loderte nicht der wahre Funken von Kushiels Feuer, sondern nur eine so große Frustration, dass er dachte, es würde in ihm brennen. Auch wenn ich es besser wusste, hätte ich es nie laut ausgesprochen. Delaunay wollte diese Verbindung, und es zahlt sich sowieso nie aus, zu den Freiersleuten unverschämt zu sein. Außerdem machte es mir nichts aus. Da ich lange Jahre unter der Anleitung Cecilie Laveau-Perrins verbracht hatte, gefiel es mir zuweilen, wenn sich mir die Gelegenheit bot, meine Ausbildung sinnvoll einzusetzen. Ich war als anguisette geboren worden und kann mir diese Gabe nicht als Verdienst anrechnen lassen, aber die Fähigkeiten, die einer der herausragendsten Adeptinnen der Königin der Dreizehn Häuser würdig waren, hatte ich mir selbst angeeignet, und ich war zu Recht stolz darauf.
»Ach, Phedre«, stöhnte Rogier Clavel, als ich fertig war. Er lag ausgestreckt auf den Kissen, seine rundlichen Glieder schlaff vor Mattigkeit. Er sah verletzlich und ziemlich süß aus, wie er mich so mit vernarrten Blicken beobachtete, als ich aufstand, um mein eigenes Kleid überzuziehen. »Phedre nö 331 Delaunay ... Ihr seid das wunderbarste Geschöpf, dem ich je begegnet bin.« Ich lächelte, ohne zu antworten, und kniete anmutig nieder, um ihm in seinen Umhang zu helfen und ihn demütig zu umhüllen. »Falls ... Phedre, falls Duc L'Envers' Anliegen positiv beschieden wird und ich mit ihm zurückkehren kann, darf ich Euch dann wieder sehen?« Selbst nachdem er meine Zustimmung schon erlangt hatte, hatte Delaunay genau aus diesem Grund einige Zeit verstreichen lassen, bevor er das Angebot von Seigneur Clavel annahm. Ich lehnte mich mit ernstem Blick zurück. »Messire Clavel, das kann nicht ich entscheiden. Es ist der Wunsch meines Herrn, meine Freiersleute unter den Großen Häusern auszuwählen. War es eines derselben, das mich Euch empfahl?« »Es war ...« Sein Ausdruck, den aufgrund meiner Worte ein Anflug von Sorge umspielte, veränderte sich. Ich hatte mich gefragt, ob er es wagen würde, Childric d'Essoms zu nennen, aber er unterließ es. »Es war ein hochrangiges Mitglied des Hofes. Phedre, ich besitze Gold zuhauf und werde mit Sicherheit Ländereien zugesprochen bekommen, wenn man uns die Rückkehr gewährt. Der König wird dankbar sein, denn der Duc hat viel getan, um die Beziehungen Terre d'Anges mit dem Kalifen voranzubringen.« Ja, dachte ich, und er hat es geschafft, seine eigene Tochter mit dem Nachfolger des Kalifen zu vermählen, was vor allem die Beziehungen der L'Envers mit Khebbel-im-Akkad voranbringen wird. Ich sprach meine Gedanken nicht aus, sondern flüsterte stattdessen leise: »Es gäbe da wohl etwas, für das mein Herr dankbar wäre.« »Was?« Rogier fasste begierig meine Hände. »Wenn es in meiner Macht steht, will ich es gerne tun.« »Es gibt... einen alten Streit... zwischen meinem Herrn und dem Duc«, begann ich und hob feierlich den Blick, um seinem 332 zu begegnen. »Ich behaupte nicht, dass er sich leicht schlichten ließe, aber mein Herr würde es sehr wohlwollend auffassen, wenn der Duc darüber in Kenntnis gesetzt würde, dass er der Vorstellung eines Friedens zwischen beiden Häusern nicht abgeneigt ist.« »Delaunay ist kein adliges Haus«, erwiderte Rogier Clavel nachdenklich. Ich bemerkte einen scharfen Zug um seinen Mund und nahm die Tatsache zur Kenntnis, dass er, verzückt oder nicht, kein Narr war. »Anafiel Delaunay ... was soll's.« Ich neigte schweigsam den Kopf, und er streckte die Hand aus, um mein Kinn zu heben. »Ist Euer Herr bereit, sein Ehrenwort darauf zu geben?« »Messire Delaunay wahrt seine Ehre gut«, erwiderte ich aufrichtig. »Er würde nicht von Frieden sprechen, wenn er Böses im Sinn hätte.« Rogier Clavel kämpfte mit sich, während er den Blick über meinen Körper wandern ließ, und nickte dann. »Ich werde es erwähnen, wenn sich eine passende Gelegenheit ergeben sollte. Ihr werdet mich also wieder sehen?« »Ja, Herr.« Es kostete mich nichts, einzuwilligen, und das Grinsen, mit dem er mir antwortete, war wie die aufgehende Sonne. Ich beobachtete ihn, wie er sich erhob, zu einer Truhe auf einem hohen Tisch hinüberging und dabei einen Gürtel um seine Robe schloss. Er öffnete die Truhe und tauchte seine Hände hinein, um sie mit Goldmünzen zu füllen, die ein mir unbekanntes, akkadisches Gepräge trugen. Während ich weiter auf dem Boden kniete, kehrte er zurück und schüttete mir eine unglaubliche Summe Goldes in den Schoß. »Hier!«, rief er atemlos aus. »Solltet Ihr Euer Versprechen vergessen, dann möge Euch das hier an mich erinnern! Ich werde für Naamah Kerzen zu Euren Ehren anzünden, Phedre.« Ich zog meine Röcke zu einer Backentasche zusammen, um 333 das Gold zu tragen, erhob mich und küsste ihn auf die Wange. »Ihr habt ihr heute schon drei Mal große Ehrerbietung gezollt, Herr«, antwortete ich ihm lachend. »Euer Name klingt ihr sicherlich in den Ohren.« Das ließ ihn erröten, und er rief nach der Dienerschaft. Es war erst früh am Abend, als ich nach Hause zurückkehrte. Delaunay dankte Miqueth für seine guten Dienste - viel hatte er nicht zu tun gehabt, obgleich sein finsterer Blick jedermann in Schach gehalten hatte - und entließ ihn, nachdem er ihn ausgezahlt hatte. Ich war froh, dass er nicht in den
Haushalt aufgenommen werden würde, obschon ich ihn oder einen anderen seines Metiers bald wieder sehen würde, falls ich jemals einen neuen Vertrag eingehen sollte. Vielleicht wird Hyacinthe jemanden finden, den ich besser leiden kann, dachte ich. »Komm heraus in den Innenhof«, forderte mich Delaunay auf. »Mit einem Kohlenfeuer ist es warm genug.« Der Innenhof war einigermaßen bequem und wie immer schön im Fackellicht, das Herbstlaub strahlte in allen Farben. Zu meiner Überraschung saß Alcuin auch da, vorsichtig auf ein Sofa gebettet und mit einer Decke über dem Unterleib, um seine Wunde vor dem kleinsten Frosthauch zu schützen. Er sah etwas weniger verhärmt aus und lächelte kurz, als sich unsere Blicke trafen. »Setz dich.« Delaunay winkte mich zu einem Sofa, nahm selbst auf einem anderen Platz und beugte sich vor, um mir ein Glas Likör einzuschenken. »Erzähl«, forderte er mich auf und reichte mir das Glas. »Wie steht es um Barquiel L'Envers?« Ich nippte am Likör. »Duc L'Envers hat die Absicht, sein Amt niederzulegen und nach Terre d'Ange zurückzukehren, Herr. Er würde an seiner statt eine Tochter zurücklassen, vermählt mit dem Sohn des Kalifen.« Delaunay hob die Augenbrauen. »Khebbel-im-Akkad verbündet mit Haus L'Envers? Die Löwin von Azzalle dreht sich sicher im Grab herum. Kein Wunder also, dass Barquiel bereit ist, nach Hause zurückzukommen. Er hat erreicht, was er wollte.« »Und der Nachfolger des Kalifen wird durch die Heirat ein Verwandter des Thronfolgers von Terre d'Ange«, grübelte Alcuin. »Keine unvorteilhafte Allianz für ihn.« »Herr.« Ich setzte mein Glas ab und blickte Delaunay fragend an. »Ist das der Grund, warum Ihr mit Haus L'Envers Frieden zu schließen wünscht?« »Bis heute Abend wusste ich nichts davon«, erwiderte Delaunay und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht der Grund.« Er starrte eine der Fackeln an und hatte dabei diesen typischen Blick, wie immer, wenn er etwas betrachtete, das keiner von uns beiden sehen konnte. Ich sah zu Alcuin hinüber, aber er schüttelte ebenfalls den Kopf in einem angedeuteten Nein; er wusste nicht mehr als ich. »Wir waren noch nie Freunde, Barquiel und ich, aber die Ziele, die ich anstrebe, werden sicherlich auch für ihn von Nutzen sein. Es wird langsam Zeit, die Fehde zwischen uns zu beenden - oder zumindest eine Waffenruhe zu vereinbaren. Lief es so, wie wir geplant hatten? War Seigneur Clavel deinem Vorschlag wohlgesinnt?« »Er wird mit L'Envers reden, wenn sich ihm eine Gelegenheit bietet, er hat jedoch nichts versprochen.« Ich nahm meinen Likör und nippte noch einmal lächelnd daran. »Aber ich denke, die Erinnerung an das heutige Vergnügen wird ihn anspornen. Ich habe ihm deutlich zu verstehen gegeben, woran Ihr interessiert seid, Herr. Was jedoch mich betrifft, so bin ich seinem Gold nicht abgeneigt.« »Und seiner Gesellschaft?« Ich zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht schwer, ihm zu gefallen. Ich habe schon langweiligere Nachmittage verbracht 334 335 und hielt am Ende nichts in Händen. Meine Marque wird von seiner Freiergabe allein zwei Zentimeter wachsen.« »Dann kannst du ja dein Wort halten, wenn er zurückkehren sollte, aber nur ein Mal, denke ich, es sei denn, er steigt durch dieses Unternehmen in der Achtung des Königs und bekommt einen Titel verliehen, der einer anguisette würdig ist. Aber ich wünschte, alle deine Freiersleute wären so harmlos«, fügte er wehmütig hinzu, als sein Blick auf Alcuin fiel. »Jeder Mann kann gefährlich werden, wenn er in die Enge getrieben wird«, murmelte Alcuin leise, »oder jede Frau. Diese Lektion habe ich wohl gelernt, wenn auch spät. Herr, was werdet Ihr jetzt tun?« »Jetzt?«, fragte Delaunay überrascht. »Nichts, außer auf des Königs Antwort zu warten, und ... auf etwas anderes. Dann werden wir weitersehen.« 336 Es vergingen einige Tage, bevor uns die offizielle Nachricht von Valere L'Envers' Vermählung mit Sinaddan-Shama-barsin, dem Erben des Kalifats von Khebbel-im-Akkad, erreichte. Der König hatte sich dazu entschlossen, der Verbindung seinen Segen zu geben, und er kam sogar der Bitte des Duc L'Envers nach, wenn auch unter einer unausgesprochenen Bedingung. Wenn Haus L'Envers gehofft hatte, seine Monopolstellung in Khebbel-im-Akkad zu behalten, so wurde diese Hoffnung enttäuscht.
Barquiel L'Envers' Nachfolger als Botschafter war ein gewisser Comte Richard de Quille, der dem L'Envers-Clan nicht besonders zugetan war. So interessant diese Angelegenheiten auch waren, sie fanden in einem sehr fernen Land statt, zu dem die Verbindungen Terre d'Anges kaum mehr als dürftig waren, und ich konnte nicht verstehen, welches Interesse Delaunay an der Sache hatte. Als uns die Nachricht von L'Envers' bevorstehender Rückkehr erreichte, dachte ich, er würde es enthüllen, aber er schwieg weiter. Auf was Delaunay auch immer wartete, er gab mir 337 deutlich zu verstehen, dass es für mich keine Rendezvous geben würde, solange es nicht eingetreten war. Und um meine Lage noch verdrießlicher zu machen, war es mir verboten, zum Vorhof der Nacht zu gehen und Hyacinthes Gesellschaft zu suchen. Als ich vorschlug, Hyacinthe könne einen geeigneten Leibwächter für mich finden, lachte Delaunay lediglich. Zum Müßiggang verurteilt, tat ich mein Bestes, mich zu beschäftigen, und wandte mich meinen Studien zu. Mein alter Akrobatiklehrmeister wäre zufrieden gewesen, zu sehen, dass ich nicht alles verlernt hatte, was er mir beigebracht hatte, und ich übte fleißig Harfe, Laute und Kithara zu spielen, aber da ich dazu gezwungen war, ließ der Reiz dieser Freuden recht schnell nach. Alcuins Genesung schritt in diesen Tagen rascher voran, und die Stimmung im Hause Delaunay hatte sich entspannt, wofür ich dankbar war. Ich glaube nicht, dass die Angelegenheiten zwischen den beiden schon vollends geklärt waren, denn Guys Tod war immer noch eine offene Wunde, über die wir nicht sprachen, aber die furchtbare Angespanntheit war gewichen. Als es Alcuin gut genug ging, um reisen zu können, brachte Delaunay ihn zum Heiligtum Naamahs, zu dem ich manches Mal mit Cecilie Laveau-Perrin gefahren war. Was sich zwischen Alcuin und den Priesterinnen und Priestern Naamahs zutrug, weiß ich nicht. Er war nicht geneigt, es mir zu erzählen, und ich fragte nicht nach. Aber er blieb drei Tage an jenem Ort, und als er zurückkam, wusste ich, sie hatten ihn von jeglicher Sünde Naamah gegenüber freigesprochen. Ein Teil der Schuld, die ihn bekümmert hatte, war vergangen, und das zeigte sich uneingeschränkt in jedem seiner Worte und jeder seiner Gesten. Die heilenden Wasser der Quellen hatten ihm auch gut getan. Obgleich er Alcuin genauso wenig wie mir erlaubte, ohne Begleitschutz in die Stadt zu gehen, schenkte Delaunay ihm mit Billigung des yeshuitischen Doktors ein elegantes, graues Reitpferd. Ich war so froh über Alcuins Genesung, dass ich nicht einmal eifersüchtig auf ihn war; auch ist es Brauch, einem Adepten ein Geschenk zu überreichen, wenn er seine Marque vollendet hat, und ich bin sicher, Delaunay war sich der Traditionen des Nachtpalais wohl bewusst. Um genau zu sein, war Alcuins Marque noch gar nicht vollendet. Seine Wunde, die immer noch nicht ganz verheilt war, verhinderte es, da er zu lange auf dem Bauch hätte liegen müssen. Aber die notwendige Summe lag in seiner Truhe bereit, und es stand außer Frage, dass er seine Schuldigkeit getan hatte. Ich hatte es bei Meister Tielhard erwähnt, als ich Rogier Clavels Freiergabe sinnvoll einsetzte. Delaunay erlaubte mir wenigstens so viel, obgleich er Hovel und einen anderen Diener beorderte, mich zu begleiten. Sie verbrachten die Zeit beim Würfelspiel in der Weinschänke, eine Freiheit, um die ich sie beneidete. Mittlerweile war mir so sterbenslangweilig, dass ich mit Freude den Nachttopf der Marquise Belfours geschrubbt hätte, um danach in den Genuss einer schonungslosen Bestrafung zu kommen. In dieser Gemütsverfassung aalte ich mich unter den fürsorglichen Händen des Marquisten, beschwichtigt von der höchsten Lust, die mir der Nadelkamm bescherte. Meister Tielhard schüttelte den Kopf und murmelte im Flüsterton vor sich hin, aber ich zuckte und zappelte nicht und gab ihm keinen wirklichen Grund, sich zu beklagen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf den isolierten Schmerz und ließ meine Gedanken ruhen, so dass er zum Mittelpunkt meines Seins wurde. Die Sitzung ging viel zu schnell vorbei, und ich war überrascht, als Meister Tielhard mir einen leichten Klaps auf den Hintern gab. »Ihr seid fertig, Kind«, grummelte er, und ich hatte das Gefühl, 338 339 er hatte es mir schon einmal gesagt. »Zieht Euch an und macht Euch auf den Weg.« Ich setzte mich auf und blinzelte; das Innere des Ladens wirkte dunstig hinter einem rotem Schleier. Er löste sich schnell auf, und ich konnte Meister Tielhards Lehrburschen ausmachen, der mit gesenkten Augen auf mich zukam und errötete, als er mir mein Kleid reichte. Er war jetzt nahezu ein ausgewachsener Mann, aber nicht weniger schüchtern als bei unserer ersten Begegnung. Die frische Tinte auf meinem Rücken brannte wie Feuer, und ich fragte mich, was Meister Tielhard wohl dazu
sagen würde, wenn ich mit seinem Lehrburschen in das Hinterzimmer gehen und ihn von seiner Schüchternheit befreien würde. Ich bin sicher, du würdest Messire Delaunays Vertrauen nicht in dieser Weise verraten, oder, Phedre? Mit einem Seufzer zog ich mich an und hoffte, dass Delaunay mich sehr bald wieder den Dienst Naamahs aufnehmen lassen würde. Als ich in Begleitung meiner vom Wein aufgeheiterten Beschützer nach Hause kam, nahm mich eine der Dienerinnen in Empfang. »Messire Delaunay wünscht, Euch in der Bibliothek zu sehen, Phedre«, sagte sie leise, ohne mir richtig in die Augen zu sehen. Manchmal vermisste ich meine Zeit im Cereus-Haus, als ich alle Bediensteten mit Namen kannte und sie Freunde nannte; während dieser Zeit des Eingesperrtseins spürte ich es stärker als sonst. Aber diese Aufforderung ließ mich neuen Mut fassen, da ich dachte, meine Hoffnungen seien vielleicht erhört worden. Delaunay wartete schon auf mich. Er blickte auf, als ich eintrat und die Augen mit einer Hand abschirmte, um sie vor der späten Nachmittagssonne zu schützen, die durch das Fenster einfiel und die vielen Bücher auf den Regalen in einen zarten Rotton tauchte. »Ihr habt nach mir schicken lassen, Herr?«, fragte ich höflich. »Ja.« Er lächelte kurz, aber seine Augen blieben ernst. »Phedre ... bevor ich weiterspreche, möchte ich dich etwas fragen. Du hast eine gewisse Vorstellung davon, dass hinter allem, was ich tue, ein Ziel steckt. Und du weißt auch, dass ich euch nicht alles offenbart habe, um euch mit diesem Unwissen so gut wie möglich zu beschützen. Aber wie ich erst kürzlich wieder schmerzhaft erfahren musste, bietet dies nur wenig Schutz. Was du tust, ist gefährlich, meine Liebe. Du hast zwar schon einmal darauf geantwortet, aber ich frage dich noch einmal. Ist es immer noch dein Wunsch, diesen Dienst fortzuführen?« Mein Herz schlug höher; er bot mir gerade ein weiteres Rendezvous an. »Herr, Ihr wisst, dass dies mein Wunsch ist«, erwiderte ich und bemühte mich gar nicht erst, meine Begierde zu verbergen. »Nun gut.« Sein Blick glitt an mir vorbei, verweilte worauf auch immer und kehrte schließlich zu mir zurück. »Du sollst wissen, dass ich nicht die Absicht habe, dasselbe Risiko zweimal einzugehen. Ab sofort wird deine Sicherheit von einem neuen Begleiter gewährleistet werden. Ich habe Vorkehrungen getroffen, dass du von einem Mitglied der Cassilinischen Bruderschaft beschützt wirst.« Mir fiel die Kinnlade herunter. »Mein Herr beliebt zu scherzen«, wandte ich mit schwacher Stimme ein. »Nein.« Belustigung blitzte in seinen Augen auf. »Das ist kein Scherz.« »Herr ... Ihr wollt irgendeinen vertrockneten, alten Stockfisch von einem Cassilinischen Mönch beauftragen, hinter mir herzuhinken?« Hin- und hergerissen zwischen Empörung und Erstaunen brachte ich die Worte fast nur stammelnd heraus. »Zu einem Rendezvous? Ihr wollt einen buckligen, sechzig Jah340 341 re alten Junggesellen beauftragen, eine Dienerin Naamahs -und noch dazu eine anguisette - zu beschützen? Um Eluas willen, da wäre mir lieber, Ihr brächtet Miqueth zurück!« Für diejenigen, die mit der Kultur der D'Angelines nicht vertraut sind, möchte ich erklären, dass die gesamte Cassilinische Bruderschaft, wie Eluas Gefährte Cassiel, die Wege des Heiligen Elua als Einzige ganz und gar missbilligt. Wie Cassiel dienen sie mit unerschütterlicher Hingabe, aber ich kann mir für einen Freier Naamahs nichts Entmutigenderes vorstellen als ihre kühle Verachtung. Davon abgesehen sind sie schrecklich altmodisch. Delaunay hob lediglich eine Augenbraue über meine Tirade. »Unser Herr und König, Ganelon de la Courcel, wird zu jeder Zeit von zwei Mitgliedern der Cassilinischen Bruderschaft begleitet. Ich dachte, du würdest dich geehrt fühlen.« Es ist wahr, dass ich nicht einmal in den wildesten Geschichten von einem Cassilinischen Mönch gehört hatte, der als Begleiter im Dienste einer Person stand, die nicht einem der Großen Häuser entstammte, von einer Kurtisane gar nicht erst zu sprechen. Es hätte mir zu denken gegeben, wäre ich nicht so aufgebracht gewesen, aber ich konnte nicht über die ernüchternde Wirkung hinausdenken, welche die asketische, graue Präsenz eines Cassilinischen Mönches auf einen heißblütigen Freiersmann haben würde. »Guy wurde auch von der Cassilinischen Bruderschaft ausgebildet«, schoss ich in Richtung Delaunay zurück, »und seht, was ihm zugestoßen ist! Was lässt Euch glauben, ich wäre sicherer?« Delaunays Blick schweifte wieder an mir vorbei. »Wenn dieser Guy mit vierzehn Jahren ausgeschlossen wurde«, sagte eine ruhige Stimme hinter mir,
