KILIAN BIZER
Steuervereinfachung und Steuerhinterziehung
Finanzwissenschaftliche Forschungsarbeiten Finanzwissenschaf...
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KILIAN BIZER
Steuervereinfachung und Steuerhinterziehung
Finanzwissenschaftliche Forschungsarbeiten Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut an der Universität zu Köln Begründet von Günter Schmölders Herausgegeben von Clemens Fuest, Wolfgang Kitterer und Klaus Mackscheidt
Neue Folge Band 74
Steuervereinfachung und Steuerhinterziehung Eine experimentelle Analyse zur Begründung von Steuereinfachheit
Von
Kilian Bizer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Technischen Universität Darmstadt hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Habilitationsschrift angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 978-3-428-12820-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Steuerhinterziehung ist ein periodisch im Mittelpunkt der Medienberichterstattung stehendes Thema: Die Empörung ist in der Regel groß, wenn Steuerfahndung oder neuerdings Bundesnachrichtendienst Steuerhinterziehungsfälle aufdecken. Im Grundmodell der Steuerhinterziehung kommt indes die Komplexität der Steuern nicht vor. Obwohl Steuerkomplexität den Gesetzgeber als finanzpolitischer Evergreen beschäftigt, gibt es bislang keine Abhandlung, die diese beiden Diskussionen verknüpft und fragt, auf welche Weise Steuerkomplexität auf Steuerhinterziehung wirkt, welche Folgen durch Vereinfachung zu erwarten sind und welcher Akteur politökonomisch nachhaltige Vereinfachung bewirken kann. Die Arbeit ist als Habilitationsschrift an der Fakultät Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Technischen Universität Darmstadt entstanden. Ich danke meinen beiden Gutachtern Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup und Prof. Dr. Dirk Ipsen für ihre Diskussionsbereitschaft und konstruktiven Hinweise. Besonders danke ich meinen Kollegen Armin Falk, Werner Sesselmeier, Markus Spiwoks, Martin Führ und Zulia Gubaydullina, die verschiedene Teile der Arbeit intensiv begleitet haben. Korrektur gelesen haben Sandra Gruescu, Dennis Ostwald und Georg Cichorowski. Unter all diesen ragt der Dank an Zulia Gubaydullina besonders heraus, die den Abschluss der Arbeit kritisch begleitet und den Stand verwendet hat, um die Verhaltensmodellierung auszudifferenzieren und voranzutreiben. Meine Frau Jaqui Dopfer hat die Arbeit und mich über alle Höhen und Tiefen souverän und aufmunternd begleitet. Freundlicherweise hat unser Sohn Felix zuverlässig bis sechs Uhr morgens geschlafen und auf diese Weise produktive Morgenstunden freigehalten, um uns dann mit bester Laune den restlichen Tag über zu erfreuen. Beiden danke ich für das gemeinsame Leben. Die Arbeit ist bereits 2003 als Habilitationsschrift angenommen worden. In der folgenden Bewerbungsphase sowie dem Aufbau der Professur für Wirtschaftspolitik und Mittelstandsforschung der Universität Göttingen schien die Veröffentlichung nie das vordringlichste Ziel zu sein. Umso mehr freut es mich, dass die Arbeit jetzt, wenn auch mit dem Stand von 2003, doch noch einem breiteren Leserkreis zugänglich ist. An Aktualität hat sie nicht verloren. Göttingen, im April 2008
Kilian Bizer
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung......................................................................................................... I.
Problemstellung.........................................................................................
13 13
II. Ziel der Arbeit ...........................................................................................
16
III. Methodik ...................................................................................................
17
IV. Aufbau der Arbeit......................................................................................
19
V. Begriffsabgrenzung ...................................................................................
22
B. Komplexität im Grundmodell und im Modell des rationalen Regelbefolgers .................................................................................................
24
I.
Das Grundmodell.......................................................................................
24
II. Das so genannte „Steuerzahlerrätsel“ ........................................................
27
III. Steuermoral ...............................................................................................
29
IV. Der Ansatz der Kompetenz-Schwierigkeitslücke ......................................
31
V. Kritik an den bisherigen Ansätzen.............................................................
34
C. Komplexität im Modell des homo oeconomicus institutionalis....................
37
I.
Ausgangspunkt homo oeconomicus: Eigennutz und ökonomisches Prinzip .......................................................................................................
38
II. Der homo oeconomicus institutionalis.......................................................
41
1.
Präferenzen: endogen und sozial........................................................
42
2.
Kognitive Grenzen .............................................................................
44
3.
Habituelles Verhalten.........................................................................
50
4.
Emotionales und instinktives Verhalten.............................................
52
5.
Institutionen und soziale Interaktion ..................................................
54
6.
Zwischenergebnis: Das Verhaltensmodell des homo oeconomicus institutionalis......................................................................................
58
D. Implikationen von Steuerkomplexität ...........................................................
61
I.
Steuerkomplexität und Institutionen ..........................................................
62
1.
Steuermoral und Steuermentalität ......................................................
62
2.
Hystereseeffekt bei der Steuermoral ..................................................
67
3.
Soziale Interaktion .............................................................................
68
4.
Zwischenfazit.....................................................................................
73
8
Inhaltsverzeichnis II. Steuerkomplexität und soziale Präferenzen ...............................................
74
III. Steuerkomplexität und kognitive Grenzen.................................................
78
IV. Steuerkomplexität und Emotionen.............................................................
83
1.
Neid....................................................................................................
83
2.
Scham.................................................................................................
84
3.
Aggression und Reaktanz...................................................................
85
4.
Frustration ..........................................................................................
87
5.
Zwischenfazit.....................................................................................
88
V. Steuerkomplexität und habituelles Verhalten ............................................
88
VI. Ergebnis: Hypothesen für die Wirkung von Komplexität auf Steuerehrlichkeit..................................................................................
90
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung ...
93
I.
Stand der experimentellen Literatur ..........................................................
93
1.
Steuerkomplexität im Kontext eines öffentlichen Gutes ....................
93
2.
Steuerkomplexität als Spiel gegen die Natur......................................
98
3.
Zwischenfazit..................................................................................... 102
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung ...................... 103 1.
Design und Durchführung.................................................................. 103
2.
Ergebnisse des Experiments............................................................... 108 a)
3. F.
Die Anfangstreatments ............................................................... 108
b)
Reihenfolgeeffekte der Treatments............................................. 110
c)
Strikte Ehrlichkeit....................................................................... 115
Schlussfolgerungen aus dem Experiment........................................... 117
Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz und aktuelle Reformvorschläge für die Vereinfachung ..................................................................................... 120 I.
Das Verhältnis der übrigen Besteuerungsgrundsätze zum Grundsatz der Einfachheit........................................................................................... 122 1.
Der Grundsatz der Einfachheit: Transparenz, Praktikabilität und Wohlfeilheit ................................................................................ 122
2.
Das Verhältnis zur Allgemeinheit der Besteuerung ........................... 124
3.
Das Verhältnis zur Leistungsfähigkeit ............................................... 126
4.
Das Verhältnis zur Allokationseffizienz ............................................ 127
5.
Das Verhältnis zur fiskalischen Ergiebigkeit ..................................... 129
6.
Zwischenergebnis............................................................................... 130
II. Reformvorschläge zur Vereinfachung der Einkommensteuer ................... 131 1.
Der Einfachsteuervorschlag: Heidelberger Entwurf........................... 132
Inhaltsverzeichnis
2.
9
a)
Merkmale des Vorschlags........................................................... 132
b)
Beurteilung des Vorschlags ........................................................ 134
Der Vorschlag der vereinfachten Einkommensteuer: Karlsruher Entwurf ............................................................................ 135 a)
Merkmale des Vorschlags........................................................... 136
b)
Beurteilung des Vorschlags ........................................................ 138
III. Ergebnis..................................................................................................... 139 G. Ergebnis und Schlussfolgerungen.................................................................. 141 I.
Ergebnis..................................................................................................... 141
II. Konsequenzen für die Steuerpolitik........................................................... 144 III. Offene Fragen für die Forschung............................................................... 147 Zusammenfassung .................................................................................................. 149 Anhang .................................................................................................................... 155 Literaturverzeichnis ............................................................................................... 162 Sachregister............................................................................................................. 175
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Wirkungszusammenhänge im Grundmodell ..........................................
26
Tabelle 2: Die Wirkung von Entdeckungswahrscheinlichkeit und Strafe auf das hinterzogene Einkommen ..........................................................
28
Tabelle 3: Die Parameter für Strafe, Steuersatz und Entdeckungswahrscheinlichkeit .................................................................................
95
Tabelle 4: Ergebnisse von Alm/Jackson/McKee, 1992 – Durchschnittliche Steuerehrlichkeit ohne und mit öffentlichem Gut bei Unsicherheit über Strafhöhe, Steuersatz oder Entdeckungswahrscheinlichkeit ..........
96
Tabelle 5: Ergebnisse von Beck/Davis/Jung, 1991 – Durchschnittliche Anteile des deklarierten Einkommens am Gesamteinkommen ..............
99
Tabelle 6: Die Parameter im Experiment................................................................ 104 Tabelle 7: Maximierungsstrategien im einfachen und komplexen Treatment............................................................................................... 108 Tabelle 8: Durchschnittliche deklariertes Einkommen und Hinterziehung in den Anfangstreatments............................................... 109 Tabelle 9: Durchschnittliches deklariertes Einkommen.......................................... 110 Tabelle 10: Durchschnittliche Hinterziehungen in Prozent und in absoluter Höhe ....................................................................................... 111 Tabelle 11: Korrekte Steuerdeklarationen in Prozent ............................................... 113 Tabelle 12: Übermäßige Zahlungen in Prozent (individuelle Durchschnitte)........... 114 Tabelle 13: Relative Häufigkeit strikter Ehrlichkeit (in Prozent der Deklarierungsentscheidungen)............................................................... 116 Tabelle 14: Besteuerungspolitische Grundsätze ....................................................... 121
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Optimale Steuerhinterziehung im Grundmodell ..............................
26
Abbildung 2: Steuerhinterziehung bei regelgebundenem Verhalten......................
32
Abbildung 3: Das traditionelle Verhaltensmodell (homo oeconomicus) der Ökonomik..................................................................................
40
Abbildung 4: Referenzpunktabhängigkeit der individuellen Alternativenbewertung ........................................................................................
48
Abbildung 5: Die Bewertungsfunktion..................................................................
49
Abbildung 6: Das Verhaltensmodell der Institutionenanalyse...............................
59
Abbildung 7: Der Hysteresis-Effekt der Steuermoral ............................................
68
Abbildung 8: Interaktion von Entdeckungswahrscheinlichkeit und Unsicherheit über das Einkommen und Risikoneutralität .............................. 100 Abbildung 9: Interaktion von Strafrate und Unsicherheit über das Einkommen bei Risikoneutralität .................................................... 101 Abbildung 10: Relative Häufigkeit von Steuerhinterziehungen, korrekten Steuerzahlungen und übermäßigen Steuerzahlungen....................... 115
A. Einleitung I. Problemstellung Steuervereinfachung ist ein ebenso beliebtes wie unerfülltes Ziel in den deutschen Reformgesetzen zur Einkommensteuer. Kaum eines der letzten Steuergesetze führt nicht die Vereinfachung im Namen oder im Zielprogramm. Und dennoch kommt es bislang zu keiner substantiellen Vereinfachung. Dafür gibt es eine Reihe von möglichen Ursachen: So könnte beispielsweise ein Konflikt zwischen dem verfassungsrechtlich über den Gleichheitsgrundsatz verankerten Leistungsfähigkeitsprinzip und Vereinfachungen bestehen, der zu einem materiellen Konflikt im Steuerrecht führt. In diesem Sinne wäre das Scheitern der Steuervereinfachung der Erfolg des Leistungsfähigkeitsgrundsatzes. Eine andere Erklärung hebt eher auf den politischen Entscheidungsprozess ab und fokussiert auf die Rolle des Einkommensteuerrechts als Umverteilungsinstrument. Als solches erlaubt es Politikern, mit einzelnen Regelungen ihre Zielgruppen mit Steuerprivilegien zu versorgen. Um diese treffsicher zu erreichen, sind Ausnahmen einzuführen und gegenüber dem Regelfall abzugrenzen. Mit jeder weiteren Ausnahme profitiert zwar eine Interessengruppe, die Steuervereinfachung bleibt indes auf der Strecke. Gerade wegen dieser Dynamik eignet sich die Vereinfachung als bloße Etikettierung von Reformgesetzen. Eine dritte Erklärung schließlich bezieht auch die Interaktion zwischen Gesetzgeber, Rechtsprechung und Verwaltung mit ein. Verwaltung und Rechtsprechung bewegen sich danach in einer Spirale von fallweiser Behandlung immer weiter von der kontinentalen Rechtstradition regelförmiger Programmierung zu einem angelsächsischen case law und fordern damit die Ausdifferenzierung der gesetzlichen Normen geradezu heraus. Angesichts dieser Dynamik wäre zu überlegen, Steuervereinfachung einfach als politisches Ziel aufzugeben. Dagegen spricht, dass Steuereinfachheit ein öffentliches Gut für die Gruppe der Steuerpflichtigen ist. Einmal implementiert, profitieren alle Steuerpflichtigen davon – kein Steuerzahler ist ausschließbar und die Inanspruchnahme ist nicht-rival. Jeder einzelne Steuerzahler oder eine Gruppe von diesen kann von diesem Gut jedoch auch noch profitieren, wenn eine spezifische Regelung ihm gleichzeitig einen Vorteil im Sinne einer Steuererleichterung verschafft. Infolgedessen versucht jede Interessengruppe zu eigenen Gunsten zu intervenieren und verhält sich als Trittbrettfahrer gegenüber dem öffentlichen Gut der Steuereinfachheit. Auf diese Weise kommt es zu ei-
14
A. Einleitung
ner zu geringen Bereitstellung, obwohl gesamtwirtschaftlich eine einfache Steuer günstiger ist als eine komplizierte, weil sie mit den geringeren Normbefolgungskosten einhergeht. Aber es gibt noch einen weiteren Grund, der dagegen spricht, Steuervereinfachung aufzugeben: Der Besteuerungsgrundsatz der Einfachheit hat seit jeher eine besondere Bedeutung, weil Steuern als Leistung ohne Gegenleistung in jedem politischen System eine Zwangsabgabe darstellen, die klar definiert sein muss, um Steuerwiderstände zu vermeiden. Dies war schon lange vor Smith der Fall, der lediglich den Stand der Diskussion zusammenfasste,1 als er formulierte: „The tax which each individual is bound to pay ought to be certain, and not arbitrary. The time of payment, the manner of payment, the quantity to be paid, ought all to be clear and plain to the contributor, and to every other person.“2
Fürchtete man früher den Steuerwiderstand in Form einer offenen Steuerrevolte, so gehen die Steuerzahler heute subtiler vor. Verfügen sie nicht über entsprechende politische Instrumente der Einflussnahme wie Volksabstimmungen und Referenden,3 wehren sie sich in Form von Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit.4 Aktuelle empirische Arbeiten zum Ausmaß von Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung weisen jedenfalls darauf hin, dass der Anteil des „informellen Sektors“ keineswegs mehr einen vernachlässigbaren Anteil einnimmt und stetig zunimmt.5 Steuereinfachheit ist damit nicht nur im Kontext der Politischen Ökonomie ein durch free riding von Interessengruppen zu gering bereitgestelltes öffentliches Gut, sondern aus der Perspektive der Steuertechnik ist sie eine Voraussetzung für Steuereinnahmen ohne großen Widerstand. Angesichts stetig steigender Schwarzarbeit in den OECD-Staaten im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen6 ist zu fragen, ob die Möglichkeiten ___________ 1 Mann, 1978, S. 144 ff. verweist darauf, dass die vier Besteuerungsgrundsätze von Adam Smith zu dessen Zeit bereits als Allgemeingut gelten. 2 Smith, 1937, S. 477. 3 Eine derartige Initiative war „Proposition 13“ in Kalifornien, die der Begrenzung der kommunalen Steuersätze bei der Property Tax dienen sollte. Siehe dazu Folkers, 1983. Vgl. zum Zusammenhang von direkter Demokratie und Steuerhinterziehung Pommerehne/Hart/Frey, 1995. 4 Die beiden Begriffe sind im Kontext dieser Arbeit weitgehend deckungsgleich. Im Folgenden schließt Steuerhinterziehung stets Formen von Schwarzarbeit ein. Nach Schneider/Enste, 2000a, S. 8 bezeichnen Schwarzarbeit im engeren Sinne als „die ökonomischen Aktivitäten, die grundsätzlich steuerpflichtig wären, wenn sie dem Finanzamt nicht verheimlicht würden.“ Schneider formuliert treffend, dass Schwarzarbeit die „Steuerhinterziehung des kleinen Mannes“ sei. 5 Siehe dazu ausführlich Schneider/Enste, 2000a, Schneider/Enste, 2000b, Schneider, 2007. 6 Siehe dazu Schneider, 1999 und 2000 zur Entwicklung der Schwarzarbeit.
I. Problemstellung
15
der Reduzierung von Steuerhinterziehung ausgeschöpft sind. Allein die Ursachen für Steuerhinterziehung in der relativen und absoluten Steuerbelastung sowie in den zu erwartenden Strafen und Entdeckungswahrscheinlichkeiten zu sehen, aus denen sich das neoklassische ökonomische Kalkül ergibt, greift zu kurz.7 Denn neben diesen Faktoren spielen auch – wie in Kapitel D. zu zeigen sein wird – Steuermoral und Steuermentalität sowie eine Reihe weiterer Faktoren, welche die subjektive Wahrnehmung der Entscheidungssituation betreffen, eine wichtige Rolle. Vor dem Hintergrund der Steuervereinfachung ist zu fragen, inwiefern die Komplexität von Steuern diese Faktoren beeinflusst und damit auch auf die Steuerhinterziehung wirkt. Ausdifferenzierungen des Steuersystems können auf Seiten des Zensiten auch eine Ungewissheit darüber bedeuten, ob er eine Möglichkeit des Steuerabzugs nutzen darf oder nicht. Je komplexer die Steuernormen ausgestaltet sind, desto eher besteht Ungewissheit über die Anwendungsbedingungen der Norm. Folgt man der ökonomischen Theorie des rationalen Regelbefolgers, führt diese Form von Komplexität des Steuersystems oder einer Einzelsteuer dazu, dass die Steuerzahler eher zu viel an Steuern zahlen als zu wenig. Das liegt daran, dass sie bei Ungewissheit dazu neigen, eine „einfache Regel“ zu bilden, die sie zur Ausrichtung ihres Verhaltens heranziehen.8 Komplexität wird in diesem Zusammenhang als Ungewissheit der Zensiten über bestimmte Parameter der Steuerausgestaltung bzw. Steuervollzuges verstanden. Die Komplexität des Steuersystems erklärt nach diesem Ansatz zwar, warum aus der Perspektive des ökonomischen Grundmodells immer noch „zu wenig“ Steuern hinterzogen werden, und leistet so einen Beitrag zur Lösung des so genannten „Steuerzahlerrätsels“. Sie führt aber zu der konsequenten Schlussfolgerung, dass eine Erhöhung der Komplexität durch den Gesetzgeber oder die Finanzbehörden zu einer geringeren Steuerhinterziehung führt. Mit jeder Zunahme an Komplexität würde damit die Steuerehrlichkeit als komplementäres Element zunehmen.9 Tatsächlich hängt die Steuerhinterziehung aber auch davon ab, ob die Individuen sowohl sich selbst gerecht behandelt sehen als auch die Belastungsverteilung insgesamt als gerecht empfinden. Je stärker der Eindruck der Steuerzahler ist, dass die anderen Umgehungsmöglichkeiten nutzen können, desto eher dürften sie bereit sein, Steuern zu hinterziehen. Ebenso können sie sich durch die Komplexität der Steuer darin gehindert fühlen, ihre Steuerpflicht zu erfüllen, und darauf verärgert oder frustriert reagieren.10 Wenn das der Fall ist, fällt ___________ 7
Siehe grundlegend dazu Becker, 1968; Allingham/Sandmo, 1972. Siehe zum Modell des rationalen Regelbefolgers Heiner, 1983 und Schmidtchen, 1994 mit einer Anwendung auf Steuerhinterziehung. 9 Vgl. dazu Leschke, 1997. 10 Vgl. dazu ausführlich Kapitel C. und D. 8
16
A. Einleitung
der Saldo der Steuerhinterziehung keineswegs eindeutig aus, und Komplexität kann durchaus auch zu einer höheren Steuerhinterziehung führen. In der ökonomischen Literatur modelliert man den Staat entweder in Form der bei gegebener Gesetzeslage die Einnahmen maximierenden Steuerbehörde, die beispielsweise zwischen der Erhöhung der Überprüfungsrate und den zusätzlichen Steuereinnahmen abwägt, oder in Form der Legislative, die Steuergesetze zu verabschieden trachtet, die äußerlich auf geringe Steuerlasten hindeuten, gleichzeitig aber die als notwendig erachteten Einnahmen generiert und dabei die „eigenen“ Wählergruppen durch Befreiungstatbestände schont. Beide Akteure, Steuerbehörde ebenso wie Legislative, haben jedoch ein langfristiges Interesse am Erhalt der Steuermoral als einem konstitutiven Element des staatlichen Zusammenhalts. Sie sind, insofern sie nicht durch kurzfristige Kalküle wie Amts- oder Legislaturperioden daran gehindert sind, grundsätzlich an einer „nachhaltigen Finanzpolitik“ interessiert. Historische Fälle von offenen Steuerrevolten und verdeckten Steuerwiderständen demonstrieren überdies, dass der Staat auf die breite Akzeptanz der Steuernormen angewiesen ist. Trotz aller polit-ökonomischen Widerstände, die einer umfassenden Steuervereinfachung entgegenstehen, sprechen damit gewichtige Gründe für eine konsequente Verfolgung dieses Zieles: Angesichts steigender Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung ist die Steuervereinfachung eine Möglichkeit, eine größere Akzeptanz des Steuersystems herzustellen. Hinzu kommt, dass dies einen Beitrag für eine nachhaltige Finanz- und Steuerpolitik leistet. Und schließlich stellt der Gesetzgeber ein öffentliches Gut bereit, wenn er einfache Steuern verabschiedet.
II. Ziel der Arbeit Die vorliegende Arbeit will klären, ob eine einfache oder eine komplizierte Steuer zu mehr Steuerhinterziehung führt. Dazu geht sie – vor dem Hintergrund der modelltheoretischen Diskussion der letzten Jahrzehnte – der Frage nach, welches Verhaltensmodell bei der Analyse des Steuerzahlers vorzugswürdig ist. Ausgehend vom Modell des homo oeconomicus ist zu diskutieren, wie diese Modelle zu modifizieren sind, um das tatsächlich beobachtbare Verhalten zu erklären. Die erkenntnisleitende Frage dieser Arbeit lautet, wie wirkt sich eine Änderung der Komplexität einer Steuer auf die Steuerehrlichkeit aus. Diese Frage lässt sich in die folgenden drei Einzelfragen auftrennen: 1. Vergleicht man eine einfache mit einer komplexen Steuer, kommt es dann bei der komplexen Steuer zu mehr Steuerehrlichkeit als bei der einfachen Steuer?
III. Methodik
17
2. Führt, ausgehend von einer einfachen Steuer, zunehmende Komplexität der Steuer zu mehr Steuerehrlichkeit? 3. Führt, ausgehend von einer komplexen Steuer, abnehmende Komplexität der Steuer zu mehr Steuerehrlichkeit? Aus den Antworten auf diese Fragen ergeben sich Konsequenzen für die Gestaltung von Steuern, vornehmlich der Einkommensteuer, die zentraler Gegenstand dieser Arbeit ist. Dabei spielen die Besteuerungsgrundsätze eine zentrale Rolle. Dazu zählt man allgemein die Grundsätze der Leistungsfähigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Aber auch die Wirtschaftlichkeit und die steuertechnischen Besteuerungsgrundsätze sind zu nennen, zu denen auch der Grundsatz der Einfachheit zählt. Es wird zu zeigen sein, dass ausgehend von den Forschungsergebnissen über den Zusammenhang von Steuerkomplexität und Steuerehrlichkeit der Besteuerungsgrundsatz der Einfachheit neu zu bewerten ist. Dabei spielt eine Rolle, dass nur im jeweiligen Zusammenspiel von Wirtschaftlichkeit und Einfachheit beziehungsweise Leistungsfähigkeit und Einfachheit die Gesamtleistungsfähigkeit der Steuer entsteht und zu bewahren ist.
III. Methodik Methodisch teilt sich die vorliegende Arbeit in drei Teile. Im ersten Teil entwickelt sie auf der Basis der existierenden Literatur ein Verhaltensmodell, dass handelnde Individuen eingebettet in ihren institutionellen Rahmen wahrnimmt (Kapitel B.–D.). Im zweiten Teil geht die Arbeit experimentell vor (Kapitel E.). Im dritten Teil wendet sie im Rahmen einer real-institutionellen Analyse schließlich das Ergebnis der vorangehenden Teile auf die Besteuerungsgrundsätze und bereits bestehende Reformentwürfe an, um dies anhand eines kurzen Ausblicks auf die polit-ökonomischen Chancen einer Steuervereinfachungspolitik abzurunden (Kapitel F. und G.). Die Entwicklung des Verhaltensmodells greift die bisherigen Ansätze in der ökonomischen Literatur auf und modifiziert diese im Hinblick auf die Rolle von Institutionen, kognitive Grenzen und emotionales sowie habituelles Verhalten. Diese Modifikationen erlauben die Berücksichtigung weiter Teile der Steuerhinterziehungsliteratur, die bei einem engeren Verständnis vernachlässigt würden, und die erst einen neuen Zugang zu der Frage ermöglichen, wie Komplexität der Steuer auf das Verhalten des Zensiten wirkt. Das Modell des homo oeconomicus institutionalis liefert damit den theoretischen Ausgangspunkt für die Fragestellung. Um die vorstehend entwickelte Frage zu beantworten, ist Steuerhinterziehung empirisch zu beobachten. Da Steuerhinterziehung aber ein schwer zu be-
18
A. Einleitung
obachtendes Phänomen ist, weil sie ihrer Eigenart nach verdeckt und unsichtbar ist, sind echte Beobachtungen nur schwer zu gewinnen. Da in Deutschland zudem kein Jahr vergeht, in dem ein Steueränderungsgesetz die rechtliche Situation verändert, lassen sich Zeitreihen nur unter großem Aufwand bilden und sind überdies wenig verlässlich. Die Ansätze zur Ermittlung der Schwarzarbeit als der „Steuerhinterziehung des kleinen Mannes“ greifen deshalb auf zahlreiche, dem eigentlichen Vorgang der nicht angemeldeten Berufsausübung relativ entfernt liegende Phänomene zurück, wie z.B. der Bargeldnachfrage oder der Stromnachfrage. Auf dieser Basis versucht man ein Bild davon zu entwickeln, ob die Schwarzarbeit insgesamt zu- oder abnimmt. Schätzungen des Ausmaßes der Steuerhinterziehung bei der Steuererklärung sind so jedoch nicht zu gewinnen. Aus einzelnen Ereignissen wie den massiven Hinterziehungen von Kapitalertragsteuer ist zwar zu erkennen, welches Ausmaß die Hinterziehung annehmen kann, doch ist Vorsicht geboten, wenn aus der Hinterziehung bei einer Einkunftsart auf die Hinterziehung einer anderen geschlossen werden soll. Das gilt um so mehr, wenn es um die Frage geht, wie Steuerkomplexität auf Steuerhinterziehung wirkt, weil Steuerkomplexität zwar direkt beobachtbar ist, aber keine Daten über die Wirkung vorliegen. Dazu bräuchte es zum Beispiel jährliche Erfassungen des Aufwandes bei der Steuererklärung, um nur ein Element der Komplexität zu nennen. Zusammenfassend ist deshalb festzuhalten, dass aufgrund der schwierigen Datenlage nach anderen Methoden der empirischen Überprüfung zu suchen ist. Dabei bietet es sich an, die oben gestellten Fragen anhand eines Experiments zu überprüfen. Das erlaubt, einen direkten Vergleich zwischen zwei institutionellen Arrangements herzustellen. Dies ist in einem kontrollierten Experiment mit einer begrenzten Anzahl Probanden am ehesten möglich. Der Vorteil von Experimenten liegt darin, dass ihr Aufbau genau der Fragestellung folgen kann. Ein gewisser Nachteil liegt sicher darin, dass Experimente nur einen Ausschnitt aus der Realität abbilden und daher nur eine begrenzte Aussage für die sich stellenden politischen Fragen zulassen. Dies lässt sich in gewissem Maße auffangen, indem abweichend von der traditionellen Form des Laborexperimentes, den institutionellen Rahmen prägende Begriffe wie „Steuer“ und „Steuerbehörde“ verwendet werden. Da es in der ganzen Arbeit um Steuern geht, macht es wenig Sinn, über neutrale Begriffe den Probanden andere Assoziationen zu erlauben, als sie es im Kontext von Steuern haben. Dem Vorwurf, das führe möglicherweise zu nicht kontrollierbaren Emotionen und Reaktionen, ist zu entgegnen, dass die Robustheit der Ergebnisse für diesen Anwendungsbereich damit gerade steigt, auch wenn natürlich nicht alle institutionellen Rahmenbedingungen im Experiment nachgestellt werden können. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass sich das kontrollierte Experiment im Labor als Me-
IV. Aufbau der Arbeit
19
thode durchaus eignet, um Antworten auf die oben gestellten Fragen zu erlangen. Die gefundenen Antworten haben unmittelbare Konsequenzen für die Steuerpolitik, wie anhand einer Analyse der normativen Besteuerungsgrundsätze als auch aktueller Reformkonzepte zu zeigen ist. Zum Einen gilt, dass die bisherige Rangfolge der Besteuerungsgrundsätze bei der Ausgestaltung von Steuern zu überdenken ist, zum Anderen sind Reformentwürfe nicht allein am Grundsatz der Leistungsfähigkeit oder an einem wachstumspolitischen Ziel auszurichten, sondern sie müssen die Einfachheit der Besteuerung als notwendige Bedingung bei der Lösung des Steuergestaltungsproblems berücksichtigen. Diese Neuorientierung der Steuerpolitik hinsichtlich der Einfachheit hat, wie die politökonomische Betrachtung zeigt, im Regelfall nur geringe Chancen von der Legislative durchgesetzt zu werden. Erst ab einem kritischen Niveau der Steuerhinterziehung, das allerdings bereits erreicht sein könnte, besteht ein Anreiz für die Gesetzgebung, kurzfristig ein einfaches Einkommensteuerrecht zu schaffen. Deshalb ist wie bei der Legislative auch nach den polit-ökonomischen Anreizen des Bundesverfassungsgerichts bei der Durchsetzung des Besteuerungsgrundsatzes der Einfachheit zu fragen.
IV. Aufbau der Arbeit Zu Beginn steht das Grundmodell der Steuerhinterziehung von Allingham/ Sandmo, 1972 im Mittelpunkt, das in konsequenter neoklassischer Tradition einen situativen Nutzenmaximierer unterstellt, der für jede einzelne Steuererklärung Strafe und Entdeckungswahrscheinlichkeit gegen die erwarteten Erträge aus der Hinterziehung kalkuliert (Abschnitt B.I.).11 Dieses Modell folgt dem Ansatz Gary S. Beckers und liefert eine klare theoretische Prognose. Empirische Tests dieser Prognose führten jedoch zu einem so genannten „Steuerzahlerrätsel“ (Abschnitt B.II.), weil bezogen auf die Prognose viel zu wenige Steuerzahler hinterziehen. Aber auch der Gesamtumfang der Steuerhinterziehung fällt zu gering aus. Um diese empirischen Ergebnisse berücksichtigen zu können, entwickelte man verschiedene Erklärungsmuster. Ein Modell, das das Steuerzahlerrätsel noch am ehesten innerhalb des ökonomischen Modells zu lösen versprach, war das Modell des rationalen Regelbefolgers, das konzediert, dass Individuen jenseits des Informationsbeschaffungsproblems auch Kompetenzprobleme für die Lösung von Aufgaben haben können (Abschnitt B.III.). Dies führt dazu, dass sie sich in komplizierten Situationen auf einfache Regeln verlassen, die „auf der sicheren Seite“ liegen. Aller___________ 11
Siehe Allingham/Sandmo, 1972.
20
A. Einleitung
dings folgt aus diesem Modell, dass größere Komplexität und damit Ungewissheit der Steuerzahler über Variablen wie die „richtige Steuerlast“ dazu führen, dass weniger hinterzogen wird. Im Extrem bedeutet dies, dass eine Steuer, bei der die Steuerzahler nicht mehr die Höhe ihrer Steuerpflicht feststellen können oder die Zahlungen der anderen nicht mehr nachvollziehen können, am wenigsten Hinterziehung aufweist. Diese Schlussfolgerung offenbart die zentrale Schwäche des Modells des rationalen Regelbefolgers: Auch wenn abschnittsweise zutreffen mag, dass Individuen so auf Komplexität reagieren, bedarf es einer Erklärung, von welchem Maß an Unsicherheit sie beginnen, sich anders zu verhalten. Deshalb ist zu untersuchen, wie Komplexität und damit Unsicherheit auf individuelles Verhalten wirkt. Im Rahmen dieser Arbeit ist Komplexität gleichzusetzen mit institutionellen Regeln, die für das Individuum Unsicherheit oder sogar Ungewissheit über die möglichen Ergebnisse erzeugen. Ausgehend von den zentralen Annahmen des homo oeconomicus (Abschnitt C.I.) wie Eigennutz und ökonomisches Prinzip lassen sich ergänzende Erklärungsansätze innerhalb eines Verhaltensmodells aufnehmen, das man als homo oeconomicus institutionalis bezeichnen kann (Abschnitt C.II.). In diesem Verhaltensmodell sind die situative Nutzenoptimierung und rationale Regelbefolgung lediglich zwei der möglichen Verhaltensweisen. Zwei weitere Verhaltenskategorien bilden unreflektiertes mustergebundenes Verhalten und emotionales Verhalten. Überdies spielen frames in Form von kognitiven Grenzen bei Komplexität eine zentrale Rolle in Bezug auf die Größe des Möglichkeitsraumes von Entscheidungen. Und schließlich befindet sich jedes Individuum eingebettet in einen institutionellen Raum, der sich in Wechselwirkung zu seinen (sozialen und eigennützigen) Präferenzen, kognitiven Grenzen und Verhaltensoptionen befindet. Soziale Interaktionen über diesen institutionellen Rahmen sind bei der Bewältigung komplexer Entscheidungssituationen in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen in Bezug auf Komplexität im Allgemeinen sind die zentralen Verhaltensmöglichkeiten in Bezug auf komplexe Steuern zu formulieren, um herauszufinden, ob durch Komplexität erzeugte Unsicherheit zu weniger oder mehr Steuerhinterziehung führt. Dafür ist zu fragen, welcher Zusammenhang zwischen Steuerkomplexität und Institutionen als sozialen Spielregeln besteht (Abschnitt D.I.). Genauso ist der Frage nachzugehen, welche Wirkung Komplexität auf soziale Präferenzen (Abschnitt D.II.), auf kognitive Grenzen (Abschnitt D.III.), auf Emotionen (Abschnitt D.IV.) und auf habituelles Verhalten (Abschnitt D.V.) haben kann. Am Ende von Kapitel D. werden diese Wirkungsmöglichkeiten in Hypothesenform zusammengefasst.
IV. Aufbau der Arbeit
21
Um der Frage nachzugehen, wie Komplexität auf die Bereitschaft der Wirtschaftssubjekte zur Steuerhinterziehung wirkt, ist auf der Basis der bestehenden Theorieansätze im Modell des homo oeconomicus und des rationalen Regelbefolgers die Hypothese zu testen, ob in einer Situation von höherer Unsicherheit die Steuerzahler tatsächlich ehrlicher sind als in einer Situation von geringerer Unsicherheit. Die alternative Hypothese lautet, dass in einer Situation höherer Unsicherheit die Steuerhinterziehung steigt und folglich andere Verhaltenshypothesen wie Steuermoral oder eine Präferenz für ehrliches Verhalten vorliegen (Kapitel E.). Bestätigt das Experiment, dass Komplexität zu einer Steigerung der Steuerhinterziehung führt, so ist nach der Umsetzung dieser Erkenntnis in die praktische Steuerpolitik zu fragen. Für die Beurteilung von Steuerkonzeptionen werden üblicherweise Besteuerungsgrundsätze herangezogen, die eine ideale, aber keineswegs immer konfliktfreie Zielkonzeption beschreiben. Unter den klassischen Besteuerungsgrundsätzen findet sich auch der Grundsatz der Einfachheit, der früher auch als Erhebungsbilligkeit bezeichnet wurde. Dieser kann durchaus im Konflikt mit anderen Besteuerungsgrundsätzen wie etwa dem der Leistungsfähigkeit stehen. Muss der Grundsatz der Einfachheit neu bewertet werden, weil Abweichungen davon die Steuerhinterziehung begünstigen, so ist das Verhältnis von Einfachheit und Leistungsfähigkeit neu zu bestimmen (Abschnitt F.I.). Gelingt der experimentelle Nachweis des positiven Zusammenhangs von Komplexität und Hinterziehung, lassen sich abschließend auch steuerpolitische Reformkonzeptionen bewerten. In Deutschland sind zurzeit zwei grundlegende Reformkonzepte in der Diskussion, die beide den Anspruch vertreten, sie führten zu wesentlichen Steuervereinfachungen. Anhand der Reformkonzepte kann gezeigt werden, inwiefern der Neubewertung des Besteuerungsgrundsatzes der Einfachheit Rechnung getragen wird (Abschnitt F.II.). Kapitel G. fasst die Ergebnisse zusammen und zieht Schlussfolgerungen hinsichtlich der polit-ökonomischen Konsequenzen für den Grundsatz der Einfachheit. Dabei ist zum Einen nach der Rolle des Gesetzgebers und dessen Anreizen zu fragen, Steuervereinfachung als Ziel zu verfolgen, zum Anderen ist zu fragen, welche Anreize für das Bundesverfassungsgericht bestehen, die Steuereinfachheit als Rechtsgrundsatz zu entdecken und welche Voraussetzungen dafür zu erfüllen sind. Kapitel H. bietet einen Überblick über die Arbeit und fasst die Forschungsergebnisse zusammen.
22
A. Einleitung
V. Begriffsabgrenzung Steuereinfachheit beschreibt in dieser Arbeit einen Zustand, bei dem der Steuerzahler einen möglichst geringen Aufwand betreiben muss, um seine exakte Steuerpflicht zu ermitteln. Analog meint Steuerkomplexität, dass dieser Aufwand relativ hoch ist.12 In den Aufwand für die Bestimmung der individuellen Steuerpflicht fließt ein, dass der Steuerzahler sowohl Schwierigkeiten haben kann, materiell zu prüfen, welche Rechtsnormen auf seinen Fall anzuwenden sind, als auch im Anschluss daran die Rechtsnormen im Einzelnen zu befolgen und den Umfang seiner Steuerpflicht zu berechnen. Damit ist eine breite Definition von Steuereinfachheit gewählt, die im Wesentlichen auf die Unsicherheit des Steuerzahlers über seine exakte Steuerpflicht abhebt. Eine komplexe Steuer ist demnach eine Steuer, die mit großer Unsicherheit über die exakte Steuerpflicht einhergeht, während eine einfache Steuer keine Zweifel darüber lässt. Es gibt Studien, die einen wesentlich engeren Begriff zugrunde legen. So beziehen Cuccia/Carnes, 2001 sich in ihrer Befragung allein auf den Aufwand, der zwischen einer schrittweisen, aber zeitraubenden Rechenanweisung und dem Ablesen aus einer entsprechenden Tabelle besteht. Diese Definition lässt unberücksichtigt, dass Steuerrechtsnormadressaten vor der Berechnung ihrer Steuerschuld klären müssen, welche Normen in ihrem Fall relevant sind. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Steuerehrlichkeit taucht der Begriff der Unsicherheit auf. In dieser Arbeit bedeutet Unsicherheit, dass ein Ereignis nicht mit Sicherheit feststeht, sondern mit einer gewissen Eintrittswahrscheinlichkeit eintreten kann. Unsicherheit ist also gleichbedeutend mit dem herrschenden Verständnis von Risiko. Darüber hinaus kommt auch der Begriff der Ungewissheit vor, die beschreibt, dass gar keine Eintrittswahrscheinlichkeit bekannt ist oder angenommen werden kann. Obwohl in Teilen der Literatur diese Unterscheidung mittlerweile nicht mehr üblich ist, erweist sie sich im Kontext dieser Arbeit als hilfreich, um zwischen den Ereigniswahrscheinlichkeiten im Experiment (unter Unsicherheit beziehungsweise Risiko) und den auch nicht subjektiv bestimmten Ereigniswahrscheinlichkeiten im Rahmen des existierenden Steuerrechts (Ungewissheit) unterscheiden zu können. Unter Steuerhinterziehung versteht man im Allgemeinen, dass der Steuerzahler absichtsvoll die dem Staat geschuldete Steuerlast verkürzt. Tatsächlich ist diese Begriffsfestlegung gemessen am rechtlichen Begriff der Steuerhinterziehung zu eng, denn nach geltendem Recht in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, unterliegt der Steuerpflichtige weitreichenden Informationspflich___________ 12
Vgl. dazu Slemrod, 1989, S. 157 und 168, der unter Komplexität die vier Aspekte „predictability“, „enforceability“, „difficulty“ und „manipulability“ diskutiert.
V. Begriffsabgrenzung
23
ten. Gemäß dem Grundsatz, dass Unwissenheit vor Strafe nicht schütze, verlangt das Steuerrecht vom Steuerpflichtigen, dass er sich über den Umfang und das Ausmaß seiner Steuerpflicht selbst informiert. Unterlässt er dies, erfüllt er den objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung, indem er die Steuerbehörde in Unkenntnis über eine erhebliche Tatsache lässt. Kommt hinzu, dass der Steuerpflichtige auch nur bedingt vorsätzlich handelt, ist auch das subjektive Tatbestandsmerkmal erfüllt. Ist ein Vorsatz, etwa aufgrund eines Tatbestandsirrtums ausgeschlossen, kann es sich immer noch um eine fahrlässige Steuerverkürzung handeln.
B. Komplexität im Grundmodell und im Modell des rationalen Regelbefolgers Dieses Kapitel behandelt kurz das Grundmodell der Steuerhinterziehung (Abschnitt I.), um daran eine Schilderung des so genannten Steuerzahlerrätsels anzuschließen, das auf eine Differenz zwischen den Ergebnissen des Grundmodells und der Empirie hinweist (Abschnitt II.). Eine mögliche Auflösung des Steuerzahlerrätsels besteht darin, Steuermoral explizit aufzunehmen (Abschnitt III.), eine andere hingegen darin, die Entscheidung im Modell des rationalen Regelbefolgers zu modellieren (Abschnitt IV.). Dieses Modell führt jedoch zu einigen Schlussfolgerungen, die nicht minder große Rätsel aufgeben. Das Kapitel schließt mit der Kritik an diesem Modell (Abschnitt V.).
I. Das Grundmodell Das Grundmodell der Steuerhinterziehung entwickelten Allingham/Sandmo, 1972 aus dem Ansatz von Gary S. Becker, nach dem kriminelle Handlungen auf demselben Entscheidungskalkül beruhen wie nicht-kriminelle Handlungen, und in dem die Entscheidung, Steuern zu hinterziehen als eine risikobehaftete Portfolioentscheidung dargestellt wird.13 Aus dieser Perspektive wägt das Individuum die möglichen Erträge und die möglichen Kosten ab. Überwiegen die Erträge, handelt es kriminell, andernfalls entscheidet es sich dagegen. Im Folgenden werden in gebührender Kürze die wesentlichen Merkmale des Modells vorgestellt. In Bezug auf Steuerhinterziehung bedeutet dies, dass neben den Steuersätzen die wesentliche Bestimmungsgröße der individuellen Steuerhinterziehung die Strafe gewichtet mit der Entdeckungswahrscheinlichkeit ist: Die Steuerhinterziehung nimmt ab, wenn die Strafe angehoben wird bzw. die Entdeckungswahrscheinlichkeit steigt. Geht man der Einfachheit halber von einem Einkommen maximierenden Individuum aus, das die Möglichkeit hat, Steuern zu hinterziehen, so wird das hinterzogene Einkommen unter der Voraussetzung risikoneutralen Verhaltens gerade so liegen, dass der Erwartungswert der Steuerhinterziehung maximal ist. ___________ 13
Siehe Becker, 1976, zuerst veröffentlicht 1965. Vgl. mit einer anschaulichen Erläuterung in Cowell, 1990, S. 54–60.
I. Das Grundmodell
25
Bei einem exogen gegebenen Bruttoeinkommen Y und einem progressiv steigenden Steuersatz t (0 < t < 1) entscheidet der Steuerzahler, welchen Betrag X er hinterzieht.14 Daraus ergibt sich der Betrag der hinterzogenen Steuer Ts. Wird der Steuerzahler mit einer positiven Wahrscheinlichkeit p als Hinterzieher entdeckt, und wird dann eine Strafe S fällig, die gleich die Steuernachzahlung beinhalten soll,15 so ergibt sich der Erwartungswert der Steuerhinterziehung aus: E = Ts ⋅ (1 − p) − S ⋅ p
(1)
Gilt, dass Ts = Ts(X), Ts' > 0 und S = S(X), S' > T', also, dass die Grenzstrafe größer als der Grenzhinterziehungsbetrag ist, so wird so lange hinterzogen, bis gilt: E ( X ) max = Ts ( X ) ⋅ (1 − p ) − S ( X ) ⋅ p
(2)
In der ersten Ableitung: (3)
(4)
E ′( X ) = Ts′ ( X ) ⋅ (1 − p ) − S ′( X ) ⋅ p = 0 Ts′ ( X ) =
p ⋅ S ′( X ) 1− p
Das Optimum ist gemäß (4) dadurch gekennzeichnet, dass die marginale Steuereinsparung durch Hinterziehung der mit dem Wahrscheinlichkeitsquotienten gewichteten marginalen Strafzahlung entspricht. Grafisch ergibt sich die optimale Steuerhinterziehung X* des Grundmodells aus dem Schnittpunkt von Ts' und S'⋅ [p/(1–p)] (siehe Abbildung 1). Für die beiden Parameter „Strafmaß“ und „Entdeckungswahrscheinlichkeit“ gilt nun, dass sowohl ein höheres Strafmaß als auch eine höhere Entdeckungswahrscheinlichkeit (Verschiebung von S'⋅[p/(1–p)] nach oben) zu einer geringeren Steuerhinterziehung führen. Diese beiden Ergebnisse gelten allgemein ___________ 14 Zum Folgenden siehe Leschke, 1997, S. 160–162. Siehe ähnlich Wrede, 1993, Bayer/Reichl, 1997, S. 27–30; die alle auf Allingham/Sandmo, 1972 basieren. 15 Dies stellt eine Abweichung zum Grundmodell nach Allingham/Sandmo, 1972 dar. Dort ist die Strafe modelliert in Abhängigkeit vom hinterzogenen Einkommen.
26
B. Grundmodell und das Modell des rationalen Regelbefolgers
unabhängig von der angenommenen Risikoaversion der Steuerhinterzieher (vgl. Tabelle 1). T',S'
S' p/(1 – p) TS'
X
X* Quelle: Leschke, 1997, S. 161
Abbildung 1: Optimale Steuerhinterziehung im Grundmodell
Doch schon, wenn es um die Wirkungen einer Steuersatzänderung geht, müssen im Grundmodell weitere Annahmen bezüglich der Risikoaversion getroffen werden. Dann hängt das Ergebnis nämlich davon ab, ob eine abnehmende absolute Risikoaversion16 unterstellt wird. Wenn das der Fall ist, sinken mit steigendem Steuersatz das hinterzogene Einkommen und die hinterzogene Steuer. Mit steigendem Einkommen steigt hingegen sowohl das hinterzogene Einkommen wie auch die hinterzogene Steuer (vgl. Tabelle 1.) Tabelle 1 Wirkungszusammenhänge im Grundmodell Wirkung auf … Einflussfaktoren
Hinterzogenes Einkommen
Hinterzogene Steuer
Aufdeckungswahrscheinlichkeit
negativ
negativ
Strafsatz
negativ
negativ
Steuersatz
negativa
negativa
Einkommen
positiv a
positiva
a
unter der Annahme abnehmender absoluter Risikoaversion
Quelle: Bayer/Reichl, 1997, S. 36
___________ 16 Die abnehmende absolute Risikoaversion beschreibt, dass ein Individuum mit steigendem Einkommen bereit ist, einen absolut steigenden Betrag bei einer risikobehafteten Portfolioentscheidung einzusetzen. Siehe dazu Hirshleifer/Riley, 1992, S. 87, vgl. auch Cowell, 1990, S. 59.
II. Das so genannte „Steuerzahlerrätsel“
27
Modelliert man die Strafe in Abhängigkeit vom hinterzogenen Einkommen, wie dies bei Allingham/Sandmo, 1972 der Fall ist, ist die Auswirkung auf das Verhalten des Steuerzahlers nicht einmal mit Hilfe der Annahme abnehmender absoluter Risikoaversion zu treffen. Dasselbe gilt auch, wenn man, wie in Deutschland, die Strafe von der Schwere der Tat, die auch entsprechend der hinterzogenen Steuer zu bemessen ist, und dem Bruttoeinkommen des Straftäters abhängig gestaltet. Auch dann ist bezüglich eines steigenden Steuersatzes nicht determiniert, wie die Zensiten reagieren.17 Das Grundmodell hat viele Verfeinerungen erfahren, die andere Steuertarife, endogene Arbeitszeit, die Bereitstellung öffentlicher Güter oder auch Ungerechtigkeit berücksichtigen und dazu beitragen, ein differenzierteres Verständnis der Beziehung zwischen Steuerzahlern untereinander und zum Staat zu gewinnen. Ungeachtet dieser Ausdifferenzierung sind jedoch Diskrepanzen zwischen den theoretischen Prognosen und empirischen Arbeiten aufgetaucht, die das so genannte „Steuerzahlerrätsel“ aufstellen.18
II. Das so genannte „Steuerzahlerrätsel“ In diesem Abschnitt geht es um eine kurze Zusammenfassung bisheriger empirischer Studien, die auf der einen Seite bestätigen, dass Strafe und Entdeckungswahrscheinlichkeit in der erwarteten Richtung wirken. Auf der anderen Seite werfen diese Studien auf der Grundlage des einfachen Modells die Frage auf, warum die Steuerzahler angesichts der zu beobachtenden geringen Entdeckungswahrscheinlichkeiten und relativ geringer Strafsätze überhaupt so viel Steuern zahlen.19 Genau darin besteht das so genannte „Steuerzahlerrätsel“.20 ___________ 17
Vgl. dazu ausführlich Hagedorn, 1991, S. 31ff. Eine prägnante Zusammenfassung bieten Bayer/Reichl, 1997, S. 38–40. 18 Das ist keineswegs das einzige Rätsel, das im Kontext der ökonomischen Theorie der Steuerhinterziehung auftaucht. Cowell, 1990, S. 72 f. behandelt zum Beispiel die Wirkungen von Steuersatzänderungen auf Steuerhinterziehung und kommt auf der Basis der Theorie wie oben dargestellt zu dem Ergebnis, dass Steuerhinterziehung mit steigendem Steuersatz fällt, sieht aber die empirische Evidenz entgegengesetzt. Siehe dazu zusammenfassend Andreoni/Erard/Feinstein, 1998, S. 838–840. Das Rätsel löst sich auch nicht auf, wenn die Bereitstellung öffentlicher Güter berücksichtigt (siehe dazu Cowell/Gordon, 1988) oder Ungerechtigkeit als Variable in das Modell aufgenommen wird. Siehe dazu Cowell, 1992. 19 So Smith/Kinsey, 1987, die monierten, dass nach diesem Modell eigentlich jeder in jedem Land Steuern hinterziehen müsste, was eindeutig empirischen Ergebnisse widersprach. Mit ähnlichen Ergebnissen auch Baldry, 1987, S. 376 und Graetz/Wilde, 1985, S. 357, Alm/McClelland/Schulze, 1999 und Schmidtchen, 1994, S. 185. 20 Webley/Robben/Elffers et al., 1991, S. 10; Schmidtchen, 1994, S. 189, Alm/McClelland/Schulze, 1999.
28
B. Grundmodell und das Modell des rationalen Regelbefolgers
Im Grundmodell läuft eine Erhöhung der Strafe oder der Entdeckungswahrscheinlichkeit auf eine sinkende Steuerhinterziehung hinaus. Dieser Zusammenhang bestätigt sich auch im Wesentlichen in ökonometrischen Studien. So zeigt Tabelle 2, dass Studien in Bezug auf Entdeckungswahrscheinlichkeit und hinterzogenes Einkommen entweder einen negativen oder einen nicht eindeutigen Zusammenhang herstellen konnten. Für das Verhältnis von Strafhöhe und hinterzogenem Einkommen wurde ein negativer bzw. nicht signifikanter Zusammenhang festgestellt. Dieses Ergebnis ändert sich auch dann nicht wesentlich, wenn man auf den Zusammenhang zwischen Strafe beziehungsweise Entdeckungswahrscheinlichkeit und dem Quotienten von hinterzogenem zu Bruttoeinkommen abstellt.21
Tabelle 2 Die Wirkung von Entdeckungswahrscheinlichkeit und Strafe auf das hinterzogene Einkommen Wirkung auf das hinterzogene Einkommen von … Entdeckungswahrscheinlichkeit
Strafe
Crane/Nourzad, 1985 und 1986
negativ
negativ
Poterba, 1987
nicht eindeutig
-
Weck-Hannemann/Pommerehne, 1989
nicht eindeutig
nicht signifikant
Quelle: Ausschnitt aus Bayer/Reichl, 1997, S. 54, die zusätzlich den jeweiligen Zusammenhang zum Quotienten aus hinterzogenem Einkommen und Bruttoeinkommen berichten.
