MOEWIG EIN PLAYBOY TASCHENBUCH IM MOEWIG VERLAG
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MOEWIG EIN PLAYBOY TASCHENBUCH IM MOEWIG VERLAG
Zum Buch John W. Campbell jr. war als Redakteur des führenden SF-Magazins Astounding Science Fiction (später in Analog umbenannt) fast vier Dekaden lang eine der wichtigsten Leitfiguren der Science Fiction. Der nach ihm benannte Preis bezweckt das, was Campbell als Redakteur stets intensiv betrieben hat: die Förderung des schriftstellerischen Nachwuchses. Neue Stimmen im SF-Konzert werden vorgestellt, neue Autoren, die von den SF-Lesern in Amerika nominiert wurden und in die PreisverleihungsFinalrunde gelangten. Dieser erste, 1977 in Amerika veröffentlichte Band präsentiert die Autoren Lisa Tuttle, George R. R. Martin, Ruth Berman, George Alec Effinger und Jerry Pournelle, Nachwuchs, der zum größeren Teil inzwischen längst zur SF-Prominenz zählt.
Zum Herausgeber George R. R. Martin wurde 1948 in New Jersey geboren und veröffentlicht seit 1971. Er wurde mehrfach mit dem Hugo und dem Nebula ausgezeichnet und ist einer der erfolgreichsten SF-Kurzgeschichtenautoren der siebziger und achtziger Jahre. Viele seiner Erzählungen erschienen in der Moewig-Anthologiereihe Kopernikus sowie in Sammelbänden wie Die zweite Stufe der Einsamkeit (ebenfalls bei Moewig erschienen). Er ist Verfasser von bislang vier Romanen, von denen die beiden letzten, Fevre Dream und The Armageddon Rag (beide zur phantastischen Literatur und nicht zur SF zählend), in Amerika Bestsellererfolge wurden. Sein gemeinsam mit Lisa Tuttle verfaßter Roman Windhaven erscheint unter dem Titel Kinder der Stürme 1985 in der Moewig-SF-Reihe.
Science Fiction Preisträger 1
PLAYBOY Band Nr. 6742 Moewig Taschenbuchverlag Rastatt Meinen Eltern mit Liebe PLAYBOY, Häschenmarke, Playmate und Femlin sind registered trade marks von PLAYBOY Enterprises Inc. Chicago, USA Titel der Originalausgabe: New Voices 1 Aus dem Amerikanischen von Josette Haferkorn, Reinhard Heinz, Joachim Körber sowie Astrid & Helmut Pape Copyright © 1977 by Macmillan Publishing Co. Inc. Einleitung Copyright © 1977 by Ben Bova. Übersetzung: Helmut Pape The Family Monkey Copyright © 1977 by Lisa Tuttle. Übersetzung: Reinhard Heinz. Copyright der Übersetzung © 1984 by W. Heyne Verlag, München The Stone City Copyright © 1977 by George R. R. Martin. Übersetzung: Astrid & Helmut Pape To Ceremark Copyright © 1977 by Ruth Berman. Übersetzung: Joachim Körber Mom’s Differentials Copyright © 1977 by George Alex Effinger. Übersetzung: Josette Haferkorn Silent Leges Copyright © 1977 by Jerry Pournelle. Übersetzung: Helmut Pape Weiteres Textmaterial Copyright © 1977 by George R. R. Martin Copyright © der deutschen Übersetzung 1985 by Arthur Moewig Verlag Taschenbuch GmbH, Rastatt Umschlagillustration: Warhola/Agentur Vega Umschlagentwurf und -gestaltung: Franz Wöllzenmüller, München Redaktion: Hans Joachim Alpers Verkaufspreis inkl. gesetzl. Mehrwertsteuer Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederaim 300, A-5081 Anif Printed in Germany 1985 Scan by Brrazo 12/2006 Druck und Bindung: Eisnerdruck GmbH, Berlin ISBN 3-8118-6742-3
Inhalt Ben Bova Einleitung INTRODUCTION Lisa Tuttle Der Familienaffe THE FAMILY MONKEY George R.R. Martin Die Steinstadt THE STONE CITY Ruth Berman Nach Ceremark TO CEREMARK George Alec Effinger Mutters Differentialgleichungen MOM’S DIFFERENTIALS Jerry Pournelle Ungeschriebene Gesetze SILENT LEGES
Danksagungen Schriftsteller und Herausgeber werden so häufig als natürliche Feinde hingestellt, daß es manchmal schwierig ist, sie in einem anderen Licht zu sehen. Aber diese Darstellungen sind oft ungerecht. Nicht immer sind Herausgeber Ungeheuer. Schließlich sind einige meiner besten Freunde Herausgeber. Es ist also aufrichtige Dankbarkeit, wenn ich den Rat, die Hilfe und die Ermutigung erwähne, die ich von drei Herausgebern im Laufe der Zeit an verschiedenen Punkten erhalten habe. Ohne das wäre dieses Buch wahrscheinlich eine müßige Idee geblieben. Jeder der Herausgeber arbeitete für einen anderen Verlag, und jeder war an dem Buch interessiert, doch halfen sie freizügig, ohne Bedingungen zu stellen. Auch hörte nicht einer von ihnen damit auf, als die Verlagsverträge unterzeichnet wurden. Deshalb bin ich Dave Harris, der das Buch mit in Gang brachte, und Dave Hartwell, der mich bei der Stange hielt, sowie Ellen Couch, die alles mit durchlitt, großen Dank schuldig. G. R. R. Martin
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Einleitung Der Jugend gehört die Welt. Dies ist eine Redewendung, die wir alle schon zahllose Male gehört haben. Wann immer ein lächelnder junger Mann oder eine junge Frau die Welt dadurch überrascht, daß er oder sie etwas Bedeutsames leistet, nicken die Älteren unter uns wissend und murmeln etwas darüber, daß der Jugend die Welt gehört. Als wenn es ihre Jugend wäre, die ihre Leistung ermöglichte. Junge Schriftsteller wissen, wie hart es ist, wenn einem „die ganze Welt gehört“. Ein unbekannter Schriftsteller muß seine Laufbahn damit beginnen, seine Geschichten blind an Verlage zu versenden, wobei er sehr wohl weiß, daß die Manuskripte auf den großen Stapel der Manuskripte kommen, die der Verleger liest, wenn und wann er Zeit hat, sich ihnen zu widmen. In den meisten Fällen ist die Person, die die Aufgabe hat, den Stapel mit den unbekannten Zusendungen zu lesen, der unterste Angestellte des Redaktionsstabs. Die wertvollere Zeit der höheren Redakteure ist den älteren, erfolgreichen, gewinnbringenden Schriftstellern vorbehalten. Seit den Zeiten der Tontafeln und der Keilschrift haben junge Schriftsteller darüber geklagt, daß eher ein Kamel durch die Tür eines Redakteurs spaziert, als daß das Manuskript eines jungen Schriftstellers gerecht behandelt wird. Außer in gewissen Fällen. In unserer besonderen Nische der Raum-Zeit war John W. Campbell jr. einer der rühmlichsten jener gewissen Fälle. 9
Kurz gesagt, nur für den Fall, daß Sie nichts über Science Fiction wissen: So wie dieses Gebiet heute vor uns liegt, ist es fast völlig durch John W. Campbell jrs. bestimmenden Einfluß geprägt. Campbell war einer der besten und erfolgreichsten jungen Autoren während der furchtbaren Jahre der Depression Mitte der Dreißiger, als er zum verantwortlichen Redakteur von dem wurde, was sich damals das Astounding Science Fiction Magazine nannte. Er machte Science Fiction zu dem, was sie heute ist. Er hob ihren Bereich heraus über das Niveau der PulpMagazine und machte sie zu der aufregenden, gedanklich anregenden, die Zukunft erkundenden, sich mit Ideen herumschlagenden Literatur, die sie heute ist. Natürlich nicht ganz allein. Aber fast. Über fünfunddreißig Jahre machte Campbell Astounding – den Namen änderte er 1960 in Analog – zum führenden Magazin im Bereich der Science Fiction. Alle anderen ahmten ihn entweder nach oder setzten sich von ihm ab. Ob man nun mit John übereinstimmte oder nicht, er blieb doch in der Science Fiction eine ebenso überragende Gestalt, wie Franklin D. Roosevelt es in der Politik war. Und wie stellt es ein Redakteur an, einen so weiten und vielgestaltigen Bereich wie die Science Fiction zu dominieren? Durch das Suchen, Erkennen und Unterstützen guter neuer Autoren – so geht das. Weit davon entfernt, den Stapel der unbekannten Manuskripte zur Lektüre einem Assistenten zu übergeben, machte Campbell es sich zur Pflicht, alle hereinkommenden Manuskripte selbst zu lesen. 10
„Ich gehe jede Wette ein, daß ich mehr miese Science Fiction gelesen habe, als irgend jemand sonst auf der Welt“, konnte er prahlen. Das war wahr. Doch inmitten all dieses nutzlosen Zeugs lagen Diamanten begraben. Isaac Asimov ist einer der Teenager, die Campbell entdeckte. Er veröffentlichte Robert A. Heinleins erste Geschichten, obwohl Heinlein (wie viele Science Fiction-Autoren) bereits ein Erwachsener war, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Die Hall of FameAnthologien, die von der Organisation Science Fiction Writers of America herausgegeben werden, sind Zusammenstellungen von Geschichten aus dem Campbellschen „Autorenstall“: Asimov, Poul Anderson, Lester del Rey, Heinlein, Henry Kuttner, Catherine L. Moore, Eric Frank Russell, Theodore Sturgeon, Jack Williamson, James Blish, James H. Schmitz, Clifford D. Simak und viele andere. Campbells Karriere, sein Magazin sowie der gesamte Bereich der Science Fiction in seinem Gefolge beruhen auf der Entdeckung und Förderung neuer Autoren. Als er 1971 starb, erklärte sich der Verlag von Analog, die Condé Nast Publications, Inc. großzügigerweise bereit, einen John W. Campbell jr.-Preis für den besten neuen Science-Fiction-Schriftsteller des Jahres zu stiften. Nur Schriftsteller, deren erste publizierte Arbeit nicht früher als drei Jahre vor dem Preisverleihungsjahr erschienen ist, sind wählbar. Und wie die Science FictionLeistungspreise (die Hugos genannt werden) werden die Campbell-Preisnominierungen und Endauswahlen jedes 11
Jahr von den Science Fiction-Lesern entschieden. Nicht von den Autoren, den Herausgebern oder einer „Experten“-Jury. Die Leser selbst wählen. Auf diese Weise spiegeln die Preise das Urteil des Science FictionPublikums wider, eine unter den Kunstpreisen einmalige Situation. Der Campbell-Preis hat einen zweifachen Zweck: erstens, die Erinnerung an John auf wahrhaft passende Weise wachzuhalten, und zweitens die guten neuen Schriftsteller, die die Literaturgattung Science Fiction bereichern, auszuzeichnen. Der erste Band dieser Reihe geht einen Schritt weiter, und zwar insofern, als er neuen Autoren die lang benötigte Anerkennung zuteil werden läßt. Konzipiert von George R. R. Martin (selbst einer der besten neuen Autoren der siebziger Jahre und Hugo-Preisträger), besteht diese Anthologie aus originellen, bisher unveröffentlichten Geschichten der für den ersten Campbell-Preis nominierten Autoren. Jede Geschichte in diesem Band wurde ausdrücklich für diese Anthologie von den Autoren geschrieben, die für den Preis von 1973 nominiert wurden. Jerry Pournelle gewann 1973 den Campbell-Preis, wobei ihm George Alec Effinger in der Stimmenzahl so nahe kam, daß er einen Sonderpreis erhielt. Im folgenden Jahr teilte sich Lisa Tuttle den Preis mit Spider Robinson. Lisa Tuttle ist als eine von den 1973 Nominierten in diesem Buch repräsentiert. Folglich sind damit in diesem Band fünf Geschichten von vier Preisträgern vertreten. Soweit zum Was und Warum dieser Anthologie. Sie 12
soll die besten neuen Autoren der Science Fiction ehren. Vielleicht wird sie auch noch jüngere, neuere Autoren ermutigen durchzuhalten, bis auch ihnen „die Welt gehören“ kann. Ungeachtet dessen besteht meiner Meinung nach das beste Anliegen dieses Buchs – wie der Campbell-Preis selbst – darin, die Erinnerung an den Mann lebendig und in Ehren zu halten, der den größten Teil seines Lebens damit verbracht hat, talentierten jungen Schriftstellern zu helfen: John W. Campbell jr. Manhattan September 19751
Ben Bova
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Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Bitte beachten Sie das Entstehungsdatum dieser Anthologie - dies gilt insbesondere für die Einleitungen von George R. R. Martin. (Der Herausgeber)
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Lisa Tuttle war noch nicht einmal einundzwanzig, als 1973 die Nominierungen für den ersten John W. Campbell-Preis verkündet wurden. Sie stellte deshalb sofort einen Rekord als jüngster für den John W. Campbell-Preis nominierter Autor auf. Mit dieser Ehre gab sie sich jedoch nicht zufrieden. Sie war im folgenden Jahr wieder dabei und gewann eine zweite Nominierungsrunde, wodurch sie einen zweiten Rekord aufstellte. Sie war die erste (und bisher einzige) Person, die zweimal für den Campbell-Preis nominiert wurde. Als sie beim zweitenmal dabei war, gewann sie. Lisa Tuttle besitzt überhaupt keine Scham. Junge Schriftsteller kommen von überall her zur SF, doch zwei der verläßlichsten Brutstätten sind die SFFangemeinde und die Clarion-Autoren-Workshops. Tuttle ist ein Produkt beider. Sie begann, als sie noch ein Kind war, in Houston damit, ein Fan-Magazin, Mathom genannt, herauszugeben, das sie dem Herausgeber zu zeigen sich weigerte, weil es sie in Verlegenheit bringen könnte. Viel später (1971 nämlich), als sie an den Workshops an der Tulane und der University of Washington teilnahm, schloß sie sich den Clarion-Leuten an. Das hatte die Wirkung, daß die zweite und dritte ClarionAnthologie beide hübsche Tuttle-Geschichten enthalten. Sie hat alle Verdienste, die für einen aufsteigenden SF-Autor erforderlich sind: Sie hat Geschichten in allen einschlägigen Magazinen und in verschiedenen Anthologien veröffentlicht, etwa in den Last Dangerous Visions. 14
Sie hat auch einige ziemlich seltsame Meriten. Als das New Ingenue-Magazin vor einigen Jahren einen SFAutorenwettbewerb für Teenager organisierte, der von den Teilnehmern forderte, Geschichten um eine Anzahl recht seltsamer und zufälliger Strukturelemente aufzubauen, die von berühmten Autoren vorgeschlagen worden waren, da war Lisa mitten unter den seltsamen und eigenwilligen Gewinnern. Selbst für sie war die daraus resultierende Geschichte ungewöhnlich. Schon vor der Nominierung zum Campbell-Preis war sie im Magazin Seventeen in einem Artikel vorgestellt worden, der „Die unheimliche Welt der Lisa Tuttle“ betitelt war. Gegenwärtig befindet sich ihre unheimliche Welt in Austin, Texas, wo sie lebt, schreibt und die TVUnterhaltungsrubrik der örtlichen Tageszeitung herausgibt. Doch man weiß, daß sie ein ordentliches Quantum an Reisen hinter sich gebracht hat, und zu ihren früheren Wohnorten gehören Orte wie Sherman Oaks, Kalifornien (wo es ihr gefiel), und Syracuse, New York (das sie haßte). Sie liebt es, stundenlang durch die Buchläden zu streifen, lange, ziellose Fahrten im Auto bei Radiomusik zu unternehmen und zu lesen. Sie ist gegen alles mögliche allergisch. Sie ist klein. Hauptsächlich jedoch ist sie talentiert. Ihr Werk: hinreißende belletristische Arbeiten, hinterlistige kleine Geschichten über fleischfressende Puppen, harte SF, weiche SF, Fantasy. Die Bescheidenheit verbietet mir, „The Storms of Windhaven“ zu erwähnen, eine bemerkenswer15
te Novelle, die sie zusammen mit dem Herausgeber geschrieben hat. Die Bescheidenheit verbietet mir jedoch nicht, die sich hier anschließende Geschichte zu erwähnen. Es handelt sich um erstklassige Tuttle, einprägsam, vergnüglich. Niemand außer Lisa hätte dies schreiben können. Lesen Sie sie, und Sie werden herausfinden, warum diese junge Außenseiterin all diese Rekorde aufstellt. G. R. R. M.
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Lisa Tuttle
Der Familienaffe THE FAMILY MONKEY WILLIAM Ich saß mit Florrie auf der Veranda ihres Elternhauses, betrachtete die Abenddämmerung und überlegte, was ich tun sollte. Ich lebte damals in einer Pension in Nacogdoches, und Florries Vater hatte mir einen Arbeitsplatz einschließlich einer Wohngelegenheit bei sich angeboten. Ich hatte Bedenken, ob ich so tief in seiner Schuld stehen wollte: Noch war ich davon überzeugt, daß ich wohl nach Tennessee zurückkehren wollte, und das wäre vielleicht auch besser, da mich hier nichts hielte. Allerdings gab es da noch Florrie. Immer noch ist es mir ein Rätsel, warum mich dieses dürre, kleine alte Mädchen so interessierte, aber das war halt so. Schätze, Frauen waren damals in Texas Mangelware, obwohl mir Florrie meistens eher wie ein Kind vorkam. Doch es waren diese anderen raren Augenblicke, die mich unsicher machten, die mich warten ließen, so daß ich in Texas blieb, obwohl es mir hier nicht gefiel und ich absolut nicht hierhergehörte. Ich kam gerade zu dem Schluß, daß es nicht schaden könnte, wenn ich dort auf der Veranda ein bißchen näher an sie heranrückte, als am Himmel plötzlich ein Licht aufblitzte, das viel heller als jede Sternschnuppe war. Es begann zu fallen und zog einen leuchtenden Schweif hinter sich her, als es vollends aufglühte und in den Föhren 17
verschwand. „Was war das?“ fragte Florrie, die bereits aufgestanden war. „Eine Sternschnuppe?“ Ich erhob mich und stellte mich neben sie. „Wenn es eine war, muß sie direkt auf den Friedhof gefallen sein“, sagte Florrie. Dann: „Sie war so groß und hell. Gehen wir nachseh’n! Würd’ mir gern einen Stern von nahem beseh’n!“ Auch ich, so dachte ich, würde mir gern einen Stern von nahem besehen, obwohl mir Florrie keine Zeit ließ, zuzustimmen oder abzulehnen. Sie rannte einfach in den Wald, und ich folgte ihr, so gut ich konnte. Ich lief gegen alles mögliche in diesem dunklen Wald. Ich wollte Florrie an der Hand nehmen, aber sie hatte keine Geduld mit mir und stieß mich zurück. Es sei nur Platz für einen auf diesem Weg, was auch stimmte, obwohl bei diesem Holperpfad kaum von Weg die Rede sein konnte. Er war entweder von Kindern oder von Elfen gemacht worden, denn obgleich es bis in Brusthöhe keine Probleme gab, stieß ich ständig mit dem Kopf gegen herabhängende Ranken und hervorstehende Äste. Ich zerkratzte mir ganz schön das Gesicht und hatte wohl Glück, kein Auge zu verlieren. Mir nichts, dir nichts flitzte Florrie durch den Wald, obwohl ich ihr dauernd nachrief, langsamer zu machen. Auf halber Strecke ging mir plötzlich ein Licht auf. „He, Florrie, wie sollen wir bloß was sehen? Auf dem alten Friedhof ist es stockfinster, und wir haben keine Lampe mit.“ 18
„Wenn Sie sich beeilen, sind wir dort, bevor der Stern ausgeglüht ist. Das gibt Licht zum Sehen.“ Ich hielt also den Mund, um besser Schritt halten zu können, denn ich wollte mich nicht ohne ein Licht oder ein Mädchen im Wald verirren. „Da – ist es das?“ Ich holte sie ein, stellte mich dicht hinter sie und schaute, wohin sie zeigte. Was immer es war, das Ding war tatsächlich mitten im Friedhof gelandet, aber ob es sich nun um eine Sternschnuppe handelte, konnten wir nicht sagen, denn es hatte zu glühen aufgehört. Um uns herum war schwarze Nacht, und so ziemlich das einzige, was wir ausmachen konnten, war ein großes, schiefwinkliges, zerdrücktes Gebilde, als hätte ein Riese eine Scheune über eine Wiese geschleudert. Was immer es auch war, auf dem Friedhof hatte es nichts verloren. „Was ist es?“ flüsterte Florrie, aber ich hatte keine Lust, das festzustellen. Denn plötzlich machte ich mir – vielleicht dummerweise –Gedanken, ob nicht womöglich gleich etwas aus diesem Wrack kriechen würde. „Lassen wir es gut sein“, flüsterte ich zurück. „Wir können morgen früh zum Nachschauen wiederkommen. Jetzt ist es zu dunkel.“ „Wenn wir bis morgen warten, kann es zu spät sein“, wandte sie ein. „Ich laufe schnell zurück und hole eine Laterne – Sie warten hier und passen auf!“ „Soll nicht lieber ich die Laterne holen?“ „Sie würden sich nur verlaufen. Ich schaff s schneller als Sie.“ „Warum gehen wir nicht zu zweit?“ 19
„Haben Sie Bammel?“ fragte sie, da ihr plötzlich alles klar war. „Natürlich nicht!“ erklärte ich geschwind. „Dann warten Sie, bis ich zurückkomme!“ Und schon stürmte sie davon, so daß mir keine andere Wahl blieb, oder? Ich wollte nicht, daß sie mich für einen Feigling hielt, und außerdem hatte sie recht – ich hätte mich im dichten Waid verirrt. Nun bin ich nicht der Typ, dem es nachts oder auch sonst angst und bange wird auf Friedhöfen. Ich glaube nicht an Spuk, und in Tennessee kannte ich ein Mädchen, mit dem ich mich zum Flirten immer auf dem Friedhof verabredet hatte, also fühle ich mich solchen Orten gewissermaßen verbunden. Was mich störte, war dieses Ding, das hier gar nicht hergehörte, dieses meteoritische Gerümpel, oder was immer sonst dort vom Himmel gefallen war. Und als ich so saß und es anstarrte (zwar konnte ich nichts sehen, dennoch war der Gedanke, ihm den Rücken zu kehren, unangenehm), hörte ich allmählich ein Kratzen und Knirschen, das scheinbar an meinen Zahnwurzeln ruckte und mich überall piekste. Trotzdem war ich mir – wie hirnverbrannt! – überhaupt nicht sicher, ob ich das wirklich hörte. Es hatte irgendwie den Anschein, als steckte es in mir, dieses Geräusch, das ich eigentlich nicht hörte, sondern körperlich fühlte, und das irgendwie zu mir gehörte wie das eigene Herzklopfen, das einem in den Ohren dröhnt, wenn um einen herum alles still ist. Ich wollte mich davonmachen, aber irgend etwas – nicht nur die Befürchtung, mich vor Florrie zu blamieren, 20
sondern etwas Zwingendes – hielt mich. Also stand ich schweißgebadet still und widersetzte mich meinen Füßen, die anscheinend darauf aus waren, mich zu diesem Ding hinüberzuschleppen. „Mr. Peacock?“ Florrie brach mit der Lampe aus dem Gebüsch. „Oh, hier sind Sie. Sie wollten doch nicht etwa ohne mich nachschau’n?“ Ich sah, wo ich stand: Meine Füße hatten trotz meines Widerstands recht gute Arbeit geleistet. „Aber nein, Ma’am“, antwortete ich, doch sie hörte gar nicht hin. Die Laterne hielt sie hoch, weit von sich weg, und wir schauten. Das Ding, das vom Himmel gefallen war, bestand aus einem matten Metall. Wir spürten die Hitze, die von ihm ausging. Der Boden um es herum war verkohlt. Ich konnte nicht erkennen, worum es sich handelte, denn so etwas hatte ich noch nie gesehen. Wohl ein Flugzeug, das von weit her gekommen ist, dachte ich. Und schon vergaß ich’s wieder. „Was ist das?“ fragte Florrie. Sie flüsterte jetzt. Das Ding hatte ein Loch, und gegen die gähnende Schwärze in der silbrigen Metallhaut konnte das Laternenlicht nichts ausrichten. Ich rätselte, ob das Loch vom Absturz stammte oder ob es eine Art Tür oder Fenster darstellte. Dann sah ich, was Florrie gesehen hatte. Etwas bewegte sich in der schwarzen Öffnung und versuchte herauszukommen. Es wäre zu erwarten gewesen, daß eine Frau in einem solchen Moment übergeschnappt wäre, was sie auch tat, allerdings ganz anders, als erwartet. Sie packte mich 21
nicht, sie schrie nicht, sie fiel nicht in Ohnmacht oder weinte oder lief heim. Sie sagte: „Du, Billy, wir müssen ihm helfen.“ Ihre Stimme klang dringlich, und im nächsten Augenblick rannte sie ohne Furcht oder Zögern zu der Öffnung. Am meisten fiel mir auf, daß sie mich geduzt hatte. Dann bemerkte ich, daß sie von einem „Ihm“ – „wir müssen ihm helfen“ – gesprochen hatte. Und als mir das klarwurde, kümmerte ich mich fast gar nicht mehr darum, daß ich derselben Meinung war, ihr zu dem Loch folgte, hineingriff (vorsichtig, damit wir uns an den Rändern nicht verbrannten) und etwas – jemanden – zu fassen bekam und herauszog. Ich hatte Angst, konnte aber nicht damit aufhören, obwohl es mir solche Angst einjagte. Das Fleisch unter meiner Hand fühlte sich nicht menschlich an, aber das, was wir da hielten, war auch kein Tier. Der Abgestürzte war eingeklemmt, und selbstverständlich tat ihm unser Hantieren weh, aber wir mußten ihn selbstverständlich herausholen. Das mußten wir: so dringend, als läge dort meine Mutter unter einem Steinschlag begraben. Und dann bekamen wir ihn heraus und legten ihn ins Gras. Er hatte menschliche Züge, war insofern kein Hund oder Pferd – aber sogar im Schein der Laterne war klar, daß er kein Mensch war. Er wirkte wie eine Mißgeburt, ein Monstrum. Seine Haut war zu groß geraten. Sie hing faltig und lappig an seinen Knochen wie bei einem dickbäuchigen Herrn nach einer jähen Hungerkur. Sie fühlte sich rauh und warzig an und war, wie wir später bei Tageslicht sahen, durch und durch grünlich-grau. Seine Au22
gen waren zu rund, die Lider hatten etwas Komisches an sich, und er besaß keine normale Nase, sondern nur ein paar Schlitze mit Hautlappen davor in der Mitte des Gesichtes. Recht schaurig wurde mir zumute, als ich sah, was er mit seinem Hals machte – einen halb durchsichtigen Hautsack aufblähte, wie das gewisse Frösche tun. Wären wir doch nicht gekommen. Wären wir doch nur nicht gekommen! „Wir müssen ihn irgendwo unterbringen, wo wir uns um ihn kümmern können“, sagte Florrie. Sie blickte auf die Kreatur hinunter. Ich sah sie an, weil ich ihn nicht ansehen wollte. Ich überlegte, warum sie so selbstsicher auftrat und keine Angst hatte und nicht davonrennen wollte wie ich. Ihre Miene war verkniffen, wie wenn sie Schmerzen hätte, aber versuchte, die Zähne zusammenzubeißen. „Wenn ich nur wüßte, was ich tun soll“, sagte sie leise. „Ich weiß, wie schlimm er dran ist, und ich weiß, was es noch schlimmer machen würde, aber … vielleicht kann ich nichts tun, um ihm zu helfen, vielleicht kann ihm hier jetzt keiner helfen. Jedenfalls können wir’s versuchen – können es ihm wenigstens bequemer machen. Wir müssen irgendwie eine Tragbahre zusammenbauen, um ihn ins Haus zu bringen. Ich gehe …“ „Du gehst? Warum nicht ich?“ Es traf mich ein verachtungsvoller Blick. „Weil du nicht einfach losziehen und aus unserem Haus Sachen holen kannst ohne große Fragerei, darum nicht.“ „Was macht das schon? Ich kann noch einen Helfer beschaffen, wenn wir ihn sowieso dorthin bringen.“ 23
„Das tun wir nicht.“ „Du hast gesagt …“ „Dein Haus, nicht unsres.“ „Mein Haus! Ich habe kein Haus. Falls du die Pension meinst, willst du ihn dann in die Stadt bringen?“ „Das Gästehaus. Das hab’ ich gemeint. Du ziehst ein paar Tage ein, und wir können ihn dort versteckt halten, bis er wieder gesund ist.“ „Was macht dich so sicher, daß ich einziehen werde?“ „Komm, Billy, sei nicht so! Wir verschwenden damit nur Zeit – wenn jemand kommt und ihn sieht.“ „Und wenn jemand kommt – na und?“ Ich war ziemlich sauer auf sie. „Na und? Warum können wir ihn nicht in euer Haus bringen? Wir könnten einen richtigen Arzt holen, wenn du dich schon so um seine Gesundheit sorgst.“ Ich hätte beinahe gesagt, was ich sonst noch glaubte – daß es besser sei, wenn dieses Ding tot wäre, daß es kein Recht habe, hier zu sein, und nicht hergehöre. So etwas ließe sich besser erklären und leichter vergessen, wenn es tot wäre. Verscharren wir ihn im Friedhof. Die anderen Leichen liegen schon so lange hier, daß sie nichts gegen diese Gesellschaft hätten. Florrie richtete sich ein wenig auf und sagte klaglos: „Mein Vater hat einmal einen Neger erschossen, der seinen Grund betreten hat. In seinen Augen sind Neger kaum Menschen, also kannst du dir denken, was er über diesen hier sagen würde. Wie ein Tier würd’ er ihn schlachten und weniger Schuld fühlen. Du wartest schön hier, und ich hole die Sachen.“ 24
„Warum sollte ich? Warum sollte ich hier bei diesem faltigen Monstrum warten?“ „Billy, du mußt einfach!“ Sie blickte mich mit ihren grauen Augen an, die im Schein der Laterne glänzten, und ich sah, daß sie gar kein Kind war. Also legte ich meinen Arm um sie und wollte sie küssen, aber sie versetzte mir einen Faustschlag in den Bauch. Dann verschwand sie wieder im Wald, während ich noch vornübergebeugt stand. Ich fing zu fluchen an, doch folgte ich ihr nicht und ging auch nicht allein davon. Ich blieb bei diesem Ding, genau wie sie wollte. Genau wie es wollte. Und wir brachten es ins Gästehaus, wo sie es pflegte und hegte, und genau wie sie gesagt hatte, zog ich ins Haus und arbeitete bei ihrem Vater und schaffte nie wieder den Absprung nach Tennessee. Schließlich heiratete ich sie trotz dieses Boxers in den Bauch und der herrischen Art, wie sie mit mir umsprang. Pete – so tauften wir das Monstrum nach dem einzigen Laut, dem einzigen wirklichen Laut, den wir je von ihm hörten, ein pppppttttt aus seiner Kehle – wurde ein Teil der Familie und schien uns kein solches Monstrum mehr. Mit der Zeit kam er uns genauso natürlich vor wie jeder andere, obschon er mir immer ein ungutes Gefühl einflößte. Wirklich aus der Fassung brachte mich, wie sehr er und Florrie sich offenbar verstanden, wohingegen er und ich einander stets Fremde blieben. Unsere Kinder, die mit der Zeit auf die Welt kamen, mochten Pete, und er war gut zu ihnen. Ich denke, das hatte alles seine guten Seiten, es haute soweit hin. Ich habe hier eine Heimat gefunden, mir ei25