»hatte er nur einen verschwindend geringen Teil der Ausbildung eines Cassilinischen Mönches absolviert.« 342 Mit einem kurzen, grimmigen Blick in Richtung Delaunay wirbelte ich herum. Der junge Mann, der im Schatten hinter mir stand, verbeugte sich in der traditionellen Weise der Cassilinischen Bruderschaft mit über der Brust verschränkten Händen. Warmes Sonnenlicht glänzte auf dem Stahl seiner Armschienen und dem Kettenpanzer, der seine Handrücken bedeckte. Seine beiden Dolche hingen tief an seinem Gürtel, und das kreuzförmige Heft seines Schwertes, das immer auf dem Rücken getragen wurde, ragte über seine Schultern. Er richtete sich auf und erwiderte meinen Blick. »Phedre nö Delaunay«, sagte er förmlich, »ich bin Joscelin Verreuil von der Cassilinischen Bruderschaft. Es ist mir eine Ehre, Euch zu dienen.« Weder sah er so aus, noch klang er so, als würde er meinen, was er sagte, ich sah, wie sich sein Kinn versteifte, als er nach diesen Worten den Mund schloss. Er hatte einen schönen Mund. Überhaupt gab es an Joscelin Verreuil nur sehr wenig, was nicht schön war. Er hatte die altmodischen, edlen Züge eines Adligen aus der Provinz, und das düstere, aschgraue Gewand eines Cassilinischen Mönches zierte eine große, wohl gebaute Gestalt, die den Statuen der alten hellenischen Athleten glich. Seine Augen waren hellblau wie ein Sommerhimmel, und sein Haar, das im Nacken zusammengeknotet war, hatte die Farbe eines Weizenfeldes zur Erntezeit. In diesem Augenblick ruhte sein Blick mit kaum verhohlener Abneigung auf mir. »Joscelin versichert mir, dass das, was Alcuin und Guy widerfahren ist, niemandem unter seinem Schutz passieren wird«, erklärte Delaunay in ruhigem Tonfall. »Ich habe meine Klinge gegen seine Dolche gemessen und bin überzeugt, dass es wahr ist.« 343 Ein Cassilinischer Mönch zieht sein Schwert nur zum Töten. Ich hatte schon einmal davon gehört, als ein Attentäter den König angriff. Ich wandte Delaunay den Kopf zu und dachte nach. »Er hat Euch nur mit Dolchen bewaffnet übertroffen?« Delaunay gab keine Antwort und nickte Joscelin zu, der sich förmlich mit verschränkten Armen verbeugte. Er war, so schätzte ich, kaum älter als ich. »Im Namen Cassiels beschütze und diene ich«, sagte er steif. Gänzlich unaufgefordert nahm ich Platz und wählte einen Sitz, von dem aus ich beide sehen konnte. Die Stuhllehne drückte schmerzhaft gegen die neuen Linien meiner Marque. Wenn ich dem zustimmte, würde Delaunay mir erlauben, den Dienst Naamahs wieder aufzunehmen. Wenn nicht ... nun, mein Lehrer hatte mir in dieser Angelegenheit kein Entweder-Oder angeboten. Ich zuckte mit den Achseln. »Herr, zumindest ist er hübsch genug, dass man ihn für einen verkleideten Adepten des Cereus-Hauses halten könnte. Wenn Ihr es wünscht, dann soll es wohl so sein. Gibt es ein Angebot, das in Erwägung gezogen werden könnte?« Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie Joscelin Verreuil grimmig dreinblickte, weil er mit einem Adepten des Nachtpalais verglichen worden war. Delaunays Mund zuckte, und ich war sicher, dass er es ebenfalls bemerkt hatte, aber er antwortete ernsthaft. »Angebote zuhauf, wenn du sie wahrnehmen möchtest, Phedre. Aber es gibt da eine Sache, um die du dich bitte zuerst kümmern solltest, wenn du einverstanden bist.« Ich neigte den Kopf. »Im Namen Kushiels, ich ...» »Genug.« Delaunay hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen, aber sein Blick galt auch Joscelin Verreuil. »Phedre, gerade du solltest es besser wissen, als dich über den Dienst von Eluas Gefährten lustig zu machen. Joscelin, Euer Vorsteher 344 hat diese Angelegenheit als dem Dienst Eures Ordens würdig erachtet, und Ihr lauft Gefahr, Euch der Häresie schuldig zu machen, wenn Ihr sein Urteil in Zweifel stellt.« »Wie mein Herr wünscht«, erwiderte Joscelin mit Beherrschtheit und verbeugte sich. Dieses ständige Verbeugen wäre mir gehörig auf die Nerven gegangen, wäre es nicht ein so verdammtes Vergnügen gewesen, jede seiner Bewegungen zu verfolgen. »Was ist es?«, fragte ich Delaunay. Er blickte mich fest an. »Duc L'Envers' Rückkehr wird in vierzehn Tagen erwartet. Ich möchte, dass du Seigneur Childric d'Essoms bittest, Barquiel L'Envers darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich ein Treffen mit ihm
wünsche.« »Herr.« Ich zog die Augenbrauen hoch. »Warum d'Essoms? Wir haben auf Rogier Clavel gesetzt.« »Weil Barquiel auf ihn hören wird.« Delaunay schüttelte den Kopf. »Clavel ist ein unbedeutender Beamter, Barquiel würde ihn sofort abtun. Er hat seine Schuldigkeit getan. Barquiel L'Envers hat mit dieser neuen Allianz an Macht gewonnen, und ich kann es mir nicht leisten, dass er meine Bitte abschlägt. Seine Ernennung erlangte er überhaupt nur durch d'Essoms, Barquiel wird seinen Worten Gehör schenken. Es ist also wichtig, dass du Childric d'Essoms überzeugst.« »Dann wird er es wissen«, sagte ich einfach. »Ja.« Delaunay stützte das Kinn auf die Faust. »Deshalb habe ich auf die Antwort des Vorstehers gewartet. Glaubst du, er wird gegen dich vorgehen?« Ich warf Joscelin Verreuil einen Seitenblick zu und empfand plötzlich Trost angesichts der ruhigen Bedrohung seines aschfarbenen cassilinischen Gewands und der Dolche, die an seiner Taille hingen. Er sah geradeaus und weigerte sich, meinen Blick zu erwidern. »Vielleicht... nicht. D'Essoms hat von Anfang an gewusst, dass ich ein Teil Eures Spiels bin. Er konnte 345 nur nicht einschätzen, welcher.« Daher bereitete ihm der Versuch, dieses Wissen aus mir herauszubekommen, das größte Vergnügen. Ich spürte einen kummervollen Stich bei dem Gedanken, ihn als Freiersmann zu verlieren. Er war der Erste gewesen. »Dann wirst du also zu ihm gehen«, sagte Delaunay. »Ganelon de la Courcel ist kränklich, und die Zeit wird knapp. Bringen wir es hinter uns." »Es gibt kein Rendezvous?« Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte ihn lieber damit überraschen. Glaubst du, er wird dich auch ohne Einladung empfangen?« Ich dachte an Childric d'Essoms und die Geschenke, die er mir geschickt hatte, nachdem er mich verbrannt hatte. »0 ja, Herr, er wird mich empfangen. Welchen Köder soll ich ihm denn hinhalten?« Delaunays Gesichtsausdruck nahm einen strengen Zug an, strenger als Joscelin Verreuil in all seiner Missbilligung. »Bitte ihn, Duc Barquiel L'Envers zu sagen, dass ich weiß, wer seine Schwester ermordet hat.« Delaunay verlor keine Zeit und schickte mich noch am selben Tag auf diesen Botengang. D'Essoms verfügte wie gesagt neben seinem Haus in der Cite auch über Gemächer im Palast, und ich hatte ihn schon vorher dort getroffen - zuweilen gefiel es ihm, mich vor seinesgleichen zur Schau zu stellen -, aber ich hatte ihn nie aus freien Stücken aufgesucht. Ich hatte noch nie einen meiner Freiersleute aus freien Stücken aufgesucht, und es war ein seltsames Gefühl, es jetzt zu tun. In der Kutsche war Joscelin so schweigsam, wie Guy es immer gewesen war, aber irgendwie war er um einiges wahrnehmbarer, trotz seines gedämpften cassilinischen Gewands. Daran, dass er mich verachtete, hatte ich keinen Zweifel. Der Unmut, den er über die Rolle empfand, in die er gezwungen worden war, strömte aus jeder Pore seines Körpers und starrte grimmig aus seinen sommerblauen Augen. Ich tat mein Bestes, ihm keine Beachtung zu schenken, denn ich hatte mich um wesentlich wichtigere Dinge als seine beschädigte Würde zu kümmern, aber es war nicht leicht. Wir gaben ein seltsames Paar ab, als wir den West346 347 flügel des Palastes betraten. Ich trug den sangoirefarbenen Umhang über meinem Kleid - ganz schlicht aus braunem Samt - und hielt mein Haar in einem schwarzen Haarnetz im Zaum, aber ich hätte genauso gut vollkommen zerzaust geradewegs aus dem Schlafgemach kommen können. Neben Joscelins ernster Größe, seinem aschfarbenen Gewand und den schlichten, stählernen Armschienen schrie alles an mir: Dienerin Naamahs. Ich versuchte auszumachen, ob er jemals zuvor im Palast gewesen war, doch es gelang mir nicht. Wenn er von seinem majestätischen Aussehen und dem dort herrschenden geschäftigen Treiben beeindruckt war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. In d'Essoms Gemächern erkannte mich der Diener, der uns an der Tür empfing, und wich überrascht zurück. Ich sah, wie sein Blick zur Seite glitt, um den Cassilinischen Mönch neben mir zu mustern. »Herrin Phedre nö Delaunay«, entfuhr es ihm, während er sich wieder zusammennahm und sich verbeugte. Ich trug keinen Titel, gehörte aber zu Delaunays Haus, und die Bediensteten hielten es immer für das Beste, lieber zu vorsichtig zu sein. Ich schulde Guy diesen Respekt, ging es mir durch den Kopf, und ich empfand tiefe Trauer. »Messire d'Essoms erwartet Euch nicht«, bemerkte der Diener vorsichtig.
»Ja, ich weiß.« Joscelin Verreuil würde in Fragen des Protokolls keine besondere Hilfe sein, also schlang ich den sangoire um mich und bot mit erhobenem Kinn so viel Würde auf, wie mir nur möglich war. »Könntet Ihr mich dennoch bei Euerm Herrn ankündigen und fragen, ob er einen Augenblick seiner kostbaren Zeit für mich zu erübrigen vermag?« »Ja, natürlich, Herrin.« Er geleitete uns eilfertig in das Vorzimmer. »Wenn Ihr Platz nehmen möchtet ...?« Ich setzte mich anmutig, als ob ich so etwas jeden Tag tun 348 würde. Joscelin folgte wortlos und blieb bequem in typisch cassilinischer Manier stehen, in entspannter Haltung, die Arme tief gekreuzt, während die Hände auf den Heften seiner Dolche ruhten. Ich versuchte, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, aber er blickte geradeaus und suchte das Vorzimmer unmerklich nach Gefahren ab. Nach kurzer Zeit trat Childric d'Essoms in Begleitung zweier bewaffneter Männer mit einem seltsamen Gesichtsausdruck ein. Als er mich erblickte, hielt er inne. »Phedre. Um was geht es?« Ich erhob mich, um sogleich einen tiefen Knicks zu machen, in dem ich dann verharrte, bis er mir ungeduldig bedeutete, aufzustehen. »Ich habe keine Zeit für Spielchen«, sagte er. »Was führt dich zu mir? Ist es Delaunay?« »Ja, Herr.« Ich richtete mich auf. »Könnte ich Euch bitte unter vier Augen sprechen?« D'Essoms sah zu Joscelin hinüber, der gleichmütig dastand und ins Leere starrte. D'Essoms zog leicht die Augenbrauen hoch. »Ja, ich nehme an, das kannst du. Folge mir.« Ich folgte ihm, als er mir ein Zeichen gab, und seine Männer fielen hinter mir zurück, so dass Joscelin der Weg abgeschnitten wurde. »Herr.« Die Stimme des Cassilinischen Mönchs war ruhig und ausdruckslos, aber es schwang ein Ton darin, der sogar d'Essoms abrupt stehen bleiben ließ. Er drehte sich um und sah zurück. Joscelin verbeugte sich auf seine förmliche Art. »Ich habe einen Eid geschworen.« »Eid.« Childric d'Essoms verzog bei diesem Wort das Gesicht. »Das habt Ihr wohl. Dann begleitet sie, wenn Ihr unbedingt müsst, Cassiline.« Eine weitere Ehrerbietung - wie jemand, der so steif war, 349 sich so geschmeidig wie eine Flussbiegung verbeugen konnte, werde ich nie erfahren -, und Joscelin trat an meine Seite. Wir zogen uns alle fünf in d'Essoms' Empfangszimmer zurück. Er setzte sich und trommelte mit den Fingern auf den Armlehnen, während er wartete und mich mit seinem Adlerblick beobachtete. Da ich es besser wusste, als mir etwas anzumaßen, blieb ich stehen. Seine bewaffneten Männer stellten sich zu beiden Seiten von d'Essoms auf, während sie die Hände auffällig über ihren Schwertgriffen hielten. »Seigneur d'Essoms.« Während ich die Worte sprach, sank ich auf die Knie, abeyante. Das war mir so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, wie bei Joscelin Verreuil die cassilinische Wachsamkeit. »Mein Herr schickt mich, Euch um eine Gunst zu ersuchen.« »Eine Gunst? Delaunay?« D'Essoms hob die Augenbrauen in einem großen Bogen, der durch die Art, wie sein straffer Zopf das schwarze Haar aus einem Gesicht zog, noch unterstrichen wurde. »Was will er von mir?« Ein Satz, und er würde es wissen. Ich verschränkte die Hände und unterdrückte einen weiteren Schauder, dankbar für Joscelins grau gewandete Beine hinter meinem Rücken. »Er wünscht ein Treffen mit Duc Barquiel L'Envers. Er bittet darum, dass Ihr in dieser Angelegenheit als Vermittler agiert.« Ich sah zu ihm auf, während ich es aussprach; ich sah, wie sich d'Essoms Gesichtsausdruck veränderte. »Wie ...?«, begann er verwundert. Dann: »Du.« Childric d'Essoms war an Waffen ausgebildet und noch dazu ein geschickter Jäger; dennoch überraschte es mich, wie schnell er sich bewegte. Das hätte nicht passieren dürfen, denn ich hatte bei unserer ersten Begegnung gesehen, mit welcher Treffsicherheit er den plastinx bei Cecilie LaveauPerrins Kottabos-Spiel in die Schale geschleudert hatte. Aber ich hatte nicht damit gerechnet; er hatte mich im Handumdrehen in seiner Gewalt, drückte mir sein Knie in den Rücken und hielt mir eine Klinge an die Kehle. Ich spürte, wie er mir damit eine glühende Linie in die Haut ritzte, und schnappte nach Luft. »Die ganze Zeit«, zischte d'Essoms, »hast du ein falsches Spiel mit mir gespielt. Nun gut, der König
hält sein eigenes Gericht gegen Verrat, und so halte ich es auch, Phedre nö Delaunay. Zwischen uns gibt es jetzt keinen Vertrag und kein Wort, das du aussprechen kannst, um mich davon abzuhalten, zu handeln.« »Doch, es gibt eins.« Aus meiner unnatürlichen Stellung heraus konnte ich sehen, wie Joscelin seine verdammte Verbeugung machte; nur diesmal schössen gleichzeitig seine Dolche aus ihren Scheiden. »Cassiel.« Ich wünschte, ich hätte es genauer verfolgen können. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie d'Essoms' Männer auf ihn zugingen, um ihn anzugreifen. Joscelin bewegte sich ruhig, und Stahl blitzte an mehreren Stellen gleichzeitig auf; ohne Hast wirbelte er so geschmeidig wie Seide herum, und doch wurden die bewaffneten Männer wie das Spielzeug eines Kindes von ihm hinweggeschleudert. D'Essoms' Dolch mit Goldgriff ließ von meinem Hals ab, als er sich erhob, doch Joscelin bewegte sich wieder, und der Dolch flog mit einem klingenden Geräusch durch die Luft. D'Essoms schüttelte die Hand und fluchte. Ein roter Strich durchzog seine Handfläche. Joscelin verbeugte sich und steckte die Dolche zurück in die Scheiden. »Ich beschütze und diene«, erklärte er tonlos. »Phedre nö Delaunay sprach gerade.« »Nun gut.« D'Essoms sank wieder auf seinen Stuhl und gab mit der verletzten Hand seinen Männern ein Zeichen, die sich daraufhin schwankend erhoben und nach ihren Klingen tasteten. Die räuberische Neugier in d'Essoms' Blick verdoppelte 350 351 sich, als er mich beobachtete, während ich mich wieder fasste und mich mit einem Anschein von Würde hinkniete. »Erst eine anguisette und jetzt das. Er ist so echt wie du, nicht wahr? Anafiel Delaunay meint es tatsächlich ernst, wenn er einen Cassilinischen Mönch als deinen Begleiter verpflichtet hat. Wie kommst du darauf, ich diente Barquiel L'Envers?« »Herr, Ihr habt davon gesprochen.« Ich berührte unbewusst meinen Hals und fühlte eine Blutspur. »In der Nacht ... in der Nacht, als Ihr den Schürhaken nahmt.« Hinter mir hörte ich, wie Joscelin scharf Atem holte. Worauf seine Ausbildung ihn auch immer vorbereitet hatte, dies traf ihn unerwartet. Blitzschnell hob D'Essoms eine Braue bis zum Haaransatz. »Das hast du gehört?«, fragte er mit ehrlichem Erstaunen. Aus meiner knienden Position sah ich zu ihm auf, und der rote Dunstschleier trübte meine Sicht. »Seigneur d'Essoms, Ihr habt von Anfang an gewusst, dass Anafiel Delaunay mit interessanten Ködern fischt«, sagte ich und zitierte dabei seine Worte. »Hattet Ihr angenommen, Kushiels Pfeil besäße keine Widerhaken?« Einer der bewaffneten Männer gab einen Laut von sich; ich weiß nicht, welcher. Ich hielt d'Essoms' Blick stand, als ob mein Leben davon abhinge, was es vielleicht wirklich tat. Nach einem kurzen Augenblick lachte er auf. »Widerhaken, o ja.« Spöttisch verzog er den Mund. »Seit jener Nacht wusste ich, dass deine in mein Fleisch eingegraben waren. Aber die, von denen du sprichst, sind Delaunays Werk und nicht Kushiels.« Ich schüttelte den Kopf. »Delaunay lehrte mich zuzuhören und warf mich im Meer aus. Aber ich wurde als die geboren, die ich bin.« D'Essoms seufzte und zeigte auf einen Stuhl. »Um Eluas 352 willen, Phedre, wenn du im Auftrag eines Edelmanns ein Gesuch überbringst, dann tu es zumindest im Sitzen.« Ich gehorchte, und d'Essoms lächelte spöttisch, als er beobachtete, wie Joscelin seinen Platz an meiner Seite einnahm. »Was will Anafiel Delaunay von Barquiel L'Envers, und warum um alles in der Welt sollte der Duc ihm Gehör schenken?« »Was mein Herr will, kann ich nicht sagen«, erwiderte ich vorsichtig. »Er besitzt meine Marque, und ich tue nur, wie er mich geheißen. Delaunay gibt mir gegenüber keine Erklärungen ab. Ich weiß lediglich, was er anbietet.« »Und das wäre?« Es war der einzige Trumpf, den ich in der Hand hielt, und ich hoffte, ich spielte ihn klug aus. »Delaunay weiß, wer die Schwester des Duc ermordet hat.« Childric d'Essoms saß ungerührt da. Ich konnte das Spiel seiner Gedanken hinter dem ruhigen Blick erkennen. »Warum geht er damit nicht zum König?« »Es gibt keine Beweise.«
»Warum sollte ihm dann der Duc L'Envers Glauben schenken?« »Weil es wahr ist, Herr.« Während ich es aussprach, rollte sich vor meinen Augen das Muster von Delaunays List aus, und ich blickte mein Gegenüber an. »Bei demselben Zeichen, durch das ich weiß, dass Ihr Barquiel L'Envers dient, schwöre ich, dass es wahr ist.« »Du?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nicht ich, aber bei demselben Zeichen.« »Der weißhaarige Junge. Er muss es sein.« D'Essoms ging rastlos hin und her; ich spürte viel mehr, als dass ich es sah, wie Joscelin sich anspannte und wieder entspannte. »Dennoch, sie sind seit langer Zeit verfeindet, mein Duc und dein Herr. 353 Warum würde Delaunay ...?« Ich beobachtete, wie er sich die Frage selbst beantwortete, aber er unterbrach sich, ohne die Antwort auszusprechen, während sein Blick von mir zu Josce-lin wanderte. »Delaunay.« Er sagte es, als wäre es ein Fluch, und seufzte. »Nun gut. Mein Herr, der Duc, würde meinen Kopf fordern, unterrichtete ich ihn nicht davon. Ich mache keine Versprechungen, aber bestelle Delaunay, ich werde seiner Bitte nachkommen. Und wenn ich mich nicht täusche, wird der Duc hören wollen, was er zu berichten hat.« »Ja, Herr«, sagte ich und senkte den Kopf. »Danke.« »Danke mir nicht.« D'Essoms erhob sich geschmeidig; Joscelin wechselte seinen Platz, aber ich bedeutete ihm, sich nicht zu rühren, als d'Essoms auf mich zukam. Er strich mir mit den Knöcheln über die Wange und schenkte dem Cassilinen keine Beachtung. »Du wirst einiges büßen müssen, sollte ich mich dazu entscheiden, dich wieder zu sehen, Phedre nö Delaunay«, verkündete d'Essoms und ließ seine Stimme wie eine drohende Liebkosung klingen. Ich erschauderte bei seiner Berührung, von Begierde nahezu überwältigt. »Ja, Herr«, flüsterte ich und wandte den Kopf zur Seite, um seine Knöchel zu küssen. Er nahm die Hand weg und schloss sie fest um meinen Nacken. Joscelin bebte wie die überspannte Sehne eines Bogens und zog seine Dolche wenige Zentimeter hervor. D'Essoms warf ihm einen belustigten Blick zu. »Seid Euch bewusst, wem Ihr da dient, Cassiline«, sagte er voller Verachtung und schüttelte meinen Nacken kurz und heftig. Ich hielt den Atem an, allerdings nicht wirklich aus Schmerz. »Ihr braucht einen guten Magen, wenn Ihr den Begleiter einer anguisette abgeben sollt.« D'Essoms ließ mich los und trat einen Schritt zurück. Seine Männer beäugten Joscelin argwöhnisch, aber der Cassiline verbeugte sich lediglich mit versteinerter Miene. »Richtet Delaunay aus, er wird von mir 354 hören«, sagte d'Essoms an uns beide gewandt und von seinem eigenen Spiel gelangweilt. »Jetzt geht mir aus den Augen.« Von seinen bewaffneten Männern eskortiert, gehorchten wir eiligst; Joscelin konnte seinem Wunsch in der Tat nicht schnell genug Folge leisten. Kaum hatte sich die Tür zu d'Essoms' Gemächern hinter uns geschlossen, wandte er sich bleich vor Abscheu zu mir um. »Ihr nennt... das«, blaffte er mich wütend an, »Ihr nennt das Elua und seinen Gefährten dienen? Es ist schon schlimm genug, was die meisten Eurer Art in Naamahs Namen tun, aber das ...« »Nein«, schnitt ich ihm scharf das Wort ab und packte ihn am Arm. Zwei Höflinge, die gerade vorbeigingen, wandten sich nach uns um. »Ich nenne das Anafiel Delaunay dienen, der meine Marque besitzt«, erwiderte ich leise, »und wenn Ihr dies beleidigend findet, schlage ich vor, Ihr wendet Euch an Euren Vorsteher, der Euch in selbigen Dienst beordert hat. Aber was auch immer Ihr tut, posaunt es nicht durch die Palasthallen!« Joscelins blaue Augen weiteten sich und weiße Stellen traten auf beiden Seiten seiner edel geformten Nase hervor. Mühelos entzog er sich meinem Griff. »Kommt«, erwiderte er mit erstickter Stimme und machte kehrt, um den Eingang hinunterzuschreiten. Ich musste mich beeilen, um ihn einzuholen, und fluchte leise vor mich hin. Wenigstens war es leicht, ihn im Auge zu behalten, die dunkelgraue Robe seines weiten Mantels wehte unter seinen schnellen Schritten, das Heft seines Breitschwerts ragte über seine Schultern, und sein blondes Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Wenn wir schon bei unserer Ankunft Seite an Seite einen erstaunlichen Anblick geboten hatten, so konnte ich mir kaum vorstellen, wie viel seltsamer es 355 aussah, dass ich förmlich hinter ihm herrennen musste, als wir wieder gingen.