Angesichts der theoretisch eindeutigen Vorhersage überraschen diese schwachen Ergebnisse. Insgesamt stellen die Autoren dieser Studien zwar fest, dass der Einfluss der Entdeckungswahrscheinlichkeit größer ausfällt als der Einfluss der Strafhöhe.22 Es ist aber keineswegs von der „bestimmenden Rolle“ dieser Parameter auszugehen, wie sie im ökonomischen Modell unterstellt ___________ 21
Siehe dazu Bayer/Reichl, 1997, S. 54. Vgl. dazu insbesondere Weck-Hannemann/Pommerehne, 1989, S. 14 und zusammenfassend Webley/Robben/Elffers et al., 1991, S. 8. 22
III. Steuermoral
29
sind,23 so dass im Ergebnis festzuhalten ist, dass Vorhersagen auf der Basis des ökonomischen Grundmodells sowohl die Häufigkeit als auch das Ausmaß an Steuerhinterziehung überschätzen.24 Das wirft unmittelbar die Frage nach Modifikationen des Grundmodells auf, von denen die Steuerhinterziehungsliteratur seit diesem empirischen Befund einige vorgestellt hat. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, alle Varianten weiter zu verfolgen. Im Kontext der mit Steuern verbundenen Komplexität und ihrer Wirkung auf Steuerhinterziehung stehen vor allem zwei Diskussionslinien im Vordergrund:25 Die eine Linie verfolgt Steuermoral als die entscheidende Variable (Abschnitt III.). Die andere Linie greift die begrenzten kognitiven Möglichkeiten der Steuerzahler auf, mit komplexen Situationen umzugehen (Abschnitt IV.).
III. Steuermoral Eine mögliche Antwort auf das Steuerzahlerrätsel ist, dass die Steuerpflichtigen nicht allein einem ökonomischen Kalkül folgen, sondern einer Steuermoral verpflichtet sind. Versteht man unter einem moralischen Verhalten, dass man die „Regeln, welche die Mitglieder einer Gemeinschaft als gerecht ansehen, von diesen nicht aus egoistischen Motiven gebrochen werden“26 so ist Steuermoral eine Präferenz zur Normtreue gegenüber dem Steuergesetz. Der Steuerzahler fühlt sich nicht nur als Steuerpflichtiger, sondern auch als Bürger und will seinen Beitrag zum Gemeinwesen im Sinne einer civic virtue27 leis-
___________ 23
So Bayer/Reichl, 1997, S. 55. Siehe mit dieser Schlussfolgerung Erard/Feinstein, 1994, S. 70 ff. 25 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, zwischen objektiv bestehenden Wahrscheinlichkeiten für die Entdeckung und subjektiv wahrgenommenen Entdeckungswahrscheinlichkeiten zu unterscheiden. So ist aus der experimentellen Ökonomik bekannt, dass Individuen objektiv niedrige Wahrscheinlichkeiten subjektiv höher bewerten. Infolgedessen führt eine geringe Entdeckungswahrscheinlichkeit zu deutlich weniger Hinterziehung als erwartet. Diese Diskussionslinie verfolgen beispielsweise Erard/Feinstein, 1994 und kommen zu dem Ergebnis, dass Steuerzahler die Entdeckungswahrscheinlichkeit eklatant überschätzen. In Experimenten zeigt sich auch, dass viele Individuen grundsätzliche Schwierigkeiten im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten haben, siehe dazu Webley/Robben/Elffers et al., 1991. Zur Bildung von Meinungen über Strafen siehe Stalans/Kinsey/Smith, 1991. Eine Erhöhung der Entdeckungswahrscheinlichkeit mit entsprechender Ankündigung führt nur zu einer moderaten Erhöhung der Steuereinnahmen. Siehe dazu Slemrod/Blumenthal/Christian, 2001, S. 482. 26 Leschke, 1997, S. 165. 27 Vgl. Frey, 1997. 24
30
B. Grundmodell und das Modell des rationalen Regelbefolgers
ten.28 Diese umfassende Definition von Steuermoral ist noch wenig operabel, leistet aber fürs Erste gute Dienste.29 Will man die Steuermoral als das erklärende Argument für das Steuerzahlerrätsel heranziehen, so wäre das hinterzogene Einkommen X mit einem „Moralkoeffizienten“ n zu gewichten, so dass (X ⋅ n) die Nutzeneinbuße der Steuerhinterziehung determiniert.30 Die Erwartungsnutzenfunktion lautet dann: E ( X , n) max = Ts ( X ) ⋅ (1 − p) − S ( X ) ⋅ p − n( X )
(5)
Die Bedingung erster Ordnung lautet: E ′( X , n) = Ts′ ( X ) ⋅ (1 − p) − S ′( X ) ⋅ p − n = 0
(6)
Der Moralkoeffizient n lässt eine Vielzahl von Interpretationen zu. So wäre n als individuelle Zuordnung geeignet, die persönliche Disposition zum Gemeinwesen31 abzubilden. Es wäre aber auch denkbar, mit n den Reputationsverlust bei aufgedeckter Steuerhinterziehung zu erfassen. Die Aufnahme des Moralkoeffizienten in das Marginalkalkül lässt aber unberücksichtigt, dass in empirischen Studien die Parameter p und S sich zwar mit dem richtigen Vorzeichen, aber nicht signifikant auf die Steuerhinterziehungsentscheidung auswirken.32 Das bedeutet, dass die Hinterziehungsentscheidung möglicherweise gar keinem Marginalkalkül unterliegt, sondern Steuermoral als Handlungsrestriktion zu verstehen ist. Das könnte bedeuten, dass Steuerehrlichkeit eine Präferenz darstellt, bei der es um eine „alles oder nichts“Entscheidung geht. Dieses Vorgehen, das bereits von Frey 1988 vorgeschlagen ___________ 28
Vgl. Schmidtchen, 1994, S. 187, Leschke, 1997, S. 165–166. Auch Baldry, 1986. Vgl. so schon Schmölders, 1979, S. 300ff., der Steuermoral dann aber als Einstellung zum Steuerdelikt operationalisiert. Dem hier zugrunde gelegten weiten Begriff der Steuermoral stünde bei Schmölders der Begriff der Steuermentalität etwas näher. In der Literatur bilden die Motive „tax morale“, „tax ethics“, „moral sentiments“ etc. häufig eine nicht näher spezifizierte Auffangkategorie für ansonsten nicht erklärbares Verhalten. Siehe dazu auch Abschnitt D.I.1. 30 Dazu und zum Folgenden siehe Schmidtchen, 1994, S. 192. 31 Dies bezeichnet Margolis, 1982 als „participation altruism“. Siehe auch Pommerehne/Hart/Frey, 1995, S. 53 zu einem solchen Verhalten gleich nach dem Zustandekommen eines Gesellschaftsvertrags. 32 So Pommerehne/Frey, 1993 und Weck-Hannemann/Pommerehne, 1989. 29
IV. Der Ansatz der Kompetenz-Schwierigkeitslücke
31
wurde, macht die Steuermoral zum Prinzip, zu einer Regel, die sich das Individuum selbst auferlegt. Anhand der entmarginalisierten Steuermoral findet das Steuerzahlerrätsel dann eine Lösung: Weil ausreichend viele Personen über eine Steuermoral verfügen, zahlen sie ehrlich Steuern.
IV. Der Ansatz der Kompetenz-Schwierigkeitslücke Der Nachteil der moralischen Erklärung besteht darin, dass die Entmarginalisierung zu keiner ökonomischen Erklärung der Steuerehrlichkeit führt. Es besteht eine Regelgebundenheit, die nicht aus einem ökonomischen Kalkül heraus zu erklären ist. Um dem begegnen zu können, schlägt Schmidtchen vor, die Regel als Reaktion auf Unsicherheit zu interpretieren, etwa aufgrund einer Kompetenz-Schwierigkeitslücke.33 Danach gibt es grundsätzlich zwei Klassen von Variablen, welche die Entscheidungssituation wesentlich beeinflussen. Die Variable e umfasst die Komplexität der Umweltbedingungen. So ist z. B. das Verhalten der Finanzbehörden und der Gerichte nicht klar vorhersehbar, das Rechtssystem birgt Unsicherheiten. Die Variable k umfasst hingegen die kognitive Dimension: Der Akteur erfasst nicht alle relevanten Parameter oder interpretiert sie mit einem bias. Obwohl er möglicherweise alle Informationen zur Verfügung hat, ist er nicht imstande die Informationen „objektiv“ zu verwerten. Es besteht eine Kompetenz-Schwierigkeitslücke zwischen e und k, auf die seine rationale Antwort die Regelbefolgung ist. Regelbefolgung bedeutet, dass der Akteur sein Entscheidungsfeld innerhalb der exogenen Restriktionen einschränkt. In Abbildung 2 führt diese Einengung des Entscheidungsfeldes durch die Vertikale R dazu, dass er nur noch die links von R liegenden Entscheidungen zulässt, obwohl im Marginalkalkül sein Entscheidungsfeld bis X* reicht. Wenn zwischen der Schwierigkeit einer Aufgabe und der individuellen Fähigkeit, sie zu lösen, eine Lücke klaffen kann, dann lässt sich diese Lücke als Unsicherheitsstruktur U (e, k), die durch die Variablen e (komplexe Umwelt) und k (kognitive Wahrnehmung von e) gegeben ist, abbilden. Diese Lücke weist grundsätzlich andere Eigenschaften auf als imperfect information,34 denn sie besteht darin, dass ein Individuum trotz vollständiger Information die gestellte Aufgabe nicht lösen kann. In diesem Modell kann das Individuum also rational handeln, ohne die richtige Entscheidung zu treffen. Gegenüber der bisherigen Theorie, in der falsche Entscheidungen ex ante nicht denkbar waren, ist ___________ 33
Siehe zum Folgenden Schmidtchen, 1994, S. 198ff. Grundlegend dazu Heiner, 1983, der die Kompetenz-Schwierigkeitslücke entwickelt hat. 34 Vgl. dazu Simon, 1955.
32
B. Grundmodell und das Modell des rationalen Regelbefolgers
dies das herausragende Merkmal der Heiner’schen Kompetenz-Schwierigkeitslücke.35 t, p · s
p· s (x)
B
A
t = t
Regelzone R 0
Xh
X*
W
X=´(W - W)
Quelle: Schmidtchen, 1994, S. 199
Abbildung 2: Steuerhinterziehung bei regelgebundenem Verhalten
Für Schmidtchen sind Steuerhinterziehungsentscheidungen ein Beispiel für die Kompetenz-Schwierigkeitslücke.36 Er verweist darauf, dass in der traditionellen Theorie der Steuerzahler vor dem Entscheidungsproblem steht, wie viel Steuern er hinterziehen soll. Stattdessen müsste die Entscheidung auf einer vorgelagerten Stufe analysiert werden: Das Individuum fragt sich dann im konkreten Fall nur, ob es sich an seine Regel, ehrlich Steuern zu zahlen, halten soll oder nicht. Als Beispiel sei der bisher absolut ehrliche Steuerzahler betrachtet. Für ihn ist der Entscheidungsraum (in Abbildung 2 begrenzt durch R) gleich Null. R entspricht dann also der y-Achse. Die Wahrscheinlichkeit, dass das globale Optimum außerhalb des Entscheidungsraumes liegt und dieses Steuerhinterziehung bedeutet, sei mit q gegeben. Steuerhinterziehung ist also eine „bevorzugte Ausnahme“.37 Der ehrliche Steuerzahler wägt nun ab, „whether the gains g (e) from selecting the action under the right conditions (when it is actually more preferred) will cumulate faster than the losses l (e) from selecting it under the wrong conditions (when it is actually less preferred).“38
___________ 35 Siehe Heiner, 1990. Vgl. auch Hodgson, 1997. Um sich den Unterschied zwischen unvollständiger Information und der Kompetenz-Schwierigkeitslücke vorzustellen, denke man an ein Schachspiel gegen Kasparow. Man scheitert nicht an der Unvollständigkeit der Information, sondern daran, diese Informationen mit entsprechender Kompetenz zu interpretieren und zu nutzen. 36 Siehe Schmidtchen, 1994, S. 203. 37 Die bevorzugte Ausnahme („preferred exception“) beschreibt den Fall, in dem das Optimum außerhalb der Regelzone liegt. Ein Regelverstoß würde dann den Nutzen des Individuums steigern. Vgl. Heiner, 1990, S. 24; Schmidtchen, 1994, S. 199. 38 Heiner, 1983, S. 566.
34
B. Grundmodell und das Modell des rationalen Regelbefolgers
Die daraus entstehende These ist, dass mit steigender Komplexität die Steuerhinterziehung sinkt. Die Begründung ist, dass die Steuerzahler von ihrer Entscheidungsregel im eigenen Interesse nicht abweichen, wenn die Entscheidungsunsicherheit gegenüber dem Toleranzlimit zu groß ist. Das bedeutet, dass die Steuerbehörden die Steuerhinterziehung beeinflussen können, indem sie die Unsicherheit vergrößern. Diese Auffassung herrscht in der ökonomischen Literatur bisher vor. Entsprechend äußern sich Andreoni/Erard/Feinstein, 1998 in einem den Forschungsstand der ökonomischen Steuerhinterziehungsliteratur darstellenden Aufsatz im Journal of Economic Literature, in dem sie feststellen, dass aus der Perspektive des Fiskalstaates eine gewisse Unsicherheit rational sei „because chilled taxpayers pay more taxes.“41 Das Modell des rationalen Regelbefolgers ist in der Lage, eine ökonomische Erklärung dafür zu geben, warum es in komplexen Situationen zu Regelbindungen kommt und wie die Regelbindung sich auf die Entscheidung auswirkt. Im Fall der Steuerhinterziehung kann das erklären, warum viele Steuerzahler ehrlich Steuern zahlen: Sie sehen die möglichen Gewinne und Verluste einer anderen als einer ehrlichen Steuerzahlung im Hinblick auf ihre begrenzten Fähigkeiten als zu gering an, als dass sie das Risiko eingehen wollten zu hinterziehen. Trifft das Modell zu, wäre die steuerpolitische Konsequenz für einen rationalen Staat als Akteur jedoch, dass er die Steuern zunehmend komplizierter gestalten würde, um die Steuerzahler zur Angabe zunehmend höherer Einkommen zu bewegen und damit ein höheres Aufkommen zu erzielen.
V. Kritik an den bisherigen Ansätzen Dieses Kapitel hat kurz dargestellt, dass ausgehend vom Grundmodell sich angesichts ökonometrischer Arbeiten ein Steuerzahlerrätsel stellt. Das Rätsel besteht darin, dass bei den tatsächlich vorherrschenden Entdeckungswahrscheinlichkeiten und Strafen das Grundmodell eine viel höhere Steuerhinterziehung vorhersagt, als sie empirisch zu beobachten ist. Um das Rätsel zu lösen, gibt es zwei Erklärungsansätze: Der erste Ansatz besteht darin, Steuermoral als Handlungsrestriktion zu verstehen, die steuerehrliches Verhalten dem Marginalkalkül entzieht. Diese Erklärung hat den Nachteil, dass sie die Entscheidung nicht ökonomisch erklären kann. Der zweite Ansatz besteht im Modell des rationalen Regelbefolgers, der sich angesichts seiner begrenzten kognitiven Fähigkeiten und einer komplizierten Umwelt eine einfache Regel bildet. Diese Erklärung hat den Vorzug, dass sie die Regelbildung ökonomisch erklärt. Sie hat den Nachteil, dass sich daraus die steuerpolitische Konsequenz ergibt, die Steuer ___________ 41
Andreoni/Erard/Feinstein, 1998, S. 852 f. Diese These unterstützend Scotchmer, 1989b.
V. Kritik an den bisherigen Ansätzen
35
zunehmend undurchschaubarer zu gestalten, um ein höheres Aufkommen zu erzielen. Mit zunehmender Komplexität der Steuer kommt es jedoch zu gegenläufigen Effekten, so dass der Ansatz der rationalen Regelbefolgung für die praktische Ausgestaltung eines ganzen Steuersystems oder einer einzelnen Steuer ungeeignet ist. Zu diesen gegenläufigen Effekten zählt zum Einen darin, dass die Unsicherheit über die „richtige“ Steuerlast nicht nur auf Seiten der Zensiten wächst, sondern auch auf Seiten der Steuerbehörden. Auch sie haben bei unklaren Steuernormen einen größeren Prüfaufwand, um die richtige Steuerlast festzusetzen. Überdies irren sie sich häufiger als bei einer einfachen Steuer und verursachen dadurch mehr Einsprüche, die wiederum einen höheren Aufwand bedeuten. Ein weiterer Effekt besteht darin, dass Steuerpflichtige davon ausgehen könnten, dass sie einer Pflicht nachkommen, die ihnen der Steuergesetzgeber nicht unnötig erschweren sollte. Löst eine zunehmend komplexere Steuer einen steigenden Aufwand bei der Ermittlung der Steuerpflicht aus, könnte dies den Steuerzahler frustrieren. Die Folge wäre ein emotionaler Steuerwiderstand. Gleichzeitig berührt eine komplexe Steuer aber auch das Gerechtigkeitsempfinden der Zensiten. Bis zu einem gewissen Punkt dient eine Ausdifferenzierung der Steuer dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden, weil bestimmte Abzugsmöglichkeiten der Leistungsfähigkeit entsprechen. Ab einem kritischen Komplexitätsgrad schlägt dieses subjektive Empfinden um, und es werden Steuerprivilegien befürchtet, die sich dem Einzelnen nicht mehr erschließen, so dass er subjektiv davon ausgeht, relativ zuviel Steuern zu zahlen. Die Steuer bzw. das Steuersystem wird subjektiv nicht mehr als gerecht empfunden, und es mehren sich Steuerwiderstände in Form von Hinterziehungen. Und schließlich ist das tatsächliche Hinterziehungsverhalten der Zensiten auch dadurch bestimmt, welche subjektiven Einschätzungen sie sich über das Zahlungsverhalten der anderen machen. Das subjektive Empfinden, das sich die anderen den Steuerzahlungen entziehen können, nimmt mit komplexerer Steuerausgestaltung zu. Herrscht beispielsweise die Vorstellung vor, dass die anderen sich den Steuerzahlungen entziehen, und empfinden sich die NichtHinterzieher als die „letzten Ehrlichen“, dann beginnen auch sie, Steuern zu hinterziehen. Im Ergebnis bedeutet dies, dass Steuerkomplexität möglicherweise mehr Effekte auslöst als im Modell der rationalen Regelbefolgung angelegt sind. Diese Effekte können zu gänzlich anderen steuerpolitischen Schlussfolgerungen führen, weil sie anders als bei rationaler Regelbefolgung nicht nahe legen, die Steuern komplizierter zu gestalten, um ein höheres Aufkommen zu erzielen. Um die genannten Effekte weiter zu verfolgen, ist ein Verhaltensmodell zu
36
B. Grundmodell und das Modell des rationalen Regelbefolgers
entwickeln, das breiter als das Grundmodell und das Modell des rationalen Regelbefolgers angelegt ist und andere Verhaltensweisen berücksichtigt, um in Bezug auf Steuerkomplexität die bisherigen Erkenntnisse zu systematisieren und Hypothesen zu entwickeln.
C. Komplexität im Modell des homo oeconomicus institutionalis Gegenstand dieses Kapitels ist die Skizzierung eines Verhaltensmodells, das im Rahmen des rational choice-Paradigmas eine größere Vielfalt von Verhaltensweisen und Motiven bei komplexen Entscheidungssituationen berücksichtigt als der homo oeconomicus klassischer Prägung. Aufgrund seiner vielfältigen Interdependenzen mit Institutionen sei das Verhaltensmodell als homo oeconomicus institutionalis bezeichnet. Verhaltensmodelle haben zwei Funktionen: Sie geben zum Einen eine systematische Basis für die Ableitung von Prognosen. Zum Anderen können sie Verhalten erklären, indem sie ausgehend von einer konkreten Reaktion Hinweise darauf geben, auf welche Faktoren das Verhalten zurückzuführen ist. Allenfalls auf den ersten Blick scheint zuzutreffen, dass diese beiden Funktionen separat zu erfüllen sind, so dass keineswegs ein einheitliches Verhaltensmodell für Prognosen und Verhaltenserklärung zugrunde zu legen ist. Diese Auffassung vertritt etwa Friedman, 1953, der allein auf die prognostische Qualität abhebt und es auch für verfehlt hält, an die Annahmen weitergehende Anforderungen etwa bezüglich des Realitätsgehaltes zu stellen.42 Soll das Verhaltensmodell aber Verhalten auch erklären können, bedarf es einigermaßen realistischer Annahmen. Im Kontext eines solchen analytisch-erklärenden Ansatzes hat das Verhaltensmodell einen heuristischen Gehalt, der um so größer ausfällt, je genauer tatsächliches Verhalten erfasst werden kann. Gleichzeitig gilt, dass der steigende heuristische Gehalt in der Folge auch die darauf gestützte Prognose verbessert. Im Verhaltensmodell des homo oeconomicus klassischer Prägung sind die absolute und die relative Risikoaversion in Verbindung mit den erwarteten Erträgen der Hinterziehung sowie den korrespondierenden Entdeckungswahrscheinlichkeiten und Strafen die entscheidenden Parameter für den Umgang mit Komplexität und der daraus resultierenden Unsicherheit. Die meisten Modelle sagen auf der Basis der tatsächlichen Parameter für Strafhöhe und Entde___________ 42 „In so far as a theory can be said to have ‚assumptions‘ at all, and in so far as their ‚realism‘ can be judged independently of the validity of predictions, the relation between the significance of a theory and the ‚realism‘ of its ‚assumptions‘ is almost the opposite of that suggested by the view under criticism.“ Friedman, 1953, S. 14.
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
ckungswahrscheinlichkeit jedoch eine viel höhere Steuerhinterziehung voraus als tatsächlich zu beobachten ist.43 Vor dem Hintergrund des komplizierten deutschen Einkommenssteuerrechts wäre etwa zu bedenken, ob nicht die Fähigkeiten, die Vorgaben des Rechts bezogen auf den eigenen Fall zu verarbeiten, eine viel größere Rolle spielen als bisher angenommen.44 Ebenso wichtig könnten habituelle Verhaltensweisen sein, denen der Steuerpflichtige folgt, ohne situativ ein Nutzenkalkül aufzustellen,45 oder soziale Normen wie „Ein ehrlicher Bürger zahlt seine Steuern“. Bei letzteren könnte die subjektive Wahrnehmung ihrer Verbindlichkeit eine bedeutende Rolle spielen. Und schließlich ist zu fragen, ob es nicht wesentliche Wechselwirkungen zwischen institutionellen Prozessen der Normverankerung und den individuellen Präferenzen gibt.46 In der ökonomischen Verhaltenswissenschaft ist der Ausgangspunkt der homo oeconomicus (Abschnitt I.). Von dort aus ist die Diskussion des Verhaltensmodells auf der Basis endogener sowie sozialer Präferenzen, habitueller Verhaltensweisen und Emotionen sowie kognitiver Grenzen geführt worden, die dieses Kapitel zu einem Verhaltensmodell des homo oeconomicus institutionalis zusammenfasst und auf das Problem der Komplexität im Kontext der Steuerehrlichkeit bezieht (Abschnitt II.). Das Kapitel endet mit einer präzisierten Fragestellung in Bezug auf die Wirkung von Komplexität auf die Entscheidung, individuell steuerehrlich zu sein (Abschnitt III.).
I. Ausgangspunkt homo oeconomicus: Eigennutz und ökonomisches Prinzip Die Ökonomik stellt mit dem erklärenden Verhaltensmodell des homo oeconomicus ein positiv-analytisches Werkzeug bereit, das im Wesentlichen auf ___________ 43 Erst Arrow-Pratt-Risikomaße von mehr als 30 könnten das bestehende Ausmaß der Steuerehrlichkeit erklären. Da Feldstudien Werte zwischen 1 und 2 nahe legen, stellt sich die Frage, ob nicht andere Faktoren als die ökonomischen eine bedeutendere Rolle spielen. Siehe dazu Feld/Frey, 2000, S. 3. 44 In der Ökonomie ist diese Diskussion unter dem Stichwort „Lernen“ diskutiert worden. Siehe dazu Friedman, 1998 mit dem Ergebnis, dass so genannte „Anomalien“ des Entscheidungsmodells häufig damit zu erklären sind, dass ein Lernprozess stattfindet. Bildet man diesen Lernprozess mit ab, so Friedman, verschwindet die Anomalie. 45 Habituelle Verhaltensweisen meinen hier nicht nur die rationale Regelgebundenheit im Sinne des rationalen Regelbefolgers, wie er in Kapitel B. vorgestellt wurde, sondern auch die nicht-reflektierte Regelbindung durch die Sozialisierung eines Individuums. Siehe dazu Hodgson, 1998. 46 Siehe Bowles, Ibid. zu endogenen Präferenzen.
I. Ausgangspunkt homo oeconomicus
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zwei Prämissen beruht, die auch durch die vielfältigen Modifikationen, die das Modell im Zeitablauf erfahren hat, unangetastet geblieben sind: 47 – Individuen handeln eigennützig, d. h. sie handeln gemäß ihren Präferenzen. Diese müssen nicht egoistischer Art sein, sondern können auch altruistische Merkmale aufweisen.48 – Individuen handeln in einer Entscheidungssituation gemäß dem ökonomischen Prinzip: Sie verschwenden keine Ressourcen. Nach der umfassendsten Definition handelt ein Individuum eigennützig, wenn es sich gemäß seiner Präferenzen verhält. Wenn als Präferenzen alle Formen persönlicher Wert- und Zielvorstellungen akzeptiert sind, zum Beispiel auch der bereits erwähnte Altruismus, ist der Erklärungswert des Modells jedoch gering. Alles Handeln ist dann eigennützig, weil jede Handlung auf eine Präferenz zurückgeführt werden kann. Ohne genauere Kenntnis der Präferenzen weist dieses Modell keinerlei Prognosefähigkeit auf. In einer deutlich engeren Definition werden nur eigennützige Präferenzen, die sich für das Individuum in direkt und persönlich auszahlenden Wert- und Zielvorstellungen zeigen, erfasst.49 Diese Definition, die auch die Lehrbücher bestimmt, führt zu deutlich präziseren Prognosen, allerdings zu dem Preis, dass in Kontexten, in denen soziale Präferenzen eine Rolle spielen, die Qualität der Prognose deutlich geringer ist. Handeln gemäß dem ökonomischen Prinzip bedeutet, dass ein Individuum seine Ziele kennt und seine Mittel zielführend einsetzt. In den letzten Jahren ist diese Annahme immer wieder heftig umstritten gewesen, weil man meinte, experimentell zeigen zu können, dass Individuen häufig offensichtlich irrational handeln. Ein häufig angeführtes Beispiel ist etwa der so genannte Besitzeffekt50. Allerdings macht es wenig Sinn, dieses Phänomen gegen die Rationalitätsannahme ins Feld zu führen, weil sie eher darauf hinweist, dass Individuen bei der Zielverfolgung fehlerhaft vorgehen, etwa weil sie psychologisch Illusionen unterliegen, als dass sie irrational vorgehen würden. Sie handeln für den wissenschaftlichen Beobachter also nur irrational, weil dieser unterstellt, dass ___________ 47
Siehe dazu Kirchgässner, 1991, S. 13 ff. Vgl. Tullock, 1987, S. 637 merkt dazu an, „almost all of us will, at least occasionally, make sacrifices for other people, sometimes extreme sacrifices. Still, the generalization that we are 95% selfish and only 5% altruistic is reasonably accurate.“ 49 Nida-Rümelin, 1994, S. 5 nennt das die „instrumentell-egoistische Theorie praktischer Rationalität“, an der die Mikroökonomik zu lange festgehalten habe und fordert den Übergang auf eine „Kohärenztheorie“. Als Vertreter der erstgenannten Richtung können Becker, 1976 und auch Tullock, 1994 gelten. 50 Der Besitzeffekt („endowment effect“) beschreibt, dass Individuen Gegenstände, die sie besitzen, höher bewerten als Gegenstände, die sich (noch) nicht haben. Siehe dazu Tversky/Kahneman, 1986 und ausführlich dazu Abschnitt C.II.2. 48
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
sie alle Entscheidungsvariablen erkennen. Das Individuum selbst handelt aber rational, weil es unter den gegebenen fehlerhaften Wahrnehmungen konsistent und richtig entscheidet. Es ist deshalb sinnvoller, diese Phänomene als kognitive Grenzen in das Verhaltensmodell einzubeziehen. Allerdings kennt das traditionelle Modell des homo oeconomicus auch keine kognitiven Grenzen, so dass es in jedem Fall erweiterungsbedürftig bleibt. Aus der Psychologie kommt noch ein weiterer Einwand, nach dem das Unterbewusste als mindestens ebenso handlungsbestimmend angesehen wird wie das Bewusstsein.51 Wenn das Unterbewusste das Verhalten determiniert, so wären die Ziele nicht in reflektierbarer Form bekannt. Folglich wäre das Verhalten nicht rational. Dennoch ist es sinnvoll, dieses Verhalten ex post als rational zu rekonstruieren, wenn das durch das Unterbewusste gesteuerte Verhalten ebenfalls Zielen dient. Der Umsetzungsprozess von Ziel (Präferenz) zu Mittel (Verhalten) ist zwar unmittelbarer und eben nicht reflektiert, aber im Ergebnis führt das Verhalten zu einem gesteigerten Zielerreichungsgrad.52
situativnutzenmaximierendes Verhalten
Restriktionen
Restriktionen
Präferenzen
Quelle: eigene Darstellung, vgl. etwa Kirchgässner, 1991, S. 13ff.
Abbildung 3: Das traditionelle Verhaltensmodell (homo oeconomicus) der Ökonomik
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Kernbestandteile des homo oeconomicus nach allgemeiner Auffassung die beiden Elemente „Eigennützigkeit“ und „ökonomisches Prinzip“ sind. Weitere, aber nicht zwingend erforderliche Elemente sind das nutzenmaximierende Verhalten sowie exogen gegebene, stabile Präferenzen. Abbildung 3 verdeutlicht, dass Individuen sich dann gemäß ihrer Präferenzen ökonomisch und eigennützig verhalten, aber bei Mit___________ 51
Siehe dazu Wolozin, 2002, S. 51 ff. Eine Rekonstruktion auf der Basis der ökonomischen Rationalitätsannahme wäre nicht sinnvoll, wenn das Verhalten eines beispielsweise traumatisierten Individuums analysiert werden sollte, um diesem neue Handlungsspielräume zu erschließen. Für die hier im Zentrum stehende Fragestellung, wie einfach bzw. komplex eine staatliche Regelung von Steuerpflichten und -zahlungen zu organisieren ist, spielen jedoch keine Handlungen eine Rolle, für die eine rationale Rekonstruktion unzulässig scheint. 52
II. Der homo oeconomicus institutionalis
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teleinsatz und Zielerreichung die Umwelt in Form von Restriktionen berücksichtigen müssen.
II. Der homo oeconomicus institutionalis Kapitel B. diskutiert bereits die Erweiterung des ökonomischen Standardmodells um das Modell des rationalen Regelbefolgers. Der besondere Vorzug dieses Modells besteht darin, dass die Basis des Rationalkalküls grundsätzlich nicht verlassen wird, das Individuum aber über vereinfachende Regeln die Kluft zwischen den schwierigen Aufgaben und den eigenen Fähigkeiten lösen kann. Abschnitt C.II.1. nimmt zusätzlich soziale Präferenzen in Blick: Individuen entscheiden innerhalb von sozialen Kontexten und bilden für diesen sozialen Kontext normative Vorstellungen, die auch ihr Verhalten prägen. Derartige Vorstellungen lassen sich als soziale Präferenzen bezeichnen und können beispielsweise aus Fairnessnormen bestehen.53 Abschnitt C.II.2. greift aus der Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters die kognitiven Grenzen des Individuums auf. Das Individuum agiert innerhalb dieser Grenzen, ohne sie zu reflektieren und damit partiell auflösen zu können. Unter dem Gesichtspunkt der politischen Steuerung von Verhalten beziehungsweise der nicht-intendierten Steuerungsfolgen ist es schließlich wichtig zu überlegen, in welche Formen von Verhalten diese Ergänzungen münden können. Individuen können sich innerhalb ihrer kognitiven Grenzen noch immer als situative Nutzenmaximierer betätigen, sie können aber auch als rationale Regelbefolger auftreten. Es ist aber ebenso denkbar, dass sie auf habituelle und damit weitgehend unreflektierte Verhaltensweisen zurückgreifen (C.II.3.) oder emotional handeln (C.II.4.). Unabhängig von der Form des Verhaltens gilt grundsätzlich, dass individuelles Verhalten innerhalb von Institutionen stattfindet, und dass diese einen wesentlichen Einfluss etwa über soziale Interaktion ausüben (Abschnitt C.II.5.). Versteht man unter rational choice, dass Individuen „gute Gründe“ für ihr Verhalten haben,54 hält das Modell am rational choice-Paradigma fest.55 Die ___________ 53
Siehe dazu schon Pinney, 1940, Schmölders, 1951/52, S. 22. Siehe dazu Boudon, 1996, der nach seiner Auffassung mit dem „cognitivist model“ einen Ansatz vorgestellt, der sich durch eine größere Allgemeingültigkeit auszeichnet als das „rational choice model“. Der Vorteil des „cognitivist model“ sei, dass es einen Beitrag dazu leiste, positive und normative „social beliefs“ zu erklären. Dafür werde die Restriktion des „rational choice models“ aufgehoben, dass die Gründe für Entscheidungen in Kosten-Nutzen-Kategorien erfasst werden müssen. Nach Boudon fußen Entscheidungen in der Regel auf guten Gründen und diese sind in seinem Modell in jeder Form zulässig. Allerdings ist darin kein wirklicher Widerspruch zu sehen, denn die „guten 54
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
Auffassung, dass rational choice mit jeder Form von Regelbefolgung inkompatibel sei, leuchtet nicht ein. Nach dieser Auffassung ist rational choice untrennbar mit situativer Optimierung verbunden und choice hebt auf die Freiheit von vorprogrammierten Regeln ab. Es gibt – nach dieser Auffassung – folglich nur dann eine Wahl, wenn situative Nutzenmaximierung vorliegt. Tatsächlich setzt die situative Nutzenmaximierung jedoch nur eine mechanische Ermittlung der optimalen Handlung bei gegebenen Präferenzen und Restriktionen voraus.56 Sie beinhaltet damit eben gerade keine Wahl.57 Im Folgenden wird deshalb nicht von einem Widerspruch zwischen dem rational choice-Paradigma und den erwähnten Erweiterungen des Verhaltensmodells ausgegangen.
1. Präferenzen: endogen und sozial Analysiert man konkrete Regulierungssituationen, so bietet es sich an, die Annahme exogen gegebener, unveränderbarer Präferenzen zu lockern. Denn tatsächlich zeigen Beispiele, dass Art und Weise staatlichen Eingreifens durchaus auf die Präferenzstruktur des Individuums zurückwirken. Individuen kommen eben nicht mit fertig ausgeprägten Präferenzen auf die Welt58 und tatsächlich ist staatliches Handeln seit jeher auch auf die Ausbildung entsprechender Präferenzen gerichtet. Historische Beispiele reichen von den edukatorischen Versuchen, nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands die Überlegenheit des demokratischen Staatsaufbaus einem totalitär geprägten Volk aufzuzeigen, bis hin zu den Anstrengungen, den Bürgern schon im Schulalter Umweltschutz als notwendigen Beitrag zur Nachhaltigkeit nahe zu bringen. Individuelle Präferenzen sind dann nicht mehr exogen gegeben, sondern „institutions affect the cultural learning process itself, altering the ways we acquire our values and desires, including child rearing and schooling, as well as informal learning rules such as conformism“.59
___________ Gründe“ dürften immer aus einer subjektiv bewertenden Perspektive erfolgen und insofern Kosten-Nutzen-Kategorien entsprechen. 55 Vgl. dazu Bizer, 2002b, Führ, 2002, Rutherford, 1996, S. 51ff. Nida-Rümelin, 1994, S. 3: „Eine Person handelt rational, wenn ihre Handlungen im Hinblick auf die Ziele dieser Person sinnvoll erscheinen. Handlungen sind im Hinblick auf die Ziele einer Person sinnvoll, wenn sie als gutes Mittel gelten können, diese Ziele zu erreichen.“ 56 Steht die Nutzenfunktion fest und ist sie von gewöhnlichem Verlauf, so ist die Entscheidung durch die Restriktionen determiniert. Sen, 1977 nennt die so modellierten Individuen die „rational fools“. 57 Siehe dazu Hodgson, 1997, S. 666 f. 58 Siehe Hodgson, 1998. 59 Bowles, Ibid., S. 77. Mit gleicher Auffassung siehe Schlicht, 1998, der begrifflich aber von „customs“ und nicht von Institutionen ausgeht.
II. Der homo oeconomicus institutionalis
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In einem auf dem Standard-Diktator-Spiel60 und verschiedenen nach Anonymität variierten Ultimatum-Treatments61 beruhenden Experiment, das den Einfluss von Institutionen auf soziale Präferenzen untersucht, kommt Carpenter, 2001 zu dem Ergebnis, dass anonyme Institutionen tatsächlich die Präferenzen beeinflussen und Individuen in Bezug auf ihre Mitspieler weniger freundlich sind. Dieses Ergebnis verstärkt sich noch, wenn das Umfeld hochkompetitiv ist.62 Akzeptiert man, dass Präferenzen zumindest mittel- bis langfristig nicht zwangsläufig exogener Art sind, stellt sich zusätzlich die Frage, ob nicht auch Politikinstrumente diese beeinflussen, die das gar nicht intendieren. Frey, 1997 bezieht dies nicht nur auf staatliche Interventionen, sondern auf monetäre Anreize generell und stellt fest, dass es zu einem crowding out von intrinsischer Motivation kommen könne, wenn zum Beispiel preisliche Anreizinstrumente neu eingeführt werden. Frey, 1997 etabliert damit ein psychologisches Konzept, dass neben die Relevanz exogener (= extrinsischer) Anreize die Bedeutung intrinsischer Motivation stellt und führt dies auf zwei mögliche Reaktionen beim Individuum zurück:63 – Das Individuum ändert seine Präferenzen. – Das Individuum nimmt die Entscheidungssituation bzw. seine Entscheidung oder auch sich selbst anders wahr als zuvor. Während die Wahrnehmung der Entscheidungssituation zu den relativ gut beobachtbaren Phänomenen zählt, gehört die Änderung von Präferenzen zu den allenfalls über den Ausschluss aller anderen Faktoren nachweisbaren Ursachen.64 Das gilt auch für die Untersuchung von Frey/Oberholzer-Gee, 1997, die bei so genannten „not in my backyard-Projekten wie atomaren Zwischen- oder Endlagern in der Schweiz eine geringere Akzeptanz in Befragungen feststellte, ___________ 60 Ein Spieler, der Diktator, entscheidet wie eine bestimmte Summe zwischen ihm und einer anderen anonymen Person aufzuteilen ist. Der Empfänger hat kein Veto-Recht wie beim Ultimatum-Spiel. 61 Beim Ultimatum-Spiel entscheidet ein Spieler über die Aufteilung einer Summe und der zweite Spieler hat ein Veto-Recht. Das Veto hat zur Folge, dass keiner der beiden etwas erhält. 62 Siehe Carpenter, 2001, S. 14. 63 Frey/Jegen, 2001, S. 592. 64 Optimistischer zur empirischen Beobachtbarkeit dazu Frey/Jegen, 2001, S. 592 die dazu ausführen: „This line of theorizing concentrates on the observation that an agent’s behavior may reveal an altered amount of intrinsic motivation due to an external intervention. The reason for the change in behavior is attributed to a change in preference. Such a broad approach allows to obtain empirically testable hypotheses for a great number of areas and settings where intrinsic motivation is assumed to play a role.“
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
wenn eine finanzielle Kompensation angeboten wurde. Sie stellten zuerst die Akzeptanz des Zwischenlagers fest, um dann eine Kompensation in Aussicht zu stellen und erneut nach der Akzeptanz zu fragen. Auf diese Weise konnten zeigen, dass die Akzeptanz von 50,8 Prozent ohne finanzielle Kompensation auf 24,6 Prozent mit Kompensation fiel. Die Höhe der Kompensation, zwischen $ 2.000 und $ 8.700 hatte keinen signifikanten Einfluss auf das Ergebnis. Sieht man jedoch einmal von dem Phänomen des crowding out von intrinsischer Motivation durch politische Maßnahmen ab, dass gerade im Umweltbereich eine dezidierte Kritik erfahren hat,65 bleibt festzuhalten, dass es soziale Präferenzen gibt, die nicht exogen und stabil gegeben sind. Dies bestätigen auch Experimente, die zeigen, dass Individuen dazu neigen, Mitspieler für ein von unausgesprochenen Fairnessnormen abweichendes Verhalten selbst dann zu bestrafen, wenn es sie etwas kostet und es ihnen nicht unmittelbar nützt. Handelten sie als homines oeconomici, so müssten sie auf die Strafe verzichten und versuchen, ihren Gewinn zu maximieren. Stattdessen sanktionieren sie aber das Verhalten des Mitspielers auf eigene Kosten nur um die Abweichung nicht ungesühnt sein zu lassen.66
2. Kognitive Grenzen Das Modell des homo oeconomicus ist ursprünglich als eine friktionslose, transaktionskostenfreie Informationsverarbeitungsmaschine konstruiert. Dieses Modell wirft jedoch einige Probleme auf, wenn Individuen sich in komplexen Situationen entscheiden müssen, weil es unberücksichtigt lässt, dass Informationsbeschaffung und -verarbeitung Ressourcen beansprucht. Deshalb wurde es von der Vorstellung abgelöst, dass Individuen eine bounded rationality verwenden. Das bedeutet nicht, dass Individuen nach dem auf diese Weise modifizierten Verhaltensmodell nur „begrenzt rational“ handelten. Vielmehr bezieht das Modell die begrenzten Wahrnehmungs- und Verarbeitungsressourcen der real handelnden Personen mit ein. Präziser ist daher die Aussage, die Akteure seien „not boundedly rational but boundedly skilful“.67 Das Modell trägt dem ___________ 65
Siehe dazu insbesondere Gawel, 2001. Siehe Falk, 2001, siehe auch Falk/Fehr/Fischbacher, 2003; Falk, 2001 leitet in Abgrenzung vom homo oeconomicus daraus den homo reciprocans ab und nennt als weitere Belege neben der negativen Reziprozität auch positive Reziprozität (etwa in einem Arbeitsmarktexperiment). Diese Experimente stützen die These von Baurmann, 1996, wonach die Individuen durch ihr – in langfristiger Perspektive auch nutzensteigerndes – Verhalten dazu beitragen, Institutionen herauszubilden und intrasubjektiv zu verankern, die im Ergebnis einen „Markt der Tugend“ etablieren. 67 Langlois, 1990, S. 691 (zitiert nach Homann, 1994, S. 389 mit den dort zu findenden Hervorhebungen). 66
II. Der homo oeconomicus institutionalis
45
Rechnung, indem es unterstellt, die Individuen zögen zusätzliche Entscheidungsregeln heran, die es ihnen erlauben, das ansonsten infinite Kalkül zusätzlicher Informationen zu beenden, wenn ein gewisses Ziel erreicht ist:68 „[T]he task is to replace the global rationality of economic man with a kind of rational behaviour that is compatible with the access to information and the computational capacities that are actually possessed by organisms, including man, in the kinds of environments in which such organisms exist.“69
Der „situative Nutzenmaximierer“, wie er im klassischen ökonomischen Verhaltensmodell in Erscheinung tritt, entscheidet sich in jeder Handlungssituation für die Alternative mit dem größten Erwartungsnutzen. Dieser homo oeconomicus ist gar nicht in der Lage, nach einer anderen Entscheidungsregel zu handeln: „Seine Fähigkeit, in jeder Situation seinen subjektiven Nutzen zu maximieren, ist auch sein Schicksal. Er hat nicht die Wahl, wenn es darum geht, nach welchen Regeln er seine Wahl trifft“.70 Die Möglichkeit, sich an andere Entscheidungsregeln zu binden, befreit den homo oeconomicus folglich von dem Zwang, in jeder Entscheidungssituation das globale Nutzenmaximum anzustreben. Diese erste Modifikation des ökonomischen Verhaltensmodells steigert mit der Annäherung an die reale Entscheidungssituation zugleich die Qualität der Verhaltensprognose,71 wenn auch zu Lasten der analytischen Eleganz. Dass Individuen kognitiven Grenzen unterliegen (in Abbildung 6, S. 59 sind diese als „Scheuklappen“ zwischen Präferenzen und Verhalten dargestellt), verdeutlichen auch Experimente. In diesen zeigt sich, dass Individuen trotz ausreichend verfügbarer Informationen diese nicht ohne weiteres verarbeiten können oder bestimmte Handlungsoptionen etwa aufgrund sozialer Prägungen nicht oder nur verzerrt wahrnehmen.72 Ein Beispiel für kognitive Grenzen beschreibt Friedman, der Probanden drei verdeckte Spielkarten vorlegt.73 In dem Spiel, das auch als „Monty Hall’s Three Doors“ bezeichnet wird, wissen die Probanden, dass zwei Karten nicht gewinnen und eine gewinnt. Sie müssen eine Karte auswählen ohne sie aufdecken zu dürfen. Danach wählt der Spielleiter eine Karte aus, die, erstens, nicht vom Spieler bereits gewählt ist, und die, zweitens, nicht gewinnt. Anschließend er___________ 68
Zum „satisfycing“ siehe Simon, 1955. Simon, 1955, S. 99. 70 Baurmann, 1996, S. 325. Siehe dazu – und zu dem korrespondierenden Rationalitätsbegriff – Führ, 2002, Kapitel D. 71 Vgl. dazu Heiner, 1983, der die Vorhersagbarkeit von Verhalten gerade auf die Bildung einfacher Regeln zurückführt, die zu erkennbaren Mustern führt. Gebe es nur reines Optimieren, so Heiner, so wären kaum Muster zu erkennen, die eine Vorhersagbarkeit erlauben würden. 72 Zum Folgenden auch Bizer, 1999, S. 219 f. 73 Siehe Friedman, 1998, S. 934. 69
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
laubt er dem Probanden, seine anfängliche Wahl zu korrigieren. Die meisten der ungefähr 100 Individuen bleiben bei der anfänglichen Wahl der Spielkarte. Nur etwa ein Drittel der Individuen ändern ihre Entscheidung, obwohl dies die rationale Wahl ist.74 Das ergibt sich aus folgender Überlegung: Bei der ersten Wahl ist die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen ein Drittel. Wer also bei dieser Entscheidung bleibt, gewinnt mit der Wahrscheinlichkeit von einem Drittel. Wer aber die Entscheidung revidiert, profitiert davon, dass der Spielleiter immer eine nicht gewinnende Karte aufdeckt. Da die Wahrscheinlichkeit, dass die gewinnende Karte unter den beiden anfänglich nicht gewählten Karten ist, zwei Drittel beträgt, ist die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen für eine revidierte Entscheidung zwei Drittel. In dem Experiment wiederholten die Probanden das Spiel zehn Mal. Bis zum siebten Spiel stieg die Änderungsrate von etwa 10 % auf 40 %, um dann wieder auf 30 % zu fallen. Im Durchschnitt betrug die Änderungsrate 28,7 %. In einem zweiten Treatment wurden spezifische Modifikationen vorgenommen. Dazu gehörte eine Aufstellung ihrer bisherigen Ergebnisse oder eine statistische Aufstellung der Ergebnisse von vierzig Individuen aus dem ersten Treatment. Diese Maßnahmen förderten, so folgert Friedman, die Rationalität der Entscheidung: Im zweiten Treatment stieg die Änderungsrate auf 46,0 %. Dennoch blieb die Mehrheit bei einer „irrationalen“ Entscheidung. Tatsächlich zeigt das Experiment, dass Individuen keine sehr ausgeprägten Fähigkeiten haben, dominante Strategien zu identifizieren. Viele von ihnen vereinfachen den experimentellen Aufbau, indem sie Bayesianische Wahrscheinlichkeitsrechnung falsch anwenden, d.h. sie nehmen an, dass die Offenlegung der nicht gewinnenden Karte durch den Spielleiter die Wahrscheinlichkeit für beide verbleibenden Karten auf 1/2 setzt75. Aber nicht nur Nicht-Wissen fördert kognitive Grenzen. In manchen Fällen ist es auch spezifisches Wissen, das denselben Effekt haben kann. So wurden Ärzte gefragt: „[I]f a test to detect a disease, whose prevalence is 1/1.000, has a false positive rate of 5 percent, what is the chance that a person found to have a positive rate actually has the disease, assuming you know nothing about the person’s symptoms?“.76
Mehr als die Hälfte der Ärzte antwortete, dass das Individuum mit einer Wahrscheinlichkeit von p = 0,95 krank sei. Nur 18 % der Ärzte erkannten, dass die Wahrscheinlichkeit für das Individuum, krank zu sein, tatsächlich p = 0,02
___________ 74
Siehe Friedman, 1998, S. 935. Siehe Friedman, 1998, S. 936. 76 Boudon, 1996, S. 130. 75
II. Der homo oeconomicus institutionalis
47
beträgt.77 In seiner Analyse dieses Falles rekonstruiert Boudon, dass der systematische Fehler auf das professionelle Verständnis des Terminus „Test“ und den nicht näher bezeichneten Zähler „rate“ zurückzuführen ist. So wie die Frage gestellt ist, lässt die Frage offen, ob sich „false positive“ auf „true positive“ oder auf „true negative“ bezieht. Die meisten der Ärzte haben den Bezug auf „true positive“ unterstellt, weil sie mit einem Test etwas verbinden, das eine minimale Verlässlichkeit verspricht. Andernfalls würde man es nicht als einen Test bezeichnen.78 Das letztgenannte Beispiel illustriert, dass ein bestimmter belief in Verbindung mit spezifischen Kenntnissen eine kognitive Grenze darstellen kann. Es zeigt auch, dass solche Grenzen erst durch die Erziehung bzw. die professionelle Ausbildung hervorgerufen werden können und in Form expliziter beliefs auftreten („a test has minimal viability“). Es handelt sich also nicht nur um einfache Informationsverarbeitungsgrenzen. Zu den kognitiven Grenzen zählt auch der oben bereits erwähnte Besitzeffekt. Mit dem endowment effect wird ein psychologisches Phänomen der individuellen Bewertung von Alternativen erklärt. Individuen bewerten, anders als es in der ökonomischen Theorie dargestellt wird, Alternativen nämlich durchaus abhängig von ihrem Status quo, also ihrer Ausstattung an Einkommen, Vermögen und Erfahrung zu einem gegebenen Zeitpunkt. In Abbildung 4 ist auf der x-Achse Gut X abgetragen, auf der y-Achse Gut Y. Der Einfachheit halber geht man davon aus, dass die subjektive Bewertung von X und Y in genau denselben Einheiten auf den Achsen abgetragen ist. Unter der Annahme, dass die Ausstattung des Individuums durch den Punkt C der Abbildung 4 gegeben ist, ist das Individuum indifferent zwischen A und D. Beide Optionen sind Gewinnoptionen. Das Individuum verliert nichts, aber gewinnt von jeweils einem Gut hinzu. Ist der Referenzpunkt aber nicht Punkt C, sondern zum Beispiel Punkt A, so ist das Individuum nicht zwischen A und D indifferent, sondern bevorzugt seinen Referenzpunkt, weil es in der Bewegung zu Punkt D den Verlust in einem Gut höher bewertet als den Gewinn im anderen Gut. Punkt C wird ohnehin geringer bewertet, weil das Individuum von einem Gut etwas abgeben muss und vom anderen Gut gleich viel behält. ___________ 77
„[T]he correct argument is: T [number of persons positive for 100,000 people] = M [number of people ill] + 5% (not M) = 100 + 5% (99,900) = 5,095. Hence, p (M/T) = 100/5,095 = 0.02.“ Boudon, 1996, S. 131. 78 „T (number of persons positive for 100,000 people) = M (number of people ill) + 5% M = 100 + 5% (100) = 105. Hence it is readily drawn: p (M/T) = 100/105 = .95.“ Boudon, 1996, S. 131.
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis Y
A
C D X Quelle: Kahneman, 1994, S. 23
Abbildung 4: Referenzpunktabhängigkeit der individuellen Alternativenbewertung
Empirische Belege für den endowment effect sind zahlreich. Das prominenteste Beispiel ist wohl das Experiment von Kahneman/Knetsch/Thaler, 1990, die Probanden die Wahl gaben, sich zwischen einem Becher, der im University bookstore ca. $ 6 kostete, und einer Geldsumme zu entscheiden. Die Probanden der einen Gruppe wurden gefragt, bei welchem Preis sie indifferent zwischen den Alternativen seien, ohne dass sie Becher oder Bargeld in der Hand hielten. Die Probanden der anderen Gruppe erhielten denselben Becher zuerst in die Hand und wurden dann gefragt, gegen welche Summe sie den Becher eintauschen würden. Alle Probanden haben in diesem Experiment im Prinzip dieselbe Entscheidung zu fällen: wollen sie lieber einen Becher oder eine gewisse Summe Bargeld. Es gibt auch keine Anreize, sich strategisch zu verhalten. Dennoch sind die durchschnittlichen Preise für den Becher in den Gruppen signifikant verschieden. Während die Gruppe mit der abstrakten Wahlmöglichkeit den Preis für den Becher bei im Durchschnitt $ 3,50 angibt, liegt für die Gruppe, die den Becher in der Hand hält, der Preis bei $ 7,12.79 Offensichtlich spielte der Referenzpunkt für die Entscheidung der Probanden eine gewichtige Rolle. Hatten sie einmal den Becher in der Hand (Punkt D in Abbildung 4), so erschien ihnen die Preisgabe als Verlust, der nur durch einen relativ höheren Geldbetrag kompensierbar war. Standen die Probanden hingegen vor der Wahl zwischen Becher und Bargeld (Punkt C in Abbildung 4), ohne eine der Alternativen als Referenzpunkt zugewiesen zu bekommen, so lag der Preis deutlich geringer.