nen Namen gemacht, Freundschaften geknüpft und eine Familie gegründet. Manchmal denke ich an die Bergwelt von Tennessee – es ist hier für meinen Geschmack zu flach und zu staubig, sogar in den Nadelwäldern – und vermisse diese Landschaft und die Leute von früher. Aber sie sind nun wohl alle tot oder fortgezogen, so daß mich keiner mehr kennen würde, wenn ich wieder zurückkehrte. Meine Heimat ist jetzt hier, selbst wenn ich sie nach wie vor nicht besonders mag. EINGEWÖHNUNG Zuerst schien es nur merkwürdig, daß man ihn in den Nachtstunden allein ließ. Zuerst war er zu tief in seinen Schmerz versunken, als daß er bemerkt hätte, wie sich das Leben rundherum verlangsamte und das Bewußtsein sich in andere Höhen schwang. Es gab viel zu lernen, sobald er genesen war (insofern er überhaupt je wieder richtig genesen konnte) und seine Aufmerksamkeit nach außen zu richten vermochte. Der Schlaf faszinierte ihn – er war ihm fremd. Als Versehrter ohne Kontakt zu seinesgleichen war das Leben hier für ihn sehr langweilig. Gierig suchte er sich neue Interessen, denn er wußte, er müsse sich in Schwung halten und aufgeschlossen bleiben – oder er würde sterben. Beim Absturz war ihm etwas zugestoßen, das ihm das Denken erschwerte. Sein Verstand war scheinbar in Nebel gehüllt; er war beschränkt. Die Kommunikation mit diesen Geschöpfen war ihm unmöglich, abgesehen von einer wirren, höchst mißverständli26
chen Verständigung auf primitivster Ebene klappte es nicht mit dem Verstehen und Verstandenwerden. Er war frustriert, weil er vieles nicht mehr zustande brachte, unter anderem einfachste, schon als Kind gelernte Dinge. Ganze Bereiche und Höhen waren ihm verwehrt. Obwohl geistig beschränkt, setzte er sein Tun fort, so gut es noch ging, und schlüpfte in die Rolle des Lernenden, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Der Schlaf: Er faszinierte ihn. Hier war er vielleicht auf etwas Wichtiges gestoßen, einen geistig-seelischen Zustand, der seiner Rasse fremd war. Alle diese Geschöpfe hier schliefen. Welche Bedeutung war dem beizumessen? Was gewannen sie von ihrer allnächtlichen Reise in die Bewußtlosigkeit? Um das herauszufinden, versuchte er, selbst in Schlaf zu fallen, um unmittelbare Erkenntnisse darüber zu erlangen. Aber er konnte auf keinerlei Erfahrung und Wissen zurückgreifen. Wie erreichte man Schlaf? Inwieweit war dazu Selbstaufgabe nötig? Um das zu lernen, brauchte er Jahre – aber er hatte ja jahrelang Zeit. Und schließlich klappte es: Aber er konnte nicht mehr zurück. Der Schlaf überrannte ihn, verschlang ihn ganz und gar; wie an einen Mühlstein gekettet, wurde er hilflos in die Tiefe gezogen. Er hatte das gewollt: Warum wehrte er sich dann so verzweifelt dagegen? Was war das für ein Instinkt, der ihm eingab, dagegen anzukämpfen? Es war aber zu spät. Er war dem Schlaf ausgeliefert, darin verwickelt wie die Menschen, die ihn gerettet hatten. 27
War der Schlaf schon zum Fürchten, so waren es die Träume erst recht. Er hatte keine Kontrolle über sie, und es waren nicht seine Träume. Er war in eine Grube gefallen, in den Schlund, den die Menschheit hinter dem Schleier des Schlafes verborgen hält. Er schweifte durch die Träume von anderen, nicht einmal seinesgleichen, verfing sich darin und mußte sie unfreiwillig zu Ende spielen. Alpträume gebend und empfangend, irrte er durch die schlafende Welt. Erwachte entsetzt mit der Sonne. Bedauerte die menschliche Rasse und empfand stürmische Dankbarkeit für die andere Struktur seines Innenlebens. Er würde nie wieder schlafen, gelobte er sich. Aber in der folgenden Nacht begann der Kampf von neuem. Der Schlaf hatte ihn nun im Griff. Er hatte den Fehler begangen, das Schlafen zu lernen, und einmal gelernt, verlernt man’s nie wieder. Schon bemächtigte es sich seiner mit der Gewalt unleugbarer Gewohnheit. Jede Nacht wehrte er sich dagegen, so lange er konnte, aber schließlich überwältigte es ihn, riß ihn mit sich hinab, und allmorgendlich taumelte er schaudernd aus dem seltsamen, fürchterlichen Meer des menschlichen Schlafes. Er war nicht menschlich, könnte es nie werden. Das Miterleben menschlicher Alpträume machte ihn nicht menschlicher, sondern entfernte ihn nur noch weiter von dem, was er einst gewesen war. Er vergaß manches: Erinnerungen gingen verloren, ersetzt durch das Neugelernte und die nutzlosen, im Schlaf eingeimpften Erinnerungen anderer. Er änderte sich und paßte sich an im ver28
schleißenden Alltagstrott dieser beschränkten und eingeschränkten neuen Welt. EMILY Ich blickte durch das staubige Fenster auf den sonnigen Kiefernwald und konnte fast die trockene, harzige Landluft riechen. Hier war ich aufgewachsen, und New York lag nun weit zurück. Mir taten sämtliche Knochen weh, und ich sehnte das Ende der holprigen Bahnfahrt herbei. Damals war mir egal, daß meine Reise mich nicht nach Paris, sondern nach Texas führte; ich wollte nur endlich meine Ruhe haben. Ich strich mit den Fingern über den Deckel des Buches in meinem Schoß: Byrons Gedichte. Paul hatte mir das Buch gegeben. Ich hörte wieder seine Stimme und fragte mich, ob jemals wieder jemand meinen Namen so sagen würde, wie er ihn gesagt hatte. Ich steckte das Buch in den braunen Handkoffer zu meinen Füßen. Zuunterst in dieser Reisetasche lagen zweihundert Seiten in meiner Sonntagsschrift: meine unvollendete Erzählung. Unvollendet, weil mir die Heuchelei bewußt war, über Liebe zu schreiben, obwohl ich nichts über sie wußte – allerdings wollte ich über kein anderes Thema schreiben. Der Zug zuckelte dahin. Bis zum Bahnhof von Nacogdoches war es wohl nicht mehr weit. Gut, daß ich nach Texas gekommen war; hier, wo die Welt nüchterner war, wäre ich wohl besser aufgehoben als im verliebten Paris. 29
In Texas würde ich schon lernen, über andere Dinge als Liebe zu schreiben. Ich würde die wichtigen, seit der Kindheit vergessenen Dinge wieder lernen. Als Florrie mir um den Hals fiel und mich in ihren kräftigen, tüchtigen Armen hielt, glaubte ich, Mama wäre wieder am Leben, und ich könnte zum kleinen Mädchen werden. War das mein Schwesterlein? „Emma Kate! Oh, wie geht’s dir? Ist das schön, daß du wieder daheim bist!“ Ich umarmte sie auch und küßte sie ein bißchen tolpatschig, weil ich aus der Übung war. „Mir geht’s prima. Mir geht’s so prima, Florrie.“ Es war mir nach Weinen zumute, und wie ich sah, glänzten auch in Florries Augen Tränen. „Wie entzückend, daß du wieder hier bist!“ Nachdem sie mich noch einmal gedrückt hatte – am liebsten hätte sie gar nicht mehr aufgehört, ließ sie mich los. „Wo ist der Träger mit deinem Gepäck? Aha, Billy hat es. Komm, wir bringen dich heim, dann kannst du endlich diese unbequemen Sachen ausziehen!“ Es tat mir gut, Florries munteres Plaudern zu hören. „Wir müssen uns viel erzählen, sobald du versorgt bist, gell? Hoffentlich bleibst du länger? Aber nein, das besprechen wir alles später.“ Billy umarmte mich, und es schien mir seltsam, daß er nun zur Familie gehörte. Ich hatte ihn seit dem Tag meiner Hochzeit mit Florrie nicht mehr gesehen. Und ihre Kinder! Ich war ein bißchen verblüfft über ihre vier Kinder. Florrie hatte es schon weit gebracht, während ich in New York lebte, Unterricht gab und die Intellektuelle spielte. 30
Billy lud mit den Kindern meine Sachen auf den Wagen und half mir auf den Vordersitz zwischen sich und Florrie. Dann schnalzte er den Pferden zu, und wir setzten uns langsam und schaukelnd in Bewegung. Ich betrachtete die staubige Straße, die verkümmerten Föhren, die Schindelhäuser, die schlichtgekleideten Leute, die Tiere. Es befremdete mich nach dieser künstlichen Welt von New York City. Die Straße wand sich nun durch Waldgebiet, und die Bäume schützten vor der Sonne und verbargen die letzten, zerstreut gelegenen Häuser der Ortschaft. Allerdings war der Wald nicht so tief, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Große, häßliche Kahlschläge durchzogen ihn: Ernte für die heimischen Sägemühlen. Das ganze Gebiet war verunstaltet, als hätte ein Waldbrand gewütet, und junge Bäumchen wuchsen brav heran, um die Lücken zu füllen. Die gesamte Landschaft hatte sich verändert, so daß ich unsicher war, wie weit wir noch nach Hause hatten. Florrie redete in einem fort, und manchmal hörte ich zu. Schließlich klopfte sie mir auf die Knie. „Hier. Fast daheim.“ Die Pferde zogen uns träge um eine letzte Kurve. Wir waren da. „Ist es nicht hübsch?“ Ich hatte mir irgendwie vorgestellt, daß sie immer noch im alten Brauthaus lebten, obwohl Florries Briefe mit vielen Einzelheiten über das neugebaute Eigenheim ausgeschmückt waren. „Wunderschön, Florrie“, sagte ich und schloß sie in die Arme. Das Haus war groß und robust; trotzdem war es gelungen, ihm einen gewissen Stil, eine bestimmte schlich31
te Eleganz zu verleihen. Es trug einen weißen Putz, und seine oberen und unteren Fenster schmückten grüne Läden, wie viele Häuser in New Orleans das haben. Das Brauthäuschen, eine Blockhütte, stand noch, nahebei auf der abschüssigen Wiese. Es war das erste Heim von Billy und Florrie gewesen, aber sobald die ersten Kinder kamen, mußte es wegen der Enge bald ungemütlich geworden sein. Eine Farbige erschien in der Seitentür, als wir über die gewundene Einfahrt hinaufrollten, und eilte uns freudestrahlend entgegen. Das war Mattie, die mich da umarmte, während Florrie mir erzählte, was für eine große Hilfe Mattie bei den Kindern und beim Saubermachen sei. Ich richtete auf einmal den Blick von Matties schwarzem Gesicht auf meine lächelnde Schwester. „Wo ist Daddy?“ Florrie lächelte nicht mehr ganz so breit. „Wir gehen zu ihm, sobald du dich frisch gemacht hast.“ Sie nahm mich am Arm und führte mich zum Haus. Billy folgte mit meinem Gepäck, und die Kinder hüpften hinterher wie eine aus dem Käfig gelassene Vogelschar. „Ich hatte geglaubt, er käme zu meiner Begrüßung herauf“, sagte ich. „Nun, wir haben ihn selbstverständlich zum Essen eingeladen, aber er will nicht heraufkommen zu uns. Er ist stur wie eh und je. Er will keine Nigger um sich.“ Natürlich. Wie konnte ich nur glauben, er würde im Alter gesetzter werden? „Es geht nicht so sehr um Mattie und Tom“, erklärte Florrie. „Sie packen zu – er würde sich wohl daran ge32
wöhnen, sie zu ignorieren. Sondern es ist Pete, den er uns nicht verzeiht.“ „Wer ist Pete?“ Ich wollte meinem Vater nicht begegnen. Jedes Wort aus Florries Mund festigte meine Entschlossenheit. „Pete“, erklärte Florrie in merkwürdigem Tonfall. „Hab’ ich dir nichts von Pete erzählt? Wohl nicht. Nun, du wirst ihn nach und nach kennenlernen.“ Wir betraten das Haus durch die Hintertür und gingen in die warme, duftende Küche. Aber Florrie ließ mir keine Zeit, mich umzusehen, sondern führte mich rasch durch eine finster getäfelte Diele und über eine blanke Holztreppe. „Jetzt erfrischst du dich erst einmal und gehst besser gleich zu Daddy. Du weißt, wie sauer ihn Warten macht.“ Das wußte ich sehr wohl, und ich wollte nicht den Beweis dafür antreten, daß ich seinen Zorn noch immer fürchtete. Mein Zimmer hatte – von den weißen Vorhängen mit dem grünen Zweigmuster bis zur Flickendecke auf dem breiten Messingbett – eine frische, frohe Atmosphäre. Aber ich war nicht imstande, mich auf diesem Bett für ein kleines Nickerchen auszustrecken; ich konnte nicht einmal ein Bad nehmen. Jetzt, da ich wußte, daß Daddy mich erwartete, wurde ich hektisch und tolpatschig. Nachdem ich Wasser in die Waschschüssel gegossen hatte, stieß ich den Porzellankrug um – hätte ihn fast zerbrochen, wäre er nicht auf dem Flickenteppich, sondern auf dem Fußboden gelandet, wo das restliche Wasser auslief, ohne daß allerdings das Gefäß Schaden gelitten hätte. 33
Ich wusch mir Gesicht, Hals und Hände – und zitterte. Ich versuchte, nicht zu zittern, als ich mein von der Reise staubiges Kleid gegen ein frisches wechselte. Ich war eine erwachsene Frau. Soll er sagen, was er will, er wird mich nicht wieder zum kleinen Mädchen machen. „Emily?“ Es war Florrie, die ihre Nase durch die Tür steckte. Sie kam herein und schloß mich in die Arme. „Nur nicht nervös sein!“ „Ist das nicht verrückt?“ sagte ich und rang mir ein Lachen ab. „Ich habe mich gegen zornige Eltern und den Direktor meiner Schule durchgesetzt, doch fürchte ich die Begegnung mit meinem eigenen Vater. Du warst immer die einzige von uns, die ihm die Stirn bieten konnte, Florrie. Ich mußte die Heimat verlassen, um von ihm frei zu werden.“ Wir drückten uns wieder, und ich schmiegte mich für einen Moment an sie, als wollte ich Mut bei ihr sammeln, bevor ich meinem Vater unter die Augen trat. Er erwartete mich auf der Veranda des Hauses, in dem ich aufgewachsen war. In Wirklichkeit war es kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, er allerdings nicht. „Wird aber Zeit, daß du endlich kommst. Hast wohl bei deiner Schwester oben ein Plauderstündchen gehalten.“ „Hallo, Daddy.“ Er stand auf und schloß mich in die Arme. Linkisch hielten wir uns umschlossen. Ich versuchte ihn zu küssen, und seine Wange kratzte an meiner. „Komm rein und iß mit mir!“ Auch die Küche war kleiner, als ich sie in Erinnerung 34
hatte, und schmutzig, was nie der Fall gewesen war, als meine Mutter noch lebte. Das Abendessen aus Maisbrot, Bohnen und Schinken aßen wir an dem Holztisch, den mein Vater gezimmert hatte. Er war viel zu groß für nur uns zwei, aber er hielt es wohl nicht für notwendig, sich einen kleineren zu bauen, solange dieser noch taugte. Er führte seinen Haushalt nun allein – Florrie hätte ihm zwar beim Kochen und Putzen mehr zur Hand gehen können, doch vermute ich, daß beide stur den eigenen Kopf durchsetzten. Wir sprachen nicht viel beim Essen. Das war seine Art. Jedoch drückten die gewichtigen Dinge, die zu sagen waren, schwer auf meinen Magen, so daß ich kaum etwas hinunterbrachte. Selbstverständlich ließ er sich darüber aus. „Hast droben im Norden Geschmack an feinem Essen gefunden, hm?“ „Hab’ halt keinen großen Hunger.“ Er wischte den letzten Rest Bohnen und Soße mit einem dicken Brotbrocken aus seinem Teller, spülte das mit einem Schluck eisgekühlten Tee hinunter und lehnte sich schwer in seinen Stuhl zurück. Das Holz ächzte unter seinem Gewicht. „Nun“, begann er, „so bist du also wieder daheim. Hast genug vom Unterrichten?“ Ich hatte gewußt, daß die Frage kommen würde, hatte mir aber mehr Zeit zum Nachdenken, zu einem Gespräch mit Florrie erhofft. „Ob ich genug habe, weiß ich nicht“, antwortete ich. „Vielleicht bleibe ich nur für einen kürzeren Besuch hier. 35
Vielleicht könnte ich mich um eine Stellung hier in der Nähe bemühen – vielleicht als Privatlehrerin.“ Seine Blicke verhöhnten mich. Er glaubte mir nicht. Er verlangte eine weitere Erklärung von mir, und entnervt, wie ich war, beging ich einen Fehler. Ich plauderte etwas aus, das ich vor ihm hatte geheimhalten wollen. „Ich dachte, ich könnte ein bißchen schreiben x solange ich hier bin. Ich schreibe an einem Roman.“ Er reagierte nicht anders, als ich es erwartet hatte: Er lachte, lachte empört und schnaubend. „Du willst also schreiben? Warum bist du dann nicht in New York bei all den anderen Schreiberlingen und Klugscheißern geblieben?“ „Ich kann ja zurückkehren“, antwortete ich. „Ich sagte bereits, ich bin mir darüber noch nicht schlüssig. Ich …“ Aber er hörte gar nicht zu; er hörte mir nie zu. „Du glaubtest, nachdem es in deinem Leben, so wie du es dir einrichtetest, nicht klappte, könntest du heimkommen und dich von deiner Familie aushalten lassen und den Schreiberling spielen, ohne dir Gedanken darüber machen zu müssen, ob du gut wärst oder davon leben könntest. Ohne dich beweisen zu müssen, könntest du die Intellektuelle spielen. Du bist wie deine Mutter, Emmie.“ Tränen standen in meinen Augen, und ich konzentrierte mich darauf, sie nicht rollen zu lassen. Er schwieg – genau wie ich –, weil’s ihm vielleicht leid tat oder weil er an Mutter dachte. Dann schüttelte er seufzend den Kopf. „Du hättest dir einen Mann suchen sollen, Emmie. Mit deinem Lernen und deinen Büchern hast du sie alle abgeschreckt. Jetzt wird dir klar, daß du 36
einen Mann brauchst – aber du hättest lieber in New York bleiben sollen, denn in Texas gibt es keine Männer, die eine überkandidelte, studierte zweiunddreißigjährige Jungfer wollen.“ Ich wollt’s ihm widerlegen. Ich wollte ruhig und präzise und schlagfertig sein – ihm ins Gesicht lachen und erklären, daß er sich gewaltig irre, daß ich nie heiraten wolle, und daß ich bereits viel mehr als er erlebt habe. Daß ich große Schauspieler auf New Yorker Bühnen gesehen habe, in einem Auto spazierengefahren sei, bei einer Party mit Dr. William James und seinem Bruder, dem Romanautor Mr. Henry James, gesprochen, Vorträge von Samuel Clemens gehört und die Liebe eines feinen Mannes gewonnen habe, der eines Tages, dessen war ich mir sicher, ein berühmter Schriftsteller sein würde. Aber Schauspieler waren gemäß meinem Vater sittlich verkommen; William James oder Henry James oder Samuel Clemens wären ihm keine Begriffe; Automobile waren eine Modetorheit; und dieser gute, unentdeckte Schriftsteller, der mich liebte, war verheiratet. Und ich sei eine Jungfer, wie er sich ausgedrückt hatte, würde allmählich alt und sei nach Texas heimgekehrt, wo ich als Studierte nichts gälte. Und er sei immer noch mein Vater und könne mir predigen, wann er wolle. Ich sagte lange nichts und war den Tränen nahe, während ich auf die kalten Essensklumpen in meinem Teller starrte. Er gab sich bald mitfühlender, als er meine Niederlage sah. „Nun, Emmie“, begann er, „es hat Jungfern gegeben, die vor dir ein lohnenderes Leben geführt haben. Jetzt, wo du wieder daheim bist, kannst du dich nützlich ma37
chen, indem du mich und dieses alte Haus versorgst. Es fehlt die Hand einer Frau – ich selber kann keine Frauenarbeiten verrichten. Und deine Schwester und ich, wir kommen unter einem Dach nicht aus miteinander. Sie ist zu dickköpfig für eine Frau.“ Er schmunzelte recht zufrieden. „Sie ist wohl zu sehr wie ich.“ Ich wollte nicht mehr weinen. Ich wollte losbrüllen. Entsetzen kam in mir hoch, würgte mich. Die Stelle meiner Mutter einnehmen? Mich von meinem Vater drangsalieren und schikanieren lassen bis zu jenem fernen Tag, da er zu sterben geruhen würde? „Was meinst du, Emmie? Du kannst sofort in dein altes Zimmer ziehen – es nur für dich haben, weil Florrie ja im eigenen Haus wohnt. Du kannst sogar an diesem Roman von dir arbeiten in deiner Freizeit, wenn du willst.“ Er wurde richtig gütig, beinahe vergnügt, bei der Aussicht, mich wieder zu erobern. Ich schüttelte energisch den Kopf und sah ihm sprachlos ins Gesicht. Vermutlich waren der wilde Raubtierblick in meinen Augen und mein Entsetzen ein Schock für ihn: Augenblicklich verging ihm das Lachen. „Schau doch, Emily Kate, du bist kein Kind mehr! Du hast Pflichten, und weil du noch ledig bist, hast du Pflichten mir gegenüber. Du kannst nicht einfach durchs Leben flattern wie ein Schmetterling – erstens einmal hast du weder das Aussehen noch den Verstand, damit durchzukommen. Und bei deiner Schwester ist auch kein Platz für dich, und außerdem braucht sie dich gar nicht. Sie wird bald noch ein Kind bekommen, für das sie dann dein Zimmer benötigt. Mit Babies kennst du dich nicht 38
aus, also könntest du ihr nicht groß behilflich sein.“ Er sprach schwerfällig, während er mir seine gewichtige Meinung ins Gesicht knallte, und war sich gewiß, daß er mich unterkriegen würde, genau wie ein Pferd gegen eine Tür mit abgenutztem Verschluß schlägt und die Tür unter den dummen, hartnäckigen Tritten des Tieres schließlich auffliegt. Ich klammerte mich an den Entschluß, dieses Mal nicht nachzugeben, mich nicht unterkriegen zu lassen. Ich forderte nichts von ihm, sondern verlangte nur, in Frieden gelassen zu werden. Ich würde nicht wieder ein Dach mit ihm teilen und seine Gefangene sein; so sehr war ich ihm nicht verpflichtet. „Oder vielleicht hast du vor, in der Ortschaft zu unterrichten? Nun, du kannst es versuchen, aber hier nimmt man dafür lieber Männer, denn Frauen werden mit so manchem rauhen Bauernburschen nicht fertig. Außerdem haben sie hier meines Wissens genug Lehrkräfte –und brauchen nicht eine praktisch Fremde einzustellen, und die Leute werden munkeln und sich bestimmt wundern, warum dieses nette Fräulein seinen alten Daddy so im Stich läßt.“ Mir kam plötzlich die letzte große Konfrontation mit meinem Vater in den Sinn, als ich den Wunsch geäußert hatte, eine Schule im Osten zu besuchen und zu studieren, woraufhin er mich in die Enge trieb und jeden Grund, den ich anführte, verwarf, indem er mir erklärte, was für ein Narr ich sei, das auch nur zu denken; daß nicht genug Geld da sei, ich daheim gebraucht werde und das meiner Schwester gegenüber ungerecht wäre; daß ich 39
nichts tauge, daß eine Frau nicht viel im Kopf zu haben brauche und daß ich mich, wenn schon, ebensogut daheim weiterbilden könne. Sprachlos und ohnmächtig, allein durch seine erdrückende Anwesenheit, begann ich mich ihm zu beugen und sah meine Träume schon in Rauch aufgehen. Aber dann … „Harold.“ Wir hatten uns beide umgedreht, als diese ungewohnte Anrede mit ungewohnter Härte in der gewohntermaßen sanften Stimme fiel. Meine Mutter machte ein ernstes Gesicht. „Harold“, sagte sie wieder, die ihn sonst immer Darling oder Mann oder Hal nannte. „Ich will mit dir sprechen. Emma-Schätzchen, geh Florrie hinten helfen!“ Ich tat, was mir geheißen war, ließ mir aber viel Zeit dabei, um zu hören, was meine gute Mutter gegen meinen mächtigen Vater ausrichten könnte. „Harold, das Mädchen wird die Schule besuchen. Das steht bereits fest. Sie wird ihre Chance bekommen. Sie ist begabt, und wir können uns das sehr wohl leisten, und wir werden ihr diesen einen Wunsch nicht versagen. Es ist ihr Leben, und ich werde nicht dulden, daß du es ihr kaputtmachst.“ Ich konnte kaum glauben, daß da meine sanfte, charmante Mutter sprach. Vielleicht war mein Vater genauso verblüfft, denn anstatt sie einzuschüchtern, bis die Tränen kamen, wie ich es gar oft erlebt hatte, ließ er ihr ihren Willen. Ich besuchte die Schule; meine Mutter hatte mich frei gemacht. Aber nun war sie tot; sie konnte meine Kämpfe nicht mehr für mich austragen. 40
„Und wenn du ein Buch schreiben willst – nun, dann kannst du dich sofort dranmachen. Ich werde dich nicht aufhalten. Ich verlange ausschließlich, daß du unser Haus in Ordnung hältst, meine Sachen flickst und für uns beide kochst. Das ist bestimmt nicht zuviel verlangt.“ Mein Vater war schon vom siegreichen Ausgang dieser Schlacht überzeugt. „Das ist zuviel verlangt“, erwiderte ich eisern. Recht wankend erhob ich mich von meinem Stuhl und entfernte mich vom Tisch. Ich mußte raus; ich hatte fürchterliche Angst, daß er mich anbrüllen und ich zu weinen anfangen würde. „Ich werd’ dir nicht den Haushalt führen, Daddy. Ich muß mein eignes Leben leben – ich bin jetzt erwachsen.“ Ich fühlte mich überhaupt nicht erwachsen. „Du kannst dir eine Haushälterin nehmen, die dir dein Essen kocht, wenn du willst. Ich bin nicht nach Texas heimgekommen, um deine Sklavin zu sein.“ „Aber Emma Kate, so spricht man nicht mit seinem Vater …“ Sein Schimpfen klang ein ganz kleines bißchen unsicher. Meine Auflehnung, so winzig sie auch war, hatte ihn erschüttert. „Ich muß jetzt los“, erklärte ich ihm. „Ich habe Florrie gesagt, ich würde sofort zurückkommen. Wir haben viel zu besprechen.“ Ich näherte mich rückwärts der Tür und blieb aus seiner Reichweite, da ich befürchtete, er könnte mich mit Gewalt daran hindern. Er hatte jedoch beschlossen, mich diesmal gehen zu lassen. Kopfschüttelnd wie ein alter, von Fliegen geplagter Hund sagte er: „Wir unterhalten uns noch mal darüber, wenn du dich eingelebt hast. Du bist noch müde 41
von der Reise und mußt dich erst mal hinlegen und dein Leben überdenken können. Die Sache hat Zeit – du kannst einziehen, wann immer du willst. Dieses Haus steht dir immer offen, Emma Kate.“ Die Spur Nettigkeit – ich wußte, das war eine Falle – hätte mich fast herumgekriegt, aber ich schaffte es, auf die Veranda zu fliehen, bevor ich ihm ein zittriges „Wiederseh’n“ zuwarf. Und dann lief ich durch den Wald zurück – lief eher wie Vaters kleines Mädchen und gar nicht wie die alternde Jungfer, die ihm gerade getrotzt hatte. Florrie sah auf von dem Spiel mit zwei ihrer Kinder auf der Wiese und machte ein besorgtes Gesicht bei meinem Anblick, wie ich durch den Wald angerannt kam: knallrot, keuchend, mit zerzauster Wildfangmähne. Sie erhob sich sofort, sagte etwas zu ihren Kindern und eilte an meine Seite. „Emmie?“ erkundigte sie sich, wobei sie mich am Arm faßte. „Nichts. Ich – lief – das ganze Stück – durch den Wald – zurück.“ Aus meinem Keuchen wurde fast wieder normales Atmen, als wir über die Wiese zum Haus hinaufgingen. „Was ist passiert?“ Ich schüttelte den Kopf. „Es war schrecklich.“ Oben in meinem Zimmer wusch ich mir das Gesicht und kämmte mir die Haare, während Florrie sich ans Auspacken meiner Koffer machte und mir frische Sachen hinlegte. „Florrie, er will, daß ich wieder zu ihm ziehe. Er will, 42
daß alles so wird, als wäre ich ihm einfach nie entkommen, als hätte ich meine ganze Ausbildung nicht. Er meint, ich schulde ihm mein Leben, nur weil ich ledig bin.“ Wieder fing ich zu keuchen an, aber diesmal vor Aufregung. Florrie schloß mich in die Arme und hielt mich fest. „Scht, Emily!“ „Er – er hat gesagt, du hättest hier keinen Platz für mich, und keiner wolle mich …“ „Nicht doch, Emmie. Du weißt, daß wir dich mögen und daß du uns immer willkommen sein wirst, solange du willst. Laß dich nicht so von ihm einschüchtern. Es läuft alles prima in deinem Leben, und es ist töricht von dir, wenn du dich überhaupt um seine Ansichten kümmerst.“ Ich entzog mich ihrer Umarmung und beschäftigte mich mit dem Auspacken. „Ich – ich weiß, Florrie. Aber er geht ständig auf mich los – so daß ich fürchte, ihm eines Tages nachzugeben. Er – er wird mich so lange drangsalieren, bis ich zu ihm ins Haus ziehe – und dann ist’s aus mit meiner Freiheit. Ich pack’s nicht, Florrie. Ich meine, ich habe ein eigenes Leben und ‘nen eigenen Willen, aber wenn er mich dann wieder anbrüllt, wird aus mir ein richtig kleines Mädchen.“ „Du bist müde“, sagte Florrie sachte. „Sag dir einfach, du mußt dein eigenes Leben leben und daß es keine Rolle spielt, was er sagt. Bald wirst du anfangen, daran zu glauben.“ „Es ist nicht einfach“, antwortete ich. „Ich bin nicht wie du, Florrie. Ich konnte ihm nie die Stirn bieten – ich 43
konnte nur davonlaufen. Ich habe nicht dein Rückgrat. Ich bin mehr wie Mama – ich lass’ mich von ihm fertigmachen.“ „Emily!“ Ich sah sie an. „Du sollst dich oder Mama nicht unterschätzen. Du bist mehr wie Mama als ich, aber Mama war nie schwach. Sie war sanft, und sie ließ Daddy seinen Willen, um den Frieden zu wahren, aber wenn’s um irgend etwas Wichtiges ging – kämpfte sie so lange, bis sie gewonnen hatte. Erinnerst du dich, wie sie für dich eintrat, als du ins College wolltest? Sie setzte sich gegen Daddy durch, weil …“ „Ja“, sagte ich. „Heute habe ich daran gedacht. Aber sie kämpfte für mich gegen Daddy. Sie kämpfte, um uns zu schützen, weil sie uns liebte. Aber sie kämpfte nie für sich selbst. Sie verzichtete auf alles, nahm alles hin, solange es uns nicht weh tat. Dann allerdings setzte sie sich zur Wehr. Für sich selbst rührte sie jedoch keinen Finger. Und so bin ich leider auch. Vielleicht würde ich mein Kind beschützen, wenn ich eins hätte, aber für mein eigenes Wohl kämpfen, das kann ich nicht.“ Wir sahen uns an, und ich las in Florries Augen, daß sie liebevoll mit mir litt. Jeden Augenblick hätten wir wohl in Tränen ausbrechen können, und um diese Spannung zu lösen, sagte ich munter: „Komm, Florrie, die Sachen müssen weggeräumt werden, und dann möchte ich ein schönes, heißes Bad.“ „Du könntest gleich baden“, schlug sie vor, „während ich deine restlichen Sachen einräume.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn wir’s gemeinsam machen, können wir uns unterhalten. Oh, Florrie, sie 44