»Phedre!« Die Stimme einer Frau, tief und volltönend, in der ein leises Lachen wie Musik erklang; es war die einzige Stimme, die mich abrupt zum Stehen brachte, und mein Kopf wandte sich wie von unsichtbaren Fäden gezogen um. Melisande Shahrizai stand mit zwei Edelleuten in einem Türbogen. Als sie mir zuwinkte, ging ich zu ihr, und sie verabschiedete sich von den beiden Herren, mit denen sie sich gerade unterhalten hatte. »Was bringt dich zum Palast, Phedre nö Delaunay?« Mit einem Lächeln streckte sie die Hand aus, um über den Kratzer zu streichen, den d'Essoms' Dolch in meinen Hals geritzt hatte. »Anafiels Angelegenheiten oder Namaahs?« »Herrin«, sagte ich und rang um Zurückhaltung, »das müsst Ihr meinen Herrn fragen und nicht mich.« »Das werde ich, wenn ich ihn das nächste Mal treffe.« Melisande ließ eine Falte meines sangoire durch die Finger gleiten. »So eine wunderschöne Farbe. Ich bin froh, dass er jemanden gefunden hat, der die alte Farbe wieder mischen konnte. Sie steht dir.« Sie beobachtete mich belustigt, als ob sie sehen könnte, wie sich der Puls in meinen Adern beschleunigte. »Ich habe vor, euch bald einen Besuch abzustatten. Ich war in Kusheth, aber ich habe von dem Unglück in eurem Haus gehört. Richte dem süßen Jungen meine Grüße aus, ja? Alcuin, nicht wahr?« Ich würde meine Marque darauf verwetten, dass sie keinen Zweifel an seinem Namen hatte; die Leute, die außerhalb von Delaunays Haushalt überhaupt von dem Angriff wussten, konnte man an einer Hand abzählen. »Das werde ich, Herrin, liebend gerne.« 356 Hinter uns erklangen Schritte, schnell und sicher. Ich sah, wie Melisande eine graziöse Braue hochzog, wandte den Kopf und erblickte Joscelin, der die Stirn runzelte. Er verbeugte sich rasch und richtete sich auf, während beide Hände auf den Griffen seiner Dolche ruhten und er sich an meiner Seite bequem hinstellte. Melisande blickte von mir zu ihm und wieder zu mir, und eine Frage formte sich auf ihren Lippen. »Du?«, fragte sie erstaunt. »Der Cassilinische Mönch steht in deinem Dienst?« Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber Joscelin verbeugte sich rasch und kam mir mit seiner Antwort zuvor. »Ich beschütze und diene«, erwiderte er ausdruckslos. Es war das einzige Mal, dass ich Melisande Shahrizai jemals in schallendes Gelächter ausbrechen sah. Es hallte vom gewölbten Dach des Salons wider, frei und spontan. »Anafiel Delaunay«, sie rang nach Atem, während sie sich wieder fasste und die Augen mit einem mit Seide umsäumten Taschentuch abtupfte. »Du unbezahlbarer Mann. Kein Wunder ... ach, nun gut.« Wieder erschienen die weißen Linien auf beiden Seiten von Joscelins Nase, und ich konnte fast seine Zähne knirschen hören. Als ob sie sein Unbehagen nicht bemerkt hätte, tätschelte Melisande ihm die Wange und fuhr mit einem Finger quer über seine Brust. »Es scheint, die Cassilinische Bruderschaft hat die Wiegen des Nachtpalais ausgeraubt«, murmelte sie und betrachtete ihn dabei. Er starrte über ihre Schulter, während ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Glückliche Mönche.« Ich dachte, Joscelin könnte jederzeit explodieren, aber er behielt seine Haltung unbewegt bei und blickte in die Ferne. Die cassilinische Ausbildung verlangt einem jeden das Höchstmaß an Disziplin ab. Sogar Melisande Shahrizai konnte sie nicht mit einer bloßen Berührung durchbrechen. Nein, es 357 würde schon etwas mehr brauchen, schätzte ich: fünf, vielleicht sogar zehn Minuten. »Nun gut.« Ihre Augen funkelten noch immer von dem Lachanfall, sie strahlten in einem dunkleren Blau als Joscelins wie zwei Saphire. »Wirst du Alcuin meine Grüße und Delaunay meine ewig währende Bewunderung ausrichten?« Ich nickte. Sie hatte mir keinen Willkommehskuss gegeben, aber sie küsste mich jetzt zum Abschied, weil sie wusste, dass es mich in Joscelins Anwesenheit aus der Fassung bringen würde. Das tat es auch. »Wer«, fragte er mich, als sie uns verlassen hatte, »war das?« Ich räusperte mich. »Die Herrin Melisande Shahrizai.« »Die Frau, die gegen Haus Trevalion ausgesagt hat.« Er blickte ihr weiter nach. Ich war überrascht, dass er doch so viel über die Angelegenheiten des Reiches wusste. Er erschauderte, als ob er einen Bann abschüttelte, einen Augenblick lang verspürte ich sogar Mitgefühl für ihn. »Wollt Ihr nun gehen?«, fragte er schließlich höflich und tonlos. Weil er es eilig hatte, ist er seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen, dachte ich. Es würde gewiss nicht wieder vorkommen. Mein Mitgefühl löste sich in nichts auf. 358 Als wir wieder zu Hause ankamen, wartete Delaunay schon in seinem Empfangszimmer auf uns, was
an sich ungewöhnlich war. Ich fragte mich, ob er sich wegen Joscelin so formell gab, was mich noch wütender auf meinen Begleiter machte. Alcuin war auch da und saß still und mit verschränkten Beinen auf einem niedrigen Sofa; ich vermutete, er hatte Delaunay fast eine ganze Stunde lang beim Auf-undabgehen beobachtet. »Und?«, fragte Delaunay, als wir hereinkamen. »Wird er es tun?« Als ich gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, kam mir Joscelin erneut zuvor. »Herr«, verkündete er in seiner gleichmütigsten Stimme, während er sein Gehenk losschnallte und sein umhülltes Schwert von den Schultern zog, »ich habe in Eurem Dienst versagt. Ich bitte Euch, nehmt das Schwert dieses Unwürdigen an.« Ich starrte ihn mit offenem Mund an, als er sich vor Delaunay hinkniete und ihm das Schwert über die 359 Armschiene des linken Arms gelegt anbot. Sogar Delaunay blickte erstaunt. »Was in Eluas Namen meint Ihr?«, fragte er. »Phedre geht es, wie ich sehen kann, recht gut, und ich erwarte nicht mehr von Euch.« »Zeigt es ihm«, forderte mich Joscelin auf, ohne mich dabei anzusehen. »Was, das hier?« Ich berührte das bisschen Blut, das an meinem Hals getrocknet war, und lachte, ohne zu verstehen. »Von Childric d'Essoms' Hand ist das nichts weiter als ein Liebesbeweis, Herr«, wandte ich mich an Delaunay. »Im Übrigen hat Joscelin ihn davon abgehalten, mir Schlimmeres anzutun.« »D'Essoms ist dir gegenüber gewalttätig geworden?« Delaunay zog die Augenbrauen hoch. »Als er erfuhr, dass ich Euch seinen Schutzherrn verraten hatte. Aber Joscelin ...« »Er zog eine Klinge gegen sie und verletzte sie«, unterbrach mich Joscelin, der hartnäckig auf den Beteuerungen seiner Schuld bestand. »Ich habe als Leibwache versagt, und dann habe ich sie in meiner Wut auch noch aus den Augen verloren.« Ich sah Delaunays fragenden Blick. »Melisande.« Ihr Name reichte als Erklärung. »Sie lässt Euch grüßen und spricht ihr Bedauern über deine Verletzung aus«, fügte ich an Alcuin gewandt hinzu. Mein Gerechtigkeitssinn siegte schließlich, und so sagte ich zu Delaunay: »Joscelin hat nicht versagt. Er hat mich gut beschützt. D'Essoms überraschte ihn, das ist alles.« Joscelin erhob sich nicht und hielt unserem Herrn immer noch mit gesenktem Kopf sein Schwert hin. »Ich habe die Klinge noch nie gegen jemanden außerhalb des Übungsfelds gezogen«, murmelte er. »Ich war unvorbereitet. Ich bin unwürdig.« Delaunay seufzte tief auf. »Ein unerfahrener Cassiline«, gab 360 er leise von sich. »Ich hätte wissen müssen, dass der Vorsteher sein Geschenk auf diese Weise salzen würde. Nun, mein Junge, ich habe Eure Fähigkeiten selbst auf die Probe gestellt, und wenn Ihr unvorbereitet und unerfahren, wie Ihr es im Umgang mit intriganten d'Angelines seid, Childric d'Essoms in die Knie zwingt, bin ich's zufrieden.« Joscelin hob den Kopf und blinzelte nervös mit seinen blauen Augen. Er versuchte, sein Schwert ein weiteres Mal anzubieten. Delaunay schüttelte den Kopf. »Zu versagen und auszuharren ist eine viel schwierigere Prüfung als jede, mit der Ihr auf dem Übungsfeld konfrontiert werden könntet. Behaltet Euer Schwert. Ich kann mir nicht leisten, es zu verlieren.« Damit betrachtete er die Angelegenheit als erledigt und wandte seinen Blick wieder mir zu. »Was ist nun mit dem Duc L'Envers?« »D'Essoms hat sich überzeugen lassen«, berichtete ich, während ich meinen Umhang abstreifte und mich setzte. »Wie es Eure Absicht war. Er wird Eure Bitte weiterleiten und eine Nachricht schicken, falls L'Envers zustimmt.« »Gut.« Ein gewisses Maß an Anspannung fiel von Delaunay ab. Ich wünschte, ich wüsste, welche Beweggründe ihn zu all dem getrieben hatten. Vergeltung gegen Vitale Bouvarre und die Stregazza natürlich jeder Narr konnte das erraten -, aber warum? Er hatte schon vor Guys Tod und Alcuins Verletzung danach gestrebt. In der Stille erhob sich Joscelin, schnallte sein Gehenk um und schlang sich das Schwert wieder über die Schultern. Seine Wangen glühten, und die erlittene Scham ließ seine Bewegungen linkisch wirken. Ich hatte fast wieder Mitleid mit ihm. Sein Tun zog Delaunays Aufmerksamkeit auf sich. »Ihr könnt gehen«, sagte er und nickte mit geistesabwesender Höflichkeit. »Herr«, setzte ich an. »Jetzt da ...« »Nein.« Er schnitt mir das Wort ab. »Keine Rendezvous, 361
nicht bevor ich mich mit Barquiel L'Envers getroffen habe. Wir haben das Spielbrett durchgerüttelt, und ich werde keine Risiken eingehen, bis die Spieler wieder alle in Reih und Glied stehen.« Ich seufzte. »Wie Ihr wünscht, Herr.« Wieder war ich zu einem Leben voller Langeweile verdammt. Und um alles nur noch schlimmer zu machen, schlössen Alcuin und Joscelin Freundschaft. Es fing damit an, dass Alcuin meinen Beschützer bei seinen morgendlichen Übungen beobachtete, einem Schauspiel, dessen Reiz für mich rasch verflogen war -ich war gerne bereit, zuzugeben, dass es sehr schön anzusehen war, aber selbst der leidenschaftlichste Musikliebhaber ist es irgendwann müde, immer das gleiche Lied zu hören -, doch Alcuins Faszination dauerte an. Eines Nachmittags ging ich vom Lärm angezogen auf die Terrasse des Gartens auf der Rückseite des Hauses und sah, wie sie mit Schwertern aus Holz übten, mit solchen, wie sie Jungs zum Spielen benutzen. Zu meiner Überraschung war Joscelin ein freundlicher und geduldiger Lehrer. Niemals lachte er über Alcuins unbeholfene Bemühungen zu stoßen und zu parieren, sondern half ihm, wenn er den Halt verlor, und zeigte ihm immer und immer wieder dieselben Hiebe und Stöße mit langsamen, fließenden Bewegungen. Alcuin folgte seinen Anweisungen mit gutem Willen und stets bester Laune und lachte über seine eigenen Fehler - und, was wirklich noch seltsamer war, Joscelin lachte manchmal mit ihm. »Ich hätte es wissen müssen«, murmelte Delaunay an meiner Seite; ich hatte ihn nicht auf die Terrasse kommen hören. Sein Blick verfolgte ihre Fortschritte. »Zu schade, dass es jetzt für ihn zu spät ist, es wirklich zu erlernen. Mit seinem Naturell eignet er sich für die Cassilinische Bruderschaft besser als zum Dienst Naamahs.« 362 Delaunay musste ihnen wohl die Erlaubnis und die hölzernen Schwerter gegeben haben. »Er ist nicht für die Cassilinische Bruderschaft geeignet«, erwiderte ich scharf, da ich von dem Gelächter schlechte Laune bekommen hatte. »Schließlich ist er in Euch verliebt.« »Alcuin?« Delaunays Stimme hob sich, und er blinzelte mich an. »Das ist nicht dein Ernst. Wenn überhaupt, war ich wie ein Vater für ihn oder ... allerhöchstens wie ein Onkel.« Die Torheit der Weisen ist und bleibt unübertrefflich. Ich beäugte ihn spöttisch. »Herr, wenn Ihr das glaubt, hätte ich da eine Phiole mit den Tränen der Magdalena, die ich Euch gerne verkaufen würde. Ihr habt Alcuin vor dem sicheren Tod gerettet und mich vor einem Leben in Schande, und Ihr könntet uns beide beim leisesten Wink Eures kleinen Fingers haben. Aber ich habe Alcuin beobachtet, und er würde bereitwillig für Euch sterben. Für ihn zählt niemand anderes in der Welt.« Zumindest war es etwas ganz Besonderes, Delaunay sprachlos zu sehen. Ich deutete ihm gegenüber einen Knicks an, den er nicht wahrnahm, und verließ ihn hastig. Alcuin, dachte ich mit Kummer im Herzen, behaupte niemals, ich hätte dir nie einen Gefallen getan. Wenn mein Herr dich nicht will, kann er zumindest nicht Unwissenheit als Entschuldigung vorschieben. Nach dieser Unterhaltung konnte ich nicht länger im Haus bleiben. Sollte Delaunay mir ruhig den Hintern versohlen, wenn er wollte - ich wusste, er würde es nicht tun -, aber wenn mir schon der Dienst Naamahs untersagt war, musste ich zumindest dieser ewigen Gefangenschaft entrinnen. Da sich alle hinter dem Haus aufhielten, war es ganz einfach, durch die Seitenpforte nach draußen zu schlüpfen. Ich war vernünftig genug, meinen braunen Umhang mitzunehmen, und nicht den sangoire, und ein paar Münzen ein363 zustecken, die nicht an den Marquisten gegangen waren. Es war einfach, die Kutschfahrt zum Vorhof der Nacht zu bezahlen; und als ich ihm ein Lächeln schenkte, verlangte der Kutscher weniger. Hyacinthe war nicht zu Hause, aber ich erduldete den allzu wissenden Blick seiner Mutter und fand meinen Freund recht schnell im »Jungen Hahn«, wo ich den Kutscher entließ. Nach den langen Tagen der Trübsal schlug mein Herz höher bei der ausgelassenen Musik und dem strahlenden Licht, das auf die Straße hinausschien. Als ich eintrat, begrüßte mich ein Höllenlärm, der offensichtlich von einem Würfelspiel im hinteren Teil des Gasthauses herrührte. Eine große Anzahl Gäste war dicht um einen Tisch gedrängt, die meisten mit höfischer Eleganz gekleidet, während ein Fiedler auf dem Podest spielte. Unter seinem wilden Spiel hörte ich den Klang von Würfeln, die in Bechern klapperten und auf den Tisch geworfen wurden. Manche der Zuschauer stöhnten auf, während andere jubelten, und über dem allen erklang ein bekannter, triumphierender Aufschrei. Die Menge strömte auseinander, um sich im Gasthaus zu verteilen, und ich erblickte Hyacinthe, umgeben von etlichen Freunden, der übers ganze Gesicht grinste, als er seine Gewinne zu einem
Haufen auftürmte. »Phedre!«, rief er laut, als er mich sah. Er schaufelte die Münzen in seinen Beutel und schwang sich über einen Stuhl, um mich zu begrüßen. Ich war so glücklich ihn zu sehen, dass ich beide Arme um seinen Hals schlang. »Wo bist du gewesen?«, fragte er lachend, während er meine Umarmung erwiderte. Dann hielt er mich an den Schultern, um mich anzusehen. »Ich habe dich vermisst. War Guy nach dem letzten Mal so erzürnt, dass Delaunay dich nicht gehen lassen wollte?« »Guy.« Das Wort blieb mir im Halse stecken; ich hatte es einen Augenblick lang vergessen. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe dir viel zu erzählen.« »Dann komm und setz dich, ich werde den Tisch von diesen Flegeln räumen.« Als er grinste, blitzten seine weißen Zähne auf und bildeten einen Kontrast zu seiner dunklen Haut. Er trug bessere Kleider als zuvor, wenn auch in einer wilden Farbzusammenstellung - ein blaues Wams mit goldenem Brokat an der Vorderseite und safranfarbenen Schlitzen in den Ärmeln über scharlachroten Beinkleidern -, und sah in meinen Augen großartig aus. »Ich hole uns einen Krug Wein. Bei Naamahs Titten, ich zahle allen einen Krug Wein!« Er rief dem Wirt zu: »Wein für alle!« Gefällige Jubelrufe ertönten, und Hyacinthe lachte, während er sich elegant verbeugte. Es gab keinen Zweifel, dass sie ihn hier liebten, und auch keinen Zweifel, warum. Wenn der Prinz des Fahrenden Volkes häufiger, als es einem ehrlichen Mann gebührt, beim Würfelspiel gewann, so gab er doch in seinem Überschwang neun von zehn Centime zurück, und niemand missgönnte ihm den zehnten Teil. Ich habe nie erfahren, ob er mogelte oder nicht; Tsingani gelten als Glückskinder. Natürlich haben sie auch den Ruf, mit beachtlicher Geschicklichkeit zu mogeln, zu lügen und zu stehlen, obgleich Hyacinthe, soweit ich es beurteilen kann, nie etwas Schlimmeres getan hat, als Pasteten von den Teigwarenverkäufern auf dem Markt zu stehlen. Seine Freunde machten am Tisch Platz für uns, und der Lärm schirmte unsere Unterhaltung ab, während ich ihm erzählte, was passiert war. Hyacinthe lauschte, ohne mich zu unterbrechen, und schüttelte den Kopf, als ich geendet hatte. »Delaunay ist in die Angelegenheiten von Haus Courcel verwickelt, so viel steht fest«, schloss er. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wie. Weißt du, ich habe einen Poeten gefunden, dessen Freund eine Abschrift von Delaunays Dichtungen besaß.« 364 365 »Wirklich?« Ich riss die Augen weit auf. »Kannst du ...« »Ich habe es versucht.« In Hyacinthes Ton lag Bedauern. Er nippte an seinem Wein. »Er hatte sie keinen Monat vorher an einen Caerdicci-Archivar verkauft. Ich hätte sie für dich erstanden, Phedre, ich schwöre es, oder zumindest eine ordentliche Abschrift, aber der Freund meines Freundes schwor, er hätte das Original verkauft und keine Abschrift behalten. Er hielt es für zu gefährlich.« Ich gab einen verächtlichen Laut von mir. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Warum hilft ihm Haus Courcel mit der einen Hand und knebelt ihn mit der anderen?« »Du weißt doch, warum sie ihn knebeln.« Hyacinthe lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Hacken seiner Stiefel auf den Tisch. »Er hat sie verunglimpft, als er ein Lied über Isabel L'Envers schrieb. Ich hörte, die Löwin von Azzalle nannte sie vor dem Hohen Gericht eine Mörderin.« »Ja, das stimmt.« Ich erinnerte mich an Ysandre de la Courcel, als sie ihr Votum für die Todesstrafe abgab. »Aber warum helfen sie ihm?« Es gab zu viele Fäden, die zu verstrickt waren, um sie zu entwirren. »Pah! Mir ist heute nicht nach Rätseln, und ich hatte tagelang nichts anderes zu tun, als darüber nachzudenken. Wenn du wahrhaftig mein Freund wärst, würdest du mich zum Tanz auffordern«, neckte ich ihn. »Es gibt da jemanden, der eifersüchtig sein wird, wenn ich mit dir tanze«, erwiderte er mit glänzenden Augen. Er nickte einer Frau auf der anderen Seite der Gaststube zu, einer kühlen Blonden in einem eisblauen Kleid. So kühl sie sich auch gab, ich merkte, wie es sie zur Weißglut brachte, uns zu beobachten. »Macht es dir etwas aus?«, fragte ich ihn. Hyacinthe lachte und schüttelte den Kopf, dass seine schwarzen Ringellocken hüpften. »Sie ist die Frau eines Baronets«, erwiderte er grinsend, »und 366 nur weil ich sie schon einmal übers Parkett geführt habe, heißt das nicht, dass ich auf ewig nach ihrer Pfeife tanzen muss.« Er nahm die Füße vom Tisch und erhob sich, dann verbeugte er sich und reichte mir die Hand. »Erweist du mir die Ehre?« Mit einem Augenzwinkern in Hyacinthes Richtung verdoppelte der Fiedler seinen Eifer, als er uns in