___________ 79
Für eine kurze Beschreibung siehe Kahneman, 1994, S. 24.
II. Der homo oeconomicus institutionalis
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Die Ursache des endowment-Effekts liegt nach Kahneman in dem Phänomen der loss aversion: Verluste werden als gravierender empfunden als Gewinne. Die Bewertungsfunktion für Verluste ist also steiler als die für Gewinne.80 Grafisch lässt sich dieser Zusammenhang wie in Abbildung 5 darstellen. Auf der y-Achse ist die Bewertung des Individuums dargestellt. Die x-Achse gibt links des Ursprungs die Verluste an, rechts des Ursprungs die Gewinne. Der Schnittpunkt von x-Achse und y-Achse gibt den Referenzpunkt an, von dem aus das Individuum die Alternativen betrachtet. Dass die Verluste stärker empfunden werden als die Gewinne, zeigt sich anhand des gleich hohen Betrags, der einmal als Verlust und einmal als Gewinn eingetragen wird. Die absolute Entfernung der dazugehörigen Bewertung ist für den Verlust höher als für den Gewinn. Im Ergebnis bedeutet der endowment-Effekt, dass Individuen von ihrem jeweiligen Ausgangspunkt ihrer Ausstattung aus Gewinne und Verluste asymmetrisch bewerten. Und zwar empfinden sie Verluste generell intensiver als Gewinne. Neben den beschriebenen Effekten der mangelhaften Wahrscheinlichkeitsrechnung bzw. dem Festhalten an einmal getroffenen Entscheidungen („Monty Hall’s Three Doors“), der selektiven Wahrnehmung („test“ bei Medizinern) und Bewertungsasymmetrien („endowment“-Effekt) gibt es noch weitere Effekte, die als kognitive Grenzen auf den Entscheidungsraum wirken können. Im Kontext von komplexen Entscheidungen zeigen die hier angesprochenen Effekte jedoch das Spektrum auf. Bewertung
v(X) -X X
Verluste
v(-X) Quelle: Kahneman, 1994, S. 23
Abbildung 5: Die Bewertungsfunktion
___________ 80
Siehe Kahneman, 1994, S. 23.
Gewinne
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
3. Habituelles Verhalten Im Kontext politischer Steuerung sind auch Verhaltensweisen relevant, die im Laufe der Zeit durch häufige Wiederholungen zu unbewussten und unreflektierten Handlungsschemata geworden sind. Stehen dem politischen Steuerungsziel habituelle Verhaltensweisen entgegen, müssen diese durchbrochen werden, um die gewünschte Verhaltensänderung zu erreichen. Definiert man habituelles Verhalten als „a more or less self-actuating disposition or tendency to engage in a previously adopted or acquired form of action“81, so besteht der Unterschied zum rationalen Regelbefolger darin, dass letzterer eine bewusste Entscheidung vornimmt, während habituelles Verhalten dadurch gekennzeichnet ist, dass es nicht (mehr) hinterfragt oder reflektiert ist.82 Greift der Staat in die Entscheidungsparameter der Individuen ein, etwa indem er Steuern erhebt, so fallen die Folgen unterschiedlich aus, je nachdem, ob er in habituelle Verhaltensweisen eingreift, oder ob es sich um Entscheidungen handelt, die situativ-nutzenmaximierend oder gemäß der rationalen Regelbefolgung getroffen werden. In Bezug auf staatliche Eingriffe ist wichtig festzuhalten, dass bewusste Regeln leichter zu ändern sind als habituelle Verhaltensweisen, auch wenn sie auf derselben Verhaltensanweisung basieren.83 Hodgson unterscheidet sieben Kategorien von Entscheidungssituationen, in denen es vorteilhaft sein kann, auf rationale Regelbefolgung bzw. habituelles Verhalten zurückzugreifen.84 Er differenziert nach Optimierung, Extensivität, Komplexität, Unsicherheit, Kognition, Lernen und Kommunikation, um zu verdeutlichen, dass in allen Fällen Regelbefolgungen der einen oder anderen Art stattfinden. Lediglich im Fall der Optimierung lasse sich von einem situativ-nutzenmaximierenden Kalkulieren ausgehen. In unserem Zusammenhang von besonderem Interesse sind Entscheidungssituationen, die durch Extensivität, Komplexität, Ungewissheit und Kognition gekennzeichnet sind. Unter Extensivität ist zu verstehen, dass große Mengen an Information für ein Entscheidungsproblem zur Verfügung stehen, die potentiell verständlich und zugänglich sind.85 Diese Informationen müssen bewältigt werden, um eine Entscheidung herbeizuführen. Dabei ist keineswegs davon auszugehen, dass die Informationsbewältigung auf irgendeine Weise optimiert werden könnte. Die Extensivität einer Entscheidung bezieht sich auf die Informationsflut, die es nach einfachen Regeln zu bewältigen gilt. ___________ 81 Siehe mit dieser Definition Camic, 1986, S. 1044; zitiert bei Hodgson, 1997, S. 664, der auch den folgenden Unterschied zum Regelbefolger ausführlich diskutiert. 82 Siehe dazu Murphy, 1994. 83 „In der Situation X unternehme Y“. Siehe dazu Hodgson, 1997, S. 664 f. 84 Siehe Hodgson, 1997. 85 Siehe Hodgson, 1997, S. 668.
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Unter Komplexität versteht Hodgson „the density of structural linkages and interactions between the parts of an interdependent system […].“86 Anders als bei Heiner, 1983 ist das Problem jedoch nicht zwangsläufig mit rationalen Regeln lösbar, sondern auch mit unreflektierten Verhaltensweisen. Das Individuum muss nicht nur mit begrenzten Berechnungsressourcen umgehen, sondern unterliegt auch Knappheiten bei den analytischen Fähigkeiten. Unter Ungewissheit im Sinne von Knight lassen sich bestimmten Ereignissen keine Wahrscheinlichkeiten zuordnen. Es macht folglich auch wenig Sinn davon auszugehen, dass subjektive Wahrscheinlichkeiten ermittelt werden können und damit scheidet situativ-nutzenmaximierendes Verhalten für Situationen unter Ungewissheit aus.87 Häufig fallen Individuen bei Entscheidungen unter Ungewissheit deshalb auf das zurück, was andere tun oder was sie schon immer getan haben. Schließlich ist unter Kognition zu verstehen, dass empirische Daten für ein Individuum nur anhand von bereits vorhandenen Begriffen interpretierbar sind. Während die Sinneswahrnehmung die direkte Aufnahme von Reizen aus der Umwelt beschreibt, ist mit Kognition gemeint, dass diese Reize in einen begrifflichen Kontext eingeordnet werden und damit interpretierbar sind. Diese Kategorisierung von Daten geschieht über Symbole, Regeln und Zeichen. In der Regel sind nur die Daten verhaltensrelevant, die auch interpretierbar sind. Der Prozess der Kognition ist bedingt durch seine tacit dimension88 und habituelle Verhaltensweisen. Situative Nutzenkalküle bezogen auf den Kognitionsprozess selbst sind unmöglich, weil das, was man (noch) nicht weiß, nicht bereits bewertet werden kann.89 Habituelle Verhaltensweisen sind offensichtlich relevant, wenn es um einfache, häufig wiederholte Handlungen des täglichen Lebens geht. Sie spielen aber auch eine wichtige Rolle, wenn es um komplizierte und kaum zu überblickende Entscheidungssituationen geht. In diesen kann das Individuum nicht abschätzen, welche Entscheidung mit welchen Folgen einhergeht. Gerade in diesen Situationen greifen „einfache Regeln“ als Verhaltensmaßstab. Diese können einer bewussten Regelbildung entspringen, sie können aber auch habituell vermittelt und ausgeführt sein. ___________ 86
Hodgson, 1997, S. 669. Vgl. Knight, 1921. Siehe dazu Hodgson, 1997, S. 671. Ähnlich Kruschwitz, 2000, S. 258 f. Mit einer gegensätzlichen Auffassung siehe Hirshleifer/Riley, 1992, S. 9 f., die jegliche Unterscheidung zwischen Risiko und Ungewissheit für steril halten und davon ausgehen, dass alle Erwartungen anhand subjektiver Wahrscheinlichkeiten gebildet werden. Vgl. dazu auch Schneider, 1970, S. 66–69, der aber darauf abhebt, dass die Kategorie des Risikos überflüssig ist. 88 Siehe dazu grundlegend Polanyi, 1966; Schlicht, 1998, S. 15 f. 89 So Hodgson, 1997, S. 673 f. 87
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
Entsteht eine komplexe Entscheidungssituation erst durch Maßnahmen etwa des Gesetzgebers wie bei Steuerrecht, so ist zusätzlich relevant, ob die Normadressaten bisher habituell ablaufende Entscheidungsprozesse wegen der Änderung der Rahmendaten durch eine rationale Regelbefolgung oder eine situativnutzenmaximierende Entscheidung ersetzen.
4. Emotionales und instinktives Verhalten Emotionen spielen in der ökonomischen Verhaltenstheorie bisher kaum eine Rolle, weil sie im rational choice-Modell keinen Platz zu haben scheinen. Wenn es aber um die Frage geht, wie beeinflussen Politikinstrumente Verhalten, können Emotionen eine wichtige Rolle spielen. Dieser Abschnitt erörtert kurz die Rolle von Emotionen im Verhaltensmodell und diskutiert die Bedeutung von Emotionen im Zusammenhang mit staatlichen Maßnahmen. Emotionen reichen von sozialen Emotionen wie Wut, Hass, Scham, Stolz etc. über counterfactual emotions wie Bedauern oder Enttäuschung bis hin zu Emotionen, die durch den Besitz von anderen veranlasst werden wie Neid, Missgunst und Eifersucht.90 Elster grenzt Emotionen von visceral factors91 dadurch ab, dass erstere primär von beliefs ausgelöst werden.92 Zudem beziehen sich Emotionen auf ein bestimmtes Objekt und führen sowohl zu einer physiologischen Reaktion als auch zu einem physiologischen Ausdruck. In der Regel weisen Emotionen auch eine hohe Valenz auf, das heißt, sie haben auf einer pleasure-pain scale eine hohe Abweichung vom Nullpunkt der emotionalen Indifferenz. Schließlich geht mit Emotionen auch noch eine Handlungstendenz in Form eines Dranges oder eines Impulses einher. Lockert man im ökonomischen Grundmodell die Annahme vollständiger Information, dann befindet sich das Individuum in einer unendlichen Informationsschleife: Um das globale Nutzenmaximum zu finden, benötigt es immer noch weitere Informationen, und kann keine Entscheidung fällen. Es zögert die Entscheidung unendlich hinaus. In das rational choice-Paradigma passen Emotionen, weil sie diese Handlungsstarren oder das Hinauszögern von Entscheidungen auf verschiedene Weise auflösen können. Emotionen repräsentieren damit nicht nur psychologische Kosten und Nutzen oder sind Quelle von Präfe___________ 90 Siehe zum Folgenden Elster, 1998, S. 48 ff. Elster, 1998, S. 48 nennt insgesamt sieben Kategorien mit einer letzten als Auffangkategorie. Hier sind nur die aufgeführt, die im Kontext der Steuerhinterziehung eine Rolle spielen. 91 Als „visceral factors“ versteht Loewenstein, 1996 elementare Triebe wie Hunger, Durst und Fortpflanzung. 92 Elster, 1998.
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renzen,93 sondern sie können rationales Verhalten durch den mit ihnen verbundenen Entscheidungsimpuls ermöglichen. Diese „duale Rolle von Emotionen“94 macht die Analyse von Emotionen bei Entscheidungen so schwierig, verdeutlicht aber auch ihre Bedeutung für den Einsatz gesetzlicher Normen. Die besondere Rolle von Emotionen kann also darin bestehen, dass sie Zögerlichkeit begrenzen. In sozialen Kontexten sind schnelle Reaktionen nicht minder bedeutend als in dem Fall, in dem das Individuum allein um sein Überleben sorgen muss. Je größer soziale Gefüge sind, desto schneller müssen die Individuen reagieren, um ihre Gesellschaft in einer sich ständig wechselnden Umwelt funktionsfähig zu halten. Emotionen erweitern damit die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, weil sie infinite Rationalkalküle abschließen können. Sie verhindern damit eine addiction to reason.95 In vielen Kontexten kommt hinzu, dass ein Rationalwahlkalkül nicht determiniert ist, weil nicht kalkulierbare Risiken bestehen. In diesen Kontexten führt das Zögern nicht nur zu einem Zeitverlust, sondern es führt zu überhaupt keinem Ergebnis. In diesen Fällen sind Emotionen besonders hilfreich, wenn sie den richtigen Impuls geben und die Entscheidung befördern. Dritte Individuen können die Emotionen eines Individuums beeinflussen, indem diese entweder die beliefs dieses Individuums oder dessen Umwelt ändern. Beispiele dafür gibt bereits Aristoteles in seiner Rhetorik, in der es ihm darum geht, über die individuellen beliefs auch die emotionalen Reaktionen der Individuen zu manipulieren.96 In Experimenten mit öffentlichen Gütern, in denen auch eine Bestrafung defektierenden Verhaltens möglich ist, zeigt sich, dass Emotionen auch dafür sorgen, dass Drohungen wirksam sind. Denn auch wenn Bestrafungen für die Strafenden kostspielig sind, und sie keinen Anreiz haben, abweichendes Verhalten zu bestrafen, sorgen Emotionen wie Ärger, Wut oder Enttäuschung dafür, dass sie dennoch auffallend häufig bestrafen.97 Gerade in demokratisch organisierten Staaten spielen die beliefs über das soziale Gefüge eine zentrale Rolle. Verbinden die Bürger mit dem Steuersystem die Erwartung, dass es eine bestimmte Umverteilung vornimmt, die plötzlich durch neue Regeln aufgehoben wird, kann dies zu erheblichen Reaktionen führen, die in erster Linie emotional verursacht sind. Ausdruck solcher Reaktionen ___________ 93
Eine Auffassung, die auf Becker, 1976 zurückgeht. Elster, 1998, S. 73. 95 Elster, 1989, S. 117. Elster, 1998, S. 60 zitiert hier auch Johnson-Laird/Oatley, 1992: „… emotions enable social species to coordinate their behavior, to respond to emergencies, to prioritise goals, to prepare for appropriate actions, and to make progress towards … even though individuals have only limited abilities to cogitate.“ 96 Siehe dazu Elster, 1998, S. 56. Ein aktuelleres Beispiel sind die Massensuggestionen im Dritten Reich. Dazu siehe Canetti, 1960. 97 Siehe dazu Fehr/Gächter, 2000a, auch Fehr/Gächter, 2000b, S. 68 f. 94
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
sind die zahlreichen Steuerrevolten der Geschichte wie die „Whiskey Rebellion“ 1794 oder der Aufstand der Winzer in Deutschland 1926.98 Nicht immer finden diese Steuerrevolten einen friedlichen Ausdruck in entsprechenden Referenden wie im Falle von Kalifornien in der „Proposition 13“, die eine Begrenzung für die kommunalen Steuern einführte, um so das Ausgabenverhalten der Gemeinden zu beeinflussen.99 Häufiger enden Steuerrevolten, gerade weil sie emotional induziert sind, in einem offenen Konflikt. Emotionen können nicht nur durch die beliefs über das sinnvolle Ergebnis eines Steuersystems veranlasst werden, sondern auch dadurch, ob die Änderung einer Verteilungsregel als bewusste Intervention einer bestimmten Gruppe wahrgenommen wird: „An income distribution that could be tolerable as an accidental or random event ... might lead to violent revolt if seen to be the result of conscious choice on the part of another economic agent.“100
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass insbesondere im Kontext schwieriger Entscheidungssituationen Emotionen eine Entscheidungshilfe sein können, weil sie den unter Umständen unendlichen Weg nach der optimalen Lösung bzw. die Suche nach einer nicht vorhandenen Lösung verkürzen können. Noch bedeutender ist aber, dass auch Politikinstrumente offene Emotionen provozieren können, weil sie bestimmte beliefs über das soziale Gefüge verletzen.
5. Institutionen und soziale Interaktion Wie bereits festgestellt, gelten für einen großen Teil menschlichen Verhaltens Normen und Verhaltensmuster, die von den Individuen nicht reflektiert, sondern nur reproduziert werden.101 Nicht alles, was Individuen wissen, ist einer bewussten Reflexion zugänglich, sondern vieles liegt für das Individuum in der bereits erwähnten tacit dimension. Da das „schweigende Wissen“ in erster Linie über soziale Interaktion vermittelt wird, hat diese für das Verhalten von Individuen eine ausschlaggebende Bedeutung. Das gilt insbesondere dann, wenn Individuen sich in komplexen Entscheidungssituationen befinden und nach Orientierung suchen. Da Institutionen die Grundlage für soziale Interaktionen in einer Gesellschaft oder Gruppe bilden, hängen soziale Interaktion und Institutionen eng zusammen. ___________ 98
Siehe dazu Schmölders, 1960, S. 115 und ausführlicher Abschnitt D.IV. Siehe dazu ausführlich Folkers, 1983, auch Mackscheidt, 1996, S. 17. 100 So Hirshleifer, 1987, S. 317; hier zitiert nach Elster, 1998, S. 57. 101 Siehe dazu bereits Abschnitt C.II.3. 99
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Individuen lernen Verhaltensmuster in der Sozialisation vornehmlich durch Imitation. Diese Verhaltensmuster können über Generationen hinweg stabil sein, aber auch nach einer gewissen Zeit fallengelassen werden, wenn sie individuell überprüft und verworfen, oder aber kulturell überdeckt werden. Schmoller sieht in Institutionen eine „... Ordnung des Gemeinschaftslebens, welche das feste Gefäß für das Handeln von Generationen, oft von Jahrhunderten und Jahrtausenden abgibt: das Eigentum, die Sklaverei, die Leibeigenschaft, die Ehe, die Vormundschaft, das Marktwesen, das Münzwesen, die Gewerbefreiheit, das sind Beispiele von Institutionen.“102
Gesellschaftlich tradierte Verhaltensweisen, die von Individuen im Zuge ihrer Sozialisation als Mitglied mit allen Rechten und Pflichten, erlernt werden, prägen das Verhalten deutlich stärker und im menschlichen Entwicklungsprozess früher als das rationale Abwägungskalkül. Dennoch ist beides vorhanden: Es gibt zahlreiche Ansätze, das Konzept habituellen Verhaltens mit bewusstem Wahlverhalten zusammenzuführen, etwa indem auf die Rolle habituellen Verhaltens als Grundlage für Lernprozesse abgehoben wird. Damit stehen zwei Fragen im Mittelpunkt: Wie werden habituelle Verhaltensweisen vermittelt und wie haltbar sind diese?103 Die Versuche, situativ-nutzenmaximierendes und habituelles Verhalten zu integrieren, zeigen, dass habituelles Verhalten von entscheidender Bedeutung für die Erklärung von Institutionen ist. Habituelles Verhalten wird als Teil der kognitiven Fähigkeiten aufgefasst und damit wirksam, bevor rational gesteuerte Prozesse einsetzen können.104 Die „alten“ Institutionalisten unterscheiden zudem zwischen habituellem Verhalten, das sie als individuelles Verhalten verstehen, und Routinen bzw. Sitten und Gebräuchen, die sie als Institutionen und damit als soziales Merkmal kennzeichnen. Habituelles Verhalten geht in Routinen über, wenn sie gemeinsames Merkmal einer Gruppe oder einer Kultur werden. Institutionen sind eine ___________ 102
Schmoller, 1900, S. 61 zitiert nach Richter/Furubotn, 1996, S. 7. Der Verweis auf Schmoller und die Lebensdauer von Institutionen macht deutlich, wie sehr sich die Forschung wieder an historische Kontexte annähert. Darin sollte man nicht gleich eine Rückkehr zur Historischen Schule vermuten, aber es ist erstaunlich, dass die Ökonomik wenigstens zuweilen über ihren institutionenökonomischen bzw. evolutorischen Zweig wieder zurück zum historischen Kontext findet. Siehe auch Hodgson, 1998, S. 184: „What is required is a theory of process, evolution, and learning, rather than a theory that proceeds from an original institution-free‚ state of nature that is both artificial and untenable.“ 103 Siehe Hodgson, 1998, S. 179. 104 „Habits form part of our cognitive abilities. Cognitive frameworks are learned and emulated within institutional structures. The individual relies on the acquisition of such cognitive habits, before reason, communication, choice, or action are possible.“ Hodgson, 1998, S. 180. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die „alten“ Institutionalisten Veblen, Commons u.a.
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Form von langlebigen und integrierten Routinen, die soziales Wissen über die Zeit hinweg bewahren.105 Nach Hamilton ist eine Institution „a way of thought or action of some prevalence and permanence, which is embedded in the habits of a group ort he customs of a people.“106 Ähnlich lautet die Definition von Veblen, eine Institution sei „settled habits of thought common to the generality of man.“107 Tatsächlich beruht kalkulatorisches Wahlverhalten auch auf einer habituellen Grundlage. Denn auch die Reproduktion bestimmter Denkschemata ist Teil menschlicher Sozialisation und erhält ihre Bedeutung erst durch die Habitualisierung: Erst dadurch, dass alle Individuen bestimmte Begriffe und Symbole gleich oder ähnlich deuten, entsteht Kommunikation. Und erst durch Kommunikation kann Rationalität als Operationsprinzip über Generationen hinweg transferiert werden.108 Ein Forschungsansatz, der situativ-nutzenmaximierendes Verhalten als Teil habituellen Verhaltens versteht, greift zwar auf den individuellen Akteur zurück, erkennt diesen aber als eingebettet in eine soziale Struktur, die sowohl einen Einfluss auf seine kognitiven Möglichkeiten als auch seine Anwendungsgewohnheiten von Rationalkalkülen hat. Dieser Einfluss entsteht über Institutionen, die einerseits als „objektive“ Einheiten existieren, andererseits als habituelles Verhalten auch eine subjektive Form annehmen.109 Das Individuum wird damit nicht als „gegeben“ angesehen, sondern geprägt von Institutionen. Dennoch ist das Individuum nicht determiniert durch das institutionelle Arrangement, das es umgibt. Die Möglichkeit, Entscheidungen zu reflektieren, kann auch zu Entscheidungen führen, die nicht habituell vorgegeben sind.110 Es kann ___________ 105
Commons, 1934, S. 45. Hamilton, 1932, S. 84. 107 Veblen, 1919, S. 239. 108 „Institutions are regarded as imposing form and social coherence upon human activity partly through the continuing production and reproduction of habits of thought and action. This involves the creation and promulgation of conceptual schemata and learned signs and meanings. Institutions are seen as a crucial part of the cognitive processes through which sense-data are perceived and made meaningful to agents. Indeed, as discussed below, rationality itself is regarded as reliant upon institutional props.“ Hodgson, 1998, S. 180. 109 „Institutions are both ‚subjective‘ ideas in the heads of agents and ‚objective‘ structures faced by them. The twin concept of habit and institution may thus help to overcome the philosophical dilemma between realism and subjectivism in social science. Actor and structure, although distinct, are thus connected in a circle of mutual interaction and interdependence.“ Hodgson, 1998, S. 181. 110 „Choosing institutions as units of analysis does not necessarily imply that the role of the individual is surrendered to the dominance of institutions. [...] Both individuals and institutions are mutually constitutive of each other. Institutions mold, and are molded by human action.“ Hodgson, 1998, S. 180 f. 106
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zum Beispiel zu einem spontanen emotionalen Verhalten kommen, oder es können sich auch neue habituelle Verhaltensweisen herausbilden. Die „neue“ Institutionenökonomik weicht nur bedingt von diesem Begriff der Institutionen ab, auch wenn auffällt, dass sie auf das Konzept der habits vollständig verzichtet.111 Institutionen lassen sich in Anlehnung an North einfach als Spielregeln auffassen.112 Damit geht die bei den alten Institutionalisten zu Recht betonte evolutorische Perspektive in Form der Pfadabhängigkeit sozialer Entwicklungen verloren, ohne dass durch die engere Definition der „neuen“ Institutionenökonomik ein besonderer Zugewinn zu erkennen ist. Gerade dadurch, dass habits ein intergeneratives Bindeglied in sozialen Gefügen darstellen, lassen sich viele gesellschaftliche Prozesse erst erklären. Im Zusammenhang mit Komplexität sind habits als der Teilbereich der Institutionen, den Individuen unreflektiert durch Sozialisation und Nachahmung übernehmen, von großer Bedeutung. Viele komplizierte Entscheidungssituationen lassen sich abkürzen, wenn man Verhaltensmustern folgen kann. Steht dem Individuum zusätzlich ein Pool von zwar unreflektierten aber dafür relativ schnell aufgenommenen Verhaltensweisen zur Verfügung, bleibt es auch in unübersichtlichen Situationen aktionsfähig. Das hier vorgestellte Verhaltensmodell durchbricht den klassischen Ansatz des homo oeconomicus an mehreren Stellen: Soziale Präferenzen weisen auf eine Nutzenfunktion hin, die über den engen eigennützigen Charakter des homo oeconomicus hinausgehen. Habituelle Verhaltensweisen sind unreflektiert in der Sozialisation übernommen und damit vom sozialen Kontext des Individuums abhängig. Schließlich stellen Institutionen als die sozialen Spielregeln, innerhalb deren ein Individuum sich verhält, die Schnittstelle für soziale Interaktion dar. Die gesellschaftlichen Phänomene sind damit nicht mehr allein auf das Individuum zurückzuführen, sondern sie hängen in großem Maße von sozialen Gebilden, eben Institutionen ab.113 Die soziale Einbettung des Individuums in seinen sozialen und kulturellen Kontext – die Institutionen114 – erlaubt ein differenzierteres Bild des Entscheidungsraumes als es beim homo oeconomicus der Fall ist.115 Erst durch die soziale Einbettung wird etwa Kommunikation zwischen Individuen relevant. ___________ 111
Mit diesem Ergebnis siehe Hodgson, 1998, S. 179. Siehe North, 1992. 113 Damit relativiert dieser Ansatz auch den methodologischen Individualismus, weil nicht mehr jedes Phänomen auf der Ebene des Individuums zu erklären, sondern dessen Einbettung in pfadabhängige Institutionen zu beachten ist. 114 Siehe dazu maßgeblich Frey, 1998 und Frey/Eichenberger, 1989. 115 Siehe dazu beispielsweise Granovetter, 1985. 112
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
Sprache ist dann eine zentrale Institution und Institutionen-Sharing ist Voraussetzung für soziale Interaktion. Wie wesentlich die Rolle von Kommunikation, aber auch von sozialer Identifikation ist, zeigen Bohnet/Frey anhand einiger einfacher Experimente, in denen sie untersuchen, ob sich das Verhalten in verschiedenen Gefangenendilemma-Experimenten ändert, wenn Anonymität zwischen den Partnern aufgehoben und schließlich auch Kommunikation zugelassen wird. Die Ergebnisse bestätigen, dass Anonymität defektive Strategien begünstigt, während Identifikation und Kommunikation kooperative Strategien fördert.116 Sprache als das unter Erwachsenen bedeutendste Vehikel für Kommunikation ist ebenfalls eine Institution. Sie liefert nicht nur Regeln für die Zuschreibung von Worten zu Gegenständen oder Situationen, sondern auch gleich Bedeutungsinhalte, die über die Sozialisation und das Erlernen der Sprache vermittelt werden.117 Dabei repräsentiert Sprache keineswegs die „wirkliche Welt“, sondern sie vermittelt eine bestimmte Interpretation subjektiver Wirklichkeit. Insofern kann es nicht verwundern, dass die sprachliche Darstellung eines Entscheidungsproblems immer auch den Entscheidungsraum öffnen oder begrenzen kann. Kommunikation spielt für die Bewältigung komplexer Entscheidungssituationen eine zentrale Rolle. Das gilt nicht nur für die Beratung durch Sachverständige, sondern auch für den bloßen Austausch von Interpretationen unter so genannten peers118 oder innerhalb von anderen Referenzgruppen. Da diese nicht zuletzt für die Bildung des individuellen Referenzpunktes zur Beurteilung von Gerechtigkeit in unübersichtlichen Situationen entscheidend sind, ist die Rolle von Kommunikation nicht zu unterschätzen.
6. Zwischenergebnis: Das Verhaltensmodell des homo oeconomicus institutionalis Das institutionelle Verhaltensmodell ist im Kern nichts anderes als ein institutionell gebetteter homo oeconomicus, der dadurch jedoch differenzierter ausfällt. Er verfügt noch immer über die Möglichkeit, in bestimmten Situationen situativ seinen Nutzen zu maximieren. Für unreflektierte, komplizierte, informationsintensive oder auch durch Ungewissheit gekennzeichnete Sachverhalte gilt hingegen, dass es wahrscheinlich ist, dass er auf regelgebundene, emotionale oder instinktive Verhaltensweisen zurückgreift. Ebenso möglich ist aber ___________ 116
In einem Vier-Personen-Gefangenendilemma-Spiel kooperieren von 172 Probanden bei anonymer Entscheidung 12%, während bei Kommunikation 78% kooperieren. Siehe Bohnet/Frey, 1994, S. 458 und ausführlich Bohnet, 1997. 117 Siehe dazu Hodgson, 1997, S. 677. 118 Unter „peers“ versteht man die Gleichaltrigen.
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auch, dass Individuen reflektiert auf der Basis sozialer Präferenzen handeln oder kognitiven Grenzen unterliegen (siehe Abbildung 6). Mit der Ausdifferenzierung des Verhaltensmodells geht auch eine Ausdifferenzierung der möglichen Lenkungsimpulse einher.119 Reagiert der klassische homo oeconomicus nur auf harte Anreize, etwa das sanktionierte Verbot,120 so lässt sich der homo oeconomicus institutionalis auch durch weiche Anreize121 für eine Verhaltensänderung gewinnen, da sich etwa seine Präferenzen modifizieren oder seine Wahrnehmung von Handlungsoptionen durch das framing der Entscheidungssituation beeinflussen lassen. Neben diesen intendierten Folgen staatlicher Lenkungsimpulse berücksichtigt das Verhaltensmodell aber auch eine breitere Palette nicht-intendierter Steuerungsfolgen. Dazu können etwa Emotionen, die zum Steuerungsziel entgegen gesetzt wirken, gehören. Auch habituelle Verhaltensweisen, die von neuen Steuerungsnormen durchbrochen werden und damit für neue Verhaltensweisen Raum schaffen, können nichtintendierte Steuerungsfolgen auslösen.
kog n
zen
situativnutzenmaxim.
rational-regel- habitusituativ- elles gebundenes nutzenmaximierendes Verhalten
Institutionen Restriktionen
ren .G
Institutionen Restriktionen
Eigennützige Soziale PRÄFERENZEN
n kog
.G ren zen
Institutionen
emotionalinstinktives
Quelle: eigene Bearbeitung in Anlehnung an Bizer, 1998, 2002b, Führ, 2002
Abbildung 6: Das Verhaltensmodell der Institutionenanalyse
___________ 119
Dieses Verhaltensmodell könnte damit die Anschlussfähigkeit zur (sozial) psychologischen Forschung erhöhen, welche die Bedeutung von persönlichen und situativen Charakteristika schon aufgrund ihres Forschungsprogramms berücksichtigt und damit zumindest im Straßenverkehr, bei sozialen Sicherungssystemen et cetera abweichendes Verhalten vorhersagen kann. Siehe mit einer Betonung auf „geringe Selbstkontrolle“ etwa Gottfredson/Hirschi, 1990 und mit einer Betonung auf „Scham“ Grasmick/ Bursik/Cochran, 1991. 120 Vgl. dazu Becker, 1976, S. 39 ff. 121 Dazu zählen etwa moralische Appelle, überzeugende Argumente oder auch die Identifikation mit einer Gruppe oder Gemeinschaft.
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C. Komplexität des homo oeconomicus institutionalis
In diesem Kapitel ging es darum, das Verhaltensmodell ausgehend vom homo oeconomicus zu öffnen, um andere Erklärungsmöglichkeiten für das Steuerzahlerrätsel reflektieren zu können. Wie gezeigt wurde, bieten sich im Kontext von Komplexität zahlreiche Möglichkeiten an: So kann es soziale Präferenzen geben, deren Zielerreichungsgrad durch eine komplexe Situation nicht mehr transparent ist. Kognitive Grenzen können verhindern, dass Entscheidungsalternativen erkannt werden, und begrenzen so den Entscheidungsraum. Bestehendes (zielkonformes) habituelles Verhalten kann durch einen staatlichen Eingriff durchbrochen werden und durch andere (zielwidersprechende) Verhaltensweisen ersetzt werden. Emotionen können schließlich dazu beitragen, dass in unübersichtlichen Situationen überhaupt entschieden wird, können aber auch situativ-nutzenmaximierende Kalküle überlagern. Die genannten Modifikationen berücksichtigen damit die Anpassung von individuellen Entscheidungen an die Komplexität in sozialen Kontexten generell. Sie bilden ab, dass Individuen auf Komplexität unterschiedlich reagieren können und lassen damit andere Erklärungsansätze zu als es im Modell des situativ-nutzenmaximierenden Individuums oder dem des rationalen Regelbefolgers der Fall ist. Das Modell vertritt damit keinerlei normativen Anspruch, sondern orientiert sich ausschließlich daran, soziale Phänomene positiv erklären zu können, die in den Modellen des situativ-nutzenmaximierenden Individuums und des rationalen Regelbefolgers nicht zu berücksichtigen sind. Im Hinblick auf die Forschungsfragen dieser Arbeit, die den Zusammenhang von Steuerkomplexität und Steuerehrlichkeit untersucht, nehmen nicht nur die Interdependenzen zwischen Institutionen und individuellen Entscheidungen eine wichtige Rolle ein, sondern auch die Orientierung an sozialen Präferenzen. Einen normativen Anspruch würde das Modell vertreten, wenn aus dem Modell abzuleiten wäre, dass Individuen sich auf eine bestimmte Weise verhalten sollen, etwa weil diese Verhaltensweise kollektiv zu einem besseren Ergebnis führt. Ein derartiger Anspruch an das Modell wäre jedoch verfehlt. Das Modell hat lediglich die Funktion, eine heuristische Anleitung dafür zu geben, die Vielfalt der individuellen Reaktionen im Hinblick auf ein bestimmtes soziales Phänomen systematisch zu erfassen und einer empirischen Evaluation zuzuführen.
D. Implikationen von Steuerkomplexität Die angeführten Forschungsergebnisse aus der Ökonomik und den angrenzenden Schwesterwissenschaften der Psychologie und Sozialpsychologie zeigen, dass es eines erweiterten Verhaltensmodells bedarf, um die bestehenden Phänomene einordnen und weiter analysieren zu können. Im Zusammenhang mit Steuerkomplexität zählen zu diesen Phänomenen etwa die Steuermoral, framing-Effekte wie der Besitzeffekt oder auch die Emotionen. Auch in diesem Kapitel kann also keine Rede davon sein, einen – normativen – homo libenter contribuens, der in jedem Falle freiwillig seine Steuern zahlt, oder einen homo stultus, der brav, aber von geringem Verstand, jeder Vorgabe folgt, einzuführen.122 Es geht vielmehr darum, das Verhaltensmodell des homo oeconomicus institutionalis als heuristischen Zugang zu nutzen, um im Kontext der das Individuum prägenden Institutionen Verhaltensprognosen für die Wirkungen einer komplexen Steuer gegenüber einer einfachen Steuer zu gewinnen.123 In diesem Kapitel werden die steuerspezifischen Forschungsergebnisse auf die Frage der Steuereinfachheit bzw. -komplexität und der Steuerhinterziehung bezogen. Diese Forschungstradition ist von beträchtlichem Alter und äußerst reichhaltig. Sie geht mindestens zurück bis zur Formulierung der „drei Finanzwissenschaften“, zu denen Fritz Karl Mann schon die Finanzökonomik, die Finanzpolitologie und die Finanzsoziologie zählte.124 Heute würde man die Finanzpsychologie im selben Atemzug als die „vierte Finanzwissenschaft“ bezeichnen.125 Tatsächlich hat sich in diesem Forschungssegment aufgrund der problemorientierten Herangehensweise eine zumindest transdisziplinäre Tradition entwickelt, die eine gegenseitige Rezeption von Forschungsergebnissen der ___________ 122
Siehe zu diesen Fiktionen des „freiwillig zahlenden Individuums“ bzw. des „dummen Individuums“ im Steuerrecht siehe Schmölders, 1951/52, S. 22 f. 123 Insofern erfüllt der homo oeconomicus institutionalis hier eine der Funktionen, die Suchanek, 1997, S. 70 sonst dem homo oeconomicus zuschreibt, nämlich eine heuristische Anleitung zu geben. 124 Siehe dazu Hansmeyer/Mackscheidt, 1988, S. 18; diese Konzeption Manns sei in den dreißiger Jahren entstanden. Vgl. Mann, 1971/72. 125 Siehe Schmölders, 1960 und den Beitrag von Hansmeyer/Mackscheidt, 1977 im Handbuch der Finanzwissenschaft. Siehe auch die Beiträge von Fischer/Mörsch, 1999 und Jonas/Heine/Frey, 1999. Mit entsprechenden Äußerungen zur „Einstellung“ von Individuen siehe auch schon Lotz, 1917, S. 239 ff.
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
genannten Disziplinen ermöglicht.126 Das folgende Kapitel systematisiert diese Erkenntnisse in Bezug auf die Steuerkomplexität unter Rückgriff auf das Verhaltensmodell des Kapitels C. Es greift dafür die Systematik aus dem vorangegangenen Kapitel auf, indem es neben dem Zusammenhang von Steuerkomplexität und Institutionen (Abschnitt I.) auch den zu sozialen Präferenzen (Abschnitt II.), zu kognitiven Grenzen (Abschnitt III.) sowie zu Emotionen (Abschnitt IV.) und habituellem Verhalten (Abschnitt V.) diskutiert. Am Ende fasst das Kapitel die Ergebnisse zu den Wirkungszusammenhängen zusammen und formuliert Hypothesen für die experimentelle Überprüfung (Abschnitt VI.).
I. Steuerkomplexität und Institutionen Drei Problemkomplexe sind im Bereich der Institutionen zu unterscheiden: Erstens, Steuermoral und Steuermentalität bedingen als persönliche Einstellungen die Entscheidung, Steuern zu hinterziehen oder ehrlich zu entrichten. Dafür ist wichtig, was genau unter Steuermoral zu verstehen ist und wie sich deren Einfluss unter Steuerkomplexität ändert (Abschnitt 1.). Zweitens ist ein Phänomen, das dabei besondere Beachtung verdient, der Hysteresis-Effekt, der beschreibt, dass eine einmal beeinträchtigte Steuermoral nicht ohne weiteres wieder ansteigt, wenn die Ursachen der Beeinträchtigung behoben sind (Abschnitt 2.). Drittens ermöglichen Institutionen erst soziale Interaktion, die einen großen Einfluss auf das individuelle Verhalten bei der Entrichtung der Steuer haben (Abschnitt 3.).
1. Steuermoral und Steuermentalität Im modernen Sprachgebrauch besteht die Moral in der Anerkennung der Richtlinien, „welche wir (a) autonom als Maßstäbe unseres eigenen Handelns anerkennen, für die wir (b) allgemeine Geltung beanspruchen und denen wir (c) ein größeres Gewicht als unseren anderen Handlungsgründen einräumen.“127
___________ 126 Geradezu euphorisch merkt Schmölders, 1951/52, S. 2 dazu an: „Vor dem Eklektizismus der modernen Nationalökonomie ist die Finanzpsychologie bewahrt, weil sie Komplexe wie Neid, Geiz, oder Habgier, Ehrgeiz, Machtstreben und Geltungssucht, Trägheit, Verantwortungsscheu und Pedanterie, Disziplin, Ehrgefühl und Sozialempfinden allgemein gültigere und zugleich anschaulichere Erklärungsgründe sind als die ‚Grenzneigung zum Konsum‘ oder die ‚Liquiditätsvorliebe‘.“ Der hier relevante Zweig der Finanzpsychologie ist sozialpsychologischer Art. Siehe dazu Fischer/Wiswede, 1997, Frey/Irle, 1993 sowie die Beiträge in Fischer/Kutsch/Stephan, 1999. 127 Koller, 1994, S. 283 (Hervorhebungen im Original). Davon unabhängig ist, ob es individuell rational ist, moralisch zu handeln.
I. Steuerkomplexität und Institutionen
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Das könnte nahe legen, dass Steuermoral eine persönliche Präferenz im Sinne einer persönlichen Zielvorgabe ist, weil sie vom Individuum autonom anzuerkennen ist. Gleichzeitig soll Steuermoral aber allgemeine Geltung beanspruchen können. Dafür muss sie zumindest institutionalisierbar sein, wenn sie auch nicht institutionalisiert sein muss. Sie muss sich damit in eine Institution überführen lassen. Und schließlich soll ihr bei der Auswahl von Handlungen ein größeres Gewicht zukommen als den übrigen Handlungsgründen. Um diese Anforderung zu erfüllen, kann es sich nicht um eine der persönlichen Abwägungsentscheidung unterworfene Präferenz, sondern es muss sich um eine „handlungsbegrenzende Präferenz“ im Sinne eines „Oberzieles“ handeln, die zumindest im Regelfall keiner Abwägung zugänglich ist.128 Diese Lokalisierung der Steuermoral sowohl in den Präferenzen als auch in den Institutionen betont, dass es sich um eine wechselseitig bedingte soziale Norm handelt, die einerseits von den gesellschaftlichen Spielregeln, andererseits von der Akzeptanz des Individuums abhängig ist. Es besteht also für die Einhaltung derartiger Normen ein enger Zusammenhang von Institution und Präferenz, der auch für die Steuermoral bestimmend ist. Allerdings erweist es sich als Problem, dass Präferenzen nicht als solche erkennbar sind, sondern sich für den Beobachter nur über die Rekonstruktion des Verhaltens erfassen lassen. Als Steuermoral wird deshalb üblicherweise „die allgemeine Einstellung der Steuerpflichtigen zur Erfüllung oder Nichterfüllung ihrer steuerlichten Pflichten verstanden.“129 Diese lässt sich über Befragung ermitteln. In der Operationalisierung ist die einfachste Variante, dass die Auffassung, Steuerdelikte seien „kriminelle Handlungen“, gleichzusetzen ist mit einer hohen Steuermoral, während eine Einschätzung als „Kavaliersdelikt“ für eine niedrige Steuermoral steht. Eine ausdifferenzierte Operationalisierung beinhaltet neben der Einstellung zum Steuerdelikt auch die Einstellung zum Steuersünder und zur Steuerstrafe.130 Der Zusammenhang zwischen Steuermoral und dem tatsächlichen Steuerverhalten ist jedoch nicht zwangsläufig eng: Während eine laxe Steuermoral wohl den Schluss zulässt, dass auch die Steuerdisziplin eher gering ist, bedeutet ___________ 128 Siehe zur Frage, ob Steuermoral eine Präferenz oder eine Handlungsrestriktion ist, Schmidtchen, 1994, zusammenfassend Frey/Torgler, 2002, S. 133. Bosco/Mittone, 1997 ordnen sie als Institution ein. Nimmt man Homann, 1997 gemäß an, dass der Ort der Moral in den Spielregeln und nicht in den Individuen liegt, so gilt auch für die Steuermoral, dass sie in den Institutionen enthalten sein muss. Vgl. Suchanek, 2001, S. 50 ff. 129 Schmölders, 1960, S. 101. 130 Zur weniger ausdifferenzierten Operationalisierung siehe Kienbaum Consultants/Bertelsmann Stiftung, 2001, S. 14, die in einer repräsentativen Befragung feststellen, dass in Deutschland 76 % Steuerhinterziehung „eher als kriminell“ und 19 % „eher als Kavaliersdelikt“ einschätzen (5 % machen keine Angabe). Die ausdifferenzierte Form findet sich bei Schmölders, 1960, S. 97 ff.
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
eine strenge Steuermoral noch keineswegs, dass die Steuern in voller Höhe entrichtet werden.131 Vor weit über 100 Jahren äußerte Vocke im Jahr 1887 noch die Ansicht, dass der Steuerzahler bei der „Steuerzahlung nicht die allgemeine, sondern sogar eine höhere sittliche Verpflichtung der Staatsbürger zur Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften anzuerkennen [habe] und durch Androhung entsprechender Strafen auch von dem Steuerpflichtigen zu fordern [sei].“132 Auch „die höhere sittliche Verpflichtung“ erforderte offenbar eine strafrechtliche Bewehrung, um wirksam werden zu können. Tatsächlich haben sich zu einer wirklich strengen Steuerstrafpolitik weder Preußen noch die Weimarer Republik133 durchringen können, noch hat diese Auffassung bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland sich durchzusetzen vermocht. Angesichts der vielfältigen Informations- und Berichtspflichten, die auf dem Steuerpflichtigen in Deutschland lasten, wäre etwa zu fragen, warum die Steuerhinterziehung nicht unter die Betrugsregelung des Strafgesetzbuchs subsumiert ist, sondern ein eigenes Steuerstrafrecht beansprucht.134 Die Antwort liegt wohl darin, dass eine Subsumtion unter das Strafrecht zur Folge gehabt hätte, dass ein Betrug am Staat ebenso streng zu ahnden gewesen wäre wie ein Betrug an einem privaten Geschäftspartner. Bei privaten Transaktionen ist „do ut des“ Grundlage des Vertrages, der für beide transparent ist. Im Verhältnis zum Staat besteht aber keine Anspruch auf eine Gegenleistung zur Steuer. Das Vertragsverhältnis ist ungleich komplizierter, der Verstoß folglich auch weniger streng. Außerdem werden Steuern an einen anonymen Staat abgeführt, der nicht als identifizierbares Individuum einen Vertrag abschließt, sondern per Gesetz die Steuer verordnet. Eine Steuerhinterziehung schädigt damit nicht ein konkretes Individuum, sondern den anonymen Staat.135 Der Gesetzgeber folgte insofern der allgemeinen Einstellung zum Steuerdelikt. Schmölders konstatiert, dass „[d]ie öffentliche Meinung vielfach in der Steuerpflicht lediglich eine Rechtssatzung nicht aber ein Sittengesetz [erblickt], dessen Innehaltung außer durch den Rechts-
___________ 131 Siehe dazu Schmölders/Strümpel, 1969, S. 11 f. Auch Schmölders, 1960, S. 110. Siehe dazu auch Bayer/Reichl, 1997, S. 162–164 mit einer empirischen Bestätigung. 132 Vocke, 1887, zitiert bei Schmölders, 1951/52, S. 15. 133 Siehe Bank, 1928, der die „Gesellschaftsfähigkeit der Steuerhinterziehung“ beklagte. 134 Siehe grundlegend dazu Joecks, 1998, S. 12; Tipke/Lang, 2002, S. 915 ff. 135 Hinzu kommen die historischen Erfahrungen, die in einem Land mit dem Steuersystem gemacht werden. So konstatiert Schmölders, 1951/52, S. 16 f., dass die Erfahrungen der Deutschen mit den für Kapitaleinkünfte ungünstigen Steuerreformen von 1919 und 1923 und der darauf folgenden Hyperinflation kaum ein positives Verhältnis zur Einkommensteuer erlaubt haben.
I. Steuerkomplexität und Institutionen
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zwang noch durch die starken Bindungen der Sitte und der Konvention gewährleistet wird.“136
Die Kodifizierung der Steuerhinterziehung in § 370 der Abgabenordnung und damit außerhalb des Strafgesetzbuches könnte aus dieser Perspektive als kontraproduktiv erscheinen, sie spiegelt aber immerhin das allgemeine Rechtsempfinden wieder. In den Kölner Untersuchungen zur Steuermoral in Deutschland, England, Italien, Spanien und Frankreich in den 1960er Jahren zeigte sich, dass im Vergleich England die günstigste Steuermoral aufweist.137 Danach folgt Deutschland und mit weitem Abstand die genannten romanischen Staaten. Für Deutschland galt auch damals schon, dass die „Intensität der steuertechnischen Konfrontation“ vergleichsweise hoch ist und damit Steuermoral möglicherweise von vorne herein verdrängt. In der modernen Terminologie wäre die Möglichkeit zu prüfen, ob eine andere Form der Steuertechnik zu einem crowding in138 von Steuermoral führen könnte,139 und ob diese auch verhaltenswirksam wird. Allein Maßnahmen zum belief management durchzuführen, dürfte kaum effektiv sein.140 Auf der anderen Seite ist Steuermoral, auch wenn es sich dabei um eine Präferenz handelt, keineswegs für Einflussnahmen unzugänglich.141 Auch wenn man argumentiert, dass sie analog zur bedingten Kooperation voraussetzt, dass andere sich ähnlich verhalten, ist davon auszugehen, dass bei anhaltend defektierendem Verhalten die Individuen schließlich von jeder sozialen Präferenz für das Steuerzahlen absehen. Entsprechende Beobachtungen werden durch Untersuchungen der Steuermoral in romanischen Ländern bestätigt.142 ___________ 136
Schmölders, 1951/52, S. 15. Siehe dazu die beiden Bände von Daviter/Könke/Schwerin et al., 1969 und Beichelt/Bievert/Daviter et al., 1969. Siehe zu einem Vergleich zwischen Niederlanden und Italien auch Kirchgässner, 1999. 138 Als „crowding in“ bezeichnet Frey den gesteigerten Beitrag zur Gemeinschaft, der durch eine Stärkung der persönlichen, gemeinwohlorientierter Motive hervorgerufen wird. Vgl. Frey/Jegen, 2001, S. 595. 139 Zum „crowding in“ bzw. „crowding out“ von Motivationen siehe Frey, 1997; Frey/Oberholzer-Gee, 1997. 140 Insofern ist dem nicht durch materiell geändertes Recht unterstützten reinen „belief management“ eine Absage zu erteilen. Allein auf Rechtsänderung zu setzen ohne die bestehende Auffassung über das Recht zu ändern, dürfte jedoch ebenfalls den Erfolg einschränken. Siehe um „belief management“ Falk, 2003 und Cialdini, 1989. 141 „More realistically, attitudes should be examined for what they are: a product of myth and misperception“ – so Lewis, 1982a, S. 71. Damit ist die Steuermoral anfällig für Änderungen in der Wahrnehmung und nicht stabil. 142 Siehe Daviter/Könke/Schwerin et al., 1969 und Beichelt/Bievert/Daviter et al., 1969. Vgl. dazu auch Kirchgässner, 1999. 137
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
In neueren Untersuchungen, die zunächst auf Strafe und Entdeckungswahrscheinlichkeit als unabhängige Variable zur Erklärung der Steuerhinterziehung abheben, dient Steuermoral häufig als residuale Größe, die schließlich sowohl eine „zu hohe“ Steuerehrlichkeit143 als auch eine sinkende Steuerehrlichkeit144 erklären soll. Im Kontext der Komplexität von Steuern ist es wichtig festzustellen, dass die Unübersichtlichkeit von Regelungssituationen dazu führt, dass es für den Steuerzahler schwierig – und das heißt zumindest: kostenträchtig – ist, seine Steuerpflicht zu bestimmen. Er muss folglich Anstrengungen unternehmen, um seine gesetzlich zunächst nur abstrakt fixierte Steuerpflicht zu erfüllen. Je größer diese Anstrengungen sein müssen, desto eher könnte das sein Unrechtsbewusstsein reduzieren. Parallel ist auch für die Steuerbehörde nicht leicht festzustellen, ob er aufgrund eines Irrtums oder intentional seine Steuern verkürzt hat. Es ist also damit zu rechnen, dass die Steuermoral sinkt, je schwieriger es ist, die Steuerpflicht konkret zu ermitteln. Eine weitere interessante, eng mit der Steuermoral verbundene Variable ist die der Steuermentalität. Diese fasst zunächst über Befragung die Bedeutungsinhalte zum Begriff Steuern zusammen und leitet daraus ab, ob die Individuen mit dem Begriff der Steuer eher verbinden, dass sie etwas beitragen, dass ihnen etwas weggenommen wird oder, dass sie etwas abgeben.145 Die Steuermentalität ist eingebettet in die allgemeine Einstellung zum Staat, in die auch einfließt, wie der Staat seine Einnahmen verwendet.146 Allerdings ist der Einfluss der Komplexität einer Steuer auf die Gesamtwahrnehmung des Staates eher gering einzuschätzen und wird deswegen hier nicht weiterverfolgt. Das gilt zumindest dann, wenn die Komplexität als Ausdifferenzierung des Steuerrechts gut begründet ist.147 Mangelt es an einer entsprechenden Rechtfertigung, ist der Einfluss der Steuerkomplexität auf die Steuermentalität als allgemeiner Einstellung negativ.
___________ 143 Siehe dazu Pommerehne/Hart/Frey, 1995, Schmidtchen, 1994, Alm/McClelland/ Schulze, 1992. 144 Siehe Graetz/Reinganum/Wilde, 1986. 145 Schmölders, 1960, S. 112. 146 Vgl. dazu Becker/Büchner/Simon, 1987. 147 Vgl. dazu Cuccia/Carnes, 2001, die in einer Befragung zeigen, dass die Rechtfertigung eines Ausnahmetatbestandes bei der Besteuerung einen signifikanten Einfluss auf die Bewertung hat.