haben mir so gefehlt, die Gespräche mit dir! So vieles bleibt in Briefen unausgesprochen.“ „Du hast recht“, erwiderte Florrie ein bißchen wehmütig. „Schau, irgendwie kam ich nie dazu, dir über Pete zu erzählen. Du wirst ihn später kennenlernen.“ „Florrie, hör auf, mich zu necken! Wer ist dieser Pete? Wann werd’ ich ihn kennenlernen?“ „Morgen früh. Aber sag mal, wieso du überhaupt von New York weg bist! Du warst immer so glücklich dort, hatte ich das Gefühl – zumindest klangen deine Briefe sehr glücklich. Viel Arbeit, viele Begegnungen mit Menschen. Ist etwas Einschneidendes passiert? Wieso bist du weg?“ Während sie sprach, hatte ich zufällig die Hand in dem Buch mit Byrons Gedichten, das Paul mir geschenkt hatte, und suchte nach Worten, um ihn ins Gespräch einzubringen. Ich drehte mich zu ihr um – und vielleicht stand es in meinem Gesicht zu lesen. „Ein Mann, Emily?“ fragte sie behutsam. „Er war verheiratet.“ „Oh, Emily …“ Wieder umarmte sie mich und hielt mich tröstend fest. Dann löste sie sich und blickte mich zärtlich an. „Arme Emily. Willst du darüber sprechen?“ Wir setzten uns Seite an Seite aufs Bett, die Hände haltend, was mich an die Geheimnisse erinnerte, die wir als Kinder ausgetauscht hatten. Das lag Jahre zurück, und heute kam mir Florrie als Verheiratete und Mutter von Kindern wie die ältere Schwester vor. „Er war Lehrer“, erzählte ich. „Wir hatten ähnliche Interessen. Wir trafen uns zu Gesprächen über unsere 45
Arbeit, über Dichtung und Philosophie. Wir wollten beide eines Tages selbst schreiben und zeigten einander unsere Arbeiten, die wir niemand anders zu zeigen uns trauten. Wir übten Kritik aneinander, ehrliche und milde Kritik, und halfen uns gegenseitig, besser zu schreiben. Ich hielt unsere Freundschaft für eine platonische. Ich lernte seine Frau kennen, die mich nicht mochte – sie war eifersüchtig auf das, was ich mit ihrem Mann gemeinsam hatte. Ich hielt ihre Eifersucht für töricht – denn Paul und mich verband die Art von Freundschaft, die man sich unter zwei Kameraden nur wünschen könnte.“ „Und dann hast du gemerkt, daß du ihn liebst?“ Ich sah sie an, ohne erstaunt zu sein – die Vermutung war nur natürlich –, und schüttelte den Kopf. „Nein – eines Abends gestand er mir seine Liebe. Selbstverständlich gab ich zur Antwort, daß ich seine Gefühle nicht teile.“ Florrie drückte meine Hand. „Ich dachte, wir könnten weiterhin einfach Freunde sein“, sagte ich. „Ich dachte, wenn ich ihn nicht bestärkte und das Thema Liebe miede, könnten wir Freunde bleiben. Aber ich schaffte es nicht – vielleicht hätte ich mich weigern sollen, ihn wiederzusehen, jedoch wollte ich seine Freundschaft nicht verlieren, und da ich ihn nicht liebte, glaubte ich auch nicht richtig an seine Liebe.“ Ich war nicht stolz auf mich, als ich Florrie dies erzählte. In meinen Ohren klangen meine Entschuldigungen fadenscheinig. Vielleicht hatte ich ihn verführt, weil ich fürchtete, er könnte meine letzte Chance auf ein ganz anderes Leben sein, und weil ich mich davor scheute, ihn gehen zu lassen. 46
„Schließlich bot – bot er an, seine Frau wegen mir zu verlassen. Er wollte mich mit nach Paris nehmen. Dort herrscht eine andere Moral, und das Zusammenleben wäre einfacher. Und natürlich wußte er, wie gern ich in Europa leben wollte. Also verließ ich die Stadt, kündigte meine Stelle und kam hierher, weil es zu einfach gewesen wäre, nachzugeben und mit ihm zu gehen – ihn sein Leben kaputtmachen zu lassen.“ Florrie seufzte. „Oh, Emily, wie edel von dir.“ ,Edel.’ Dieses Wort hatte auch Paul – der mißverstand – benutzt. ,Feig’ wäre wohl angemessener gewesen. „Aber ich liebte ihn gar nicht“, erklärte ich Florrie. „Das war nicht edel von mir. Wenn ich ihn richtig geliebt hätte“ – so wie bei einer Roman- oder Bühnenheldin –, „richtig, von ganzem Herzen geliebt hätte, dann hätte ich nicht gezögert. Dann hätte ich mich ihm hingegeben, Florrie; wäre auf der Stelle mit ihm durchgebrannt.“ Davon war ich überzeugt. Und als ich später allein war, dachte ich mehr über mein Liebesideal nach und überlegte, ob ich je wieder etwas erleben würde, das den Namen Liebe wohl verdiente. Es würde – könnte – keine Fragen und Zweifel geben wie bei Paul. Kein Gesetz, keine Moral könnten mich von dem Mann, den ich liebte, abhalten; ich machte vor nichts halt, täte alles, was er verlangte, gäbe alles von mir. Aufrecht im Bett sitzend, brütete ich über der Liebesfrage. Im Haus war es still, alles schlief. Ich hatte geglaubt, schlafen zu können, aber obschon ich todmüde war und jede Faser meines Körpers den lindernden Schlaf herbeisehnte, arbeitete mein Verstand rege, hin 47
und her gerissen zwischen meinem Vater, meiner soeben aufgegebenen Karriere, Paul und dem, was Liebe mir bedeuten würde. Ich stand dann auf und ging zu der Kommode, in deren unterster Schublade ich meinen unvollendeten Roman verstaut hatte. Als ich das Manuskript herausnahm, dachte ich an die viele Zeit, die in das Schreiben und Umschreiben der Seiten geflossen war. Ich trug es zum Nachtkästchen, kauerte mich aufs Bett, legte es in den Schoß und fing an, es im Licht der Nachttischlampe zu lesen. Es war die Geschichte einer vollkommenen Liebe zwischen einem Mann und einer Frau: der Mann ein idealisierter Paul, die Frau eine Idealisierung von mir selbst. Da ich keine Tragödie aus der Geschichte machen wollte, war ich beim Schreiben ins Stocken geraten, denn wohin diese vollkommene Liebe führen sollte, wußte ich auch nicht. Als ich diesen Roman – das Beste aus meiner Feder – Seite um Seite las, glühten mir bald die Wangen. Ich wurde aufgeregt und verzagt und vom Text peinlich berührt. Ich stellte mir vor, wie mein Vater auf das Manuskript stoßen, es lesen und verlachen würde. Ich stellte mir die stets nette Florrie vor. Ich verspürte eine plötzliche Abneigung gegen Paul, der mich in dieser kranken, dummen Phantasterei über Liebe bestärkt hatte. Ich wußte nichts über die Liebe und werd’s wohl auch nie. Ich war, wie mein Vater gesagt hatte, eine zweiunddreißigjährige Jungfer, und meine Vorstellungen von Liebe entstammten Büchern. Wie viele dieser Bücher 48
waren von Leuten geschrieben worden, die genausowenig wie ich über die Liebe wußten? Ich legte die Seiten zitternd aus der Hand. Mir war das Herz schwer. Ich konnte damit nicht weitermachen. Ich hatte geglaubt, in diesen Seiten eine neue Erfüllung zu finden, aber sie waren das Papier nicht wert. Kaum hatte ich diese feste Überzeugung gewonnen, erhob ich mich, trug den Papierstapel zur Waschschüssel und verbrannte ihn darin Seite für Seite. Wie die Flamme an der ersten Seite leckte, wie das Papier sich wellte, wie nach und nach die Schrift verblaßte und Wort für Wort verschwand: Das zu beobachten, labte mich. Ich würde von neuem beginnen, über etwas anderes schreiben, aber erst, wenn ich einen lohnenswerten Stoff hätte. Ich würde diesen Roman vergessen, als hätte er nie existiert. Ich wollte nichts schreiben, worüber mein Vater lachen könnte. Bevor ich nicht etwas Gutes und Starkes und Wahres schreiben könnte, würde ich gar nichts schreiben. Schluß mit dem So-tun-als-ob! Die zweite Seite ging schnell. An der dritten verbrannte ich mir den Finger. Bei der vierzigsten packte mich Bedauern. Und was, wenn ich irrte? Aber auch die vierzigste verbrannte, und die einundvierzigste – die zu lesen ich kurz innehielt – machte mich wieder sicher. Ich war zur Hälfte durch, als mich eine schwere Erschöpfung überkam und mich taumeln ließ, so daß ich befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Doch ich war entschlossen, mein Werk zu Ende zu führen. Ich verbrannte mir mehrmals die Finger, aber ich sorgte dafür, daß jede Seite meines Romans zu Asche zerfiel. 49
Ich erwachte am Morgen mit dem Gefühl innerer Leere, mit der Gewißheit, daß etwas für mich einst Wichtiges für immer verloren war. Als ich damals die Augen aufschlug, galt mein erster Gedanke dem Roman. Es sei so zum besten, dachte ich. Und bedauerte es nicht. Ich hatte lange geschlafen, da mich die Ereignisse des Vortages sehr erschöpft hatten, und das Frühstück war bereits abgeräumt, als ich nach unten kam. „Mattie wird dir machen, was du willst, zum Frühstück“, sagte Florrie und küßte mich auf die Wange. „Ich dachte, jede Minute, die du schlafen kannst, täte dir gut.“ „Es geht mir schon viel besser“, antwortete ich, obwohl das nicht stimmte. Ich fühlte mich ausgelaugt und wollte am liebsten wieder ins Bett. Florrie trank mit mir in der Küche eine Tasse Tee, während ich die Rühreier und Wurst aß, die Mattie mir gebracht hatte. Ich war gerade dabei, meine Nervosität abzulegen, und erwog, ob ich Florrie erzählen sollte, was ich mit meinem Roman gemacht hatte, als die Tür aufflog und Florries Ältester, Joe Bob, hereinplatzte. „Junger Mann, was ist das für eine Art, in ein Haus zu kommen?“ entrüstete sich Florrie. Er lächelte reizend. Dann blickte er mich an. „Großvater sagt, du sollst, wenn du aufgestanden bist, mal zu ihm runter kommen. Er will mit dir sprechen.“ Mir verging der Appetit aufs Frühstücken. Florrie blickte mich streng an. „Komm, Emmie! Iß anständig Frühstück! Du mußt nicht immer gleich losflitzen, wenn er den Mund aufmacht. Komm erst mal zur Ruhe und sammle neuen Mut, das ist wichtig. Außerdem sollst du 50
sowieso zuerst Pete kennenlernen.“ „Schon gut“, meinte ich gleichgültig. Ich war nicht gerüstet, meinem Vater so bald gegenüberzutreten. Zuerst mußte ich mich an mein Leben ohne Roman – mein Leben ohne Schreiben – gewöhnen. Ich mußte ein neues Leben aufbauen, und es wäre verhängnisvoll gewesen, wenn mein Vater wieder auf mich eingeredet hätte, solange ich mich auf nichts stützen konnte. Es war mir nichts mehr verblieben, womit ich ihm hätte widerstehen sollen: Ich konnte mich nur eisern an den Vorsatz klammern, nicht klein beizugeben und in das Haus meines Vaters zu ziehen, und hoffen, daß meine Entschlossenheit mich genügend gegen seine Angriffe feite. Ich stocherte in den Eiern auf meinem Teller herum und sah dann zu Florrie auf. „Ich bringe nichts hinunter“, sagte ich. „Echt, ich bin zu nervös.“ Sie biß sich auf die Lippe und nickte dann. „Nun gut. Ich bring’ dich jetzt zu Pete. Dann geht’s dir sehr bald wieder besser.“ Ich lachte aus Nervosität. „Wirklich? Klingt ja sehr spannend, dieser Pete! Hat er noch einen anderen Namen?“ „Nein“, antwortete sie mit einem geheimnisvollen Lächeln. „Komm!“ Wir gingen über das weite, von Kiefern und verkrüppelten Eichen durchsetzte Wiesenstück hinunter zu dem Häuschen, das Florrie und Billy als Neuvermählte bewohnt hatten. Florrie klopfte einmal laut an die Tür, öffnete sie dann, und wir traten in das dunkle Häuschen, wo ich nach dem 51
plötzlichen Wechsel vom Tageslicht fast blind war. Ich konnte erkennen, daß jemand sich langsam und unsicher aus der hinteren Ecke auf uns zubewegte. „Pete, ich bin’s, Florrie. Ich hab’ dir meine Schwester Emily gebracht, damit du sie kennenlernst.“ Bei dieser ersten Begegnung schätzte ich ihn sehr alt. Er bewegte sich mühsam, schlurfend und plump, als litte er unter Schmerzen und großer Schwäche. Er war zu klein, wirkte wie ein vom Alter gebeugter Greis, obwohl er meine Größe hatte. Ich gab ihm die Hand, als Florrie unsere Namen aussprach, und spürte, wie die langen, knöchernen Finger leicht meine Handinnenseite befühlten, als wollte er mir die Hand lesen, wie ein Blinder das tut. Aber ich hielt ihn nicht für blind, denn die großen, runden Augen glänzten und blickten direkt in meine. Mit Ausnahme dieser Augen – die wunderschön, aber für einen Menschen nicht normal waren – wirkte er sehr häßlich. Ich glaubte anfänglich, daß er keine Nase hätte, und Ekel kam in mir hoch, nur um augenblicklich von Mitleid oder etwas Ähnlichem erstickt zu werden, das sich weich und zäh wie Melasse in mir breitmachte und den Ekel fortspülte, noch ehe er sich richtig gebildet hatte. Mir wurde damals klar, daß er zwar eine Nase hatte, aber keine solche Nase, wie ich sie bisher gewohnt gewesen war: lediglich ein Paar Schlitze mit Hautlappen darüber. Alle drei gingen wir an den großen Tisch neben einem Fenster. Florrie und ich setzten uns, während Pete in der Küche verschwand. Ich sah Florrie an, sagte aber nichts. Ich hatte Fragen, aber das spielte im Moment keine Rolle. Pete kehrte mit einer Teekanne und drei Tassen und 52
Untertassen zurück; behutsam stellte er das Tablett auf den Tisch vor Florrie, die den Tee eingoß und uns allen reichte. Ich hatte dabei Gelegenheit, mir Pete genauer anzusehen. Seine Haut hing in Falten und Runzeln an seinem schmalen Körper, wie als Karikatur auf den Altersschwund, jedoch hielt ich ihn nun nicht mehr für alt, auch nicht für häßlich. Er ließ sich mit niemandem aus meiner bisherigen Erfahrung vergleichen, war also weder häßlich noch schön, sondern einfach so, wie er war. Wir tranken unseren Tee und lächelten einander an. Nach einer Viertelstunde erhob sich Florrie und gab zu bedeuten, daß es für uns Zeit zum Gehen wäre. Erst jetzt fiel mir auf, daß wir seit der Begrüßung nicht mehr gesprochen hatten und daß Pete überhaupt nichts gesprochen hatte. Und dennoch hatte ich mich noch nie bei einem Fremden so wohl, vom ersten Augenblick an so gelöst gefühlt wie in diesen verflossenen fünfzehn Minuten. Florrie und ich verabschiedeten uns, und Pete nickte und blinzelte uns mit seinen glänzenden Augen zu. „Er war dir sympathisch“, sagte Florrie auf dem Weg zum großen Haus hinauf. „Ja, Florrie … Wer ist er?“ „Ich weiß nicht“, antwortete sie, als wäre das gleichgültig. „Billy und ich haben ihm wohl das Leben gerettet. Und daraufhin … blieb er einfach bei uns.“ Sie schwieg, als wir an den beiden älteren Kindern vorüberkamen, die sich auf der Wiese tummelten. Dann redete sie weiter: „Ich möchte ihn nicht fortschicken. Er gehört richtig zur Familie.“ 53
Ich legte mich vor dem Mittagessen kurz aufs Ohr, und als Florrie zum Wecken in mein Zimmer heraufkam, setzte sie sich neben mich aufs Bett und streichelte mein Gesicht. Ich öffnete die Augen und spürte, wie der Traum unwiederbringlich aus meinem Gedächtnis schwand. „Ich träumte von Pete“, sagte ich, während ich noch damit rang, ihn zu behalten. Florrie nickte. „Tun wir alle. Gut oder schlecht?“ „Gut.“ Der Traum war weg, so daß ich nicht einmal mehr eine vage Vorstellung davon hatte, aber ich behielt ein Gefühl der Wärme und Herzlichkeit gegenüber Pete. „Meine Träume über ihn sind auch gute. Manchmal glaube ich …“ Sie sprach nicht weiter. „Daß er auch von uns träumt?“ erlaubte ich mir zu sagen. Florrie nickte. „Meistens sind unsere Träume gut – manchmal haben die anderen Alpträume. Ich nie. Aber Sarah Jane“ – das war ihre vierjährige Tochter – „hat ständig Alpträume über ihn. Aus irgendeinem Grund hat sie panische Angst vor ihm. Die anderen Kinder lieben ihn und wollen dauernd mit ihm spielen, aber Sarah Jane fängt immer zu weinen an, wenn sie ihn sieht. Ich weiß nicht, warum das so ist.“ Auch ich konnte das nicht verstehen. Pete könnte einem Kind nur auf den ersten Blick Angst einjagen – von ihm ging so etwas Harmloses, Sanftes aus, daß sein Äußeres bald nebensächlich wurde. „Ich frage mich, ob wir ihm Alpträume machen“, sagte ich. 54
Am nächsten Morgen tat ich etwas, das ich schon seit meiner Schulzeit nicht mehr getan hatte: Ich schnappte mir einen Zeichenblock und ging ins Freie, um mich an ein paar Zeichnungen zu versuchen. Später würde ich mich vielleicht auch wieder meinen Aquarellen zuwenden. Da ich meinen Roman aufgegeben hatte, brauchte ich etwas, um die Lücke zu füllen. Ich stellte meinen Klappstuhl an ein schattiges Plätzchen unter einem großen Baum, nicht weit von Florrie und dem Baby entfernt. Ich nahm mir vor, eine Zeichnung von ihnen zu machen: Mutter mit Kind im Sonnenschein. Ich hatte kaum mit dem Skizzieren begonnen, als ich bemerkte, daß Pete zu mir herhumpelte – wie immer langsam und gequält, als hätte er bei jedem Schritt mit einer großen Last zu kämpfen. Er stellte sich neben mich und beobachtete gespannt meine Finger, die auf dem Papier mit dem Bleistift Formen gestalteten. Als hätten sie seine Anwesenheit erahnt, kamen die beiden anderen Kinder (aber natürlich nicht Sarah Jane) um das Haus gelaufen und wollten mit dem armen Pete Bergziegen spielen. Einer der Hunde, ein Jagdhund, der hinter den Kindern hergelaufen war, zog beim Anblick von Pete den Schwanz ein und schlich sich davon. Während ich mir Gedanken machte, warum Hunde Pete fürchten sollten, arbeitete ich weiter an meiner Zeichnung, bis sie fertig war. Sie wirkte plump, und ich ärgerte mich über mein Ungeschick, aber Pete schien sie zu gefallen. Er bedeutete mir, ihm Block und Bleistift zu geben, und als ich sie ihm in die Hand drückte, hockte er sich ins Gras und machte sich ans Werk. 55
Er war nicht besonders gewandt, trotzdem erkannte ich das erste Gesicht als meines; das zweite als Florries; das dritte als seines. Sie waren weder technisch vollkommen noch recht gut, dennoch strahlte einem aus ihnen etwas derart Lebhaftes entgegen, so daß die Ähnlichkeit unverkennbar war. Nun begann er vor meinen Augen eine Geschichte zu zeichnen. Florrie – eine sehr junge Florrie – und einen jüngeren Billy; eine Sternennacht; eine Sternschnuppe; ein zerdrücktes Fahrzeugwrack – einen Flugkörper –, in einen Friedhof gestürzt. Ich war so vertieft in das, was er mir vorführte, daß ich fast gar nicht bemerkte, wie Florrie und das Baby wieder zum Haus hinaufgingen. Er zeichnete mir Bilder von einem anderen Land, und mit Bestürzung erkannte ich darin plötzlich die Landschaft aus meinen Träumen von der letzten Nacht. Ich hielt seine Hand mit meiner fest und suchte seinen Blick – aber seine Augen waren nicht menschlich, so daß ich nichts in ihnen lesen konnte. „Emily Katherine!“ Wie ein Peitschenschlag über mir. Ich riß den Kopf hoch und sah meinen Vater neben mir stehen. Wieder spürte ich sie, diese Angst aus der Kindheit. Mein Magen krampfte sich zusammen, und in alter Gewohnheit überlegte ich aufgeregt, was ich in seinen Augen Falsches getan hätte. „Komm her, Mädchen, ich hab’ dir was zu sagen!“ Was ich auch getan hatte, es mußte was ganz Schlimmes gewesen sein. Meine Hände und Füße fühlten sich wie Eisklötze an, während ich aufstand und zu ihm ging. Er packte mich, nicht gerade sanft, am Arm und führte 56
mich weg. „Ich weiß, im Norden droben predigt man das Nigger Lieben“, sagte er. „Aber du bist meine Tochter, und ich werde nicht … Lieber wirfst du dich verdammt noch mal dem größten, schwärzesten Nigger von ganz Texas um den Hals, als daß ich noch mal erlebe, was ich gerade gesehen hab’.“ Seine Stimme war heiser vor Zorn, und seine Finger drückten in meinen Arm. „Daddy, nicht!“ Ich versuchte mich loszureißen. „Ich verstehe nicht, was du da redest!“ Ich wußte, meine Stimme war zu schrill, und ich konnte mein Zittern nicht verbergen. Wie haßte ich ihn damals dafür, daß er mir so angst machte! „Ich rede von diesem Ungetüm. Schlimm genug, daß Florrie und Billy es behalten – ungeheuerlich, daß du mit ihm den Kopf zusammensteckst und ihm schöne Augen machst. Siehst du denn nicht, daß dieses Ding kein Mensch ist! Es ist ein Tier und gehört nicht hierher. Es sollte getötet werden, genauso wie man eine Schlange tötet, damit sie ihr Gift nicht verspritzen kann.“ „Untersteh dich, Pete ein Ungetüm zu nennen!“ sagte ich, den Tränen nahe. „Und solche Andeutungen zu machen …“ „Ich mache keine Andeutungen. Ich sage dir nur: Dieses Ungetüm bringt nichts Gutes, und du sollst lieber die Finger davon lassen. Wenn ich je wieder sehe, daß du dich an dieses Ding heranmachst …“ „Hör auf!“ Er ließ meinen Arm los. „Emily, hörst du, du tust, was dein Vater dir sagt, und hältst dich von diesem Ding fern! 57
Sprich nicht mit ihm, faß es nicht an, sitz nicht bei ihm! Oder es soll dir leid tun – dafür werd’ ich sorgen!“ Meine Augen schwammen in Tränen. Immer brachte er mich zum Weinen, dieser kindlichen Zuflucht. Es war mir noch nie gelungen, meinem Vater zu trotzen, außer durch meine Flucht nach New York. Und ich war mir sicher, daß er es als Flucht ansah – ich würde nie erwachsen werden in seinen Augen. Als ich zum Haus zurückging, dachte ich nicht an Florrie, sondern an Pete. Ich wollte den Frieden, den seine Anwesenheit mir gab, und ich wollte augenblicklich ungehorsam gegen meinen Vater sein. Also hielt ich auf das Häuschen zu, in dem Pete lebte. Wie ich sah, wartete er auf der Veranda schon auf mich. Und als ich ihn sah – seine liebe, schon vertraute, nichtmenschliche Häßlichkeit –, durchfuhr mich ein schmerzender Stich. Und obwohl ich noch nie in Ohnmacht gefallen war in meinem Leben, glaubte ich damals, gleich umzukippen, als ich auf der hölzernen Veranda Pete in die Augen starrte. Er berührte meinen Arm, und gemeinsam gingen wir ins Haus. Ich fühlte mich benommen und schwerfällig – zu groß, als ob meine ganze Haut plötzlich geschwollen und meine Kleidung qualvoll eng wäre. Pete führte mich aus dem Wohnzimmer in das Hinterzimmer, sein Schlafzimmer. Es war klein und vertraut. In unserer Kindheit hatten Florrie und ich hier oft mit unseren Puppen gespielt. Es wirkte jetzt sehr kahl, denn es fehlten die persönlichen Dinge, die man in einem Schlafzimmer erwarten würde. Das Bett an der Wand, der Stuhl am Fenster und der alte Flickenteppich auf dem Boden bildeten die 58
ganze Einrichtung. Ich sah zum Fenster, durch das, obwohl von rankendem Weinlaub überwuchert, gedämpftes Tageslicht einfiel. Meine Bedenken erahnend, trat Pete ans Fenster und zog die Läden zu. Ich hörte das feine, hohle Einklinken beim Schließen. Ich wollte ihm etwas sagen. Er wirkte befremdend, als er mir im plötzlich dunklen Zimmer gegenüberstand. Er kam zu mir, und ich konnte wieder seine Gesichtszüge erkennen, und sie waren mir wieder so vertraut, als hätte ich sie mein ganzes Leben lang tagtäglich gesehen. Ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, das Schweigen mit Worten zu brechen. Er legte seine offenen Hände, die Fingerspitzen nach oben, an meine Brüste, auf den festen, glatten Stoff meines Kleides, und meinte damit: ausziehen. Ich konnte ihn nicht ansehen, als ich das tat: Ich wandte ihm den Rücken zu, und als wir beide uns auszogen, raschelte es im Zimmer wie von einer rauschend aufflatternden Vogelschar. Und mein Herz pochte wie bei einem gefangenen Vogel, als ich nackt ins Bett schlüpfte. Pete legte den Kopf an meine Brust, lauschte meinem Herzschlag, kniete sich neben das Bett, streichelte mich bedächtig mit der flachen Hand und besänftigte mein Zittern, wie man ein Pferd beschwichtigt. Als ich ruhig geworden war und nur ein bißchen schneller als normal atmete, kam er ins Bett neben mich und drückte sich fest an mich. Sein Körper war kalt, so kalt, daß ich mich fürchtete, und überall warzig wie von einer Gänsehaut. Ob er sich auch fürchtete? Durch diese 59
Möglichkeit war mir wieder wohler zumute. Sein Gesicht näherte sich meinem.und ich schloß die Augen in Erwartung eines Kusses. Es wäre nicht mein erster Kuß. Aber seine Lippen berührten mich nicht. Vielmehr spürte ich seinen warmen Atem auf meiner Gesichtshaut und etwas sanft Bebendes, was seine Nase war, wie ich später entdeckte – oder vielmehr die Hautlappen über seinen Nüstern, die sich beim Schnaufen einund auswärtsstülpten. Mir wurde allmählich überall warm – viel zu warm –, und seine kühle, rauhe Haut, die an meiner rieb, erzeugte eine Empfindung, die ich wollte und brauchte. Ich hielt die Augen fest geschlossen. Seit ich sie zugemacht hatte, hatte ich sie mir nicht mehr zu öffnen getraut. Ich hatte etwas erspäht – hatte sein männliches Glied erspäht –, das zwischen seinen Beinen aufschoß: ein furchterregendes, rötliches Gewächs. Ich spürte es, wärmer als den übrigen Körper, wenn es bei seinem Schnuppern und Streicheln hin und wieder mein Bein streifte. Ich lag ganz still, die geballten Hände an der Seite, geballt vor Sehnsucht und vor Entsetzen. Ich wollte ihn in meine Arme schließen und hatte Angst, ihn anzufassen. Ich wünschte mir, ohnmächtig zu werden, daß alles plötzlich durchgestanden sei, daß ich wüßte, was ich tun sollte. Aus meiner Kehle kam ein weicher Seufzer. Ich glaubte, weinen zu müssen. Ich war erregt, verzweifelt und schrecklich verwirrt. Noch nie hatte ich in einem solchen Wirrwarr widersprüchlicher Sehnsüchte gesteckt. Ich stöhnte noch einmal, erbettelte seine Hilfe, sein Mitleid. 60
Ich spürte, wie er plötzlich wegrückte, und riß die Augen auf. „Pete.“ Er sah mich an, aber ich konnte in seinen Augen nichts lesen. Was er wohl dachte? Ich bemerkte, wie grün seine Haut in dem gedämpften Licht war, und sah, wie die unbehaarte Haut von seinen Knochen hing. Mir wurde wieder klar, was er war. Doch dann fiel ich nicht in Ohnmacht oder lief fort, sondern empfand ein höchst unwahrscheinliches Aufwallen von Liebe in mir. Es pulsierte mit dem Blut durch meine Adern, wärmte mich und gab mir soviel Mut, mich halb aufzusetzen – wobei ich verbissen versuchte, meine Nacktheit zu mißachten – und vorzubeugen, so daß ich seine Hand ergreifen und ihn näher an mich ziehen konnte. Ich versuchte, die rasche Entwicklung, das Wachsen zwischen seinen Beinen zu übersehen. Er nahm mich in seine Arme, und ich schloß wieder die Augen. In mir wüteten unsinnige Traumbilder, mein Denken wurde zum unwegsamen Dschungel. Er öffnete mit den Händen meine Beine, und ich glaubte, mein Herz würde mir aus dem Mund hüpfen. Nein – ich wollte es nicht – ich wollte wieder allein und sicher sein – ich wollte es – ich wollte es nicht… Ich schrie los beim ersten Anflug von Schmerz – viel lauter, als es das leichte Unbehagen gerechtfertigt hätte –, und er hörte auf der Stelle damit auf, mir weh zu tun. Als er seine Lage veränderte, fielen meine beiden Beine zurück. Tränen sickerten aus meinen zusammengekniffenen Augen – Tränen der Angst und Scham –, und er leckte sie fort. Schließlich streichelte er mich wieder, und ich be61
merkte, daß seine Fingerspitzen wärmer geworden waren. Sie waren angenehm rauh, wie eine Katzenzunge. Sie glitten zwischen meine Beine, liebkosten mich immer intimer, bis sich meine Beine öffneten und sich mein Körper wand und ich stöhnte und in seltsamen, raschen, abgehackten Sequenzen dachte und mein Atem so schnell wie mein Denken ging und ich ihn und meine Angst vergaß, als läge ich allein in meinem Bett, und also die Zähne zusammenbiß, den Rücken wölbte und still und leise innerlich schrie und die schillernden Blasen meines Denkens zum Zerplatzen brachte. Weit entfernt, dennoch sehr nah, spürte ich, wie er sich bewegte und sich dann Seite an Seite mit seinem kühlen, rauhen Körper an mich schmiegte. Als ich, wie in den Schlaf gewiegt, einschlummerte, war ich zufrieden. Ich hatte den Eindruck, Pete nicht nur körperlich, sondern auch geistig zu spüren – wir sanken gemeinsam in Schlaf, und sein Geist war mit meinem verschmolzen, wie es unsere Körper nicht gewesen waren. Sein Geist verschaffte dem meinigen Linderung, wie seine Hände meinem Körper Linderung verschafft hatten. Ich fühlte mich sehr schläfrig, und es war schön, wenn auch völlig neu für mich, einem anderen so nahe zu sein. So nahe, selbst im Schlaf nicht allein. Dann zerschlug das Gesicht meines Vaters – der als Erinnerung oder Traum auftauchte – mein Glück, und ich versuchte, den Schlaf zu verscheuchen. Aber ich war zu keiner Bewegung fähig, konnte nicht einmal die Augen öffnen. Je mehr ich mich dagegen sträubte, um so tiefer zog es mich in den Traum hinein. 62