die Riege der Tanzenden einreihen sah, und wir legten frohen Herzens los. Das zog noch mehr Gäste auf die Tanzfläche, und mit Ausnahme der schmollenden Baronetsgattin und zweier ihrer Begleiter lachten und klatschten alle, die nicht mitmachten, im Takt. Ich tanzte zweimal mit Hyacinthe und dann jeweils einmal mit etlichen seiner Freunde, bis der Fiedler einen Wechsel-Reel anstimmte. Alle tauschten in Windeseile die Partner und wirbelten von einem zum nächsten, während die Umstehenden hastig die Stühle aus dem Weg räumten. Als es vorbei war, waren wir alle außer Atem und glühten vor Freude, während der Fiedler sich keuchend verbeugte und vom Podest stieg, um sich die Stirn abzuwischen und bei einem Krug Bier wieder zu Atem zu kommen. Wir hatten unsere Plätze noch nicht wieder eingenommen, als ein Tumult auf der Straße eine Hand voll Leute nach draußen lockte. Ein schlanker junger Mann mit lockigem Haar stürzte herein und riss an Hyacinthes Ärmel. »Hyas, komm mit raus, das musst du dir ansehen«, forderte er ihn lachend auf. »Das ist besser als eine Dachshetze!« Hyacinthe blickte mich fragend an. »Warum nicht?«, willigte ich ein, bester Laune und zu jeder Schandtat bereit. Eine Zuschauermenge hatte sich entlang der Straße schon versammelt und beobachtete das Schauspiel, das in ihrer Mitte vor sich ging. Aber Hyacinthe bahnte sich einen Weg durch einige aufgetürmte leere Weinfässer und richtete eines davon 367 auf, so dass wir uns darauf stellen konnten und eine gute Sicht auf alles hatten. Als ich endlich etwas sah, stöhnte ich vor Verdruss. Es war eine Gesellschaft betrunkener Edelleute, insgesamt ein Dutzend Herren und Damen, die mit vier Adepten des Eglanteria-Hauses, die ich an ihren grün-goldenen Gewändern erkannte, zum Mont Nuit zurückkehrten. Ihre offene Kutsche stand quer über der Straße und versperrte so den Durchgang, und ein kurzes Stück dahinter hatten sich die jungen Herren mit fröhlichem Gesichtsausdruck und gezogenen Schwertern in einem Halbkreis versammelt. In der Mitte des Platzes, den sie gebildet hatten, befand sich ein junger Cassilinischer Mönch, dem die Situation offenkundig sehr unbehaglich war und der von den Eglanteria-Adepten unbarmherzig verhöhnt wurde. »Joscelin«, seufzte ich. Ein Flötist des Eglanteria-Hauses saß auf dem hinteren Rand der Kutsche und spielte eine fröhliche, kunstvolle Melodie, während eine andere Adeptin unerschrocken anzügliche Lieder sang. Ihre gut ausgebildete Stimme klang dabei so lieblich, dass die Zuhörer einen Augenblick brauchten, um den vulgären Text zu bemerken. Die beiden anderen Adepten waren Akrobaten, ein Mann und eine Frau, und sie bedrängten Joscelin am schlimmsten. Während ich die Szene beobachtete, kniete der Mann nieder, und die Frau sprang in einem sauberen Überschlag auf seine Schultern. Er stand auf, als sie sich rittlings auf seine Schultern setzte und ihr freizügiges Dekollete Joscelin nahezu unter die Nase rieb. Mit einem wahrlich sehenswerten Gesichtsausdruck trat er einen Schritt zurück, nur um von den Schwertspitzen der jungen Edelmänner wieder nach vorn gestoßen zu werden. Die Akrobatikkünstlerin stand nun auf den Schultern ihres Part368 ners, der die Hände unter ihren Füßen platzierte und ihr Hilfestellung gab, damit sie über Joscelins Kopf springen konnte. Der Mann ging sofort in den Handstand, legte die Fußgelenke um Joscelins Hals, und während er so in der Luft hing, schob er den Kopf zwischen die Beine des Cassilinen und grinste die jubelnde Menge an. Mit einem verächtlichen Blick löste sich Joscelin von den verschränkten Beinen des EglanteriaAdepten, der sich erst mit den Händen abstützte, dann abrollte und auf die Füße sprang. Joscelin ging einen Schritt auf die Kutsche zu, nur um sich mit der Akrobatin konfrontiert zu sehen. Sie sprang in die Luft, schlang ihre schlanken Beine um seine Hüften und packte sein Gesicht mit beiden Händen, um ihn zu küssen. Er löste sich aus ihrer Umklammerung und machte wieder in Richtung der jungen Herren kehrt, die lachende Gesichter und glänzenden Stahl gegen ihn aufboten. Der Akrobat schlich sich von hinten an und zog eine Nadel aus seinem ordentlich zusammengebundenen Haar, woraufhin sich eine weizenblonde Strähne löste. »In Eluas Namen«, brummte ich. »Wenn du schon nicht dein Schwert ziehst, dann benutze wenigstens deine Dolche, du Schwachkopf!« »Er kann nicht«, warf Hyacinthe neben mir ein, dessen Augen vor Belustigung strahlten. »Sie machen
sich nur einen Spaß, und Cassilinen legen einen Eid ab, ihre Waffen nur zur Selbstverteidigung oder zum Schutz ihrer Begleiter zu ziehen.« Ich seufzte wieder auf. »Dann muss ich mich wohl darum kümmern.« Noch bevor Hyacinthe protestieren konnte, hüpfte ich von dem Fass, bahnte mir einen Weg durch die Menge und stolperte vor den jungen Edelmännern, die Joscelin mit ihren Schwertern piesackten, auf die offene Straße. Mein Beschützer blickte mich überrascht an, und der Flötist kam aus dem Takt. »He, verschwinde«, schimpfte einer der jungen Männer, 369 ergriff meinen Arm und versuchte, mich wegzuzerren. »Wir machen uns doch nur einen Spaß mit ihm!« Ich hob den Arm, den seine Hand immer noch umklammerte. »Joscelin? Diene und beschütze!« Seine Armschienen blitzen auf, als er sich verbeugte, und beide Dolche sprangen aus ihren Scheiden hervor; ich glaube, er hatte noch nicht einmal zwei Schritte getan, als der junge Adlige meinen Arm losließ und die anderen begannen, zurückzuweichen und eilig ihre Waffen zurückzustecken. Durch dieses unerwartete Schauspiel aufs Neue erheitert, spielte der Flötenspieler des Eglanteria-Hauses weiter, während die Sängerin eine große Trommel ergriff und die turnenden Adepten Kunststückchen vollführten. »Genug, genug!«, rief eine der Damen der Gesellschaft, aus deren Stimme immer noch eine Spur von Übermut klang. Sie machte einen Knicks in Joscelins Richtung. »Cassiels Diener hat uns für einen Abend lang genug unterhalten, denke ich.« Sein grimmiger Blick hätte Stein zum Bersten bringen können, aber ihr Gelächter hallte in der Luft wider, als sie sich in Bewegung setzten. Stattdessen wandte Joscelin seinen grimmigen Blick mir zu. »Ich nehme an, Delaunay schickt Euch?«, fragte ich widerwillig. »Ihr sollt mit mir zurückkommen.« Er biss die Zähne zusammen, während er mit dem Kopf auf Delaunays Kutsche zeigte, die in einiger Entfernung wartete. Der Kutscher blickte reumütig. »Unverzüglich.« Hyacinthe sprang von dem Fass herunter und rannte zu mir herüber, um mir einen hastigen Abschiedskuss zu geben. »Komm wieder, wenn du kannst«, sagte er und versuchte, seinen lachenden Blick nicht auf Joscelin zu richten, dessen Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran ließ, dass er dies jeder370 zeit verhindern würde, wenn er nur darüber bestimmen könnte. Ich betete, dass dies nie der Fall sein würde. »Ich vermisse dich immer.« »Ich dich auch.« Ich machte viel Aufsehens darum, ihn noch einmal zu küssen, und nahm seine schwarzen Locken in beide Hände. »Pass auf dich auf, Prinz des Fahrenden Volkes.« In der Kutsche redeten wir kein Wort, obgleich Zorn unübersehbar in ihm loderte. Joscelins aschgraue Kleidung war durcheinander geraten, und eine Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht; ich bin sicher, er hatte sich nie im Leben vorgestellt, dass ein Cassilinischer Mönch solcher Unwürde ausgesetzt sein könnte, und es war offensichtlich, dass er mir die Schuld dafür gab. Was mich wieder an die bevorstehende Konfrontation mit Delaunay denken ließ. Ich sah dem nicht mit Freuden entgegen. Wenn ich erwartet hatte, dass Delaunay mir mit kalter und unversöhnlicher Wut begegnete, so irrte ich mich, was jedoch nicht an meinem bezaubernden Wesen lag. Joscelin führte mich zur Bibliothek, die Hand in meinem Rücken, als wollte er mich vorantreiben - und mittlerweile war ich mir meiner Schuld ausreichend bewusst, um nicht zu protestieren. Aber als wir ankamen, blickte Delaunay lediglich kurz auf und hielt einen Brief hoch. »Er ist gekommen«, sagte er kurz. »Barquiel L'Envers wird mich in zwei Tagen treffen.« »Herr.« Ich hielt meine Stimme nur mit Mühe im Zaum. »Das sind wirklich sehr gute Nachrichten.« »Ja.« Er studierte den Brief, als ob er uns entlassen wollte, sah aber erneut auf, und diesmal lag in seinem Blick die ganze gefühllose Bestimmtheit, die ich so gefürchtet hatte. »Phedre. Ich habe dich schon einmal gewarnt, ich werde es nicht noch 371 einmal tun. Wenn du diese Mauern noch ein einziges Mal ohne meine Erlaubnis verlässt, werde ich deine Marque verkaufen. Das ist alles.« »Ja, Herr.« Meine Knie zitterten, und es brauchte alle Kraft, die ich aufbringen konnte, damit ich mich umdrehen
und hinausgehen konnte, ohne Joscelin die Genugtuung zu verschaffen, es zu bemerken. Bevor ich die Tür hinter mir schloss, wurde ich ein wenig entschädigt, als ich Delaunay in einem völlig anderen Ton zu Joscelin sagen hörte: »Was in aller Welt ist mit dir passiert, mein Junge?« Wirklich zu schade, dass ich es nicht wagte, seine Antwort abzuwarten. Offenkundig war Duc L'Envers' Einwilligung an Bedingungen gebunden. Er würde Delaunay auf seinem eigenen Hoheitsgebiet treffen, dem L'Envers-Anwesen, das zu Pferde eine Stunde von der Cite entfernt lag; es war nicht der Hauptsitz seines Herzogtums, das im Norden Namarres lag, sondern ein Lustschloss, das er benutzte, wenn er im Dienste des Palastes stand. Außerdem sollten ihn zwanzig L'Envers-Wachen eskortieren. Der Duc ging mit Delaunay kein Risiko ein. So viel wussten wir, daher war es keine Überraschung, als die Eskorte in großer Schar eintraf und der Hauptmann der L'Envers-Garde an der Tür klopfte. Delaunays Pferd war schon gesattelt und stand bereit; obgleich Joscelin sich darauf eingestellt hatte, ihn zu begleiten, wollte er sich alleine auf den Weg machen. Wenn alles gut gehe, hatte er gesagt, wäre Joscelins Beistand nicht vonnöten; und wenn nicht, reiche auch ein Cassilinischer Mönch nicht aus, um ihn zu beschützen, nicht gegen eine solche Überzahl. Ein halbes Dutzend oder auch nur vier Männer könnten vielleicht etwas ausrichten, aber nicht einer alleine. 372 373 Delaunays Überlegungen waren jedoch vergebens; Barquiel L'Envers hatte den Plan geändert. Der Hauptmann der Garde betrachtete Delaunay von oben bis unten und verschränkte die Arme. Er trug einen leichten Kettenpanzer unter einer dunkelroten Tunika, auf die das Wappen der L'Envers in Gold aufgestickt war: eine stilisierte Brücke über einem reißenden Fluss. »Ich wurde beauftragt, die anderen mitzubringen.« »Welche anderen?« »D'Essoms' Mädchen und den anderen, den Jungen, der behauptet, die Wahrheit zu kennen.« Der Hauptmann blickte selbstgefällig drein; Barquiel L'Envers hatte seine Schularbeiten gemacht. Delaunay hielt einen Moment inne und schüttelte dann den Kopf. »Ich verbürge mich für ihr Wort. Sie bleiben hier.« »Dann bleibt auch Ihr hier.« Der Hauptmann machte auf dem Absatz kehrt und gab seinen Männern ein Handzeichen, worauf sie ihre Rösser wendeten. »Wartet.« Alcuin schob sich an Delaunay vorbei. »Ich gehe mit.« Er wandte sich um, bevor unser Herr ein Wort sagen konnte. »Es gibt da noch eine Rechnung zu begleichen. Wollt Ihr mir das Recht absprechen, dort anwesend sein zu dürfen, Herr?«, fragte er kühl. Ich wusste, er wollte es; aber er konnte sich nicht dazu durchringen, Alcuin dieses letzte Fünkchen Stolz zu versagen. »Nun gut.« Er nickte kurz und wandte sich dann zu mir um. »Nein. Sprich es nicht einmal aus.« »Herr.« Ich reckte das Kinn und setzte alles auf eine Karte. »Ich habe ebenso viel wie jeder andere hier riskiert, um Euch diese Unterredung zu ermöglichen. Wenn Ihr sie aufs Spiel setzen wollt, indem Ihr mich nicht mitnehmt, dann vertraut nicht darauf, mich bei Eurer Rückkehr hier anzutreffen.« Delaunay ging einen Schritt auf mich zu und senkte die Stimme. »Und du vertraue nicht darauf, dass ich nicht tun werde, was ich dir angedroht habe.« Es war schwer, ihm in die Augen zu blicken, aber ich tat es. »Wirklich, Herr?« Ich schluckte schwer und fuhr fort. »An wen? An Melisande Shahrizai vielleicht, die mich für das benutzen würde, zu dem Ihr mich ausgebildet habt, allerdings in einem Spiel, das nicht einmal Ihr durchschauen könnt?« »Pah!« Delaunay warf die Arme vor Widerwillen in die Luft. Ich konnte die Verwirrung sehen, die dem Hauptmann der Garde, der hinter ihm aufragte, ins Gesicht geschrieben stand. »Ich habe dich viel zu gut ausgebildet«, fuhr er mich an. »Ich hätte es besser wissen müssen, als die Marque einer Frau zu kaufen, der es gefällt, ihr Leben aufs Spiel zu setzen!« Er wandte sich an Joscelin, der im Eingang wartete. »Dann kommt Ihr eben auch mit, Cassiline, und beschützt die beiden gut. Bei Cassiels Dolch, Ihr werdet Euch dafür verantworten müssen, wenn Ihr sie nicht am Leben haltet!« Joscelin verbeugte sich in seiner teilnahmslosen Art, aber ich sah einen Anflug von Besorgnis in seinen blauen Augen aufflackern. Dennoch musste ich zugeben, dass er einen beeindruckenden Begleiter abgab; erstaunt trat der Hauptmann von L'Envers einen Schritt zurück, als der Mönch heraustrat. Die Pferde wurden vor die Kutsche gespannt und Alcuins Ross eilig für Joscelin gesattelt. Schon waren wir unterwegs, und unser Atem stieg in frostigen Schwaden in der kalten Morgenluft auf. Die