I. Steuerkomplexität und Institutionen
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2. Hystereseeffekt bei der Steuermoral Als Hystereseeffekt der Steuermoral bezeichnet man das Verharren einer einmal gestörten Steuermoral auf einem niedrigen Niveau, auch wenn die Störung selbst behoben ist.148 Man könnte auch von einem Verzögerungseffekt sprechen, wenn das nicht suggerieren würde, dass die Steuermoral sich wieder von selbst herstellen würde. Nach den bisherigen Ausführungen zur Steuermoral als einer „handlungsbegrenzenden Präferenz“, die auf einer entsprechenden Institution beruht, ist eher zu vermuten, dass eine einmal verdrängte Steuermoral im individuellen Verhalten auch zu einer reduzierten Akzeptanz der Steuermoral als soziale Norm oder Institution führt. Genau diese Wirkungskette führt dazu, dass sich die Steuermoral nicht wieder erholt, wenn sie einmal beeinträchtigt ist. Tritt ein Hystereseeffekt ein, weil Steuern fortschreitend komplizierter und damit für das Individuum schwieriger bezüglich der eigenen Steuerpflicht zu interpretieren sind, so dürfte eine Rücknahme der Komplexität nicht unmittelbar zu einer wieder erstarkten Steuermoral führen. Schlicht diskutiert den Hysteresis-Effekt im Hinblick auf die Steuersätze und geht dabei davon aus, dass er ab einer gewissen Höhe auch vom Steuersatz ausgelöst wird.149 Als Ursache der Hysteresis nennt Schlicht den Drang zur Konformität bezogen auf die Referenzpersonen bzw. die Referenzgruppe.150 Überträgt man den Effekt auf das Problem der Steuerkomplexität stellt sich der Zusammenhang wie in Abbildung 7 dar. Auf der y-Achse ist die Steuerhinterziehung als negatives Maß für die Steuermoral abgetragen, auf der x-Achse die Steuerkomplexität. Ausgehend von Punkt A, in dem das Maß der Komplexität relativ gering ist, verabschiedet de Staat eine komplexitätserhöhende Steuergesetzgebung, die zum Punkt B führt. Dieser liegt rechts und oberhalb von A, weil in ihm sowohl die Komplexität als auch die Steuerhinterziehung höher ist. Angenommen, der Staat würde nun die Folgen seiner Gesetzgebung erkennen und die Maßnahmen vollständig zurücknehmen, würde sich gemäß des Hysteresis-Effekts Punkt C einstellen. In Punkt C ist die Steuerkomplexität genauso hoch wie in Punkt A, aber die Steuerhinterziehung ist nur geringfügig niedriger als in B und deutlich höher als in A. Die auf der y-Achse abgetragene Differenz ___________ 148 Soweit ersichtlich verwendet Leschke, 1997, S. 168 im Kontext der Steuermoral den Begriff zum ersten Mal. Siehe dazu aber auch Schlicht, 1998, S. 50 ff., der darauf hinweist, dass der Begriff in der Arbeitsmarkttheorie für Unbeweglichkeit und Beharrlichkeit verwendet wird. Hier wird dem „klassischen“ Hysteresis-Begriff gefolgt, wie ihn Schlicht verwendet, und der auf das (begrenzte) Erinnerungsvermögen des Systems abhebt. 149 Siehe Schlicht, 1998, S. 50 ff. 150 Vgl. dazu Schlicht, 1998, S. 14 f. und die folgenden Abschnitte D.I.3. und D.V.
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
zwischen C und A stellt das Maß für den Hysteresis-Effekt dar. Er beruht auf der durch Komplexität beeinträchtigten Steuermoral. Steuerhinterziehung
B C
HysteresisEffekt
A
Steuerkomplexität Quelle: Leschke (1997), S. 172. Vgl. auch etwas anders Schlicht (1998), S. 51
Abbildung 7: Der Hysteresis-Effekt der Steuermoral
Dieser „hysteretische“ Zusammenhang von Komplexität und Steuerhinterziehung ist bisher weder experimentell noch mit Felddaten belegt, wobei letzteres nur über einen individualisierten „Schwierigkeitsindex“ für die Steuergesetze im zeitlichen Ablauf möglich sein dürfte. Ein experimenteller Beleg wäre indes denkbar. Auf diesen Punkt ist in Kapitel E. ausführlich zurückzukommen.
3. Soziale Interaktion Individuen können eine Präferenz für ehrliches Verhalten haben. Sie wollen dann unabhängig von situativen oder sozialen Merkmalen ein durchweg ehrliches, das heißt normtreues Verhalten an den Tag legen. Eine starke Motivation für eine Präferenz für Ehrlichkeit kann auch die damit verbundene Reputation sein.151 Ist ein Individuum einmal ehrlich, kommt hinzu, dass Konsistenz im Verhalten oder wenigstens der Anschein von Konsistenz zusätzlich sozial belohnt wird.152 Vermutlich ist eine stabile und ausgeprägte Präferenz für ehrliches Verhalten selten, aber es ist kaum zu bestreiten, dass sie vorkommt. Deutlich häufiger dürfte bedingte Kooperation153 beziehungsweise bedingte Ehrlichkeit vorkommen. Bedingte Ehrlichkeit bedeutet, dass ein Individuum bereit ist, sich ehrlich zu verhalten, so lange es den Eindruck hat, dass sich auch ___________ 151
Siehe dazu Gordon, 1989, S. 801 f. Siehe dazu Festinger, 1957, in Bezug auf Steuerehrlichkeit Cialdini, 1989, S. 205. 153 Siehe dazu Fehr/Gächter, 2000a, zur Steuermoral als bedingter Kooperation siehe Frey/Torgler, 2007. 152
I. Steuerkomplexität und Institutionen
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die übrigen Interaktionspartner ehrlich verhalten. Dabei ist die subjektive Wahrnehmung des Verhaltens anderer von zentraler Bedeutung. Je schwieriger es ist, Anhaltspunkte für oder gegen die Ehrlichkeit des Verhaltens der anderen zu gewinnen, desto stärker hängt die Entscheidung für das eigene Verhalten von der persönlichen Disposition zum Miss- oder zum Vertrauen ab. In einer von Vertrauen geprägten Gesellschaft würde die Komplexität zu keinen Änderungen der Steuerehrlichkeit führen. In einer von Misstrauen geprägten Gesellschaft ist hingegen zu erwarten, dass ein geringes Maß an Transparenz des Verhaltens anderer zu einer geringeren Steuerehrlichkeit führt. Steuermoral fällt damit nicht vom Himmel, sondern ist eine soziale Norm, die durch Interaktion zwischen Individuen und den anderen sie umgebenden Institutionen geschaffen und auch zerstört werden kann. Das zeigen nicht zuletzt Experimente, in denen Wahlen über einzelne Parameter wie Steuersatz, Strafen oder Entdeckungswahrscheinlichkeiten zugelassen sind.154 Zunächst ist festzustellen, dass Individuen sich in Wahlen durchaus eigennützig verhalten. So votieren sie dann für höhere Steuersätze, wenn sie glauben, dass genügend andere diese ebenfalls zu zahlen bereit sind und es sich für sie aufgrund einer höheren Rückzahlung aus dem Steuerfonds lohnt.155 Überraschenderweise stimmen die Teilnehmer jedoch in keinem Fall dafür, strengere Kontrollen durchzuführen, auch wenn es sich für sie lohnen würde. Lässt man außer Wahlen auch noch einfache Kommunikation (cheap talk) zu, kann dies das Ergebnis umkehren: Während sich ohne Kommunikation keine Mehrheit für strengere Kontrolle findet, kommt es nun zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit156 für strengere Kontrolle.157 Das Experiment zeigt, dass Wahlen nicht in jedem Fall zu einer höheren Steuerehrlichkeit führen, sondern dass in einigen Fällen diese nach der Wahl abnahm. In diesen Fällen ist es möglich, dass die soziale Norm durch eine Ablehnung etwa schärferer Kontrollen oder Strafen zerstört wird, so dass Individuen nach der Wahl sich nicht mehr an diese gebunden fühlen. Wahlen sind danach nicht zwangsläufig ein Instrument zur Erhöhung der Steuerehrlichkeit. Dieses Ergebnis sehen Alm/McClelland/Schulze, 1999 im Widerspruch zu ___________ 154
Siehe zum Folgenden Alm/McClelland/Schulze, 1999. Siehe Alm/McClelland/Schulze, 1999, S. 160. 156 Von einer Verallgemeinerung dieses Ergebnisses sollte man jedoch absehen, denn im experimentellen Design von Alm/McClelland/Schulze, 1999 werden lediglich eine Gruppe mit und eine Gruppe ohne Kommunikation mit ansonsten identischen Parametern miteinander verglichen, so dass die vielfältigen Prozesse, die gerade in Gruppen mit Kommunikation stattfinden nicht isoliert werden konnten. 157 Alm/McClelland/Schulze, 1999, S. 161 berichten, dass im Kommunikationstreatment Äußerungen eine Rolle spielten wie „We should vote for the higher number of red chips to make sure that everyone pays.“, „It’s not right if some pay and don’t.“ oder „If everyone pays we are all better off.“ 155
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
Pommerehne/Hart/Frey, 1995.158 In deren ökonometrischer Studie geht es jedoch um Wahlen in Schweizer Kantonen, die kaum ohne Kommunikation stattgefunden haben dürften, so dass festzuhalten bleibt, dass Kommunikation und Wahlen gemeinsam als Formen der sozialen Interaktion bei vorteilhaften öffentlichen Gütern in der Regel auch zu einer höheren Steuerehrlichkeit führen. Innerhalb sozialer Interaktionen spielt der soziale Status der Interaktionspartner eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung des eigenen Entscheidungsraumes. Bei der Ermittlung von Verhaltensalternativen orientiert sich das Individuum an seinen sozialen Referenzpersonen, die häufig über eine gewisse Ähnlichkeit des sozialen Status ausgewählt sind. Für Österreich zeigt eine Untersuchung semantischer Potentiale von Eigenschaften typischer Steuerzahler, ehrlicher Steuerzahler und von Steuerhinterziehern, dass der typische Steuerzahler in den Beschreibungskategorien „faul/fleißig“ und „dumm/intelligent“ bei „eher fleißig“ und „eher dumm“ landet. Der ehrliche Steuerzahler gilt hingegen als „sehr fleißig“ und „eher intelligent“, während der Steuerhinterzieher als nicht so fleißig wie der ehrliche Steuerzahler aber dafür deutlich intelligenter gehalten wird. In der summarischen Bewertung erfährt der typische Steuerzahler eine deutlich negativere Einschätzung als der Steuerhinterzieher. Lediglich der ehrliche Steuerzahler wird deutlich positiv geschätzt.159 Das deutet darauf hin, dass ehrliches Steuerzahlen als eine bewusste und wertaufgeladene Entscheidung noch einen gewissen sozialen Status und damit Reputation genießt, wenn diese auch in der Kategorisierung zwischen dumm und intelligent nicht so positiv abschneidet wie in der Kategorie fleißig. Überraschend ist jedoch, dass typische Steuerzahler einen deutlich negativeren Status zugeschrieben bekommen, während Steuerhinterzieher wenigstens als intelligent gelten. Es ist zu vermuten, dass mit zunehmender Komplexität einer Steuer die soziale Reputation der (erfolgreichen) Steuerhinterzieher steigt, weil sie als „intelligent“, „clever“ oder ähnlich eingeschätzt werden. Steuerhinterziehung muss dann nicht mehr allein auf den wirtschaftlichen Vorteil ausgelegt sein, auch wenn dieser weiterhin im Vordergrund steht, sondern erfährt eine „spielerische“ Komponente. Diese hat schon Schmölders 1951 beschrieben, der meinte, dass dies „auch die gleichsam ‚sportliche‘ Freude an einem gelungenen Durchschlüpfen durch die engen Maschen der Steuergesetze [fördere], der Stolz, dem Staat mit allen seinen Machtmitteln doch ein Schnippchen geschlagen zu haben, der sich nicht selten zu einem für die fiskalischen Belange bedrohlichen Wettstreit der Steuerpflichtigen unter-
___________ 158 159
Vgl. Alm/McClelland/Schulze, 1999, S. 161. Siehe Kirchler, 1998, S. 211; siehe auch Kirchler/Maciejovsky, 2002, S. 13.
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einander entwickelt und die Verpflichtung zur Steuerentrichtung unmerklich auf eine andere sittliche Bewußtseinsebene verschiebt als die sonstigen staatsbürgerlichen Pflichten.“160
In diesem Kontext wird in moderner Terminologie von der „Dummensteuer“ gesprochen, die nur die Dummen entrichten, während die Klugen sie legal oder illegal umgehen können, ohne entdeckt zu werden. In diesem Zusammenhang spielen peer group effects eine zentrale Rolle, wenn etwa der Einfluss auf aktuelles Verhalten durch Arbeitskollegen beeinflusst wird.161 Spielen soziale Interdependenzen eine wichtige Rolle, kann es – wie im obigen Zitat beschrieben – zu epidemischen Ausbrüchen von Steuerhinterziehung kommen.162 Einen ebenfalls großen Einfluss durch soziale Interaktion entfällt auf Steuerberater.163 Das Verhältnis zwischen Steuerzahler und Steuerberater unterliegt der typischen Prinzipal-Agenten-Problematik: Der Steuerberater ist ausweislich seines Berufsstandes in Steuerangelegenheiten kompetent. Der Steuerpflichtige beauftragt ihn als Agenten, die Steuererklärung so zu gestalten, dass er so wenig wie möglich Steuern zahlen muss, ohne dass er der Steuerhinterziehung bezichtigt werden kann. Der Steuerpflichtige steht vor dem Problem asymmetrischer Informationsverteilung zwischen ihm, dem Prinzipal, und dem Steuerberater als Agenten. Er kann weder die Tätigkeit des Agenten im Einzelnen beurteilen, noch kann er eindeutig anhand des Erfolges messen, ob der Steuerberater gute Arbeit leistet. Je komplizierter die Steuer ist, desto höher ist der Bedarf an sachkompetenter Beratung. Parallel dazu steigt jedoch die Ungleichheit der Informationsverteilung, weil der Steuerpflichtige immer weniger durchschaut, welche Möglichkeiten der Steuerberater hat oder hätte, um die Steuerlast zu reduzieren. Insofern ergeben sich auf die Frage, wer von der „Konfusion des Steuerzahlers“ profitiert, als mögliche Antworten nicht nur die Steuerbehörde,164 sondern vor allem auch der Steuerberater.165
___________ 160
weist. 161
Schmölders, 1951/52, S. 16 f., der in diesem Zusammenhang auf Stamp, 1923 ver-
Vgl. dazu Webley/Cole/Eidjar, 2001, S. 148 und S. 153. Siehe dazu Cowell, 1990, Cowell, 1992, Benjamini/Maital, 1985. 163 In einer Umfrage des Bundes der Steuerzahler von 2002 geben von 1.546 befragten Internetnutzern 15 % an, die Steuererklärung mit Hilfe eines Steuerberaters zu erstellen, 38 % nutzen eine Steuer-Software, weitere 38 % schaffen es noch ohne fremde Hilfe und 8 % verzichten auf die Abgabe einer Steuererklärung. Siehe Bund der Steuerzahler, 2002. 164 Das ist die Hypothese von Scotchmer, 1989b, Schmidtchen, 1994, Andreoni/ Erard/Feinstein, 1998, kritisch dazu Krause, 1999. 165 Siehe dazu Scotchmer, 1989a. 162
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
In den USA nimmt die Hälfte der Steuerzahler Steuerberatungsleistungen in Anspruch. Dennoch verzichten rund ein Viertel der Steuerzahler auf Steuerermäßigungen, obwohl sie dazu berechtigt wären.166 Da die amerikanischen Steuerzahler den Vollzug der Steuergesetze gleichzeitig für nicht nachvollziehbar halten, überrascht es nicht, dass die Zahl der professionell betreuten Steuererklärungen zunimmt. Staatlich zugelassene Steuerberater sind in ihrem Beratungsverhalten aggressiver zugunsten ihrer Mandanten, wenn die steuerliche Situation uneindeutig ist.167 In Ländern wie den USA, in denen man keine staatliche Zulassung benötigt, um Steuererklärungen für Dritte vorzubereiten, akzeptieren Steuerzahler zudem eine aggressive Beratung eher von staatlich zugelassenen Beratern als von anderen.168 Geht man also davon aus, dass mit steigender Komplexität zunehmend mehr Steuerzahler professionelle Steuerberater – und nur diese sind in Deutschland zugelassen – in Anspruch nehmen, dann müssten sowohl die Konfliktfälle mit der Steuerverwaltung zunehmen als auch der Druck auf das Aufkommen steigen.169 Doch bei einer komplizierten Steuer spielt nicht nur die Interaktion zwischen Steuerberater und Steuerzahler eine größere Rolle, sondern auch die Interaktion zwischen Steuerzahler und Steuerbehörde. Dabei kommt es wesentlich auf die subjektive Wahrnehmung des Steuerzahlers an. Bereits Adam Smith wies auf das potentiell prekäre Verhältnis von Steuerzahler und Steuereintreiber hin und riet zur größtmöglichen Bestimmtheit der Steuer.170 Je komplexer die Steuern insgesamt sind, desto eher drängt sich dem Steuerzahler auf, dass er im Ungewissen über seine tatsächliche Steuerlast bleiben soll. Tatsächlich ist der fiskalische Bedarf moderner Staaten so hoch, dass Alleinsteuern heute als unrealistisch gelten müssen. Der Hoffnung, dass der Staat Steuereinnahmen für schlechte Zeiten zurücklege, geben sich unabhängig von der volkswirtschaftlichen Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme wohl kaum Bürger hin. Schumpeter hat eine solche Anforderung an den Staat mit einem Mops verglichen, von dem man erwarte, dass er sich eine Wurstsammlung zulege.171 ___________ 166
Siehe Andreoni/Erard/Feinstein, 1998, S. 852. Siehe dazu Ayers/Jackson/Hite, 1989. 168 Siehe dazu Schmidt, 2001, S. 169, der auch bestätigt, dass in einer Nachzahlungssituation die Steuerzahler eher aggressive Steuerberatung nachfragen als in einer Rückzahlungssituation. Kommt es zu einer Steuerprüfung, neigen die Steuerzahler, die einen Steuerberater in Anspruch genommen haben, eher dazu, unzufrieden mit der Steuerbehörde zu sein, als Steuerzahler, die keinen Steuerberater haben. Zu diesem so genannten „preparer effect“ siehe Hite, 2002, S. 613 ff. 169 Letzteres zeigt Scotchmer 1988, S. 189 ff. 170 Siehe Smith, 1937, S. 477. 171 Siehe Schmölders, 1951/52, S. 13, der diesen Ausspruch Schumpeter zuschreibt. 167
I. Steuerkomplexität und Institutionen
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Dennoch hat der Bürger gewisse Erwartungen an den Staat, die sich nicht nur auf angemessene Gegenleistungen beziehen, auch wenn diese nicht als marktliches quid pro quo erfolgen. Wie vielfältig die Interaktion ist, zeigt auch eine Untersuchung von Feld/Frey, die das Verhältnis von Steuerzahlern und Steuerverwaltung in der Schweiz betrachten.172 Anhand eines Indexes für das Maß an direkter Demokratie in den Kantonen setzten sie einerseits das Verwaltungshandeln und andererseits die Strafhöhe in Beziehung zur Bürgerbeteiligung. Es zeigt sich, dass die Steuerverwaltung in Kantonen mit größerer Bürgerbeteiligung ihren Steuerzahlern weniger misstrauisch gegenüber steht, wenn letztere Fehler begehen. Auch bei kleineren Vergehen, die als Nachlässigkeit zu interpretieren sind, agieren diese Steuerbehörden nachsichtiger. Hingegen werden größere Steuerhinterziehungen deutlich schärfer geahndet.173 Die Autoren interpretieren dieses Ergebnis im Kontext eines kantonalen Gesellschaftsvertrages, der um so stärker auf Vertrauen basiert, je größer die Mitbestimmung der Steuerzahler ist. Eine analoge Untersuchung der Komplexität der kantonalen Einkommensteuer und ihrer Hinterziehung in Abhängigkeit vom Ausmaß der direkten Demokratie gibt es bisher leider nicht. Das Ergebnis demonstriert aber, dass über die staatlichen Gegenleistungen hinaus eine Interaktion zwischen Steuerzahler und Steuerbehörde stattfindet, deren Einfluss nicht gering zu schätzen ist. Auch zwischen Steuerbehörde und Steuerzahler besteht eine PrinzipalAgenten-Beziehung. In dieser nimmt die Steuerbehörde die Rolle des Prinizipals ein, der Einnahmen erzielen will, das tatsächliche Einkommen der Steuerzahler (den Agenten) aber nicht zu beobachten vermag ohne eine Steuerprüfung vorzunehmen.174 Je komplizierter die Steuer ist, desto schwieriger ist es nicht nur für den Steuerzahler, seine genaue Steuerpflicht zu ermitteln, sondern desto kostspieliger ist es auch für die Steuerbehörde, in Steuerprüfungen das tatsächliche Einkommen zu ermitteln. Geht man davon aus, dass mit steigender Komplexität auch die Fehlerquote der Steuerbehörde zunimmt, dürften daraus Verletzungen des subjektiven Gerechtigkeitsgefühls resultieren.
4. Zwischenfazit Die Steuermoral als Einstellung zum Steuerdelikt und die Steuermentalität als Einstellung zum Staat insgesamt können einen eigenen Einfluss auf die Steuerehrlichkeit der Zensiten haben. Dieser Einfluss ergibt sich aus einem Zusammenwirken von Institution und Präferenz, die zu einer Handlungsrestriktion ___________ 172
Siehe Feld/Frey, 2002. Siehe ausführlich Feld/Frey, 2002, S. 94 ff. 174 Vgl. dazu Reinganum/Wilde, 1985, S. 2. 173
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
des Individuums führen, welche nicht einem Marginalkalkül unterliegt. Komplexität bewirkt, dass es für den Steuerpflichtigen zumindest schwieriger wird, seine Steuerpflicht zu bestimmen. Dies dürfte das Unrechtsbewusstsein gegenüber dem Steuerdelikt verringern. Tendenziell gilt das auch für die Steuermentalität zumindest dann, wenn Steuerkomplexität ungenügend begründet ist. Im Ergebnis kann Steuerkomplexität zu einem Hysteresis-Effekt bei der Steuermoral führen, der das Niveau der Steuerhinterziehung ansteigen lässt. Nicht jeder Hysteresis-Effekt der Steuerhinterziehung ist auf eine sinkende Steuermoral zurückzuführen, aber die Interdependenz zwischen der individuellen Steuermoral und den entsprechenden Institutionen als sozialen Normen führen dazu, dass eine beeinträchtigte Steuermoral besonders schwer wiederherzustellen ist, so dass die Steuerhinterziehung auch dann, wenn der Gesetzeber die Steuerkomplexität wieder reduziert, die Steuerhinterziehung ein hohes Niveau behält. Soziale Interaktionen finden sowohl zwischen Steuerzahler und Steuerverwaltung als auch zwischen Steuerzahler und Steuerberater als auch unter den Steuerzahlern statt. Eine zunehmende Komplexität der Steuer bewirkt, dass die Steuerpflichtigen verunsichert sind und sich stärker als zuvor an Referenzpersonen orientieren. Die Reaktion auf die Komplexität hängt dann in hohem Maß von den Entscheidungen dieser Referenzpersonen ab. Gleichzeitig neigen Steuerzahler bei steigender Komplexität eher zu professioneller Beratung, an die er mangels geeigneter Kontrolle die implizite Anforderung stellt, dass sie seine Steuerlast reduzieren soll. Das verringert das Aufkommen aus der Steuer. Komplexität führt aber auch zu einer relativ höheren Fehlerquote bei der Steuerverwaltung. Auch das fördert die Neigung des Steuerpflichtigen, professionelle Beratung nachzufragen.
II. Steuerkomplexität und soziale Präferenzen Dieser Abschnitt betrachtet den Einfluss der Steuerkomplexität auf soziale Präferenzen für „Gerechtigkeit“. Es dürfte unstrittig sein, dass Gerechtigkeit ein schwer zu operationalisierendes Konzept ist.175 Aus diesem Grund gehen die meisten der dieses Problem behandelnden Forschungsarbeiten von subjektiv empfundener Gerechtigkeit aus. Anders als diese Bezeichnung vielleicht ver___________ 175
Homburg, 1997, S. 217 merkt dazu an, dass die Frage nach der gerechten Besteuerung (iustitia contributiva) geradezu biblisches Alter habe. Die Entwicklung verschiedener Opfertheorien, um die Unterschiede zwischen verschiedenen Gerechtigkeitskonzepten eindeutig zu erfassen, führte nicht wesentlich weiter. Danach war nach der absoluten Opfertheorie jedes Individuum absolut in derselben Höhe zu belasten. Nach der relativen Opfertheorie sollte hingegen alle ein gemessen an ihrer Leistungsfähigkeit relativ gleich hohes Opfer treffen. Vgl. dazu Schmölders/Hansmeyer, 1980, S. 56 f.
II. Steuerkomplexität und soziale Präferenzen
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muten lässt, bezieht diese sich nicht allein auf die eigene Position, sondern eben auch auf Dritte. Lediglich Cowell weicht von diesem Ansatz ab und operationalisiert subjektive Gerechtigkeit anhand eines Ungerechtigkeitsindexes in das ökonomische Modell der Steuerhinterziehung. Auf diese Weise versucht er, Gerechtigkeit in das ökonomische Standardmodell zu integrieren. Ungerechtigkeit entsteht beispielsweise, wenn bei gleich bleibenden Staatsausgaben ein Individuum weniger an öffentlichen Gütern erhält. Ungerechtigkeit bedeutet dann, dass Ungleichheit beim Empfang staatlich bereitgestellter Güter entsteht. Unter dieser Bedingung schrumpft das vom Individuum empfangene Güterbündel, denn es zahlt genauso viel Steuern, erhält aber weniger öffentliche Güter. In dieser Situation ist die Standardprognose, dass das Individuum aufgrund des geringeren Einkommens weniger hinterzieht, weil es abnehmender absoluter Risikoaversion unterliegt. Das Ergebnis lautet folglich, dass bei zunehmender Ungerechtigkeit die Bereitschaft zur Steuerhinterziehung abnimmt.176 Das Problem entsteht, wenn Individuen nicht unendlich risikoavers sind und sie ihren Anteil der vom Staat bereitgestellten Güter positiv bewerten – beide Annahmen fallen nicht wegen besonderer Restriktivität auf. Zu diesem Ergebnis kommt es unabhängig von der genauen Spezifikation von Ungerechtigkeit.177 Es hängt vielmehr davon ab, dass Individuen nichts gegen ihre subjektive Wahrnehmung von Gerechtigkeit unternehmen können. Damit ist festzuhalten, dass die Standardprognose des ökonomischen Modells in die Irre führt. Sie liefert nicht nur ein konterintuitives Ergebnis, sondern widerspricht auch Ergebnissen aus Befragungen178 und Experimenten.179 Diese betonen die Bedeutung der exchange relationship für das subjektive Gerechtigkeitsempfinden. Die damit verbundene und empirisch bestätigte Hypothese lautet, dass Steuerzahler, die unzufrieden sind mit dem Saldo von Leistungen und staatlichen Gegenleistungen, eher zu Hinterziehung neigen als in dieser Beziehung zufriedene Steuerzahler. An diese Diskussion knüpfte auch die Frage an, ob man sich in einem Gesellschaftsvertrag auf eine Konzeption von Steuergerechtigkeit einigen könne, wenn unter einem hypothetischen veil of ignorance180 entschieden wird. Die Positionen sind sehr unterschiedlich: Während die einen ausgehend von einem ___________ 176
Siehe dazu Cowell, 1992, S. 533 ff. Siehe Cowell, 1992, S. 534. 178 Siehe dazu Wallschutzky, 1984. 179 Siehe Becker/Büchner/Simon, 1987, auch Mackscheidt, 1984. 180 Rawls, 1972, S. 189 nennt das „[t]he idea of taking a chance on which person one will turn out to be.“ 177
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
Rawl’schen Ansatz das Prinzip der Leistungsfähigkeit begründen,181 geht es der utilitaristischen Perspektive vornehmlich um die Anreizsituation.182 Diese Diskussion zeigt, dass die Wahl eines intersubjektiv gewonnenen Gerechtigkeitsbegriffs weitgehend von der ethischen Grundposition abhängt. Für die Frage des tatsächlichen Verhaltens von Individuen wäre ein objektiv gewonnener Gerechtigkeitsbegriff jedoch ohnehin von untergeordneter Bedeutung. Wesentlich einflussreicher für die individuelle Einschätzung von steuerpolitischen Alternativen sind die subjektiven Gerechtigkeitsbegriffe der betroffenen Individuen. Diese lassen sich letztlich am ehesten durch Befragung oder Experimente gewinnen. In einer Befragung von Steuerpflichtigen ermitteln Milliron et al., dass im Wesentlichen drei Konzepte von Steuergerechtigkeit über die Hälfte der Varianz individueller Beurteilungen abdecken. Dabei schneidet das Gerechtigkeitskonzept mit etwa der zweifachen Stimmenzahl doppelt so gut ab wie das auf reiner Einfachheit beruhende oder das auf Eigeninteresse beruhende Konzept. Das deutet einerseits an, dass Einfachheit eine gewisse Rolle in den Präferenzen spielt, aber Gerechtigkeit in der Präferenzordnung eindeutig vorherrscht.183 In einer Untersuchung des Zusammenhangs von der subjektiv wahrgenommenen Gerechtigkeit und Komplexität stellt Milliron fest, dass eine repräsentative Auswahl von Befragten in den USA in den 1980er Jahren Komplexität eher mit Ungerechtigkeit als mit Gerechtigkeit in Verbindung bringen. Die Befragung bestätigt zudem, dass Gerechtigkeit weitgehend unabhängig von persönlichen demographischen Variablen bzw. den Einstellungen ist. Daraus folgert Milliron, dass unter den Befragten ein allgemeiner Referenzstandard für die Beziehung zwischen Komplexität und Gerechtigkeit besteht.184 In einem weiteren Untersuchungsschritt verbindet Milliron die Einschätzungen von Komplexität mit Steuerhinterziehung, indem sie den Probanden Fälle vorlegt, bei denen sie über das deklarierte Einkommen zu entscheiden haben. Auch dabei kann die These, Komplexität spiele keine Rolle in Bezug auf deklariertes Einkommen, nicht bestätigt werden. Es zeigt sich vielmehr, dass der Zusammenhang nicht immer einfach und direkt ist.185 ___________ 181
Walzer, 1987, S. 89 ff. Vgl. etwa Mirlees, 1982, S. 74 ff. 183 Siehe Milliron/Watkins/Karlinsky, 1989. 184 Milliron, 1985, S. 29 f. So auch Porcano, 1984. 185 Siehe Milliron, 1985 S. 807 f. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die Studie nur auf hypothetischen Antworten beruht, also kein experimentelles Design zugrunde liegt. Derartige „self-reports“ sind aber nur bedingt verlässlich. Siehe dazu Hessing/Ellfers/Weigel, 1988. 182
II. Steuerkomplexität und soziale Präferenzen
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Der Zusammenhang von subjektiv wahrgenommener Gerechtigkeit und Komplexität der Steuer wurde auch von Cuccia/Carnes untersucht. Sie operationalisieren Komplexität der Steuer als eine höhere Anzahl der Rechenvorgänge und schwierigere Art der Berechnung. Während im einfachen Fall die Probanden anhand einer Tabelle ablesen können, mit welcher Steuererleichterung sie im konkreten Fall zu rechnen haben, müssen sie im komplexen Fall die einzelnen Berechnungsschritte, die zum Tabellenergebnis führen, selbst vornehmen. Diese Form der compliance complexity186 geht jedoch von einer klaren und verständlichen Form der Anweisung aus. Sie testet also lediglich die Reaktion auf die Umständlichkeit der Berechnung, berücksichtigt aber nicht, dass Unsicherheit über die Anwendbarkeit im konkreten Fall ebenfalls eine mögliche Ursache für die abweichendes Verhalten bei Komplexität sein kann. Vorbehaltlich dieser Einschränkung zeigt sich in der Befragung von Cuccia/Carnes, 2001, dass Komplexität potentiell die subjektive Bewertung von Steuernormen beeinflussen kann, aber dass dieser Einfluss in hohem Maß davon abhängt, ob eine ausführliche Begründung der Ausnahmeregelung vorliegt und welcher ökonomische Referenzpunkt herangezogen wird. Die Autoren folgern deshalb, dass Vereinfachungen des Steuerrechts nur dann hinsichtlich der subjektiven Gerechtigkeit Verbesserungen erwarten lassen, wenn neben den ökonomischen Wirkungen auch Alternativen und die jeweiligen Begründungen berücksichtigt werden.187 Mit anderen Worten: Die Probanden bewerten Komplexität nur dann negativ, wenn eine Alternative offeriert wird, die ökonomisch besser ist und gleichzeitig keine explizite Rechtfertigung für Komplexität besteht. Dieses Ergebnis von Cuccia/Carnes ist vor dem Hintergrund der eng gewählten Definition von Komplexität zu sehen, die allein auf die marginale Schwierigkeitssteigerung bei der Berechnung abhebt und nicht berücksichtigt, dass Komplexität gerade die Unsicherheit über die Anwendbarkeit bestimmter Regeln umfasst. Dennoch warnt dieses Ergebnis zu Recht davor, Steuervereinfachung zu weit zu treiben,188 weil weder Vereinfachung noch Komplexität originäre Gerechtigkeitsnormen beinhalten, sondern lediglich dazu dienen, materielle Gerechtigkeit formal zu implementieren. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass subjektives Gerechtigkeitsempfinden und Steuerkomplexität auf vielfältige Weise verwoben sind. Zunächst zeigt sich, dass Ungerechtigkeit nicht mit befriedigendem Resultat in das ökonomische Grundmodell zu integrieren ist. Befragungen zeigen indes, dass Gerech___________ 186
Siehe Cuccia/Carnes, 2001, S. 122. Siehe Cuccia/Carnes, 2001, S. 134. 188 Das zeigt auch die Untersuchung von Steuerzahlerpräferenzen in Milliron/Watkins/Karlinsky, 1989. 187
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
tigkeitsnormen im direkten Vergleich zwar eine höhere Bedeutung zugemessen wird als Einfachheit, aber dass Komplexität zumindest in einer Situation mit kompliziertem Steuerrecht, wie sie in den 1980er Jahren in den USA bestand, von den Probanden eher in Verbindung mit Ungerechtigkeit gesehen wurde als in Verbindung mit Gerechtigkeit. Von großer Bedeutung ist dabei, ob die Ausdifferenzierung der Steuernormen von nachvollziehbaren Rechtfertigungen begleitet wird. Nur wenn das der Fall ist, steht Komplexität nicht unmittelbar im Verdacht, die Ungerechtigkeit zu fördern.
III. Steuerkomplexität und kognitive Grenzen Steuern zu zahlen bedeutet einen Verlust an verfügbarem Einkommen. Wie in Kapitel C beschrieben, bewerten Individuen Verluste und Gewinne nicht symmetrisch, sondern empfinden einen Verlust negativer als einen gleich hohen Gewinn positiv bewerten. Aus diesem Grund versuchen sie, Verluste so weit wie möglich zu vermeiden: sie sind risikoavers im Bereich der Verluste, aber risikofreudig in der Domäne der Gewinne. Da Steuern in jedem Fall einen Verlust bedeuten, könnte man folgern, die loss aversion der Steuerpflichtigen sei unumgänglich. Tatsächlich gibt es einige Möglichkeiten, die diesen Effekt zu mildern vermögen, von denen der deutsche Gesetzgeber auch Gebrauch macht. Dazu zählt etwa der Lohnsteuer-Vorwegabzug, der durch die Abführung der Lohnsteuer über den Arbeitgeber von vornherein dem Arbeitnehmer nur das Einkommen zur Verfügung stellt, das ihm (in etwa) nach Steuern verbleibt. Auf diese Weise entsteht das Verlustempfinden nur dann, wenn der Arbeitnehmer nachvollzieht, wie es von seinem Bruttoeinkommen zum Nettoeinkommen kommt. Ist das so genannte PAYE-System189 einmal eingeführt, führt jede weitere Steuererhöhung natürlich direkt zu einem reduzierten Nettoeinkommen und kann insofern die loss aversion in der Differentialbetrachtung nicht vermeiden. Aber auch dann ist der Vorteil des PAYE-Systems darin zu sehen, dass im Moment der Steuererhöhung keine unmittelbare Möglichkeit besteht, die Steuerlast zu reduzieren. Ebenfalls zu den framing effects ist zu zählen, dass Individuen von dem Referenzpunkt ausgehend, der sich aus ihrer bisherigen Situation ergibt, jede neue Situation bewerten (endowment effect), aber dabei so genannte out-of-pocketcosts gegenüber Opportunitätskosten überbewerten. Bei Steuervergünstigungen ___________ 189 „Pay as you earn“; siehe dazu Yaniv, 1999, der auch darauf hinweist, das im Rahmen der expected utility theory das PAYE-Prinzip keine Auswirkungen auf die Hinterziehung hat, während die prospect theory prognostiziert, das die Steuerhinterziehung sinkt.
III. Steuerkomplexität und kognitive Grenzen
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für Ehepartner wie dem Ehegattensplitting, aber auch für Familien mit Kindern führt dies dazu, dass die Befragten eine höhere Steuervergünstigung zugestehen, wenn diese als eine Steuererleichterung anstelle einer zusätzlichen Steuerbelastung formuliert ist. In einer Befragung von Mitarbeitern von verschiedenen Firmen ermittelt Traub, dass tatsächlich über einen Einkommensbereich von damals 2.500 bis 10.000 DM/Monat die als fair angesehenen Steuererleichterungen sowohl für das Ehegattensplitting als auch für das erste Kind einen deutlichen framing effect aufweisen: Über alle Einkommensgruppen hinweg ist die Differenz zwischen Steuererleichterung (für Ehepartner bzw. Kinder) und analoger Steuerzusatzlast (für Singles bzw. Kinderlose) positiv.190 Damit widerlegt Traub auch für die Frage von Steuererleichterungen versus Steuerzusatzlasten, dass Opportunitätskosten und out-of-pocket-costs191 unter der Annahme gleichen Steueraufkommens nicht zu indifferenten Beurteilungen führen wie es das Coase-Theorem vorhersagt.192 Nach dem Coase-Theorem wären die Steuerpflichtigen indifferent hinsichtlich der Ausgestaltung der Steuer, dem frame, und richten sich ausschließlich nach der finalen Steuerlast. Tatsächlich bewerten sie aber eine Steuer positiver, die ihnen eine scheinbare Steuererleichterung gewährt. Insgesamt folgt aus dieser Erkenntnis, dass es gute psychologische Gründe gibt, steuertechnisch eher Erleichterungen zu gewähren als Steuerzuschläge zu erheben. Im Hinblick auf die Frage der Steuerkomplexität bedeutet dies, dass es offenbar gute psychologische Gründe gibt, möglichst viele Ausnahmetatbestände zu gewähren, um bei allen Steuerpflichtigen den framing effect zu nutzen. Allerdings sind damit noch keine Aussagen zur damit verbundenen Steuerhinterziehung getroffen. Aufbauend auf denselben Effekten lässt sich auch die Frage stellen, wie sensibel die deklarierten Einkommen aus unterschiedlich nach Gewinn- und Verlustdimension differenzierten Einkünften auf Änderungen von Entdeckungswahrscheinlichkeit und Strafe für Steuerhinterziehungen reagieren.193 Zu diesem Zweck unterschieden Kirchler/Maciejovsky/Schwarzenberger in einem Experiment Erlöse aus Wertpapierverkäufen und Erlöse aus Dividenden als al-
___________ 190
Siehe hierzu ausführlich Traub, 1999, S. 140 ff. Bei „out-of-pocket-costs“ ist die Verlustaversion relevant, weil man aus der eigenen Tasche zahlt, während Opportunitätskosten nur in hypothetischen Gewinnen der Alternativen bestehen. Auch wenn diese ökonomisch gesehen, genauso real sind, werden sie von Individuen anders bewertet. 192 Siehe dazu schon Thaler, 1980, S. 44 und zur Indifferenz-Hypothese siehe Coase, 1960, S. 7. 193 Siehe Kirchler/Maciejovsky/Schwarzenberger, 2001. 191
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
ternative Möglichkeit des Abschöpfens von laufenden Erträgen für den Investor.194 Das Experiment bestätigt indes nicht die Hypothese, dass Wertpapierverkäufe und Dividenden in verschiedenen mental accounts geführt werden. Allerdings zeigt es, dass die Probanden den Kauf von Wertpapieren als subjektiven Verlust empfinden, den sie durch riskante Steuerhinterziehung auszugleichen versuchen.195 Insgesamt belegt die Literatur, dass framing effects im Kontext von Steuererklärungen existieren und die Hinterziehungsentscheidung beeinflussen.196 Framing effects bilden für die individuelle Entscheidung eine kognitive Grenze, weil sie verhindern, dass Individuen Optionen – vom Standpunkt eines Beobachters aus – „objektiv“ an den Eintrittswahrscheinlichkeiten der Ereignisse ausrichten. Insofern bilden auch soziale Normen kognitive Grenzen, wenn sie den Entscheidungsraum begrenzen. Soziale Normen liegen nicht einfach vor, weil der Gesetzgeber sie in kodifizierter Form verabschiedet hat, sondern sie müssen sozial getragen und vermittelt sein. Dafür sind die Alltagsrepräsentationen der Norm von wesentlicher Bedeutung. In ihnen verbinden sich die sozialen Realitäten der Individuen mit den sozialen Ideen. Sie bilden damit einen „Wissensvorrat“, der „sowohl inhaltlich-interpretative Momente als auch Strategien enthält, wie Wahrnehmungsaufgaben gelöst bzw. Stimuli integriert werden können.“197 Differenziert nach Steuerumgehung, Steuerhinterziehung und Steuerflucht haben Kirchler/Maciejovsky/Schneider, 2003 festgestellt, dass sich die Alltagsrepräsentationen von Finanzbeamten, Betriebswirtschaftsstudenten, Wirtschaftsanwälten und Unternehmern in Österreich kaum unterscheiden. Dafür ___________ 194
Nach ihrer Auffassung sind im Kontext des „mental accounting“, zwei alternative Hypothesen denkbar (siehe Kirchler/Maciejovsky/Schwarzenberger, 2001, S. 3–4): Erstens könnte mit dem Verkauf von Wertpapieren einhergehen, dass die damit erzielten Gewinne zu riskoaversem Verhalten führen. Dividenden führen hingegen (im durchgeführten Experiment) zu regelmäßigen Einkünften und könnten deshalb nach Auffassung der Autoren mit riskantem Verhalten assoziiert werden. Die Steuerehrlichkeit wäre damit bei den Wertpapierverkäufen höher als bei den Dividenden. Zweitens sehen es die Autoren aber auch als möglich an, dass die Individuen die Steuer auf die Verkaufserlöse als Verlust empfinden und damit bereit sind ein höheres Risiko einzugehen, während sie Dividenden subjektiv als Gewinne ansehen und damit risikoaverses Verhalten nahe liegt. Diese Argumentation ist schwer nachvollziehbar, weil nicht deutlich wird, warum im ersten Fall nicht sowohl Dividenden als auch Verkaufserlöse als Gewinne zu interpretieren sind. 195 Kirchler/Maciejovsky/Schwarzenberger, 2001, S. 11 und 13. 196 Vgl. dazu Schepanski/Kelsey, 1990, Chang, 1984, Chang, 1995 und Chang/Nichols/Schultz, 1987. 197 Rook/Irle/Frey, 1993, S. 53.
III. Steuerkomplexität und kognitive Grenzen
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teilten die Probanden ihre spontanen Assoziationen zu den drei Begriffen mit. Diese unterscheiden nicht nur deutlich nach legal und illegal bei Steuerumgehung und Steuerhinterziehung, sondern assoziieren auch mit Steuerflucht hauptsächlich das Steuersparen. Allerdings differieren die Berufsgruppen deutlich in der Bewertung der subjektiven Fairness. Finanzbeamte bewerten alle drei Optionen deutlich negativer als die übrigen Berufsgruppen, die lediglich Steuerhinterziehung als unfair ansehen.198 Anhand eines einfachen „multiple choice“-Tests wurden alle Probanden auch nach ihren Steuerkenntnissen beurteilt. Dabei zeigte sich, dass Unternehmer und Wirtschaftsanwälte mit zunehmenden Kenntnissen auch die Beurteilung von Steuerumgehung positiver einschätzen. Finanzbeamte beurteilten mit abnehmenden Steuerkenntnissen Steuerhinterziehung als zunehmend fairer.199 In diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse von Eriksen/Fallan, 1996 von Bedeutung. Sie testeten den Einfluss von Steuerkenntnissen auf die Steuermoral, indem sie die relative Änderung der Einstellung vor und nach einem Kurs über das Steuerrecht in Norwegen maßen.200 Im Vergleich zu einer nicht unterrichteten Kontrollgruppe zeigte sich, dass bei tatsächlich gestiegenen Steuerkenntnissen der Gruppe eine signifikante Änderung der Steuermoral und der wahrgenommenen Fairness des (norwegischen) Steuersystems zu verzeichnen war. Bei beiden Variablen stellten die Autoren eine Steigerung fest. Dieser Effekt ist selbstverständlich in hohem Maß vom spezifischen nationalen Steuersystem und den Vorstellungen der Probanden abhängig. So wäre es denkbar, dass ein Steuersystem auch als unfairer wahrgenommen wird, sobald man mehr darüber erfährt. Bessere Kenntnisse müssen also nicht zwangsläufig zu einer höheren Steuermoral führen, sondern hängen auch vom materiellen Gehalt der Besteuerungsregeln ab.201 ___________ 198
Siehe dazu Kirchler/Maciejovsky/Schneider, 2003. In Bezug auf möglicherweise von der Berufsgruppe abhängige Einschätzungen folgern Kirchler/Maciejovsky/Schneider, 2001, S. 12 f.: „In addition, the results indicate that for business lawyers and for entrepreneurs profound tax knowledge is positively correlated with perceived fairness of tax avoidance, indicating that the better one’s knowledge about tax law the fairer one perceives legal tax avoidance. To the contrary, the results show that for fiscal officers tax knowledge was found to be negatively correlated with perceived fairness of taxation, indicating that the lower the knowledge about taxes the fairer illegal evasion was perceived.“ 200 Insofern bieten sie eine solidere Grundlage für die Variable Steuerkenntnisse als das bei Kirchler/Maciejovsky/Schneider, 2003 der Fall ist, die Kenntnisse über einen zehn items umfassenden multiple choice test erfassen. 201 Ebenfalls denkbar ist, dass sich die positive Einstellung eines Steuerrechtslehrers auf seine Schüler überträgt und die Kenntnisse nur ein Produkt der Aufnahmewilligkeit sind. Um diesen Effekt zu kontrollieren, hätte man zumindest eine Cluster-Analyse bezogen auf verschiedene Lehrer vornehmen müssen. 199
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
In Bezug auf Komplexität sind diese Ergebnisse in zweierlei Hinsicht relevant. Erstens, je schwieriger das geltende Steuerrecht ist, desto länger bedarf es der Vermittlung von Steuerkenntnissen bevor diese einen positiven Einfluss ausüben. Zweitens, je komplizierter das spezifische Steuerrecht ausfällt, desto eher könnte sich bei den Probanden der subjektive Eindruck verfestigen, dass im Ergebnis keine gerechte, weil nur aufwendig zu durchschauende Lastverteilung entsteht, der sich zudem manche leichter entziehen können als andere. Genau diesen Zusammenhang belegen auch Anderhub/Giese/Güth et al., 2002, die mit ihren Probanden ein saving game spielen, bei dem es darauf ankommt, über eine gewisse Zahl von Runden die Auszahlung zu maximieren. Dafür müssen die Probanden ein möglichst hohes Konsumniveau realisieren. Das Experiment ist so konstruiert, dass ein positives Konsumniveau nur entsteht, wenn in jeder der ungewissen Zahl von Perioden innerhalb einer Runde eine positive Summe größer Null ausgegeben wird. Das müssen die Probanden durch Überlegung jedoch erst herausfinden und stellt nach Auffassung der Autoren kein geringes kognitives Problem dar. Nur wenn das Individuum in jeder Periode, die es erlebt, auch noch etwas zum Ausgeben hat, kann es ein positives Rundeneinkommen erwirtschaften. Überdies müsste jedes Individuum aufgrund der multiplikativen Verknüpfung seine Konsumniveaus möglichst konstant halten, wenn es die Lebensdauer absehen kann. Die Ermittlung der Lebensdauer erfolgt per Zufall, wobei mit jeder Periode eine von drei Alternativen (4, 5, 6 Perioden) ausgeschlossen wird. Jeder Proband spielt 12 Runden (mit unterschiedlichen Periodenzahlen). Nach drei Runden muss jeder eine Steuererklärung ausfüllen, die mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,33 geprüft wird. Die Steuerzahlungen sind für den Probanden individuell „verloren“. Sie fehlen ihm in seinen Auszahlungen. Um die Steuerzahlung dennoch attraktiv zu machen, konnten positiv besetzte Verwendungszwecke wie Deutsches Rotes Kreuz, Greenpeace etc. angegeben werden. Die entsprechende Summe wurde verdoppelt und an die Träger überwiesen. Dieses Experiment ist kognitiv anspruchsvoll, so dass, nach Auffassung der Experimentatoren abgelesen werden kann, ob „Cleverness“ und Steuerehrlichkeit voneinander abhängen. Das ist auch das interessanteste der Ergebnisse: Es zeigt sich nämlich, dass die Probanden, die verstanden hatten, dass es um eine Nivellierung des Konsums geht, auch in weitaus höherem Maße zu den Steuerhinterziehern gehörten. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass kognitive Grenzen die Wahrnehmung von Entscheidungssituationen auch in steuerlichen Fragen beeinflussen. Allein der Umstand, ob eine steuerliche Regelung als subjektiver Verlust oder als subjektiver Gewinn zu sehen ist, kann über die Akzeptanz einer Regel entscheiden. Hinsichtlich der Steuerkomplexität bestätigt sich außerdem, dass Individuen, denen die intellektuelle Lösung eines schwierigen Entscheidungs-
IV. Steuerkomplexität und Emotionen
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problems leichter fällt, eher zu Steuerhinterziehung neigen als andere. Es hat also nicht allein der frame eine Bedeutung, sondern auch die kognitiven Kapazitäten des Individuums bestimmen über das Ausmaß von Regelabweichungen in komplexen Situationen.
IV. Steuerkomplexität und Emotionen In diesem Abschnitt geht es darum, welchen Einfluss Steuerkomplexität auf Emotionen nehmen kann. Von den vielen denkbaren Einflüssen diskutiert Abschnitt 1. Neid als Beispiel für eine Emotion, die auf die übrigen Steuerpflichtigen hin ausgerichtet ist. Auch die Scham, die mit einer entdeckten Steuerhinterziehung verbunden sein kann, ist ein auf die übrigen Steuerpflichtigen gerichtetes Gefühl (Abschnitt 2.). Reaktanz als Widerstandsneigung bei Freiheitseinschränkung und das ihr zugrunde liegende Gefühl der Aggression richtet sich gegen den Staat (Abschnitt 3.). Das vierte zu betrachtende Gefühl der Frustration ist hingegen erst einmal ungerichtet (Abschnitt 4.).
1. Neid Die Steuerverwaltung in den USA publizierte in den 1960er Jahren regelmäßig den Betrag, den sie an Steuerdenunzianten auszahlte. Sie veröffentlichte damit die finanziellen Anreize, die für Denunzianten existierten und förderte auf diese Weise die Aufdeckung von Steuerhinterziehung durch Private. Schoeck folgert aus der dazu erscheinenden Berichterstattung, dass wesentliches Motiv der Denunziation dennoch der Neid auf denjenigen sei, der scheinbar ungerechtfertigter Weise über ein höheres Einkommen verfüge.202 Tatsächlich galt schon bei Jeremy Bentham, dass der Neid ein wirkungsvolles Überwachungsinstrument für Steuerzahler sei.203 In England wurde trotzdem schon früh das Steuergeheimnis eingeführt, um den Steuerzahlern Diskretion zu sichern. Steuererklärungen konnten sogar an der Bezirksbehörde vorbei direkt in der zentralen Steuerverwaltung in London eingereicht werden, um lokale Indiskretionen auszuschließen.204 Das Steuergeheimnis bietet damit Schutz vor Neid und damit verbundenen Nachteilen im öffentlichen Leben. Es liegt auf der Hand, dass das Steuergeheimnis insofern den relativ besser Verdienenden dient. Gleichzeitig ist es ein Instrument des Staa___________ 202
Siehe Schoeck, 1968, S. 350. Siehe Schoeck, 1968, S. 350. 204 Siehe dazu Schorer, 1943, S. 360. 203
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
tes, um den Steueranspruch gerade gegenüber dieser Gruppe leichter durchzusetzen. In anderen Staaten ging man indes andere Wege: So wurden in der Schweiz in vielen Kantonen die Vermögens- und Einkommensverhältnisse regelmäßig in einer Broschüre offen gelegt und verteilt, die alle steuerpflichtigen Einwohner mit den entsprechenden Daten enthielt.205 Noch heute können diese Listen in den Gemeindeämtern eingesehen werden. Neid als emotionale Reaktion auf die (höheren) Einkommens- und Vermögensverhältnisse eines anderen führt zu einer sozialen Kontrolle. Erst dadurch, dass jeder mit dem Neid eines anderen rechnen muss, ergibt sich auch ein verändertes Verhalten des einzelnen Steuerzahlers.206 Zwischen Neid und der Komplexität einer Steuer besteht als direkter Zusammenhang, dass die tatsächlichen Steuerlasten mit steigender Komplexität noch intransparenter sind als bei einer einfachen Einkommensteuer und dadurch Neid hervorgerufen wird. Besteht ein Steuergeheimnis, das den direkten Vergleich zwischen den wahrgenommenen Lebensverhältnissen des Neidobjekts und seinen Steuerzahlungen unmöglich macht, führt das möglicherweise zu einer höheren Zahl von Denunziationen. Besteht kein Steuergeheimnis, kann der Neidende seine Wahrnehmung durch eigene Nachforschungen schon im Vorfeld korrigieren. Im Ergebnis dürfte mit zunehmender Steuerkomplexität das Neidgefühl tendenziell steigen. Gibt es keine effektive Möglichkeit, den Neid zu kanalisieren, könnte das zu einer höheren Steuerhinterziehung führen, um individuell die Ursache für den Neid zu korrigieren.