Ich sah meinen Vater, der in der Küche saß und das Gewehr reinigte, das er zum Erlegen von Eichhörnchen und Hasen benutzte. Aber ich wußte mit absoluter Gewißheit, die wir in Träumen haben, daß er sich damit keinen Braten fürs heutige Abendessen schießen wollte. Seine Gedanken standen mir offen: Ich wußte, daß er einige seiner hiesigen Bekannten aufsuchen würde – Männer, die sich schnell in Angst versetzen ließen angesichts der Bedrohung, die Andersfarbige für ihr Eigentum und ihre Frauen darstellten. Mein Vater dachte an mich: eine um den Verstand gekommene alte Jungfer, leichte Beute für so ein Ungetüm, das er jetzt umbringen oder zumindest foltern und verstümmeln und aus dem Land jagen wollte. Die erniedrigende Vorstellung, die mein Vater von mir hatte, brachte mich einen Moment lang in helle Wut. Seine Finger schlossen sich fester um das Gewehr in seinem Schoß, und ein Zucken ging durch sein Gesicht. Hatte mein Haß das bewirkt? Er versuchte, das Gewehr aus der Hand zu legen, aber es gelang ihm nicht. Ich bekam Freude an meiner Macht und ließ ihn aufstehen. Mein Vater nahm die Patronen und lud die Waffe – nicht auf meine Weisung, sondern aus eigenem Antrieb. Während ich ihn beobachtete, bemerkte ich, daß er an Pete dachte. Seine Miene war haß- und wutverzerrt, und seine stechenden Blicke wanderten hastig suchend durch die Küche, als spürte er Petes Anwesenheit. Das Gewehr bewegte sich – scheinbar aus eigenem Antrieb –, obwohl mein Vater, während seine Hände den Lauf auf die eigenen Beine richteten, verzweifelt dagegen ankämpfte. 63
Der wilde Kampf vollzog sich stumm. Pete half mir, und seine Kraft verstärkte meine. Ich werd’ dich ihn nicht erschießen lassen, dachte ich eisern, an meinen Vater gerichtet. Du wirst Pete nicht erschießen. Der Gewehrlauf schwenkte, und für einen Augenblick glaubte ich, mein Vater würde gewinnen. Ich zwang meinen Vater, das Gewehr zu heben. Er hielt es jetzt in einer ganz unnatürlichen und ermüdenden Haltung. „Emily!“ Er keuchte meinen Namen wie einen Fluch. Wieder forderte er, anstatt zu bitten. Er wollte meine Macht nicht anerkennen; sogar als ich seine Bewegungen lenkte, glaubte er noch, mich befehligen zu können. Das Gewehr zielte auf sein Herz. Ich hätte ihn töten können, hätte ich das gewollt. „Emily!“ Der Ton, der mich erschaudern lassen konnte, selbst in meinen Träumen. Der Lauf ruckte, hin und her gerissen zwischen seinem Willen, ihn abzuwenden, und meinem Willen, ihn so zu belassen. Hin und her gerissen wegen meiner Unschlüssigkeit. Ich schoß auf ihn und spürte einen ungewöhnlichen Augenblick lang die Kugel durch seinen Leib jagen. Daraufhin fiel ich in Ohnmacht oder Schlaf. Als ich erwachte – ich fühlte mich krank und elend –, war Pete bereits auf und angezogen. Er saß am Fenster. Ich schlüpfte in meine Sachen und ging aus dem Haus, ohne ein Wort zu sagen. Er drehte sich nicht einmal nach mir um. Ich war es, die meinen Vater fand – in einer Blutlache liegend. Wahrscheinlich wäre niemand sonst bei ihm 64
vorbeigekommen, und wenn ich damals nicht auf einen Sprung reingeschaut hätte, wäre er gestorben. Es war selbstverständlich, daß mir die Aufgabe zufiel, bei ihm zu bleiben und ihn wieder ganz gesund zu pflegen. Jeder nannte es ein großes Glück, daß ich heimgekommen war. Und als mein Vater genesen war, schien es das beste, daß ich weiter bei ihm wohnte. Schließlich war das Haus zu groß für einen Mann, und Florrie, die ein weiteres Kind erwartete, konnte das Zimmer, das ich belegt hatte, gut gebrauchen. Mein Vater sagte, er habe versehentlich einen Schuß ausgelöst, als er das Gewehr reinigte – er habe nicht gewußt, daß es geladen sei. Er brachte nie die Rede auf unseren Kampf – weder mir noch jemand anderem gegenüber. Vielleicht war es nur ein Traum. Ich bekomme immer noch Träume von Pete, aber das ist die einzige Zeit, da ich ihm nahe bin. Ich fühle mich in seiner Gegenwart nun unwohl und gehe ihm aus dem Weg, außer in meinen Träumen. Und keiner würde behaupten, wir hätten das, was wir in unseren Träumen tun, unter Kontrolle. LEBEN UND STERBEN Die neue Frau, Florries Schwester, war eine Überraschung für ihn. Sie war offen und verwundbar und zeigte ihm ihre Bedürfnisse, Wünsche und Ängste intensiver, als er es bei Menschen für möglich gehalten hätte. Er brauchte gar nicht zu suchen – sie bot alles an. Überraschend war auch, daß er schon Sekunden nach dem Kennenlernen erkannte, daß er ihre Bedürfnisse er65
füllen könnte. Die Erkenntnis packte und fesselte ihn. Ob es wohl möglich wäre, nicht für immer ein Fremder bleiben zu müssen? Eine echte Kommunikation mit einem dieser Wesen haben zu können? Er ersehnte und fürchtete zugleich die Einheit, die möglich wäre. Könnte das nicht auch eine Falle sein wie der Schlaf, der es ihm so angetan hatte als Schlüssel zum Verstehen dieser Fremdlinge? Sich ihnen oder einem von ihnen anzunähern, barg das Risiko, zu menschlich zu werden; das Risiko, alles zu verlieren, das ihn zu dem machte, was er war. Er würde vielleicht lediglich zu einem grotesken Pseudomenschen. Aber wenn er den Rest seines Lebens unter Menschen verbringen und nie mehr unter seinesgleichen sein würde, mußte er versuchen, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Er mußte in enge Verbindung mit der menschlichen Gesellschaft treten. Er konnte nun mühelos ihre Gedanken lesen, und er konnte Gefühle senden, aber die Möglichkeit, mehr zu erreichen, eine echtere und gleichrangige Kommunikation einzurichten, reizte ihn gewaltig. Der Gedanke an diese Möglichkeiten weckte wieder sein Gefühl der Einsamkeit, und Emilys offene Sehnsucht fand großen Anklang bei ihm. Wie einsam er doch war! Wie sehr er die Seinigen vermißte! Wäre er daheim, würde er sich nun seine Lebensgefährtin suchen. Hand in Hand damit ging ein beinahe unleugbarer Drang, und entschlossen sah er von allem ab, was an ihr körperlich so befremdend – fast widerlich – für ihn war, und konzentrierte sich entschieden auf die Ähnlichkeiten. 66
Er machte sich daran, sie kennenzulernen, indem er sich ihr bekannt machte. Zuerst schickte er einen Traum, ließ dem dann Bilder folgen, als sie wach war, um ihr in aller Deutlichkeit klarzumachen, daß er von einer anderen Welt kam. Aber es war keine Zeit, dem Hofmachen seinen gemächlichen Lauf zu lassen. Sie kam eines Nachmittags in großer Not zu ihm und übermittelte ihm obendrein, daß ihm von ihrem Vater Gefahr drohe. Es blieb keine Zeit, einander kennenzulernen, keine Zeit, ganz natürlich in eine körperliche Vereinigung hineinzuwachsen. Ja – alles war anders auf dieser Welt: Alles ging so rasch, das Leben der Leute war so schnell abgelaufen. Er mußte sich dieser Geschwindigkeit anpassen – vielleicht mochte der körperlichen Verbindung später die geistige folgen. Es hätte vielleicht funktioniert; es hätte vielleicht trotzdem funktioniert; wenn nur nicht Emilys Angst gewesen wäre. Ihre Angst strömte eine verpestende, ruchlose Atmosphäre aus, die ihn entsetzte, ihn verwirrte und seine Genitalien schrumpfen ließ. Angst war in der Liebe fehl am Platz, und obwohl sie, nachdem er das Zimmer abgedunkelt und sich in seinen Visionen eingeschränkt hatte, eine der Seinigen hätte sein können, und obwohl ihr Verlangen nach ihm in ihm ein Verlangen nach ihr geweckt hatte, vereitelte ihre Angst jedes Verlangen und setzte ihn außer Gefecht. Dennoch brauchte sie ihn – das spürte er –, und als sie (ihre Angst tapfer überwindend) nach ihm griff, versuchte er, am ganzen Leib vor Verwirrung zitternd, ihre 67
Angst außer acht zu lassen. Doch dann tat er ihr weh, und der Schmerz und die Angst richteten ihn vollends zugrunde. Was war das nur für ein Geschöpf, Schmerz und Angst zu empfinden und dennoch Verlangen zu haben? Plötzlich sah er sie im rechten Licht und durchsuchte ihre scheußliche Mischung aus Leib und Gemüt. Sie war ein völlig fremdartiges Ungeheuer, ein Monster, widernatürlich und eklig. Trotzdem hatte er ihr weh getan, auch wenn sie ein Ungetüm war, und reagierte fast instinktiv, ihren Schmerz zu unterbinden. Während er sie mit den Händen zum Höhepunkt brachte, hielt er seine Gefühle eisern in Schach. Er wollte weglaufen, in Panik davonstürzen, diesem rotierenden, lähmenden Planeten entfliehen. Er senkte sie in tiefen Schlaf und wußte, daß er ihr folgen mußte. Er machte sich auf die Suche nach ihrem Vater, auf die Suche nach der Gefahr, weil er jeden Gedanken an das, was er gerade mit diesem fremdartigen Geschöpf getan hatte, vermeiden wollte. Er würde niemals wieder eine Beziehung mit einem Menschen erwägen. Er würde sich mit diesen Kreaturen, seinen arglosen Kerkermeistern, nur insofern abgeben, wie es für die Erhaltung seines Lebens notwendig wäre. Er war ein Gestrandeter und mußte sich endlich mit seinem Eremitendasein abfinden und sich eine Paarung mit diesen Tieren aus dem Kopf schlagen. Und so verlebte er die Jahre in freiwilliger Einsamkeit. Er sah wenige Menschen und hatte für keinen davon etwas übrig. Billy starb und Florrie nach ihm, aber er 68
trauerte keinem von ihnen nach. Andere kamen zur Welt, die ihn weiter in dem Häuschen leben ließen, ihm Essen brachten und gelegentlich Gesellschaft leisteten; sie hielten ihn wohl für einen komischen alten Verwandten oder Familienknecht mit einem Recht auf ein Gnadenbrot, aber sonst nicht weiter interessant. So verlebte er seine Tage wie eine Haftstrafe und sträubte sich gegen die verbindenden Träume – wußte er doch mehr über diese Leute, als ihm lieb war, und war er doch mehr in ihr Treiben verwickelt, als ihm recht war – und die Tortur des allnächtlichen Schlafes, vor der ihm schauderte. Und dann kam eine zur Welt, die schon als Säugling anders war und ihre Gefühle bemerkbar machte. In ihr steckte etwas, das ihm in keinem der bisher gekannten Menschen begegnet war. Sie weckte eine Regung in ihm, ein Interesse, das er längst für tot gehalten hatte. Und weil er vielleicht in einem Alter war, da er selbst ein Kind gehabt hätte, wäre er daheim, machte er sich viel aus dem Mädchen und begann sie zu lehren, um ihre seltsame Gabe zu nähren. Er spann Träume für sie. Er gab ihr von sich, verbrachte seine Nächte in ihren Träumen und wurde zum Lehrer und geistigen Vater dieses seltsamen Kindes, das in seiner Obhut zu einem Unter- oder Übermenschen reifte. JODY Sobald ich aus dem Bus gestiegen war, ließ ich meine Gedanken zu Pete vorauseilen, um zu sehen, wo er war und was er fühlte. Und weil es ein wunderschöner Tag 69
mit blauem Himmel war und mich das lange Sitzen in der Schule, eingezwängt zwischen einem Haufen dummer Kinder und Lehrer – die alle miteinander bei weitem nicht so viel wie ich wußten – zappelig und miesepetrig gemacht hatte, fing ich zu laufen an, sobald ich auf die staubige Nebenstraße gelangt war, die von der Hauptstraße abging und durch den Wald nach Hause führte. Aber etwas war anders. Wie immer fand ich Pete zwar, aber er schob mich weg. In seinem Kopf ging alles drunter und drüber. Ich konnte es nicht verstehen, und er half mir auch nicht. Ich versuchte, etwas ausfindig zu machen, das hinter dieser Gedankenflut steckte. Ob es Angst war? Oder Wut? Mit einemmal erkannte ich’s: Freude! Ihm hüpfte das Herz vor Freude, vor fast unerträglicher Aufregung, so daß er mich nicht einmal bei sich haben und sie mit mir teilen wollte. Ich merkte, daß ich stocksteif auf der Straße stehengeblieben war und wohl die Maulsperre kriegte. Ich rappelte mich auf. Mein Herz machte Sprünge wie ein sterbender Fisch. Ich wußte nicht, was los war, aber es mußte etwas Schreckliches passiert sein. Ich konnte mich nicht an das letzte Mal, als Pete mich weggeschoben hatte, erinnern. Der Weg über die endlose, staubige Straße, die abwechselnd im Schatten der Kiefern und in der grellen Sonne lag, war eine Qual ohnegleichen. Meine Reaktion kam wohl nicht nur daher, daß er mich von sich wegschob – ich glaube, ich wußte schon Bescheid; erahnte gefühlsmäßig, daß es zwischen Pete und mir nun schlicht zu Ende sei. 70
Die runde Kieseinfahrt war mit einem ganzen Fuhrpark fremder Autos vollgeparkt, und als ich vorne in die große Diele kam, schlugen mir blaue Schwaden und helle Stimmen entgegen. Sie waren alle im Wohnzimmer. Die Unterhaltung ging zunächst weiter, da ich in der Tür unbemerkt blieb. Meine Leute waren da, ebenso meine aus Austin angereiste Schwester mit ihrem Freund, einem kleinen Politiker, außerdem Reporter mit Fotoapparaten und Tonbandgeräten, ein paar führende Politiker und einige sehr stille Männer, bei denen es sich nur um Polizisten in Zivil handeln konnte. Und Pete war da, mittendrin auf dem antiken italienischen Stuhl sitzend, der immer ausschließlich für Besucher vorbehalten war. Die Reporter umschwirrten ihn wie Fliegen einen Kuhfladen. Ich rief Pete an, aber seine Mauer stand noch. Meine Schwester Mary Beth, die bis jetzt mit einer Frau geplaudert hatte, drehte sich um und erblickte mich. „Jody!“ Sie eilte mir entgegen. „Gott sei Dank bist du endlich hier – ich wollte dich schon von Duane mit dem Wagen aus der Schule holen lassen.“ Obwohl sie sich sogar freute, daß ich hier war, konnte ich fühlen, daß sie mich automatisch von oben bis unten musterte und mein Äußeres mißbilligte. Für sie unverständlich, daß ich mich so schäbig für die Schule anzog und in ausgebeulten Bluejeans, einem unter der Achsel zerrissenen Hemd und staubigen Stiefeln herumlief. Ich zog ihr eine Grimasse für ihre Gedanken, was sie ein bißchen aus der Fassung brachte. Sie packte mich ziemlich fest am Arm und flüsterte mir zu: „Jody, benimm dich! Es sind ein paar sehr 71
wichtige Leute hier, die sich für Pete interessieren.“ „Na und?“ Mir war übel. Das war’s. Das war’s also. Irgendwie haben die Behörden das mit Pete entlarvt, und nun sind sie hier, um ihn mitzunehmen. Und Pete saß einfach da und tat, als wäre ich Luft. Er ergab sich seinem Schicksal. „Fehlt dir was?“ Ich muß wirklich schlimm ausgesehen haben, daß Mary Beth meine rüpelhafte Antwort einfach überhörte. „Nein“, sagte ich. „Was geht hier vor?“ Anstatt mir eine Antwort zu geben, wandte sich Mary Beth an die Versammelten. „Bitte herhören!“ rief sie munter, als spräche sie zu ihrem Kegelclub. „Jody ist von der Schule heimgekommen! Sie konnte sich schon immer wie kein anderer mit Pete verständigen – eine besondere Gabe, die sie hat.“ Alle Blicke richteten sich auf mich. Ein Blitzlicht leuchtete auf. „Schert euch alle zum Teufel!“ sagte ich, den Kopf gesenkt, vom Lichtblitz geblendet, aber ich sagte es so leise, daß wohl nur Mary Beth es gehört hatte. Ihre langen Nägel bohrten sich warnend in meine Haut. Ich blickte zu Boden. Ich würde ihnen nicht beim Holen von Pete helfen. Mary Beth müßte schon eine Menge mehr tun, als mich zu kneifen, um mich zum Reden zu bringen, dachte ich mir. „Jody“, sagte meine Mutter drohend, aber noch durchaus höflich. „Niemand will Pete etwas tun. Wir haben gerade erfahren, daß er von einem anderen Planeten stammt. Und seine Freunde …“ 72
„Ihr seid nicht seine Freunde!“ schrie ich. „Keiner von euch! Pete hat keine Freunde außer mir!“ Meine Gedanken flitzten umher wie ein Hamster in einem Laufrad, als ich nach einer Möglichkeit suchte, Pete und mich in Sicherheit zu bringen. Wir mußten fort von hier. Ich konnte Auto fahren, obwohl ich für den Führerschein noch zu jung war, und wenn ich irgendwelche Autoschlüssel in die Hand kriegen könnte … Pete trat nun in meine Gedanken – vielleicht hatte er mich die ganze Zeit beobachtet und wußte, was ich vorhatte –, aber setzte dem ein Ende. Er zeigte sich mir, umringt von anderen, die ihm ähnlich sahen. Es waren seine Leute, seine Freunde, die ihn gefunden hatten und gekommen waren, ihn heimzuholen. Und Pete war glücklich. Überwältigend, unerträglich glücklich, diesen Planeten – sein Exil – verlassen und wieder heimkehren zu können. Er verließ mich. Nicht nur einen fremden Planeten, sondern mich. Und er war glücklich. Pete trat mit seinem Trost an mich heran, aber ich entwand mich dem mühelos, weil er nicht voll dahinterstand. Er schwelgte in Freude, so daß er für mich keine Zeit hatte. Daß ich traurig war, machte ihn nur ärgerlich. Meine Mutter und Mary Beths beflissener Freund bemühten sich abwechselnd, mir zu erzählen, was ich bereits wußte. Wie betäubt ließ ich alles über mich ergehen und wandte nicht ein, sie könnten sich ihre Worte sparen, und mir sei das alles egal. Pete hatte mir alles gesagt, was ich wissen mußte, und die Einzelheiten der Landung und Entdeckung waren mir gleichgültig. Es war mir schnup73
pe, was das Fernsehen gesendet hatte oder wie die übrige Welt reagierte. „Mary Beth und ich hatten zufällig den Fernseher laufen, als wir heute morgen frühstückten …“ Duane verstummte plötzlich und wurde rot. Das größte Ereignis der Geschichte hatte sich gerade zugetragen, und dieser Idiot glaubte, die Leute würden sich darum scheren, ob er die Nacht mit Mary Beth verbracht hatte. „Und da sahen wir sie“, ergänzte Mary Beth schnell für ihn. Sie würde ein gutes Frauchen abgeben. „Da sahen wir sie im Fernsehen. Zuerst konnten wir es gar nicht glauben – Duane hielt es für einen Ulk, aber ich sagte: ,He, ist das … das ist doch Pete! Unser komischer alter Pete!’ Nachdem ich Duane also über Pete erzählt und wir uns angehört hatten, was im Fernsehen über die außerirdischen Besucher, die nach einem vermißten Kameraden suchten, berichtet wurde, sagte Duane also, daß er vielleicht seinen Freund im Gouverneursbüro anrufen sollte; eventuell auch die Zeitung und …“ Ich wandte mich ab und wollte gehen, weil ich das Bedürfnis hatte, allein zu sein. „Jody, wir sind noch nicht fertig“, kam es von Mary Beth. „Ich weiß bereits, was du sagen willst“, antwortete ich. „Aber alle haben auf dich gewartet“, sagte Duane. „Gibt es nichts, was Pete uns allen sagen möchte? Kannst du uns nicht seine Stimmung schildern?“ Ich sah sie alle einen Augenblick lang an, alle mitsamt Pete, der etwas wacklig auf dem guten Stuhl saß, wie ein 74
zittriger Greis. Die Membrane an seinem Hals war leicht gebläht und auffallend orange. Da der Fotograf ganz gelassen blieb, vermutete ich, daß dies für ihn –im Gegensatz zu mir – nichts Neues war. Es war, wie ich wußte, ein Zeichen hochgradiger Erregung, das ich bisher aber noch nie gesehen hatte. „Er ist sehr glücklich“, sagte ich schließlich. „Er ist sehr, sehr glücklich, daß seine Freunde ihn endlich holen kommen, und er kann die Heimkehr kaum erwarten. Das ist alles. Er hat nicht mehr zu sagen – zu sagen hat er nur seinen Freunden etwas.“ Daraufhin ging ich in mein Zimmer hinauf und schloß die Tür ab. Meine Mutter kam ein paar Stunden später mit ein paar Sandwiches, einem Stück Kuchen und einem Glas Milch auf einem Tablett herauf. „Du hast wohl Hunger“, sagte sie, als sie das Tablett auf meine Kommode stellte. „Danke“, antwortete ich, während ich mich schon über das Bett nach dem Essen auf der Kommode streckte. Ich hatte Hunger, obwohl ich wünschte, keinen zu haben. Ich hielt es für verkehrt, daß ich zur gewohnten Zeit Hunger bekam, obwohl mein ganzes Leben vor der Katastrophe stand. Zum Probieren brach ich ein Stück vom Kuchen ab. Meine Mutter setzte sich neben mich aufs Bett. „Jody“, begann sie behutsam. „Du verstehst Pete sehr wohl. Kannst du – ich meine – seine Freunde sprechen angeblich alle auf dem Gedankenweg. Sie bringen keine Laute hervor, die tatsächlich aufgenommen werden können, aber wir haben den Eindruck, daß sie miteinander reden. 75
Das habe ich wenigstens gehört. Kannst du – wenn du weißt, was Pete will, kannst du seine Gedanken lesen?“ „Wenn er mich läßt“, antwortete ich. Meine Mutter hatte Angst vor mir, schon als ich erst ein Baby war, auch wenn sie das nicht einmal sich selbst eingestehen wollte. „Kannst du …?“ Sie sprach nicht weiter. Sie würde mir nicht glauben, wenn ich ihr jetzt antwortete, also wartete ich ab. „Spricht er zu dir durch … hm … Telepathie?“ Sie sprach das Wort mit einer recht komischen Betonung, so daß ich vermutete, sie habe es heute zum erstenmal gehört. „Ja, irgendwie schon, schätze ich“, antwortete ich. „Warum kann er dann nicht mit uns allen auf diese Art sprechen? Die übrigen Außerirdischen sprechen mit allen auf dem Gedankenweg. Warum, meinst du, kann Pete das nicht?“ Ich blickte sie mit großen Augen an. Ich war immer davon ausgegangen, daß ich Pete verstehen konnte, weil ich ein besonderer Mensch war. „Jody“, fragte sie, als sie sich gewappnet hatte, „kannst du unsere Gedanken auch lesen?“ „Nein“, sagte ich. „Schau, ich kann Petes Gedanken nur lesen, wenn er mich läßt. Er teilt sich mir sozusagen mit. Dann übermittle ich ihm, was ich denke. Wie ich das tue, weiß ich nicht – ich schätze, er lehrte mich das, als ich noch so klein war, daß ich mich nicht erinnern kann. Aber wenn er das nicht will, bring’ ich’s nicht fertig. Und ich bring’s auch nicht bei anderen Leuten fertig. Es ist, wie wenn ich Pete hören könnte, aber niemand anders gibt Dinge so wie er von sich.“ 76
„Aha.“ Meine Mutter neigte ihren dunklen Kopf und betrachtete ihre gepflegten Fingernägel. „Ich dachte – nun, weil es mir manchmal so vorkommt, als wüßtest du, was ich denke oder gleich sagen will, daß du vielleicht …“ „Ich kann deine Gedanken nicht lesen“, sagte ich. „Ich schätze, ich bin halt ein guter Beobachter. Ich kann mir allerhand zusammenreimen anhand deines Vorgehens, und weil ich dich kenne.“ Das stimmte zwar, aber ich wollte ihr keinesfalls von den Träumen erzählen. Ich wollte ihr keinesfalls dartun, daß ich nachts in ihre Träume gehen konnte und daß es ihre Träume waren, wodurch ich so viel über sie wußte. „Diese Außerirdischen“, sagte ich, wobei ich mich fragte, warum diese im Gegensatz zu Pete mit allen sprechen konnten. „Wann kommen sie hierher?“ „Im Laufe des morgigen Tages“, erwiderte sie. „Sie werden alle eingeflogen, zusammen mit einem Heer von Beamten, Geheimdienstleuten, Reportern – das übliche Aufgebot. Das ist eine große Sache, wie du weißt.“ Sie blickte mich neugierig an. „Hast du schon immer gewußt, was Pete ist?“ „Klar.“ „Und du hast nie ein Wort gesagt. Warum?“ „Warum sollte ich?“ Sie sah mich schweigend an, sah mich an, als bedauerte sie mich. „Arme Jody“, sagte sie und bestätigte meine Vermutung. „Pete hat dir immer schon besonders viel bedeutet, nicht wahr?“ Das verdiente eine Antwort nicht. 77
Meine Mutter sah mich an, als wollte sie den Arm um mich legen, als wollte sie zu mir in mein Denken kommen. „Versuche dich damit abzufinden“, sagte sie. „Natürlich wirst du ihn vermissen, aber so ist wirklich alles zum besten. Du weißt, daß er hier nie ganz glücklich war – er will heim, wo er hingehört, will wieder unter seinesgleichen sein. Überleg dir, was er fühlt.“ Ich versuchte, ihre Stimme auszusperren. Ich schloß die Augen. Ich wünschte, sie würde den Mund halten und gehen; sie hatte keine Ahnung. Ausgeschlossen, daß sie meine Gefühle verstünde. Allmählich haßte ich sie. Ich hörte sie seufzen und vom Bett aufstehen. „Nun gut. Versuch, ein bißchen zu schlafen, Jody! Wenn du ausgeruht bist, fühlst du dich wieder besser.“ Ich drehte den Kopf weg, als sie sich herabbeugte, um mich zu küssen. Dann verließ sie ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Ich selbst hatte mich bereits aufgemacht, Pete zu kontaktieren. Er war in seinem Haus und – wie ich glaubte – allein. Feine Vibrationen durchliefen seine fest angespannten Gedanken, und ich kriegte nichts zu fassen. Er schob mich nicht weg, sondern schenkte mir einfach keine Aufmerksamkeit. Dann passierte etwas – es traf mich wie eine statische Entladung, ein Stromschlag –, und zitternd setzte ich mich im Bett auf. Ich war auch nicht entfernt in Petes Nähe. Ich war allein in meinem Zimmer und fühlte mich eingekeilt. Und ich wußte, was gerade geschehen war. Ich wußte, was es bedeutete, auch wenn ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Pete hatte mit jemand anderem gesprochen. 78
Da ich nicht gesehen und aufgehalten werden wollte und keine Einmischung oder Hilfe wünschte, war ich sehr vorsichtig, als ich über die Hintertreppe und durch die Küchentür hinausschlich. Um zu Petes Häuschen zu gelangen, mußte ich vor dem erleuchteten Wohnzimmerfenster vorbei. Es war noch ziemlich hell draußen, so daß ich vielleicht gesehen würde, also umgab ich mich, als ich loslief, mit dem Bild eines Hundes, damit jeder, der eventuell aus dem Fenster schaute, mich für einen der Hunde hielte. Ich fand Pete, wo ich ihn vermutet hatte: in seinem Schlafzimmer auf dem geradlehnigen Rohrstuhl neben dem überflüssigen Fenster. Das Fenster war mit Ranken zugewachsen, und ich konnte Petes Gestalt in der Dunkelheit nur schwer ausmachen. „Pete?“ Ich versuchte nicht, mit seinem Denken in Verbindung zu treten, weil ich vermutete, daß er wohl noch in Kommunikation mit einigen seiner Leute stand. Es war kein schönes Gefühl, als ich vorhin mitten hineingeplatzt war. Kein bißchen schön. Ich wartete im Dunkeln auf ein Lebenszeichen von Pete. Das Warten machte mir nichts aus. Schon fühlte ich mich wohler, ruhiger. Natürlich bildete ich mir das ein, da sich nichts verändert hatte, aber nur mit Pete in# einem Zimmer zu sein, empfand ich als ungemeine Erleichterung nach der Verwirrung und Einsamkeit des Nachmittags. Er trat mit einer Frage an mein Denken heran. Eine vertraute, dennoch ungewohnte Annäherung. Er war anders: Er war glücklich. Die unangenehme Frage beschäf79
tigte mich, ob das, was ich bei ihm immer für normal hielt, dauernde Schwermut oder Einsamkeit oder Krankheit war. Ich bekam Gewissensbisse. Mir war es nie gelungen, ihn glücklich zu machen. Aber das war nicht meine Schuld; das konnte man nicht von mir erwarten – er übermittelte meinem Denken rasche Bilderfolgen. Er war einsam gewesen, und unsere Atmosphäre hatte ihn genauso krank gemacht wie die Sehnsucht nach der Heimat und den Freunden. Ich war machtlos – ich hatte ihn so glücklich gemacht, wie er das überhaupt werden konnte auf diesem seltsamen Planeten. Aber alles, was ich getan hatte, war nicht genug – nun würde er heimkehren, um wieder unter seinem Volk zu sein. „Was ist mit mir?“ wollte ich wissen, und weil ich so entsetzt war, stellte ich die Frage laut. „Ich bin wie du – du hast mich dir ähnlich gemacht. Ich bin anders als alle anderen. Ich kann nicht hierbleiben, wenn du gehst. Du weißt, was es heißt, einsam zu sein; stell dir vor, wie es für mich sein wird! Es ist nicht fair, es ist nicht richtig, daß du mich sitzenläßt, nachdem du mich zu einem kleinen Monster gemacht hast!“ Er versuchte mich zu beruhigen – das war immer seine erste Verteidigung gegen die zerstörerischen menschlichen Emotionen. Aber ich war nicht nur Mensch und ließ diese Beschwichtigung nicht über mich ergehen. „Verlaß mich nicht!“ sagte ich. „Ich ertrage es nicht, wenn du gehst. Ich werd’ ganz allein sein; werd’ niemanden haben. Mir wird nicht mal die Hoffnung verbleiben, daß eines Tages meine Leute mich holen kommen, 80
weil es nur dich gibt. Es gibt nur dich und mich, Pete. Wir gehören zusammen. Laß mich nicht mit Fremden allein! Nimm mich mit! Bitte, Pete! Wir müssen zusammenbleiben.“ Er liebte mich doch; ich war mir sicher. Und er mußte erkannt haben, was es für mich bedeuten würde, wenn er mich verließ. Er konnte mich nicht zu einer Einsamkeit verdammen, die schlimmer wäre als diejenige, aus der er gerade errettet worden war. Ich wäre eine Fremde unter seinem Volk, aber ich war noch mehr eine Fremde unter meinem eigenen. Wenn ich bei ihm bliebe, hätte ich nur, was ich schon immer hatte. Er nahm mich an; er willigte ein. Pete würde mich mit sich nach Hause nehmen. Bei Tagesanbruch glich unser Anwesen einem Rummelplatz oder Rock-Konzert. Zeitungsleute und Sicherheitsbeamte bevölkerten das Grundstück, und Scharen von Schaulustigen pilgerten von der Hauptstraße herauf, nur um von der Polizei wieder davongejagt zu werden. Ich war früh auf den Beinen, nachdem ich die Nacht bei Pete verbracht hatte. Er hatte lebhafte Erinnerungen an seinen Heimatplaneten mit mir geteilt, was er auch schon früher getan hatte, aber diesmal wirkten sie sogar noch wirklicher und ansprechender auf mich, weil ich selbst bald dorthin gehen würde. Ich war schließlich trotz meiner Begeisterung eingeschlafen. Aber ich träumte allein in dieser Nacht, denn Pete hielt mich nur in seinen Armen und lag die ganze Nacht lang wach. Ich trieb mich bei Mutter in der Küche herum, wäh81