scharlachrot-goldene Standarte der L'Envers erhob sich über unserer kleinen Gruppe, und die glänzenden Kettenpanzer, die die Mitglieder der Leibgarde trugen, verliehen uns eine stramm festliche Ausstrahlung - ich war damals naiv genug, das alles aufregend zu finden. Außerdem war ich mir sicher, dass vier oder fünf der Männer keine D'Angelines waren. Sie ritten mit besonders wachsamer Miene, und dunkle 374 375 Kapuzenmäntel verbargen ihre Köpfe und verdeckten ihre Gesichter. Der Kalif von Khebbel-imAJckad hatte L'Envers Land, Pferde und Männer gegeben; ich wäre jede Wette eingegangen, dass diese Reiter Akkadier waren. Das Anwesen des Duc L'Envers war überraschend schön. Abgesehen von Perrinwolde war ich noch nie zuvor auf einem großen Landsitz gewesen, aber dieses Gut war nicht in Betrieb. Wir überquerten einen kleinen Fluss - die gebogene Brücke spiegelte das Bild des L'Envers-Wappens wider - und ritten durch kuriose Anlagen, in denen Gärtner mit importierten Bäumen jeglicher Art beschäftigt waren, die sie mit Sackleinen umwickelten, um sie vor der Kälte zu schützen. Dennoch beobachtete man unser Herannahen von den Brüstungen des schlichten Schlosses aus, daran gab es keinen Zweifel. Der Standartenträger ritt ein Stück voraus und hob das Banner dreimal in die Luft, und als von den Mauern die Antwort aufblitzte, hob sich das Tor, um uns Einlass in den Innenhof zu gewähren. Auch wenn man uns höflich empfing, geleitete uns dennoch eine volle Eskorte in das Empfangszimmer des Duc. Der Raum war wunderschön mit akkadischen Wandteppichen und niedrigen, gepolsterten Möbeln ungewöhnlichen Aussehens eingerichtet. Ein Stuhl, mit kunstvollen Schnitzereien geschmückt, die eines Throns würdig gewesen wären, war ganz offensichtlich der des Duc, aber er war leer. Einer der Männer - den ich für einen Akkadier hielt - verließ den Raum, während der Hauptmann und die anderen sich entlang der Wände aufreihten und still standen. Ich beobachtete Delaunay und wartete auf mein Stichwort. Er war ruhig und aufmerksam und zeigte keine Anzeichen von Unbehagen. Das gab mir Mut. Nach einigen Augenblicken hörten wir Stiefeltritte im Eingang, und der Duc L'Envers betrat das Zimmer. Obgleich ich ihn noch nie gesehen hatte, hegte ich keinen Zweifel, wer er war; seine Männer verbeugten sich augenblicklich vor ihm, und Delaunay und wir anderen drei folgten ihrem Beispiel. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, als ich mich aus meinem tiefen Knicks erhob, dass der Duc selbst in der Art der Akkadier gekleidet war. Ein Kapuzenmantel im Rot der L'Envers verdeckte sein Gesicht, und anstelle eines Wamses trug er über seinen Beinkleidern lose Roben und einen langen, fließenden Umhang. Nur seine Augen waren zu sehen, aber ich erkannte sie, sobald ich sie von Angesicht zu Angesicht betrachten konnte. Sie waren von einem dunklen Violett, der Farbe des Hauses L'Envers; der Farbe von Ysandre de la Courcels Augen, seiner Nichte. »Anafiel Delaunay«, sagte der Duc gedehnt, während er seinen Platz einnahm und den langen Schal seines Mantels ablegte. Er hatte auch das weißblonde Haar und die blasse Haut, die um die Augen sonnengebräunt war, doch sein Haar war kürzer geschnitten, als ich es je bei einem Adligen gesehen hatte. »Gut, gut. Ihr seid also hierher gekommen, um Euch für die Sünden, die Ihr gegen mein Haus begangen habt, zu entschuldigen?« Delaunay ging einen Schritt vor und verbeugte sich abermals. »Euer Gnaden«, erwiderte er, »ich bin gekommen, um Euch vorzuschlagen, diese Angelegenheit hinter uns zu lassen, das heißt in der Vergangenheit, wo sie auch hingehört.« Barquiel L'Envers saß gelassen und mit verschränkten Beinen da, aber ich zweifelte nicht einen Moment daran, dass er ein gefährlicher Mann war. »Nachdem Ihr meine Schwester vor dem ganzen Reich eine Mörderin genannt habt?«, fragte er ruhig. »Schlagt Ihr vor, ich solle diese Beleidigung einfach vergeben?« 376 377 »Ja.« Delaunay sagte es, ohne auch nur ein klein wenig die Fassung zu verlieren. Ich hörte einige der bewaffneten Männer raunen. Der Duc hob die Hand, ohne sich zu vergewissern, wer es war. »Warum?«, fragte er neugierig weiter. »Ich weiß, was Ihr anzubieten habt, und ich möchte es hören. Aber das regelt nichts zwischen uns, Delaunay. Warum sollte ich Euch vergeben?« Delaunay holte tief Luft, und etwas schwelte in seiner Stimme. »Schwört Ihr, Euer Gnaden, bei Eluas Namen und Eurer Nachkommenschaft, dass mein Lied die Unwahrheit sprach?«
Seine Frage hing in der Luft. Barquiel L'Envers dachte darüber nach und bewegte schließlich leicht den Kopf, allerdings nickte er weder, noch schüttelte er ihn. »Ich schwöre bei keinem von beiden, Delaunay. Meine Schwester war ehrgeizig und noch dazu eifersüchtig. Aber selbst wenn sie irgendetwas mit dem Sturz von Edmee de Rocaille zu tun hatte, will ich schwören, dass sie ihren Tod nie beabsichtigte.« »Die Absicht ist nicht von Bedeutung, die Ursache allein ist ausreichend.« »Vielleicht.« Barquiel L'Envers beobachtete sein Gegenüber weiterhin forschend. »Vielleicht nicht. Aufgrund Eurer Worte kann eine Verräterin meine Schwester vor dem König eine kaltblütige Mörderin nennen, und niemand wird es abstreiten. Ihr habt mir immer noch keinen ausreichenden Grund genannt, Euch zu verzeihen. Könnt Ihr noch weitere vorbringen?« »Ich habe einen Eid abgelegt«, sagte Delaunay leise, »durch den Ihr profitieren könnt.« »Ach, das!« L'Envers' Stimme wurde vor Überraschung lauter. Er lachte. »Ihr wollt wirklich dazu stehen, so wie Ganelon Euch behandelt hat?« »Ich habe ihn nicht Ganelon de la Courcel geschworen.« Ich wünschte inbrünstig, dass einer von beiden mehr über die Angelegenheit sagen würde, aber keiner tat es. Delaunay stand stramm und aufrecht da, während L'Envers' gedankenvoller Blick über uns drei wanderte und am längsten bei Joscelin verweilte. »Nun, Ganelon scheint die Sache durchaus ernst zu nehmen«, bemerkte er. »Obgleich ich noch nie ein seltsameres Gefolge gesehen habe. Eine Hure, ein Lustknabe und ein Cassilinischer Mönch. Nur Ihr, Anafiel, Ihr hattet immer den Ruf, undurchschaubar zu sein, aber das ist geradezu exzentrisch. Wer von ihnen weiß, wer meine Schwester ermordet hat?« Alcuin trat nach vorne und verbeugte sich. »Herr«, sagte er ruhig, »ich weiß es.« Ich war noch nie stolzer auf ihn gewesen, nicht einmal bei seinem Debüt; ich hätte schwören können, dass er gefasster war als Delaunay. Selbst als L'Envers' violette Augen auf ihm ruhten, schreckte Alcuin nicht zurück. »Tatsächlich?«, sinnierte der Duc. »Wer von den Stregazza war es also?« Er sah einen kurzen Moment der Bestürzung in Alcuins Gesicht aufflackern und lachte. »Ich habe meine Ohren überall in der Cite, mein Junge. Wenn Isabel ermordet wurde, musste es durch Gift gewesen sein, kein wahrer D'Angeline würde zu solch einem Mittel greifen. Ich habe gehört, du seist angegriffen und ein Mann sei getötet worden, Vitale Bouvarre, der mit den Stregazza Handelsbeziehungen pflegt, ist außerdem plötzlich unauffindbar ... und d'Essoms hat mir berichtet, dass er für deinen Jungfernpreis eine noch nie da gewesene Summe bezahlt hat. Wer war es?« Ein leichtes Zucken war alles, was der Duc aus Alcuin herausbekam; der Junge blickte, so kühl er konnte, zu Delaunay. »Herr?« Delaunay nickte. »Sag es ihm.« 378 379 »Dominic und Therese«, antwortete Alcuin schlicht. Ich hatte noch nie zuvor das Gesicht eines Mannes gesehen, der dazu entschlossen ist zu töten, aber ich tat es in jenem Moment. Barquiel L'Envers wirkte plötzlich unglaublich ruhig, doch sein Blick war durchdringend und zugleich hungrig. Er gab einen Stoßseufzer von sich, in dem Erleichterung lag. »Legte Bouvarre Beweise vor?« »Nein.« Alcuin schüttelte den Kopf. »Er hatte keine. Aber er brachte Isabel de la Courcel kandierte Feigen als Geschenk von den Stregazza. Dominic persönlich hatte sie ihm überreicht, aber nur Therese wusste, wie sehr sie die Früchte mochte. Bouvarre überbrachte sie persönlich.« »In ihren Gemächern stand ein leerer Präsentierteller«, erinnerte sich L'Envers. »Ich nahm an, dass wir es alle gesehen hatten. Aber niemand wusste, was er beinhaltet hatte oder woher er kam.« »Er versuchte, mir weiszumachen, es wäre Lyonette de Trevalion gewesen«, sagte Alcuin leise, »aber ich lachte ihn aus und durchschaute seine Lüge. Diese Antwort war zu einfach, da sie nicht mehr lebte, um sie zu widerlegen. Ich glaube nicht, dass er versucht hätte, mich umzubringen, oder dass er geflohen wäre, wenn er auch beim zweiten Mal gelogen hätte.« »Ihr wusstet, dass einer meiner Vettern einigen Einfluss in La Serenissima hat«, sagte L'Envers zu Delaunay. »Mein Arm ist länger als Eurer und beträchtlich einflussreicher, nicht wahr? Aber was kümmert es Euch, wer Isabel umgebracht hat? Ich hätte eher gedacht, Ihr würdet Verbündete unter ihnen suchen.« »Ihr beleidigt mich«, erwiderte Delaunay und errötete vor Zorn. »Auch wenn Isabel und ich Feinde waren, so wisst Ihr, dass die einzige Waffe, die ich gegen sie richtete, Worte waren.«
380 »Nur zu gut. Warum interessiert es Euch, wer sie umgebracht hat?« »Wusstet Ihr, dass Dominic und Therese vier Kinder haben? Alle aufgrund ihrer Abstammung von königlichem Geblüt und alle in einem der Großen Häuser von Terre d'Ange aufgezogen.« »Ja, und Prinz Benedicte ist immer noch rüstig, während der König kränkelt, und seine Sippe ist sehr mächtig in La Serenissima. Gewisse Gruppen in gewissen Kreisen behaupten hingegen, Baudoin de Trevalion sei unschuldig gewesen und der Name der Dauphine sei aufgrund des Makels besudelt, der ihre Mutter befleckte.« Barquiel stützte das Kinn auf die Faust. »Wollt Ihr mir das Spiel um den Thron beibringen? Ich glaube kaum, Delaunay.« »Nein, Euer Gnaden. Übrigens habe ich Euch noch nicht zur Hochzeit Eurer Tochter gratuliert«, fügte Delaunay mit einer Verbeugung hinzu. »0 ja.« Ein kurzes Lächeln streifte L'Envers' Gesicht. »Vielleicht habt Ihr ja Recht. Unsere Interessen weisen in dieser Angelegenheit wohl tatsächlich in die gleiche Richtung. Euch ist bewusst, dass jegliche Schritte, die ich gegen die Stregazza unternehme, nicht ganz ... ehrenhaft sein könnten?« Delaunay ließ den Blick über die Reihe bewaffneter Männer gleiten und musterte die verschleierten Züge der Akkadier eingehend. »Ihr verfügt über ausreichend Einfluss, um darauf zu bestehen, dass Vitale Bouvarre in Gewahrsam genommen und befragt wird. Im Austausch für sein Leben würde er mit Sicherheit gestehen. Benedicte würde dafür sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan werde.« »Glaubt Ihr? Ach, ja, Ihr seid alte Kameraden, nicht wahr, aus der Schlacht der Drei Prinzen. Vielleicht würde er es sogar tun. Benedicte hatte immer den Ruf, ein ehrenwerter Mann zu 381 sein. Er hätte nie in dieses Caerdicci-Schlangennest einheiraten sollen. Ich schwöre, wenn es nicht rechtmäßig getan werden kann, werde ich es in die Hand nehmen.« Barquiel L'Envers trommelte träge mit den Fingern auf den kunstvollen Armlehnen seines Stuhls und wandte seine Aufmerksamkeit mir zu. »Du bist also Childrics anguisette, hm? Hast du ihn um Delaunays willen ausspioniert?« Ich machte einen Knicks. »Euer Gnaden, ich bin die Dienerin Naamahs. Mein Herr suchte lediglich einen Weg, sich bei Euch Gehör zu verschaffen. Die Meinungsverschiedenheit zwischen euch bekümmert ihn.« »Ach, tatsächlich.« Ein Mundwinkel von L'Envers zuckte in einem weiteren, angedeuteten Lächeln. »Zweifellos ist er darüber so bekümmert wie über Vitale Bouvarres Schweigen. Nun gut, ich wollte einmal diese jungen Dinger sehen, die einen meiner besten Berater und den verschlagensten Händler von Terre d'Ange überlistet haben, und ausloten, ob Delaunay verzweifelt genug ist, Euch beide aufs Spiel zu setzen. Wie es scheint, ist er es tatsächlich.« Die violetten Augen richteten sich wieder gedankenvoll auf Delaunay. »Es geht also um dieses alte Versprechen, Anafiel?« »Wenn Ihr über diese Angelegenheit zu sprechen wünscht, Euer Gnaden«, erwiderte Delaunay ruhig, »möchte ich darum bitten, dass wir es unter vier Augen tun.« »Sie wissen nichts davon?« Barquiel L'Envers zog die Augenbrauen hoch und lachte laut auf. »Welche Loyalität Ihr verlangt! Ach, ich bin neidisch, Anafiel! Aber diejenigen, die Euch liebten, blieben Euch immer treu, nicht wahr? In einem gewissen Maße jedenfalls. Wie steht es mit dir?« Interessiert betrachtete er Joscelin. »Sicherlich dienst du ihm nicht aus Liebe, Cassiline. Was verpflichtet dich hier?« Stahl blitzte auf, als Joscelin sich verbeugte. »Ich habe ein 382 Gelübde abgelegt, zu dienen, wie es Cassiel getan hat, Euer Gnaden«, sagte er mit seiner ausdruckslosen Stimme. »Auch ich nehme meine Gelübde ernst.« Der Duc schüttelte verblüfft den Kopf. »Es heißt, das alte Blut flösse reiner in den Provinzen. Du bist aus Siovale, mein Junge? Stammt dein Haus von Shemhazai ab?« Joscelin zögerte einen Moment. »Ein Kleines Haus, ja. Aber ich bin der mittlere Sohn und Cassiel verschworen.« »Ja, das kann ich sehen«, erwiderte L'Envers trocken und sagte dann zu Delaunay: »Es muss für Euch recht angenehm sein, einen Landsmann in Eurem Haushalt zu haben, Anafiel.« »Euer Gnaden.« Delaunay hob die Augenbrauen. »Schon gut, schon gut.« Barquiel L'Envers gab ein Handzeichen. »Ihr seid entlassen. Beauforte, bring sie in die Küche und sorge dafür, dass sie gut bewirtet werden. Wir dürfen in unserer Gastfreundschaft nicht nachlässig sein. Oh, und lass alle wissen, dass Messire Delaunay und seine Begleiter als wirkliche Gäste zu betrachten sind.« Er grinste räuberisch. »Das wird sie zweifellos beruhigen. Nun,
Anafiel, wollen wir uns unterhalten?« Ich dachte, ich würde nach der ganzen Anspannung des Tages und der Unterredung mit dem Duc keinen Bissen herunterkriegen, aber ich täuschte mich. Man setzte uns an einen Tisch und servierte uns warmes, krustiges Brot, scharfen Käse und einen guten Eintopf - eine geeignete Zehrung für die Männer des Duc, aber nicht für seine Tafel gedacht, nahm ich an - und langte fast genauso herzhaft zu wie Alcuin und Joscelin. Eine Zeit lang sagte keiner ein Wort, da wir uns der Anwesenheit der L'Envers-Gefolgsleute unausweichlich bewusst waren. Alcuin und ich hätten es auf gar keinen Fall riskiert, aber wir hatten nicht mit Joscelins Naivität gerechnet. Bei 383 seiner zweiten Portion Eintopf brach es aus ihm heraus, während er seinen Löffel klirrend fallen ließ. »Wer ist er?«, fragte er uns. »In Siovale gibt es kein Haus Delaunay! Wer ist er, und warum wurde ich verpflichtet, ihm zu dienen?« Alcuin und ich tauschten Blicke und schüttelten warnend den Kopf in Richtung Joscelin. »Delaunay will uns keine Dinge erzählen, die uns umbringen könnten«, erklärte ich und fügte ironisch hinzu: »Die über das hinausgehen, was wir schon wissen. Wenn du meinst, wird er sich vielleicht einem Landsmann anvertrauen, du solltest ihn auf jeden Fall fragen.« »Vielleicht werde ich das tun.« In Joscelins blauen Augen blitzte ein starrsinniges Glänzen auf. Alcuin lachte. »Viel Glück, Cassiline.« Ich weiß nicht, was sich zwischen Delaunay und Barquiel L'Envers abspielte, nachdem sie uns geheißen hatten zu gehen, aber offensichtlich waren sie zu einer Art Übereinkommen gelangt, wenn auch einem unbehaglichen. Die Herbsttage wurden kürzer und brachten keine Neuigkeiten außer neuen Gerüchten von den Skaldi, die wieder einmal in den Pässen der Camaelinischen Gebirgskette gesichtet worden waren. Delaunay wartete auf die Bereinigung dieser Angelegenheit, und erneut schlug ich die Zeit tot, während meine Geldtruhe leer blieb und meine Marque nicht weiter wuchs. Auch wenn sich keine Bösartigkeit dahinter verbarg, ärgerte es mich doch, als Alcuins letzte Sitzung mit Meister Tielhard vereinbart und seine Marque vollendet war. Er war so frei, wie ich es noch nie in meinem ganzen Leben gewesen war. Dennoch war es nicht meine Art, grausam zu sein, schon gar nicht zu Alcuin. Ich begleitete ihn zum Marquisten und gab alle schicklichen Geräusche der Bewunderung von mir. Sie war wirklich von großer Schönheit. Das Licht der Kohlenpfannen im Laden des Marquisten wärmte Alcuins 384 385 helle Haut, und die geschmeidigen Konturen betonten seinen geraden, schlanken Rücken. Der zierliche Strauß an Birkenblättern, der die Kreuzblume formte, endete ganz oben im Nacken, wo der erste Flaum seiner weißen Haare begann. Meister Tielhard sah wirklich sehr zufrieden aus, als er sein Werk begutachtete, und sein Lehrbursche vergaß sogar einen Moment lang zu erröten. Dafür errötete Joscelin, der im Hintergrund blieb und sich offenbar unwohl in seiner Haut und fehl am Platze fühlte. Wenn man auf sein Leben zurückblickt, fällt es einem leicht, die Wendepunkte auszumachen, während es hingegen nicht immer ganz so leicht ist, sie genau dann zu erkennen, wenn sie eingetroffen sind; aber diesen, so kann ich wohl behaupten, erkannte ich sofort. Er hatte sich seit langem angekündigt, und in einem Teil von mir hatte ich ihn längst akzeptiert. Als es dann aber schließlich dazu kam, war es doch etwas ganz anderes. Ich war rastlos in jener Nacht, und obgleich ich mich früh in mein Zimmer zurückzog, wollte sich der Schlaf nicht einstellen. So kam es, dass ich zur Bibliothek schlenderte, um etwas Poesie oder eine unterhaltsame Geschichte zu lesen. Als ich Alcuin vor mir in die Bibliothek schlüpfen sah, wäre ich fast zurückgegangen, weil ich nicht in der Stimmung war, an die Veränderung unseres Standes erinnert zu werden. Ich kann keinen Grund nennen, warum ich es dann doch nicht tat, außer dass ein seltsam entschlossener Gesichtsausdruck in seinem Gesicht lag und ich zur Neugierde ausgebildet war. Da er mich nicht bemerkt hatte, war es ein Leichtes, in einem Winkel des Türrahmens stehen zu bleiben, wo das Licht der Lampen nicht hereinfiel, und ihn zu beobachten. Delaunay war da und las; er legte einen Finger auf die Stelle und sah auf, als Alcuin hereinkam. 386 »Ja?« Sein Tonfall war höflich, aber es klang Zurückhaltung heraus. Ich kannte Delaunay, und er hatte nicht vergessen, was ich ihm gesagt hatte.