2. Scham Das ökonomische Kalkül beinhaltet einen Vergleich von erwarteten Kosten in Form von Strafe mal Entdeckungswahrscheinlichkeit und erwarteten Nutzen in Form der Steuerhinterziehung, um zu entscheiden, ob sich eine Steuerhinterziehung lohnt oder nicht. Üblicherweise werden in dieses Kalkül nur die leicht monetarisierbaren Strafen wie Geldstrafen einbezogen. Tatsächlich dürfte aber auch das mit einer Bestrafung einhergehende Gefühl der Scham eine Rolle ___________ 205
Vgl. Schoeck, 1968, S. 351 f. Interessant ist, dass es in bestimmten Situationen offenbar auch zu Anreizen kommt, mehr Einkommen auszuweisen als tatsächlich vorhanden ist. So berichtet Schoeck, 1968, S. 351 etwa davon, dass Personen, die an einem hohen Kredit interessiert waren, bereit waren, mehr Einkommen und Vermögen anzugeben und auch entsprechend höhere Steuern zu zahlen. 206
IV. Steuerkomplexität und Emotionen
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spielen, wenn ein Steuerhinterzieher entdeckt und sein Vergehen öffentlich bekannt wird. Diese negativen Gefühle bzw. ihre Antizipation können als eine Entscheidungsschwelle wirken, so lange im sozialen Kontext des Individuums Steuerhinterziehung negativ bewertet wird. Gilt Steuerhinterziehung aber als Kavaliersdelikt oder sogar als Signal für besonderen Mut, Cleverness oder dergleichen mehr, kann das Schamgefühl nur bedingt eine Wirkung entfalten. Scham ist wie Neid ein Gefühl, dass sich auf die soziale Referenzgruppe und den eigenen Status in dieser bezieht. Beide Gefühle beruhen auf einer subjektiv wahrgenommenen Abweichung des eigenen Status vom Referenzstatus. Während aber beim Neid das Gefühl daraus entsteht, dass man subjektiv zu wenig hat, während andere zuviel haben, ist die Ursache des Schamgefühls, dass man ungerechtfertigt zuviel von etwas hat. Im Zusammenhang mit Steuern kann Scham individuell nur da entstehen, wo eine genaue Steuerpflicht definiert und dem Steuerpflichtigen vermittelbar ist. Steuerkomplexität kann hingegen dazu führen, dass diese Steuerpflicht nicht mehr hinreichend genau für das Individuum feststellbar ist und damit auch kein Schamgefühl bei einer zu geringen Steuerzahlung entsteht.
3. Aggression und Reaktanz Individuen reagieren auf die Einschränkung ihrer Freiheit mit Widerstand, der so genannten Reaktanz. Bei Steuern erfahren sie die Freiheitseinschränkung als einen Kontrollverlust über einen Teil ihres Einkommens: Die Folge ist ein mehr oder weniger offener Steuerwiderstand.207 Genau genommen ist nur die dem Steuerwiderstand zugrunde liegende Aggression auf Seiten des Steuerzahlers ein Gefühl, nicht aber der Widerstand selbst. Mangels direkter Gegenleistung spielt der hinzugewonnene Spielraum durch bereitgestellte öffentliche Güter keine direkte Rolle. Bei einer Steuererhöhung löst deshalb die Freiheitseinschränkung je nach der Wichtigkeit der eingeengten Freiheit, dem Ausmaß und Umfang und schließlich der Stärke der Freiheitseinschränkung für die betroffene Person die Motivation aus, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen.208 ___________ 207 Siehe dazu Schmölders, 1960, S. 113–128, der unter Steuerwiderstand allerdings alle Ausweichreaktionen des Steuerpflichtigen versteht und nicht auf das im zugrunde liegende Gefühl abhebt. 208 Vgl. grundlegend Brehm, 1966 und Dickenberger/Gniech/Grabitz, 1993, S. 244 ff.
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D. Implikationen von Steuerkomplexität
Dabei kommt es sowohl zu direkten Wiederherstellungen, etwa wenn der Steuerpflichtige auf die steuerliche Einkommensverkürzung mit Steuerhinterziehung durch geringere Deklaration von Einkommen reagiert, als auch zu indirekten Wiederherstellungen, etwa, wenn der Betroffene auf Schwarzarbeit ausweicht.209 Es sind aber auch aggressive Formen des Widerstands möglich. Das ist beispielsweise bei Steuerrevolten der Fall, bei denen sich häufig über lange Zeiträume aufgestaute Reaktanz entlädt. Diese kann durchaus zielführend eingesetzt sein (instrumental aggression), sie kann aber auch diffus und nicht zielbezogen auftreten (angry aggression).210 Auf der Basis der Reaktanztheorie lässt sich die Hypothese vertreten, dass jüngere Unternehmer, deren Betrieb sich gerade im Aufbau befindet, den Freiheitsverlust durch Steuerzahlungen besonders intensiv empfinden und daher am ehesten dazu neigen, Reaktanz zu zeigen. Sie messen ihrer unternehmerischen Freiheit und damit dem Freiheitsverlust eine besondere Bedeutung bei und verfügen noch nicht über die Erfahrung älterer Unternehmer, die sich von Steuererhöhungen nur bedingt beeinflussen lassen. Tatsächlich bestätigt eine Befragung von Kirchler 1999, dass die Reaktanz bei jüngeren Unternehmern höher ausfällt als bei älteren, und dass der Verlust an Freiheit und die dadurch ausgelöste Reaktanz im Zusammenhang mit Steuern eine wichtige Rolle spielt, der möglicherweise auch in einem ursächlichen Zusammenhang mit der geringen Bereitschaft steht, Steuerhinterziehung konsequent zu verurteilen.211 Im Zusammenhang mit der Komplexität von Steuern ist davon auszugehen, dass ein Individuum nicht subjektiv weniger Freiheitsverlust bei gleicher Steuerlast erfährt, nur weil die Steuerpflicht schwierig zu ermitteln ist. Vielmehr tritt zur direkten Steuerlast noch der Aufwand hinzu, der zur Ermittlung der Steuerlast erforderlich ist. Die Gesamtlast steigt also bei einer komplexen Steuer. Gleichzeitig bestehen mehr Möglichkeiten, Reaktanz zu zeigen, weil Gestal___________ 209
Siehe Schneider/Enste, 2000a, S. 90 ff. zu Reaktanztheorie und Schwarzarbeit. Vgl. Dickenberger/Gniech/Grabitz, 1993, S. 249. In manchen Fällen ist die Freiheitswiederherstellung nicht möglich. Dann ändert sich häufig die Attraktivität bezüglich der eingeschränkten Freiheit. In ökonomischer Terminologie reagiert das Individuum auf die Freiheitseinschränkung mit einem Wechsel seiner Präferenzen. In vielen anderen Fällen führt die Reaktanz zum offenen Widerstand. Eine offene Steuerrevolte war in Deutschland etwa der Sturm des Bernkasteler Finanzamtes, der zur Abschaffung der Reichsweinsteuer führte. Siehe Schmölders, 1960, S. 115. In den USA kam es nach Einführung einer Steuer auf Whiskey zur so genannten „Whiskey-Rebellion“. Siehe dazu Tindall, 1984, S. 333 f. Zum Bruch zwischen England und den nordamerikanischen Kolonien trug wesentlich auch die Steuergesetzgebung Englands etwa im Sugar Act und Townshend Revenue Act nach 1763 bei. Siehe dazu Dickerson, 1951, S. 295 und zum Sugar Act auch Morgan/Morgan, 1953, S. 36 ff. Schließlich führte die „Boston Tea Party“, ebenfalls eine Steuerrevolte, direkt zur Unabhängigkeitserklärung der USA; siehe Schmölders, 1960, S. 115. 211 Kirchler, 1998, S. 214 f. und Kirchler, 1999, S. 134 und 137. 210
IV. Steuerkomplexität und Emotionen
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tungsspielräume bestehen. Insgesamt nimmt die Reaktanz unter einer komplexen Steuer damit tendenziell zu.
4. Frustration In den meisten Ländern stellt die Einkommensteuererklärung erhebliche Anforderungen an den Steuerpflichtigen. Er muss herausfinden, welche Unterlagen relevant sind, er muss sie zusammenstellen, die entsprechenden Formulare ausfüllen und schließlich das ausgefüllte Formular mit den entsprechenden Materialien an das Finanzamt senden. Dabei befindet er sich häufig in einem fiscal fog,212 weil er die Formulare, die er auszufüllen hat, nicht versteht. Ein „Blick ins Gesetz“ dürfte den Steuerpflichtigen in der Regel zusätzlich verwirren, so dass am Ende ein williger Steuerpflichtiger über die faktische Unmöglichkeit, seine Steuerpflicht zu ermitteln, frustriert ist. Die Frustration wird dadurch verstärkt, dass das Gesetz nicht nur die Pflicht auferlegt, eine korrekte Steuererklärung abzugeben, sondern darüber hinaus auch noch verlangt, dass er sich umfassend über eben diese Pflicht zu informieren hat, um keine vorsätzliche oder grob fahrlässige Steuerverkürzung vorzunehmen.213 Frustration kann sich ähnlich wie Reaktanz gerichtet auf ein bestimmtes Ziel auswirken. Sie kann aber auch ungerichtet zum Ausdruck kommen. Eine Möglichkeit des gerichteten Ausdrucks wäre die Entscheidung des Steuerzahlers, dass er, bevor er zuviel Steuern zahlt, lieber zu wenig entrichtet. Eine ungerichtete Frustration könnte in einem ausgefüllten Steuerformular bestehen, das vielfältig durchgestrichene Positionen enthält und für den Steuerbeamten nicht mehr zu durchschauen ist.214 In Bezug auf Frustration ist festzuhalten, dass bei steigender Steuerkomplexität auch die Frustration zunimmt. Dies kann dazu führen, dass Steuerpflichtige eher dazu neigen, Steuern zu hinterziehen, weil sie sich der vorgelagerten Aufgabe, nämlich der Bestimmung der Steuerpflicht, nicht gewachsen sehen.
___________ 212
Darunter verstehen James/Lewis, 1977, Lewis, 1982b, S. 152 den Umstand, dass der Steuerpflichtige in einem Nebel darüber befindet, auf welche Weise er seinen steuerlichen Berichtspflichten nachzukommen hat. 213 Siehe dazu auch Slemrod, 1988, S. 177. 214 Vgl. Becker, 2002.
88
D. Implikationen von Steuerkomplexität
5. Zwischenfazit Steuerkomplexität kann Emotionen wie Neid, Frustration und Aggression hervorrufen, die dazu führen, dass die Steuerhinterziehung tendenziell steigt. Sie kann zusätzlich bewirken, dass das individuelle Schamgefühl gegenüber einer entdeckten Steuerhinterziehung sinkt, wenn für das Individuum nicht ohne weiteres feststellbar ist, welcher Steuerpflicht es eigentlich unterliegt.
V. Steuerkomplexität und habituelles Verhalten Für einen beträchtlichen Teil der Steuerzahler wird angenommen, dass sie habituell steuerehrlich sind, d.h. dass sie sich unreflektiert ehrlich verhalten. In den USA wurde in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts vermutet, dass der Anteil der habituell Steuerehrlichen abgenommen hat. Zurückgeführt wurde dies auf eine erodierende Steuermoral, wobei zunächst unklar blieb, was die Ursachen dafür waren.215 Ein möglicher Zusammenhang zwischen erodierender Steuermoral und verändertem habituellem Verhalten könnte sein, dass ein bisher habituell ehrlicher Steuerzahler entdeckt, dass seine Referenzpersonen sich anders verhalten als er. Das gibt ihm Anlass, sein eigenes Verhalten zu überdenken und nach neuen Verhaltensoptionen zu suchen. In diesem Fall wird die alte unreflektierte Verhaltensweise durch eine rationale Regelbefolgung abgelöst. Im Ergebnis kommt es dann zu keiner Änderung der Steuerehrlichkeit. Es ist aber auch möglich, dass eine neue Verhaltensweise einfach von einer Referenzperson übernommen wird. Auf das Signal „Ich mache es so!“ reagiert as Individuum mit einer Imitation. Dann hängt das Ausmaß der Steuerhinterziehung davon ab, wie die Referenzperson handelt. Schließlich ist denkbar, dass Steuerpflichtige von einem habituellen Verhalten auf ein situativ-nutzenmaximierendes Verhalten umstellen und genau abwägen, ob sich eine Steuerhinterziehung lohnt. Angesichts geringer Entdeckungswahrscheinlichkeiten und Strafen könnte dies zu einer höheren Steuerhinterziehung führen. Eine Erhöhung der Komplexität, die definitionsgemäß dazu führt, dass es dem Steuerpflichtigen schwerer fällt, seine genaue Steuerpflicht zu ermitteln, kann damit höhere Steuerhinterziehung auslösen, wenn nur einige Steuerpflichtige zum Beispiel aus einem situativ-nutzenmaximierenden Kalkül mehr hinterziehen und andere sich in ihrem Verhalten an diesen orientieren. Da kompli___________ 215
Der Chef des Internal Revenue Service (IRS) in den 80er Jahren Commissioner Egger, zitiert bei Graetz/Reinganum/Wilde, 1986.
V. Steuerkomplexität und habituelles Verhalten
89
ziertere Regelungen überwiegend dazu dienen, bestimmten Gruppen Vorteile zukommen zu lassen, hält sich dieser Prozess so lange in Grenzen, wie nur gut abgegrenzte Gruppen in den Genuss der komplizierten Regeln kommen. Je mehr Gruppen aber von den diesen Regeln betroffen sind, desto breiter greift eine Verhaltensänderung um sich. Die Stabilität habituellen Verhaltens und vor allem das Resultat für die Steuerhinterziehung hängt damit in einem großen Maß von dem Verhalten der Referenzpersonen und damit von sozialer Interaktion ab. Gleichzeitig unterliegt das habituelle Verhalten aber auch den Fähig- und Möglichkeiten des einzelnen Individuums, sein Verhalten überhaupt zu ändern. Wie bereits beschrieben, unterliegen Individuen kognitiven Grenzen und sind keineswegs in der Lage auch nur alle Verhaltensoptionen zu erkennen, geschweige denn zu verwirklichen. Selbst wenn sie aber in der Lage dazu sind, unterliegen sie noch anderen Einflüssen wie dem der Konformität, der sie daran hindert, sich anders als die anderen zu verhalten. Insofern führt eine Abweichung vom bisherigen Habitus immer auch zu einem Rechtfertigungsdruck, dem einfacher standzuhalten ist, wenn Referenzpersonen sich entsprechend verhalten, aber kaum etwas entgegenzusetzen ist, wenn das nicht der Fall ist.216 Graetz/Reinganum/Wilde 1986 modellieren neben dem strategischen Steuerhinterzieher einen habituell steuerehrlichen Bürger, gehen aber der Ursache für dessen Verhalten leider nicht weiter auf den Grund. Bayer/Reichl unterscheiden in ihrer Typologie von Steuerzahlern zwischen dem langfristig ehrlichen Steuerzahler, dem mittelfristig variablen Hinterzieher und dem kurzfristig nutzenmaximierenden „notorischen“ Hinterzieher. Ihr Experiment belegt zumindest, dass habituell normtreues Verhalten ebenso vorkommt wie situativ-nutzenmaximierendes Verhalten, auch wenn weder die Rolle von Referenzpersonen noch die Steuerkomplexität Gegenstand ihrer Fragestellung war.217 Im Ergebnis ist deshalb festzuhalten, dass habituelle Verhaltensweisen zunächst unabhängig von Komplexität bestehen. Nimmt die Komplexität aber zu, passen sich einige wenige Individuen an, in dem sie ihre Verhaltensweise ändern. Besteht diese Anpassung in einer höheren Steuerehrlichkeit, so kann Komplexität zu einer gesteigerten Steuerehrlichkeit führen, wenn diese wenigen Individuen als Referenzpersonen für das Verhalten anderer dienen. Besteht die Anpassung jedoch in einer geringeren Steuerehrlichkeit, ist auch das Gegenteil möglich. Der Effekt von Komplexität auf habituelles Verhalten ist damit grundsätzlich ambivalent. Es ist jedoch zu vermuten, dass es aufgrund der für ___________ 216 Siehe dazu Schlicht, 1998, S. 12, für den „habits“ eine mögliche Form von „customs“ sind. Zum Konformitätsdrang und der Dissonanzreduktion von Individuen siehe Schlicht, 1998, S. 126. 217 Siehe Bayer/Reichl, 1997, S. 158–169.
90
D. Implikationen von Steuerkomplexität
Hinterziehungen günstigen Parameter eher zu einer größeren Hinterziehung kommt.
VI. Ergebnis: Hypothesen für die Wirkung von Komplexität auf Steuerehrlichkeit Komplexität als ein institutionelles Gestaltungselement des Steuerrechts kann auf vielfältige Weise die Steuerehrlichkeit beeinflussen. Sie kann soziale Präferenzen ändern, in dem sie verschleiert, welche Beiträge Referenzpersonen leisten. Sie kann Einfluss auf die Steuermoral, also die Einstellung zum Steuerdelikt, und die Steuermentalität gewinnen. Sie kann aber auch kognitive Grenzen erhöhen und es damit objektiv dem Steuerzahler erschweren, seine Steuerpflicht zu ermitteln. Dies wiederum kann Emotionen auslösen, die in einer höheren Steuerhinterziehung resultieren. Dazu können beispielsweise Neid, Frustration oder auch Aggression angesichts des Freiheitsentzugs zählen. Um die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel zusammen zu fassen und im Hinblick auf das Ziel der Arbeit für einen experimentellen Test aufzubereiten, seien die Ergebnisse in Bezug auf das Verhalten der Steuerzahler noch einmal kurz genannt: 1. Der Steuerzahler kann als situativer Nutzenmaximierer reagieren, dann erschwert Komplexität einfach das Entscheidungskalkül über die zu erwartenden Kosten und Nutzen aus der Steuerhinterziehung. 2. Der Steuerzahler kann eine einfache Regel zur Lösung des Problems einsetzen, indem er ausgehend von seiner Zielnorm den Entscheidungsraum von vorneherein begrenzt. Dann handelt er als rationaler Regelbefolger. 3. Er kann aber auch Normen verinnerlicht haben, die durch die Entscheidungssituation ausgelöst werden. Dazu kann zum Beispiel die Steuermoral gehören. Diese Normen können durch Steuerkomplexität so beeinträchtigt werden, dass auch eine Behebung der Ursache nicht wieder zu einem Anstieg auf dasselbe Niveau führt (Hysteresis-Effekt). 4. In Situationen, in denen ein Steuerzahler sich als schlechter informiert betrachtet als seine Referenzpersonen, passt er sein Verhalten an deren Verhalten an. Bei hoher Komplexität steigt die Abhängigkeit von solchen Referenzpersonen aufgrund des gestiegenen Orientierungsbedarfs an. Komplexität führt damit zu höherer Konformität. 5. Interaktionen mit der zuständigen Steuerbehörde bestimmen wesentlich den Vollzug der Steuergesetze. Ein höherer Grad von Mitbestimmung über Referenden und Volksabstimmungen erweist sich als vollzugsfördernd. Je komplexer die Steuer, desto wichtiger sind die Steuerbehörden als unterstützende Behörde und desto größer ist ihr Einfluss auf den Steuerzahler.
VI. Hypothesen für die Wirkung von Komplexität auf Steuerehrlichkeit
91
6. Dasselbe gilt für den Steuerberater, der umso stärker nachgefragt wird, je schwieriger das Steuerrecht zu durchschauen ist. Da die Inanspruchnahme des Steuerberaters jedoch in weitgehender Unkenntnis über die tatsächliche Komplexität erfolgt, sind die Kontrollmöglichkeiten des Steuerzahlers als Prinzipal gegenüber dem Steuerberater als Agent sehr gering. Daraus könnte eine Situation entstehen, die zu mehr Steuerhinterziehung führt, wenn Steuerberater ihre Effektivität gegenüber ihren Mandanten durch geringere Steuerzahlungen derselben signalisieren. 7. Steuerkomplexität fördert die Intransparenz über die tatsächliche Steuerpflicht und ruft dadurch leichter Emotionen wie Neid hervor. Dieser führt entweder zu Denunziationen vermeintlicher Steuerhinterzieher oder zu selbst vorgenommenen Steuerhinterziehung, um das vermeintliche Ungleichgewicht wieder herzustellen. 8. Steuerzahlungen führen immer zu einer unmittelbar empfundenen Freiheitseinschränkung und damit zu Aggression und Reaktanz. Liegt Steuerkomplexität vor, besteht die Freiheitseinschränkung auch im zeitlichen Aufwand, die Steuerpflicht wenigstens hinlänglich zu bestimmen. Dies erhöht den Steuerwiderstand zusätzlich. 9. Im Kontext von komplexen Steuergesetzen ist außerdem wahrscheinlich, dass Steuerzahler frustriert sind, weil sie nicht in der Lage sind, ihre individuelle Steuerlast exakt zu bestimmen. Die Frustration kann dazu führen, dass sie zu wenig Steuern zahlen, nur um zu verhindern, dass sie zuviel zahlen. 10. Zunehmende Steuerkomplexität kann ein Signal für die Preisgabe des alten, nicht reflektierten Habitus sein und eine Suche nach neuen Verhaltensmustern auslösen. Dadurch kommt es vermutlich zu einer höheren Steuerhinterziehung. Die potentiellen Wirkungsketten zwischen Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung sind nicht immer richtungsgleich und es wäre wünschenswert, nicht nur alle Wirkungsketten einzeln experimentell nachzuweisen, sondern auch ihre Richtung und relative Bedeutung in einem gegebenen institutionellen Rahmen zu erfassen. Das würde jedoch den inhaltlichen und methodischen Rahmen dieser Arbeit sprengen. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Überprüfung der Hypothese, dass tatsächlich ein entsprechender gleichgerichteter Zusammenhang zwischen Komplexität und Hinterziehung besteht. Allein aus der Zahl der möglichen Wirkungsketten zu schließen, dass Steuerkomplexität mit einer höheren Hinterziehung einhergeht, wäre verfrüht: Hypothese 1: Komplexität führt zu höherer Steuerhinterziehung. Wenn bei steigender Komplexität die Steuerhinterziehung tatsächlich zunimmt, steht dies außerdem im Widerspruch zum Modell des rationalen Regel-
92
D. Implikationen von Steuerkomplexität
befolgers. Für diesen geht man davon aus, dass er sich stets auf der „sicheren Seite“ aufhält und deshalb in keinem Fall steuerunehrliches Verhalten riskiert. Steigt die Unsicherheit über die zu zahlende Steuer, sagt das Modell des rationalen Regelbefolgers voraus, dass die Steuerhinterziehung fällt. Ausgehend von Hypothese 1 liegt es nahe, vom Gegenteil auszugehen: Hypothese 2: Die Reaktionen auf Komplexität lassen sich nicht mit dem rationalen Regelbefolger erklären. Wenn außerdem gezeigt werden kann, dass Komplexität zu einem abweichenden Verhalten führt, das nicht auf der Basis des homo oeconomicus zu erklären ist, belegt dies auch die Relevanz des zum homo oeconomicus institutionalis erweiterten Verhaltensmodells. Das hätte ebenfalls direkte Implikationen für die Steuerpolitik, weil diese nicht allein auf die Zahllasten abzuheben hat, sondern steuertechnisch nach den Wirkungen zu suchen hat, die mit den geringsten Steuerhinterziehungsfolgen einhergehen: Hypothese 3: Die Reaktionen auf Komplexität lassen sich nicht anhand eines reinen ökonomischen Kalküls auf der Basis situativ-nutzenmaximierenden Verhaltens erklären. Schließlich ist auch der Frage nachzugehen, ob ein Wechsel zu einer einfachen Steuer mit einer geringeren Steuerhinterziehung verbunden ist. Wenn das bestätigt würde, wäre das zunächst ein empirischer Beleg für einen HysteresisEffekt. Darüber hinaus würde es verdeutlichen, dass Steuerkomplexität mit Nachteilen einhergeht, die erst dann vollständig sichtbar werden, wenn die Steuer wieder einfacher wird: Hypothese 4: Aufgrund von Komplexität zerstörte Steuermoral ist nicht unmittelbar durch Einfachheit wieder herzustellen.
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung In diesem Kapitel werden die entwickelten Hypothesen zum Zusammenhang von Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung einem empirischen Test unterzogen. Abschnitt I. rekapituliert den Stand der experimentellen Literatur zur Wirkung der Steuerkomplexität. Abschnitt II. entwickelt ein eigenes experimentelles Design.
I. Stand der experimentellen Literatur Steuerhinterziehungsexperimente haben eine lange Tradition, die darzustellen allein einen ganzen Band füllen dürfte. In Bezug auf die hier verfolgte Fragestellung, steht aber vor allem ein Forschungsstrang im Mittelpunkt, der sich der Frage widmet, wie Unsicherheit das Verhalten von Steuerzahlern beeinflusst. Zwei Experimente sind dafür von zentraler Bedeutung: Sie unterscheiden sich darin, dass im Experiment von Alm/Jackson/McKee ein öffentliches Gut im Mittelpunkt steht (Abschnitt 1.), während im zweiten Experiment von Beck/Davis/Jung ein Spiel „gegen die Natur“218 untersucht wird (Abschnitt 2.).
1. Steuerkomplexität im Kontext eines öffentlichen Gutes Im Kontext einer neuen Strategie der US-amerikanischen Steuerbehörde, welche die Steuerzahler zunehmend im Ungewissen ließ, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ihre Steuererklärungen einer Steuerprüfung unterzogen würde, entwickelten Alm/Jackson/McKee ein Experiment, das den Zusammenhang von institutioneller Unsicherheit und Steuerzahlerverhalten untersuchte.219 Gegenüber vorangegangenen Untersuchungen etwa von Beck/Davis/Jung hat diese Studie zum ersten Mal versucht, möglichst viele verschiedene Formen
___________ 218
Bei Spielen gegen die Natur agieren die Probanden nur gegen einen Zufallsgenerator, der etwa über Entdeckung/Nicht-Entdeckung bei Hinterziehungen oder dergleichen entscheidet. 219 Siehe ausführlich zum Folgenden Alm/Jackson/McKee, 1992, S. 1018 ff.
94
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
von Unsicherheit in einem experimentellen Kontext auf ihre Wirkungen hin zu analysieren.220 Alm/Jackson/McKee weisen darauf hin, dass Unsicherheit eine besondere Rolle spielen könne, wenn sie in Zusammenhang mit einem öffentlichen Gut auftrete. Dann sei nämlich nicht nur eine Unsicherheit bezüglich des eigenen Ergebnisses vorhanden, sondern vor allem eine Unsicherheit bezüglich des Verhaltens der anderen. Sie nennen dies eine „institutionelle Unsicherheit“.221 Das Design des Experiments rekurriert auf das „voluntary income tax system“ der USA, bei dem jeder das am Markt erhaltene Einkommen „freiwillig“ deklariert und versteuert. Jeder im Experiment weiß, dass die Steuerbehörde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Steuerprüfung durchführt und ihn bei einer möglichen Hinterziehung erwischt. Dann ist eine Strafe auf die hinterzogene Steuer fällig. Die Probanden sind in Gruppen von fünf Individuen zusammengefasst. Sie erfahren, dass sie für eine begrenzte Zahl von Runden zusammenspielen; tatsächlich ist die Zahl der Runden auf 25 begrenzt. Jedes Individuum erhält ein Startguthaben von 10 Einheiten. Sie wissen, dass sie diese und weitere Einheiten am Ende des Spiels in echte Dollars zu einem fixen Wechselkurs umtauschen können. Zu Beginn jeder Runde erhält jeder ein identisches Rundeneinkommen.222 Jedes Individuum kennt nur sein eigenes Einkommen und nicht das der anderen Mitglieder der Gruppe. Nachdem es sein Einkommen erfahren hat, muss jedes Individuum ein Einkommen deklarieren und darauf Steuern zahlen. Das ganze Experiment findet im Computerlabor statt, so dass die Probanden alle Einzahlungen und Auszahlungen am Bildschirm vornehmen können. Jeweils eine Runde besteht aus Deklarationen und Zahlungen der Probanden und einer Zufallsziehung per Computer, die bestimmt, ob und wer geprüft wird. Das ist bei höchstens einer Person pro Gruppe der Fall. Wird ein Individuum geprüft, so werden die vorangegangenen fünf Runden kontrolliert und wird eine Hinterziehung festgestellt, so ist neben der Nachzahlung eine die Strafe fällig. Hinterzogene Steuern, die nicht durch eine Steuerprüfung aufgedeckt werden, verbleiben beim Individuum. Am Ende der Runde werden die Steuerzahlungen addiert223 und mit Zwei multipliziert und pro Kopf ausgezahlt. Die Individuen ___________ 220 Siehe dazu Beck/Davis/Jung, 1991 und als einen weiteren Vorläufer Spicer/Thomas, 1982. 221 Siehe zum Folgenden Alm/Jackson/McKee, 1992, S. 1018 f. 222 Dieses Rundeneinkommen liegt umgerechnet zwischen 2 und 3 $. Am Ende verlassen die Probanden das Experiment mit durchschnittlichen Einnahmen zwischen 15 und 25 $. Siehe Alm/Jackson/McKee, 1992, S. 1023. 223 Sowohl die Nachzahlungen als auch die Strafzahlungen fließen nicht in das öffentliche Gut. Siehe Alm/Jackson/McKee, 1992, S. 1022.
I. Stand der experimentellen Literatur
95
erfahren den Stand ihres Guthabens. Das öffentliche Gut ist also produktiv in dem Sinn, dass es einen sozialen Mehrwert für die Gruppe erwirtschaftet. Da jede eingezahlte Einheit aber nur verdoppelt und dann auf fünf Gruppenmitglieder verteilt wird, bedeutet sie für das zahlende Individuum, dass es einen Einkommensverlust hinnehmen muss, wenn es als einziges einzahlt. Alm/Jackson/McKee ließen vier Sessions spielen, in denen sie einen „Normalfall“ von jeweils einem Fall von Unsicherheit über die Strafhöhe, Unsicherheit über die Steuersatzhöhe und Unsicherheit über die Entdeckungswahrscheinlichkeit unterschieden. Jede dieser Sessions wurde einmal mit und einmal ohne public good gespielt. Um eine größere Datenbasis zu schaffen wurde jede Session zusätzlich von drei Gruppen gespielt. Unsicherheit über den Parameter riefen Alm/Jackson/McKee hervor, indem sie ihn innerhalb eines den Mittelwert bewahrenden Bereichs per Zufallsmechanismus ermittelten. Ansonsten orientieren sich die Parameter möglichst nah an den tatsächlichen Werten für die USA. Die Parameter sind in der folgenden Tabelle 3 dargestellt. Tabelle 3 Die Parameter für Strafe, Steuersatz und Entdeckungswahrscheinlichkeit
Parameter
Unsicherheit in der Session … keine
Strafrate
Steuersatz
EWa
2
0,3
0,04
1,0 bis 3,0 (MWb = 2,0)
0,3
0,04
… über den Steuersatz
2
0,1 bis 0,5 (MW* = 0,3)
0,04
… über die EW*
2
0,3
0,02 bis 0,06 (MW* = 0,04)
… über die Strafe
Quelle: Alm/Jackson/McKee, 1992, S. 1023 a
EW: Entdeckungswahrscheinlichkeit; b MW: Mittelwert
Dieser Aufbau des Experimentes legt nahe, dass es in den unterschiedlichen Sessions zu keinen wesentlichen Abweichungen vom Basisfall kommt, weil in jedem Fall von Unsicherheit der Mittelwert bewahrt wird. Da alle Sessions sowohl mit als auch ohne öffentliches Gut durchgeführt wurden, sind im Ergebnis verschiedene Vergleiche möglich: Erstens lassen sich die Auswirkungen von den drei Formen von Unsicherheit mit dem Basisfall ohne Unsicherheit und ohne öffentliches Gut vergleichen. Zweitens ist derselbe Vergleich auch mit öffentlichem Gut möglich. Und drittens kann man die Auswirkungen von Unsicherheit mit und ohne öffentliches Gut miteinander vergleichen.
96
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
Tabelle 4 stellt die Ergebnisse dar. Es zeigt sich, dass im Fall ohne öffentliches Gut die Steuerehrlichkeit bei Unsicherheit mit 37,4% bis 48,1% ausnahmslos über der Steuerehrlichkeit im Basisfall in Höhe von 26,2% liegt. Allein nach diesem Ergebnis wäre darauf zu schließen, dass Unsicherheit zu einer höheren Steuerehrlichkeit führt. Das Ergebnis mit öffentlichem Gut steht dem jedoch entgegen. Bei diesem zeigt sich eine hohe Steuerehrlichkeit von 55,7% im Basisfall und eine durchweg geringere Steuerehrlichkeit bei Unsicherheit von 39,8% bis 51,9%. Tabelle 4 Ergebnisse von Alm/Jackson/McKee, 1992 – Durchschnittliche Steuerehrlichkeit ohne und mit öffentlichem Gut bei Unsicherheit über Strafhöhe, Steuersatz oder Entdeckungswahrscheinlichkeit
Unsicherheit ohne
Strafhöhe
Steuersatz
EWa
ohne öffentliches Gut
26,2b
37,4
37,0
48,1
(0,067)c
(0,082)
(0,067)
(0,087)
mit öffentlichem Gut
55,7
50,1
39,8
51,9
(0,072)
(0,082)
(0,067)
(0,074)
Quelle: Alm/Jackson/McKee (1992), S. 1024 a
Entdeckungswahrscheinlichkeit; b durchschnittliche Steuerehrlichkeit in %, c Standardabweichung in Klammern
Die Ergebnisse von Alm/Jackson/McKee lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Es zeigt sich, dass Unsicherheit ohne öffentliches Gut ausnahmslos zu höherer Steuerehrlichkeit führt als es die theoretische Literatur vorhersagt. Sowohl die Unsicherheit über die Strafhöhe als auch die über den Steuersatz unterscheiden sich signifikant vom „Normalfall“. Am deutlichsten ist der Unterschied bei der Unsicherheit über die Entdeckungswahrscheinlichkeit.224 2. Erfolgen die Zahlungen in ein öffentliches Gut – die Individuen erhalten also auch etwas für ihre Zahlungen – so fällt die Steuerehrlichkeit auch im Normalfall schon durchschnittlich doppelt so hoch aus. Auch für alle Unsicherheitskonstellationen gilt, dass die Steuerehrlichkeit mit öffentlichem Gut über der ohne öffentliches Gut liegt. 3. Besonders interessant ist, dass jede Unsicherheitskonstellation beim öffentlichen Gut zu einer signifikanten Absenkung der Steuerehrlichkeit gegenüber dem Normalfall führt. ___________ 224
Vgl. Alm/Jackson/McKee, 1992, S. 1024.
I. Stand der experimentellen Literatur
97
Im Ergebnis ist die Botschaft des Experimentes von Alm/Jackson/McKee, dass Unsicherheit zu unterschiedlichen Folgen für die Steuerehrlichkeit führt, je nachdem, ob ein öffentliches Gut involviert ist oder nicht. Für den Fall ohne öffentliches Gut erhöht Unsicherheit die Steuerehrlichkeit. Für den Fall mit öffentlichem Gut senkt sie die Steuerehrlichkeit. Die Wirkungen von Unsicherheit sind damit uneinheitlich. Viel mehr lässt sich aus den Daten des Experimentes nicht ablesen, weil die normalerweise auftretende Dynamik bei Experimenten mit öffentlichen Gütern von Alm/Jackson/McKee nicht weiter berichtet wird. Zwar berichten auch andere Experimentatoren über hohe Kooperationsgrade, aber in diesen Experimenten bestehen direkte Strafmöglichkeiten, die nicht von einem Zufallsmechanismus abhängen.225 Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wären deutlich geringere Raten von Steuerehrlichkeit zu erwarten gewesen, die vor allem im Zeitablauf fallen. Des Weiteren ist nach der Schilderung von Alm/Jackson/McKee nicht klar, wie informiert die Probanden über die Entdeckungswahrscheinlichkeit tatsächlich sind. Für den oberflächlichen Beobachter ergibt sich die Entdeckungswahrscheinlichkeit als p = 0,04. Durch den Umstand, dass bei einer Kontrolle aber die letzten fünf Perioden kontrolliert werden, kalkuliert das rationale Individuum, mit welcher Wahrscheinlichkeit er einmal in fünf Perioden entdeckt wird. Aus dem Ergebnis von q = 0,815 für „keine Entdeckung in fünf Perioden“ ergibt sich eine Entdeckungswahrscheinlichkeit von fast 20% innerhalb von fünf Runden. Da das Experiment nicht die Risikoeinstellung der Probanden kontrolliert, ist nicht auszuschließen, dass sich die Individuen durch besondere Risikoaversion auszeichnen. Schließlich gibt das Experiment keinen expliziten frame vor: Genau dies führt aber dazu, dass die Probanden eigene frames aktivieren können und ihr Verhalten im Experiment noch weniger kontrolliert abläuft als es ohnehin immer der Fall ist. Eindeutig mehr Kontrolle im Hinblick auf politische Schlussfolgerungen entsteht, wenn der Bezugsrahmen des Experimentes identifizierbar ist.
___________ 225 Siehe Fehr/Gächter, 2000a, S. 984 ff., mit einem nach „partner“ und „stranger“ getrennten Design, in dem bestraft werden kann. Vgl. dazu auch ohne Strafen Ledyard, 1995, S. 149, der das Absinken der Beiträge zum öffentlichen Gut mit steigender Rundenzahl für allgemeingültig hält.
98
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
2. Steuerkomplexität als Spiel gegen die Natur Das Experiment von Beck/Davis/Jung ist ein Experiment „gegen die Natur“ – es findet keine Interaktion zwischen Individuen statt, sondern der einzelne Proband spielt gegen einen Zufallsmechanismus.226 Sie betrachten nur den Fall „ohne öffentliches Gut“. Auch dieses Experiment ist ein „Deklarationsspiel“, bei dem die Probanden eine Summe von Spielgeld erhalten und unter wechselnden Bedingungen ein Einkommen deklarieren müssen. Die Besonderheit dieses Experimentes ist, dass Unsicherheit über das zu zahlende Einkommen besteht, Beck/Davis/Jung vergeben an die Probanden zwar ein Bruttoeinkommen, diese wissen aber nicht, zu welchem Anteil innerhalb eines definierten Bereiches dieses zu versteuern ist. Ziel des Experimentes ist eigentlich, das Deklarationsverhalten unter verschiedenen Konstellationen von Risikokontrolle zu untersuchen. Zu den Ausgangshypothesen von Beck/Davis/Jung zählt, dass risikoaverse Individuen mit höheren Einkommensdeklarationen auf Unsicherheit reagieren.227 Nimmt man an, dass Risikopräferenzen einen Einfluss auf das Ergebnis haben, so bietet sich an, die Risikoeinstellungen im Experiment zu kontrollieren. Der Aufbau des Experimentes ist so gewählt, dass Probanden in einer Spielwährung Einkommen deklarieren und im Rahmen eines festgelegten Einkommensbereiches ein Einkommen wählen, ohne dass sie das zu versteuernde Einkommen kennen. Vom deklarierten Einkommen wird ein Steuerabzug vorgenommen. Anschließend wird ermittelt, ob ein Audit durchgeführt wird oder nicht. Kommt es zu einem Audit und hat der Proband hinterzogen, ist eine Strafe sowie eine Nachzahlung fällig. Das Experiment unterscheidet zwischen geringer und hoher Unsicherheit. Ein Treatment mit sicheren Zahlungen wird nicht gespielt, da das Experiment darauf abzielt, den Einfluss von Unsicherheit bei unterschiedlichen Risikopräferenzen zu isolieren und nicht, den Einfluss von Unsicherheit im Vergleich zu Sicherheit festzustellen. Niedrige und hohe Unsicherheit über das zu versteuernde Einkommen ergeben sich im Experiment, indem per Zufallsmechanismus eines von elf Einkommen zwischen 700 und 800 Einheiten beim niedrigen, und eines von 51 Einkommen zwischen 500 und 1.000 Einheiten bei hoher Unsicherheit gezogen wird. Die Individuen wissen also jeweils, ob sie mit geringer oder hoher Unsicherheit zu rechnen haben. Die Individuen durchlaufen zu Beginn des Experimentes ein Training in Wahrscheinlichkeitsrechnung, so dass sie mit den verwendeten Zufallsmechanismen vertraut sind. ___________ 226 227
Siehe zum Folgenden Beck/Davis/Jung, 1991. Vgl. dazu auch Scotchmer, 1989a und 1989b.
I. Stand der experimentellen Literatur
99
Auch das Design von Beck/Davis/Jung vermeidet jede Form von frame, in dem es keine wertaufgeladenen Begriffe wie „Steuer“, „Strafe“ oder „Steuerprüfung“ verwendet. Die Probanden, die vorher ein Training in Wahrscheinlichkeitstheorie absolviert haben, durchlaufen sechzig Runden von Einkommensdeklarationen.228 Jede Runde beginnt damit, dass die Probanden ein Rundeneinkommen erhalten und im angegebenen Intervall (niedrige oder hohe Unsicherheit) deklarieren. Anhand eines Würfels wird dann ermittelt, ob eine Überprüfung stattfindet. Kommt es zu einer solchen, wird anhand eines weiteren Zufallsgenerators ermittelt, wie hoch das tatsächliche Einkommen ist, um die Abweichung zu bestimmen. Beck/Davis/Jung haben in zwei Panels insgesamt drei Experimente getestet: Bei Experiment 1 unterliegen die Probanden einer induzierten Risikoneutralität, während bei Experiment 2 ebenfalls über eine Lotterie hergestellten Riskoaversion herrscht. Im dritten Experiment messen die Experimentatoren schließlich die Risikopräferenzen der teilnehmenden Probanden ex post, wobei nahezu alle Probanden sich als risikoneutral erwiesen.229 Im Folgenden stehen deshalb nur die Ergebnisse des Experimentes im Mittelpunkt, das Risikoneutralität induziert. Bei Risikoneutralität geben die Individuen bei einer höheren Unsicherheit prozentual weniger Einkommen an, wenn die Entdeckungswahrscheinlichkeit 50% oder mehr beträgt. Nur bei einer Entdeckungswahrscheinlichkeit von 40% liegt der Anteil des deklarierten Einkommens bei höherer Unsicherheit über dem bei geringerer Unsicherheit. Die Variation von Unsicherheit bei unterschiedlichen Strafraten von 0,2 und 2 hat indes keine Auswirkungen. Tabelle 5 Ergebnisse von Beck/Davis/Jung, 1991 – Durchschnittliche Anteile des deklarierten Einkommens am Gesamteinkommen
Anteil des deklarierten Einkommens am ex ante Einkommen
Entdeckungswahrscheinlichkeita
Strafrateb
0,4
0,5
0,9
0,2
2,0
... bei geringer Unsicherheit
37%
45%
94%
14%
45%
... bei hoher Unsicherheit
41%
43%
91%
14%
43%
Quelle: Ausschnitt aus Tabelle 4, Panel A von Beck/Davis/Jung, 1991, S. 546 a b
Durchschnitte auf diesem Niveau basieren auf einer Strafrate von 2,0, um Vergleichbarkeit zu gewährleisten; Entdeckungswahrscheinlichkeit von 0,5.
___________ 228 229
Siehe Beck/Davis/Jung, 1991, S. 542. Siehe Beck/Davis/Jung, 1991, S. 549.
100
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
In Abbildung 8 sind die Ergebnisse noch einmal in absoluten Werten des deklarierten Einkommens dargestellt. Dafür ist auf der x-Achse die Entdeckungswahrscheinlichkeit aufgetragen, auf der y-Achse das durchschnittliche deklarierte Einkommen. Die durch kleine Dreiecke gekennzeichnete Funktion gibt den Fall mit hoher Unsicherheit an, die andere Funktion den Fall mit geringerer Unsicherheit. Bei der Interpretation der absoluten Daten ist zu beachten, dass für diejenigen mit geringer Unsicherheit nur ein zu versteuerndes Einkommen zwischen 700 und 800 Einheiten in Frage kommt, während bei hoher Unsicherheit der Bereich von 500 bis 1.000 Einheiten relevant ist. Abbildung 8 zeigt, dass bei Risikoneutralität eine höhere Unsicherheit zu einem geringeren deklarierten Einkommen führt, so lange die Entdeckungswahrscheinlichkeit gering ist. Auch wenn dieser Unterschied nicht statistisch signifikant ist, steht er im Widerspruch zu den Ergebnissen von Alm/Jackson/ McKee. In deren Experiment ergeben sich ohne öffentliches Gut für jeden fall von Unsicherheit höhere Durchschnitte bei der Steuerehrlichkeit unter Unsicherheit. In diesem Experiment sind es außer bei einer extrem hohen Entdeckungswahrscheinlichkeit geringere Einkommen, die deklariert werden. Bei hoher Entdeckungswahrscheinlichkeit (von 0,9) nähert sich das deklarierte Einkommen dem oberen Limit des jeweiligen Einkommensbereichs.230 Niedrige Unsicherheit Hohe Unsicherheit Deklariertes Einkommen
900
800
700
600 0,4
0,5
0,9
Entdeckungswahrscheinlichkeit Quelle: Beck/Davis/Jung (1991), S. 547
Abbildung 8: Interaktion von Entdeckungswahrscheinlichkeit und Unsicherheit über das Einkommen und Risikoneutralität
___________ 230
Nämlich 94% bei niedriger Unsicherheit und 91% bei höherer Unsicherheit. Siehe Beck/Davis/Jung (1991), S. 546.
I. Stand der experimentellen Literatur
101
800 Niedrige Unsicherheit
Deklariertes Einkommen
Hohe Unsicherheit 700
600
500 0,2
Strafrate
2,0
Quelle: Beck/Davis/Jung (1991), S. 547
Abbildung 9: Interaktion von Strafrate und Unsicherheit über das Einkommen bei Risikoneutralität
Abbildung 9 zeigt einen ähnlichen Zusammenhang für die Strafe. Nur für den Fall, dass die Strafrate 0,2 auf die hinterzogene Steuer beträgt, kommt es zu signifikanten Unterschieden zwischen niedriger Unsicherheit und hoher Unsicherheit über das Einkommen. Bei einer Strafrate von 2,0 ist der Unterschied nicht signifikant.231 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei Kontrolle für Risikoneutralität relative Unsicherheit beim zu deklarierenden Einkommen zu geringeren absoluten deklarierten Einkommen führt, wenn die Entdeckungswahrscheinlichkeit 40% oder 50% beträgt, und die Strafrate mit 2,0 fixiert ist.232 Bei einer Entdeckungswahrscheinlichkeit von 50% wirkt sich die Senkung der Strafrate deutlich beim absoluten deklarierten Einkommen aus. Betrachtet man hingegen die relativen Anteile des deklarierten Einkommens so entstehen nur geringfügige Änderungen bei der Variation der Unsicherheit: Bei einer Entdeckungswahrscheinlichkeit von 40% liegt der Anteil des deklarierten Einkommens bei höherer Unsicherheit über dem bei geringerer Unsicherheit.
___________ 231 232
Siehe Beck/Davis/Jung, 1991, S. 545. Das entspricht auch der Hypothese 3a von Beck/Davis/Jung, 1991, S. 540.
102
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
3. Zwischenfazit Tendenziell ergibt sich, dass die Ergebnisse von Alm/Jackson/McKee ohne öffentliches Gut der in Kapitel D. aufgestellten Hypothese, dass Steuerkomplexität zu mehr Hinterziehung führt, widersprechen. Die Ergebnisse von Beck/Davis/Jung hingegen entsprechen der hier verfolgten Hypothese bei Risikoneutralität, wenn man die der Realität am nächsten kommenden Parameter (geringste Entdeckungswahrscheinlichkeit und höchste Strafe) zugrunde legt. Bedauerlicherweise ist dieser Unterschied jedoch insignifikant. Die zuvor diskutierten Ergebnisse aus der experimentellen Forschung über Unsicherheit ergeben durchaus widersprüchliche Ergebnisse. Zu diesen Widersprüchen kommt es möglicherweise, weil nicht in jedem Fall die Risikopräferenzen der Probanden kontrolliert wurden. Insofern sollte in nachfolgenden Experimenten eine Kontrolle für Risikopräferenzen stattfinden. Zweifelsohne liegt es nahe, bei Problemen wie Steuerhinterziehung an öffentliche Güter zu denken. Experimentell bietet es sich an, diese Konstellation in kleinen oder auch größeren Gruppen umzusetzen. Wie jedoch in Kapitel D. gezeigt wurde, sind im Kontext von Steuerhinterziehungen soziale Interaktionen relevant, die zumindest in dem vorgestellten Experiment nicht zu berücksichtigen waren. Dafür wären die Auswirkungen der individuellen Orientierungslosigkeit auf die Interaktion innerhalb der Gruppe zu prüfen. Das bedeutet, dass Interaktion zugelassen und beobachtbar durchgeführt sein muss – ein Aufbau, bei dem schnell die Kontrolle verloren geht. Auch wenn es also empfehlenswert ist, Steuerhinterziehung im Kontext öffentlicher Güter zu untersuchen, bietet es sich möglicherweise an, die Auswirkungen von Unsicherheit zuvor in einfachen Experimenten zu testen. In beiden berichteten Experimenten weisen die Autoren ausdrücklich darauf hin, dass sie auf jegliche frames, die einen Bezug auf Steuern nahe legen, verzichten. Dieses Vorgehen ist sicher dann nachvollziehbar, wenn das Experiment keinen Aufschluss über das Verhalten von Steuerzahlern geben soll, sondern grundsätzlich der Einfluss von Unsicherheit auf Steuern zu untersuchen ist. Steht aber im Mittelpunkt der Untersuchung, das Verhalten in einem bestimmten institutionellen Rahmen zu untersuchen, sollte der frame explizit genannt sein. Andernfalls besteht die Gefahr, dass jeder der Probanden seinen eigenen konkreten Bezugsrahmen entwickelt und dadurch weniger Kontrolle im Experiment hergestellt werden kann. Wenn es folglich nicht um verallgemeinerbare Ergebnisse auf Verhalten ohne jeglichen institutionellen Bezug geht, sollte das Experiment einen expliziten frame einführen. Allerdings ist bei der Interpretation der Ergebnisse dann auch darauf zu achten, dass damit eine Einschränkung hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit verbunden ist.
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung
103
In praktischer experimenteller Hinsicht legt das Experiment von Alm/Jackson/McKee nahe, ein Basistreatment durchzuführen, dass keine zusätzliche Unsicherheit zur Entdeckungswahrscheinlichkeit implementiert. Das Experiment von Beck/Davis/Jung lässt es hingegen lohnenswert erscheinen, die Unsicherheit über das zu versteuernde Einkommen als die wesentliche Unsicherheitsquelle zu modellieren, weil dies der institutionellen Situation am nächsten kommt.
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung Dieser Abschnitt stellt ein eigenes Experiment vor, dass ausgehend von der offenen Frage, ob Komplexität die Steuerhinterziehung erhöht oder senkt, ein Design vorstellt, anhand dessen eine Antwort zu erwarten ist (Abschnitt 1.). Im Anschluss daran werden die Ergebnisse des Experimentes berichtet (Abschnitt 2.), um am Ende Schlussfolgerungen zu ziehen (Abschnitt 3.).
1. Design und Durchführung Die Komplexität einer Entscheidungssituation führt zu Unsicherheit.233 In vielen Fällen, wie etwa im Steuerrecht, lässt sich diese Unsicherheit partiell reduzieren, in dem Sach- und Fachkompetenz beansprucht wird, doch mehr als eine partielle Reduzierung der Unsicherheit ist für den durchschnittlich begabten Steuerzahler nicht möglich. Die Hypothese, die dieses Experiment unterstützen soll, ist, dass ein positiver Zusammenhang zwischen Komplexität und Steuerhinterziehung in der Form besteht, dass mehr Komplexität auch mit einer höheren Steuerhinterziehung einhergeht.234 Die einfachste Form, diesen Zusammenhang zu testen, ist, Probanden jeweils einem einfachen und einem komplexen Treatment auszusetzen und die Unterschiede zu analysieren. Zu diesem Zweck erhalten die Probanden umfangreiche Instruktionen, die ihnen den experimentellen Aufbau detailliert erläutern.235 Dabei ist das übliche Vorgehen von, erstens, Instruktionen aushändigen, zweitens, ausreichend Zeit zur Lektüre lassen, drittens, Fragen beantwor-
___________ 233
Vgl. zum Folgenden Bizer/Falk, 2002. Siehe Kapitel D. 235 Die Instruktionen finden sich im Anhang unter I. 234
104
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
ten und, viertens, Testaufgaben bewältigen sowie, fünftens, absolut transparenter Auszahlungsmodalitäten zu beachten.236 Das im Folgenden ausführlich dargestellte Experiment beruht auf einem 2x2-faktoriellen Design, das heißt, es wurden zwei Treatments mit jedem Probanden durchgeführt. Zwar nehmen alle Teilnehmer an zwei Treatments teil, sie erfahren aber erst vom zweiten Treatment, nachdem sie das erste abgeschlossen haben. Im einfachen Treatment erhalten sie zunächst eines von fünf Einkommen (120, 125, 130, 135, 140), von denen sie wiederum eines als zu versteuerndes Einkommen deklarieren müssen. Instruktionen und die Bildschirmoberflächen des Experiments beinhalten die Termini „Steuer“ und „Steuerbehörde“, um einen eindeutigen frame für das Experiment zu schaffen.237 Probanden sind über die genaue Entdeckungswahrscheinlichkeit, Strafhöhe sowie die gleich verteilten Wahrscheinlichkeiten der Einkommenszuweisung informiert. Die Parameter sind in Tabelle 6 enthalten. Tabelle 6 Die Parameter im Experiment
Einkommen e 120;125;130;135;140
Steuersatz t
Entdeckungswahrscheinlichkeit p
Strafe s
0,25
0,2
6
Für die Probanden ist es nicht möglich, gar kein Einkommen zu deklarieren. Erst, wenn sie eines angegeben haben und auf „okay“ geklickt haben, erscheint der zweite Bildschirm, der angibt, ob die Deklaration überprüft wird. Ist das tatsächliche Einkommen über dem deklarierten Einkommen, kommt es zu einem Abzug. Liegt das tatsächliche Einkommen unter dem deklarierten Einkommen, kommt es bei einer Kontrolle zu einer Rückzahlung der zuviel gezahlten Steuer. Am Ende des Bildschirms erfahren die Probanden wie hoch das Rundeneinkommen ist, und wie viel Einkommen sie in den bisherigen Runden eingenommen haben. Jedes Treatment umfasst zehn Runden. Mit dem in diesen zehn Runden akkumulierten Einkommen nehmen die Teilnehmer an einer Lotterie teil, bei welcher der Rechner zufällig eine Zahl zwischen dem theoretischen Minimum und dem theoretischen Maximum aller Einkommen ermittelt. Liegt der Proband mit seinem Einkommen über dieser Zahl, erhält er den Gewinn von 15,- DM, liegt er darunter, geht er – abgesehen von seinem sicheren Handgeld von 10,- DM fürs Mitspielen – leer aus. Die Lotterie scheint den Aufbau des Experiments zunächst zu komplizieren. Der ___________ 236 237
Vgl. Friedman/Sunder, 1994, S. 74 ff. Siehe dazu die Bildschirmoberflächen im Anhang unter II.