rend ich auf das Eintreffen der Autokolonne mit den auf dem Flugplatz gelandeten Außerirdischen wartete. Ich half ihr und Mary Beth dabei, für die hungrigen Besucher Sandwiches und Kaffee zu machen, und hoffte, sie würden mir nicht anmerken, daß meine Stimmung von Trauer in Begeisterung umgeschlagen hatte. Weil sie natürlich alles tun würden, um mich aufzuhalten. Ich wußte, daß ich nicht einmal auf Wiedersehen sagen könnte – ich müßte mich irgendwie davonschleichen –, da sie mich andernfalls nicht gehen ließen. Sobald ich die kleine, schwarze Autokolonne vom Fenster aus sah, stürmte ich zur Tür hinaus, nahm eine Abkürzung, die sich durch den Wald schlängelte, und spurtete wild, weil ich plötzlich fürchtete, trotz Petes Versprechen zurückgelassen zu werden. Auf der Veranda und dem Grundstück von Petes kleinem Haus herrschte dichtes Gedränge. Kaum war ich dort angekommen, wurde es laut in der Menge, denn die Wagenkolonne rollte staubend heran. Ich streckte mich genauso neugierig wie alle anderen, um zu sehen, wie der erste Außerirdische ausstieg – aber es waren keine Außerirdischen, schalt ich mich. Es waren Leute, meine Leute, und ich mußte mich an sie gewöhnen. Als der erste durch die Wagentür herauskam, reagierte ich, als wäre es Pete, und ließ zur Begrüßung meine Gedanken zu ihm eilen. Aber keine Spur von Pete. Ich begegnete etwas Kaltem, Unverständlichem. Ich spürte, daß ebenfalls etwas nach mir tastete. Dann wurde ich zurückgestoßen. 82
Es erschienen noch zwei weitere, aber sie kamen mir alle gleich vor. Mit den übrigen Menschen verhielt sich das wohl nicht anders, aber ich glaubte, daß es wenigstens mir hätte möglich sein müssen, sie zu unterscheiden. Aber ich konnte keine individuellen Unterschiede zwischen ihnen feststellen, noch dazu weil sie enganliegende, hautähnliche Anzüge trugen, die ihre Geschlechtsunterschiede verbargen und sie vor dem Gift in unserer Atmosphäre, das Petes Haut so gereizt hatte, schützten. Pete kam, schwerfällig wie immer, aus dem Haus. Seine Halsmembrane war aufgebläht vor Aufregung, nach so vielen Jahren wieder mit seinen Leuten vereint zu sein. Als er über die Verandastufen herabtrat, wichen die Zuschauer vor ihm zur Seite, sowohl aus Angst vor einer Berührung als auch um ihm den Weg freizumachen. Seine außerirdischen Brüder gingen ihm entgegen, und alle vier verschmolzen zu einer großen Umarmung, die eine ganze Weile dauerte. Ich fühlte mich sehr seltsam: unwohl, unglücklich, ausgeschlossen, abgewiesen. Dann sprach einer der Außerirdischen, und es war merkwürdig, weil ich ihn in meinen Gedanken genauso hörte, wie ich Pete bereits so oft gehört hatte; jedoch waren seine Worte weder vertraulich noch persönlich – alle anderen hörten ihn, wie ich bemerkte, auch. „Wir danken euch allen, daß ihr unseren verletzten Bruder so gastfreundlich aufgenommen, gepflegt und umsorgt habt. Wir werden ihn nun mit uns heimnehmen und euch keine Umstände mehr bereiten.“ Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und drehte 83
mich um. Hinter mir standen meine Eltern, Mary Beth und Duane. Mit einem Achselzucken entzog ich mich der Hand meines Vaters. Pete? Ich dachte fest an ihn, aber er sah mich nicht an und gab kein Zeichen, daß er meine Gedanken wahrnahm. Pete, du sollst ihnen sagen, daß ich mit euch komme! Ich lief zu ihm, warf mich ihm um den Hals und drückte und küßte ihn. Pete, du wirst mich doch nicht verlassen? Ich spürte die kalte Berührung von einem der anderen Außerirdischen, der nun durch seine Gedanken sprach; ohne darauf zu achten, mit mir direkt zu sprechen, ließ er alle mithören: „Du kannst nicht mit uns kommen. Du mußt hier bei deinen Leuten bleiben, Kind.“ Ich war verkauft und verraten. Pete, sag’s ihnen! „Pete!“ flehte ich. Und zögernd übermittelte er mir seine Gedanken: Er habe gefragt, aber den anderen mißfalle allein schon die Idee. Sie wollten mich nicht, lehnten es ab. Der fügsame Pete hatte sich ihrem Willen gebeugt. Er hatte nicht darauf bestanden, erkannte sie. Er war so schwach und unsicher wie ein Krankenhauspatient. Scheinbar hatte er alle Eigenwünsche aufgegeben und überließ freiwillig den anderen das Sagen. Er war ihnen gegenüber genauso hilflos wie ich, aber aus freien Stükken, wie mir schien. Meine Mutter tippte mir auf die Schulter. „Liebling, nun wollen wir uns alle schön von Pete verabschieden. Wir werden ihn – weiß Gott – auch vermissen.“ Ich nahm ihr diese Worte übel, löste mich aber aus Petes Umarmung und trat zurück. Niemand könnte Pete so 84
wie ich vermissen. Meine Mutter zögerte einen Moment lang. Daß Pete kein altes Familienmitglied, sondern ein Außerirdischer war, machte sie ein bißchen scheu. Trotzdem hatte er zur Familie gehört, also bezwang sie ihre Furcht und schloß ihn in die Arme. Mein Vater schüttelte Pete die Hand und klopfte ihm auf die Schulter, als wäre er einer seiner Knechte, der zu einer langen Reise aufbrach. Meine Schwester fühlte sich recht unwohl in ihrer Haut, folgte aber dem guten Beispiel und umarmte ihn zum erstenund letztenmal in ihrem Leben. Pete streckte ihnen die Hände entgegen, als wollte er etwas sagen, ihnen vor dem endgültigen Abschied noch eine wichtige Mitteilung machen. Dann blickte er mich an, und ich sah seine Kehllappen dunkler werden und leicht beben; gleich würden sie sich aufblähen. Es entsetzte mich, dieses Zeichen der Erregung, denn ich wußte seine Bedeutung richtig einzuschätzen. Pete war traurig, weil er mich verlassen mußte. Und das bedeutete, daß er mich tatsächlich verließ, und das war das Ende ohne Rettung. Plötzlich weinte ich zum erstenmal seit Jahren und warf mich Pete an den Hals. „Nimm mich mit … O bitte, nimm mich mit!“ Ich weinte und flehte mit Gedanken und Worten, aus tiefster Seele. Ich wollte nicht allein sein. Mein ganzes Leben war ich nicht allein gewesen, und ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß er nachts nicht mehr durch meine Träume streifen würde. Meine Mutter versuchte, mich wegzuziehen, aber sie tat das zu sanft, weil sie mich bedauerte. Pete stand still 85
da und ließ meine Umarmung einfach über sich ergehen. Ich bezwang die Tränen, weil mir eine andere Chance eingefallen war. Ich würde mich wie Pete fügen; ich würde mich aber nicht unterwerfen, sondern es weiter versuchen. Ich ließ Pete los und wandte mich meiner Familie zu. „Hört!“ sagte ich, so ruhig ich konnte. „Laßt mich doch mitfahren! Nur im Wagen. Nur bis zur Hauptstraße. Ich muß mich von ihm verabschieden, brauche mehr Zeit. Bitte. Laßt mich! Bitte! Nur bis zur Hauptstraße – dort kann mich der Fahrer aussteigen lassen.“ Wenn ich in den Wagen gelangen könnte, hätte ich eine kleine Chance, den Menschenfahrer das Anhalten vergessen zu lassen; ihn meine Anwesenheit vergessen zu lassen. Meine Mutter machte gar kein begeistertes Gesicht – ihr war wohl klar, daß ich für Pete sie und die ganze Welt aufzugeben bereit war. „Ich komme zurück, echt“, sagte ich. „Will nur bis zur Straße mitfahren. Dann – möcht’ ich allein sein, eine Weile nachdenken. Geh’ ein bißchen im Wald spazieren. Okay?“ Die Notwendigkeit, die ich ihr übermittelte, kam zu ihr durch, und sie gab nach, indem sie dem Fahrer und dem Sicherheitsbeamten, die beim Wagen standen, zunickte. „Es liegt an ihnen“, sagte sie. „Wenn kein Platz ist oder sie keine Zeit haben …“ Ich blickte den Mann an, den ich für den mächtigsten hielt – es zeigte sich in seinem Gebaren –, und wirkte mit aller Kraft auf ihn ein. Ich versuchte, ihm die Idee in den Kopf zu setzen, daß es gut wäre, mich mitzunehmen, und 86
dumm, mich hierzulassen; daß sie gar keine andere Wahl hätten, es schon beschlossene Sache sei, daß ich mitgenommen würde… Einer der Außerirdischen – ich konnte nicht einmal sagen, welcher – unterbrach meine Übermittlung, schnappte sie auf und löschte sie aus, genauso wie ein Frosch sich aus der Luft eine Fliege fängt. Alle drei starrten sie mich mit unergründlichem, fremdartigem Gesichtsausdruck an, und für einen flüchtigen Augenblick waren sie Pete überhaupt nicht mehr ähnlich, so daß ich Angst vor ihnen bekam. „Ma’am“, sagte der Mann, den ich mit meiner Bitte hatte anpeilen wollen, „ich glaube, das wäre keine gute Idee.“ Er blickte zu meiner Mutter. „Es hat keinen Zweck, den Abschied hinauszuzögern. Das macht die endgültige Trennung nur schwerer. Außerdem werden sich viele Schaulustige an der Hauptstraße aufhalten – dort anzuhalten, wäre vielleicht nicht sicher oder klug. Ich fürchte also, ich muß nein sagen.“ Er lächelte. Ich drehte mich um und rannte ins Haus zurück. Ich haßte die Tränen, die in meine Augen traten, haßte die Außerirdischen, haßte den Mann, der gelächelt hatte, haßte meine Eltern, haßte Pete, weil er überhaupt nichts unternommen hatte. Ich hätte darum gekämpft, ihn bei mir zu behalten, hätte nicht wie er klein beigegeben. Ich hätte gegen alle Armeen der Erde um ihn gekämpft, und er wollte sich nicht einmal mit seinen Freunden auseinandersetzen. Das war also das Ende von Pete und mir. Er war bald so weit entfernt, daß ich ihn nicht mehr erreichen konnte, 87
obwohl er mich auf dem Gedankenweg gewiß erreichen könnte, wenn er nur wollte. Aber er wollte nicht. Und als ihn der Weltraum aufnahm, wußte ich’s, weil ich’s spürte wie einen lähmenden Schock. Und dann wußte ich auch, daß ich allein war. Kein Pete mehr. Keine Gedankenübertragung mehr. Nie mehr. Ich bin ganz allein unter diesen Menschen, mit denen ich nicht besser als Pete kommunizieren kann. Nachts wandle ich durch ihre Träume. Ihre Begrenztheit ist mir ein Hemmschuh. Ich vermisse Pete an meiner Seite, um mir Dinge zu zeigen, die ich allein nicht sehen kann. Pete ist irgendwo dort draußen. Wenn ich ihn nur erreichen könnte. Ich frage mich, ob er so einsam ist wie ich. Manchmal glaube ich, daß er zurückkommen wird. Auf so etwas sollte ich mich nicht verlassen, und wenn ich trotzdem manchmal daran glaube, so nur, weil ich sonst nichts mehr habe. Ich furchte nur, falls er tatsächlich zurückkommt, wird’s zu spät sein. Mein Leben vergeht mit Warten, und ich sterbe vielleicht vor seiner Ankunft. Aber das ist alles, was ich tun kann. Er machte mich zu seiner Gefährtin, weil er einsam war auf diesem seltsamen Planeten, aber dann kamen seine Freunde, und er ließ mich hier zurück. Meine Eltern warten darauf, daß ich mein Leid überwinde. Sie meinen, ich vermisse Pete, wie man einen verstorbenen oder verzogenen Freund oder Verwandten vermißt. Sie meinen, daß ich mit der Zeit darüber hinwegkommen werde. Sie merken nicht, daß ich mein verlorenes Leben betrauere. Sie kauften mir einen Affen – eine Bestechung, um 88
mich aufzumuntern. Was für ein Witz. Mir kommen fast die Tränen, wenn ich ihn anschaue, wie er dort auf meinem Bett hockt, mit seinen Händen an Dingen herumzupft, eine Miene aufsetzt, wie es sich für ein Tier nicht gehört, mich aus jenen traurigen, klugen und dummen Augen anstarrt und wünscht, ich würde seine Mutter spielen und ihn die Regeln unseres Stammes lehren. WIEDERVEREINIGUNG Er war solche Aufregung nicht gewohnt: solche, die von innen nach außen schwappte und ihren Ursprung in ihm selbst hatte. Nach all den Jahren hatte er längst resigniert und sich mit seinem neuen Leben abgefunden. Jetzt – jetzt konnte er seine Gedanken kaum mehr beherrschen, und einige der peinlicheren Körperfunktionen entzogen sich seiner Kontrolle: Hin und wieder bekam er Zuckungen oder Krämpfe in den Gliedmaßen; die Halsmembrane schwoll und schrumpfte mit sinnloser Unregelmäßigkeit. Am schlimmsten war die peinliche Gewohnheit des Schlafens, die er noch nicht bezwingen konnte. Seine Gefährten versicherten ihm jedoch, daß alles gut werde, daß man ihn wieder heilen und hinkriegen könnte, wäre er erst einmal daheim. Und er war seinen Gefährten dankbar, wußte er doch, daß er sie in eine peinliche Lage versetzte. Es wäre für alle einfacher gewesen, hätte ihn der Tod erlöst. Nun mußten sie einen Krüppel, einen längst totgeglaubten Krüppel, heimführen. Aber er dachte an seine Freunde, die ihn daheim erwarteten. Sie würden sich freuen. Sie 89
würden ihn gern bei sich aufnehmen und ihn von seinen Gebrechen heilen. Immer stärker richtete er sein Denken auf die Heimat aus. Er hatte jetzt keine Zeit mehr für die Menschen. Schließlich wäre er in der Lage, sie abzuschreiben. Das mit Jody war ihm peinlich gewesen – sie hatte sich so fest an ihn geklammert und damit sein Scheiden in Frage gestellt, obwohl er nichts als Freude darüber hätte empfinden sollen. Er wußte, Jodys Verhalten brachte ihm die Verachtung seiner Gefährten ein. Sie ließen durchblikken, daß eine solche Beziehung mit einer fremdartigen Kreatur pervers und unanständig sei. Klar, er mußte einsam gewesen sein. Sie drückten ihr Verständnis aus und konnten ihm das nachfühlen, wie er aber wußte, verstanden sie ihn ganz und gar nicht. Einen Moment lang fürchtete er schon, Jody habe recht, daß sie beide von ihren Rassen entfremdete Monster seien und sich jeder nur in der Gesellschaft des anderen geborgen fühlte. Dieses Unbehagen mißfiel ihm; er wollte wieder ein Leben führen, wie er es von damals gewohnt war, ein ihm angemessenes Leben. Und so trat er seinen Willen ab und ließ sich von den anderen sagen, was er zu tun und zu denken habe. Er war schließlich ein Krüppel; vom Absturz schwer verletzt und schwer krank von den langen Jahren auf diesem ungesunden Planeten. Durch die Augen seiner Gefährten gesehen, wurden die Menschen nun allmählich wieder häßlich. Sie befremdeten ihn, und ihre häßlichen, zum Platzen prallen Leiber waren ihm so widerwärtig, daß er sich vor Ekel krümmte. Er sah sie in ganz neuem Licht. Nur Jody sah 90
er noch mit eigenen Augen – sie war noch immer Jody, und er konnte sein Bedauern, sie verlassen zu müssen, nicht loswerden. Aber sie würde sich elend fühlen auf seinem Planeten – dort überleben zu lernen, wäre für sie noch schwieriger, als es für ihn gewesen war, sich ihrer Welt anzupassen. Ihre Lebensspanne war zu kurz für eine solche Wende. Den anderen fiel Jody ebenfalls auf, denn sie war auffälliger als die anderen Menschen und durch die Verbindung mit einem von ihrer Rasse ihnen selbst ähnlicher als den Ihrigen. Sie zeigten jedoch nur flüchtiges Interesse, denn sie gab ihnen ein ungutes Gefühl – wie ein Tier, das man zum Amüsieren oder Schockieren in Kleidung steckt. Er versuchte, ihnen deutlich zu machen, daß sie anders war, aber sie entgegneten, der Unterschied sei nicht groß genug. Sie sei ein menschliches Monstrum, aber doch nur ein Mensch. Daß er Jody verlassen mußte, stimmte ihn traurig, aber es stand stets außer Frage, daß er sie verlassen mußte, stets außer Frage, daß er mit seinen Leuten heimkehrte. Obwohl ihm rasch klarwurde, daß er unter ihnen beinahe genauso fehl am Platze war wie unter den Menschen, war er doch überzeugt, bald wäre wieder alles wie früher. Bald wäre er wieder daheim bei seinen Freunden und Verwandten, würde genesen und ein angemessenes, angenehmes Leben unter den Seinen führen. Jody, dachte er beschwichtigend, würde das gleiche Glück finden. Sie war jung und könnte sich umstellen. Es war nur recht und billig, im Kreise der Seinen zu leben. So verließ er die Erde und kam nie mehr zurück. 91
George R. R. Martin das bin ich, der Herausgeber. Ich war stets davon überzeugt, daß Herausgeber, die ihre eigenen Geschichten für das Buch, das sie herausgaben, kauften, ein unsauberes Spiel trieben. Ein Autor kann sich nicht wirklich selbst herausgeben – er ist gar nicht in der Lage, sein eigenes Werk objektiv zu beurteilen. Dafür ist man emotional einfach zu stark beteiligt. Nichtsdestotrotz finden Sie hier meine Geschichte. Nun, ich habe eine Entschuldigung. Ich war nämlich einer der Nominierten für den ersten John W. CampbellPreis. Und da dieses Buch eine Vorzeige-Anthologie ist, die zusammengestellt wurde, um dem Leser ein Beispiel für die literarischen Waren zu liefern, die von jedem der Teilnehmer der Finalrunde angeboten werden, wäre es Betrug, würde ich mich selbst übergehen. Also mußte ich es tun. Oder etwa nicht? Auf jeden Fall habe ich es gemacht. Es gab nur eins, was ich zum Ausgleich unternehmen konnte, und also tat ich es. Ich habe mich wie der Teufel bemüht sicherzustellen, daß die George R. R. Martin-Geschichte, die ich hinzunahm, eine seiner besten war. Natürlich kann ein Autor sein eigenes Werk nicht beurteilen, und also werden Sie entscheiden müssen. Doch, was immer dieses Urteil wert ist – dem Herausgeber gefiel diese Geschichte. G.R.R.M.
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George R. R. Martin
Die Steinstadt THE STONE CITY Kreuzwelt hatte tausend Namen. Die Sternkarten der Menschen führten sie als Graurast auf, wenn sie sie überhaupt aufführten, was selten geschah, denn es lag eine Zehnjahresreise von dem Herrschaftsbereich der Menschen entfernt. Die Dan’lai nannten sie in ihrer hohen, bellenden Sprache leer. Für die Ul-mennaleith, die sie am längsten kannten, war es einfach die Welt der Steinstadt. Die Kresh hatten einen Namen für sie, ebenso die Linkellar und die Cedrans und all die anderen Rassen, die dort gelandet und wieder davongegangen waren, und so blieben noch weitere Namen zurück. Doch für die meisten Wesen, die dort zwischen ihren Sprüngen von Stern zu Stern rasteten, war sie Kreuzwelt. Sie war ein unwirtlicher Ort, eine Welt grauer Ozeane und schier endloser Ebenen, über die die Stürme hinwegtobten. Mit der Ausnahme des Raumflugplatzes und der Steinstadt war sie leer und leblos. Der Landeplatz war – nach der Zeitrechnung der Menschen – mindestens fünftausend Jahre alt. Die Ul-nayileith hatten ihn in den Tagen ihres glorreichen Aufstiegs erbaut, als sie die UllishSterne beanspruchten, und für hundert Generationen hatte er Kreuzwelt zu ihrem Eigentum gemacht. Doch dann waren die Ul-nayileith dahingegangen, und die Ulmennaleith waren gekommen und hatten ihre Welten aufgefüllt, und jetzt erinnerte man sich an die ältere Rasse nur noch in Legenden und Gebeten. 93
Doch ihr Raumflugplatz bestand fort, eine riesige Pockennarbe auf den Ebenen, die umgeben war von aufragenden Windschutzmauern, die die verschwundenen Ingenieure gegen die Stürme errichtet hatten. Innerhalb der hohen Mauern lag die Portstadt, Schuppen und Baracken und Läden, in denen erschöpfte Wesen aus hundert Welten sich ausruhen und erfrischen konnten. Draußen, nach Westen hin, war nichts. Die Winde kamen aus dem Westen und fuhren mit einer Wut gegen die Mauern, die bald abgelenkt und als Energie genutzt wurde. Aber im Schatten der östlichen Mauern befand sich eine zweite Stadt, eine Freiluftstadt, die aus Plastikblasen und Metallschuppen bestand. Dort hausten die Verlierer und die Ausgestoßenen und die Kranken, dort hockten die Schiffslosen zusammen. Jenseits davon, weiter nach Osten: die Steinstadt. Sie hatte schon dort gelegen, als die Ul-nayileith gekommen waren – vor fünftausend Jahren. Sie hatten niemals in Erfahrung gebracht, wie lange sie schon den Winden trotzte oder warum. Die Ältesten der Ullish waren, so wurde gesagt, in jenen Tagen neugierig und arrogant, und sie hatten nachgeforscht. Sie spazierten durch die gewundenen Gassen, stiegen die engen Treppen hinauf, erstiegen die dichtgedrängten Türme und die Pyramiden mit den quadratischen Spitzen. Sie stießen auf endlose dunkle Korridore, die sich netzartig unter der Erde miteinander verwoben. Sie entdeckten die riesige Ausdehnung der Stadt und fanden jede Menge Staub und furchteinflößende Stille. Doch nirgends stießen sie auf die Erbauer. Schließlich hatte auf seltsame Weise die Ul-nayileith 94
eine Müdigkeit überkommen und damit zusammen eine Furcht. Sie hatten sich aus der Steinstadt zurückgezogen, um ihre Gebäude niemals wieder zu betreten. Über Tausende von Jahren wurde die Steinstadt gemieden, und die Verehrung der Erbauer begann. Und das war auch der Beginn des langsamen Abstiegs der älteren Rasse. Doch die Ul-mennaleith verehren nur die Ul-nayileith. Und die Dan’lai verehren überhaupt nichts. Und wer weiß, was die Menschen verehren? Also waren jetzt wieder Geräusche in der Steinstadt zu hören. Schritte hallten durch die gewundenen Gassen. Die Skelette waren in die Mauern eingelassen. Sie waren oberhalb der Tore in der Windmauer eingebaut, eines weniger als ein Dutzend, halb eingesenkt in fugenloses ullishes Metall und halb den Winden von Kreuzwelt ausgesetzt. Einige waren tiefer eingelassen als andere. Hoch oben klapperte das neue Skelett eines namenlosen, geflügelten Wesens im Wind, ein loser Sack hohler, bleicher Knochen, der mit der Mauer nur an den Hand- und Fußgelenken verbunden war. Doch weiter unten, oberhalb und ein wenig rechts vom Eingang, waren die gelben, wie Faßdauben geformten Rippen eines Linkellar alles, was man noch von diesem Wesen sehen konnte. MacDonalds Skelett war halb eingelassen, halb draußen. Die meisten Glieder waren tief in das Metall eingelassen, aber die Fingerspitzen hingen heraus (eine Hand hielt immer noch einen Laser), und die Füße und der Rumpf waren der Luft ausgesetzt. Und der Schädel natürlich – weiß gebleicht, halb eingeschlagen, aber immer 95
noch eine Ermahnung. An jedem Sonnenaufgang blickte er auf Holt, wenn er durch das Portal darunter ging. Manchmal, in dem seltsamen Zwielicht eines frühen Kreuzweltmorgens, schien es, als ob die leeren Augen ihn auf seinem langen Gang zum Tor verfolgten. Aber das hatte Holt über Monate nicht gekümmert. Es war anders gewesen, gleich nachdem sie MacDonald erwischt hatten und sein verwesender Körper plötzlich auf der Windmauer erschienen war, halb mit dem Metall verbunden. Damals konnte Holt den Gestank riechen, und der Körper war zu deutlich Mac. Jetzt war es nur ein Skelett, und das macht es Holt leichter, zu vergessen. An dem Morgen jenes Jahrestages, an diesem Tag war es ein volles Standardjahr her, seit die Pegasus gelandet war, ging Holt unter dem Skelett vorbei und wandte kaum den Blick nach oben. Drinnen lag wie immer der Korridor verlassen da. Er bog sich in beiden Richtungen von ihm weg, weiß, staubig, sehr verlassen. Dünne blaue Türen lagen in regelmäßiger Entfernung voneinander, doch alle waren sie geschlossen. Holt wandte sich nach rechts und versuchte die erste Tür, indem er seine Handfläche auf die Eintrittsplatte preßte. Nichts, das Büro war verschlossen. Er probierte die nächste mit demselben Resultat. Und dann die nächste. Holt ging methodisch vor. Er mußte es. Jeden Tag war nur ein Büro offen, und jeden Tag war es ein anderes. Die siebte Tür öffnete sich bei seiner Berührung. Hinter einem gebogenen Metallschreibtisch saß ein Dan’lai, der so aussah, als würde er dort nicht hingehö96
ren. Der Raum, die Einrichtung, der Landeplatz – alles war für die Proportionen der längst entschwundenen Ulnayileith gebaut worden, und die Dan’lai waren viel zu klein für diese Ausstattung. Aber Holt hatte sich daran gewöhnt. Er war jetzt ein Jahr lang jeden Tag gekommen, und jeden Tag saß ein einzelner Dan’la hinter einem Schreibtisch. Er hatte keine Ahnung, ob es jeden Tag derselbe war, der täglich sein Büro wechselte, oder jeden Tag ein anderer. Sie hatten alle lange Schnauzen und vorstehende Augen und schimmerndes rötliches Fell. Die Menschen nannten sie Fuchsmenschen. Mit seltenen Ausnahmen konnte Holt den einen nicht von dem anderen unterscheiden. Die Dan’lai waren ihm nicht behilflich. Sie weigerten sich, ihren Namen anzugeben, und das Geschöpf hinter dem Schreibtisch erkannte ihn manchmal, häufig aber auch nicht. Holt hatte das Spiel schon vor langer Zeit aufgegeben und sich entschieden, jeden Dan’la als Fremden zu behandeln. An diesem Morgen jedoch erkannte ihn der Fuchsmensch sofort. „Ah“, sagte er, als Holt eintrat. „Für Sie eine Heuer?“ „Ja“, sagte Holt. Er nahm seine abgewetzte Schiffsmütze ab, die zu seiner verblichenen grauen Uniform paßte, und er wartete – ein dünner, blasser Mann mit zurückweichendem braunem Haar und einem eigensinnigen Kinn. Der Fuchsmensch legte seine sechsfingrigen Hände ineinander und lächelte ein schnelles dünnes Lächeln. „Keine Heuer, Holt“, sagte er. „Tut mir leid. Heute kein Schiff.“ „Ich habe letzte Nacht ein Schiff gehört“, sagte Holt. 97
„Ich konnte es über die Entfernung hinweg in der Steinstadt hören. Geben Sie mir einen Job auf dem Schiff. Ich bin qualifiziert. Ich kenne den Standardantrieb, und ich kann mit einer Dan’lai-Sprungkanone umgehen. Ich habe Zeugnisse.“ „Ja, ja.“ Wieder das schnappende Lächeln. „Aber es gibt kein Schiff. Nächste Woche kommt vielleicht ein Menschenschiff. Dann werden Sie eine Heuer haben, Holt, ich schwöre es Ihnen, ich verspreche es. Sie sind guter Sprungmann, stimmt’s? Sie haben mir erzählt. Ich besorge Ihnen eine Heuer. Aber nächste Woche, nächste Woche. Heute kein Schiff.“ Holt biß sich auf die Lippe und beugte sich vor, wobei er die Hände über den Tisch streckte und die Mütze unter der einen Faust zerdrückte. „Nächste Woche werden Sie nicht hier sein“, sagte er. „Oder wenn Sie es sind, werden Sie mich nicht erkennen, werden sich an nichts von dem erinnern, was Sie mir versprochen haben. Besorgen Sie mir eine Heuer auf dem Schiff, das letzte Nacht gekommen ist.“ „Ah“, sagte der Dan’la. „Keine Heuer. Kein Menschenschiff, Holt. Kein Job für einen Menschen.“ „Das macht mir nichts. Ich nehme jedes Schiff. Ich arbeite mit Dan’lai, Ullies, Cedrans, mit allen. Die Sprünge sind überall die gleichen. Bringen Sie mich auf das Schiff, das letzte Nacht angekommen ist.“ „Aber da war kein Schiff, Holt“, sagte der Fuchsmensch. Seine Zähne blitzten auf und waren wieder verschwunden. „Ich sage Ihnen, Holt. Kein Schiff, kein Schiff. Nächste Woche wiederkommen! Kommen Sie 98
nächste Woche wieder.“ Dem Tonfall nach war er entlassen. Holt hatte gelernt, das zu erkennen. Einmal, vor Monaten, war er geblieben und hatte zu streiten versucht. Aber der Schreibtischfuchs hatte andere gerufen, die ihn fortschleppten. Danach waren am Morgen eine Woche lang alle Türen verschlossen. Inzwischen wußte Holt, wann er zu gehen hatte. Draußen, im Dämmerlicht, lehnte er sich kurz an die Windmauer und versuchte seine zitternden Hände zu beruhigen. Er rief sich ins Gedächtnis, daß er fleißig sein mußte. Er brauchte Geld, Lebensmittelmarken, das war also eine Aufgabe, der er sich widmen konnte. Er konnte den Schuppen besuchen, vielleicht bei Sunderland hereinschauen. Und was eine Heuer betraf, so gab es immer noch ein Morgen. Er mußte Geduld haben. Mit einen kurzen Blick auf MacDonald, der nicht geduldig gewesen war, ging Holt davon, die leeren Straßen der Stadt der Schiffslosen hinunter. Schon als Kind hatte Holt die Sterne geliebt. Er pflegte nachts spazierenzugehen, während der Jahre der großen Kälte, wenn auf Ymir die Eiswälder blühten. Über Kilometer ging er dann geradeaus, den Schnee stampfend, bis die Lichter der Stadt sich hinter ihm verloren hatten und er allein inmitten des blau-weiß glitzernden Wunderlandes der Frostblumen und Eisgewebe und Windblumen stand. Dann blickte er auf. Winterjahrnächte auf Ymir sind klar und auch sehr schwarz. Es gibt keinen Mond. Die Sterne und die Stille sind alles. 99
Fleißig hatte Holt die Namen gelernt – nicht die Sternennamen (niemand gab Sternen noch irgendwelche Namen – Zahlen waren alles, was man brauchte), sondern die Namen der Welten, die sich um sie bewegten. Er lernte schnell und gut, und selbst sein bärbeißiger Vater, ein Mensch der Praxis, war darauf in gewisser Weise stolz. Holt erinnerte sich an die endlosen Parties in dem Alten Haus, wenn dann sein Vater, betrunken vom Sommerbräu, alle seine Gäste auf den Balkon hinauszuführen pflegte, so daß sein Sohn die Welten benennen konnte. „Dort“, sagte der alte Mann, wobei er einen Bierkrug in einer Hand hielt und mit der anderen hinaufwies, „dort drüben dieser helle.“ „Arachne“, antwortete dann der Junge mit gleichgültigem Gesicht. Die Gäste lächelten und murmelten höflich. „Und der dort?“ „Baldur.“ „Dort. Dort. Diese drei dort hinten.“ „Finnegan, Johnhenry. Celias Welt, Neu-Rom, Cataday.“ Die Namen gingen leicht über seine junge Zunge. Und das lederhäutige Gesicht des Vaters wurde von einem Lächeln in Falten gelegt, und er machte weiter, bis die anderen sich langweilten und unruhig wurden und Holt alle Welten genannt hatte, die ein Junge, der auf einem Balkon eines alten Hauses auf Ymir stand, überhaupt benennen konnte. Er hatte dieses Ritual stets gehaßt. Es war nur gut, daß sein Vater niemals mit ihm in den Eiswald hinausgekommen war, denn weit fort von den Lichtern konnte man tausend neue Sterne sehen, und das 100