»Herr«, begann Alcuin leise. »Ihr habt noch nicht einmal danach gefragt, ob ich Euch meine vollendete Marque zeige.« Sogar aus der Entfernung konnte ich Delaunay blinzeln sehen. »Meister Robert Tielhard macht ausgezeichnete Arbeit«, erwiderte er, ohne recht zu wissen, was er sagen sollte. »Ich habe keinen Zweifel, dass sie wohl gezeichnet ist.« »Das ist sie.« In Alcuins Stimme schwang seltene Belustigung. »Aber Herr, die Schuld zwischen uns ist erst dann beglichen, wenn Ihr sie anerkennt. Wollt Ihr sie Euch nicht ansehen?« Er sprach die Wahrheit; in Einklang mit den Traditionen des Nachtpalais muss die Doyenne des Hauses die Marque eines Adepten anerkennen, bevor sie als vollendet registriert wird. Wie Alcuin davon erfahren hatte, weiß ich nicht. Vielleicht hatte er einfach nur gut geraten, obgleich er mich immer wieder damit überraschte, was er alles wusste. Delaunay, dem das mit Sicherheit bekannt war, legte sein Buch nieder. »Wenn du es wünschst«, erklärte er förmlich und erhob sich. Alcuin drehte sich ohne ein Wort um, knöpfte das lose Hemd auf, das er trug, und ließ es von den Schultern gleiten. Sein Haar war ungeflochten, er fasste es mit einer Hand und zog es über die Schulter, so dass es weiß und glänzend in einem dicken Strang über seine Brust fiel. Er hielt seine dunklen Augen hinter langen Wimpern in der Farbe matten Silbers verborgen. »Seid Ihr zufrieden, Herr?« »Alcuin.« Delaunay gab einen Laut von sich, der ein Lachen hätte sein können, es jedoch nicht war, nicht wirklich. Er hob die Hand und berührte die frisch gezeichneten Linien seiner Marque. »Schmerzt es?« 387 »Nein.« Mit der schlichten Anmut, die alles auszeichnete, was er tat, wandte sich Alcuin wieder um, legte beide Arme um Delaunays Hals und hob den Blick, um dem seines Lehrers zu begegnen. »Nein, Herr, es schmerzt nicht.« Im Korridor hielt ich die Luft so scharf an, dass sie durch meine Zähne zischte, aber keiner der beiden hörte es. Delaunay hob die Hände, um sie auf Alcuins Hüften zu legen, und ich erwartete, dass er seinen Schüler von sich stoßen würde; aber Alcuin erwartete es auch und nahm stattdessen Delaunays Kopf in beide Hände, um ihn zu küssen. »Alles, was ich getan habe«, hörte ich ihn flüstern, »habe ich für Euch getan, Herr. Wollt Ihr nicht dieses eine für mich tun?« Falls Delaunay darauf eine Antwort gab, hörte ich sie nicht; ich sah nur, dass er Alcuin nicht wegstieß, und das war genug. Ein Kummer, den ich nie in mir geahnt hatte, stieg in mir hoch, füllte meine Augen mit Tränen und trübte meinen Blick. Ich ging rückwärts und tastete mich mit einer Hand an der Wand entlang, da ich nichts mehr hören wollte. Ich bin keine romantische Närrin, die über Dinge schmachtet, die nie sein werden, und ich hatte seit meinem ersten Jahr in Naamahs Dienst gewusst, dass meine Talente nicht nach Delaunays Geschmack waren. Dennoch war es etwas anderes, zu erfahren, dass Alcuins es hingegen waren. Irgendwie fand ich die Treppe und stolperte zu meinem Schlafzimmer, und ich bin nicht stolz darauf, zuzugeben, dass ich viele bittere Tränen vergoss, bevor ich schließlich vom Weinen erschöpft einschlief. Am nächsten Morgen fühlte ich mich leer und ausgezehrt, ausgelaugt von der Kraft meiner eigenen Gefühle. Die leichten Schatten unter Alcuins Augen und das Lächeln zu sehen, das er zuvor nur einmal nach der Nacht mit Mierette nö Orchis gezeigt hatte, ließen es mich leichter ertragen. Ich hoffte beinahe, 388 ihn dafür hassen zu können, aber ich wusste nur zu gut, was er für Delaunay empfand. Wirklich zu gut. Was unseren Herrn betraf, so nahm er es ruhig auf, aber etwas in ihm hatte sich entspannt. Ich kann es nicht in Worte fassen; es war derselbe Ausdruck, der mir auf dem Land aufgefallen war. Delaunay ließ einem Teil seiner selbst, den er streng in Schach hielt, freien Lauf, um aufzuatmen. Es sprach aus seiner Stimme, aus jeder Bewegung, aus der Art, wie er einem Lächeln den Vortritt vor einem zynischen Stirnrunzeln ließ. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn es an jenem Tag keine Neuigkeiten aus La Serenissima gegeben hätte; hin- und hergerissen zwischen Langeweile und Verzweiflung war ich bereit, Delaunays Geduld auf die Probe zu stellen, und ich scherte mich wenig darum, ob er meine Marque verkaufen würde. Es ist schon seltsam, wie man auf einen Kummer zurückblicken kann, von dem man damals dachte, er würde einen umbringen, und gleichzeitig weiß, dass man noch nicht einmal den zehnten
Teil wahren Kummers erahnt hatte. Aber das kam später. Damals war mir lediglich so jämmerlich zu Mute, dass ich darüber krank wurde. Der Comte de Fourcay, Gaspar Trevalion, überbrachte die Nachricht. Seine Freundschaft mit Delaunay war seit dem Prozess stärker denn je, und er hatte diese Prüfung mit bewundernswerter Würde überstanden. Der Schatten des Verrats war nicht auf Fourcay gefallen. Die Neuigkeiten, die er vom Palast zu berichten wusste, waren gemischt. Prinz Benedicte hatte Vitale Bouvarre wirklich in Gewahrsam genommen; aber man hatte ihn erhängt in seiner Zelle aufgefunden, bevor sie ihm ein Geständnis entlocken konnten, und es ging das Gerücht um, dass der eigentliche Gefängniswärter durch einen Mann ersetzt worden sei, 389 der bei Dominic Stregazza Spielschulden hatte. Als man nach dem Mann suchte, entdeckte man seine Leiche in einem Kanal treibend. Er konnte auf keinen Fall ertrunken sein. Als man ihn herauszog, stellte man fest, dass jemand ihm die Kehle durchschnitten hatte. Offensichtlich war Prinz Benedicte kein Narr, denn er ließ nach seinem Schwiegersohn Dominic schicken. Aber Barquiel L'Envers - oder vielleicht sein Vetter - musste wohl befürchtet haben, dass es dem gerissenen Stregazza gelingen könnte, sich erfolgreich aus jeglicher Übeltat herauszulügen, was wohl der Wahrheit entsprochen hätte. Jedenfalls wurde Dominics Gefolgschaft auf offener Straße von einer Gruppe maskierter Reiter überfallen. Es waren todbringende Bogenschützen, die unbehelligt fliehen konnten und vier Tote zurückließen, von denen einer Dominic Stregazza war. »Es gibt Gerüchte«, erklärte Gaspar, »denen zufolge einer der Überlebenden akkadischen Schmuck auf einem der Pferde sah, Quasten am Zaumzeug oder so etwas in der Art. Und es heißt, Duc L'Envers habe während seiner Versetzung in das Kalifat die dortigen Sitten angenommen. Wisst Ihr irgendetwas darüber, Anafiel?« Delaunay schüttelte den Kopf. »Barquiel L'Envers? Ihr beliebt zu scherzen, alter Freund.« »Vielleicht. Aber ich habe auch gehört, dass Benedicte seinem Brief ein privates Postskriptum hinzufügte, in dem er darum bat, L'Envers zu der Sache zu befragen.« Er zuckte mit den Achseln. »Er könnte die Sache auch selbst mit Nachdruck verfolgen, hätte er in La Serenissima nicht noch andere Sorgen. Es gibt Gerüchte über einen neuen skaldischen Kriegsherrn. Alle Stadtstaaten von Caerdicca Unitas sind auf einmal unglaublich bemüht, militärische Bündnisse einzugehen.« »Wirklich?« Delaunay runzelte die Stirn. Ich wusste, dass er besorgt war, da er von Gonzago de Escabares seit dem höflichen Dankesschreiben für die Übersetzung, die ich für ihn angefertigt hatte, nichts mehr gehört hatte. »Nimmt Benedicte dieses Gerücht ernst?« »Ziemlich ernst. Er hat Percy de Somerville eine Nachricht geschickt, in der er ihn warnte, Augen und Ohren in Richtung Camlach offen zu halten. Wir haben Glück, den jungen d'Aiglemort und seine Verbündeten zu haben, die dort die Stellung halten.« »Durchaus«, murmelte Delaunay. Ich erkannte an seinem Tonfall, dass er ein wenig zurückhaltend war. »Man spricht also vonseiten der Stregazza nicht über Vergeltung?« »Nicht im Moment.« Gaspar Trevalion senkte die Stimme. »Unter uns, mein Freund, ich glaube nicht, dass Benedicte de la Courcel den Tod dieses Schwiegersohns übermäßig lange betrauern wird. Ich bin der festen Überzeugung, dass er ihm die Krallen selbst gezogen hätte, hätte er keinen Giftanschlag fürchten müssen.« »Und das zu Recht.« Delaunay äußerte sich nicht weiter über diese Bemerkung - ich wusste, was er damit meinte, und ich kann wohl behaupten, Gaspar Trevalion wusste es auch -, sondern lenkte das Gespräch auf andere Angelegenheiten. Ich wartete das Ende seines Besuchs ab, während meine Gedanken abschweiften. Die Disziplin des Nachtpalais hält mich in solchen Zeiten vor allem aufrecht, und nicht so sehr Delaunays Ausbildung. Es ist von großem Nutzen, fähig zu sein, zu lächeln und mit graziler Hand einzuschenken, während man ein gebrochenes Herz hat. Als der Comte de Fourcay endlich gegangen war, hatte ich die Gelegenheit, Delaunay zu konfrontieren. »Herr«, begann ich höflich. »Ihr sagtet, ich könnte den Dienst 390 391 Naamahs wieder aufnehmen, wenn diese Angelegenheit bereinigt sei.« »Sagte ich das?« Er sah mich erstaunt an; daran hatte er offensichtlich überhaupt nicht mehr gedacht, und ich nahm an, dass es ihm an Schlaf fehlte. »0 ja, das habe ich wohl. Nun gut, ich bin bereit, mich aufgrund dieser Nachricht an mein Wort zu halten - obgleich du nirgendwo ohne den Cassilinen
hingehen wirst, dass das klar ist.« »Ja, Herr. Gibt es Angebote?« »Einige wenige«, gab Delaunay trocken zurück, dabei hatte es viele gegeben. »Hattest du jemanden bestimmten im Sinn?« Ich atmete tief durch und sammelte mich, um es auszusprechen. »Ich habe eine Schuld bei Childric d'Essoms zu begleichen.« »D'Essoms!« Delaunay zog seine rostbraunen Augenbrauen zu einem Bogen zusammen. »Er machte erst in der vergangenen Woche ein Angebot, Phedre, aber ich beabsichtige, seine Wut abkühlen zu lassen, bevor er dich wieder sieht. D'Essoms hat ausgedient, wir werden nicht mehr aus ihm herausholen, es sei denn, Barquiel hat etwas vor, das ich nicht einschätzen kann. Aber das bezweifle ich. Er ist seine Allianz eingegangen und hat seine Rache bekommen. Er ist schlau genug, eine Zeit lang nicht von sich reden zu machen.« »Schickt mich, zu wem Ihr wollt, Herr«, erwiderte ich und meinte es auch so, »aber ich bin auch Naamahs Dienerin, und ich stehe für das, was ich in ihrem Dienst getan habe, in Childric d'Essoms' Schuld.« »Nun gut.« Delaunay blickte mich merkwürdig an. »Ich werde mich dir in dieser Sache nicht widersetzen. Ich werde dir die anderen Angebote zur Begutachtung schicken lassen und unterzeichne den Vertrag mit d'Essoms.« Er erhob sich, um mir übers Haar zu streichen, während die Neugierde in seinem 392 Blick einem Ausdruck der Sorge wich. »Bist du dir dessen ganz sicher?« »Ja, Herr«, flüsterte ich und floh vor seiner Berührung, bevor ich an meinen Tränen erstickte. Je weniger vielleicht von diesem Rendezvous gesagt wird, umso besser. Der Hinweis soll reichen, dass d'Essoms' Wut nicht abgekühlt war, und ich war froh darüber, denn es entsprach meiner Stimmung. Noch nie zuvor hatte ich meinen Dienst dazu benutzt, irgendwelchem Leid, das mich quälte, zu entfliehen, aber an jenem Tag tat ich es. In dem, was sich zwischen uns abspielte, lag keine Kunstfertigkeit, durch seine Wut und meinen Vertrag dazu ermächtigt, begrüßte mich d'Essoms mit einem kräftigen Schlag ins Gesicht. Ich wurde zu Boden geschleudert und schmeckte Blut, woraufhin der rote Schleier von Kushiels Pfeil mich mit gesegneter Erlösung überflutete. Ich tat alles, was er mir befahl, und mehr. Als er mich an das Kreuz band, spürte ich, wie die Maserung des Holzes meine Haut wie ein Liebhaber liebkoste. Beim ersten stechenden Kuss der Peitsche schrie ich auf, während ich vor hilfloser Lust erbebte. D'Essoms verfluchte mich und ließ die Peitsche mit Rage auf mich hinabprasseln, bis der Schmerz die Lust übertraf und ich wegen beiden weinte; von Schmerz, Schuld und Wut, Gram und Verrat erschüttert, ohne mehr die Art der Erlösung zu kennen, um die ich flehte. D'Essoms war zärtlich, als er mit mir fertig war, und das hatte ich nicht erwartet. »Nie wieder, Phedre«, flüsterte er, während er mich sanft in den Armen hielt und mit einem Schwamm das Blut des Striementeppichs abwusch, den er über meinen Rücken gelegt hatte. »Versprich mir, dass du mich nie wieder verraten wirst.« »Nein, Herr«, versprach ich, benommen vor Schmerz und Katharsis. Tief in meinem Innern hoffte ich, dass Delaunay 393 Recht hatte und nichts weiter aus Childric d'Essoms herauszuholen war. »Nie wieder.« Er murmelte etwas - ich weiß nicht, was - und fuhr fort, meine Striemen zu umsorgen und den Schwamm auf ihnen auszudrücken. Warmes Wasser rann über meine Haut, und ich fühlte mich gut, träge durch die Nachwirkungen des Ganzen und glücklich, dass mein erster Freiersmann mich immer noch begehrte. Dafür liebte ich ihn ein bisschen; ich konnte nichts dagegen tun, denn ich hatte meine Freiersleute immer ein bisschen geliebt. Zwar erzählte ich es Delaunay nie, aber ich glaube, er erriet es. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich ausgesehen haben muss, als ich d'Essoms' Empfangszimmer betrat. Ich humpelte ein bisschen, das weiß ich, aber es muss mehr als nur das gewesen sein, denn Joscelins Augen weiteten sich vor Schreck, und er sprang auf die Füße. »In Eluas Namen!«, hauchte er. »Phedre ...« Es mag Schmerz oder Schwäche gewesen sein, aber ich glaube fast, dass die bloße Unvorhergesehenheit, ihn meinen Namen auf diese Weise aussprechen zu hören, meine Knie zum Nachgeben brachte; wie auch immer, Joscelin war in zwei großen Schritten bei mir. Ohne großes
Getue hob er mich in seine Arme und machte sich zur Tür auf. »Joscelin.« Ich war verärgert, was meinen Kopf klar werden ließ. »Joscelin, lass mich herunter. Ich kann selbst laufen.« Er schüttelte den Kopf und machte seinem als stur bekannten Orden alle Ehre. »Nicht solange ich für dich verantwortlich bin!« Er machte eine Kopfbewegung zum livrierten Diener d'Essoms'. »Öffnet die Tür.« Als wir in den Hof hinaustraten, war ich froh, dass wir in d'Essoms' Stadthaus waren und nicht in seinen Gemächern im Palast; niemand außer einem verblüfften Stallburschen konnte 394 uns sehen, als Joscelin Verreuil, in typisch cassilinisches Grau gekleidet, mich zu Delaunays Kutsche trug, während mein sangoirefarbener Umhang über seine aschfarbenen und stahlgeschienten Arme hing. Ich versuchte, die Kraft dieser Arme und die Festigkeit der Brust, gegen die sie mich drückten, zu ignorieren. »Idiot!«, fauchte ich, als er mich vorsichtig in die Kutsche setzte. »Das hier ist meine Aufgabe!« Joscelin gab dem Kutscher die Anweisung, nach Hause zu fahren, setzte sich mir gegenüber und verschränkte mit einem grimmigen Blick die Arme über der Brust. »Wenn das deine Berufung ist, würde ich sehr gerne wissen, welche Sünde ich begangen habe, dass ich dazu beordert bin, dem beizuwohnen und tatenlos dabei zuzusehen!« »Ich habe nicht darum gebeten, dich dabeizuhaben.« Ich verzog das Gesicht, als die Kutsche sich in Bewegung setzte und ich gegen die Rückenlehne des Sitzes fiel. »Und du nennst mich einen Idioten«, brummte Joscelin. 395 Delaunay äußerte sich danach kaum über meinen Zustand. In seinem trockensten Tonfall bemerkte er nur, dass er froh sei, mich unzerstückelt wieder zu sehen, und bat mich, die Heilsalbe des yeshuitischen Arztes reichlich zu verwenden, was ich auch tat. Wie ich schon andeutete, heilt meine Haut sehr gut und schnell, und die Spuren von Childric d'Essoms' Zorn waren bald vollends verschwunden. Während der Zeit meiner Genesung von diesem Rendezvous - denn egal wie schnell meine Haut heilte, es schickte sich nicht, zu Freiersleuten zu gehen, wenn die Spuren eines anderen immer noch zu sehen waren - lud Delaunay zu einem Abendessen unter Freunden ein. Auch Thelesis de Mornay war unter den Gästen, und als sie einige Tage später wiederkam, nahm ich an, sie wolle Delaunay besuchen, aber ich täuschte mich. Offenbar war sie vorbeigekommen, um mich zu der Darbietung einer Schauspieltruppe einzuladen, die ein Stück aufführte, das von einem ihrer Freunde geschrieben worden war. 396 Niemand außer Hyacinthe hatte mich je um meiner Gesellschaft willen eingeladen, und es versetzte mich in helle Aufregung. »Darf ich gehen, Herr?«, fragte ich Delaunay und kümmerte mich nicht darum, dass er den flehenden Ton in meiner Stimme hörte. Er zögerte und runzelte die Stirn. »Bei mir ist sie sicher, Anafiel.« Thelesis schenkte ihm das sanfte Lächeln, das ihre dunklen, leuchtenden Augen erhellte. »Ich bin des Königs Dichterin und stehe unter Ganelons persönlichem Schutz. Niemand wäre so leichtsinnig, damit zu spaßen.« Ein sanfter Stich, wie von einer alten Wunde, durchzuckte Delaunays Gesicht. »Ihr habt Recht«, willigte er ein. »Nun gut. Aber du«, fügte er hinzu, während er mit dem Finger auf mich zeigte, »wirst dich benehmen.« »Ja, Herr!« Ich vergaß ganz, dass ich ihm immer noch böse war, küsste ihn auf die Wange und rannte los, um meinen Umhang zu holen. Ich hatte im Vorhof der Nacht schon oft Schauspieler gesehen und sie Teile aus diesem oder jenem neuen Stück der Saison vortragen hören, aber ich hatte noch nie eine wahre Theateraufführung gesehen. Das Ereignis schlug mich in seinen Bann. Das Stück wurde im alten hellenischen Stil aufgeführt, mit Schauspielern, die atemberaubende Masken trugen, und in den Versen hallte die reinste Poesie wider. Alles in allem gefiel es mir ausgesprochen gut. Als es vorbei war, glühte ich vor Aufregung und dankte Thelesis wohl mindestens ein dutzend Mal. »Ich dachte mir schon, dass es dir gefallen würde«, sagte sie lächelnd. »Japheths Vater war ein Adept des Eglanteria-Hauses, bevor er heiratete. Es ist das erste Stück, das außerhalb des Nachtpalais geschrieben wurde und in dieser Weise von Naamahs Geschichte erzählt. Möchtest du ihn gerne kennen lernen?«