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung
105
Grund für diesen Auszahlungsmodus ist lediglich, dass dadurch ausgeschlossen werden kann, dass Risikoaversionen das Ergebnis beeinflussen. Bei der Lotterie hat jeder Teilnehmer ungeachtet seiner Risikoeinstellung den Anreiz, ein möglichst hohes Einkommen zu erreichen, um am Ende den Gewinn zu erhalten.238 Der zentrale Unterschied zwischen beiden Treatments ist nun, dass im einfachen Treatment (im Folgenden als Treatment S für „simple“ bezeichnet) die Teilnehmer eines von fünf Einkommen zugewiesen bekommen, dies erfahren und dann eine Einkommensdeklaration abgeben müssen. Im komplexen Treatment C (für „complex“) hingegen müssen die Teilnehmer erst eine Einkommensdeklaration abgeben und erfahren ihr tatsächliches Einkommen erst danach. Dies ähnelt der Situation vieler Steuerzahler, die aufgrund vieler Abzugstatbestände ihr zu versteuerndes Einkommen nicht kennen. Sie kennen zwar ihr Bruttoeinkommen, können aber das zu versteuernde Einkommen nicht ermitteln.239 In der Realität können sie eine Unterdeklaration vermeiden, indem sie einfach ihr Bruttoeinkommen als zu versteuerndes Einkommen angeben und damit auf möglicherweise bestehende Abzugsmöglichkeiten verzichten. Im Experiment wäre die äquivalente Strategie in Treatment C, stets 140 Einheiten zu deklarieren und damit das höchstmögliche Einkommen zu versteuern. Das Individuum würde mit dieser Strategie immer die höchste Steuer zahlen. Das Risiko, zuviel Steuern zu bezahlen, ist im Experiment dadurch begrenzt, dass das Einkommen um weniger als 20% variiert. Das Experiment setzt einen deutlichen frame, indem die Begriffe „Steuer“ und „Steuerbehörde“ verwendet werden. Im Kontext institutioneller Fragestellungen, bei denen die relevante Institution Wahrnehmung und Umgang mit Entscheidungen mitprägen, ist es von großer Bedeutung, den entsprechenden frame zu geben, wenn die Ergebnisse als relevant für den institutionellen Kontext gelten sollen. Das Experiment verzichtet aber darauf, mehr als nur einen frame anzusprechen. So ist nur von Abzügen und nicht von Strafen, Bußgeldern et cetera die Rede. Der Schwerpunkt liegt damit eindeutig bei der Steuerdeklaration und nicht beim Steuerstrafrecht. Schließlich weicht das Experiment noch in einem weiteren wichtigen Aspekt von anderen Steuerhinterziehungsexperimenten ab: Es baut auf einer individuellen Entscheidungssituation und nicht auf einer kollektiven Situation mit ei___________ 238 Dieses Vorgehen ist eine Standardprozedur. Siehe Roth, 1995, S. 81 ff., ausführlich Berg/Daley/Dickhaut et al., 1986, auch Beck/Davis/Jung, 1991. 239 In diesem Aspekt folgt das hier entwickelte Experiment dem Design von Beck/ Davis/Jung, 1991, die allerdings ein Bruttoeinkommen im Experiment den Probanden zuweisen und einen Bereich definieren, in dem das zu versteuernde Einkommen liegen kann. Hier ist die Vorgehensweise, dass von vorne herein ein zu versteuerndes Einkommen aus einem festen Bereich von Einkommen ausgewählt wird, um einen direkten Vergleich mit einem sicheren Treatment zu erlauben.
106
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
nem öffentlichen Gut auf. Entscheidungen mit öffentlichen Gütern haben sicher den Vorteil, dass sie ein wichtiges Element von Steuern abbilden können: die „common pool resource“. Auf der anderen Seite haben diverse Interviews mit Finanzbeamten offenbart, dass in der konkreten Entscheidungssituation gerade dieses Element völlig hinter die Tatsache zurücktritt, dass individuelle Zahlungspflichten entstehen, denen nachzukommen ist. Die Auszahlungsfunktion ist im Experiment für jede Runde gekennzeichnet durch π i = ei − di ⋅ t − p ⋅ (ei − di ) ⋅ s , wenn ei > di
(9)
π i = ei − di ⋅ t + p ⋅ (ei − di ) ,
(10)
wenn ei < di
bei der πi die Auszahlung des Individuums i darstellt, die sich aus dem tatsächlichen Einkommen, ei, abzüglich der sich aus deklariertem Einkommen di und Steuersatz t ergebenden Steuerzahlung, (di t), und abzüglich der erwarteten Strafzahlung, p [(ei – di)] s, ergibt. Der letztgenannte Term zeigt, dass ein Individuum mit der Wahrscheinlichkeit p entdeckt wird. In diesem Fall ist das hinterzogene Einkommen (ei – di) mit der Strafe s zu multiplizieren, die größer ist als 1. Damit die Teilnehmer sich an das Design gewöhnen können, spielen sie 10 Runden. Der Steuersatz beträgt t = 0,25, die Entdeckungswahrscheinlichkeit liegt bei p = 0,2, die Strafe ist mit s = 6 gegeben.240 Die möglichen Einkommen weichen – wie bereits angesprochen – auch deswegen um weniger als 20 % von dem niedrigsten Einkommen von 120 ab, um die Einkommensschwankungen als Quelle unterschiedlicher Entscheidungen unwahrscheinlich zu machen. Gleichzeitig hält sich dadurch die Auswirkung der Unsicherheit auf das Ergebnis in realistischen Grenzen. Um die Kontrolle zu vergrößern, baut das jeweils zweite Treatment auf genau dem Einkommen auf, die im ersten Treatment durch den Rechner zufällig ermittelt werden. Dies gestattet einen intrapersonalen Vergleich ohne jegliche Einkommenseffekte. Damit die Teilnehmer ein derartiges Vorgehen nicht vermuten können, ist die Reihenfolge der Einkommen im zweiten Treatment jedoch verändert. Vierzig Individuen spielten das Experiment. Sie wurden in den Mensen der Technischen Universität Darmstadt sowie der Fachhochschule Darmstadt rekrutiert. Bejahten die Passanten die Frage, ob sie an einem Experiment teilneh___________ 240
Vgl. Tabelle 6.
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung
107
men wollten, das bis zu 45 Minuten in Anspruch nehmen würde, wurden sie direkt mit den Instruktionen konfrontiert. Sie erhielten in jedem Fall das Handgeld von 10,- DM und wussten, dass sie weitere 15,- DM gewinnen können. Die Summe sollte etwa einem Stundenlohn entsprechen, den Studenten in Darmstadt erzielen können. Nach dem ersten Treatment blieben die Teilnehmer für das zweite Treatment. Rationale Individuen maximieren ihre erwarteten Auszahlungen in beiden Treatment, ohne dass ihre Risikopräferenzen eine Rolle spielen. Die Parameter wurden so gewählt, dass die ehrliche Strategie im Treatment S die maximierende Strategie ist. Dies ist leicht zu erkennen, wenn man das Einkommen von 130 in die Auszahlungsfunktion (9) einsetzt. Das ergibt: (11)
π i = 130 − di ⋅ t − p ⋅ (130 − di ) s , wenn ei > di
Wenn der Teilnehmer i sein Einkommen ehrlich im einfachen Treatment mit di = 130 angibt, ist der letzte Term von (11) irrelevant. Bei einem Steuersatz von t = 0,25 ergibt dies ein Einkommen in dieser Runde von πi = 97,5. Nimmt man nun an, dass der Teilnehmer fünf Einheiten weniger deklariert, so dass di = 125. In diesem Fall ist der letzte Term von Gleichung (9) mit den gegebenen Parametern p = 0,2 und s = 6 für das Ergebnis von Bedeutung, das πi = 92,75 beträgt. Deklariert der Teilnehmer i sogar mehr als er tatsächlich an Einkommen hat, z. B. di = 135, liegt sein Rundenergebnis noch niedriger mit πi = 96,5.241 Im komplexen Treatment fällt das Ergebnis etwas anders aus, da die Teilnehmer ihr tatsächliches Einkommen nicht ex ante kennen. Es sei angenommen, der Teilnehmer deklariere 120 Einheiten, obwohl er eine Chance von 0,8 hat, mehr Einkommen zu erhalten. In Gleichung (12) (12)
π i = ei − 120 ⋅ t − p ⋅ (ei − 120) ⋅ s , wenn ei > di
eingesetzt, ergibt dies ein erwartetes Rundeergebnis von πi = 88. Selbst im besten Fall, indem er ein Einkommen von 140 Einheiten erhält, beläuft sich der zusätzliche Ertrag der Hinterziehung nur 20 Einheiten multipliziert mit dem Steuersatz von t = 0,25 nur auf 4 Einheiten. Diesen stehen aber 24 Einheiten an erwarteter Strafzahlung gegenüber. Die Chance, unentdeckt zu bleiben und das ___________ 241
Eine komplette Übersicht über alle möglichen Auszahlungen ist im Anhang unter III. enthalten.
108
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
höhere Einkommen behalten zu können, ohne es zu versteuern, wird für jedes Einkommen von der Chance dominiert, entdeckt und bestraft zu werden. Das liegt an den geringen Einkommensunterschieden und dem relativ geringen Steuersatz bei gleichzeitig hoher Strafe und Entdeckungswahrscheinlichkeit. Die Maximierungsstrategie ist in für beide Treatments zusammengefasst. Tabelle 7 Maximierungsstrategien im einfachen und komplexen Treatment
Einkommen
di* in Treatment S
di* in Treatment C
120
120
140
125
125
140
130
130
140
135
135
140
140
140
140
2. Ergebnisse des Experiments Die Ergebnisse des Experimentes lassen sich auf drei Ebenen diskutieren. Zuerst einmal können die Anfangstreatments verglichen werden [Abschnitt a)]. Dieser Vergleich ist interpersonell, weil die Gruppe derer, die mit Treatment S angefangen haben, verglichen wird mit der Gruppe derer, die mit Treatment C begonnen haben. Daran schließt sich ein Vergleich an, der intrapersonelle Betrachtungen anstellt, weil jedes Individuum sowohl das komplexe als auch das einfache Treatment erfahren hat. Bei diesem Vergleich spielt die Reihenfolge eine zentrale Rolle [Abschnitt b)]. Schließlich lässt sich das Experiment noch im Hinblick auf das gesetzliche verlangte Verhalten hin auswerten [Abschnitt c)].
a) Die Anfangstreatments Zunächst seien die beiden Anfangstreatments miteinander verglichen. Dieser Vergleich zeigt, ob die Individuen im einfachen Treatment anders reagiert haben als im komplexen Treatment. Die zweite Spalte von Tabelle 8 gibt an, welches Einkommen im Durchschnitt der Individuen angegeben wurde. Es zeigt sich, dass die Unterschiede beim deklarierten Einkommen nur geringfügig voneinander abweichen. Der p-Wert242 von 0,978 legt nahe, dass es keinen signifi___________ 242 Unter der Voraussetzung, dass in Wirklichkeit die Nullhypothese zutrifft, gibt der p-Wert die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich die Daten wie beobachtet realisieren.
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung
109
kanten Unterschied gibt, und widerspricht klar der Hypothese, eine komplexe Steuer führe dazu, dass die Steuerzahler mehr Einkommen deklarieren als bei einer einfachen Steuer. Dieser Vergleich ergibt außerdem, dass es zu keinerlei Einnahmensteigerungen beim Staat durch höhere Einkommensdeklarationen kommt. Außerdem ist auch die Hinterziehung in Prozent, wie sie in Spalte 3 dargestellt ist, im komplexen Treatment höher als im einfachen Treatment. Die durchschnittliche individuelle Hinterziehung ist mit 43% im komplexen Treatment auf einem 5%-Niveau signifikant höher als im einfachen Treatment mit 29%. Dasselbe gilt für die Hinterziehung gemessen in absoluten Größen (Spalte 4), die das finanzielle Ausmaß der Hinterziehung und nicht nur die Häufigkeit misst. Auf dieser ersten Stufe der Auswertung ist damit bereits deutlich, dass Unsicherheit über das Einkommen nicht das Steueraufkommen des Staates erhöht, sondern stattdessen die Hinterziehung signifikant erhöht. Tabelle 8 Durchschnittliche deklariertes Einkommen und Hinterziehung in den Anfangstreatments
Deklariertes Einkommen (Einheiten)
Anteil der Hinterziehung an allen Entscheidungen
Absolute Hinterziehung (Einheiten)
Einfach (S)
129,12
0,2857
29,05
Komplex (C)
129,39
0,4263
43,42
p-Wert
0,978
0,040
0,039
400
400
400
Zahl der Beob.
Bemerkung: Mann-Whitney Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. Unter der Voraussetzung, dass in Wirklichkeit die Nullhypothese zutrifft, gibt der p-Wert die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich die Daten wie beobachtet realisieren.
Dieses Ergebnis ist angesichts der in der Literatur fast einhelligen Auffassung, Komplexität führe zu höheren deklarierten Einkommen, erstaunlich.243 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass in den dort diskutierten Modellen keineswegs dieselbe Form der Einkommensunsicherheit zugrunde gelegt ist. Es zeigt aber gleichzeitig, dass eine oberflächliche Rezeption der Steuerhinterziehungsdiskussion zu gefährlich verkehrten Schlussfolgerungen für die Steuerpolitik verleiten kann. ___________ Der Mann-Whitney Test ist für interpersonelle Vergleiche anzuwenden. Der Wilcox sign rank Test für intrapersonelle Vergleich. 243 Keine Regel ohne Ausnahmen: Slemrod, 1988, S. 156 bejaht die Frage, „Can simplifying the tax system reduce the extent of noncompliance?“, führt aber im Folgenden aus, dass die Kandidaten für eine solche radikale Reform die Umsatzsteuer oder eine „flat rate tax“ wären. Wie in den nächsten Abschnitten zu sehen ist, führt eine Vereinfachung, die weniger radikal ist, nicht unbedingt zum Ziel.
110
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
Man könnte es dabei bewenden lassen, wenn es ausschließlich darum ginge zu zeigen, dass Komplexität nicht zu höheren deklarierten Einkommen und zu geringeren Hinterziehungen führt. Der gewählte experimentelle Aufbau lässt aber noch einige weitere interessante Schlussfolgerungen zu, da beide Gruppen auch das jeweils andere Treatment erfahren haben. Dies ermöglicht es, erstens, einen intrapersonalen Vergleich über die Treatments hinweg bei einer gegebenen Reihenfolge anzustellen. Zweitens ist es möglich, interpersonell die Treatments zu vergleichen wie schon für das Anfangstreatment erfolgt.
b) Reihenfolgeeffekte der Treatments Tabelle 9 gibt das deklarierte Einkommen für das Treatment S und C jeweils in der Reihenfolge SC und CS an. Die erste Spalte verdeutlicht, dass es keinen signifikanten Unterschied zwischen den Treatments gibt, wenn die Probanden zuerst das einfache Treatment spielen. Beginnen sie aber mit dem komplexen Treatment (siehe Spalte 2), so ist das deklarierte Einkommen deutlich geringer im einfachen Treatment als im komplexen. Der Unterschied fällt so deutlich aus, dass er auf einem 2%-Niveau signifikant ist. Signifikanz wird hier mittels eines Wilcoxon sign rank Tests ermittelt, da es sich um einen intrapersonalen Vergleich handelt.244 Tabelle 9 Durchschnittliches deklariertes Einkommen
Reihenfolge SC
Reihenfolge CS
p-Wert (MW test)
Einfach (S)
129,12
126,21
0,0574
Komplex (C)
128,74
129,39
0,6448
p-Wert (Wilcox)
0,7278
0,0112
210
190
Zahl der Beobachtungen
Bemerkung: Wilcox sign rank Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. MannWhitney Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. Unter der Voraussetzung, dass in Wirklichkeit die Nullhypothese zutrifft, gibt der p-Wert die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich die Daten wie beobachtet realisieren.
Es ist aber auch möglich, Tabelle 9 zeilenweise zu betrachten: Das offenbart den Reihenfolgeeffekt auf das einfache Treatment anhand des deklarierten Einkommens. Weil in dieser Betrachtung unterschiedliche Individuen miteinander verglichen werden, ist die Signifikanz des Ergebnisses mittels eines Mann___________ 244
Vgl. dazu Conover, 1999, S. 353 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 87.
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung
111
Whitney-Tests zu prüfen.245 Der Unterschied, der durch den Reihenfolgeeffekt auf das einfache Treatment verursacht wird, ist signifikant auf einem Niveau von 5,74%. Das deklarierte Einkommen ist signifikant kleiner, wenn das einfache Treatment nach dem komplexen Treatment gespielt wird. Die Reihenfolge hat hingegen keinen signifikanten Effekt auf das deklarierte Einkommen im komplexen Treatment.246 Dieses Ergebnis ist von besonderer Bedeutung. Es weist nämlich darauf hin, dass es tatsächlich einen Hysteresis-Effekt der Steuerhinterziehung geben könnte. Das komplexe Treatment zerstört offenbar Steuerehrlichkeit, die nicht durch den Wechsel auf ein einfaches Treatment wiederhergestellt werden kann. Da die Daten außerdem keinen signifikanten Unterschied zwischen dem einfachen und komplexen Treatment aufweisen, wenn die Reihenfolge SC gespielt wird,247 spricht dies nicht dafür, einen Wechsel von einem einfachen auf ein komplexes Steuersystem vorzunehmen. Hingegen ist die Verringerung des deklarierten Einkommens signifikant, wenn vom komplexen auf das einfache System umgestellt wird. Tabelle 10 Durchschnittliche Hinterziehungen in Prozent und in absoluter Höhe
Einfach (S) Komplex (C) p-Wert (Wilcox)
Reihenfolge SC
Reihenfolge CS
p-Wert (MW-Test)
Häufigkeit
28,57
48,42
0,0189
Abs. Höhe
[2,905]
[5,184]
[0,0605]
Häufigkeit
49,05
42,63
0,3226 [0,2830]
Abs. Höhe
[5,524]
[4,342]
Häufigkeit
0,0013
0,2112
Abs. Höhe
[0,0020]
[0,3321]
210
190
Zahl der Beobachtungen
Bemerkung: Wilcox sign rank Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. MannWhitney Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. Unter der Voraussetzung, dass in Wirklichkeit die Nullhypothese zutrifft, gibt der p-Wert die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich die Daten wie beobachtet realisieren.
Ein Blick auf die erste Spalte von Tabelle 10 bestätigt dies auch im Hinblick auf die Anzahl von Hinterziehungen als individueller Durchschnitt. Es gibt einen hochsignifikanten Unterschied bei den Hinterziehungen zwischen einfa___________ 245
Vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. Bei p = 64,48%, Mann-Whitney Test. Siehe Tabelle 9 247 Bei p = 72,78%, Mann-Whitney Test. Siehe Tabelle 9. 246
112
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
chem und komplexem Treatment, wenn sie in der Reihenfolge SC gespielt werden.248 Gleichzeitig gibt es keinen signifikanten Unterschied, wenn sie in der Reihenfolge CS gespielt werden.249 Auch diesmal ist der Unterschied nicht hervorgerufen durch einen Unterschied im komplexen Treatment – hier ist der Unterschied insignifikant250 – sondern durch einen hochsignifikanten Unterschied beim einfachen Treatment.251 Tabelle 10 weist in eckigen Klammern auch die Hinterziehung in absoluter Höhe aus. Auch diese Daten bestätigen das Ergebnis, das es keinen signifikanten Unterschied zwischen den komplexen Treatments, wohl aber zwischen den einfachen Treatments gibt. Auch diese Daten lassen sich mit einem Hysteresis-Effekt konsistent erklären, bei dem die Steuerehrlichkeit nach dem komplexen Treatment auf ein Niveau herabsinkt, dass durch Einfachheit des einfachen Treatments nicht aufgefangen werden kann. Das Design des Experiments erlaubt es, nicht nur zwischen korrekten Deklaration und Hinterziehungen zu unterscheiden, sondern auch zwischen korrekten und übermäßigen Steuerzahlungen. Es ist unbestritten, dass der Sinn jeder Steuer darin liegt, exakte Steuerzahlungen zu veranlassen, auch wenn die Fixierung auf den einnahmenmaximierenden Staat, oder genauer: die einnahmenmaximierende Exekutive die in der Ökonomie dominante Perspektive einnimmt. Das Interesse der Legislative ist davon verschieden: Abgeordnete verabschieden Steuergesetze mit Blick auf ihre Wähler. Sie wissen, dass sie Steuern erheben müssen, um Einnahmen für bestimmte Leistungen zu erzielen. Und gleichwohl sie natürlich ein Interesse haben, ihre eigenen Wähler so gering wie möglich zu belasten, zielen sie darauf ab, dass tatsächlich diejenigen die Steuer zahlen, die sie auch zahlen sollen.252 Im einfachen Treatment müsste mit rationalen Individuen die Rate korrekter Steuerdeklarationen bei 100% liegen (siehe Tabelle 11). Mit tatsächlich 60% in der Reihenfolge SC liegt sie deutlich darunter. Im komplexen Treatment liegt die Rate korrekter Deklarationen bei 21%. Tatsächlich sollte sie bei 20% liegen, weil das der Wahrscheinlichkeit entspricht, mit der ein gewähltes Einkommen tatsächlich auch eintritt. In der umgekehrten Reihenfolge CS haben die Probanden eine Rate von 17% korrekter Deklarationen – also etwas unterhalb des theoretischen Wertes – und dieser steigt auf etwa das Doppelte, nämlich 35% im einfachen Treatment. Der Unterschied erweist sich in beiden Reihenfolgen als signifikant.253 Ebenfalls signifikant ist wieder der Un___________ 248
Bei p = 1,3%, Wilcox sign rank Test. Siehe Tabelle 10. Bei p = 21,12%, Wilcox sign rank Test. Siehe Tabelle 10. 250 Bei p = 32,26%, Mann-Whitney Test. Siehe Tabelle 10. 251 Bei p = 1,89%, Mann-Whitney Test. Siehe Tabelle 10. 252 Die Frage nach der Überwälzbarkeit sei in diesem Zusammenhang vernachlässigt. 253 Bei p = 0,01% in der Reihenfolge SC und 0,81% in der Reihenfolge CS, beides Wilcox sign rank Test. Siehe Tabelle 11. 249
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung
113
terschied zwischen den einfachen Treatments.254 Kein signifikanter Unterschied besteht zwischen den komplexen Treatments.255 Auch hier sind wieder der Reihenfolgeeffekt und die Wirkung des komplexen Treatments in der Reihenfolge CS für die Unterschiede verantwortlich. Tabelle 11 Korrekte Steuerdeklarationen in Prozent
Reihenfolge SC
Reihenfolge CS
p-Wert (MW-test)
Einfach (S)
59,53
35,27
0,0034
Komplex (C)
20,95
17,37
0,4917
p-Wert (Wilcox)
0,0001
0,0081
210
190
Zahl der Beobachtungen
Bemerkung: Wilcox sign rank Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. MannWhitney Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. Unter der Voraussetzung, dass in Wirklichkeit die Nullhypothese zutrifft, gibt der p-Wert die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich die Daten wie beobachtet realisieren.
Erweitern wir die Perspektive des Parlamentariers und werfen einen Blick auf die übermäßigen Steuerzahlungen. Diese sind so im Grundsatz so unerwünscht wie Steuerhinterziehungen, obwohl sie immerhin zu den Einnahmen positiv beitragen. Tatsächlich sollen ja aber die Steuerzahler genau dass zahlen, zu dem sie gesetzlich verpflichtet sind, andernfalls wäre jede exakte, etwa Investitionen schonende Besteuerung partiell hinfällig. In dem hier vorgestellten Experiment kommen übermäßige Zahlungen im komplexen Treatment häufiger vor als im einfachen Treatment (siehe Tabelle 12). Das liegt an der Struktur des Entscheidungsproblems im komplexen Treatment, bei dem die Teilnehmer nur dann übermäßige Zahlungen vermeiden können, wenn sie das absolute Minimum deklarieren. Stattdessen betrug der Durchschnitt übermäßiger Zahlungen etwa ein Drittel aller Fälle. Im einfachen Treatment waren es lediglich ein Zehntel aller Fälle. Im einfachen Treatment würden rationale Individuen keine übermäßigen Zahlungen leisten. Im komplexen Treatment würden sie hingegen 140 Einheiten als deklariertes Einkommen wählen und akzeptieren, dass sie in 80% der Fälle übermäßige Zahlungen leisten. Im Experiment erwiesen sich die Teilnehmer jedoch als widerstrebend, diesem Kalkül zu folgen. Die Unterschiede zwischen dem komplexen und dem ___________ 254 255
Bei p = 0,034%, Mann-Whitney Test, vgl. Tabelle 11. Bei p = 49,17%, Mann-Whitney Test, vgl. Tabelle 11.
114
E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
einfachen Treatment sind für beide Reihenfolgen signifikant und bestätigen sich auch für die absoluten Höhen der übermäßigen Zahlungen.256 Tabelle 12 Übermäßige Zahlungen in Prozent (individuelle Durchschnitte) Reihenfolge SC
Reihenfolge CS
p-Wert (MW-test)
Einfach (S)
11,90
16,31
0,7400
Komplex (C)
30,00
40,00
0,1586
p-Wert (Wilcox)
0,0072
0,0093
210
190
Zahl der Beobachtungen
Bemerkung: Wilcox sign rank Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. MannWhitney Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. Unter der Voraussetzung, dass in Wirklichkeit die Nullhypothese zutrifft, gibt der p-Wert die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich die Daten wie beobachtet realisieren.
Die Ergebnisse sind überblicksartig noch einmal in Abbildung 10 dargestellt. Korrekte Steuerzahlungen (schwarze Balken) sind relativ hoch im einfachen Treatment in der Reihenfolge SC. Das wäre vorhersagbar durch die Rationalitätsannahme, wenn es nahe bei 100% läge. Stattdessen kommt es zu übermäßigen Steuerzahlungen und nicht lohnenswerten Steuerhinterziehungen im einfachen Treatment. Insgesamt sind es 40% der Fälle im einfachen Treatment, die sich durch die Rationalitätsannahme nicht zutreffend erklären lassen. Exakte Steuerzahlungen nehmen im komplexen Treatment deutlich ab. Das entspricht der Vorhersage, da im Durchschnitt die Teilnehmer nur in 20% der Fälle die exakte Steuererklärung abgeben können. Aber auch in diesem Treatment handeln die Individuen nicht rational: Statt konsequent 140 Einheiten zu deklarieren, hinterziehen sie in 50% der Fälle und vermeiden so, übermäßige Zahlungen zu leisten. Sie verhalten sich so, als ob sie lieber zu wenig Steuern zahlen, bevor sie in Kauf nehmen zuviel Steuern zu zahlen, und zwar obwohl es in ihrem eigenen Interesse wäre, das Risiko einer übermäßigen Steuerzahlung einzugehen. In der umgekehrten Reihenfolge mit anderen Probanden fallen die korrekten Zahlungen mit 17 % im komplexen Treatment etwas geringer aus. Übermäßige Zahlungen sind mit etwa 40% vertreten, Steuerhinterziehungen liegen noch etwas höher. Dies ist bezüglich der korrekten Zahlungen nahe an der Vorhersage auf der Basis der Rationalitätsannahme, aber auch hier vermeiden die Probanden übermäßige Zahlungen und gehen lieber das Risiko ein zu hinterziehen. ___________ 256
Bei p = 0,72% in der Reihenfolge SC und 0,93% in der Reihenfolge CS, beides Wilcox sign rank Test. Siehe Tabelle 12.
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung
115
Dabei spielt offenbar keine Rolle, dass die dominante Strategie übermäßige Zahlungen in Kauf nimmt. 60
%
40 20 0 Einfach
Komplex
Einfach
Reihenfolge SC Hinterziehung
Komplex
Reihenfolge CS Korrekte Zahlung
Übermäßige Zahlung
Abbildung 10: Relative Häufigkeit von Steuerhinterziehungen, korrekten Steuerzahlungen und übermäßigen Steuerzahlungen
Schließlich ist noch bemerkenswert, dass nach der Erfahrung des komplexen Treatments die Teilnehmer noch weniger bereit sind, Steuern korrekt zu zahlen. Die Daten weisen einmal mehr darauf hin, dass es sich um einen HysteresisEffekt handelt, der durch das komplexe Treatment ausgelöst wird. Die Teilnehmer verdoppeln fast ihre Steuerhinterziehung im einfachen Treatment gegenüber dem einfachen Treatment in der Reihenfolge SC, während übermäßige Zahlungen in etwa gleich bleiben.
c) Strikte Ehrlichkeit In einem letzten Schritt vergleichen wir das tatsächliche Verhalten mit dem, das vom geltenden Recht verlangt ist. Dabei ist zu beachten, dass die Steuergesetze dem Steuerzahler eine strenge Form von Informations- und Offenlegungspflichten auferlegt. Steuerpflichtige sind verpflichtet, alles Einkommen unabhängig ihrer genauen Kenntnisse des Steuerrechts zu deklarieren. Die Steuergesetze verlangen sowohl in den USA als auch in Deutschland, dass der Steuerpflichtige alle relevanten Informationen zusammenträgt und auswertet. Im Experiment ist die strikte Ehrlichkeit, wie sie das Gesetz fordert, identisch mit konsequent ehrlichen Deklarationen im einfachen Treatment und dem höchstmöglichen Einkommen im komplexen Treatment. Ausschließlich die Individuen, die in allen Runden diesem Kriterium folgen, können als die „geset-
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E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
zestreuen Steuerzahler“ charakterisiert werden. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass damit eine ex ante-Ehrlichkeit verlangt wird, obwohl auch das Recht nur dann intendierte Hinterziehung unterstellt, wenn diese tatsächlich eintritt. Gleichzeitig gestattet das Recht jedoch nicht, gemäß von Eintrittswahrscheinlichkeiten auch ein geringeres als das mögliche tatsächliche Einkommen anzugeben, sondern wertet dies als intendierte Hinterziehung. Eine geringe Wahrscheinlichkeit tatsächlich zu hinterziehen zählt ebenso wenig als Ausrede wie eine geringe Wahrscheinlichkeit überhaupt entdeckt zu werden. Die Ergebnisse dieser Perspektive sind in Tabelle 13 wiedergegeben. Die Probanden sind in der Reihenfolge SC im Durchschnitt in 71,42% der Fälle im einfachen Treatment strikt ehrlich, im komplexen Treatment kommt es nur in 19,04% der Fälle dazu. Der Unterschied ist hochsignifikant257 und die Reihenfolge spielt keine Rolle. Auch für dieses Kriterium von strikter Ehrlichkeit gilt also, dass im komplexen Treatment ehrliches Verhalten verdrängt wird. Tabelle 13 Relative Häufigkeit strikter Ehrlichkeit (in Prozent der Deklarierungsentscheidungen)
Reihenfolge SC
Reihenfolge CS
p-Wert (MW-test)
Einfach (S)
71,42
51,57
0,2763
Komplex (C)
19,04
18,42
0,9520
p-Wert (Wilcox)
0,0001
0,0014
210
190
Zahl der Beobachtungen
Bemerkung: Wilcox sign rank Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. MannWhitney Test, vgl. dazu Conover, 1999, S. 272 ff.; Siegel/Castellan, 1988, S. 128 ff. Unter der Voraussetzung, dass in Wirklichkeit die Nullhypothese zutrifft, gibt der p-Wert die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich die Daten wie beobachtet realisieren.
Diejenigen mit der Intention, strikt ehrlich zu deklarieren, müssen in jedem Fall das höchste Einkommen angeben. Dies ist auf Dauer frustrierend, weil sie in vier Fünftel der Fälle höhere Einkommen deklarieren, als sie tatsächlich bekommen und nur dann Rückzahlungen erhalten, wenn sie (in einem von fünf Fällen) kontrolliert werden. Das Experiment gestaltet dieses Verhalten aber schon relativ ansprechend, indem die Strategie strikter Ehrlichkeit die höchste Auszahlung verspricht. Damit die Probanden dieses Merkmal auch wahrnehmen, ist dieser Umstand in den Instruktionen sogar ausdrücklich erwähnt. Es bedurfte also nicht besonderer Berechnung durch die Probanden, um die domi___________ 257
Bei p = 0,01% in der Reihenfolge SC und 0,014% in der Reihenfolge CS, beides Wilcox sign rank Test. Siehe Tabelle 13.
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung
117
nante Strategie zu finden. Nichtsdestotrotz ist strikte Ehrlichkeit offenbar nicht hinreichend attraktiv. Die Ergebnisse legen nahe, die pro-aktive Ehrlichkeit, die das Steuerrecht vom Steuerpflichtigen verlangt, als eher unrealistisch einzustufen. Die Individuen scheinen eher das Gefühl zu haben, dass diese Erwartung unfair ist – sogar dann, wenn sie ein maximales Ergebnis verspricht – und reagieren sogar im einfachen Treatment mit Steuerhinterziehung.
3. Schlussfolgerungen aus dem Experiment Die zentrale Frage, die durch das Experiment zu beantworten ist, lautet in den Worten von Andreoni/Erard/Feinstein„Are taxpayers chilled by uncertainty?“258 Um zu ermitteln, ob Steuerzahler durch Unsicherheit verschreckt werden, hat das Experiment in einem simplen Laborumfeld, in dem Individuen einem einfachen und einem komplexen Treatment in verschiedener Reihenfolge ausgesetzt wurden, einige eindeutige Ergebnisse hervorgebracht: Im Vergleich der Anfangstreatments zeigte sich bereits, dass die deklarierten Einkommen kaum, die Hinterziehung jedoch signifikant zunahm. Unsicherheit über das verfügbare Einkommen führt in diesem experimentellen Aufbau eindeutig nicht dazu, dass die Steuerzahler verängstigt ehrlich zahlen. Abgesehen von der höheren Hinterziehung ergibt auch das deklarierte Einkommen keine höheren Einnahmen für den Staat. Damit sind schon aus der Betrachtung der Anfangstreatments zwei wichtige Erkenntnisse zu gewinnen: Erstens, „taxpayers are not chilled by uncertainty“. Zweitens, es gibt keine Komplexitätsdividende für den Staat, auch wenn dieser eine Unsicherheit schaffende Steuerpolitik für diese Zwecke einzusetzen sucht. Über die Anfangstreatments hinaus, ermöglicht das experimentelle Design jedoch noch weitere Schlussfolgerungen aus dem intrapersonalen Vergleich der Reihenfolgen. In der Reihenfolge „einfach/komplex“ kommt es nicht zu einer signifikanten Änderung des deklarierten Einkommens, wohl aber in der Reihenfolge „komplex/einfach“. Vergleicht man diese Ergebnisse interpersonell, so zeigt sich, dass der Unterschied offensichtlich auf die Änderung im einfachen Treatment zurückzuführen ist. Dies entspricht einem Hysteresis-Effekt, der durch das komplexe Treatment hervorgerufen wird, wenn dieses vor dem einfachen Treatment gespielt wird. Dieser Effekt bestätigt sich auch bei einem Blick auf die Hinterziehung. In der Reihenfolge „einfach/komplex“ ist die Hinterziehung signifikant höher im ___________ 258
Siehe Andreoni/Erard/Feinstein, 1998, S. 853.
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E. Experiment zu Steuerkomplexität, Hysteresis und Steuerhinterziehung
komplexen Treatment, während sie in der Reihenfolge „komplex/einfach“ insignifikant bleibt. Dies bestätigt die Vermutung eines Hysteresis-Effekts, der auf dem Unterschied zwischen den einfachen Treatments basiert und durch das komplexe Treatment hervorgerufen wird. Dasselbe gilt auch, wenn man die korrekten Steuerzahlungen betrachtet. Die Unterschiede in beiden intrapersonalen Vergleichen sind hochsignifikant über die Reihenfolgen und beruhen auf der Änderung im einfachen Treatment. Wenn der Sinn von Steuern darin besteht, Steuerlasten genau so zu verteilen wie es das Gesetz vorsieht, sind übermäßige Steuerzahlungen genauso unerwünscht wie zu geringe. Die hohen Niveaus von übermäßigen Zahlungen in den komplexen Treatments bewirken zwar, dass das Steueraufkommen nicht ganz so dramatisch absinkt wie es sonst der Fall wäre, für den Gesetzgeber sollte dieser Umstand jedoch keine Erleichterung bedeuten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass homines oeconomici im komplexen Treatment übermäßige Zahlungen in 80% der Fälle akzeptiert hätten, um den Erwartungswert zu maximieren, tatsächlich aber nur in 30% der Fälle dieses Verhalten zu beobachten ist. Schließlich ist interessant, dass das Steuerecht relativ hohe Anforderungen an den Steuerzahler stellt. Dieser muss nicht nur selbst Informationen bezüglich seiner Steuerpflicht sammeln, sondern er muss in Zweifelsfragen die näheren Umstände dem Finanzamt schildern, um diesem die Möglichkeit einzuräumen, eine eventuelle höhere Steuerschuld festzulegen. In Zweifelsfällen muss der Steuerpflichtige folglich entgegen seinen individuellen Interessen entscheiden. Im komplexen Treatment wäre ein solches pro-aktives Steuerzahlerverhalten nur zu erreichen, indem in allen Runden das höchstmögliche Einkommen deklariert wird. Diese Anforderung verwerfen die Probanden mit Signifikanzniveaus von 1 Promille – obwohl ein derartiges Verhalten im Experiment in ihre eigenem Interesse ist. Offensichtlich sind sie eher dazu bereit, sich ökonomisch schlechter zu stellen, bevor sie das Risiko eingehen, zuviel Steuern zu entrichten. Damit sind folgende Ergebnisse festzuhalten: 1. Die Probanden reagieren nicht „verängstigt“ auf Unsicherheit über das zu versteuernde Einkommen und zahlen mehr, sondern sie deklarieren weniger Einkommen und hinterziehen mehr Steuern. Die Reaktionen der Probanden stehen im Widerspruch zum Modell des rationalen Regelbefolgers. 2. Es gibt keine „Komplexitätsdividende“ bei den deklarierten Einkommen und damit beim Aufkommen für den Staat, wenn der Steuerzahler im Ungewissen über seine konkrete Steuerpflicht bleibt. 3. Da Individuen sich offensichtlich nicht als homines oeconomici verhalten und nach maximaler Auszahlung streben, muss die Steuergestaltung auch andere Aspekte wie z. B. die subjektiv empfundene Gerechtigkeit beachten.
II. Experiment zu Steuerkomplexität und Steuerhinterziehung
119
4. Komplexität zerstört Steuerehrlichkeit, die nicht einfach dadurch wieder geschaffen werden kann, dass Vereinfachungen vorgenommen werden (Hysteresis-Effekt). 5. Unsicherheit verursacht in keinem Fall unfreiwillige Übererfüllung der Steuerpflicht. Individuen verhalten sich sogar eher entgegengesetzt: Bevor sie riskieren, zuviel Steuern zu zahlen, nehmen sie eher ökonomische Einbußen in Kauf. Eine entgegengesetzte Verpflichtung scheinen sie sogar als unfair zu empfinden.
F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz und aktuelle Reformvorschläge für die Vereinfachung Das vorangegangene Kapitel hat die Bedeutung der Einfachheit für die Frage der Steuerhinterziehung herausgearbeitet. Das Experiment operationalisiert das Unterscheidungskriterium zwischen Steuereinfachheit und Steuerkomplexität anhand der sicheren bzw. unsicheren Kenntnis des zu versteuernden Einkommens: Einfachheit besteht, wenn das zu versteuernde Einkommen bekannt ist, und Komplexität liegt vor, wenn das zu versteuernde Einkommen unsicher ist. Die Unkenntnis über das zu versteuernde Einkommen kann ihrerseits viele Ursachen haben, von denen eine zu hohe Kosten der Steuerermittlung, eine andere die mangelnde kognitive Fähigkeit der genauen Steuerermittlung sein kann. Überträgt man das Ergebnis auf die Diskussion der Besteuerungsgrundsätze, so deckt diese Operationalisierung sowohl die Grundsätze der Transparenz und der Praktikabilität als auch den Grundsatz der Wohlfeilheit ab. Im Folgenden sind diese drei Grundsätze im Grundsatz der Einfachheit zusammengefasst (vgl. Tabelle 14). Das Experiment zeigt, dass Individuen dazu neigen, unter Unsicherheit mehr Steuern zu hinterziehen. Sie verhalten sich, als hätten sie eine starke Aversion gegen die Zahlung von zuviel Steuern: Bevor sie zuviel zahlen, riskieren sie eine Steuerhinterziehung, obwohl der Erwartungswert der Hinterziehung stets geringer ausfällt als der Erwartungswert der strikten Steuerehrlichkeit. Setzt der Gesetzgeber die Steuerzahler also einer Unsicherheit über ihre Steuerpflicht aus, reagieren diese mit erhöhter Steuerhinterziehung. Da es unbillig wäre, wenn der Gesetzgeber verlangen würde, dass die Steuerpflichtigen zuviel zahlen sollte, kann daraus nur folgen, dass Einfachheit im Sinne einer sicheren Kenntnis des zu versteuernden Einkommens als gestaltungspolitischer Grundsatz ernst zu nehmen ist. Das wirft die Frage auf, wie Einfachheit steuerpolitisch umzusetzen ist. Es bietet sich an, diese Diskussion anhand der klassischen Besteuerungsgrundsätze zu führen (Abschnitt I.). Zu diesem Zweck ist das bisherige Verständnis der Besteuerungsgrundsätze der Transparenz, der Praktikabilität und der Wohlfeilheit auszuloten und zu klären, in welchem Wechselspiel der diese Elemente zusammenfassende Grundsatz der Einfachheit zu anderen zentralen Besteuerungsgrundsätzen steht. Das legt die Basis für die Beurteilung von zwei grundlegenden Reformvorschlägen für die Einkommensteuer hinsichtlich ihres Vereinfachungspotenzials (Abschnitt II.). Der Heidelberger Entwurf zur Einfachsteuer und der Karlsruher
F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
121
Entwurf zur vereinfachten Einkommensteuer weisen zwei dogmatisch unterschiedliche Wege, die beide nach Auffassung ihrer Autoren zu einer Vereinfachung führen. Dabei zeigt sich, dass die Vereinfachungspotenziale von konsumorientierter Besteuerung und synthetischer Einkommensteuer mit unterschiedlichen Zielkonflikten bei den Besteuerungsgrundsätzen einhergehen und damit letztlich normative Grundsatzentscheidungen vom Gesetzgeber verlangen, welche Ziele Vorrang bei der Besteuerung haben. Unter dem Aspekt der Vereinfachung sind beide Vorschläge als nicht hinreichend zu beurteilen (Abschnitt III.). Tabelle 14 Besteuerungspolitische Grundsätze
I. Fiskalisch-budgetäre Besteuerungsgrundsätze 1. Ausreichendheit der Steuererträge 2. Deckungspolitische Anpassungs- und Steigerungsfähigkeit der Besteuerung II. Ethisch-sozialpolitische Besteuerungsgrundsätze 1. Generelle Gerechtigkeitspostulate a) Allgemeinheit der Besteuerung b) Gleichmäßigkeit der Besteuerung (= persönlich-individuelle Leistungsfähigkeit) 2. Redistributionspostulat (steuerliche Umverteilung von Einkommen und Vermögen) III. Wirtschaftspolitische Besteuerungsgrundsätze 1. Ordnungspoltische Prinzipien a) Vermeidung steuerdirigistischer Maßnahmen b) Minimierung steuerlicher Eingriffe in die Privatsphäre und in die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit von Individuen c) Vermeidung ungewollter Folgen steuerlicher Beeinträchtigung des Wettbewerbs 2. Prozesspolitische Prinzipien a) Aktive Flexibilität der Besteuerung b) Passive („eingebauten“) Flexibilität der Besteuerung c) Wachstumspolitischen Ausrichtung der Besteuerung IV. Steuerrechtliche und steuertechnische Grundsätze 1. Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit der Steuermaßnahmen 2. Steuertransparenz (Verständlichkeit, Eindeutigkeit) 3. Praktikabilität der Steuermaßnahmen 4. Wohlfeilheit der Besteuerung 5. Stetigkeit des Steuerrechts 6. Bequemlichkeit der Besteuerung Quelle: in Anlehnung an Franke, 1993, S. 63, Schmölders/Hansmeyer, 1980, S. 58, Neumark, 1970, S. 45
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
I. Das Verhältnis der übrigen Besteuerungsgrundsätze zum Grundsatz der Einfachheit Dieser Abschnitt diskutiert von den in Tabelle 14 genannten Grundsätzen ausführlich das Verhältnis der Einfachheit zum Grundsatz der fiskalischen Ergiebigkeit sowie das Verhältnis zur Leistungsfähigkeit und zur Allokationseffizienz, wobei diese die ordnungspolitischen Prinzipien umfasst [siehe III.1.a) bis III.1.c)]. Von großer Bedeutung ist auch der Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung [siehe II.1.a)].259
1. Der Grundsatz der Einfachheit: Transparenz, Praktikabilität und Wohlfeilheit In der bisherigen Diskussion von Besteuerungsgrundsätzen hat die Einfachheit keine besondere Rolle gespielt. In der Regel diskutiert man sie innerhalb der „steuerrechtlichen und steuertechnischen Grundsätze“, nachdem die übrigen Kategorien von Besteuerungsgrundsätzen behandelt sind (vgl. Tabelle 14). Einfachheit fasst innerhalb dieser Gruppe die Grundsätze der Transparenz, der Praktikabilität und der Wohlfeilheit zusammen. Unter Transparenz der Besteuerung versteht Neumark sowohl den Aspekt der Bestimmtheit als auch die Verständlichkeit und Eindeutigkeit der allgemeinen Steuerrechtsnormen. Er definiert als Grundsatz der Steuertransparenz, dass „[...] die Steuergesetze [...] so zu gestalten [sind], dass sie das technisch und rechtlich mögliche Höchstmaß an Gemeinverständlichkeit aufweisen und ihre Vorschriften derart eindeutig und bestimmt sind, dass sie Zweifel über die Rechte und Pflichten der Steuerzahler bei diesen selbst ebenso wie bei den Steuerverwaltungsbehörden und damit Willkür bei Veranlagung und Erhebung [...] ausschließen.“260
Während Sir Josiah Stamp noch unter Praktikabilität fast ausschließlich die rechtlichen Möglichkeiten und die personellen Ressourcen der Steuerverwaltung diskutiert, um die Steuern durchzusetzen,261 bezieht Neumark schon beide betroffene Parteien, die Steuerzahler ebenso wie die Steuerbehörde, mit ein. Er versteht unter Praktikabilität, dass die Steuerpolitik so zu gestalten ist, dass ___________ 259 Nicht diskutiert werden das Redistributionspostulat und die prozesspolitischen Prinzipien. Das Redistributionsprinzip erfordert eine progressive Besteuerung, deren einziger Konflikt mit der Einfachheit darin besteht, dass die Steuerpflichtigen statt einer „flat rate“ eine Steuerformel auf ihre zu versteuerndes Einkommen anwenden müssen. Bei den prozesspolitischen Prinzipien gilt für die Einkommensbesteuerung, dass diese kaum durch geeignete Ausgestaltung, sondern mehr oder weniger durch ihre bloße Erhebung erfüllt werden. Vgl. Neumark, 1970, S. 286 f. und 302 f. 260 Neumark, 1970, S. 342. 261 Stamp, 1923, S. 103 f.
I. Das Verhältnis der übrigen Besteuerungsgrundsätze zur Einfachheit
123
„ihre Maßnahmen und die mit ihnen verfolgten Ziele dem intellektuellen Verständnis und den politischen Neigungen des durchschnittlichen (typischen) Pflichtigen einerseits, den institutionellen und fachlichen Kapazitäten der Veranlagungs-, Erhebungsund Kontrollbehörden andererseits entsprechen, so daß sie effizient anwendbar und durchsetzbar sind.“262
Mit dieser begrifflichen Abgrenzung der Praktikabilität ist auch ein Aspekt der Stetigkeit des Steuerrechts einbezogen. Angesichts der inzwischen jährlich erfolgenden Steueränderungsgesetze geht vielen Steuerpflichtigen allein wegen der Häufigkeit der Änderungen der Überblick über das verloren, was geltendes Recht ist. Genau dies widerspricht dem Grundsatz der Praktikabilität. Als dritten, hier anzusprechenden Grundsatz ist die so genannte Wohlfeilheit zu diskutieren, die sich in einem weiteren Verständnis auf die Wirtschaftlichkeit der Steuererhebung insgesamt bezieht, also die Erhebungsbilligkeit263 ebenso einbezieht wie die Entrichtungsbilligkeit.264 Entsprechend ist unter Wohlfeilheit zu verstehen, dass „die Zusammensetzung eines Steuersystems und die technische Ausgestaltung seiner Elemente so vorzunehmen [ist], daß die mit der Veranlagung, Erhebung und Kontrolle verbundenen Aufwendungen sei es der Finanzbehörden, sei es der Pflichtigen insgesamt nicht das Mindestmaß überschreiten, das sich bei gebührender Beachtung der übergeordneten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ziele der Besteuerung als erforderlich erweist.“265
Hingegen bezieht sich der Begriff der Wirtschaftlichkeit aus der Aufgabenbeschreibung des Bundesrechnungshofes in Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG nur auf das Handeln des Staates.266 Aus ökonomischer Sicht macht es jedoch keinen Sinn, die Kosten der Steuerentrichtung auf Seiten der Steuerzahler auszublenden. Nicht nur bei Neumark, sondern auch bei neueren Autoren nimmt der Grundsatz der Einfachheit eine untergeordnete Rolle ein. So betont Bareis, dass Einfachheit kein eigenständiges Ziel sei, welches dasselbe Gewicht beanspruchen könne wie die Ziele der Allokationseffizienz oder der Umverteilung.267 Für ihn ist das primäre Ziel die Effizienz, darauf folgt die Umverteilung, und erst nach dieser spielt die Einfachheit eine Rolle.268 ___________ 262
Neumark, 1970, S. 358. Vgl. Neumark, 1970, S. 342 ff. Tipke/Lang, 2002, S. 178 f. bezeichnen dies auch als Wohlfeilheit und rechnen diese der Praktikabilität zu. 264 Vgl. dazu Neumark, 1970, S. 369. 265 Neumark, 1970, S. 372. 266 Vgl. dazu ausführlicher Jachmann, 1998, S. 196. Auch Heun, 2000. 267 Bareis, 1996, S. 37. 268 Siehe Bareis, 1996, S. 38. 263
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
Diese Hierarchie verkennt die oben dargelegten Interdependenzen der Ziele. Wenn sich eine zunehmende Anzahl der Steuerpflichtigen aufgrund der Komplexität der Besteuerung derselben entziehen, gefährdet dies sowohl das Umverteilungs- als auch das Effizienzziel. Diese sind im Übrigen auch schon dann gefährdet, wenn eine ansteigende Zahl von Steuerpflichtigen mehr zahlt als ihrer Steuerpflicht entspricht, etwa weil sie den Aufwand der genauen Ermittlung scheuen. Wie im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, reagieren Individuen im Kontext der Steuerzahlung auf Unsicherheit und Komplexität durch Nichtdeklaration von Einkommen. Sie entziehen sich den steuerrechtlichen Anforderungen, weil sie den Normen nicht zutrauen, objektiv eine gleichmäßige Steuerlastverteilung zu erreichen, weil sie verärgert oder frustriert über die an sie gestellten Anforderungen bei der Ermittlung der Steuerpflicht sind, oder weil sie sich subjektiv ungerechtfertigt belastet fühlen. Wenn die Steuervereinfachung das „Gebot der Stunde“269 ist, dann sollte dies Anlass bieten, auch die Grundsätze der Besteuerung und ihre Wechselbezüglichkeit zu überdenken. Der Grundsatz der Einfachheit beansprucht dabei nicht, dem Leistungsfähigkeit oder der Allokationseffizienz den Rang abzulaufen. Aber keines dieser Ziele kann ausreichend realisiert werden, wenn eine angemessene Einfachheit nicht dafür sorgt, dass die Steuer ausreichend akzeptiert und vor allem befolgt wird. In diesem Sinne bildet die Einfachheit eine Grenze für die Verfolgung aller anderen Ziele. Sie stellt mit anderen Worten eine notwendige Bedingung für eine dem Gleichheitssatz entsprechende Steuer dar.