hieß, es gab tausend neue Namen, die man wissen mußte. Holt lernte niemals alle die Namen auswendig, die zu den schwächer leuchtenden, weiter entfernten Sternen gehörten, die nicht mehr menschlich waren. Doch er hatte genug gelernt. Die blassen Sterne der Damoosh nach innen zum Zentrum hin, die rötlichen Sterne des stillen Zentaurus, die verstreuten Lichtpunkte, wo die Horden der Fyndii ihre Emblemstäbe erhoben, die kannte er alle und viele mehr. Während er älter wurde, kam er weiterhin, nicht immer allein jetzt. Alle seine Jugendlieben schleppte er mit dort hinaus, und er liebte eine von ihnen im Sternenlicht, während eines Sommerjahres, als es von den Bäumen Blüten statt Eis niederregnete. Manchmal redete er darüber mit seinen Geliebten, mit Freunden. Aber die Worte kamen nur schwer. Holt war niemals beredsam gewesen, und er erreichte es nicht, daß sie ihn verstanden. Er konnte sich selbst kaum verstehen. Als sein Vater gestorben war, übernahm er das Alte Haus und die Ländereien und verwaltete sie ein langes Winter-Jahr lang, obwohl er erst zwanzig Standardjahre alt war. Als das Tauwetter kam, ließ er alles zurück und ging nach Ymir City. Ein Schiff war gelandet, ein Händler, der nach Finnegan und zu Welten weiter einwärts unterwegs war. Holt fand eine Heuer! Die Straßen wurden belebter, je älter der Tag wurde. Die Dan’lai waren bereits draußen, sie stellten zwischen den Hütten Stände mit Eßsachen auf. In etwa einer Stunde würden sie sich die ganze Straße entlangziehen. Ein 101
paar hagere Ul-mennaleith waren auch schon da, sie liefen in Vierer- oder Fünfergruppen hemm. Alle trugen sie staubblaue Umhänge, die fast bis zum Boden fielen, und sie schienen zu fließen, anstatt zu gehen – gespenstisch, würdevoll, geisterhaft. Ihre weiche graue Haut war fein gepudert, ihre Augen waren feucht und entrückt. Immer erschienen sie irgendwie feierlich, sogar diese, diese armen Schifflosen. Holt trat hinter einer dieser Gruppen mit, indem er schneller ging, um Schritt zu halten. Die Fuchskaufleute ignorierten die feierlichen Ul-mennaleith, aber sie erspähten alle Holt und riefen ihm nach, wenn er vorbeischritt. Und sie lachten ihr hohes, bellendes Lachen, wenn er sie ignorierte. In der Nähe der Cedranerquartiere verabschiedete sich Holt von den Ullies, indem er pfeilschnell in eine kleine Seitenstraße schoß, die verlassen schien. Er hatte Arbeit zu erledigen, und hier war der Ort dafür. Er begab sich tiefer in das Gewimmel gelblicher Blasenhütten und wählte eine fast zufällig aus. Sie war alt, das äußere Plastik stark abgenutzt, die Tür war aus Holz, mit eingeschnitzten Nest-Symbolen versehen. Natürlich verschlossen – Holt stemmte seine Schulter dagegen und drückte. Als sie standhielt, trat er ein wenig zurück, dann rannte er und krachte gegen sie. Bei seinem vierten Versuch gab sie geräuschvoll nach. Der Lärm störte ihn nicht. Im Slum der Cedraner hörte niemand hin. Drinnen stockdunkel. Er tastete neben der Tür und fand eine Kaltleuchte, berührte sie, bis sie seine Körperwärme als Licht zurückgab. Dann sah er sich geruhsam um. 102
Es waren fünf Cedraner anwesend, drei erwachsene und zwei junge, alle waren sie als gestaltlose Bälle am Boden zusammengerollt. Holt hatte für sie kaum einen Blick übrig. Nachts waren die Cedraner furchteinflößend. Er hatte sie viele Male in den dunklen Straßen der Steinstadt gesehen, wie sie mit ihren sanften Stimmen klagten und bedrohlich hin und her schwangen. Ihr segmentierter Torso faltete sich in drei Meter milchweißes Madenfleisch auf, und sie verfügten über sechs spezialisierte Gliedmaßen, zwei weitgespreizte Füße, ein Paar empfindlicher, sich verzweigender Tentakel zum Greifen und die gefürchteten Kampfkrallen. Die Augen, untertassengroße Ringe aus glühendem violettem Licht, sahen alles. Bei Nacht waren die Cedrans Geschöpfe, denen man aus dem Weg gehen sollte. Bei Tag waren sie unbewegliche Fleischbälle. Holt ging um sie herum und durchstöberte ihre Hütte. Er nahm eine tragbare Kaltfackel, die niedrig geregelt war, so daß sie jenes rote Zwielicht gab, das die Cedraner am liebsten hatten, außerdem einen Sack mit Eßmünzen und einen Klauenwetzstein. Die polierten, mit Edelsteinen besetzten Kampfkrallen von einem berühmten Vorfahr hingen an einem Ehrenplatz an der Wand, aber Holt war sorgfältig bemüht, sie nicht zu berühren. Wenn ihr Familiengott gestohlen würde, würde das ganze Nest verpflichtet sein, den Dieb zu finden oder Selbstmord zu begehen. Schließlich fand er einen Stapel Zauberkarten, rauchgeschwärzte Holzplättchen, die mit Gold- und Eiseneinlegearbeiten verziert waren. Er schob sie in seine Tasche 103
und ging. Die Straße war immer noch leer. Wenige Wesen außer den Cedranern besuchten die Wohnbezirke der Cedraner. Schnell fand Holt den Weg zurück zur Hauptdurchgangsstraße, dem breiten Schotterweg, der von den Windmauern des Raumflugplatzes zu den stillen Toren der fünf Kilometer entfernten Steinstadt führte. Die Straße war jetzt überfüllt und laut, und Holt mußte sich durch das Gewühl schieben. Überall waren die Fuchsmenschen, lachend, bellend, wobei sie ihr schnelles Grinsen an- und abschalteten, und ihr rötlich-braunes Fell rieben sie gegen die blauen Umhänge der Ul-mennaleith, gegen das Chitin der Kresh und gegen die locker hängende Haut der grünen Linkellar mit den vorstehenden Augen. Einige der Stände mit Lebensmitteln boten heiße Gerichte an, und die Wege waren von Rauch und Gerüchen erfüllt. Holt hatte Monate auf Kreuzwelt verbringen müssen, bevor er endlich lernte, die Nahrungsdüfte von den Körpergerüchen zu unterscheiden. Während er sich einen Weg die Straße hinunter bahnte, wobei er sich zwischen den Aliens hindurchschlängelte und seine Beute fest in den Händen hielt, beobachtete Holt alles genau. Das war jetzt zu einer Gewohnheit geworden, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Er hielt ständig Ausschau nach einem unbekannten menschlichen Gesicht, dem Gesicht, das bedeuten konnte, daß ein Schiff der Menschen gelandet war, daß die Erlösung gekommen war. Er stieß auf kein Gesicht. Wie immer umgab ihn nur der mahlende Druck von Kreuzwelt – Dan’laigebell und 104
Kreshgeklicke und die weich modulierte Sprache der Linkellar, aber niemals eine menschliche Stimme. Inzwischen machte ihm das nichts mehr aus. Er fand den Stand, nach dem er gesucht hatte. Unter einem Vorhang aus grauem Leder blickte ein müder Dan’la zu ihm auf. „Ja, ja“, stieß der Fuchsmensch ungeduldig hervor. „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“ Holt schob die vielfarbigen Edelsteine zur Seite, die über dem Tisch verstreut lagen, und legte die Kaltleuchte und den Klauenwetzstein hin, die er genommen hatte. „Ein Handel“, sagte er. „Dies für Lebensmittelmarken.“ Der Fuchsmensch blickte auf die Waren herunter, zu Holt auf und begann heftig seine Schnauze zu reiben. „Handel. Ein Handel für Sie“, sang er. Er nahm den Wetzstein auf, warf ihn von einer Hand in die andere, legte ihn wieder nieder, berührte die Kaltleuchte, um sie zu einem kaum wahrnehmbaren Leben zu erwecken. Dann nickte er und schaltete sein Grinsen ein. „Gutes Zeug. Cedranisch. Die großen Würmer werden es haben wollen. Ja. Ja. Handel also. Marken?“ Holt nickte. Der Dan’la fingerte in der Tasche des Umhangs, den er trug, und warf eine Handvoll Lebensmittelkarten auf den Tisch. Es waren helle Plastikscheiben in einem Dutzend verschiedenen Farben, das, was auf Kreuzwelt einer Währung am nächsten kam. Die Dan’lai-Kaufleute nahmen sie für Nahrungsmittel entgegen. Und die Dan’lai brachten in ihren Flotten von Sprungkanonenraumern alle Nahrungsmittel herbei, die es gab. Holt zählte die Marken, schob sie zusammen und warf 105
sie dann in den Sack, den er von den Cedranern aus der Blasenhütte genommen hatte. „Ich hab’ noch mehr“, sagte er, wobei er in seine Tasche nach den Zauberkarten griff. Die Tasche war leer. Der Dan’la grinste und ließ seine Zähne zusammenschnappen. „Fort? Nicht der einzige Dieb auf Leer also. Nein. Nicht der einzige Dieb! “ Er erinnerte sich an sein erstes Schiff, er erinnerte sich an die Sterne seiner Jugend auf Ymir, er erinnerte sich an die Welten, die er seitdem besucht hatte, er erinnerte sich an alle die Schiffe, auf denen er gedient hatte, und an die Menschen (und Nichtmenschen), denen er gedient hatte. Doch besser als an irgendeines von diesen erinnerte er sich an sein erstes Schiff: die Lachender Schatten (ein alter Name, der mit Geschichte beladen war, doch niemand erzählte sie ihm, erst viel später hörte er davon), die von Celias Welt kam und nach Finnegan unterwegs war. Es handelte sich um einen umgewandelten Erzfrachter, eine große graublaue Träne aus verbeultem Duralloy, mindestens ein Jahrhundert älter als Holt. Karg und rauh – riesige Laderäume und nicht viel Platz für die Mannschaft, Schlafnetze für die zwölf, die sie bemannten, kein Gravitationsgitter (er hatte sich schnell an den freien Fall gewöhnt), Nuklearraketen zum Landen und Starten und einen Standard-Ftl-Antrieb für die Sternensprünge. Holt wurde angewiesen, im Antriebsraum zu arbeiten, ein karger Raum mit gedämpfter Beleuchtung, nacktem Metall und Computerkonsolen. Cain narKarmian zeigte ihm, was er zu tun hatte. 106
Holt erinnerte sich auch an narKarmian. Ein alter, alter Mann, zu alt für die Schiffsarbeit, hatte er damals zuerst gedacht. Seine Haut glich weichem, gelbem Leder, das so häufig gefaltet und geknittert worden war, daß es nirgendwo mehr ein Stück ohne Millionen winziger Falten gab, die Augen waren braun und mandelförmig, er hatte einen gesprenkelten, kahlen Kopf und einen dünnen, blonden Ziegenbart. Manchmal erschien Cain senil, doch meistens war er aufmerksam und schnell; er kannte den Antrieb, und er kannte die Sterne, und während er arbeitete, pflegte er ohne Unterbrechung zu erzählen. „Zweihundert Standardjahre!“ sagte er einmal, als sie beide vor ihren Konsolen saßen. Er lächelte sein schüchternes, schiefes Lächeln, und Holt sah, daß er immer noch Zähne hatte bei seinem Alter – oder vielleicht hatte er wieder Zähne. „So lange fährt Cain schon herum, Holt. Das ist die reine Wahrheit! Wissen Sie, der normale Mensen verläßt niemals die Welt, auf der er geboren wurde. Niemals! Jedenfalls trifft dies auf fünfundneunzig Prozent zu. Sie gehen niemals weg, werden nur geboren, wachsen auf und sterben, das alles auf ein und derselben Welt. Und diejenigen, die herumfahren – nun, die meisten von ihnen fahren nur ein wenig. Eine Welt oder zwei oder zehn. Ich nicht! Wissen Sie, wo ich geboren bin, Holt? Raten Sie!“ Holt zuckte mit den Schultern. „Auf Alt-Erde?“ Cain hätte fast gelacht. „Alt-Erde? Die ist doch nichts, nur drei oder vier Jahre weg von hier. Vier, glaube ich. Ich werde vergeßlich. Nein, nein, aber ich habe Alt-Erde gesehen, die echte Heimatwelt, die Geburtsstätte. Habe 107
sie vor fünfzig Jahren gesehen auf der … der Corey Dark, glaube ich, war es. Es war auch Zeit dazu, dachte ich. Ich war selbst damals schon hundertfünfzig Jahre unterwegs gewesen, und ich war immer noch nicht auf Alt-Erde gewesen. Doch endlich kam ich dorthin!“ „Sie wurden nicht dort geboren?“ bohrte Holt weiter. Der alte Cain schüttelte den Kopf und lachte wieder. „Nicht gerade dort. Ich bin ein Emereli. Von Ai-Emerel. Kennen Sie das, Holt?“ Holt mußte nachdenken. Es war keiner der Weltennamen, die er kannte, keiner der Sterne, auf die sein Vater gezeigt hatte, ein Licht in der Nacht Ymirs. Doch erinnerte er ihn vage an etwas. „Der Rand?“ riet er schließlich. Der Rand war die weiteste Außen-kante des Bereichs der Menschen, der Ort, wo der schmale Splitter der Galaxis, den man das Reich der Menschen nannte, den Gipfel der galaktischen Linse streifte, wo die Sterne dünner wurden. Ymir und die Sterne, die er kannte, waren auf der anderen Seite von Alt-Erde, nach innen zu den dichteren Sternenfeldern und dem immer noch unerreichbaren Zentrum der Galaxis. Cain war zufrieden mit seiner Vermutung. „Ja! Ich bin ein Außenweltler. Ich bin fast zweihundertundzwanzig Standardjahre alt, und ich habe jetzt fast so viele Welten gesehen, Welten der Menschen, der Hrangan, Fyndii und aller Arten, sogar einige Welten im Reich der Menschen, wo die Menschen nicht mehr richtige Menschen sind, wenn Sie verstehen, was ich meine. Auf Fahrt, immer auf Fahrt. Wann immer ich auf einen Ort stieß, der interessant aussah, pflegte ich von Bord zu gehen und eine Zeit108
lang zu bleiben, dann zog ich weiter, wenn ich es wollte. Ich habe alle möglichen Dinge gesehen, Holt. Als ich jung war, sah ich das Festival des Randes und jagte Banshees auf Hoch Kavalaan und hatte eine Ehefrau auf Kimdiss. Sie starb jedoch, und ich zog weiter. Sah Prometheus und Thiannon, die ein wenig vom Rand entfernt liegen, und Jamisons Welt und Avalon, die weiter nach innen liegen. Sie kennen das. Für eine Weile war ich ein Jamie, und auf Avalon hatte ich drei Ehefrauen. Und zwei Ehemänner oder Ko-Ehemänner, oder wie immer man das nennen will. Ich war immer noch um die Hundert, vielleicht sogar weniger. In der Zeit gehörte uns unser Schiff, wir trieben Handel in der Nachbarschaft, steuerten einige der alten Hrangan-Sklavenwelten an, die seit dem Krieg ihren eigenen Weg gegangen sind. Sogar Alt-Hranga selbst, den wirklichen Ort. Sie sagen, daß es noch immer ein paar Geister auf Alt-Hranga gibt, die im tiefsten Untergrund darauf warten, zurückzukommen und das Reich der Menschen wieder anzugreifen. Doch alles, was ich jemals gesehen habe, war eine Reihe von MörderKasten und Arbeiter und die anderen niederen Typen.“ Er lächelte. „Gute Jahre, Holt, sehr gute Jahre. Wir nannten unser Schiff Jamisons Esel. Meine Frauen und Ehemänner waren Avalonier, verstehen Sie, außer einem, der von Alt-Poseidon war, und Avalonier mögen Jamies nicht sehr, und so kamen wir auf gerade diesen Namen. Aber ich kann nicht sagen, daß sie unrecht hatten. Davor war ich auch ein Jamie, und Port Jamison ist eine lähmend tugendhafte Stadt auf einem ebenso beschaffenen Planeten. 109
Wir waren auf Jamisons Esel fast dreißig Standardjahre zusammen. Die Heirat überdauerte zwei Ehefrauen und einen Ehemann. Und schließlich auch mich. Verstehen Sie, sie wollten Avalon als ihren Handelsstützpunkt behalten, doch nach dreißig Jahren hatte ich alle Welten gesehen, die es dort in der Umgebung zu sehen gab, und ich hatte sonst nicht viel gesehen. So fuhr ich davon. Doch ich liebte sie, Holt, ich liebte sie. Ein Mann sollte mit seinen Schiffsgefährten verheiratet sein. Es erzeugt eine sehr gute Atmosphäre.“ Er seufzte. „Auch der Sex wird leichter. Weniger Ungewißheit.“ Inzwischen war Holt fasziniert. „Danach“, fragte er, wobei sein junges Gesicht nur eine Spur des Neides zeigte, den er spürte, „was haben Sie dann gemacht?“ Cain hatte mit den Schultern gezuckt, auf die Konsole hinuntergeblickt und begonnen, die aufglühenden Knöpfe zu drücken, die den Antrieb korrigierten. „Och, ich bin weitergefahren, weitergefahren. Alte Welten, neue Welten, Menschen, Nicht-Menschen, Aliens. Neu-Zuflucht und Pachacuti und das ausgebrannte alte Wellington, dann Newholme und Silberhimmel und Alt-Erde. Und nun gehe ich nach innen hinein, so weit, wie ich komme – bevor ich sterbe. Wie Tomo und Walberg, vermutlich. Sie wissen von Tomo und Walberg hier in Ymir?“ Und Holt hatte nur genickt. Selbst Ymir wußte von Tomo und Walberg. Tomo war auch ein Außenweltler, auf Dunkeldämmerung geboren, hoch oben über dem Rand, und man sagte, er sei ein Dunkler Träumer gewesen. Walberg war ein Gewandelter Mensch von Prometheus, nach der Legende ein aufschneidender Abenteurer. 110
Vor drei Jahrhunderten waren sie in einem Schiff namens Träumende Hure von Dunkeldämmerung zum entgegengesetzten Ende der Galaxis gestartet. Wie viele Welten sie besucht hatten, was auf jeder geschehen war, wie weit sie vor ihrem Tode gekommen waren – all das waren die Knoten in dem Faden der Erzählung, und Schuljungen stritten immer noch darüber. Holt gefiel der Gedanke, daß sie immer noch dort draußen waren, irgendwo. Immerhin hatte Walberg behauptet, daß er ein Übermensch sei, und man konnte nicht sagen, wie lange ein Übermensch leben kann. Vielleicht sogar lange genug, um das Zentrum zu erreichen oder darüber hinaus. Er hatte tagträumerisch auf die Konsole gestarrt, und Cain hatte über ihn geschmunzelt und gesagt: „He! Sternenkrank!“ Und als Holt erschrocken war und aufgesehen hatte, nickte der alte Mann (immer noch lächelnd) und sagte: „Ja, Sie, genau Sie! An die Arbeit, Holt, oder Sie werden nirgendwohin fahren!“ Aber das war eine freundliche Ermahnung und ein freundliches Lächeln, und Holt vergaß es und die anderen Worte Cains niemals. Ihre Schlafnetze waren nebeneinander, und Holt hörte jede Nacht zu, denn es war schwierig, Cain zum Schweigen zu bringen, und Holt versuchte es erst gar nicht. Und als die Lachender Schatten schließlich auf Cathaday eintraf, so weit zum Inneren hin, wie er gehen würde, und bereitgemacht wurde, in das Menschenreich nach Celias Welt und dann heimzufahren, kündigten Holt und narKarmian zusammen und fanden Heuern auf einem Postschiff, das nach Vess und den Damoosh-Sonnen der Aliens unterwegs war. 111
Sie waren sechs Jahre zusammen gefahren, als narKarmian schließlich starb. Holt erinnerte sich an das Gesicht des alten Mannes viel besser als an das seines Vaters. Der Schuppen war ein langes, dünnes Metallgebäude, eine Wellblechhütte aus blauem Duralloy, das wahrscheinlich jemand in den Vorräten eines geplünderten Frachters gefunden hatte. Er war Kilometer von den Windmauern entfernt errichtet worden, in Sichtweite der grauen Mauern der Steinstadt und der hohen Öffnung des Westlichen Tors. Darum herum gab es andere, größere Metallgebäude, die Lagerhausbaracken der schiffslosen Ul-mennaleith. Doch es waren nie Ul-lies darin. Es war gegen Mittag, als Holt ankam, und der Schuppen war fast leer. Eine große, säulenartige Kaltleuchte, die in der Mitte des Raums vom Boden bis zur Decke reichte, verbreitete ein müdes, rötliches Licht, das die meisten der verlassenen Tische im Dunkel ließ. Eine Gruppe murmelnder Linkellar füllte eine Ecke abseits im Schatten, ihnen gegenüber hatte sich ein dicker Cedraner zu einem festen Schlafball zusammengerollt, seine glatte weiße Haut schimmerte. Und nahe der Leuchtsäule, am alten Pegasus-Tisch, teilten sich Alaina und Takker-Ray eine weiße Steinflasche Amberlethe. Takker erspähte ihn sogleich. „Schau“, rief er, dabei erhob er sein Glas. „Wir haben Gesellschaft, Alaina. Eine verlorene Seele kehrt zurück! Wie stehen die Dinge in der Steinstadt, Michael?“ Holt setzte sich. „Dasselbe wie immer, Takker. Das112
selbe wie immer.“ Er zwang sich für den blaßgesichtigen, aufgedunsenen Takker zu einem Lächeln, dann wandte er sich schnell Alaina zu. Sie hatte einst mit ihm die Sprungkanone bedient, vor einem Jahr und davor. Und sie waren kurz ein Liebespaar gewesen. Aber das war vorbei. Alaina hatte zugenommen, und ihr langes kastanienbraunes Haar war dreckig und verfilzt. Früher hatten ihre grünen Augen gefunkelt, jetzt machte Amberlethe sie trübe und stumpf. Alaina gönnte ihm ein schwammiges Lächeln, ,,’allo, Michael“, sagte sie. „Hast du dein Schiff gefunden?“ Takker-Ray kicherte, aber Holt ignorierte ihn. „Nein“, sagte er. „Aber ich bleibe dran. Heute hat der Fuchsmensch gesagt, nächste Woche würde ein Schiff kommen. Ein Menschenschiff. Er hat mir eine Heuer versprochen.“ Nun kicherten sie beide. „Oh, Michael“, sagte Alaina. „Dumm, dumm. Das haben sie mir auch immer gesagt. Ich bin so lange nicht hingegangen. Du solltest auch nicht gehen. Ich nehme dich wieder zurück. Du fehlst mir. Tak ist ein solcher Langweiler.“ Takker blickte finster, er beachtete sie gar nicht. Er war damit beschäftigt, sich ein neues Glas Amberlethe einzuschenken. Der Schnaps floß mit quälender Langsamkeit, wie Honig. Holt erinnerte sich an den Geschmack, goldenes Feuer auf der Zunge, und die einfache Empfindung des Friedens, die er brachte. Sie hatten während der ersten Wochen alle eine Menge getrunken, als sie warteten, daß der Kapitän zurückkehrte. Bevor alles auseinanderfiel. 113
„Nimm etwas Lethe“, sagte Takker. „Schließ dich uns an.“ „Nein“, sagte Holt. „Vielleicht einen kleinen Feuerbrandy, Takker, wenn du einen ausgibst. Oder ein Fuchsbier. Sommerbräu, wenn so etwas zur Hand ist. Sommerbräu fehlt mir. Aber kein Lethe. Deswegen bin ich weggegangen, erinnerst du dich?“ Alaina schluchzte plötzlich, ihr Mund hing offen, und etwas flimmerte in ihren Augen. „Du bist weggegangen“, sagte sie mit dünner Stimme. „Ich erinnere mich, du warst der erste. Du bist weggegangen. Du und Jeff. Du warst der erste.“ „Nein, meine Liebe.“ Takker unterbrach sie sehr geduldig. Er setzte die Flasche Amberlethe ab, nahm einen Schluck aus seinem Glas, lächelte und erklärte weiter. „Der Kapitän war der erste, der wegging. Erinnerst du dich nicht? Der Kapitän und Villareal und Susie Benet, sie alle gingen zusammen weg, und wir warteten und warteten.“ „O ja“, sagte Alaina. „Und später verließen uns Jeff und Michael. Und die arme Irai brachte sich um, und die Füchse schnappten Ian und stellten ihn auf der Mauer aus. Und alle anderen gingen weg. Oh, ich weiß nicht, wohin, Michael, ich weiß es einfach nicht.“ Plötzlich begann sie zu weinen. „Wir sind immer alle zusammengewesen, wir alle, doch jetzt sind nur noch Tak und ich da. Sie haben uns alle verlassen. Wir sind die einzigen, die immer noch hierherkommen, die einzigen.“ Sie sackte in sich zusammen und begann zu schluchzen. Holt fühlte sich schlecht. Es war schlimmer als sein 114
letzter Besuch den Monat zuvor – viel schlimmer. Am liebsten hätte er die Amberletheflasche genommen und sie auf den Boden geschmissen. Aber es war sinnlos. Einmal, vor langer Zeit, hatte er das gemacht – im zweiten Monat nach der Landung, als das hoffnungslose Warten ihn schier zur Raserei gebracht hatte. Alaina hatte geweint, MacDonald hatte geflucht und ihm einen Schlag versetzt, der ihm einen Zahn gelockert hatte (er schmerzte manchmal in der Nacht noch), und Takker-Ray hatte eine andere Flasche gekauft. Takker hatte immer Geld. Er war kein besonders guter Dieb, doch er war auf Bess aufgewachsen, wo die Menschen einen Planeten mit zwei Arten von Aliens teilten. Und wie viele Vessmenschen war er als Xenophiler aufgewachsen. Takker war sanft und willig, und die Fuchsmenschen (einige Fuchsmenschen) fanden ihn attraktiv. Als Alaina sich ihm anschloß, in seinem Raum und seinem Geschäft, hatten Holt und Jeff Sunderland sie aufgegeben und waren in den Randbezirk der Steinstadt gezogen. „Weine nicht, Alaina“, sagte Holt jetzt. „Schau, ich bin hier, siehst du? Ich habe sogar Lebensmittelmarken mitgebracht.“ Er griff in seinen Beutel und warf eine Handvoll davon auf den Tisch – rote, blaue, silberne, schwarze. Sie klapperten, rollten und lagen still. Sofort waren Alainas Tränen verschwunden. Sie begann, unter den Marken zu kramen, und selbst Takker beugte sich vor, um zu schauen. „Rote“, sagte sie aufgeregt. „Schau, Takker, rote, Fleischmarken! Und silberne, für Lethe. Schau, schau!“ Sie begann, die losen Marken in ihre Tasche zu schieben, doch ihre Hände zitterten, 115
und mehr als eine Marke fiel auf den Boden. „Hilf mir, Tak“, sagte sie. Takker kicherte. „Mach dir nichts daraus, Liebes, das war nur eine grüne. Wurmfutter brauchen wir sowieso nicht, oder?“ Er blickte Holt an. „Dank dir, Michael, danke. Ich sage immer zu Alaina, daß du eine großzügige Seele hast, auch wenn du uns verlassen hast, als wir dich brauchten. Du und Jeff. Ian sagte, du seist ein Feigling, weißt du, aber ich habe dich immer verteidigt. Ja, vielen Dank.“ Er nahm eine Silbermarke auf und ließ sie mit seinem Daumen hochschnellen. „Großzügiger Michael. Du bist hier immer willkommen.“ Holt sagte nichts. Der Chef des Schuppens hatte sich plötzlich in der Nähe seines Ellbogens materialisiert, eine riesige Masse moschusartig duftenden blau-schwarzen Fleisches. Sein Gesicht blickte auf Holt herab – wenn man das einen Blick nennen konnte, da das Wesen augenlos war, und wenn man das ein Gesicht nennen konnte, da es auch keinen Mund dort gab. Das Ding, das als Kopf durchgegangen wäre, war eine schwabbelige, halbgefüllte Blase, die voller Atemlöcher und von Ringen weißlicher Tentakeln umgeben war. Es sah oben auf dem dicken öligen Körper und den Rollen gefleckten Fetts absurd klein aus. Der Chef des Schuppens sprach nicht, weder Terranisch noch Ullish noch das Pidgin-Dan’lai, das als Kreuzwelts Handelssprache galt. Aber er wußte stets, was seine Kunden wollten. Holt wollte einfach nur gehen. Während der Chef des Schuppens still und abwartend dastand, stand er auf und langte nach der Tür. Sie schloß sich hinter ihm, und er 116
konnte hören, wie sich Alaina und Takker-Ray wegen der Marken stritten. Die Damoosh sind eine weise und freundliche Rasse und große Philosophen – jedenfalls sagte man das auf Ymir. Ihre äußersten Sonnen überschneiden sich mit dem weitesten nach innen gelegenen Teil des stetig wachsenden Menschenreichs, und es war auf einer verwitterten Damoosh-Kolonie, wo narKarmian starb und Holt zum erstenmal einen Linkellar sah. Rayma-k-Tel war mit ihm in dieser Zeit zusammen, eine harte, scharfgesichtige Frau, die von Vess gekommen war. Sie tranken in einer Bar der Enklave in der Nähe des Raumflugplatzes. Das Lokal hatte guten Schnaps aus dem Menschenreich, und er und Ram saßen auf Sitzen an einem Fenster mit in Metall gefaßtem gelbem Glas und schluckten ihn zusammen weg. Cain war seit drei Wochen tot. Als Holt den Linkellar am Fenster vorbeischlurfen sah, seine vorstehenden Augen zitterten, zog er Ram am Arm, drehte sie herum und sagte: „Schau. Eine neue. Kennst du die Rasse?“ Rayma löste seinen Griff mit einem Achselzucken und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie verwirrt. Sie war eine entschiedene Fremdenfeindin, was man auch werden kann, wenn man auf Vess aufwächst. „Wahrscheinlich von irgendwo weiter drinnen. Versuche erst gar nicht, sie auseinanderzuhalten, Mikey. Es gibt Millionen verschiedene Arten, besonders so weit drinnen wie hier. Die verdammten Damos’ll handeln mit allem.“ Holt sah noch einmal hin, aber das schwere Wesen mit 117
der lockeren grünen Haut war außer Sicht. Er dachte kurz an Cain, und so etwas wie eine Erregung durchfuhr ihn. Der alte Mann war mehr als zweihundert Jahre herumgefahren, dachte er, und doch hatte selbst er wahrscheinlich niemals einen Alien der Rasse gesehen, die sie gerade gesehen hatten. Er sagte irgend etwas in dieser Richtung zu Rayma-k-Tel. Sie war wenig beeindruckt. „Na und?“ sagte sie. „Und wir haben niemals den Rand oder einen Hrangan gesehen, obwohl ich verdammt noch einmal wissen möchte, warum wir uns das wünschen sollten.“ Sie lächelte kurz über ihren eigenen Scherz. „Aliens sind wie Geleebonbons, Mikey. Es gibt sie in einer Menge verschiedener Farben, doch innen sind sie alle fast gleich. Also mach dich nicht zu einem Sammler, wie der alte narKarmian einer war. Was hat es ihm schließlich schon gebracht? Er ist eine Menge herumgekommen auf einer ganzen Reihe drittklassiger Schiffe, aber er hat niemals den Fernen Arm gesehen, und er hat niemals das Zentrum gesehen, und niemand wird das jemals tun. Er ist auch nicht besonders reich geworden.“ Holt hatte kaum zugehört. Er stellte seinen Drink ab und berührte nur so eben mit den Fingerspitzen das kühle Glas des kühlen Fensters. In dieser Nacht, nachdem Rayma zu ihrem Schiff zurückgekehrt war, verließ Holt die Enklave der Außenwelter und wanderte zu den Heimstätten der Damoosh hinaus. Er zahlte den Sold einer halben Reise, damit sie ihn in den Untergrundraum führten, wo der Weisheitssee dieser Welt lag: ein riesiger Computer aus lebendem 118