397 Ich ging mit ihr zu den Garderoben der Schauspieler hinter der Bühne. Im Gegensatz zu der gut inszenierten Darbietung herrschte in den Umkleideräumen das reinste Chaos. Die Masken wurden mit großer Sorgfalt behandelt - Schauspieler sind in solchen Dingen sehr abergläubisch -, aber Kleidungsstücke und Requisiten wurden hierhin und dorthin geworfen, und der Lärm der sich kabbelnden Schauspieler vermischte sich mit der triumphierenden Rezitation der Aufführung. Ich erkannte den Schriftsteller sofort, denn er war als Einziger dunkel gekleidet. Als er Thelesis erblickte, kam er mit ausgestreckten Armen und strahlenden Augen auf sie zu. »Meine Liebe!«, rief er aus und gab ihr den Willkommenskuss. »Wie hat es Euch gefallen?« »Es war wunderbar.« Sie lächelte ihn an. »Japheth nö Eglan-teria-Vardennes, das ist Phedre nö Delaunay, der das Stück ebenfalls sehr gut gefallen hat.« »Es ist mir ein Vergnügen.« Japheth küsste mir die Hand wie ein Höfling. Er war jung und gut aussehend, mit lockigem, kastanienbraunem Haar und braunen Augen. »Wollt Ihr nicht im >Maske und Laute< zu uns stoßen?«, fragte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder eifrig Thelesis zu. »Wir wollten den großen Erfolg unserer Premiere feiern.« Bevor sie antworten konnte, gab es einen kleinen Tumult an der Tür. Einer der Schauspieler gab einen kleinen Schrei von sich, und über ihre Garderoben breitete sich Schweigen aus, als ein großer, höfisch elegant gekleideter Mann hereinkam. Ich erkannte ihn an seinem langen, intelligenten Gesicht und an seiner Angewohnheit, mit einem parfümierten Taschentuch um seine Nase herumzuwedeln: Seigneur Thierry Roualt, des Königs Kulturminister. Japheth fasste sich wieder und verbeugte sich. »Messire Roualt«, sagte er vorsichtig. »Es ist uns eine Ehre.« 398 »Ja, natürlich.« Der Kulturminister schwenkte sein Taschentuch und klang gelangweilt. »Euer Stück war nicht ungefällig. Ihr werdet es in fünf Tagen vor Seiner Majestät aufführen. Mein Staatssekretär wird alles Weitere mit Euch besprechen.« Ein erneutes Winken mit dem Taschentuch. »Guten Abend.« Sie hielten den Atem an, bis er wieder gegangen war, und brachen dann in Jubelrufe und Umarmungen aus. Japheth grinste Thelesis an. »Jetzt müsst Ihr Euch uns anschließen!« Das »Maske und Laute« war ein Schauspielhaus, zu dem nur Angehörige der Gilde und ihre Gäste Zutritt hatten. Als des Königs Dichterin wäre Thelesis de Mornay natürlich jederzeit willkommen gewesen, aber ich wäre nicht alleine eingelassen worden und war so über diese Gelegenheit beglückt. Ich setzte mich, nippte an meinem Wein und wunderte mich darüber, dass die Schauspieler weiterhin wie Kinder ihre Streitigkeiten und dramatischen Auseinandersetzungen pflegten, während sie doch auf der Bühne eine solche Kraft ausstrahlten. Das Ganze erinnerte mich an die bitteren Rivalitäten, die hinter den Kulissen des Cereus-Hauses zwischen den Adepten herrschten. Daher war ich nicht besonders aufmerksam, als Japheth und Thelesis de Mornay über Poesie sprachen, aber als sich ihre Unterhaltung der Politik zuwandte, horchten meine von Delaunay ausgebildeten Ohren auf. »Ich hörte ein Gerücht«, begann er und senkte die Stimme. »Eine Schauspielerin aus meiner Truppe erfuhr es vom Kämmerer des Geheimen Staatsrats, der in sie verliebt ist. Es heißt, Duc d'Aiglemort habe sich im Geheimen mit dem König getroffen und um die Hand der Dauphine gebeten. Ist das wahr?« Thelesis schüttelte den Kopf. »Davon weiß ich nichts. Aber ich habe auch keine Kontakte zum Staatsrat«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Nun ja.« Japheth schnitt eine Grimasse. »Wer hätte das 399 schon, ginge es nicht um den Nutzen, den solcher Tratsch bringen kann? Aber ich bat sie, einstweilen Stillschweigen darüber zu bewahren. Ich möchte unsere Chance nicht aufs Spiel setzen, vor dem König zu spielen.« »Und Ihr werdet das in großartiger Weise tun.« Ich hielt ganze drei Sekunden meinen Mund, vermochte dann aber doch nicht zu widerstehen. »Was war des Königs Antwort?«, fragte ich so unschuldig, wie ich nur konnte. »Er lehnte ab, nannte jedoch keinen Grund.« Japheth zuckte die Achseln. »So hat er es bei allen Bewerbern getan. Das habe ich zumindest gehört. Vielleicht dachte d'Aiglemort, man schulde ihm eine Gunst, weil er Haus Trevalion vor Gericht gebracht hat. Und vielleicht hat man ihm auch eine geschuldet, nur nicht diese.« Damit lenkte er das Gespräch auf andere Angelegenheiten. Obgleich ich weder Dichterin noch Schauspielerin war und ihrem Gespräch nicht gänzlich folgen
konnte, war ich doch belesen genug, um die Unterhaltung und den ganzen Abend vollauf zu genießen. Als Thelesis' Kutsche mich zurück zu Delaunays Haus brachte, dankte ich ihr noch einmal. Sie schenkte mir ihr warmes Lächeln und nahm meine Hände in die ihren. »Es hat mich gefreut, dich ein wenig aufzumuntern, Phedre«, sagte sie freundlich. »Ich kenne Anafiel Delaunay schon sehr lange. Wenn er dir im Grunde deines Herzens etwas bedeutet, dann urteile nicht zu streng über ihn. Er hat in seinem Leben schon vieles verloren, und seine Verse sind nicht das Unwesentlichste davon. Gäbe es da ... nun, einige Umstände, wäre möglicherweise er und nicht ich des Königs Dichter. Alcuin ist gut für ihn, auch wenn Delaunay es vielleicht selbst nicht weiß. Gönne ihm dieses kleine Glück.« »Ich werde es versuchen, Herrin«, versprach ich, durch ihre Güte beschämt. Sie lächelte wieder und wünschte mir eine gute Nacht. Wäre später nicht etwas ganz Bestimmtes passiert, hätte ich vielleicht den Neuigkeiten des Dramatikers keine Aufmerksamkeit geschenkt. Natürlich erzählte ich Delaunay davon, den diese Nachricht nicht überraschte; er war vielmehr darüber überrascht, dass Isidore d'Aiglemort so lange gewartet hatte, seinen Antrag zu stellen. Was er von der Antwort des Königs hielt, weiß ich nicht, außer dass er nichts anderes erwartet hatte. Und damit hätte ich die Angelegenheit aus meinen Gedanken verbannt, wäre nicht am nächsten Tag eine Einladung für Delaunay gekommen, in der er gebeten wurde, der Aufführung von Japheth nö Eglanteria-Vardennes' Naamah-Passion vor dem König beizuwohnen. Da er Delaunay war, machte er sich nicht viel daraus; es war nicht das erste Mal, dass er an den Hof geladen wurde. Aber ich sah, dass die Einladung das Siegel von Haus Courcel trug. Wie sich die Dinge ergaben, stand ich am Tag der Darbietung unter Vertrag, das Versprechen gegenüber Messire Rogier Clavel einzulösen, der mit dem Duc L'Envers aus Khebbel-im-Akkad zurückgekehrt war. Ich freute mich schon darauf, denn ich würde mich nicht allzu sehr anstrengen müssen, und ich hoffte, dass seine zweite Freiergabe der ersten entsprechen würde. Er hatte angeboten, seine eigene Kutsche zu schicken, was Delaunay ausgeschlagen hatte, aber nachdem die Einladung gekommen war, ließ er Clavel eine Nachricht zukommen, um sein Angebot anzunehmen. Er nannte mir dafür keinen Grund, aber ich wusste, er brauchte sein Gespann. Es wäre nicht schicklich, verschwitzt und zu Pferde bei einer königlichen Audienz zu erscheinen. Joscelin würde mich natürlich begleiten. Wir hatten seit meinem Rendezvous mit Childric d'Essoms nur wenig mitei400 401 nander gesprochen, aber ich wusste, dass er mit seiner Stellung nicht glücklicher war als zuvor. Er sollte mit Rogier Clavel ganz zufrieden sein, dachte ich, dessen Begierden leicht zu befriedigen waren. So kam es, dass sich Joscelin in Seigneur Clavels Gemächern - die um einiges eleganter waren als jene, die er zuvor bewohnt hatte, wie ich bemerkte - die Beine in den Bauch stand, während wir uns vergnügten. Ich kann wohl behaupten, dass Seigneur Clavel höchst zufrieden war, und auch wenn ich nicht immer ganz bei der Sache war, bemerkte er es zu keinem Zeitpunkt. Ich persönlich konnte nicht anders, als an die Aufführung von Japheths Stück im Palasttheater und Delaunays rätselhafte Einladung, dieser beizuwohnen, zu denken. Rogier Clavel zog Rendezvous am Nachmittag vor, und ich wusste sehr genau, wann die Stunde gekommen war, in der die Aufführung beginnen sollte. Es war früher Abend, und wir hatten gerade unser Schäferstündchen beendet; ich wedelte ihm Luft zu, während er auf den weichen Kissen lag und der Glanz der Anstrengung auf seiner Haut trocknete. Als er seine Robe überzog und zu seiner Geldtruhe ging, kam mir eine Idee. »Danke, Herr«, sagte ich leise und band den großzügigen Beutel an meinem Hüftgürtel fest. »Du hast dein Wort mehr als gehalten.« Er sah mich begierig an. »Und ich ebenfalls, Phedre. Der König hat mir ein Anwesen in L'Agnace übereignet. Glaubst du, dein Herr würde mir möglicherweise erlauben, dich wieder zu sehen?« »Vielleicht.« Ich beäugte ihn nachdenklich. »Messire Clavel, sagt mir, gibt es noch einen anderen Ausgang aus diesen Gemächern?« »Es gibt natürlich den Bedienstetengang zu den Küchen.« Er blinzelte mich an. »Warum fragst du?« Ich hatte längst darüber nachgedacht und bereits eine Ant402 wort parat. »Es gibt da ... jemanden ... den ich sehen muss, jemanden, der Delaunay ein Angebot gemacht hat«, erwiderte ich und ließ meine Stimme zögerlich klingen, um anzudeuten, es handele sich
um einen Freiersmann, dessen Namen ich nicht zu nennen wagte. »Er würde es übel nehmen, einen Cassi-linischen Mönch vor der Tür vorzufinden, aber sie sind so unnachgiebig in ihrem Dienst. Dennoch bat mich Delaunay, die Nachricht, wenn möglich, in Abwesenheit des Cassilinen zu überbringen.« »Ich könnte die Nachricht für Euch schicken lassen.« »Nein!« Ich schüttelte beunruhigt den Kopf. »Mein Herr, die Dienerinnen Naamahs sind für ihre Diskretion bekannt. Ich bitte Euch, stellt meine nicht auf die Probe. Aber wenn Ihr Eure Kutsche zum Westflügel schicken und Bruder Verreuil bitten könntet, mich dort zu treffen, stünde ich ... oder vielleicht andere in Eurer Schuld.« Rogier Clavel grübelte darüber nach, und ich konnte sehen, wie er die möglichen Risiken und Vorteile abwägte. Die Vorteile gewannen schließlich die Oberhand, und er nickte, so dass sein beleibtes Kinn bebte. »Nichts leichter als das. Du wirst bei Delaunay ein gutes Wort für mich einlegen?« »Natürlich.« Ich schwang mir meinen Umhang um die Schultern, lächelte und küsste ihn auf die Wange. »Das werde ich gerne tun, Herr.« Ich behaupte nicht, den Palast so gut zu kennen wie diejenigen, die hier leben, aber ich dachte, er sei mir vertraut genug, um den Weg zu des Königs Theater im Westflügel zu finden. Es war ein riesiger und eindrucksvoller Bau, den sogar Besucher aus der Provinz nur schwerlich verfehlen konnten. Aber ich war mit den Gängen der Dienstboten doch nicht ausreichend vertraut, die um einiges enger und schlechter beleuchtet waren als die Hauptgänge, und verirrte mich schließlich in ihnen. 403 Dennoch fand ich irgendwann einen Ausgang in den Palast selbst und stolperte in eine leere Halle. Das plötzlich erstrahlende Licht ließ mich blinzeln. Um die Ecke näherten sich Stiefeltritte; zwei Männer, wie ich nach dem Klang vermutete, die sich schnell bewegten. Ich hörte ihre Stimmen, bevor ich sie erblickte. »Bei Camaels Schwert!«, rief eine der Stimmen aus, fuchsteufelswild vor Widerwillen. »Ich verlange wirklich nicht viel für den Schutz des Reiches. Man sollte meinen, der alte Narr schulde mir etwas!« »Vielleicht hat er Recht, Isidore. Glaubst du wirklich, die Ruhmesreiter würden dir folgen, nachdem du Baudoin verraten hast?«, fragte die zweite Stimme zaghaft. »Außerdem kommen sie nicht aus Camlach.« »Es sind einhundert Krieger, allesamt dazu ausgebildet, in den Bergen zu kämpfen. Sie wären mir gefolgt, wenn ich sie anführte. Nur eine Hand voll von ihnen, und wir wären sie bald alle losgeworden. Aber was soll's, ich werde in den Dörfern Soldaten rekrutieren, wenn ich muss. Dann wollen wir mal sehen, wie es Courcel gefällt, wenn die Landbevölkerung der D'Angelines anfängt, in seinem Namen zu sterben. Dann wird er mir die Ruhmesreiter schon geben.« Isidore d'Aiglemort kam um die Ecke geschritten und hielt inne, als er mich erblickte. »Warte, Villiers«, sagte er und hob eine Hand in Richtung seines Begleiters. Da mir nichts anderes zu tun übrig blieb, machte ich einen schnellen Knicks und ging mit gesenktem Kopf weiter, doch d'Aiglemort packte mich am Arm und sah mich streng an. »Wer seid Ihr, und wohin seid Ihr unterwegs?« »Ich bin in Naamahs Angelegenheiten unterwegs, Herr.« Er betrachtete meinen Umhang von oben bis unten und erforschte meine Augen, und Letzteres erkannte er schließlich. »So scheint es. Ich habe Euch schon einmal gesehen, nicht wahr? Ihr habt Baudoin de Trevalion joie angeboten, in der Nacht der Wintersonnenwende.« Er ließ meinen Arm los, der sich immer noch so anfühlte, als würde er die Abdrücke seiner Finger tragen. Seine Augen funkelten mich an, wie Eis auf schwarzem Felsen. »Dann behaltet Naamahs Stillschweigen und achtet darauf, mir nicht dasselbe Glück zu bringen, kleine Adeptin, denn ich bin in Camaels Angelegenheiten unterwegs.« »Ja, Herr.« Ich knickste erneut, wahrhaft verängstigt und diesmal dankbar, dass ein Adliger des Reichs keinen Grund hatte, mich als Delaunays anguisette zu erkennen. Sie gingen weiter, und d'Aiglemorts Begleiter - der Comte de Villiers, nahm ich an - warf mir noch einen kurzen Blick über die Schulter zu. Dann waren sie verschwunden. Hätte ich mich nicht verirrt, wäre ich möglicherweise zu erschüttert gewesen, um meinen Plan weiterzuverfolgen, aber so wie die Dinge standen, hatte ich keine andere Wahl, als mich auf den Weg zum Westflügel zu machen. Bis ich dort ankam, hatten sich meine Nerven wieder beruhigt, und die Neugierde gewann die Oberhand. Eine Sache hatte ich jedoch vergessen; dies war der Palast, und Angehörige der königlichen Garde
standen an jedem Eingang zum Theater stramm und mit aufrechten Speeren. Aus sicherer Entfernung blickte ich in das verdunkelte Theater und sah die Schauspieler auf der Bühne, die von einem raffinierten System aus Fackeln und Leuchten erhellt wurden, aber ich konnte die Gesichter im Publikum nicht erkennen. Dennoch war ich in der Lage, einen Blick auf die königliche Loge zu erhaschen, die leer stand. Enttäuscht wandte ich mich ab, um mich auf den Weg zu den Westtüren zu machen, die aus dem Palast herausführten. 404 405 Ich bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie Delaunay aus dem Theater kam und auf eine Notiz in seiner Hand blickte. Wenn ich weiterging, würde er mich entdecken. Ich dachte schnell nach, nahm meinen sangoire ab, faltete ihn über den Arm und eilte zielstrebig zur Rückseite des Theaters. Wenn dieses hier genauso aufgeteilt war wie das andere, konnte ich mich in den Garderoben der Schauspieler verstecken, denn ich wollte gar nicht an Delaunays Wut denken, wenn er mich hierbei erwischte. Da würde ich es lieber mit Isidore d'Aiglemort aufnehmen, wenn es dazu käme. Glücklicherweise hatte ich richtig geraten und fand die erste Loge der Umkleideräume offen und unbesetzt vor, abgesehen von dem mir nun vertrauten, aufgehäuften Durcheinander an Requisiten und Kleidungsstücken. Hinter der nächsten Tür konnte ich einen lauten Tumult vernehmen, aber dieser Raum schien von der Bühne weit genug entfernt zu sein, um während der Aufführung unbenutzt zu bleiben. Die Logen hier waren wahrscheinlich geräumiger als diejenigen, die sie sonst gewohnt waren. In dieser stand ein wuchtiger, mit Bronze umfasster Spiegel, der größer war als ich und sicherlich einiges gekostet haben musste. Ich hielt inne, um mich in ihm zu betrachten und meine Fassung wiederzuerlangen, als der Spiegel wie eine Tür auf geschickt verborgenen Angeln aufsprang. Zwischen Delaunay im Eingang und dem Unbekannten jenseits des Spiegels standen mir nur wenige Möglichkeiten offen. Wenn ich mich nicht ausgerechnet im Palast des Königs befunden hätte, dann hätte ich mich Japheth nö Eglanteria-Vardennes anvertraut, damit er mich versteckte, aber ich wagte nicht, dieses Risiko hier einzugehen. Ich entschied mich für die einzig mögliche Zuflucht und kroch unter einen Stuhl, der über und über mit Kleidern verhangen war. Aus meinem Versteck hervor griff ich nach einem Schild aus Pappe und zerrte es vor 406 die Stuhlbeine. Zusammengekauert und eingeengt betete ich schließlich zum Heiligen Elua, mein Schlupfwinkel möge mir ausreichend Schutz bieten. Zwischen dem Rand des Schilds und einem herunterhängenden Kleid aus billigem Stoff klaffte noch ein kleiner Spalt. Ich wollte gerade an dem Stoff ziehen, um ihn zu verdecken, als ich innehielt und stattdessen durch den Spalt nach draußen lugte. Der Spiegel öffnete sich nach außen und warf ein merkwürdig verzerrtes Bild des Umkleideraums zurück. Ich konnte mein Versteck sehen, aber meine Person war in dem glitzernden, mit Kleidern verhangenen Schatten hinter dem Stuhl nicht zu erkennen. Eine große, schlanke Frau schlüpfte in den Raum. Sie trug einen schweren Umhang mit einer tief sitzenden Kapuze, die ihre Gesichtszüge verschleierte, aber an der Art, wie sie sich bewegte, als sie die Geheimtür hinter sich schloss, erkannte ich, dass es eine junge Frau sein musste. Anafiel Delaunay betrat den Raum. Ich verriet mich beinahe mit einem überraschten Aufschrei und hielt den Atem an, um ihn zu unterdrücken. Delaunay ließ den Blick vorsichtig durch den Raum schweifen und neigte den Kopf vor der verhüllten Frau. »Ich bin aufgrund dieser Botschaft hier«, sagte er schlicht und hielt sie ihr hin. »Ja.« Die Stimme der Frau war jung, wenn auch gedämpft in den Tiefen ihrer Kapuze. Sie verschränkte die Hände in den Ärmeln und nahm die Nachricht nicht an sich. »Ich bin ... meine Herrin bittet mich, Euch zu fragen, welche Neuigkeiten Ihr von ... einer gewissen Angelegenheit habt.« »Einer gewissen Angelegenheit«, wiederholte Delaunay. »Wie kann ich sicher sein, wem Ihr dient, gnädige Frau?« Von meinen Versteck aus konnte ich erkennen, dass sie die Hände in den Ärmeln nervös knetete. Für einen kurzen Moment streckte sie eine Hand aus und reichte ihm etwas 407 Glänzendes. Es war ein Goldring, so viel konnte ich ausmachen. Delaunay nahm ihn, und sie zog die Hand rasch zurück. »Kennt Ihr diesen Ring?«, fragte sie. Mein Herr begutachtete ihn von allen Seiten. »Ja«, erwiderte er dann fast unverständlich.