2. Das Verhältnis zur Allgemeinheit der Besteuerung Allgemeinheit bedeutet, „dass alle Bürger (Universalitätsprinzip) ihr gesamtes Einkommen (Totalitätsprinzip) versteuern.“270 Neumark definiert den Grundsatz der Allgemeinheit dadurch, „daß einerseits alle [...] Personen, sofern sie über steuerliche Leistungsfähigkeit verfügen und einer der gesetzlich statuierten Steuerverpflichtungsgründe auf sie zutrifft, ohne Rücksicht auf außerökonomische Kriterien wie (rechtliche) Staatszugehörigkeit, Stand, Klasse, Religion, Rasse usw. zur Steuer herangezogen werden und daß andererseits im Rahmen einer Einzelabgabe Ausnahmen von der subjektiven oder der objektiven Steuerpflicht nur insoweit zugelassen werden, wie das aus gesamtwirt-
___________ 269 So Jachmann, 1998, S. 194, die damit die Forderung nach einer sachlichen Rückführung auf klare Strukturen und nicht nur nach formal vereinfachter Ausgestaltung etwa durch weniger Paragraphen verbindet. 270 Tipke/Lang, 2002, S. 77.
I. Das Verhältnis der übrigen Besteuerungsgrundsätze zur Einfachheit
125
schafts- sozial-, kultur-, gesundheitspolitische oder steuertechnischen Gründen als geboten scheint.“271
Davon unterscheidet Neumark den Grundsatz der Gleichmäßigkeit, der nach seiner Auffassung auf die Gleichartigkeit der steuerlichen Behandlung bei gleichen steuerlich relevanten Verhältnissen abhebt. Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit bedeutet, dass „Personen soweit sie zu irgendeiner Steuer herangezogen werden und sich in gleichen oder gleichartigen steuerlich relevanten Verhältnissen befinden, in Bezug auf die betreffende Steuer gleich zu behandeln [sind].“272
Aus heutiger Sicht sind beide Punkte unter den Grundsatz der Allgemeinheit zu subsumieren. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung ist im deutschen Verfassungsrecht im Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG angelegt und entfaltet für die Besteuerung eine „überragende Bedeutung“.273 Diese Norm gebietet die Gleichheit vor dem Gesetz und damit auch vor dem Steuergesetz. In der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts verlangt der Gleichheitssatz „[...] für das Steuerrecht, daß die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden.“ Und um deutlich zu machen, dass daraus auch direkte Anforderungen an den Vollzug von Steuergesetzen gestellt sind, führt das Gericht aus, dass der Gesetzgeber die Steuerehrlichkeit durch „hinreichende, die steuerliche Belastungsgleichheit gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen [muss]. Im Veranlagungsverfahren bedarf das Deklarationsprinzip der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip.“274
Damit legte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber darauf fest, nicht nur entsprechende gleichheitsschaffende Steuergesetze zu verabschieden, sondern auch deren gleichheitsbeachtenden Vollzug sicherzustellen. Ist das nicht gewährleistet, verstößt die Steuer gegen den Gleichheitssatz und die Allgemeinheit der Besteuerung. Nicht von ungefähr kam es zu diesem Urteil im Zuge der Zinsbesteuerung, der sich Steuerpflichtige in hohem Umfang entzogen haben, ohne eine Verfolgung durch die Vollzugsbehörden fürchten zu müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Aufstellung des Kontrollprinzips deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber sich in seiner Steuergesetzgebung an das Verhalten der Steuerpflichtigen anpassen muss, um die Allgemeinheit der Besteuerung zu gewährleisten. Dafür reicht es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht aus, dass es ein steuerrechtliches Belastungsziel ___________ 271
Neumark, 1970, S. 75. Neumark, 1970, S. 120. 273 Siehe Tipke/Lang, 2002, S. 4. 274 BVerfG vom 27. Juni 1991 – 2BvR 1493/89 – E 84, 239 (Zinsbesteuerung), hier S. 273. Vgl. auch Tipke/Lang, 2002, S. 75. 272
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
gibt, sondern das materielle Steuerrecht muss den Belastungserfolg so weit wie möglich gewährleisten: „Die steuerliche Lastengleichheit fordert mithin, dass das materielle Steuergesetz die Gewähr seiner regelmäßigen Durchsetzbarkeit so weit wie möglich in sich selbst trägt.“275
Diese Forderung ist umso schwieriger zu erfüllen, je komplizierter eine Steuer ausgestaltet ist, weil die Forderung nach Rechtsanwendungsgleichheit im steuerlichen Massenverfahren nur durch eine konsequente Orientierung am Regelfall zu bewerkstelligen ist.276 Bezogen auf den Grundsatz der Einfachheit bedeutet dies, dass Komplexität dem Postulat der Allgemeinheit widerspricht, wenn sich Steuerpflichtige der Besteuerung entziehen oder einfach entziehen können. Dabei ist zu konzedieren, dass keine Steuer Steuerhinterziehungen vollständig vermeiden kann. Gerade deswegen müssen aber Steuern so ausgestaltet sein, dass sie „allgemeinheitsfähig“ sind, indem sie einfach genug zu befolgen und einfach genug zu kontrollieren sind.
3. Das Verhältnis zur Leistungsfähigkeit Im Rahmen des deutschen Verfassungsrechts genießt das Leistungsfähigkeitsprinzip den Rang eines „obersten, rechtsgebietsprägenden Rechtsgrundsatzes“277 wie es zum Beispiel auch für die Privatrechtsautonomie im Zivilrecht in Anspruch genommen wird. Insofern laufen das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht berücksichtigende Reformvorschläge an den verfassungsrechtlichen Vorgaben vorbei. Für Neumark beinhaltet der Grundsatz der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit, dass die Steuertraglasten „unter Berücksichtigung aller für die Steuerfähigkeitsindikatoren bedeutsamen persönlichen Momente das Verhältnis der individuellen Leistungsfähigkeiten widerspiegeln und demgemäß die durch die Besteuerung bewirkten Einbußen der einzelnen an ökonomisch-finanzieller Dispositionskraft als relativ gleich schwer anzusehen sind.“278
Dieses Postulat ist indes nicht so zu verstehen, dass die Steuergesetzgebung den Weg einer immer weiter individualisierende und spezialisierenden Ausrichtung erfahren darf, denn dadurch gefährdet sie die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Vielmehr muss sie auf einen allgemein verständlichen und möglichst ___________ 275 BVerfG vom 27. Juni 1991 – 2BvR 1493/89 – E 84, 239 (Zinsbesteuerung), hier S. 271. 276 Vgl. dazu Jachmann, 1998, S. 203. 277 So Lang, 2000, S. 13 und Punkt 1 der Zusammenfassung. 278 Neumark, 1970, S. 135.
I. Das Verhältnis der übrigen Besteuerungsgrundsätze zur Einfachheit
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unausweichlichen Belastungsgrund zurückgreifen, der typisierend die Leistungsfähigkeit erfasst.279 Der Grundsatz der Einfachheit tritt in Konflikt mit dem Leistungsfähigkeitsgrundsatz, wenn die individuelle Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen vernachlässigt wird. Das wäre etwa der Fall bei der Kopfsteuer, die sicher eine der einfachsten Form der Besteuerung ist, gleichzeitig aber mit dem Belastungsgrund „menschliche Existenz“ jede Form von Leistungsfähigkeit völlig außer Acht lässt. Das Verhältnis von Steuervereinfachung und Steuergerechtigkeit ist deshalb durchaus spannungsvoll und allein über typisierende Betrachtungen zu lösen.
4. Das Verhältnis zur Allokationseffizienz Die zwei Hauptrichtungen in der finanzwissenschaftlichen Steuerliteratur sind die der optimal taxation, die auf die gesamtwirtschaftliche Effizienz der Besteuerung und damit die Verringerung der excess burden abhebt, und die der synthetischen Einkommensbesteuerung, die sich am Grundsatz der Leistungsfähigkeit orientiert, und damit Gerechtigkeitspostulate in Bezug auf die Lastverteilung des Steueraufkommens in den Mittelpunkt rückt. Kontrastiert man die beiden Ansätze,280 so ist die optimale Besteuerung im Rahmen der optimal taxation eine undifferenzierte Kopfsteuer, weil diese am wenigsten Verzerrungen auslöst.281 Im Rahmen der synthetischen Einkommensteuer wäre eine alleinige Einkommensteuer als Verwirklichung der Leistungsfähigkeit die Lösung.282
___________ 279
Vgl. dazu BVerfGE 96, 1 hier S. 6 f. und Jachmann, 1998, S. 203 f. Diese Kontrastierung berücksichtigt nicht, dass mittlerweile eine erhebliche Annäherung stattgefunden hat. So hat die „optimal taxation“ sich inzwischen mit Verteilungszielen auseinandergesetzt, und die „Leistungsfähigkeitsschule“ beschäftigt sich mit der Effizienz des Steuersystems. Siehe dazu Wiegard, 1989. Zum aktuellen Stand der Diskussion zwischen Ökonomen und Juristen siehe die Beiträge in Kirchhof/Neumann, 2001, insbesondere den Beitrag von Pollak, 2001. 281 Die Ausgaben- oder Konsumsteuer zählt zu den bevorzugten Lösungen, weil sie anders als die bestehende Einkommensteuer nicht zwischen Investitionen (einschl. Sparen) und Konsum zu Verzerrungen führt. Allerdings verzerrt auch sie die Entscheidungen zwischen Arbeit (und damit Einkommen für Konsum) auf der einen Seite und Freizeit auf der anderen Seite. 282 Nicht mit dem Leistungsfähigkeitsgrundsatz zu begründen ist der progressive Verlauf der Einkommensteuer. Dieser ergibt sich erst aus der Sozialstaatlichkeit nach Art. 20 Abs 1 GG. Vgl. Tipke, 1993, S. 430 ff., Fn 16 und Tipke/Lang, 1998. 280
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
Der grundlegende Widerspruch zwischen beiden Ansätzen besteht darin, dass eine vollkommen allokationsneutrale Alleinsteuer283 nicht dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit nach herrschendem Verständnis entspricht, eine vollkommen am Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichtete Alleinsteuer aber gravierende Allokationsverluste hätte. Da es hier vorwiegend um die Frage geht, in welchem Verhältnis die Allokationseffizienz zur Einfachheit steht, reicht es an dieser Stelle aus, die beiden Kriterien der Allokationseffizienz und der Leistungsfähigkeit als zwei zentrale Maßstäbe der Besteuerung zu erkennen und ihre weitgehende, aber keineswegs vollständige Unvereinbarkeit festzuhalten.284 Die in der Systematik der in Tabelle 14 unter Punkt III.1. genannten Besteuerungsgrundsätze, erstens, der Vermeidung steuerdirigistischer Maßnahmen, zweitens, der Minimierung steuerlicher Eingriffe in die Privatsphäre sowie, drittens, die Vermeidung ungewollter Folgen steuerlicher Beeinträchtigung des Wettbewerbs kann man unter Allokationseffizienz zusammenfassen. Neumark unterscheidet zwischen steuerdirigistischen und interventionistischen Maßnahmen. Während steuerdirigistische Eingriffe einzelnen Gruppen Vorteile verschaffen, richten sich interventionistische Maßnahmen an den allgemeinen und obersten Zielen der Wirtschafts- und Sozialpolitik aus.285 Interventionistische Maßnahmen sind nicht von der hier gewählten Operationalisierung abgedeckt. Im Kontext dieser Arbeit, in der es um die Einfachheit der Einkommensteuer geht, ist diese Einschränkung zulässig. Ginge es um das ganze Steuersystem, wäre Allokationseffizienz begrifflich weiter anzulegen.286 In modernem Sprachgebrauch ist eine Neutralität der Besteuerung bezüglich der privaten Produktions- und Konsumentscheidungen erwünscht, um Zusatzlasten zu vermeiden.287 Auf der Produktionsseite zählt man dazu etwa die Neutralität der Besteuerung hinsichtlich des Faktoreinsatzes oder auch der Rechtsform und kommt zu dem Ergebnis, dass jede Form der Besteuerung im Produktionsbereich verzerrende Wirkung hat. Wenn aber der Unternehmenssektor aus ___________ 283
Deswegen wird anstelle einer Kopfsteuer eher eine „flat tax“ auf das Einkommen diskutiert, siehe dazu grundlegend Hall/Rabushka, 1983. 284 Vgl. dazu Fuest, 2001, S. 133. 285 Siehe Neumark, 1970, S. 224. Die Einrichtung einer Steuer auf Umweltbeeinträchtigungen zur Vermeidung oder Verringerung eines Marktversagens ist demnach eine (in der Partialbetrachtung allokationssteigernde) Intervention. Sie ist nicht durch die Besteuerungsgrundsätze abgedeckt und möglicherweise führt die Einführung einer neuen Steuer zu einer Erhöhung der Entrichtungs- und Erhebungskosten. 286 Im Zusammenhang mit Umweltsteuern stellt sich etwa die Frage, ob es zu einer „double dividend“ kommen könnte, weil nicht nur Effizienzgewinne durch die Korrektur des Marktversagens, sondern auch durch die gleichzeitige Senkung anderer Steuern zu erwarten seien. 287 Vgl. dazu Slemrod, 1990, Homburg, 1997, S. 159 ff.; Bareis, 1996, S. 35.
I. Das Verhältnis der übrigen Besteuerungsgrundsätze zur Einfachheit
129
anderen Gründen – etwa der mangelnden Trennbarkeit zwischen betrieblicher und persönlicher Sphäre – dennoch besteuert werden soll, so sollte die Besteuerung wenigstens nicht zwischen verschiedenen Rechtsformen diskriminieren.288 Auf der Konsumseite versteht man unter Entscheidungsneutralität, dass eine Besteuerung keine Substitutionseffekte, sondern nur Einkommenseffekte auslöst, so dass die Nachfrage nach Produkten nicht verzerrt wird. Löst sie aber dennoch Substitutionseffekte aus, so lautet die Forderung, dass diese dann wenigstens für alle Produkte gleich hoch sein sollten.289 Bei der Beurteilung der Wirkungen von Komplexität auf die Allokationseffizienz ist zunächst hervorzuheben, dass mit zunehmender Komplexität nicht nur die Ermittlungskosten für die Steuerpflichtigen, sondern auch die Kontrollkosten für die Steuerbehörde steigen. Insofern führen komplexere Steuern notwendigerweise zu höheren Effizienzverlusten. Allein die Ermittlung der verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten für den Steuerpflichtigen bei einer komplexen Steuer kann zu einem Konsum- und Produktionsverhalten führen, das sich an den steuerlichen Spielräumen statt am Markt orientiert. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Aussagen zur Allokationseffizienz einer „historischen Steuer“ sich nur über Operationalisierungen treffen lassen. Tatsächlich sind in einer realen Welt der allenfalls drittbesten Lösungen Aussagen zur globalen Allokationseffizienz einer einzelnen Maßnahme nicht möglich. Auch wenn die Maßnahme in einer first-best Welt zu Verzerrungen führt, muss sie nicht dieselbe Wirkung in einer „drittbesten Welt“ haben.290 Geht man von Operationalisierungen wie Rechtsformneutralität und zu minimierenden Erhebungs- und Entrichtungskosten aus, so bilden Allokationseffizienz und Einfachheit keine sich widersprechende Ziele. Verstöße gegen die Einfachheit führen bei der vorgeschlagenen Operationalisierung zu Allokationsverlusten und Allokationseffizienz zu verfolgen, geht mit Vereinfachungen einher.
5. Das Verhältnis zur fiskalischen Ergiebigkeit Als viertes wesentliches Besteuerungsprinzip ist das der fiskalischen Ergiebigkeit hinzuzufügen. Es ist von so tragender Bedeutung, dass sich an ihm faktisch auch die gesamte Steuersystematik ausrichtet: Bei entsprechendem fiskalischem Bedarf durchbricht der Bedarf im steuerpolitischen Prozess alle anderen normativen Vorgaben und wird erst, wenn überhaupt, in der Rechtspre___________ 288 Siehe dazu Elschen, 1991, der auch den Zusammenhang von Rechtsformneutralität der Besteuerung und ihrer Allokationseffizienz herausstellt. 289 Vgl. Homburg, 1997, S. 178. 290 Siehe dazu anschaulich Homburg, 1997, S. 208.
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
chung des Bundesverfassungsgerichts von der Verfassung wieder eingeholt. Damit nimmt Deutschland im internationalen Vergleich eine Sonderrolle ein. In vielen Ländern, wie z. B. Großbritannien oder den USA, spielt das Verfassungsrecht keine oder nur eine relativ untergeordnete Rolle im Steuerrecht.291 Der fiskalische Bedarf taugt sicher nicht als normatives Kriterium für die steuersystematische Beurteilung eines Steuerreformvorschlags. Es herrscht aber Konsens, dass das gesamte Steuersystem vornehmlich dem Zweck der Erzielung von Staatseinnahmen dient, auch wenn bei einzelnen Steuern die Erzielung von Einnahmen Nebenzweck sein kann.292 Demzufolge muss sich jeder Reformvorschlag an seinen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte messen lassen. Fiskalische Ergiebigkeit tritt in Konflikt mit Vereinfachungsbestrebungen, wenn über Pauschalierungen und Typisierungen übermäßig hohe Abzugsbeträge z.B. bei den Werbungskosten angesetzt werden, um verfahrensaufwendige Einzelabrechnungen zu vermeiden. Derartige Vereinfachungen sind deshalb stets in Bezug auf ihre fiskalischen Auswirkungen hin zu beurteilen. Dabei sind aber die Kosten der Steuererhebung auf Seiten der Privaten mit zu berücksichtigen, um berechtigten Widerstand der Zensiten zu umgehen, weil andernfalls dieser Widerstand dazu führen kann, das Aufkommen merklich zu reduzieren. Die fiskalische Ergiebigkeit wird aber noch viel stärker beeinträchtigt, wenn der Gesetzgeber das Kriterium der Einfachheit bei der Steuerausgestaltung nicht beachtet, und die Steuerzahler Steuern hinterziehen, weil sie die Regelungen nicht mehr überblicken oder sie ihnen offenen Widerstand entgegenbringen. So zeigte das Experiment, dass es bei einer Steigerung der Komplexität der Steuer eben gerade nicht zu einer „Komplexitätsdividende“ in Form eines höheren Aufkommens für den Staat gekommen ist.
6. Zwischenergebnis Die vorangegangenen Abschnitte diskutierten die Interdependenz der Besteuerungsgrundsätze der Allgemeinheit, der Leistungsfähigkeit, der Allokationseffizienz und der fiskalischen Ergiebigkeit mit dem der Einfachheit. Da mangelnde Einfachheit mit einer höheren Steuerhinterziehung einhergeht, beeinträchtigt dies ___________ 291 Vgl. Lang, 2000, S. 10 und Fn 15. Zur Relevanz deutschen Verfassungsrechts für das Steuerecht siehe die Rechtsprechung des BVerfG zum Halbteilungsgrundsatz, zum Existenzminimum und auch zur nachgelagerten Besteuerung bei der Altersvorsorge. 292 Vgl. § 3 Abgabenordnung.
II. Reformvorschläge zur Vereinfachung der Einkommensteuer
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1. die Allgemeinheit der Besteuerung, 2. die Einhaltung des Leistungsfähigkeitsprinzips, 3. die Allokationseffizienz und 4. die fiskalische Ergiebigkeit. Sollen diese Ziele aber verfolgt werden, dann führt das zwangsläufig zu einer Neubewertung des Grundsatzes der Einfachheit. Im herkömmlichen Verständnis gilt dieser als subsidiärer Besteuerungsgrundsatz mit lediglich „steuertechnischer“ Bedeutung. In der Literatur herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Einfachheit entweder nicht als eigenständiges Ziel oder – falls doch – dann nur als untergeordnetes Ziel zu verstehen ist.293 Hält man daran fest, dass die Einfachheit nicht denselben Rang wie die Allgemeinheit der Besteuerung oder den Leistungsfähigkeitsgrundsatz einnimmt, dann ist zumindest deutlich herauszustellen, dass sie bei der Verwirklichung aller dieser Ziele eine notwendige Bedingung darstellt, die, wenn sie nicht erfüllt wird, zwangsläufig zu einem geringeren Zielerreichungsgrad bei den genannten Zielen führt.
II. Reformvorschläge zur Vereinfachung der Einkommensteuer Reformvorschläge zur Vereinfachung sind in Deutschland zahlreich. Sie reichen von der Hamburger Denkschrift und dem Gaddum-Papier, beide aus dem Jahr 1978,294 über die Bareis-Kommission 1995,295 den Uldall-Vorschlag von 1996296 und die Petersberger Beschlüsse von 1997297 bis hin zum Vorschlag einer Einfachsteuer (Heidelberger Entwurf)298 und der vereinfachten Einkommensteuer (Karlsruher Entwurf)299 aus dem Jahr 2001 – um nur einige zu nennen. Im Folgenden werden nur die beiden letztgenannten näher untersucht, weil sie zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze verfolgen. Der Heidelberger Entwurf der Einfachsteuer beruht auf dem Konsumsteuerkonzept300 und der ___________ 293
Siehe dazu Schmölders/Hansmeyer, 1980, S. 74; Bareis, 1996, S. 38. Siehe zu diesen beiden Hansmeyer, 1979, S. 65. 295 Siehe Bareis-Kommission, 1995. 296 Siehe Uldall, 1996. 297 Siehe Petersberger Beschlüsse, 1997. 298 Siehe Rose/DIW, 2001b und Rose/DIW, 2001a. 299 Siehe Kirchhof, 2001. 300 Vgl. dazu die zahlreichen Veröffentlichungen von Manfred Rose, z. B. Rose, 1996, Rose, 2002, Rose, 2005. 294
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
Karlsruher Entwurf der vereinfachten Einkommensteuer auf dem Prinzip der synthetischen Einkommensteuer.301 Beide Vorschläge werden hier ausschließlich unter dem Aspekt der Einfachheit diskutiert und von daher keineswegs vollständig gewürdigt.302
1. Der Einfachsteuervorschlag: Heidelberger Entwurf Dieser Abschnitt gibt einen kurzen Überblick über den Heidelberger Entwurf. Abschnitt a) schildert wesentliche Merkmale des Vorschlags. Abschnitt b) beurteilt diese unter dem Aspekt der Vereinfachung gegenüber der geltenden Einkommensteuer.
a) Merkmale des Vorschlags Der Einfachsteuervorschlag303 beruht auf vier Grundprinzipien, die gewissermaßen das Systemleitbild für seine Ausgestaltung konstituieren. Das erste Grundprinzip ist die Ausrichtung der Besteuerung auf das Lebenseinkommen anstelle einer Ausrichtung auf das periodische Einkommen wie sie die bestehende Einkommensteuer vornimmt. Das zweite Grundprinzip ist das der Integration von der Besteuerung des persönlichen Einkommens und des Gewinns von Unternehmen – und zwar unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens. Das dritte Grundprinzip beinhaltet die marktliche Bewertung der Besteuerungsgrundlagen. Und das vierte Grundprinzip ist schließlich das der Einfachheit und Transparenz. Finden diese vier Grundprinzipien konsequente Anwendung, so der Vorschlag, dann handele es sich um eine faire Besteuerung.304 Der Vorschlag nimmt für sich in Anspruch nicht nur ein aktueller Reformvorschlag zu sein, sondern auch als Referenzmodell für alle schrittweisen Reformschritte bei der Einkommensteuer dienen zu können.305 Das ist besonders deswegen interessant, weil er von einem einheitlichen Steuersatz ausgeht, in einem gestuften progressiven Tarif aber keinen Widerspruch zur lebenszeitlichen ___________ 301
Vgl. dazu erläuternd Kirchhof, 2002 und Bareis, 2002. Ausführlichere – und z. T. gegensätzlich ausfallende – Würdigungen der Vorschläge finden sich z. B. in Bizer/Rürup, 2004, Wagner, 2001, Tipke/Lang, 2002. 303 Die folgenden Abschnitte beziehen sich auf die beiden Publikationen Rose/DIW, 2001b (Konzept) und Rose/DIW, 2001a (Gesetz). 304 So Rose/DIW, 2001b, S. 2. 305 Insbesondere strebt der Heidelberger Entwurf an, Unternehmensbesteuerung und persönliche Einkommensbesteuerung zusammenzuführen. Gelänge dies, würde tatsächlich ein beträchtliches Vereinfachungspotential realisiert. Im hier relevanten Kontext spielt jedoch allein die persönliche Einkommensbesteuerung eine Rolle. 302
II. Reformvorschläge zur Vereinfachung der Einkommensteuer
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Besteuerung sieht. Dennoch soll ein einheitlicher Steuersatz von zum Beispiel 25% „zur Erreichung eines Höchstmaßes an Lasttransparenz und Einfachheit“306 für alle Einkommen gleichermaßen gelten. Fällt die Entscheidung zugunsten eines progressiven Tarifs sollten allenfalls drei Stufen von zum Beispiel 15%, 25% und 35 % gewählt werden.307 Die persönliche Einkommensteuer erfasst alle natürlichen Personen und belastet deren Einkommen aus Erwerbstätigkeit und alle Formen der Zuwendung, die aus der Erwerbstätigkeit fließen, zum Beispiel auch die Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung. Lediglich bei den Dividenden ist das Konzept durchbrochen, um zu gewährleisten, dass diese nur einmal belastet werden. Das gilt auch für die Zinsbesteuerung, bei der ebenfalls das Hauptziel ist, die Zinserträge nur einmal zu belasten. Der Vorschlag legt dabei ein so genanntes „Schutzzinskonzept“ zugrunde, das dafür sorgt, dass nur der „übermäßige“ Zinsertrag der Besteuerung unterliegt. Die Festlegung, was ein „übermäßiger“ Zinsertrag ist, soll anhand einer Standardisierung marktüblicher, mittelfristiger und risikofreier Kapitalanlagen zeitnah ermittelt werden.308 Ebenfalls steuerlich abzugsfähig sind Ausgaben zur Bildung von Humankapital. Der Vorschlag sieht vor, darunter alle berufsbezogenen Ausbildungskosten zu fassen, die von Studiengebühren bis hin zu Kosten für Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen reichen. Konsequent aus der lebenszeitlichen Ausrichtung leitet der Vorschlag eine Ausweitung von Verlustrückträgen für die letzten zehn Jahre her. Dies begünstige nicht nur neue Unternehmen am Markt, sondern fördere auch die Risikobereitschaft der Investoren. Im Ergebnis bildet das so genannte „marktbestimmte Einkommen“ aus den Einkünften durch Erwerbstätigkeit abzüglich der Mehrausgaben für die Lebensführung aus betrieblichem Anlass, den Ausgaben für Humankapitalbildung und den übrigen persönlichen Abzügen die Bemessungsgrundlage. Handelt es sich um negative Einkünfte, weil das Humankapital zum Beispiel über den Einnahmen aus der Erwerbstätigkeit liegt, erhält der Steuerpflichtige eine Rückzahlung, solange diese aus Steuerguthaben der letzten zehn Jahre gedeckt ist. Ist keine Aufrechnung möglich, wird der Verlust in aufgezinster Form in die folgenden Jahre vorgetragen – hier nennt der Vorschlag keine zeitliche Frist. Das „marktbestimmte Einkommen“ hält der Vorschlag für die Operationalisierung der „objektiven wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichti___________ 306
Rose/DIW, 2001b, S. 7. Siehe Rose/DIW, 2001b, S. 8. 308 Siehe Rose/DIW, 2001b, S. 5. 307
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
gen“.309 Die Sozialorientierung des Einkommens, anhand dessen der existentielle Lebensbedarf zu finanzieren ist, ist durch persönliche Abzüge gesichert, zu denen zählen: Erstens, „die dem Preisindex laufend angepassten Freibeträge zum Schutz des Konsumexistenzminimums für den Steuerpflichtigen und für die von ihm unterhaltenen Personen unter Berücksichtigung körperlicher und/oder geistiger Behinderungen“; zweitens, „Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung bis zur gesetzlichen Höhe“; drittens, „Mehrausgaben für die Lebensführung aus betrieblichem Anlass oder in Verbindung mit Ausgaben für Humankapital in begrenzter Höhe, zum Beispiel Verpflegungsmehraufwand und andere Reisekosten mit Pauschalansätzen.“310 Außergewöhnliche Belastungen sind nach dem Vorschlag zukünftig über Transferzahlungen auszugleichen. Davon ausgenommen allerdings sind dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen. Dies sei gerechter als Freibeträge, weil auch die nicht Steuern zahlenden Bürger von den Transferzahlungen profitierten.311
b) Beurteilung des Vorschlags Gegenüber der bisherigen Einkommensteuer führt der Vorschlag der Einfachsteuer zwar zu einigen Vereinfachungen, das eigentliche Potential an Typisierungen bei der geltenden Einkommensteuer bleibt jedoch ungenutzt. Die Vereinfachungen bestehen hauptsächlich in der Abschaffung des Ehegattensplittings sowie von Vorteilen für bestimmte Einkommensarten und der NichtBerücksichtigung von Spenden. Alle diese Vorteile sind jedoch weniger auf den anderen systematischen Ansatz der Einfachsteuer zurückzuführen und lassen sich ohne weiteres auch im Rahmen der synthetischen Einkommensteuer umsetzen. Deutliche Vereinfachungen bringt der Vorschlag der Einfachsteuer vor allem hinsichtlich der hier nicht näher thematisierten integrativen Besteuerung von Personen und Unternehmen sowie durch die Abschaffung der Abschreibungsregeln zugunsten des „Schutzzins“-Konzepts. Allerdings zeigt der Ansatz auch die damit verbundenen Einschränkungen, die vor allem in der Einführung der ___________ 309
Rose/DIW, 2001b, S. 6. Rose/DIW, 2001b, S. 7. 311 Siehe Rose/DIW, 2001b, S. 7. 310
II. Reformvorschläge zur Vereinfachung der Einkommensteuer
135
flat rate bestehen, weil andernfalls keine einheitliche Besteuerung des Einkommens von natürlichen und juristischen Personen erreicht werden kann.312 Diesen Vorteilen stehen auch einige eindeutige Nachteile in Bezug auf Vereinfachung gegenüber. Der Vorschlag stellt nicht schlüssig dar, warum ein einheitlicher Steuersatz einfacher und vor allem lasttransparenter sein soll als ein progressiv-linearer Tarif. Die Wahl einer flat rate ist eher mit ihrer Anreizwirkung als mit gesteigerter Einfachheit zu begründen. So lange der Tarif gleichmäßig gestaltet ist, erscheint ein linear-progessiver Tarif nicht unbedingt einfacher als ein gestufter oder eine flat rate. Sicher nicht vereinfachend ist die Regelung, dass alle Maßnahmen zur Bildung von Humankapital von der Bemessungsgrundlage abziehbar sind. Das öffnet neuen Abgrenzungsproblemen Tür und Tor und erschwert die Ermittlung des zu versteuernden Einkommens. Ebenfalls nicht vereinfachend wirkt, dass mit den „Mehrausgaben für die Lebensführung aus betrieblichem Anlass“ der bisherigen Werbungskostenbehandlung weitgehend entsprochen wird, ohne diese auf geeignete Weise zu pauschalieren. Dem im Vorschlag selbst aufgestellten Grundsatz der Orientierung am Lebenseinkommen entspricht die großzügige Regelung der Verlustrückträge von bis zu 10 Jahren und unbegrenzt in die Zukunft. Diese Regelung führt zu einem besseren intertemporalen Ausgleich bei periodisch schwankenden Einkommen, sie birgt jedoch auch erhebliche haushaltstechnische Risiken und beeinträchtigt damit die fiskalische Ergiebigkeit. Auf jeden Fall erschwert diese Regelung die Ermittlung des individuellen Steuerbetrages, weil jeweils für die letzten zehn Jahre die Steuerakten zu öffnen sind, um die Höhe der möglichen Verlustrückträge zu bestimmen.
2. Der Vorschlag der vereinfachten Einkommensteuer: Karlsruher Entwurf Analog zur Vorgehensweise beim Heidelberger Entwurf stellt dieser Abschnitt kurz die wichtigsten Merkmale des Karlsruher Entwurfs vor [Abschnitt a)], um sie dann unter dem Aspekt der Vereinfachung zu diskutieren [Abschnitt b)].
___________ 312 Ungeklärt bleibt an dieser Stelle das Verhältnis von Sozialstaatsprinzip und Steuertarif auf der einen Seite, und den Fairnessvorstellungen der Steuerzahler auf der anderen Seite. Letztere dürfte wiederum ausschlaggebend dafür sein, wie hoch die Akzeptanz einer „flat rate“ bei der Steuererhebung ausfällt.
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
a) Merkmale des Vorschlags Der Vorschlag der vereinfachten Einkommensteuer geht nach dem Grundsatz vor, der Steuerzahler solle seine Steuerpflicht selbst berechnen können – auch wenn er die Formeln nicht in jedem Falle nachvollziehen kann. Das Systembild des Vereinfachungsvorschlags rekurriert auf die Transparenz des Zusammenhangs von Steuerausgestaltung und Rechtfertigung. Im Vorwort ist herausgehoben, dass „die rechtfertigenden Gründe für eine Steuerbelastung für Jedermann bewusst werden, die Belastungsprinzipien allgemein verständlich sind und die Einkommensteuer wieder zu ihrer Grundfunktion, die Stärkung des Staatshaushalts, zurückkehrt.“313
So beklagt der Entwurf in der Begründung: „Der Homo oeconomicus in Deutschland sieht sich gedrängt, sich in den Verlustzuweisungsgesellschaften nach Verlusten zu sehnen, in den Abschreibungsgesellschaften auf größtmöglichen Wertverzehr zu hoffen, in der juristischen Torheit einer doppelstöckigen GmbH & Co KG Rechtsvergessenheit einzuüben, in der steuerlich veranlassten Fehlleitung von Einnahmen- und Ausgabenströmen Kapital stillzulegen.“314
Der zweite Grundsatz, den der Entwurf beinhaltet, ist, die Einkommensteuer von jeglichen Lenkungs- und Interventionstatbeständen zu befreien. Es soll das „einsichtige herkömmliche Belastungsprinzip“ wieder uneingeschränkt verbindlich machen: „Steuerbar sind die Markteinnahmen abzüglich der erwerbssichernden Ausgaben [...]“315 Zu den genannten Grundsätzen treten neben einer aufkommensneutralen Ausgestaltung außerdem hinzu: 1. die Zusammenfassung aller Einkünfte in einen einzigen Grundtatbestand, 2. die nachgelagerte Besteuerung von Altersbezügen, 3. die Erwerbsgemeinschaft der Ehepartner und die Unterhaltsgemeinschaft von Eltern und Kindern, sowie 4. die Lockerung des Bankgeheimnisses. Der Entwurf legt neben einem Existenzminimum einen gestuft-progressiven Tarif zugrunde, der bei 15% beginnt und bei einem Spitzensteuersatz von 35% endet. Die Begründung, sich von der ursprünglichen Idee einer wegen überproportionaler Marktnutzung gerechtfertigten progressiven Steuerbelastung zu trennen, beruht darauf, dass auch der gegenwärtige Tarif schon ein linearer Tarif mit sozialer Anfangkomponente sei.316 ___________ 313
Kirchhof, 2001 Kirchhof, 2001, siehe Punkt IV.II. 315 Kirchhof, 2001, siehe Punkt IV.I. 316 Kirchhof, 2001, siehe Punkt IV.III. 314
II. Reformvorschläge zur Vereinfachung der Einkommensteuer
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Von seinen Einkünften – Erwerbseinkünfte abzüglich Erwerbsausgaben317 – kann der Steuerpflichtige zunächst Abschreibungen absetzen. Alle Erwerbsgüter, die länger als ein Jahr nutzbar sind, werden linear abgeschrieben.318 Ebenfalls absetzbar sind in voller Höhe Verluste über den Verlauf der fünf auf das Verlustjahr folgenden Jahre.319 Ein Verlustrücktrag ist nicht vorgesehen. In der Begründung wird dazu ausgeführt, dass es das Nettoprinzip erfordere, negative Einkünfte in einem Veranlagungszeitraum auf andere Jahre übertragen zu können: „Allerdings ergibt sich daraus keine Notwendigkeit eines unbegrenzten Rück- und Vortrags von Verlusten. Grundsätzlich ist zeitnah zu besteuern [...].“320 Auf den Verlustrücktrag vollkommen zu verzichten, wird mit der damit verbundenen erheblichen Verwaltungsvereinfachung und den im Vergleich zum geltenden Steuerrecht niedrigeren Steuersätzen rechtfertigt, die den Liquiditätsnachteil ausgleichen würden. Schließlich kann der Steuerpflichtige von seinen Einkünften zur Ermittlung seines zu versteuernden Einkommens einen bestimmten Kindergrundfreibetrag abziehen (Existenzminimum), soweit kein Anspruch auf Kindergeld besteht. Für die Erfüllung gesetzlicher Unterhaltspflichten bei einem geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden Ehegatten ist ebenfalls ein bestimmter Grundfreibetrag vorgesehen.321 Ebenfalls abziehbar sind gezahlte Kirchensteuer und Zuwendungen an eine Körperschaft, die ausschließlich und unmittelbar steuerbegünstigte Zwecke im Sinne der §§ 51–68 Abgabenordnung verfolgt. Allerdings gibt es für letztere eine Höchstgrenze von 10% der Einkünfte des Steuerpflichtigen. Nicht abziehbar sind hingegen Aufwendungen zur Lebensführung, Aufwendungen für Geschenke an Personen, die nicht Arbeitnehmer des Steuerpflichtigen sind, Beiträge und Spenden an politische Parteien und Wählervereinigungen, Geldstrafen, Geldbußen und vergleichbare Sanktionszahlungen sowie geldwerte Leistungen im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen und Steuern vom Einkommen und die Umsatzsteuer für Umsätze, die Entnahmen sind.322 ___________ 317
Siehe Kirchhof, 2001, § 3, Abs. 1. Siehe Kirchhof, 2001, § 7, Abs. 1. Ähnlich wie beim Heidelberger Entwurf gibt es auch beim Karlsruher Entwurf einen Vorschlag für eine „vereinheitlichte Ertragsteuer“. Im hier relevanten Kontext findet das jedoch keine Beachtung. Siehe dazu Kirchhof, 2002, S. 12 ff. 319 Siehe Kirchhof, 2001, § 8. 320 Siehe Kirchhof, 2001, Begründung zu § 8. 321 Siehe Kirchhof, 2001, § 14 Abs. 1 und 2. 322 Siehe Kirchhof, 2001, § 5. 318
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
Von vorneherein unterliegen staatliche Sozialleistungen ebenso wenig der Steuer wie Leistungen aus einer Krankenversicherung und einer Unfallversicherung, soweit sie nicht als Ersatz für entgangene Einnahmen gezahlt werden, sowie der Pflegeversicherung, und sei es auch, dass diese an einen Angehörigen weitergereicht wird. Schließlich ist bemerkenswert, dass eine ganze Reihe von Abzugsteuern, zum Beispiel für Kapitalerträge sowie für direkt, aber nicht an Arbeitnehmer gezahlte Honorare et cetera die Einkommensteuer flankieren sollen.
b) Beurteilung des Vorschlags Die Vereinfachungsvorteile des Karlsruher Entwurfs gegenüber dem geltenden Einkommensteuerrecht liegen hauptsächlich in dem konsequenten Verzicht auf Lenkungstatbestände und der Abschaffung von Steuervergünstigungen wie für Nacht- und Sonntagsarbeit.323 Allerdings fehlt in dem Entwurf und seiner Begründung eine Diskussion der übrigen aus dem Einkommen herausgenommenen Einkünfte, die bisher in § 3 Einkommensteuergesetz enthalten sind. Es ist also zu vermuten, dass spätestens über die Durchführungsverordnung, wenn diese denn der richtige Ort dafür ist, viele der bisher ausgenommenen Einkünfte wieder in den Katalog aufgenommen werden. Eine weitere deutliche Vereinfachung besteht in der linearen Abschreibung, weil dadurch zahlreiche Sonderabschreibungstatbestände abgeschafft werden, die für unterschiedliche Investitionsgüter bestanden. Das gilt auch für die konsequente Einführung der nachgelagerten Besteuerung und die Behandlung der Erwerbsgemeinschaft über ein Realsplitting. Keine Vereinfachung ist indes in der Neugestaltung des Tarifs zu sehen und zu einer zusätzlichen Komplizierung führen die zahlreichen vorgesehenen Abzugsteuern auf Kapitalerträge und Honorare. Abzugsteuern setzen immer voraus, dass entsprechende Kontrollmitteilungen an die zuständigen Finanzämter gehen und dort ausgewertet werden. Sie sichern auf diese Weise sicherlich das Ziel der Allgemeinheit der Besteuerung und der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, aber sie stehen in direktem Konflikt mit der Einfachheit, weil ein enormer Informationsaufwand anfällt. Insgesamt findet auch der Karlsruher Entwurf aufgrund seiner Orientierung am Leistungsfähigkeitsprinzip keine Maßnahmen zur Vereinfachung, die den Aufwand der Ermittlung der Steuerpflicht deutlich senken würden. So ändert ___________ 323
Siehe dazu jedoch schon Bareis-Kommission, 1995.
III. Ergebnis
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der Entwurf weder etwas an der Werbungskostenbehandlung, noch mindert es den Aufwand beim Umgang mit Kapitalerträgen.
III. Ergebnis Die beiden Vorschläge zur Reform der Einkommensteuer zeigen deutliche Zeichen ihrer Herkunft. Der Heidelberger Entwurf ist aus der Tradition der Konsumbesteuerung heraus entstanden und stellt die damit verbundenen wachstumspolitischen Ziele in den Vordergrund. Aus diesen heraus entwickelt er konsequent einen Reformentwurf, der aber eher zufällig auch Vereinfachungen ergibt. Der Karlsruher Entwurf orientiert sich demgegenüber eng am Leistungsfähigkeitsgrundsatz und verfolgt schon aus diesem Grund das Konzept der synthetischen Einkommensteuer. Auch dieser Entwurf ist konsequent aufgebaut, führt aber, verglichen mit dem geltenden Recht, noch weniger zu tatsächlichen Vereinfachungen. Dieses Ergebnis erstaunt zumindest dann, wenn man von den jeweiligen Reformtiteln wie „Einfachsteuer“ und „Vereinfachte Einkommensteuer“ ausgehend erwartet hat, dass an der Einfachheit orientierte Reformentwürfe präsentiert würden. Das ist aber nicht der Fall. Der Heidelberger Entwurf hätte ebenso gut als „Steuer zur Förderung des Wachstums“ und der Karlsruher Entwurf mit nicht geringerer Berechtigung als „Leistungsfähigkeitsreform“ bezeichnet werden dürfen. Tatsächliche Vereinfachungen sind indes nicht zu erreichen, indem man ausgehend von bestimmten Zielpostulaten wie der Wachstumsfreundlichkeit oder der Leistungsfähigkeit eine Steuerkonzeption entwirft, um dann anschließend noch an der einen oder anderen Stelle, den Aufwand für die Erhebung oder Entrichtung zu reduzieren. Will man ein einfaches Steuerrecht schaffen, muss auch kein vollkommen neues Konzept der Einkommensteuer vorgelegt werden. Vielmehr ist ausgehend vom bestehenden Recht zu fragen, welche Normen denn zu dem größten Aufwand führen und auf welche Weise man diesen Aufwand reduzieren kann. Es ist mit anderen Worten danach zu fragen, wie denn der durchschnittliche Steuerpflichtige mit dem Recht umgeht und vor welchen Schwierigkeiten er steht. Ähnlich ist auf der Erhebungsseite vorzugehen. Auch hier empfiehlt es sich, anhand der problematischen Normen eine Neuorientierung des bestehenden Rechtes vorzunehmen. Ein gänzlich neues Recht zu schaffen führt im Zweifel zu einem höheren Verwaltungsaufwand als ein altes zu überarbeiten. Im Ergebnis ist deshalb festzuhalten, dass der Grundsatz der Einfachheit eine notwendige Bedingung für die Zielerreichung bei den Grundsätzen der Allgemeinheit, der Leistungsfähigkeit, der Allokationseffizienz und der fiskali-
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F. Einfachheit als Besteuerungsgrundsatz
schen Ergiebigkeit darstellt. Ohne das richtige Maß an Einfachheit kommt es zwangsläufig zu Einbußen bei den genannten Grundsätzen, weil Komplexität Steuerhinterziehung auslöst.
G. Ergebnis und Schlussfolgerungen Dieses Kapitel fasst die Ergebnisse aus den vorangegangenen Kapiteln noch einmal zusammen (Abschnitt I.), um daraus sowohl einige direkte Schlussfolgerungen für die Steuerpolitik des Gesetzgebers wie auch der verfassungsrechtlichen Steuerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu ziehen (Abschnitt II.). Ein greifbares Ergebnis zu ziehen, ist das offensichtliche Ziel jeder wissenschaftlichen Arbeit. Doch jedes Ergebnis ist unvollständig, das nicht auch offene Fragen für die weitere Forschung benennt (Abschnitt III.).
I. Ergebnis Ausgehend vom ökonomischen Grundmodell der Steuerhinterziehung ergibt sich ein Steuerzahlerrätsel, das darin besteht, dass die Steuerpflichtigen „zu wenig“ Steuern hinterziehen. Zu diesem Ergebnis kommt es, weil angesichts geringer Entdeckungswahrscheinlichkeiten und milder Strafen empirisch zu wenig Steuerhinterziehung zu beobachten ist. Um das Steuerzahlerrätsel zu lösen, lässt sich das ökonomische Grundmodell in der Weise modifizieren, dass rationale Regelbefolgung unterstellt wird. Dieses Modell geht davon aus, dass die Individuen angesichts komplizierter Entscheidungssituationen eine Kompetenz-Schwierigkeits-Lücke erfahren. Diese besteht in ihrer begrenzten Verarbeitungsfähigkeit von Informationen einerseits und der kompliziert erscheinenden Entscheidungssituation unter Unsicherheit andererseits. In derartigen Situationen greifen rationale Regelbefolger zu einer einfachen Regel, die sie „auf der sicheren Seite“ sein lässt. In der Konsequenz bedeutet dies, dass ein zunehmend kompliziertes Steuerrecht zu einem ansteigenden Aufkommen führt, weil die Zensiten, um auf der sicheren Seite zu bleiben, bereit sind, im Zweifel stets höhere Steuerbeträge zu entrichten. Dieses Ergebnis ist nicht nur kontraintuitiv, es vernachlässigt auch, dass Steuerpflichtige von deutlich mehr Motiven geleitet sein können als dem Bedürfnis nach Sicherheit. Um diese Motive abbilden zu können, bedarf es eines erweiterten Verhaltensmodells, das neben dem situativ-nutzenmaximierenden Verhalten des homo oeconomicus und dem rationalen Regelbefolgen auch noch weitere Verhaltensweisen berücksichtigt. Auf der Basis eines derartigen homo oeconomicus institutionalis lassen sich die zahlreichen Erkenntnisse der Steuerforschung einordnen, die Anhaltspunkte
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G. Ergebnis und Schlussfolgerungen
dafür liefern, dass Komplexität möglicherweise die Steuerehrlichkeit reduziert und Steuerhinterziehung fördert. Dafür spricht etwa die Existenz einer Steuermoral, die einmal durch Komplexität beeinträchtigt, nicht wieder in gleichem Maße herzustellen ist wie zuvor. Dafür spricht aber auch, dass eine Emotion wie Frustration, die durch die Überforderung durch Steuerkomplexität hervorgerufen werden kann, dazu führt, dass die Steuerpflichtigen lieber eine Steuerhinterziehung in Kauf nehmen als zu riskieren, unter Umständen zuviel Steuern zu bezahlen. Dieses Verhalten zeigen sie, obwohl damit eine objektive Nutzeneinbuße verbunden ist. Des Weiteren ist es auch möglich, dass aufgrund höherer Komplexität mehr Steuerpflichtige professionelle Steuerberater beauftragen mit dem Erfolg, dass diese die an sie gestellten Erwartungen durch aggressive Steuerberatung erfüllen müssen. Möglich ist auch, dass soziale Interaktionen wie die Orientierung an Referenzpersonen derartige Prozesse verstärkt und beschleunigt. Damit gibt es bereits eine ganze Reihe von Anhaltspunkten dafür, dass der Zusammenhang von Komplexität und Steuerhinterziehung nicht zwangsläufig so besteht, dass eine höhere Komplexität auch zu einer geringeren Steuerhinterziehung führen muss. Im Gegenteil, es erscheint unabhängig von der spezifischen Wirkungskette denkbar, dass eine höhere Komplexität zu einer höheren Steuerhinterziehung führt. Um diesen Wirkungszusammenhang zu belegen, ist ein Experiment durchgeführt worden, das anhand eines einfachen und eines komplexen Treatments das Verhalten von Probanden untersucht. Als Ergebnis des Experiments ist festzuhalten, dass ein positiver Zusammenhang von Steuerkomplexität in Form von Unsicherheit über das zu versteuernde Einkommen und Steuerhinterziehung besteht, der aus einer Aversion der Steuerpflichtigen gegenüber eine übermäßigen Steuerzahlung besteht, die sogar dann wirksam wird, wenn übermäßige Steuerzahlungen mit dem höchsten Erwartungswert verbunden sind. Anders als vom Modell des rationalen Regelbefolgers vorhergesagt, verhalten sich die Individuen nicht, als würden sie sich an eine einfache Regel halten, um auf der „sicheren Seite“ zu sein. Sie verhalten sich aber auch nicht, als ob sie ihre Auszahlungen maximieren, sondern lassen sich offenbar von anderen Motiven leiten. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass durch das komplexe Treatment eine Wirkung ausgelöst wird, die sich über das komplexe Treatment hinaus auch noch auf das nachfolgende einfache Treatment auswirkt. Im einfachen Treatment ist die Steuerhinterziehung deutlich höher, wenn es auf das komplexe folgt. Offenbar kommt es zu einem so genannten Hysteresis-Effekt auf die Steuerehrlichkeit. Unabhängig davon, welche Wirkungskette man genau unterstellt, zeigt sich außerdem, dass umfassende Anforderungen an die Steuerpflichtigen, denen diese nicht ohne weiteres nachkommen können, offenbar von diesen als unfair
I. Ergebnis
143
empfunden werden. Legt man als Kriterium eine „strikte Ehrlichkeit“ zugrunde, nach der im Zweifel das höchste Einkommen zu deklarieren ist, erweist sich das komplexe Treatment in seinen Auswirkungen auf die Steuerehrlichkeit als gravierend: Die strikte Ehrlichkeit fällt im komplexen Treatment deutlich geringer aus als im einfachen Treatment. Insgesamt ist aus diesen Ergebnissen zu folgern, dass Einfachheit als Sicherheit über das zu versteuernde Einkommen in Form von transparenten, praktikablen und in ihren Kosten vertretbaren Steuernormen eine zentrale Bedeutung zuzumessen ist. Das gilt in ganz besonderem Maß, wenn man die Auswirkungen von Steuerkomplexität auf die Allgemeinheit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung, auf die Leistungsfähigkeit und die fiskalische Ergiebigkeit betrachtet. Da mangelnde Einfachheit zu Steuerhinterziehung führt, beeinträchtigt dies unmittelbar die Zielerreichung bei den genannten drei Grundsätzen. Daraus folgt, dass der Grundsatz der Einfachheit neu zu bewerten ist. Zwar kann er nicht denselben Rang wie das Leistungsfähigkeitsprinzip beanspruchen, aber er bildet auch nicht nur eine von vielen mehr oder weniger zu erfüllenden Zusatzbedingungen, sondern stellt eine notwendige Bedingung zur Erreichung der zentralen Gestaltungsprinzipien des Steuerrechts dar. Vernachlässigt der Gesetzgeber die Steuereinfachheit, so vernachlässigt er unmittelbar die Leistungsfähigkeit, die Allgemeinheit und auch die fiskalische Ergiebigkeit einer Steuer. Dieses Ergebnis ist besonders relevant, weil bisher davon ausgegangen wurde, der Grundsatz der Einfachheit sei subsidiär zu erfüllen, wenn die vorrangigen Bewertungsgrundsätze hinreichend erfüllt sind. Das führt dazu, dass bei Steuergesetzen nur noch eine „angehängte“ Prüfung erfolgt, ob dasselbe Regelungsergebnis auch noch einfacher erzielt werden kann. Es erfolgt aber keine Optimierung der Grundsätze untereinander. Genau dieser Prozess der simultanen Optimierung ist aber erforderlich, wenn der Grundsatz der Einfachheit als notwendige Bedingung akzeptiert ist. Diese simultane Optimierung von Einfachheit und Leistungsfähigkeit, Allgemeinheit und fiskalischer Ergiebigkeit (um nur einige zu nennen) ist vom Gesetzgeber vorzunehmen und notfalls von der Verfassungsgerichtsbarkeit einzufordern. Auch bei den bestehenden Vorschlägen zur Reform der Einkommensteuer aus Heidelberg und Karlsruhe sind, obwohl sie nicht vom Gesetzgeber, sondern von unabhängigen Wissenschaftlergruppen entwickelt wurden, hinsichtlich der Einfachheit genau diese Bedenken vorzutragen: Beide Vorschläge entwickeln konsequent aus einem Leitprinzip eine Steuerkonzeption. Beim Karlsruher Entwurf ist dies die Leistungsfähigkeit, beim Heidelberger Entwurf die wachstumspolitische Ausrichtung. Bei beiden Reformkonzepten entstehen auch einige Vereinfachungen gegenüber dem herrschenden Recht. Beide Vorschläge erfordern aber in einzelnen Bereichen auch wieder einen deutlich höheren Auf-
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G. Ergebnis und Schlussfolgerungen
wand als bisher, so dass zu fragen ist, warum nicht ausgehend von der bestehenden Einkommensteuer nach tatsächlichen Vereinfachungen für die Steuerpflichtigen und die Steuerverwaltung gefragt wird.