Licht, der mit den toten Gehirnen telepathischer Damoosh-Ältester verbunden war (oder zumindest wurde es Holt so vom Führer erklärt). Die Kammer war eine Schale mit grünem Nebel, der sich in kleinen Wellen und Ausbuchtungen bewegte. In seiner Tiefe wellten sich Fronten aus farbigem Licht, verblaßten und waren verschwunden. Holt stand an der oberen Kante, blickte hinunter und fragte seine Fragen, und die Antworten kamen mit einem hallenden Flüstern zurück, wie von vielen winzigen Stimmen zusammen gesprochen. Zuerst beschrieb er das Wesen, das er am Nachmittag gesehen hatte, und fragte, was es gewesen war, und es war damals, daß er zum erstenmal das Wort Linkellar hörte. „Wo kommen sie her?“ fragte Holt. „Mit dem Antrieb, den Sie benutzen, ist es sechs Jahre von dem Menschenreich entfernt“, erzählte ihm das Flüstern, während sich der grüne Nebel bewegte. „Zum Zentrum hin, aber nicht geradezu dorthin. Wollen Sie die Koordinaten haben?“ „Nein. Warum sehen wir sie nicht öfter?“ „Sie leben weit entfernt, vielleicht zu weit“, kam die Antwort. „Die gesamte Ausdehnung der Damoosh-Sonnen liegt zwischen dem Menschenreich und den zwölf Welten der Linkellar, und außerdem liegen noch die Kolonien der Nor T’alush und einige hundert Welten dazwischen, die den Sternenantrieb noch nicht erfunden haben. Die Linkellar handeln mit Damoosh, aber sie kommen selten an diesen Ort, der näher zu euch ist als zu ihnen.“ „Ja“, sagte Holt. Ein Frösteln überlief ihn, als ob ein 119
kalter Wind durch das Gewölbe und über die blickende See des Nebels geweht hätte. „Von den Nor T’alush habe ich gehört, aber nicht von den Linkellar. Was liegt sonst noch dort? Weiter nach innen zu?“ „Es gibt viele Richtungen“, flüsterte der Nebel. „Wir wissen von den toten Welten der verschwundenen Rasse, die die Nor T’alush die Erste nennen, obgleich sie nicht wirklich die ersten waren, und wir wissen von den Gebieten der Kresh und den verlorenen Kolonien der Gethsoids aus Aath, die weit aus den Tiefen des Menschenreichs her aussegelten, bevor es das Menschenreich war.“ „Was ist jenseits von denen?“ „Die Kresh erzählen von einer Welt, Cedris genannt, und von einer großen Sphäre von Sonnen, die größer als das Menschenreich, die Damoosh-Sonnen und das alte Hrangan-Imperium zusammengenommen sind. Die Sterne darin sind die Ullish-Sterne.“ „Ja“, sagte Holt. In seiner Stimme lag ein Zittern. „Und jenseits davon? In der Umgebung? Weiter nach innen zu?“ Ein Feuer brannte in den fernen Tiefen des Nebels, die grünen Dämpfe glühten in einem glimmenden, rötlichen Licht. „Die Da-moosh wissen es nicht. Wer fährt so weit, so lange? Es gibt darüber nur Erzählungen. Sollen wir Ihnen die allerältesten erzählen? Die über die Hellen Götter oder den Fahrenden ohne Schiff? Sollen wir den alten Gesang über die Rasse ohne Welt singen? Weiter nach innen zu wurden Geisterschiffe gesichtet, Objekte, die sich schneller bewegen als ein Menschenschiff oder ein Damoosh-Innenantrieb, und sie zerstören, wo es ihnen 120
gefällt, doch manchmal sind sie überhaupt nicht vorhanden. Wer kann sagen, was sie sind, wer sie sind, wo sie sind, ob sie sind? Wir kennen Namen, Namen, Geschichten, Namen und Geschichten können wir Ihnen geben. Aber die Tatsachen sind unklar. Wir hören von einer Welt, die Huul die Goldene, genannt wird, die mit den verschollenen Gethsoids handelt, die mit den Kresh handeln, die mit den Nor T’alush handeln, die mit uns handeln, doch kein Damoosh-Schiff ist jemals zu Huul der Goldenen gefahren, und wir können nicht viel darüber aussagen, noch nicht einmal, wo sie liegt. Wir hören von den verschleierten Menschen einer unbenannten Welt, die sich selbst aufblasen und in ihrer Atmosphäre herumschwimmen, doch das mag vielleicht nur eine Legende sein, und wir können nicht einmal sagen, wessen Legende. Wir hören von einer Rasse, die im fernen Raum lebt, die mit einer Rasse redet, die die Dan’lai genannt werden, die mit den Ullish-Sternen handeln, die mit den Cedris handeln, und auf diese Weise läuft die Kette zu uns zurück. Doch wir Damoosh auf dieser Welt, die dem Menschenreich so nahe liegt, haben niemals einen Cedraner gesehen – wie können wir also der Kette vertrauen?“ Da war ein Geräusch wie ein Murmeln, unter seinen Füßen wirbelte der Nebel auf, und so etwas wie Weihrauch stieg auf und berührte Holts Nase. „Ich fahre weiter nach innen“, sagte Holt. „Ich werde weiterziehen und sehen.“ „Dann komm eines Tages zurück und erzähle uns“, schrien die Nebel, und zum erstenmal hörte Holt die traurige Klage eines Weisheitssees, der nicht weise genug ist. 121
„Komm zurück, komm zurück. Es gibt viel zu lernen.“ Der Geruch des Weihrauchs war sehr stark. Holt plünderte drei weitere cedranische Blasenhütten an jenem Nachmittag und brach in zwei weitere ein. Die erste von diesen war einfach kalt und leer und staubig, die zweite war besetzt, aber nicht von einem Cedraner. Nachdem er die Tür losgerüttelt hatte, stand er, starr vor Schreck, still, während ein ätherisch geflügeltes Wesen mit wilden Augen gegen das Dach der Hütte flatterte und auf ihn niederstieß. Er holte weder etwas aus jener Blase noch aus der leeren, doch der Rest seiner Einbrüche zahlte sich aus. Bei Sonnenuntergang kehrte er zur Steinstadt zurück, stieg die flache Anhöhe zur westlichen Öffnung hinauf, einen Sack mit Lebensmitteln über die Schultern geworfen. In dem fahlen, nachlassenden Licht sah die Stadt farblos, ausgelaugt und tot aus. Die umgebenden Mauern waren vier Meter hoch und zweimal so dick, hergestellt aus einem glatten, nahtlosen, grauen Gestein, so als ob sie aus einem Stück wären. Die westliche Öffnung, die sich zur Stadt der Schiffslosen hin öffnete, war mehr ein Tunnel als ein Durchgang. Holt schritt schnell hindurch, in das enge Zickzack der Gassen hinaus, das sich zwischen zwei riesigen Gebäuden hindurchschlängelte – oder vielleicht waren es gar keine Gebäude. Zwanzig Meter hoch, unregelmäßig geformt, ohne Fenster und Türen. Es konnte keinen anderen möglichen Eingang außer über die unteren Ebenen der Stadt geben. Doch diese Art von Struktur, diese seltsam geformten Blöcke aus 122
grauem Stein, beherrschten den östlichsten Teil der Steinstadt in einem Gebiet von ungefähr zwölf Quadratkilometern. Sunderland hatte es kartographiert. Die Gassen bildeten ein hoffnungsloses Gewirr, keine von ihnen verlief über mehr als zehn Meter geradeaus. Holt hatte sich, wenn er von oben blickte, oft vorgestellt, daß sie aussahen, wie ein Kind einen Blitzstrahl zeichnen würde. Doch er war diese Strecke schon oft entlanggekommen, und er hatte Sunderlands Karte seinem Gedächtnis eingeprägt (für diesen kleinen Ausschnitt der Steinstadt jedenfalls). Er bewegte sich schnell und vertrauensvoll, er traf auf niemanden. Von Zeit zu Zeit, wenn er an einem Schnittpunkt stand, wo verschiedene Gassen ineinander übergingen, erhaschte er Ausblicke auf andere in der Ferne liegende Bauten. Sunderland hatte die meisten von ihnen ebenfalls kartographiert, sie verwendeten die Ausblicke als Orientierungen. Die Steinstadt hatte hundert verschiedene Teile, und in jedem waren die Architektur und selbst das verbaute Gestein verschieden. An der Nordwestmauer entlang zog sich ein Dschungel von Türmen aus Obsidian, die nahe beieinander standen, mit trockenen Kanälen zwischen sich. Nach Süden hin lag eine Region mit blutroten Steinpyramiden; im Osten gab es eine völlig leere Granitfläche, in deren Mitte ein einziger pilzförmiger Turm stand, der sich zu den Seiten hin absenkte. Und es gab noch andere Gebiete, alle seltsam, alle unbewohnt. Sunderland kartographierte jeden Tag ein paar weitere Bauwerke. Doch selbst dies war nur die Spitze des Eisbergs. Die Steinstadt bestand aus Ebenen unter Ebenen, 123
und weder Holt noch Sunderland noch irgendeiner der anderen war in jene schwarzen und luftlosen Labyrinthe vorgedrungen. Die Dämmerung umgab ihn schon, als Holt an einem der Hauptschnittpunkte, einem großen Achteck mit einem kleinen achteckigen Teich in der Mitte, stehenblieb. Das Wasser war still und grün, nicht einmal ein Windgekräusel bewegte die Oberfläche, bis Holt anhielt, um sich zu waschen. Ihre Räume, die nicht weit von hier lagen, waren ebenso knochentrocken wie das ganze Gebiet der Stadt. Sunderland behauptete, daß die Pyramiden eine innere Wasserversorgung hätten, doch in der Nähe des Westlichen Einlasses gab es außer diesem öffentlichen Teich nichts. Holt ging weiter, nachdem er sich den Staub des Tages von Gesicht und Händen gewaschen hatte. Der Beutel mit den Nahrungsmitteln schlug gegen seinen Rücken, und das Echo seiner Schritte tönte durch die Stille der Gassen. Es gab kein anderes Geräusch, die Nacht brach schnell herein. Sie würde ebenso finster und mondlos sein wie jede andere Kreuzweltnacht. Holt wußte das. Die Wolkendecke war immer stark, und er konnte selten mehr als ein halbes Dutzend Sterne ausmachen. Jenseits des Platzes mit dem Teich war eines der großen grauen Gebäude eingefallen. Nichts war übrig als ein Wirrwarr von geborstenen Steinen und Sand. Holt überquerte es vorsichtig und ging auf ein einzelnes Gebäude zu, das zwischen den anderen fehl am Platze erschien – ein riesiger Dom aus goldenem Stein, ähnlich einer vergrößerten cedranischen Blasenhütte. Es besaß ein Dut124
zend Eingangslöcher, ein Dutzend schmale Treppen, die sich zu ihnen hinaufwanden, und eine Wabe von Zimmern im Innern. Fast zehn Standardmonate war dies nun schon sein Zuhause. Sunderland hockte auf dem Boden ihres Gemeinschaftsraumes, als Holt eintrat, seine Karten waren um ihn herum ausgebreitet. Er hatte jeden Abschnitt so eingerichtet, daß er mit den anderen in einem Flickenteppich zusammenpaßte. Alte, vergilbte Stücke, die er von den Dan’lai gekauft und korrigiert hatte, waren zwischen Gitterfilmkarten der Pegasus und Leichtmetallquadrate aus silberigem Ullish-metall geschoben. Das Ganze überzog den ganzen Raum, wobei jedes Teil mit Zeilen in Sunderlands sauberer Notation bedeckt war. Mit einer Lampe im Schoß und einem Stift in der Hand saß er in der Mitte von dem allen und sah eulenartig, zerknittert und viel zu fett aus. „Ich habe Lebensmittel“, sagte Holt. Er warf den Beutel quer durch den Raum, und er landete inmitten der Karten, so daß einige lose Abschnitte durcheinandergeworfen wurden. Sunderland kreischte: „Heeh, die Karten! Sei vorsichtig!“ Er blinzelte und schob die Lebensmittel zur Seite und ordnete alles wieder ordentlich an. Holt durchquerte den Raum zu seinem Schlafnetz, das zwischen zwei kräftigen Kaltleuchtensäulen festgebunden war. Er trat auf die Karten dabei, und Sunderland schrie wieder auf, aber Holt ignorierte ihn und kletterte in das Netz. „Furchtbar bist du“, sagte Sunderland, während er die 125
zertretenen Abschnitte glättete. „Bitte sei etwas vorsichtiger, ja?“ Er blickte auf und sah, daß Holt ihn finster anblickte. „Mike?“ ,,’tschuldigung“, sagte Holt. „Hast du heute irgend etwas gefunden?“ Der Ton machte die Frage zu einer leeren Formalität. Sunderland bemerkte das nie. „Ich bin in einen ganz neuen Bezirk weit im Süden vorgedrungen“, sagte er erregt. „Auch sehr interessant. Offensichtlich als Einheit entworfen. Es gibt dort diese zentrale Säule, verstehst du, die aus einem weichen grünen Stein gebaut ist und von zehn ein wenig kleineren Säulen umgeben ist, und da sind diese Brücken – nun, so eine Art von Bändern aus Stein, sie verlaufen von der Spitze der großen zu den Spitzen der kleinen Säulen. Dieses Muster wird ständig wiederholt. Und darunter befindet sich eine Art von Labyrinth aus hüfthohen Steinmauern. Es wird mich Wochen kosten, sie in die Karte einzuzeichnen.“ Holt blickte auf die Mauer, die seinem Kopf am nächsten war, wo die Zählung der Tage in den Goldstein eingeritzt war. „Ein Jahr“, sagte er. „Ein Standardjahr, Jeff.“ Sunderland blickte ihn neugierig an, stand dann auf und begann, seine Karten aufzusammeln. „Wie war dein Tag?“ fragte er. „Wir werden hier niemals rauskommen“, sagte Holt, mehr zu sich selbst als zu Sunderland. „Niemals. Es ist vorbei.“ Jetzt stutzte Sunderland. „Hör auf“, sagte der kleine fette Mann. „Das will ich nicht gehört haben, Holt. Gib auf, und das nächste, was passiert, ist, daß du in Amber126
lethe untergehst, zusammen mit Alaina und Takker. Die Steinstadt ist der Schlüssel. Ich habe das schon immer gewußt. Haben wir erst einmal alle ihre Geheimnisse entdeckt, können wir sie an die Fuchsmenschen verkaufen und hier herauskommen. Wenn ich das Kartographieren abschließe …“ Holt rollte sich auf die Seite, um Sunderland anzusehen. „Ein Jahr, Jeff, ein Jahr! Du wirst deine Karte nie fertigbekommen. Du könntest zehn Jahre lang vermessen, und immer noch hättest du nur einen Teil der Stadt erfaßt. Und was ist mit den Tunnels? Den Ebenen darunter?“ Sunderland leckte sich nervös über die Lippen. „Da unten. Nun, wenn ich die Ausrüstung hätte, die an Bord der Pegasus ist, dann …“ „Die hast du aber nicht, und außerdem würde sie hier nicht funktionieren. Nichts funktioniert in der Steinstadt. Das war der Grund, warum der Kapitän landete. Die Regeln sind hier unten nicht gültig.“ Sunderland schüttelte den Kopf und sammelte weiter die Karten ein. „Der menschliche Geist kann alles verstehen. Gib mir Zeit, das ist alles, und ich werde es entschlüsseln. Wir könnten selbst die Dan’lai und die Ullies verstehen, wenn Susie Benet noch hier wäre.“ Susie Benet war ihre Kontaktspezialistin gewesen – eine drittklassige Lingo-spezi, doch selbst eine kleine Begabung ist besser als keine, wenn man es mit den Gehirnen von Aliens zu tun hat. „Susie Benet ist nicht hier“, sagte Holt. Seine Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen. Er begann, Na127
men an den Fingern abzuzählen. „Susie verschwand mit dem Kapitän. Ebenso Carlos. Irai beging Selbstmord. Ian versuchte sich den Weg in die Windmauern freizuschießen und endete oben auf ihnen. Det, Lana und Maje gingen nach unten, weil sie versuchen wollten, den Kapitän zu finden, und sie verschwanden ebenfalls. Davien Tillmann hat sich als Wirt für ein Kresh-Ei verkauft, also ist er inzwischen auch erledigt. Alaina und Takker-Ray vegetieren sinnlos dahin, und wir wissen nicht, was mit den vieren an Bord der Pegasus geschehen ist. Da bleiben nur noch wir, Sunderland, du und ich.“ Er lächelte grimmig. „Du machst Karten, ich stehle von den Würmern, und niemand versteht irgend etwas. Wir sind erledigt. Wir werden hier in der Steinstadt sterben. Wir werden die Sterne niemals wiedersehen.“ Er hörte ebenso plötzlich auf, wie er angefangen hatte. Für Holt war es ein seltener Ausbruch. Im allgemeinen war er still, ohne viel Worte, vielleicht ein wenig bedrückt. Sunderland stand erstaunt da, während Holt hoffnungslos in sein Schlafnetz zurücksackte. „Tag auf Tag auf Tag“, sagte Holt. „Und keiner davon bedeutet irgend etwas. Weißt du noch, was Irai gesagt hat?“ „Sie war labil“, beharrte Sunderland. „Sie hat dies über unsere wildesten Befürchtungen hinaus bewiesen.“ „Sie sagte, daß wir zu weit gegangen sind“, sagte Holt, als hätte Sunderland gar nichts gesagt. „Sie sagte, es wäre falsch zu denken, daß das ganze Universum nach Regeln abläuft, die wir verstehen könnten. Du erinnerst dich. Sie nannte es ‚kranke, arrogante menschliche Tor128
heit‘. Du erinnerst dich, Jeff. So redete sie. Genau so. Kranke, arrogante menschliche Torheit.“ Er lachte. „Kreuzwelt machte fast Sinn, das war es, was uns irritiert hat. Aber wenn Irai recht hatte, würde das ins Bild passen. Schließlich sind wir noch nicht sehr weit vom Menschenreich entfernt, nicht wahr? Weiter nach innen hinein verändern sich die Regeln vielleicht noch mehr.“ „Ich mag diese Art von Gerede nicht“, sagte Sunderland. „Du wirst langsam zum Defätisten. Irai war krank. Gegen Ende, weißt du, ging sie zu den Gebetsandachten der Ul-mennaleith, sie unterwarf sich den Ul-nayileith und so weiter. Eine Mystikerin, das ist sie geworden. Eine Mystikerin.“ „Hatte sie unrecht?“ fragte Holt. „Sie hatte unrecht“, sagte Sunderland fest. Holt blickte ihn wieder an. „Dann erkläre mir das alles, Jeff. Sag mir, wie man hier herauskommt. Sag mir, wie das alles einen Sinn ergibt.“ „Die Steinstadt“, sagte Sunderland. „Nun, wenn ich meine Karten fertig habe …“ Er hielt plötzlich inne. Holt hatte sich ins Netz zurückgelehnt und hörte überhaupt nicht mehr zu. Er brauchte fünf Jahre und sechs Schiffe, um die große, mit Sternen übersäte Sphäre, welche die Damoosh für sich beanspruchten, zu überqueren und die jenseits davon gelegene Grenzzone zu durchdringen. Er zog andere, größere Weisheitsseen zu Rate, während er unterwegs war, und eignete sich so viel Wissen an, wie er nur konn129
te, doch stets warteten noch Geheimnisse und Überraschungen auf der nächsten Welt. Nicht alle Schiffe, auf denen er arbeitete, waren mit Menschen bemannt, nur selten kamen Menschenschiffe so weit, so daß Holt sich bei den Damoosh, herumziehenden Gethsoiden und anderen, weniger bedeutenden Rassen verdingte. Doch immer noch gab es normalerweise an jedem Raumflughafen, den er erreichte, ein paar Menschen, und schließlich hörte er sogar Gerüchte über ein zweites menschliches Imperium, das etwa fünfhundert Lichtjahre weiter zum galaktischen Zentrum hin liegen sollte und das durch ein wanderndes Generationenschiff gegründet worden sei und von einer glanzvollen Welt, Prester genannt, beherrscht würde. Auf Prester schwebten die Städte in den Wolken, hatte ihm ein verhutzelter Vess-mensch erzählt. Eine Zeitlang glaubte Holt das, bis ein anderes Mannschaftsmitglied ihm erzählte, daß Prester in Wirklichkeit eine einzige, die ganze Welt umspannende Stadt sei, die von Nahrungsmittelfrachtern am Leben erhalten würde, die größer seien als alles, was das Föderierte Imperium in den Kriegen vor dem Zusammenbruch gebaut hatte. Derselbe Mann sagte, daß es überhaupt kein Generationenschiff gewesen war, das Prester gegründet hatte – er bewies dies, indem er vorführte, wie weit ein langsames Licht-Schiff von Alt-Erde seit dem Beginn des Raumflugalters hätte kommen können –, sondern vielmehr eine Schwadron der Erdimperialen, die vor einem Hranganischen Geist flüchtete. Dieses Mal blieb Holt mißtrauisch. Als eine Frau von einem gestrandeten cathadaynischen Frachter schließlich darauf beharrte, daß Prester von To130
mo und Walberg gegründet worden sei, gab er die ganze Sache auf. Doch es gab noch andere Legenden, andere Geschichten, und sie lockten ihn immer weiter. Wie sie andere weiterlockten. Auf einer luftlosen Welt, die einen blau-weißen Stern umkreiste, in der einzigen, unter einer Kuppel liegenden Stadt, traf Holt Alaina. Sie erzählte ihm von der Pegasus. „Der Kapitän hat sie völlig neu gebaut, wissen Sie, genau hier. Er hatte Handel getrieben, ging dabei weiter nach innen als üblich, wie wir das alle machen“ – sie lächelte ihn verstehend an, da sie annahm, daß Holt ebenfalls ein handeltreibender Spieler war, der auf den großen Fund aus ist –, „und er traf einen Dan’la. Sie leben weiter nach innen hin.“ „Ich weiß“, sagte Holt. „Nun, vielleicht wissen Sie nicht, was dort drinnen passiert. Der Kapitän sagt, die Dan’lai hätten fast die Ullish-Sterne übernommen – haben Sie von den UllishSternen gehört …? Gut. Nun, der Grund ist, daß sich die Ul-mennaleith nicht viel gewehrt haben, nehme ich an, aber auch wegen der Sprungkanone der Dan’lai. Das ist eine ganz neue Geschichte, denke ich, und der Kapitän sagt, daß sie die Reisezeit halbiert oder noch mehr verkürzt. Der Standardantrieb, wissen Sie, verformt die Struktur des Raum-Zeit-Kontinuums, um die SaLWirkungen zu erzielen, und …“ „Ich bin Antriebsoperator“, sagte Holt knapp. Aber indem er das sagte, beugte er sich weiter vor und hörte angespannt zu. 131
„Oh“, sagte Alaina, die keineswegs eingeschüchtert war. „Nun, die Sprungkanone der Dan’lai bewirkt noch etwas, sie versetzt Sie in ein anderes Kontinuum und dann wieder zurück. Die Bedienung ist vollkommen anders. Sie ist teilweise psyonisch, und sie legen Ihnen diesen Ring um den Kopf.“ „Sie haben eine Sprungkanone?“ unterbrach Holt. Sie nickte. „Der Kapitän hat sein altes Schiff einschmelzen lassen, nur um die Pegasus zu bauen. Mit einer Sprungkanone, die er von den Dan’lai gekauft hat. Er stellt jetzt eine Mannschaft zusammen, und sie trainieren uns.“ „Wo geht es denn hin?“ sagte er. Sie lachte hellauf, und ihre leuchtend grünen Augen schienen zu blitzen. „Wohin schon? Nach innen!“ Holt erwachte bei Sonnenaufgang in der Stille, erhob sich, zog sich schnell an und ging seinen Weg zurück, an dem stillen grünen Teich vorbei und den endlosen Gassen, zum Westlichen Tor hinaus und durch die Stadt der Schiffslosen. Er ging unter der Mauer der Skelette entlang, ohne einen Blick nach oben zu richten. Innerhalb der Windmauer, in dem langen Korridor, begann er, die Türen auszuprobieren. Die ersten vier klapperten und blieben geschlossen. Die fünfte öffnete sich in ein leeres Büro. Ohne Dan’la. Das war etwas Neues. Holt trat vorsichtig ein und schaute sich um. Niemand da, nichts und keine zweite Tür. Er ging um den breiten Ullish-Schreibtisch herum und begann ihn methodisch zu durchsuchen, genauso wie 132
er die cedranischen Blasenhütten durchsuchte. Vielleicht könnte er einen Ausweis für das Landefeld oder eine Pistole finden, etwas – irgend etwas, das ihn zurück auf die Pegasus bringen konnte. Wenn sie immer noch jenseits der Mauern stand. Oder vielleicht könnte er eine Heuerzuteilung finden. Die Tür glitt auf, ein Fuchsmensch stand dort. Er war von all den anderen nicht zu unterscheiden. Er bellte los, und Holt sprang vom Schreibtisch weg. Schnell kam der Dan’la herum und ergriff den Stuhl. „Dieb!“ sagte er. „Dieb. Ich werde schießen. Sie werden erschossen. Ja.“ Seine Zähne schnappten. „Nein“, sagte Holt, wobei er sich allmählich auf die Tür zubewegte. Er konnte rennen, wenn der Dan’la die anderen rief. „Ich kam wegen einer Heuer“, sagte er lahm. „Ah!“ Der Fuchsmann faltete seine Hände. „Andersartig. Nun, Holt, wer sind Sie?“ Holt stand stumm da. „Eine Heuer, eine Heuer, Holt will eine Heuer“, sagte der Dan’la in einem knarrenden Singsang. „Gestern sagte man, daß nächste Woche ein Menschenschiff hereinkommen würde“, sagte Holt. „Nein, nein, nein. Tut mir leid. Kein Menschenschiff wird kommen. Es wird kein Menschenschiff geben. Nächste Woche, gestern, keine Zeit. Sie verstehen? Und wir haben keine Heuer. Schiff ist voll. Sie gehen niemals auf Landefeld ohne Heuer.“ Holt bewegte sich wieder auf die andere Seite des Schreibtisches zu. „Nächste Woche kein Schiff?“ 133
Der Fuchsmensch schüttelte den Kopf. „Kein Schiff. Kein Schiff. Kein Menschenschiff.“ „Dann etwas anderes. Ich arbeite für die Ullies, für die Dan’lai, für die Cedraner. Ich habe es Ihnen gesagt. Ich kenne den Antrieb, ich kenne Ihre Sprungkanone. Erinnern Sie sich? Ich habe Zeugnisse.“ Der Dan’la legte den Kopf schief zu einer Seite hin. Erinnerte sich Holt an diese Geste? War dies ein Dan’la, mit dem er schon einmal zu tun gehabt hatte? „Ja, aber keine Heuer.“ Holt wandte sich zur Tür. „Warten Sie“, kommandierte der Fuchsmensch. Holt drehte sich um. „Kein Menschenschiff nächste Woche“, sagte der Dan’la. „Kein Schiff, kein Schiff, kein Schiff“, sang er. Dann brach er sein Singen ab. „Menschenschiff ist jetzt!“ Holt fuhr zusammen. „Jetzt?! Sie meinen, es steht genau jetzt ein Menschenschiff auf dem Landefeld?“ Der Dan’la nickte wild. „Eine Heuer!“ Holt war verzweifelt. „Besorgen Sie mir eine Heuer!“ „Ja. Ja. Eine Heuer für Sie, für Sie eine Heuer.“ Der Fuchsmensch berührte etwas auf dem Schreibtisch, eine Schublade glitt auf, und er nahm einen Streifen silbrigen Metalls und einen dünnen blauen Stab aus blauem Plastik heraus. „Ihr Name?“ „Michael Holt“, antwortete er. „Oh.“ Der Fuchsmensch legte den Stab nieder, nahm das Metallblatt und legte es in die Schublade zurück und bellte: „Keine Heuer!“ 134
„Keine Heuer?“ „Kein Mensch kann zwei Heuern haben“, sagte der Dan’la. „Zwei?“ Der Schreibtischfuchs nickte. „Holt hat eine Heuer auf Pegasus.“ Holts Hände zitterten. „Verdammt“, sagte er. „Verdammt.“ Der Dan’la lachte. „Nehmen Sie die Heuer?“ „Auf der Pegasus?“ Ein Nicken. „Sie werden mich also durch die Mauern lassen?“ Der Fuchsmensch nickte wieder. „Holt Ausweis für Landeplatz schreiben.“ „Ja“, sagte Holt. „Ja.“ „Name?“ „Michael Holt.“ „Rasse?“ „Mensch.“ „Heimatwelt?“ „Ymir.“ Es entstand eine kurze Stille. Der Dan’la hatte dagesessen, mit gefalteten Händen, und Holt angestarrt. Nun öffnete er plötzlich die Schublade, nahm ein uralt aussehendes Stück Pergament heraus, das zerkrümelte, als er es anfaßte, und nahm den Stab wieder auf. „Name?“ fragte er. Sie spielten das Ganze noch einmal durch. Als der Dan’la mit dem Schreiben aufgehört hatte, reichte er Holt das Papier. Es zerfiel, wo immer er es be135
fühlte. Er versuchte, sehr vorsichtig zu sein. Keines der Schriftzeichen ergab einen Sinn. „Dies bringt mich durch die Wachen?“ sagte Holt zweifelnd. „Auf das Landefeld? Zu der Pegasus?“ Der Dan’la nickte. Holt wandte sich ab und rannte fast zur Tür. „Warten Sie“, schrie der Fuchsmensch. Holt erstarrte und fuhr herum. „Was?“ stieß er zwischen den Zähnen hervor, und es war fast ein Wutschrei. „Technische Sache.“ „Ja.“ „Ausweis für Landeplatz, damit gültig, muß unterschrieben werden.“ Der Dan’la zeigte ein Lächeln vieler Zähne. „Unterschrieben, ja, ja, unterschrieben von Ihrem Kapitän.“ Es gab kein Geräusch. Holts Hand schloß sich krampfartig um das Stück gelben Papiers, und die Teile flatterten steif zu Boden. Dann, schnell und ohne Worte, war er über ihm. Der Dan’la hatte nur Zeit für ein kurzes Bellen, bevor Holt ihn bei der Gurgel gepackt hatte. Die feingliedrigen sechsfingrigen Hände ruderten hilflos in der Luft. Holt bog, der Hals knackte. Er hielt ein Bündel aus schlaffem rötlichem Fell in den Händen. Eine lange Zeit stand er nun da, die Hände geschlossen, die Zähne zusammengebissen. Dann lockerte er langsam seinen Griff, und die Leiche des Dan’la sackte zurück, so daß der Stuhl umfiel. Vor Holts Augen stand nur für einen Moment das Bild der Windmauer. Er rannte. 136
Die Pegasus hatte, für den Fall, daß die Sprungkanone versagte, auch den Standardantrieb. Die Mauern des Raums zeigten die bekannte Mischung von nacktem Metall und Computerterminals. Aber die Mitte wurde von der dan’laischen Sprungkanone ausgefüllt: ein langer Zylinder aus metallischem Glas, von dem Durchmesser eines Mannes, oben auf einer Instrumentenplatte montiert. Der Zylinder war halb mit einer trägen Flüssigkeit gefüllt, die jedesmal sofort die Farbe wechselte, wenn ein Energiepuls durch den Tank lief. Ringsherum waren die Sitze der Sprungoperatoren, zwei auf jeder Seite. Holt und Alaina saßen auf einer Flanke, die große blonde Irai und Ian MacDonald gegenüber. Jeder von ihnen trug eine hohle gläserne Krone, die mit derselben Flüssigkeit gefüllt war, die auch im Zylinder der Kanone herumschwappte. Carlos Villareal war hinter Holt am Hauptterminal und holte Daten aus dem Schiffscomputer. Die Sprünge waren bereits geplant. Sie würden sich die Ullish-Sterne ansehen, hatte der Kapitän entschieden. Und Cedris und Huul die Goldene und Orte weiter nach innen hinein. Und vielleicht sogar Prester und das galaktische Zentrum. Der erste Halt war ein Transitpunkt, der Graurast genannt wurde (aufgrund des Namens war klar, daß irgendwelche anderen Menschen dort schon gewesen waren – der Stern befand sich auf den Karten). Der Kapitän hatte eine Geschichte über eine Steinstadt gehört, die älter als die Zeit sein sollte. 137