»Ich ... meine Herrin bittet mich, Euch zu fragen, ob es wahr ist, dass Ihr auf diesen Ring einen Eid geschworen habt?« Delaunay sah zu ihr auf, und die Gefühle, die in sein Gesicht geschrieben waren, schienen zu zahlreich und zu vielschichtig, um sie zu deuten. »Ja, Ysandre«, sagte er sanft. »Es ist wahr.« Sie hielt den Atem an, hob die Hände und warf die Kapuze zurück, und ich erblickte das blassgoldene Haar von Ysandre de la Courcel. »Ihr habt es gewusst!«, rief sie, und jetzt da sie nicht länger gedämpft wurde, erkannte ich auch ihre Stimme. »Dann sagt mir, welche Neuigkeiten Ihr habt.« »Es gibt keine.« Delaunay schüttelte den Kopf. »Ich warte auf Nachricht von Quintilius Rousse. Ich hätte Ganelon in Kenntnis gesetzt, sobald sie mich erreicht hätte.« »Mein Großvater.« In ihrer Stimme lag ein scharfer Unterton, und die Dauphine ging rastlos hin und her, obgleich ich wusste, dass ihr Blick unentwegt auf Delaunay gerichtet war. »Mein Großvater benutzt Euch und hält mich von Euch fern. Aber ich wollte Gewissheit haben. Ich wollte wissen, ob es wahr ist.« »Herrin«, wandte Delaunay in demselben sanften Ton ein, »es ist für Euch gefährlich, hier zu sein, und dies ist auch kein sicherer Ort, um über ... diese Angelegenheit zu sprechen.« Sie lachte, und eine Spur von Bitterkeit lag darin. »Mir stand kein besserer zur Verfügung. Seit dem Tod meiner Mutter lebe ich in den Königinnengemächern. Vor etwa hundert Jahren gab es eine Königin, die in Liebe zu einem Schauspieler entbrannt war. Josephine de la Courcel. Sie ließ diesen Geheimgang bauen.« Sie ging zur Spiegeltür und betätigte das verborgene Schloss, um sie zu öffnen. Ich konnte sehen, dass Delaunay leicht die Brauen hob. »Messire Delaunay, in dieser Sache bin ich ganz alleine, ohne Freunde, die mir beistehen, und ohne die Möglichkeit, zu wissen, wem ich vertrauen kann. Wenn Ihr Euren Eid in Ehren haltet, wollt Ihr mir dann nicht zur Seite stehen?« Delaunay verbeugte sich, was er nicht getan hatte, als sie die Kapuze zurückzog. Dann richtete er sich wieder auf und gab ihr den Ring zurück. »Herrin, ich stehe Euch zu Diensten«, erwiderte er leise. »Dann kommt mit mir.« Sie verschwand hinter dem Spiegel und damit aus meinem Blickfeld. Delaunay folgte ihr, ohne zu zögern. Der Spiegel schloss sich hinter den beiden und verschmolz erneut nahtlos mit der Wand. Ich kauerte noch einige Minuten in meinem unbequemen Versteck unter dem Stuhl, bis ich sicher sein konnte, dass sie gegangen waren. Dann schob ich das Pappschild zur Seite, kroch aus meinem Schlupfwinkel und sah in den Spiegel, um zu überprüfen, ob ich so fassungslos dreinblickte, wie ich mich fühlte. Es war tatsächlich so. Ich atmete einmal tief durch, fasste mich wieder und wappnete mich, die Westtüren zu finden und mich der nächsten Konfrontation zu stellen. Diese kam mir in Gestalt eines hocherzürnten Cassilinischen Mönches entgegen. Ich hatte Joscelin schon mehrmals blass vor Wut gesehen, doch diesmal schien er geradezu einem Tobsuchtsanfall nahe, als er neben Rogier Clavels Kutsche wartete. »Ich werde nicht zulassen«, begann er mit wuterstickter Stimme, »dass mein Eid kompromittiert wird, weil du ...« »Joscelin«, schnitt ich ihm das Wort ab. Ich fühlte mich von der andauernden Anspannung ausgelaugt und erschöpft. »Hat 408 409 sich dein Orden nicht dazu verschworen, die Nachfahren Eluas zu schützen?« »Du weißt genau, dass es so ist«, erwiderte er unsicher, weil er den Zweck meiner Frage nicht erraten konnte. Ich war zu müde, um mich noch darum zu bekümmern. »Dann halte den Mund und stelle keine Fragen. Denn was ich heute gesehen habe, könnte Haus Courcel höchstpersönlich in Gefahr bringen. Und wenn du so närrisch bist, Delaunay davon zu erzählen, wird uns das beide den Kopf kosten.« Damit stieg ich in die Kutsche und machte es mir für die Fahrt nach Hause bequem. Nach einem kurzen Augenblick gab Joscelin dem Kutscher die Anweisung loszufahren und setzte sich zu mir. Sein Blick zeugte noch immer von seiner Wut, aber es lag noch etwas anderes darin: Neugierde. 410 Delaunay kam erst in den frühen Morgenstunden zurück und war am nächsten Tag schweigsam und nachdenklich. Ich war überzeugt, Joscelin würde ihn von meinem Verschwinden unterrichten, aber ich
täuschte mich. Ungeachtet der Kälte führte er seine Übungen mit einer unbeirrbaren Konzentriert-heit aus und zeichnete mit den Zwillingsklingen seiner Dolche kunstvolle Stahlmuster in die Luft. Ich stand in meine wärmsten Kleider gehüllt frierend auf der Terrasse und wartete auf ihn. Als er fertig war, steckte er die Klingen zurück in die Scheiden und kam zu mir, um mit mir zu sprechen. »Schwörst du, dass du nichts von mir verlangst, das meinen Eid in irgendeiner Weise entehrt?«, fragte er mich mit ruhiger Stimme. Nach all dieser körperlichen Anstrengung war er noch nicht einmal außer Atem, schon das Herumstehen in der Kälte machte mir das Luftholen schwer. Ich nickte. »Ich schwöre es«, erwiderte ich und versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern. »Dann werde ich nichts sagen.« Er hob seine ge\ 411 panzerte Hand und streckte einen Finger aus. »Dieses eine Mal. Wenn du mir außerdem schwörst, mich nicht noch einmal zu täuschen, während du unter meinem Schutz stehst. Was auch immer ich darüber denken mag, ich werde dich nicht daran hindern, dein Gelöbnis Naamah gegenüber zu erfüllen, Phedre. Ich habe im Namen Cassiels gelobt, zu beschützen und zu dienen, und ich verlange nichts weiter, als dass du mein Gelübde so respektierst wie ich deines.« »Ich schwöre es«, wiederholte ich. Ich rieb mir die Arme, um mich vor der Kälte schützen. »Wollen wir nicht hineingehen?« Ein prasselndes Kaminfeuer brannte in der Bibliothek, die von allen Räumen im Haus stets der wärmste war, so dass wir uns dort versammelten. Delaunay war nicht da, aber Alcuin las am großen Tisch, auf dem Bücher und Schriftrollen verstreut lagen. Er lächelte kurz, als wir eintraten. Ich setzte mich ihm gegenüber und warf einen Blick auf seine Forschungen, in denen ich Verweise in vielen verschiedenen Sprachen und unter ebenso vielen Namen auf den Gebieter der Meeresstraße erkannte. »Du glaubst, sein Rätsel lösen zu können?« Ich hob die Augenbrauen. Alcuin zuckte mit den Achseln und grinste mich an. »Warum nicht? Bisher ist es niemand anderem gelungen.« »Du meinst Delaunay?«, fragte Joscelin und ließ den Blick über die Bücherregale schweifen. Er nahm einen Band heraus und betrachtete ihn nachdenklich, während er den Kopf schüttelte. »Eins ist sicher, dies ist die Bibliothek eines Edelmanns aus Siovale. Er hat hier alles außer dem Verlorenen Buch Raziels. Kann Delaunay eigentlich yeshuitische Schrift lesen?« »Wahrscheinlich«, erwiderte ich. »Schätzen alle aus Siovale Bildung?« »Jedes Jahr im Frühling kam ein alter aragonischer Philo412 soph über das Gebirge gewandert, um unser Gut aufzusuchen«, erzählte uns Joscelin, während er das Buch zurücklegte, und ein Lächeln erhellte bei dieser Erinnerung sein Gesicht. »Während die Kirschbäume in voller Blüte standen, diskutierten er und mein Vater sieben geschlagene Tage lang darüber, ob das Schicksal eines Menschen unumstößlich sei oder nicht. Dann machte er wieder kehrt und ging nach Aragonia zurück. Ich wüsste gerne, ob sie diese Frage je geklärt haben.« »Wie lange warst du nicht mehr zu Hause?«, erkundigte sich Alcuin neugierig. Als hätten wir ihn bei etwas erwischt, wurde Joscelin wieder ganz förmlich. »Mein Zuhause ist, wo meine Pflicht ruft.« »Oh, sei nicht so ein verdammter Cassiline«, murrte ich. »Gehe ich also richtig in der Annahme, dass es dir als sein Landsmann nicht gelungen ist, weitere Informationen aus Delaunay herauszubekommen?« Joscelin hielt inne und schüttelte dann den Kopf. »Nein«, gab er reumütig zu. »Meine älteste Schwester würde es wissen. Sie hat einmal einen Stammbaum von allen Nachfahren Shemhazais angefertigt, mit allen Großen und Kleinen Häusern Siovales. Sie könnte dir im Handumdrehen sagen, welche Linie in einem Rätsel endet.« Er setzte sich und kratzte sich geistesabwesend unter den Schnallen seiner linken Armschiene. »Elf Jahre«, fügte er leise hinzu, »ist es her, seit ich meine Familie das letzte Mal gesehen habe. Wir legen unser Gelübde mit zwanzig ab. Ich darf sie mit fünfundzwanzig besuchen, wenn der Vorsteher befindet, dass ich in meinen ersten fünf Jahren gut gedient habe.« Alcuin pfiff durch die Zähne. »Ich habe dir doch gesagt, dass es ein harter Dienst ist«, erinnerte ich ihn. »Und wie steht es mit dir? Was kannst du in diesen Tagen zu dem Rätsel Anafiel Delaunays beitragen?« 413 Ich hatte versucht, den Rat von Thelesis de Mornay zu beachten, aber der hatte Delaunay betroffen
und nicht Alcuin, und die aufgestaute Eifersucht schwelte unter meinen Worten. Wenn ich mir nicht schon zuvor genügend Fragen gestellt hatte, so stellte ich mir nun, nach all dem, was ich gestern gesehen hatte, noch etliche mehr. In welchem Verhältnis stand Haus Courcel zu Delaunay, dass Ganelon auf seine Dienste zurückgriff, und wie tat er es? Was wollte Ysandre de la Courcel von ihm, und was war diese »gewisse Angelegenheit«, die sie mit ihm zu besprechen wünschte. Welchen Eid hatte er geschworen und auf wessen Ring? Auch wenn Alcuin keinesfalls ahnen konnte, welche Fragen mir unentwegt im Kopf herumgingen, wusste er doch sehr genau, woher meine Feindseligkeit rührte. Aber er saß einfach nur da und betrachtete mich mit seinen ernsten, dunklen Augen. »Du weißt es«, sagte ich, als es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. »Er hat es dir gesagt.« Wut stieg in mir auf, und ich stieß die nächstbesten Bücher beiseite. »Verdammt, Alcuin! Wir haben uns immer, immer versprochen, alles, was wir je in Erfahrung bringen sollten, mit dem anderen zu teilen!« »Das war, bevor ich darüber im Bilde war.« Mit ruhiger Hand entfernte er die brüchigsten Schriftrollen aus meiner Reichweite. »Phedre, ich schwöre dir, ich weiß nicht alles. Nur was ich muss, um ihn bei seinen Nachforschungen unterstützen zu können. Und ich habe ihm nur versprochen, es dir nicht zu sagen, bis deine Marque vollendet ist. Es ist doch fast so weit, oder nicht?« »Willst du sie dir ansehen?«, fragte ich kalt. Es war die Frage, die er Delaunay gestellt hatte. Ich merkte, wie er sich daran erinnerte und errötete, die Farbe in seinem 414 Gesicht trat so deutlich hervor wie Wein in einem Alabasterbecher. Er hatte geahnt, dass ich es wusste; er hatte nur nicht gewusst, dass ich es mit angesehen hatte. Aber es lag nicht in Alcuins Natur, sich der Wahrheit zu entziehen, und ob er nun errötete oder nicht, in seinen Augen lag keine Arglist, als er meinem Blick standhielt. »Du hast es ihm doch damals gesagt, Phedre. Er hätte es vielleicht nie geschehen lassen, wenn du ihn nicht darauf gebracht hättest.« »Ich weiß, ich weiß.« Meine Wut erlosch, ich stützte den Kopf in die Hände und seufzte. Joscelin blickte überrascht und verwirrt zu uns herüber. Es war nicht einfach, einem Streit zwischen zwei Schülern von Anafiel Delaunay zu folgen. »Ich habe zu deutlich erkannt, wie sehr du ihn liebst, und trotz all seines Scharfsinns war Delaunay, wenn es um dich ging, so einfältig wie ein Schweinehirt. Du wärst in seinem Schatten Liebeshungers gestorben, bevor er es begriffen hätte. Aber ich hatte nicht gedacht, dass es so sehr wehtun würde.« Alcuin kam zu mir herüber und umarmte mich. »Es tut mir Leid«, raunte er. »Es tut mir wirklich Leid.« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Joscelin sich leise erhob, seine förmliche Verbeugung machte und sich taktvoll aus dem Zimmer zurückzog. In meinem Unterbewusstsein, das immerzu Überlegungen anstellte, bedauerte ich, dass wir ihn verscheucht hatten, jetzt da er sich in unserer Gegenwart zum ersten Mal ein wenig entspannt hatte. Aber Alcuin und ich hatten schon zu lange gemeinsam unter Delaunays Dach gelebt, um dieses Gespräch nicht zu führen, und es hatte sich schon seit vielen Tagen angekündigt. »Ich weiß«, versicherte ich ihm. Ich lachte, und mir stockte der Atem, aber meine Tränen waren schon versiegt. »Ich wünschte, in dir steckte ein wenig Rücksichtslosigkeit, damit ich dich dafür hassen könnte. Aber ich glaube wohl, ich muss 415 mich damit begnügen, dir alles Gute zu wünschen und dich nur für das Wissen zu hassen, das du nicht mit mir teilen willst.« Er musste darüber lachen, und sein warmer Atem kitzelte mich am Ohr. Sein weißes Haar fiel auf meine Schulter herab und verband sich mit meinen nachtschwarzen Locken. »Ich hätte dasselbe getan, weißt du.« »Ja«, erwiderte ich, »das hättest du.« Ich strich sanft über sein Haar, wo es neben meinem lag, löste zwei Strähnen heraus und flocht sie zu einem Zopf zusammen, in dem Schwarz und Weiß ineinander verschlungen waren. Er hielt den Kopf neben meinem, die Arme um mich geschlungen und sah mir dabei zu. »Unsere Leben«, sagte ich. »Miteinander verwoben durch Anafiel Delaunay.« Der schon im Raum stand und sich räusperte. Aufgeschreckt hob Alcuin jäh den Kopf. Mein Haar, das immer noch mit seinem verflochten war, riss an meiner Kopfhaut und ließ mich zusammenzucken.
Ich kann mir kaum vorstellen, wie albern wir aussahen; Delaunays Mund zuckte vor Belustigung, aber es gelang ihm, keine Miene zu verziehen. »Ich dachte, du würdest gerne darüber in Kenntnis gesetzt werden, Phedre«, erklärte er, während er sich angestrengt bemühte, ernst zu bleiben, »dass Melisande Shahrizai zu Besuch ist und ein Angebot für ein Rendezvous machen möchte.« »In aller Eluas Namen!« Ungestüm zog ich an dem Zopf, riss Alcuins Kopf mit einem Schrei nach unten und versuchte wie rasend, das verflochtene Haar wieder zu lösen. »Warum kann sie nicht wie alle anderen einen Boten schicken?« »Weil sie«, bemerkte Delaunay weiterhin belustigt, »eine langjährige Bekannte ist und vor allem, wie ich annehme, weil es ihr gefällt, dich in Bedrängnis zu sehen. Du kannst mir dankbar sein, dass ich sie gebeten habe, so lange im Empfangs416 zimmer zu warten, bis ich dich gerufen habe. Soll ich ihr sagen, du gesellst dich sogleich zu uns?« »Ja, Herr.« Ich flocht den Zopf auseinander und bemühte mich hastig, meinem Haar einen Anschein von Ordnung zu verleihen. Alcuin lachte, er fuhr sich nur einmal mit den Fingern durch sein üppiges Haar, und es fiel wie immer glänzend und seidig herab. Ich warf ihm einen grimmigen Blick zu und überlegte, ob ich noch genügend Zeit hatte, in ein anderes Kleid zu schlüpfen. Delaunay schüttelte den Kopf und ging. Schließlich beschloss ich, so zu erscheinen, wie ich war, in dem warmen Wollkleid, das ich angezogen hatte, um Joscelins Übungen zu beobachten. Es würde nur zur weiteren Belustigung Melisande Shahrizais beitragen, wenn ich ihr Grund zur Annahme gab, ich sei so durcheinander, dass ich es nötig hatte, mich mit meinem besten Gewand zu wappnen. Sie war unangekündigt gekommen; dann würde ich sie eben dementsprechend empfangen, so wie Delaunay es getan hatte. Ich hörte das Gelächter, noch bevor ich den Raum betrat; was auch immer sie einst einander bedeutet hatten, sie und Delaunay brachten sich gegenseitig zum Lachen. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er ihr nicht gerade das Schauspiel beschrieb, dessen Zeuge er geworden war, aber es sah Delaunay nicht ähnlich, unnötig grausam zu sein. Er gab mir ein Zeichen, einzutreten, und ich gehorchte. »Herr, Herrin.« Ich hielt meine Stimme ruhig, machte einen Knicks und nahm Platz. Melisande warf mir einen amüsierten Blick zu, der mich fast gänzlich aus der Fassung brachte. »Phedre«, sagte sie und neigte bedächtig den Kopf. »Ich habe Anafiel ein Angebot gemacht, das er als annehmbar erachtet. Mein Herr, der Duc Quincel de Morhban, stattet der Cite Eluas für die Festlichkeiten der Wintersonnenwende einen Besuch ab, und er beabsichtigt, zu einem Maskenball zu laden. Er ist 417 Duc des herrschenden Herzogtums in Kusheth, und ich habe die Absicht, im Namen von Haus Shahrizai eine klare Botschaft auszusenden. Eine wahre anguisette wäre da, denke ich, genau das Richtige. Hast du für die Längste Nacht schon eine Verpflichtung?« Die Längste Nacht. Im Nachtpalais wurden für die Längste Nacht keine Rendezvous vereinbart, aber ich gehörte nicht mehr zum Nachtpalais und hatte es als Dienerin Naamahs auch nie getan. Mein Mund wurde trocken, und ich schüttelte den Kopf. »Nein, Herrin«, erwiderte ich und brachte die Worte nur mit Mühe heraus. »Ich habe noch keine Verpflichtung.« »Na dann.« Ihre wundervollen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Nimmst du an?« Als ob es da noch irgendeinen Zweifel gäbe oder ich die Willenskraft aufbringen könnte abzulehnen. Seit meiner frühesten Jugend hatte ich auf ein Angebot von Melisande Shahrizai gewartet. Ich hätte gelacht, wenn ich gekonnt hätte. »Ja.« »Gut«, sagte sie einfach und blickte dann zu Joscelin, der vor mir zu den beiden gestoßen war und jetzt in seiner üblichen Haltung mit gekreuzten Armen an der Tür stand. »Ich fürchte, das wird für dich eine lange, eintönige Nachtwache, mein junger Cassiline.« Sein Gesicht war ausdruckslos, als er sich verbeugte, aber seine Augen leuchteten wie ein Sommerhimmel. Ich hatte nicht bemerkt, als er und Melisande sich zum ersten Mal im Palast begegneten, wie sehr er sie verachtete. Ich fragte mich, ob es daran lag, dass sie sich über sein Zölibatversprechen lustig gemacht hatte oder ob etwas anderes der Grund dafür war. »Ich beschütze und diene«, sagte er grimmig. Melisande zog die Augenbrauen hoch. »Oh, ich bin sicher, du beschützt recht gut, doch wenn du meinem Dienst ver418 schworen wärest, würde ich Besseres von dir erwarten, Cassiline.«
Delaunay hustete, ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er ein Lachen verbarg. Ich glaube nicht, dass Joscelin es merkte, aber er war aufgrund von Melisandes Hänseleien schon so gereizt, dass es kaum mehr von Bedeutung war. Seltsamerweise heiterte es mich auf, dass Delaunays Humor immer noch der alte war, obgleich er mit Haus Courcel und Cassilinischen Vorstehern verkehrte. Ich konnte Joscelin mittlerweile etwas besser leiden, weil er mein Geheimnis für sich behielt und kurze Momente der Menschlichkeit zeigte, aber er musste sich noch etwas mehr entspannen, wenn er sich in Delaunays Dienst nicht zum Narren machen wollte. Oder mich, kam mir der verdrießliche Gedanke. »Die Längste Nacht, also«, bekräftigte Delaunay laut und fasste sich so weit, um die allgemeine Aufmerksamkeit von dem armen Joscelin abzulenken und diesen unangenehmen Moment zu überbrücken. Er grinste Melisande an. »Ihr macht keine halben Sachen, nicht wahr?« »Nein.« Sie lächelte selbstgefällig zurück. »Ihr wisst das sehr genau, Anafiel.« »Mmm.« Er nippte an seinem Likör und betrachtete sie nachdenklich. »Was führt Ihr mit Quincel de Morhban im Schilde?« Melisande lachte. »Ach, das ... was das betrifft, geht es hier nur um Machtspielchen zwischen Kushiels Nachfahren. Das Herzogtum besitzt die Pointe d'Oeste und leitet daraus seinen Herrschaftsanspruch ab, aber die Shahrizai sind das älteste Haus in Kusheth. Phedres Anwesenheit soll ihn daran erinnern, dass wir unsere Abstammung in einer ununterbrochenen Linie auf Kushiel zurückführen, nichts weiter. Ich könnte ihn eines Tages um einen Gefallen bitten, es ist nie verkehrt, seinen Duc 419 daran zu erinnern, dass es von Nutzen sein kann, einem altgedienten Haus eine Gnade zu erweisen.« »Nichts weiter als das?« »Nichts weiter als das, was den Duc de Morhban betrifft.« Sie spielte mit ihrem Glas und lächelte träge in meine Richtung. »Meine anderen Gründe sind meine Sache.« Ihr Lächeln durchbohrte mich wie ein Speer. Ich erschauderte und wusste nicht, warum. 420