II. Konsequenzen für die Steuerpolitik Steuerkomplexität entsteht aus zwei Gründen: Erstens, weil die Rechtsprechung dem Leistungsfähigkeitsprinzip in der Rechtsprechung relativ zum Grundsatz der Einfachheit zu hohe Bedeutung einräumt. Zweitens, weil der Gesetzgeber nur in Ausnahmefällen ein Interesse daran hat, Vereinfachungen durchzuführen. Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist auch im Steuerrecht nicht gering. Nicht erst seit der umstrittenen Entscheidung zum Halbteilungsgrundsatz und den Existenzminima für Kinder macht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber strikte Vorgaben für die Ausgestaltung des Steuerrechts. Die Rechtsprechung hat als Verfassungsgerichtsbarkeit, aber auch als Fachgerichtsbarkeit faktisch einen hohen Einfluss auf die Steuergesetzgebung. Ein wesentlicher Teil dieses Einflusses entsteht über „rechtliche Innovationen“, wenn das Bundesverfassungsgericht einen neuen Rechtsgrundsatz wie den Halbteilungsgrundsatz „entdeckt“ und seine Einhaltung fordert.324 Tatsächlich lässt sich aus dem Ansatz einer institutionenökonomischen Analyse des Bundesverfassungsgerichts zeigen, dass Bundesverfassungsrichter als Anerkennungsmaximierer entscheiden und deshalb ein elementares Interesse daran haben, sich persönlich anhand neuer Rechtsgrundsätze in ihrer Rolle zu profilieren.325 Unabhängig davon, ob darin – aufgrund der strukturellen Anreize und der Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der Gewaltenteilung – ein Judikationsversagen zu sehen ist,326 könnte man die grundsätzliche Ausgangsposition deshalb als günstig für eine verfassungsgerichtliche „Entdeckung“ des Besteuerungsgrundsatzes der Einfachheit ansehen. Allerdings entscheidet das Bundesverfassungsgericht unter einer Reihe von Restriktionen. Zu diesen zählt, erstens, dass sie ihre Entscheidungen, besonders dann, wenn es sich um innovative Entscheidungen handelt, sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch der breiten Öffentlichkeit begründen müssen, um Akzeptanz für ihre Entscheidung zu schaffen. Andernfalls verliert das Gericht seine
___________ 324
Siehe dazu Bizer, 2002a, S. 91. Vgl. dazu Bizer, 2002a und Bizer, 2000. 326 So Bizer, 2002a, S. 99–100. 325
II. Konsequenzen für die Steuerpolitik
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Anerkennung und riskiert damit auch, dass sein Einfluss reduziert wird.327 Zweitens, muss das Gericht, gerade weil keine effektiven materiellen Schranken für die Eingrenzung seines Kompetenzbereichs bestehen, darauf achten, dem Gesetzgeber genügend Spielraum für seine legislative Funktion einzuräumen. Mit anderen Worten: Das Gericht darf nicht zu einem Ersatzgesetzgeber werden. Ein neuer Rechtsgrundsatz muss folglich nicht nur neue Entscheidungsräume für das Gericht eröffnen, um attraktiv zu sein, sondern er muss auch in seinen Grenzen hinlänglich bestimmbar sein, damit der Gesetzgeber ihn akzeptiert. Genau daran dürfte es beim Besteuerungsgrundsatz der Einfachheit aber mangeln. Ähnlich wie beim Halbteilungsgrundsatz würde der Grundsatz der Einfachheit ebenfalls sehr weit reichen, ohne jedoch eine definierte Grenze bereits in sich zu tragen. Während der Halbteilungsgrundsatz unterhalb „der Nähe der hälftigen Teilung“ nicht mehr anwendbar ist, bezöge der Grundsatz der Einfachheit grundsätzlich alle Gesetzgebung im Steuerrecht ein und würde sie einer verfassungsgerichtlichen Prüfung zuführen. Ungeachtet dieses Argumentes – und ungeachtet der Tatsache, dass dem Gericht von betroffener Seite ein entsprechender Fall vorzulegen wäre – ließe sich der Grundsatz der Einfachheit aber auch in Form einer absoluten Zumutbarkeitsgrenze definieren, an der sich der Gesetzgeber orientieren könnte. Anders als die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, das gewissermaßen eine nachsorgende Funktion innehat, muss der Gesetzgeber für den Zustand des Steuerrechts, insbesondere der Einkommensteuer die volle Verantwortung übernehmen. Doch auch der Gesetzgeber besteht gemäß dem institutionenökonomischen Ansatz nicht aus selbstlosen, das Gemeinwohl maximierenden Individuen, sondern aus Stimmenmaximierern, welche die Steuergesetze nutzen, um bestimmte Gruppen zu bedienen. Um diese Gruppen genau zu treffen, be___________ 327 In den USA, die auf fast 200 Jahre „judicial review“ des Supreme Court zurückblicken können, hat sich gezeigt, dass die Rolle des Gerichts genau so stark war wie die Akzeptanz in der Öffentlichkeit reichte. So offenbarte etwa der Streit des USamerikanischen Supreme Court mit dem Präsidenten in den dreißiger Jahren, dass im Fall eines offenen Konfliktes das Gericht auf die öffentliche Meinung angewiesen ist. Vgl. Tindall, 1988, S. 1988. Damals hatte der amerikanische Präsident Roosevelt eine Machtbegrenzung des Supreme Court initiiert, die in einer „Court Packing Bill“ kulminierte. Vorangegangen war, dass der Supreme Court die prozedurale Norm des „due process“ zunehmend materiell interpretierte. Damit sicherte er sich weitgehende Zugriffsmöglichkeiten auf die Gesetzgebung. Um 1937 dem legislativen Akt der faktischen Kompetenzeingrenzung zuvorzukommen, blieb dem Supreme Court nur ein vorsorglicher Rückzug von seiner bisherigen Auslegung des „due process“. Mit diesem gewann es die Zustimmung in der Öffentlichkeit wie im Senat und kam so der „Court Packing Bill“ zuvor. Ausführlicher dazu ein Überblick bei von Hayek, 1991, S. 237–245, der im Supreme Court nur einen Garanten der Freiheitsrechte des Individuums sehen kann. Vgl. kritisch auch Clinton, 1989.
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G. Ergebnis und Schlussfolgerungen
darf es eines aufwendigen Steuerrechts, das über zahlreiche Ausnahmen festlegt, was als Einkommen im Sinne des Gesetzes gilt und was nicht. Die Erfahrungen mit der US-amerikanischen Steuerreform von 1986 zeigen zwar, dass grundsätzlich Steuervereinfachungen nicht unmöglich sind, aber in einem von Interessengruppen bestimmten Gesetzgebungsprozess auf jede substantielle Vereinfachung neue Versuche folgen, Ausnahmetatbestände für bestimmte Gruppen zu schaffen.328 Dasselbe Problem ist für die deutsche Steuergesetzgebung zu konstatieren, auch wenn ein entsprechender Vereinfachungsprozess wie in den USA 1986 bisher noch nicht stattgefunden hat. In den 1970er Jahren lenkte der Gesetzgeber von der Vereinfachung der Einkommensteuer einfach ab, indem er die Abschaffung kleinerer Steuern vorschlug.329 Vereinfachung ist – wie bereits erwähnt – ein öffentliches Gut, von dem alle profitieren und von dem keiner auszuschließen ist. Es besteht auch keine Rivalität im Konsum. Dies fordert dazu heraus, dass kein Individuum und keine Gruppe einen Beitrag zur Bereitstellung des Gutes leisten möchten. Im Gegenteil: Alle unterliegen dem Anreiz, sich als Trittbrettfahrer zu verhalten, indem sie für sich Sonderregelungen beanspruchen und damit die Einfachheit reduzieren. In der Summe aller Sonderregelungen kommt es dann zu einem komplizierten und nicht mehr für den Einzelnen durchschaubaren Steuerrecht. Aufgrund des Charakters eines öffentlichen Gutes fällt es Lobbygruppen nicht schwer, über massive Interessenvertretung im Gesetzgebungsprozess Steuererleichterungen für sich herauszuholen. Eine Lobby für Steuervereinfachung formiert sich hingegen nicht, weil davon die große Masse betroffen ist, die hohe Organisationskosten aufweist. Dies zeigt, dass Steuereinfachheit in zweifacher Weise ein öffentliches Gut darstellt. Erstens, weil einzelne Interessengruppen ein Trittbrettfahrerverhalten in Form von Ausnahmeregelungen aufweisen, zweitens, weil auch der Gesetzgeber auf Kosten der großen Masse der Steuerzahler sich als Trittbrettfahrer verhält, indem er Vergünstigungen für einzelne Gruppen gewährt, um sich so Stimmen zu sichern. Erst wenn die Komplexität der Steuer so groß ist, dass die Erosion der Steuerehrlichkeit die fiskalische Ergiebigkeit gefährdet, oder wenn sich der Widerstand in der breiten Masse aufgrund der hohen Normbefolgungskosten formiert, kann der Gesetzgeber ein politisches Interesse daran finden, Steuern zu vereinfachen. Zuvor überwiegt das Interesse an der Bedienung bestimmter Gruppen. Es ist in der Institutionenökonomik viel diskutiert, dass gerade langfristige Interessen in Demokratien häufig vernachlässigt werden, weil der ebenso typi___________ 328 329
Siehe dazu Slemrod, 1988, S. 156. Vgl. dazu Hansmeyer, 1979, S. 68.
III. Offene Fragen für die Forschung
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sche wie systembedingte Konkurrenzkampf der Parteien eine Perspektive über die jeweils laufende Legislaturperiode hinaus in der Regel nicht erlaubt. Wenn diese langfristigen Interessen zudem schwer organisierbar sind, ist ihre Wählerwirksamkeit so gering, dass die Parteien sie kaum beachten können.330 In der Folge kommt es zur „schleichenden Ausdünnung steuersystematischer und steuerrechtlicher Prinzipien“331 Das ist auch gegenüber dem Grundsatz der Einfachheit regelmäßig der Fall. Angesichts dieses ernüchternden Ergebnisses hinsichtlich des Gesetzgebers liegen zwei Schlussfolgerungen nahe: Erstens nimmt die Schwarzarbeit mit mittlerweile fast 15% des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland332 so massive Formen an, dass das originäre Interesse des Gesetzgebers, die fiskalische Ergiebigkeit, deutlich beeinträchtigt ist. Das dürfte wesentliches Motiv für ihn sein, Vereinfachungen tatsächlich durchzusetzen. Diese bestehen indes nicht notwendigerweise darin, neue steuersystematische Wege einzuschlagen, sondern in einer einfachen Überprüfung der Einkommensteuer daraufhin, welche Normen zu dem höchsten Aufwand bei Steuerpflichtigen und Steuerbeamten führen. Diese Normen sind so zu vereinfachen, dass der Aufwand für alle Betroffenen reduziert wird.333
III. Offene Fragen für die Forschung Der vorangegangene Abschnitt diskutiert zwei mögliche steuerpolitische Konsequenzen, als deren Akteure sich einerseits das Bundesverfassungsgericht, andererseits der Gesetzgeber erweisen könnte. Damit sind bereits zwei wesentliche Forschungsbereiche angesprochen, in denen sich offene Fragen stellen. Der eine Bereich bezieht sich auf die Bedingungen, den Grundsatz der Einfachheit verfassungsrechtlich zu fundieren und anhand operabler Maßstäbe auch messbar zu machen. Letzteres dürfte entscheidend dafür sein, dass nicht nur das Problem der Steuerkomplexität erkannt wird, sondern auch die Entwicklung des Steuerrechts in Bezug auf die Einfachheit nachvollziehbar ist. Letztlich bedarf es dafür breit angelegter empirischer Erhebungen, die zeitlichen und finanziellen Aufwand der Steuererklärung ebenso erfassen wie die Zugänglichkeit des relevanten Steuerrechts für den durchschnittlichen Steuerpflichtigen. ___________ 330
Siehe dazu Franke, 1993, S. 421 und zur Vereinfachung in den 90er Jahren S. 417–419. 331 Franke, 2000, S. 156. 332 Vgl. dazu Schneider, 2007. 333 Siehe dazu Bizer/Rürup, 2004 und den Darmstädter Entwurf für eine pragmatische Politik der Steuervereinfachung in Bizer/Lyding, 2002.
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G. Ergebnis und Schlussfolgerungen
Beide Ergebnisse wären auch für den Gesetzgeber von Nutzen, wenn man unterstellt, dass dieser trotz seines bedingten Zeithorizontes daran interessiert ist zu erfahren, welche langfristigen Auswirkungen sein Handeln hat. Darüber hinaus wäre aber auch die Frage nach den polit-ökonomischen Bedingungen einer umfassenden Steuervereinfachung, vor allem im Vergleich zur Steuerreform von 1986 in den USA, näher zu untersuchen. Schließlich wäre zu fragen, ob die Chancen einer Steuervereinfachung günstiger zu beurteilen wäre, wenn es mehr Möglichkeiten direkter Demokratie auf Bundesebene gäbe. Entscheidend für diese Frage dürfte nicht zuletzt sein, wie die Wahlbürger, die nicht deckungsgleich mit den Steuerzahlern sind, einzelne Ausdifferenzierungen im Steuerrecht beurteilen. Im Zuge der demographischen Entwicklung in Deutschland wäre zudem zu bedenken, dass ohnehin zunehmend mehr ältere Menschen bei den Wahlen entscheidend sind. Geht man davon aus, dass diese einen großen Teil des Wahlvolkes, aber nur einen geringen Teil der Steuerzahler stellen, könnte es bei Volksabstimmungen über das Steuerrecht zu Ergebnissen kommen, welche die Jungen zugunsten der Alten belastet. Abgesehen von dem direkten Einfluss auf die Steuergesetze könnte der Volksentscheid aber auch eine Möglichkeit darstellen, Einfachheit der Besteuerung als konstitutionelle Norm zu verankern. Damit sind lediglich die Forschungsfragen angesprochen, die im weiteren Kontext der Umsetzung von Steuervereinfachung entstehen. Es sind zwangsläufig auch viele Fragen im Kontext des Verhaltensmodells und des Experimentes offen geblieben. So ist zwar die Rolle von sozialer Interaktion im Hinblick auf Wahlen und Kommunikation unter den Steuerzahlern experimentell untersucht, aber im Hinblick auf die Rolle des Steuerberaters gibt es bisher keine Erkenntnisse der experimentellen Wirtschaftsforschung. Schließlich zeigte das Experiment, dass höhere Steuerkomplexität mit steigender Steuerhinterziehung einhergeht. Offen bleiben musste, welche Motive genau diesen Effekt auslösten. Eine zentrale Emotion in diesem Zusammenhang könnte Frustration sein. Es wäre lohnenswert, diesen Aspekt weiter zu untersuchen. Es wäre etwa zu fragen, ob die Rolle von Frustrationen über faktisch nicht einzuhaltende soziale Normen nicht auch weit über die Steuerhinterziehung hinaus von Bedeutung ist. Von großer Tragweite wäre auch, ob es erkennbare Schwellenwerte als Auslöser für Aggressionen und damit Steuerwiderstände gegen den Staat gibt.
Zusammenfassung Leitthese der Arbeit ist, dass Komplexität von Steuern zu höherer Steuerhinterziehung führt, wenn sie die Unsicherheit über die eigene Steuerpflicht erhöht. Diese These steht im Widerspruch zur herrschenden Meinung, die der Auffassung ist, dass „uncertainty chills the taxpayer.“ Wenn sich die herrschende Auffassung, nach der Steuerzahler auf Komplexität „verängstigt“ mit übermäßigen Steuerzahlungen reagieren, nicht bestätigt, hat das direkte Auswirkungen für die Steuerpolitik. Zu der herrschenden Auffassung kommt die Lehrmeinung, weil sie entweder von risikoaversen Individuen oder von rationalen Regelbefolgern ausgeht. Erstere müssten jedoch eine extrem hohe Risikoaversion aufweisen, so dass wenig realistisch scheint, dass Risikoaversion eine ausreichende Erklärung für steuerehrliches Verhalten darstellt. Letztere bilden sich bei Unsicherheit aufgrund einer Komplexitäts-Schwierigkeits-Lücke eine einfache Regel, mit deren Hilfe sie „auf der sicheren Seite“ bleiben. Die Kompetenz-Schwierigkeits-Lücke entsteht, weil sie eine Differenz zwischen der zu lösenden Aufgabe und den eigenen Lösungsfähigkeiten sehen. Da diese Lösungsfähigkeiten nicht auf einem einfachen Informationsproblem beruhen, lässt sich das individuelle Lösungsdefizit auch nicht anhand zusätzlicher Informationen lösen. Eine einfache Regel wie „ich bleibe auf der sicheren Seite“ löst hingegen das individuelle Entscheidungsproblem. Das Modell des rationalen Regelbefolgers ist in der Lage, das so genannte Steuerzahlerrätsel zu lösen. Dieses besteht darin, dass gemessen am ökonomischen Standardmodell eigentlich alle Steuerzahler Steuerhinterziehung begehen müssten, da Entdeckungswahrscheinlichkeit und Strafe zu einem positiven Erwartungswert der Hinterziehung führen. Die steuerpolitische Folgerung aus dem Modell ist jedoch, die Steuer schrittweise komplizierter zu gestalten, weil dies unmittelbar die Ehrlichkeit der Steuerzahler fördert. Jede komplexitätssteigernde Steuerreform erhöht noch die Kompetenz-Schwierigkeits-Lücke und führt damit zu einer Regelbildung, die „noch sicherer“ ist. Denkt man diesen Regelkreislauf zu Ende, geht eine nicht mehr zu durchschauende Steuerkomplexität mit absolut ehrlichen Steuerzahlern einher. Diese Schlussfolgerung erscheint abstrus. Folglich ist nach einem Verhaltensmodell zu suchen, das auf der einen Seite rationale Regelbefolgung und situative Nutzenmaximierung zulässt, zugleich
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Zusammenfassung
jedoch weitere Möglichkeiten von Verhaltensreaktionen auf Komplexität einbezieht. Anhand des homo oeconomicus institutionalis lässt sich zeigen, dass neben den genannten Verhaltensweisen auch mustergebundenes habituelles Verhalten, emotionales Verhalten sowie kognitive Grenzen eine zentrale Rolle einnehmen können. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Individuen soziale Präferenzen haben können, die keineswegs exogen gegeben sind, sondern vom institutionellen Rahmen, etwa sozialer Interaktion, abhängen und damit veränderbar sind. Im Kontext dieser Erweiterungen des Standardmodells ist nach den Wirkungen der Komplexität von Entscheidungsproblemen, und genauer nach den Wirkungen von Steuerkomplexität zu fragen. Institutionen formen den Entscheidungsraum, indem sie Normen für sozial akzeptiertes Verhalten schaffen und diese den Individuen vermitteln. Diese Normen können expliziter Natur sein und etwa in Gesetzen kodifiziert sein, aber sie können auch in Form von tacit knowledge den Individuen unbewusst in der Sozialisation vermittelt sein. Die Art und Weise ihrer Vermittlung beeinflusst nicht ihre Wirksamkeit. Individuen agieren nicht losgelöst von Institutionen, sondern sind in diese eingebettet. Soziale Interaktion findet letztlich über Institutionen statt. Bei komplexen Entscheidungsproblemen wächst die Bedeutung von sozialer Interaktion, weil nicht nur Referenzpersonen für habituelles Verhalten gesucht sind, sondern auch, weil die Interaktion etwa mit staatlichen Agenten oder besonders Fachkundigen das eigene Verhalten beeinflussen. Eine steigende Steuerkomplexität trifft etwa auf eine bestehende Steuermoral. Auch wenn diese anfänglich hoch ist, kann sie durch die zunehmende Komplexität erodieren, weil für den einzelnen etwa nicht mehr ermittelbar ist, welcher exakten Steuerpflicht er der Höhe nach unterliegt. Ist die Steuerpflicht nicht mehr oder nur noch mit Hilfe großen Aufwands exakt ermittelbar, fühlen sich die Steuerpflichtigen als latente Steuerhinterzieher. Die Steuermoral nimmt ab. Bewusste Hinterziehung wird zu einer möglichen Option. Bei habituellem Verhalten geht man von unreflektiertem Verhalten aus, dass durch Sozialisation und Nachahmung vermittelt ist und keinem rationalen Kalkül unterliegt. Individuen handeln habituell, wenn sie etwas so tun, wie sie es „schon immer“ gemacht haben. Je komplizierter Entscheidungssituationen sind, desto eher neigen Individuen sich an dem Verhalten zu orientieren, das Referenzindividuen einnehmen. Soziale Interaktion gewinnt an Bedeutung. Steuerkomplexität wirkt auf habituelles Verhalten, in dem sie wie jede Änderung der Entscheidungsvariablen eine Überprüfung des bisherigen Verhaltens provoziert. Bei deutlichen Zunahmen der Komplexität und konstanter Unsicherheit über die Entscheidungssituation steigt die Orientierungslosigkeit des Individuums und damit die Bedeutung von Referenzpersonen, an deren Verhalten sich der Steuerpflichtige orientieren kann.
Zusammenfassung
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Emotionales Verhalten ist durch seine spontane Reaktion gekennzeichnet. Auf der einen Seite können Emotionen dazu führen, dass überhaupt Entscheidungen zustande kommen, indem sie das Zögern begrenzen. Auf der anderen Seite können Emotionen spontane Entscheidungen hervorrufen, die durch einen bestimmten Reiz ausgelöst sind. Im Kontext von Komplexität spielen beide Aspekte von Emotionen eine wichtige Rolle. Steuern können heftige Emotionen verursachen wie zahlreiche Steuerrevolten zeigen. In einigen Fällen waren Steuern auch Auslöser für Revolutionen. Im Kontext von zunehmender Steuerkomplexität dürften die wahrscheinlichste Emotion jedoch Frustration über die gestellte, aber nicht (oder nur mit hohem Aufwand) zu erfüllende Aufgabe sein. Soziale Präferenzen beziehen ein, dass Individuen nicht nur im Hinblick auf ihre persönliche Situation Wertvorstellung verfolgen, sondern auch in Bezug auf andere Individuen und deren Verhalten. Diese Vorstellungen sind keineswegs stabil, sondern durchaus vom Verhalten der anderen Individuen sowie von der Bildung allgemeiner Normen abhängig. Komplexität erschwert, das Verhalten der übrigen zu erkennen und einordnen zu können. Geht man davon aus, dass Individuen bedingt ehrliche Steuerzahler sind, so vermindert Steuerkomplexität die Transparenz darüber, inwieweit die übrigen Steuerpflichtigen ihre Steuerpflicht erfüllen. Das senkt tendenziell die Bereitschaft, weiterhin ehrlich Steuern zu entrichten. Ähnlich verhält es sich mit der subjektiv empfundenen Gerechtigkeit. Auch wenn Komplexität häufig mit gesteigerter Einzelfallgerechtigkeit in Verbindung gebracht wird, mindert sie auch in Bezug auf die Lastverteilung die Transparenz, so dass komplizierte Steuern zu einer geringeren Steuerehrlichkeit führen können. Kognitive Grenzen sind dem eigentlichen Verhalten ebenso wie soziale Präferenzen vorgelagert. Sie beschreiben die begrenzten Möglichkeiten von Individuen, relevante Alternativen im Entscheidungsraum überhaupt wahrzunehmen und gegeneinander abzuwägen. Häufig bestimmen die gewöhnlich als frames bezeichneten Entscheidungsrahmen – etwa als Verlust oder Gewinn – in hohem Maße die Entscheidung. Im Kontext von Steuerkomplexität bestimmen die kognitiven Fähigkeiten der Steuerpflichtigen deren Entscheidungsraum. Die kognitiv Fähigen können sich ihren Steuerpflichten möglicherweise leichter entziehen als diejenigen, die kognitiv über geringere Fähigkeiten verfügen. Unabhängig davon, dass in diesem Zusammenhang von sehr spezifischen Fähigkeiten die Rede ist, führt Komplexität zu einem Vorteil einer bestimmten Gruppe. Die damit hervorgerufene Diskrepanz kann ihrerseits weitere Reaktionen auf die Steuerehrlichkeit etwa in Form sinkender Steuermoral oder subjektiv empfundener Ungerechtigkeit hervorrufen.
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Zusammenfassung
Die vorgestellten Wirkungsketten zwischen Steuerkomplexität und Steuerehrlichkeit legen nahe, dass mit zunehmender Steuerkomplexität die Steuerhinterziehung zu- und damit die Steuerehrlichkeit abnehmen kann. Auch wenn nicht alle genannten Aspekte des erweiterten Verhaltensmodell eindeutig in die Richtung sinkender Steuerehrlichkeit weisen – man denke an die Wirkung von Referenzpersonen – spricht einiges dafür, dass der in der Literatur unterstellte positive Zusammenhang von höherer Komplexität und höherer Steuerehrlichkeit nicht so zu beobachten ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass mit hoher Komplexität eine geringere Steuerehrlichkeit festzustellen ist. Darüber hinaus ist es möglich, dass ein so genannter Hysteresis-Effekt einsetzt, der erst sichtbar wird, wenn die komplexe Steuer nicht mehr besteht. Ob Komplexität Steuerhinterziehung positiv oder negativ beeinflusst, lässt sich letztlich nur empirisch klären. Zu diesem Zweck bietet sich ein experimenteller Test an, um die alleinige Wirkung von Steuerkomplexität beobachten und andere Effekte kontrollieren zu können. Der experimentelle Test bestätigt den Zusammenhang von steigender Steuerhinterziehung bei zunehmender Komplexität im Rahmen eines 2x2-faktoriellen Designs, bei dem Probanden sowohl einem komplexen als auch einem einfachen Treatment ausgesetzt sind. Im Experiment tritt außerdem ein Effekt auf, der sich als Hysteresis-Effekt interpretieren lässt, denn wenn auf das komplexe Treatment ein einfaches Treatment folgt, sind Steuerhinterziehungen zu beobachten, wie sie sonst nur im komplexen Treatment auftauchen. Spielen die Probanden hingegen das einfache Treatment zuerst, fällt die Hinterziehung deutlich geringer aus als in den komplexen Treatments. Entgegen der in der Literatur gelegentlich enthaltenen Behauptung kommt es auch nicht zu einem höheren Steueraufkommen in Form einer „Komplexitätsdividende“ für den Staat. Stattdessen bleibt das deklarierte Einkommen im Wechsel vom einfachen zum komplexen Treatment weitgehend gleich. Die Individuen wollen nicht zuviel zahlen und riskieren eher zu hinterziehen, obwohl der Erwartungswert der Steuerehrlichkeit stets den Erwartungswert der Steuerhinterziehung übertrifft. Zum anderen ist es durch die mangelnde horizontale und vertikale Lasttransparenz bedingt. Die Steuerzahler wollen nicht „der letzte Dumme“ sein. Im Ergebnis führen die Ansätze des rationalen Regelbefolgers und des homo oeconomicus insoweit in die Irre, als Komplexität empirisch mit mehr Steuerhinterziehung einhergeht, als es diese Ansätze prognostizieren. Um diese Einsicht steuerpolitisch umzusetzen, ist dem Grundsatz der Einfachheit eine größere Bedeutung unter den Besteuerungsgrundsätzen zuzumessen. Seine bisherige Interpretation als subsidiärer Besteuerungsgrundsatz gegenüber dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit berücksichtigt ungenügend, dass enge wechselseitige Bezüge zwischen diesen Besteuerungsgrundsätzen bestehen. So führt eine ausschließliche Verfolgung des Leistungsfähigkeitsgrund-
Zusammenfassung
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satzes zu steigender Steuerkomplexität, weil Individualgerechtigkeit nur mit höherer Normdichte zu erreichen ist. Mit zunehmender Komplexität steigt jedoch die Hinterziehung, die in direktem Gegensatz zum Leistungsfähigkeitsgedanken steht. Es liegt auf der Hand, dass dem Grundsatz der Einfachheit mindestens die Rolle einer notwendigen Bedingung gegenüber den Grundsätze der Leistungsfähigkeit, der Allgemeinheit und der fiskalischen Ergiebigkeit einzuräumen ist. Damit ist der Grundsatz der Einfachheit nicht mehr nachgeordnet zu beachten, sondern das Problem der Einfachheit ist simultan zu den genannten Besteuerungsgrundsätzen zu lösen. Steuerreformvorschläge sind darauf hin zu prüfen, ob sie unter Berücksichtigung der übrigen Besteuerungszwecke tatsächlich eine höhere Vereinfachung im Sinne der Einfachheit der Besteuerung erreichen. Dafür reicht es nicht aus, dass bestimmte Besteuerungsgrundsätze wie Leistungsfähigkeit oder Wettbewerbsneutralität zwischen den Rechtsformen oder Effizienz konsequent entwickelt sind, sondern sie müssen so verfolgt werden, dass die Einfachheit erhalten und relativ zur bestehenden Einkommensteuer gefördert wird. Die Einfachsteuer (Heidelberger Entwurf) basiert auf dem Konzept des konsumbesteuerten Einkommens. Sie orientiert sich konsequent an der Entlastung des Sparens und verfolgt das Ziel, Wirtschaftswachstum zu fördern. Zu diesem Zweck befreit sie Investitionen von der Besteuerung, das heißt, diese sind aus der Bemessungsgrundlage herauszurechnen. Da zu den förderungswürdigen Investitionen nicht nur die in Sach-, sondern auch die in Humankapital zählen, bereitet allein dies erhebliche Abgrenzungsprobleme in der Praxis und widerspricht damit der Einfachheit. Dasselbe gilt für die aufwendige Befreiung der Kapitaleinkünfte oberhalb des „Schutzzinses“, wenn eine Belastungsminderung auch über eine Abgeltungsteuer zu erreichen wäre. Die vereinfachte Einkommensteuer (Karlsruher Entwurf) verfolgt hingegen das Konzept der synthetischen Einkommensbesteuerung und versucht, alle Einkunftsarten in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen. Diesem Konzept widersprechen alle pauschalierenden und typisierenden Ansätze, weil sie die Leistungsfähigkeit des Einzelnen nicht exakt erfassen. Im Zusammenhang mit der Einfachheit der Besteuerung kommt es aber gerade darauf an, zu pauschalieren und zu typisieren, um den Aufwand für Steuerzahler und Steuerbeamte so gering wie möglich zu halten. Insofern genügt auch der Vorschlag der vereinfachten Einkommensteuer nicht dem Kriterium der Einfachheit. Polit-ökonomisch gibt es zwei Möglichkeiten, Steuervereinfachung voranzutreiben. So ist erstens möglich, dass das Bundesverfassungsgericht dem Grundsatz der Einfachheit in seiner Rechtsprechung zu höherer Geltung verhilft, in dem es ihn auf das geltende Steuerrecht anwendet. Zweitens ist denkbar, dass
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Zusammenfassung
der Gesetzgeber die Einfachheit durchsetzt. Letzteres dürfte aber nur dann der Fall sein, wenn die fiskalische Ergiebigkeit der Steuern so massiv gefährdet ist, dass das Interesse an der Wiederherstellung der Einfachheit größer ist als an einem weiteren Trittbrettfahren in Form von Steuervergünstigungen für einzelne Interessengruppen. Da Steuereinfachheit ein öffentliches Gut darstellt, hat nicht nur der Gesetzgeber ein Interesse an seiner Nutzung ohne zu seiner Bereitstellung beizutragen, sondern auch die Interessengruppen unterliegen demselben Anreiz, Steuereinfachheit zu fordern, ohne die eigenen Steuervergünstigungen vermissen zu wollen. Im Ergebnis zeigt die Arbeit ausgehend vom traditionellen Modellansatz, welcher das so genannte Steuerzahlerrätsel nicht zu lösen vermochte, den Beitrag des Modells des rationalen Regelbefolgers, in dem das Individuum aufgrund einer Kompetenz-Schwierigkeits-Lücke zu einer sicheren Regel greift. In diesem Modell findet das Steuerzahlerrätsel eine Lösung. Die Konsequenz dieses Modells ist jedoch, dass mit steigender Komplexität die Steuerzahler höhere Wahrscheinlichkeiten für Steuerüberzahlungen in Kauf nehmen, um auf der sicheren Seite zu bleiben. Dieser These setzt die vorliegende Arbeit entgegen, dass Komplexität empirisch mit sinkender Steuerehrlichkeit einhergeht und belegt dies anhand eines Experimentes. Dieses bestätigt nicht nur, dass Steuerkomplexität in Form von Unsicherheit über das zu versteuernde Einkommen zu höherer Hinterziehung führt, sondern legt nahe, dass es zu einem HysteresisEffekt der Steuerehrlichkeit kommt. Der volle Preis von Steuerkomplexität wird erst sichtbar, wenn wieder auf eine einfache Steuer umgestellt wird. Das legt nahe, den Besteuerungsgrundsatz der Einfachheit neu zu bewerten. Er ist nicht als subsidiär zum Leistungsfähigkeitsprinzip einzuordnen, sondern ist aufgrund seiner Wechselbezüglichkeit zu diesem als notwendige Bedingung für die Erreichung der Allgemeinheit, der Leistungsfähigkeit und der fiskalischen Ergiebigkeit einzustufen.
Anhang
I. Instruktionen Hier sind lediglich die Instruktionen für das komplexe Treatment und das einfache Treatment für die Reihenfolge „komplex-einfach“ abgedruckt. Für die umgekehrte Reihenfolge ergeben sich die Instruktionen analog.
1. Komplexes Treatment in der Reihenfolge „komplex-einfach“
Allgemeine Erklärungen für die Teilnehmer Sie nehmen nun an einem wirtschaftswissenschaftlichen Experiment teil, das von diversen Forschungsförderungsstellen finanziert wird. Bitte lesen Sie die nachfolgenden Erklärungen genau durch. Wenn Sie Fragen haben, dann richten Sie diese bitte an uns. Die Instruktionen, die Sie von uns erhalten haben, dienen ausschliesslich Ihrer privaten Information. Während des Experiments herrscht ein absolutes Kommunikationsverbot. Die Nichtbeachtung dieser Regel führt zum Ausschluss vom Experiment und von allen Zahlungen. Sie können in diesem Experiment Punkte verdienen. Mit den verdienten Punkten nehmen Sie dann an einer Lotterie teil. Je mehr Punkte Sie im Verlauf erwerben, desto höher ist Ihre Chance, den Gewinn zu erhalten. Die Auszahlungsregel wird weiter unten noch genau beschrieben. Sie bekommen am Ende des Experiments 10 DM für die Teilnahme. Wenn Sie gewonnen haben, erhalten Sie zusätzlich den Lotteriegewinn von 15 DM. Die Auszahlung erfolgt in bar. Ablauf des Experiments Das Experiment hat den folgenden Ablauf. Sie erhalten in jeder Runde vom Computer ein tatsächliches Einkommen nach dem Zufallsprinzip zugeteilt. Dieses Einkommen kann fünf verschiedene Werte annehmen, wie in der folgenden Tabelle dargestellt. Tatsächliches Einkommen 120 125 130 135 140
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Jedes dieser tatsächlichen Einkommen ist gleich wahrscheinlich, d.h. die Wahrscheinlichkeit, ein Einkommen von 120 zu erhalten, ist genau so hoch, wie die ein Einkommen von 125 zu erhalten usw. Ihre Aufgabe besteht nun darin, eine Steuererklärung abzugeben. Dies bedeutet, dass Sie ein Einkommen deklarieren müssen. Sie müssen Ihr Einkommen allerdings deklarieren, bevor Sie Ihr tatsächliches Einkommen kennen. Sie können ein Einkommen von 120, 125, 130, 135 oder 140 deklarieren. Die Steuern, die Sie auf das deklarierte Einkommen bezahlen müssen, sind 25 Prozent. Dies bedeutet z.B., dass wenn Sie ein Einkommen von 120 deklarieren, Steuern in Höhe von 120 * 0,25 = 30 Punkten bezahlen müssen. Deklarieren Sie hingegen z.B. ein Einkommen von 140 beträgt die Steuerlast 140 * 0,25 = 35 Punkte usw. Nachdem Sie Ihr Einkommen deklariert haben, erfahren Sie wie hoch Ihr tatsächliches Einkommen in der laufenden Periode ist. Das tatsächliche Einkommen kann nun höher, tiefer oder gleich hoch sein, wie das von Ihnen deklarierte. In 20 Prozent der Fälle überprüft die Steuerbehörde, ob Ihr tatsächliches Einkommen dem deklarierten Einkommen entspricht. Wenn Ihr deklariertes Einkommen höher ist als das tatsächliche Einkommen, erhalten Sie die Zuvielzahlung zurück. Wenn Ihr deklariertes Einkommen gleich hoch ist wie das tatsächliche Einkommen gibt es weder einen Abzug, noch erhalten Sie etwas zurück. Falls aber die Behörde geprüft hat, und Ihr deklariertes Einkommen ist geringer als das tatsächliche Einkommen, müssen Sie einen Abzug bezahlen. Dieser Abzug ist das Sechsfache der Differenz von tatsächlichem abzüglich deklariertem Einkommen, d.h. Abzug = 6 * (tatsächliches Einkommen – deklariertes Einkommen). Die Steuerbehörde begeht also in zweifacher Hinsicht Fehler: Erstens, sie entdeckt nicht alle Steuerhinterziehungen. Zweitens, sie erstattet zuviel gezahlte Steuern nur bei einer Überprüfung zurück. Ihr endgültiges Einkommen in einer Periode hängt also davon ab, wie viel Steuern Sie bezahlen, ob Sie überprüft werden und ob, im Falle einer Überprüfung das tatsächliche Einkommen höher, gleich hoch oder geringer als das deklarierte Einkommen ist. Es gibt also drei Fälle: Wie berechnet sich Ihr endgültiges Punkte-Einkommen in einer Periode?
1. Fall: DE = TEa 2. Fall: DE < TE 3. Fall: DE > TE a)
Überprüft?
Endgültiges Einkommen ergibt sich aus ...
egal
= TE – 0,25 * DE
a) nein (80% der Fälle)
= TE – 0,25 * DE
b) ja (20% der Fälle)
= TE – 0,25 * DE – 6 * (TE – DE)
a) nein (80% der Fälle)
= TE – 0,25 * DE
b) ja (20% der Fälle)
= TE – 0,25 * DE + 0,25 * (DE – TE)
TE: tatsächliches Einkommen; DE: deklariertes Einkommen
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Falls keine Überprüfung erfolgt ist es folglich egal, ob Ihr tatsächliches Einkommen höher, gleich hoch oder tiefer als das deklarierte Einkommen ist. In diesem Fall zahlen Sie einfach 25 Prozent Steuer auf Ihr deklariertes Einkommen. Falls jedoch eine Überprüfung erfolgt (in 20 Prozent der Fälle), hängt Ihr endgültiges Einkommen davon ab, ob Ihr tatsächliches Einkommen höher oder tiefer als das deklarierte Einkommen ist. Zur Verdeutlichung, wie das endgültige Einkommen berechnet wird, hier noch vier kurze Beispiele und die folgende Übersicht über die Steuerbeträge je deklariertem Einkommen. Deklariertes Einkommen 120 125 130 135 140
Steuerbetrag 30 31,25 32,5 33,75 35
Beispiel 1: Ihr deklariertes Einkommen ist 130, Ihr tatsächliches Einkommen ist 130. Sie werden nicht überprüft. Ihr endgültiges Einkommen = 130 – 0,25*130 = 97,5. Beispiel 2: Ihr deklariertes Einkommen ist 130, Ihr tatsächliches Einkommen ist 140. Sie werden nicht überprüft. Ihr endgültiges Einkommen = 140 – 0,25*130 = 107,5. Beispiel 3: Ihr deklariertes Einkommen ist 130, Ihr tatsächliches Einkommen ist 120. Sie werden überprüft. Ihr endgültiges Einkommen = 120 – 0,25*130 + 0,25*(130 – 120) = 130 – 32,5 + 2,5 = 100. Beispiel 4: Ihr deklariertes Einkommen ist 120, Ihr tatsächliches Einkommen ist 130. Sie werden nicht überprüft. Ihr endgültiges Einkommen = 130 – 0,25*120 = 130 – 30 = 100. Beispiel 5: Ihr deklariertes Einkommen ist 120, Ihr tatsächliches Einkommen ist 130. Sie werden überprüft. Ihr endgültiges Einkommen = 130 – 0,25*120 – 6*(130 – 120) = 130 – 30 – 60 = 40. Am Ende jeder Periode sehen Sie, wie hoch Ihr tatsächliches Einkommen ist, und, ob Sie überprüft wurden oder nicht. Außerdem erfahren Sie Ihr endgültiges Einkommen. Insgesamt gibt es 10 Perioden. In jeder Periode weist Ihnen der Computer per Zufallsgenerator ein tatsächliches Einkommen zu und Sie bestimmen ein deklariertes Einkommen. Außerdem wird per Zufallsmechanismus bestimmt, ob Sie überprüft werden (20 Prozent Wahrscheinlichkeit) oder nicht überprüft werden (80 Prozent Wahrscheinlichkeit). Alle Perioden sind völlig unabhängig voneinander, d.h. Sie können sich in jeder Periode neu entscheiden, und sowohl Ihr tatsächliches Einkommen als auch eine Überprüfung ist völlig unabhängig davon, was in vorigen Perioden passiert ist. Alle Punkteeinkommen werden über alle 10 Perioden aufsummiert. Danach nehmen Sie an einer Lotterie teil. In dieser Lotterie können Sie 15,– DM gewinnen. Je höher Ihre
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Punktezahl aus dem Experiment, desto höher ist Ihre Gewinnchance. Bei –100 Punkten, dem theoretischen Minimum, haben Sie eine 0%ige Chance auf den Lotteriegewinn von 15,– DM. Bei einem Punktestand von 500 beträgt die Chance 50 %, bei 800 Punkten die Chance zu gewinnen 75 %. Bei einem Einkommen von 1100 Punkten, dem theoretischen Maximum, haben Sie eine 100 %ige Chance zu gewinnen. Gewichtet man die möglichen Ergebnisse mit ihren Wahrscheinlichkeiten, so ergibt sich als langfristig beste Strategie, immer das höchstmögliche Einkommen zu deklarieren. Das bedeutet, dass im statistischen Durchschnitt diejenigen das höchste Ergebnis erzielen, die immer ehrlich deklarieren. Im Einzelfall ist dies natürlich davon abhängig, welche Einkommen Sie erhalten und ob und wann Sie überprüft werden. Das theoretische Maximum ist mit dieser Strategie nicht erreichbar. Haben Sie noch Fragen? Kontrollaufgaben: Alle Fragen sind zu beantworten. Bitte schreiben Sie den ganzen Rechenvorgang nieder! Bei Fragen wenden Sie sich bitte an den Spielleiter. Aufgabe 1: Sie haben 135 Punkte deklariert. Ihr tatsächliches Einkommen beträgt 135 Punkte. Wie hoch ist Ihr endgültiges Einkommen? (102,25) Aufgabe 2: Sie haben 140 Punkte deklariert. Ihr tatsächliches Einkommen beträgt 130 Punkte. Sie werden nicht überprüft. Wie hoch ist Ihr endgültiges Einkommen? (95) Aufgabe 3: Sie haben 125 Punkte deklariert. Ihr tatsächliches Einkommen beträgt 135 Punkte. Sie werden nicht überprüft. Wie hoch ist Ihr endgültiges Einkommen? (103,75) Aufgabe 4: Sie haben 140 Punkte deklariert. Ihr tatsächliches Einkommen beträgt 130 Punkte. Sie werden überprüft. Wie hoch ist Ihr endgültiges Einkommen? (97,5) Aufgabe 5: Sie haben 130 Punkte deklariert. Ihr tatsächliches Einkommen beträgt 140 Punkte. Sie werden überprüft. Wie hoch ist Ihr endgültiges Einkommen? (47,5)
2. Einfaches Treatment in der Reihenfolge „komplex-einfach“
Allgemeine Erklärungen für die Teilnehmer Sie nehmen nun an noch einem wirtschaftswissenschaftlichen Experiment teil. Wenn Sie Fragen haben, dann richten Sie diese bitte an uns. Sie können auch in diesem Experiment Punkte verdienen. Mit den verdienten Punkten nehmen Sie dann wieder an einer Lotterie teil. Je mehr Punkte Sie im Verlauf des Experiments erwerben, desto höher ist Ihre Chance, den Gewinn zu erhalten. Die Regeln sind gegenüber dem vorangegangenen Experiment unverändert. Der einzige Unterschied ist, dass Sie jetzt Ihr tatsächliches Einkommen kennen, bevor Sie Ihre Steuererklärung abgeben müssen. Sie nehmen wieder an zehn Runden teil, und es besteht dieselbe Ent-
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159
deckungswahrscheinlichkeit (20%), derselbe Abzug (das Sechsfache des hinterzogenen Einkommens) und derselbe Rückzahlungsmodus für zuviel gezahlte Steuern. Sie nehmen am Ende des Experiments mit Ihren Punkten wieder an einer Lotterie teil. Auch hier gelten dieselben Bedingungen wie zuvor: Der Lotteriegewinn beträgt 15 DM, alle Punkteeinkommen werden über alle 10 Perioden aufsummiert. Je höher Ihre Punktezahl aus dem Experiment, desto höher ist Ihre Gewinnchance. Bei –100 Punkten, dem theoretischen Minimum, haben Sie eine 0%ige Chance auf den Lotteriegewinn von 15,- DM. Bei einem Punktestand von 500 beträgt die Chance 50 %, bei 800 Punkten die Chance zu gewinnen 75 %. Bei einem Einkommen von 1100 Punkten, dem theoretischen Maximum, haben Sie eine 100 %ige Chance zu gewinnen. Gewichtet man die möglichen Ergebnisse mit ihren Wahrscheinlichkeiten, so ergibt sich als langfristig beste Strategie, immer ehrlich zu deklarieren. Das bedeutet, dass im statistischen Durchschnitt diejenigen das höchste Ergebnis erzielen, die immer ehrlich deklarieren. Im Einzelfall ist dies natürlich davon abhängig, welche Einkommen Sie erhalten und ob und wann Sie überprüft werden. Das theoretische Maximum ist mit dieser Strategie nicht erreichbar. Die Auszahlung erfolgt in bar.
II. Abbildungen der Bildschirme Im Folgenden sind die drei Bildschirme des Experiments abgebildet, welche die Probanden nach Lektüre der Instruktionen und Beantwortung der Kontrollfragen auf dem Bildschirm vor sich haben. Auf die Abbildung der Lotterie wurde verzichtet. Bildschirm 1
160 Bildschirm 2
Bildschirm 3
Anhang
Anhang
161
III. Übersicht über die Erwartungswerte für alle Konstellationen von tatsächlichen und deklarierten Einkommen
Deklariertes Einkommen
120
125
130
135
140
a
Tatsächliches Einkommen 120 125 130 135 140 120 125 130 135 140 120 125 130 135 140 120 125 130 135 140 120 125 130 135
Erwartungswerta einfaches Treatment 90,00 89,00 88,00 87,00 86,00 89,00 93,75 92,75 91,75 90,75 88,00 92,75 97,50 96,50 95,50 87,00 91,75 96,50 101,25 100,25 86,00 90,75 95,50 100,25
140
105,00
Erwartungswerta komplexes Treatment
88
91,6
94,05
95,35
95,5
Die Erwartungswerte werden ausgehend von einem Steuersatz von 25%, einem Strafsatz von 6 und der Entdeckungswahrscheinlichkeit von 20% berechnet.
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Sachregister Belief 55 – als kognitive Grenze 48 – belief management 67 – und Emotionen 54–55 Besteuerungsgrundsätze 19, 21, 125 – Allgemeinheit 128 – Allokationseffizienz 131 – Einfachheit 14, 126 – fiskalische Ergiebigkeit 134 – Gleichheit 13 – Leistungsfähigkeit 13, 78, 130 – von Adam Smith 14 Bounded rationality 45, siehe auch Verhaltensanomalie Bundesverfassungsgericht 22, 129, 148, 151, 158 Eigennützigkeit siehe homo oeconomicus Emotionen – Aggression 88–90 – counterfactual 53 – duale Rolle 54 – Frustration 90–91 – Neid 86–88 – Scham 88 – soziale 53 – und beliefs 53 – vs. visceral factors 53 Endowment effect siehe Verhaltensanomalie Entdeckungswahrscheinlichkeit 28, 68, 82, 88, 99, 103, 108, siehe auch Steuerhinterziehung: Bestimmungsgrößen Experimentelle Studien – Diktator/Ultimatum Spiele 43 – endogene Präferenzen 44 – endowment effect 49 – Fairness und Reziprozität 45 – framing effects 82 – Gefangenen Dilemma/Kommunikation und Identifikation 59
– Gerechtigkeit im Steuersystem 79, 86 – kognitive Grenzen 46 – mental accounts 82 – saving game 85 – selektive Wahrnehmung 47 – semantische 72, 83 – soziale Normen 83 – Steuerhinterziehung, -komplexität und öffentliche Güter 97 – Steuerkomplexität als Spiel gegen die Natur 102 – Steuermoral 71 – Steuerrecht und Steuermoral 84 – Typologie der Steuerzahler 93 Framing Effekte siehe Verhaltensanomalie Gerechtigkeit siehe Präferenzen Homo libenter contribuens 63 Homo oeconomicus 17, 37, 44, 45, 140 – Kritik 39, 46 – Modell 39–41 Homo oeconomicus institutionalis 20, 59, 60–62, 63, 95 Homo stultus 63 Hystereseeffekt 76, 96, 122 – Definition 69 – experimentelle Ergebnisse 116 – Folgen 70 Institutionen 37, 43, 154 – Definition 56 – -sharing 59 – und Individuum 58 – und soziale Interaktion 56 – und Steuerkomplexität 64–77 – und Verhalten 56 Institutionenanalyse siehe homo oeconomicus institutionalis
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Sachregister
Institutionenökonomik 151 – alte 57 – neue 58 Interessengruppen 92, 148, 150, 151, 158 Intrinsische Motivation – crowding out 44 Kognitive Grenzen siehe Verhaltensanomalie Kommunikation siehe soziale Interaktion Kompetenz-Schwierigkeitslücke 31– 34, 145, 153 siehe auch Steuerzahlerrätsel Komplexität des Steuersystems – Definition 22 – im Verhaltensmodel siehe homo oeconomicus institutionalis – Komplexitätsdividende 34 – Kritik 34–36 – und Frustration 90 – und Gerechtigkeitspräferenz 77–81 – und habituelles Verhalten 91–93 – und Institutionen 21 – und kognitive Grenzen 81–86 – und Neid 87 – und Steuerehrlichkeit 17, 65–69 – und Steuerhinterziehung 15, 70, 92, 95, 106, 121, 124 Kooperation siehe Soziale Interaktion Moralkoeffizient 30 Normbefolgungskosten 14, 150 Öffentliches Gut 14, 98, 99, 106 Ökonomisches Prinzip siehe homo oeconomicus Peer group effects siehe soziale Interaktion Pfadabhängigkeit 58 Präferenzen – eigennützige 39 – endogene 43–45 – Fairness 44 – für Gerechtigkeit 16, 35, 77 – Gerechtigkeit und Komplexität 77– 81 – soziale 43–45
Prinzipal-Agenten-Beziehung 74, 76, 94 Rational choice 37, 42, 53 Regelbefolgung siehe regelgebundenes Verhalten Regeln siehe Verhalten Reliability ratio 33 Risiko siehe Unsicherheit Risikoeinstellung – bei Gewinnen 81 – bei Verlusten 81 – Risikoaversion 26, 37, 78, 101, 102, 103, 153 – Risikoneutralität 25, 103, 104, 105 Schwarzarbeit 14, 15, 18, 89, 151 Soziale Interaktion – Kommunikation 51, 57, 59, 72, 152 – Kooperation 68, 71, 101 – peer group effects 35, 60, 71, 73, 88, 91, 92 – soziale Kontrolle 87 – Steuerbehörde 76 – Steuerberater 74 – und direkte Demokratie 75 Staat 16, 34, 55, 66, 75 Steuerehrlichkeit siehe Steuermoral Steuereinfachheit – als öffentliches Gut 13 – Definition 22 Steuerhinterziehung – als Portfolioentscheidung 24 – Bestimmungsgrößen 24–26, 28 – Definition 23 – Grundmodell 24 – optimale 25 – und Gerechtigkeit 77 – und Steuermoral 29–31 – und Strafrecht 66 Steuermentalität 15, 30, 64, 68, 76, 93 Steuermoral – als Handlungspräferenz 30, 65, 69, 71 – als soziale Norm 72, 73 – Definition 29, 65 – Einflussgrößen 68 – im Hinterziehungskalkül 30 – internationale Vergleiche 67 – und Hystereseeffekt 69
Sachregister – und Institutionen 65 – und Komplexität 65–69 – und Steuermentalität 68 – und Steuerverhalten 66 Steuersatz 25, 26, 71, 99, 108, 110, 137, 141, siehe auch Steuerhinterziehung: Bestimmungsgrößen Steuervereinfachung 13 – Karlsruher Entwurf 140 – Reformvorschläge 135 – und case law 13 – und Gerechtigkeitsempfinden 80 – und Interessengruppen 13 – und Steuerwiderstand 14 Steuerwiderstand 14, 35, 89, 95, 134, 151 Steuerzahlerrätsel 20, 145 – Definition 27–29 – Lösungen 61 – und Kompetenz-Schwierigkeitslücke 31–34 – und Steuermoral 29 Strafe 28, 66, 68, 71, 82, 88, 99, 103, 108, siehe auch Steuerhinterziehung: Bestimmungsgrößen Tacit dimension 52, 56
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Ungewissheit 23, 52 Unsicherheit 95, 98, 102, 123 – Definition 22 – und Kompetenz-Schwierigkeitslücke 31 Verfassungsgerichtsbarkeit 147, 148 Verhalten – emotionales 53–55, 61 – Entscheidungsparameter 52–53 – habituelles 51–53, 57, 61, 91–93 – nutzenmaximierendes 25, 51, 58, 92, 96, siehe homo oeconomicus – regelgebundenes 20, 31, 42, 51 Verhaltensanomalie – endowment effect 39, 48–49, 82 – framing effect 81 – kognitive Grenzen 40, 42, 45–47, 61, 92 – Monty Hall’s Three Doors 46 – Referenzpunktabhängigkeit 49 – Verlustaversion 50, 81 Verhaltensmodell 37, 63, 145, siehe auch homo oeconomicus, homo oeconomicus institutionalis Verlustaversion siehe Verhaltensanomalie