Außerhalb der Atmosphäre wurde der Nuklearantrieb abgeschaltet, und Villareal gab den Befehl. „Koordinaten sind eingegeben, Navigation bereit“, sagte er mit einer Stimme, die weniger sicher klang als üblich, die gesamte Prozedur war zu neu. „Sprung.“ Sie schalteten die Dan’lai-Sprungkanone ein. Dunkelheit, in der Farben schimmern und tausend wirbelnde Sterne und inmitten davon war Holt ganz allein aber nein da war Alaina und dort jemand anders und sie alle waren verbunden und um sie wirbelte das Chaos und große graue Wogen schlugen über ihren Köpfen zusammen und die Gesichter schienen vom Feuer umgeben lachend sich auflösend und Schmerz Schmerz Schmerz und sie waren verloren und nichts war fest und Äonen vergingen doch nein Holt sah etwas brennen das rief zog zum Zentrum zum Zentrum und von dort heraus Graurast doch dann war es verschwunden und irgendwie brachte Holt es zurück und er schrie Alaina zu und sie griff auch danach und MacDonald und Irai und sie ZOGEN. Sie saßen wieder an der Sprungkanone, und Holt war sich plötzlich eines Schmerzes am Handgelenk bewußt, er blickte hinunter und sah, daß ihm jemand eine intravenöse Nadel eingeführt und festgeklebt hatte. Alaina und die anderen, Ian und Irai, hatten ebenfalls eine. Von Villareal war nichts zu sehen. Die Tür glitt auf, und Sunderland stand da und lächelte sie an und zwinkerte. „Gott sei Dank!“ sagte der dickliche Navigator. „Ihr seid drei Monate bewußtlos gewesen. Ich dachte schon, wir seien erledigt.“ Holt nahm die Glaskrone vom Kopf und sah, daß nur 138
noch eine dünne Schicht der Flüssigkeit übriggeblieben war. Dann fiel ihm auf, daß der Sprungzylinder ebenfalls fast leer war. „Drei Monate?“ Sunderland erschauerte. „Es war schrecklich. Draußen war nichts, nichts, und wir konnten euch nicht aufwekken. Villareal mußte Kindermädchen spielen. Wenn der Kapitän nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, was passiert wäre. Ich weiß, was der Fuchsmensch gesagt hat, aber ich war nicht sicher, daß ihr uns je aus – was immer es war – würdet herausziehen können.“ „Und sind wir da?“ verlangte MacDonald zu wissen. Sunderland ging um die Sprungkanone an Villareals Terminal und blendete den Sichtschirm des Schiffs ein. In einem schwarzen Feld brannte eine kleine gelbe Sonne. Und eine kalte graue Kugel füllte den Schirm. „Graurast“, sagte Sunderland. „Ich habe die Instrumente überprüft. Wir sind da. Der Kapitän hat bereits einen Kommunikationsstrahl zu ihnen eingerichtet. Die Dan’lai scheinen alles in der Hand zu haben, und sie haben uns Landeerlaubnis erteilt. Die Zeitprüfung stimmt auch: drei Monate subjektiv, drei Monate objektiv, so genau wie wir das überprüfen können.“ „Und mit dem Standardantrieb?“ sagte Holt. „Derselbe Trip mit dem Standardantrieb?“ „Wir sind sogar besser gewesen, als uns die Dan’lai versprochen hatten“, sagte Sunderland. „Graurast liegt eineinhalb Jahre nach innen von dort, wo wir waren.“ Es war zu früh. Die Wahrscheinlichkeit war zu groß, daß die Cedraner noch nicht im Koma waren. Aber Holt 139
mußte das Risiko eingehen. Er bahnte sich seinen Weg in die erste Blasenhütte, auf die er stieß, und plünderte sie vollständig aus, riß die Dinge mit fliegender Hast auseinander. Die Bewohner waren glücklicherweise regungslose Schlafbälle. Auf der Hauptdurchgangsstraße ignorierte er die Dan’lai-Kaufleute, denn halb fürchtete er sich, er würde demselben Fuchsmenschen wieder gegenüberstehen, den er gerade umgebracht hatte. Statt dessen fand er einen großen Verkaufsstand, der von einem fast blinden Linkellar betrieben wurde, dessen riesige Augen wie bewegliche Eiterbälle aussahen. Das Wesen haute ihn trotzdem noch irgendwie übers Ohr. Doch er handelte alles, was er erbeutet hatte, gegen einen eiförmigen Helm in durchsichtigem Blau und einen funktionierenden Laser. Der Laser verwirrte ihn, er war ein Doppelgänger zu dem Laser, den MacDonald bei sich hatte, bis hin zum Finneganwappen. Aber er funktionierte, und das war alles, worauf es ankam. Die Massen versammelten sich zum täglichen Aufund Abgeschiebe durch die Straße der Stadt der Schiffslosen. Holt schob sich rücksichtslos zwischen ihnen hindurch, auf die Westliche Öffnung zu, und er verfiel in einen abgemessenen Dauerlauf, als er die leeren Gassen der Steinstadt erreichte. Sunderland war weg, irgendwo draußen beim Vermessen. Holt nahm einen seiner Schreiber und schrieb quer über eine der Karten: HABE EINEN FUCHS UMGEBRACHT. MUSS MICH VERSTECKEN. ICH GEHE IN DIE STEINSTADT HINUNTER. DORT IST ES SICHER. Dann nahm er alle Le140
bensmittel, die übrig waren, ein Vorrat für zwei Wochen, für länger, wenn er hungerte. Er füllte einen Rucksack damit, schnallte ihn fest und ging. Der Laser paßte gut in seine Hosentasche, den Helm hatte er unter den Arm geklemmt. Der nächste Weg nach unten war nur ein paar Häuserreihen entfernt, ein riesiger Korkenzieher, der sich von der Mitte eines Schnittpunkts aus in die Erde hineinbohrte. Holt und Sunderland waren oft bis zur ersten Ebene gegangen, so weit, wie das Licht reichte. Selbst dort war es düster, bedrückend stickig. Ein Netzwerk von Tunneln, das ebenso verwickelt war wie die Gassen oben, hatte sich in jede Richtung verzweigt. Viele von ihnen neigten sich nach unten. Und natürlich führte der Korkenzieher weiter nach unten, mit weiteren Verzweigungen, die mit jeder Drehung immer dunkler wurden. Niemand ging jemals über die erste Ebene hinaus. Jene, die das taten – wie der Kapitän –, kamen niemals zurück. Sie hatten Geschichten darüber gehört, wie tief die Steinstadt sei, doch es gab keine Möglichkeit, sie zu überprüfen. Die Instrumente, die sie von der Pegasus mitgebracht hatten, hatten auf Kreuzwelt niemals funktioniert. Am Ende der ersten vollen Drehung, auf der ersten Ebene, blieb Holt stehen und setzte den hellblauen Helm auf. Er paßte knapp. Die Vorderseite drückte gegen die Spitze seiner Nase, und die Seiten quetschten unangenehm seinen Kopf. Offensichtlich war der Helm für einen Ul-mennaleith gebaut worden. Aber es würde gehen. Um den Mund herum war ein Loch, also konnte er atmen und sprechen. 141
Er wartete einen Augenblick, bis seine Körperwärme von dem Helm absorbiert worden war. Kurz darauf begann er ein düsteres blaues Licht abzustrahlen. Holt ging weiter in die Dunkelheit. Immer im Kreis herum kurvte der unterirdische Weg, und andere Tunnels bogen an jeder Wendung ab. Holt ging immer weiter und verlor bald die Übersicht über die Zahl der Ebenen, an denen er vorbeigekommen war. Außerhalb von seinem kleinen Lichtkreis gab es nur makellose Dunkelheit und Stille und eine immer noch heiße Luft, die zu atmen er in zunehmendem Maße schwierig fand. Doch die Furcht trieb ihn jetzt voran, und er wurde nicht langsamer. Die Oberfläche der Steinstadt war verlassen, aber nicht völlig. Die Dan’lai betraten sie, wenn sie es mußten. Nur hier unten würde er sicher sein. Er würde auf dem Korkenzieher bleiben, schwor er sich. Wenn er ihn nicht verließ, konnte er sich nicht verlaufen. Das war es, was dem Kapitän und den anderen passiert war, da war er sicher. Sie hatten den Weg nach unten verlassen und waren in einen der Seitengänge hineingegangen und verhungert, bevor sie den Weg zurück gefunden hatten. Nicht so Holt. In zwei Wochen etwa würde er hinaufsteigen und von Sunderland Lebensmittel holen, vielleicht. Es schienen Stunden zu sein, in denen er die sich windende Rampe hinunterschritt, vorbei an endlosen Mauern aus gestaltlosem grauem Gestein, das durch seinen Helm blau gefärbt wurde, vorbei an tausend klaffenden Löchern, die nach den Seiten, nach oben und unten abbogen, und jedes rief ihn mit einem breiten, schwarzen 142
Maul. Die Luft wurde ständig wärmer. Bald atmete Holt schwer. Um ihn war nichts als Stein, doch die Tunnels schienen sich dicht aneinanderzureihen. Er ignorierte sie. Nach einiger Zeit erreichte Holt einen Platz, auf dem der Korkenzieher endete. Eine dreifache Gabelung lag ihm gegenüber, drei von Torbögen überspannte Eingänge und drei enge Treppen, von denen jede scharf in eine andere Richtung abbog, und jede war so gekrümmt, daß Holt nur ein paar Meter in die Dunkelheit sehen konnte. Inzwischen hatte er wunde Füße. Er setzte sich, zog seine Stiefel aus und nahm eine Tube mit geräuchertem Fleisch heraus, um etwas zu essen. Um ihn nur Dunkelheit. Ohne den tiefen Widerhall seiner Schritte gab es kein Geräusch. Oder doch? Er lauschte angestrengt. Eine Art von Rumpeln. Ja. Er hörte etwas, vage, weit entfernt. Er kaute auf dem Fleisch und lauschte noch konzentrierter, und nach langer Zeit entschied er, daß die Geräusche von der Treppe links von ihm kamen. Als er aufgegessen hatte, leckte er sich die Finger ab, zog sich die Stiefel an und erhob sich. Mit dem Laser in der Hand begann er, langsam die Treppe hinunterzusteigen, so leise wie er nur konnte. Die Treppe war ebenfalls eine Spirale, enger als der Weg, ohne Abzweigungen und sehr schmal. Er hatte kaum Platz, sich umzudrehen, doch zumindest gab es auch keine Möglichkeit, sich zu verlaufen. Das Geräusch wurde, während er hinabstieg, ständig lauter, und es dauerte nicht lange, da bemerkte Holt, daß es kein Rumpeln, sondern ein Heulen war. Später dann 143
änderte es sich wieder. Er konnte es kaum erkennen. Ein Stöhnen und Bellen. Die Treppe machte eine scharfe Wendung. Holt folgte ihr und hielt plötzlich inne. Er stand in einem Fenster in einem der seltsam geformten Gebäude aus grauem Stein und blickte über die Steinstadt hin. Unter ihm, nahe einem achteckigen Teich, kreisten sechs Dan’lai einen Cedraner ein. Sie lachten, schnelles, bellendes Gelächter voller Wut, und sie redeten miteinander und schnappten nach dem Cedraner, wann immer er versuchte zu entfliehen. Er stand über ihnen in ihrem Kreis gefangen, verwirrt und klagend schwang er vor und zurück. Die riesigen violetten Augen glühten hell, und die Kampfklauen durchfuhren die Luft. Einer der Dan’lai hatte etwas. Er entfaltete es langsam, ein langes gezahntes Messer. Ein zweites erschien, ein drittes, alle Fuchsmenschen hatten sie. Sie lachten einander an. Einer von ihnen schoß auf den Cedraner von hinten los, und die silbrige Klinge blitzte auf, und Holt sah schwarzes Blut langsam aus einem langen Schnitt im milchweißen Fleisch des Cedraners sickern. Es ertönte ein tiefes Stöhnen, das das Blut erstarren ließ, und der Wurm drehte sich langsam, während der Dan’la zurücktanzte, und seine Kampfkrallen bewegten sich schneller, als Holt es für möglich gehalten hätte. Der Dan’la mit dem schwarz tropfenden Messer wurde hochgehoben, in die Luft geworfen. Er bellte wütend, und dann schnappten die Klauen zusammen, und der Fuchsmensch fiel in zwei Teilen zu Boden. Aber die anderen kamen immer näher, lachend, und ihre Messer woben 144
Muster, und das Klagen des Cedraners wurde zu einem Schrei. Er schlug mit seinen Klauen wild um sich, und ein zweiter Dan’la wurde ohne Kopf ins Wasser gestoßen, aber inzwischen schnitten zwei andere die ausschlagenden Tentakel ab, und noch ein anderer hatte sein Messer bis zum Heft in den schwankenden wurmartigen Rumpf gestoßen. Alle Fuchsmenschen waren äußerst erregt. Er hob den Laser, zielte auf den nächsten Dan’la und drückte den Feuerknopf. Zorniges rotes Licht sprühte. Ein Vorhang fiel über das Fenster und verdeckte die Sicht. Holt beugte sich vor und warf ihn beiseite. Dahinter lag eine Kammer mit niedriger Decke, von der aus ein Dutzend ebenerdiger Tunnels in allen Richtungen davonliefen. Keine Dan’lai, kein Cedraner. Er war tief unter der Stadt. Das einzige Licht das blaue Glühen seines Helms. Langsam, leise wanderte Holt in die Mitte der Kammer. Die Hälfte der Tunnels, das konnte er sehen, war zugemauert. Andere waren tote schwarze Löcher. Aber aus einem strömte ein Schwall kühler Luft. Er folgte ihm einen langgestreckten Weg in die Dunkelheit, bis er sich schließlich auf eine lange Galerie voll mit glühendem rotem Nebel, wie Feuertröpfchen, öffnete. Das Gebäude erstreckte sich nach rechts und links, so weit wie Holt sehen konnte, mit hoher Decke und gerade. Der Tunnel, der ihn hierhergebracht hatte, war nur einer von vielen. Andere – jeder von verschiedener Größe und Form, alle so schwarz wie der Tod – reihten sich in der Mauer aneinander. 145
Holt machte einen Schritt in den sanften roten Nebel hinaus, wandte sich dann zurück und brannte eine Markierung in den Steinboden des Tunnels hinter ihm. Er begann das Gebäude hinunterzuschreiten, an den endlosen Reihen der Tunnelmündungen vorbei. Der Nebel war dick, doch man konnte leicht hindurchsehen, und Holt sah, daß die ganze ausgedehnte Galerie leer war – zumindest bis zu den Grenzen seines Sehvermögens. Aber er konnte kein Ende sehen, und seine Schritte machten kein Geräusch. Er schritt lange Zeit voran, fast in einer Trance, irgendwie vergaß er, Angst zu haben. Dann schoß ein weißes Licht aus einer weit entfernten Tür. Holt begann zu rennen, aber das Glühen war verblaßt, bevor er die Hälfte der Entfernung zu dem Tunnel zurückgelegt hatte. Immer noch rief ihn etwas weiter. Die Tunnelmündung war ein hoher Bogen voller Nacht, als Holt eintrat. Ein paar Meter Dunkelheit und eine Tür, er blieb stehen. Der Bogen öffnete sich zu einem hohen Ufer mit Schnee und einem Wald mit eisengrauen Bäumen, die durch zerbrechliche Netze aus Eis verbunden waren, so zart waren sie, daß ein Atemzug sie schmelzen und zerbrechen würde. Keine Blätter, aber harte blaue Blumen, die aus den Windfalten unter jedem Ast hervorschauten. Die Sterne funkelten oben in der kalten Schwärze. Und hoch gegen den Horizont gelegen sah Holt den hölzernen Zaun und die Steinfeenbrüstung des weitgereisten verzerrten Alten Hauses. Für eine lange Zeit blieb er stehen, betrachtend, sich 146
erinnernd. Der kalte Wind frischte kurz auf und blies aufgewirbelten Schnee durch die Tür, und Holt erschauerte in dem Luftzug. Dann wandte er sich ab und ging in das Gebäude des roten Nebels zurück. Sunderland wartete auf ihn, dort wo der Tunnel auf die Galerie mündete, halb in einen schallschluckenden Schleier eingehüllt. „Mike!“ sagte er, sprach fast wie immer, doch alles, was Holt hörte, war ein Flüstern. „Du mußt zurückkommen. Wir brauchen dich, Mike. Ich komme nicht zum Vermessen, wenn du mir nichts zu essen besorgst, und Alaina und Takker … Du mußt zurückkommen!“ Holt schüttelte den Kopf. Die Nebelschwaden verdickten sich und wirbelten, und Sunderlands beleibte Gestalt wurde umhüllt und verschwamm, bis alles, was Holt sehen konnte, die ausladenden Umrisse waren. Dann wurde die Luft wieder klar, und es war überhaupt nicht mehr Sunderland. Es war der Schuppenboß. Das Wesen stand bewegungslos, die weißen Tentakel an der Blase auf seinem Rumpf zitterten. Es wartete. Holt wartete. Gegenüber in der Galerie erwachte ein plötzliches schwaches Licht in einem Tunnel. Dann begannen die beiden Tunnel rechts und links zu glühen und dann die folgenden beiden. Holt blickte nach rechts, dann nach links. Auf beiden Seiten der Galerie rasten stille Wellen von ihm davon, bis alle Eingänge leuchteten – hier ein schwaches Rot, hier eine Flut in Blauweiß, hier ein freundliches Heimatsonnengelb. Schwerfällig drehte sich der Schuppenboß um und begann, das Gebäude hinunterzuwatscheln. Die Rollen des 147
blauschwarzen Fetts hüpften und wackelten, während es so voranschritt, doch die Nebel saugten den Moschusgeruch auf. Holt folgte ihm, den Laser immer noch in der Hand. Die Decke erhob sich höher und höher, und Holt sah, daß die Eingänge größer wurden. Während er schaute, kam ein schroff marmoriertes Wesen, das dem Schuppenboß ziemlich ähnlich sah, aus einem der Tunnel, durchquerte die Halle und betrat einen anderen Tunnel. Sie blieben vor einer Tunnelmündung stehen, die rund, schwarz und zweimal so groß wie Holt war. Der Schuppenboß wartete. Holt trat mit schußbereitem Laser ein. Er stand vor einem weiteren Fenster oder vielleicht einem Sichtschirm; auf der anderen Seite des runden, kristallenen Durchlasses schwirrte und schrie das Chaos. Er beobachtete es kurz, und gerade als sein Kopf zu schmerzen begann, verfestigte sich das Gewirbel. Wenn man das fest nennen konnte. Jenseits der Öffnung saßen vier Dan’lai mit Sprungkanonen-Ringen um die Köpfe und einem Zylinder vor sich. Außer … außer … das Bild war verwischt. Gespenster, dort waren Gespenster, zweite Bilder, die sich fast, jedoch nicht ganz, mit den ersten fast vollständig überdeckten. Und dann sah Holt ein drittes Bild und ein viertes, und plötzlich zerriß die Darstellung, und es war, als ob er in eine unendliche Mannigfaltigkeit von Spiegeln blickte. Lange Reihen von Dan’lai saßen übereinander, einer in den anderen übergehend, sie wurden schmaler und schmaler, bis sie ins Nichts entschwanden. Übereinstimmend – nein, nein, fast übereinstimmend (denn hier bewegte sich ein Bild nicht zusam148
men mit seinen Widerspiegelungen, und hier tastete ein anderes herum) – entfernten sie die leeren Sprungkanonen-Ringe und schauten einander an und begannen zu lachen. Wildes, schrill bellendes Lachen. Sie lachten und lachten und lachten, und Holt sah, wie das Feuer des Wahnsinns in ihren Augen brannte, und alle Fuchsmenschen (nein, fast alle) krümmten ihre schmalen Schultern und schienen roher und animalischer zu sein, als er sie jemals gesehen hatte. Er ging. Wieder in der Halle, stand der Schuppenboß immer noch geduldig da. Holt folgte ihm wieder. Es gab jetzt auch andere im Gebäude. Holt sah sie verschwommen, wie sie in dem roten Nebel hin und her eilten. Wesen wie der Schuppenboß schienen zu überwiegen, aber sie waren nicht allein. Holt sah einen einzelnen Dan’la verloren und angstvoll. Der Fuchsmensch lief immer wieder gegen die Mauern. Und da gab es Wesen, die waren teilweise Engel, teilweise Drachenvögel, die still über seinem Kopf dahinglitten, und da gab es etwas Langes und Dünnes, das von flackernden Lichtschleiern umgeben war, und anderes war gegenwärtig, was er mehr fühlte als sah. Häufig sah er die hellhäutigen Schreiter mit ihren wunderbaren Farben und ihren hohen Kragen aus Knochen und Fleisch, und stets sprangen schlanke, sinnliche Tiere um ihre Füße, die sich mit fließender Grazie auf vier Beinen bewegten. Diese Tiere hatten eine weiche, graue Haut, glänzende Augen und seltsam nachdenkliche Gesichter. Dann dachte er, er hätte einen Menschen erblickt, dunkel und sehr würdig, mit Schiffsuniform und Mütze. 149
Holt versuchte die Vision zu fixieren und rannte auf sie zu, aber die Nebel verwirrten ihn mit ihrer Helligkeit und dem Glühen, und er verlor die Sicht. Als er sich wieder umsah, war auch der Schuppenboß verschwunden. Er probierte den nächsten Tunnel aus. Es war ein Eingang wie der erste. Jenseits davon lag ein Felsvorsprung, von dem aus man über ein hartes, ausgetrocknetes Land blickte, eine Ebene aus gebranntem Backstein, die von einer großen Spalte durchbrochen wurde. Inmitten dieser Trostlosigkeit stand eine Stadt, ihre Mauern kalkweiß, die Gebäude alle im rechten Winkel zueinander. Sie war völlig tot, doch Holt kannte sie irgendwie. Cain narKarmian hatte ihm oft erzählt, wie die Hranganer in den vom Krieg verwüsteten Gebieten zwischen Alt-Erde und dem Rand ihre Städte bauten. Zögernd streckte Holt eine Hand über den Türrahmen hinaus und zog sie schnell wieder zurück. Jenseits des Torbogens war ein Ofen. Es handelte sich nicht um einen Sichtschirm, genausowenig wie die Aussicht auf Ymir einer gewesen war. Zurück in der Galerie blieb er stehen und versuchte zu verstehen. Das Gebäude ging in beide Richtungen weiter und weiter, und Wesen, die in nichts denen ähnelten, die er kannte, trieben in den Nebeln an ihm vorbei, totenstill, einander kaum bemerkend. Der Kapitän war dort unten, er wußte es, und Villareal und Susie Benet und vielleicht die anderen – oder – oder vielleicht waren sie dort unten gewesen, und jetzt waren sie woanders. Vielleicht hatten sie auch ihre Heimatwelten gesehen, wie sie durch einen der steinernen Eingänge nach ihnen riefen, und vielleicht 150
waren sie dem Ruf gefolgt und nicht zurückgekehrt. Wenn man einmal jenseits des Torbogens war, fragte sich Holt, wie konnte man dann zurückkommen? Der Dan’la kam ihm wieder zu Gesicht, er kroch jetzt, und Holt sah, daß er sehr alt war. Die Art, wie er tastete, machte deutlich, daß er völlig blind war, und doch, seine Augen sahen gesund aus. Dann begann Holt die anderen zu beobachten und schließlich ihnen zu folgen. Viele gingen durch die Durchgänge hinaus, und sie gingen wirklich durch die Landschaft jenseits davon. Und die Landschaften … er betrachtete die Ullish-Welten in all ihrem müden Glanz, wie die Ul-mennaleith zu ihren Andachten glitten … er sah die sternenlose Nacht auf Dunkeldämmerung, hoch über dem Rand, und die Dunklen Träumer darunter einherwandern … und Huul die Goldene (schließlich doch wirklich, wenn auch weniger als erwartet) … und die Geisterschiffe, die aus dem galaktischen Zentrum heraushuschten und die Kreischer der Schwarzen Welten im Fernen Arm der galaktischen Spirale und die uralten Rassen, die sich auf ihren Sternen in Kuppeln eingeschlossen hatten, und tausend ungeahnte Welten. Bald hörte er auf, den stillen Reisenden zu folgen, und begann selbständig zu wandern, und dann fand er heraus, daß die Aussichten jenseits der Türen sich verändern konnten. Als er vor einem quadratischen Tor stand, das sich auf die Ebenen von Ai-emerel öffnete, dachte er für einen Moment an den alten Cain, der wirklich lange Fahrten gemacht hatte, aber nicht ganz weit genug. Die Emerelitürme lagen vor ihm, und Holt wünschte, sie aus 151
der Nähe zu sehen, und plötzlich öffnete sich das Tor zu einem von ihnen hin. Dann war da der Schuppenboß an seiner Seite, er hatte sich ebenso jäh materialisiert wie sonst im Schuppen, und Holt blickte in sein gesichtsloses Gesicht. Dann legte er den Laser zur Seite und setzte den Helm ab (er hatte aufgehört zu glühen, seltsam – warum hatte er das nicht bemerkt?) und machte einen Schritt nach vorn. Er befand sich auf einem Balkon, kalter Wind strich über sein Gesicht, hinter sich hatte er schwarzes Emerelimetall und vor sich einen orangefarbenen Sonnenuntergang. Am Horizont standen die anderen Türme, und Holt wußte, daß jeder von ihnen eine Stadt mit einer Million Einwohnern war, doch von hier aus waren sie nur große dunkle Nadeln. Eine Welt. Cains Welt. Doch hatte sie sich wohl sehr verändert, seit Cain sie das letzte Mal gesehen hatte, vor ungefähr zweihundert Jahren. Er fragte sich, aufweiche Weise. Wie auch immer, er würde es bald herausfinden. Als er sich umdrehte, um hineinzugehen, nahm er sich vor, daß er bald zurückgehen würde, um Sunderland und Alaina und Takker-Rey zu suchen. Für sie würde das hier unten vielleicht alles nur Dunkelheit und Angst bedeuten, doch Holt würde sie heimführen. Ja, das würde er tun. Aber nicht gleich jetzt. Er wollte zuerst Ai-Emerel sehen, Alt-Erde und die Veränderten Menschen auf Prometheus. Ja. Aber später würde er dann zurückgehen. Später. Schon bald.
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Die Zeit bewegt sich langsam in der Steinstadt, noch langsamer bewegt sie sich tief unten, wo die Erbauer das Gewebe der Raumzeit ineinandergeschlungen haben. Doch sie bewegt sich, unmerklich. Die großen grauen Gebäude sind jetzt alle zusammengefallen, die Pilztürme sind zusammengebrochen, die Pyramiden zu Staub geworden. Von den Windmauern der Ullish ist keine Spur mehr übrig, und seit Jahrtausenden ist kein Schiff mehr gelandet. Die Ul-mennaleith werden immer weniger und sind seltsam verändert und gehen mit gepanzerten Heuschrecken an ihren Füßen, die Dan’lai sind nach tausend Jahren mit den Sprungkanonen in eine gewalttätige Anarchie verfallen, die Kresh sind verschwunden, die Linkellar sind versklavt, und die Geisterschiffe sind immer noch still. Weiter draußen sind die Damoosh eine sterbende Rasse, obgleich die Weisheitsseen weiterleben und denken, auf Fragen warten, die nicht mehr gestellt werden. Die Alten wachsen und verändern sich. Kein Mensch hat das galaktische Zentrum erreicht. Die Sonne von Kreuzwelt wird schwächer. In leeren Tunneln unter den Ruinen wandert Holt von Stern zu Stern.
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Ruth Berman ist eine kleine, stille junge Frau mit erlesenem Geschmack. Als eines von sechs Kindern kam sie bereits früh mit dem Genre in Berührung, als ältere Geschwister ihr aus Alice im Wunderland und den Oz-Büchern vorlasen. Heute kann sie sich einer der umfangreichsten OzSammlungen in ganz Minnesota rühmen. Davon abgesehen, daß sie eine höchst vielversprechende Science Fiction- und Fantasy-Autorin ist, schreibt sie auch Gedichte, die in Saturday Review, Toronto Life, Texas Quarterly und einer Reihe anderer kleiner Magazine erscheinen. Auch ihre literarischen Arbeiten kommen weit herum. Selbstverständlich veröffentlichte sie in allen üblichen SF-Märkten, aber auch in Publikationen wie Jewish Frontiers und Cats Magazine, Magazinen also, von denen „eingestandene“ SF-Autoren noch nie etwas gehört haben. Als wäre das alles noch nicht genug, war Berman auch lange Zeit in der frenetischen Welt des Science Fiction-Fandoms aktiv. Eine Hugo-Nominierung als beste Fan-Schriftstellerin sollte man bei der Aufzählung ihrer früheren Leistungen nicht unerwähnt lassen. Ruth lebt in Minneapolis, und in früheren Jahren war sie Lehrerin, Sekretärin, Herausgeberin und eine Vielzahl von anderen Dingen. Derzeit ist sie Studentin der Anglistik und arbeitet an ihrer Dissertation. Zu der folgenden Geschichte schreibt sie: „Was mich in J. M. Barries Peter Pan immer fasziniert hat, ist die Tatsache, daß Wendy von Peter träumte und Geschichten über ihn erzählte, noch bevor sie einander 154
begegneten. Wie war ihr zumute, als sich ihre Phantasiegebilde in plötzlich greifbare – und gefährliche – Realität verwandelten? Barrie selbst gibt darüber keine direkte Auskunft. Das Problem wird noch fesselnder, wenn der Held der Fantasy-Welt ein Ebenbild des Autors ist. Die Welt Ceremark basiert auf einer Welt namens Coventry (ungewöhnlicherweise nach Heinleins ‚Coventry‘ benannt), die von einer Gruppe Science Fiction-Fans aus der Gegend von Los Angeles erdacht und von ihren Alter ego bevölkert worden ist. Da ich nicht in der Gegend wohne, konnte ich nicht direkt miterleben, wie die Beziehungen zwischen Helden und Autoren einander beeinflußten (ein Streit zwischen zwei Helden könnte Widerspiegelung oder Auslöser eines Streits zwischen den Autoren sein). Dennoch packte mich die Situation so sehr, daß ich eine Version von „Nach Ceremark“ schrieb, wobei ich auf Charaktere und Schöpfer von Coventry zurückgriff wenngleich ich durch die Tatsache etwas behindert wurde, daß ich kein uneingeschränktes Wissen über die zugehörigen Realitätsebenen hatte. In dieser Version löste ich das Problem, indem ich Welt und Schöpfer gleichermaßen neu erschuf… das heißt, es ist zutreffend zu sagen, daß ich Ceremark erschaffen habe. Philip und Jim Hatchman sehen es bestimmt nicht gerne, wenn sich jemand ihre Welt unter den Nagel reißt, fürchte ich, aber da sie nicht in dieser Realitätsebene sind, können sie mich nicht aufhalten … oder doch?“ Ich vermute, das wollten sie gar nicht. G. R. R. M. 155
Ruth Berman
Nach Ceremark TO CEREMARK Das Herbstturnier des Miniver Cheevy Clubs der Uni verlief gut. Es wurde früh im September abgehalten, bevor die Universität ihren Lehrbetrieb aufnahm, und daher konnte man die gesamte Promenade und die Hälfte des Kellergeschosses des Studentenheims für die Party danach benutzen. Das Wetter spielte mit, wenngleich es am Nachmittag ein wenig verhangen war. Die verschiedenen Studenten der Geschichte, die Klassizisten, Scholaren der alten und mittleren englischen Literatur, Schauspielschüler und Exzentriker, die nur des „Spaßes“ wegen kamen, den es ihnen bereitete, sich in dicke Kleidung zu hüllen und mit Holzschwertern aufeinander einzuschlagen, kamen nacheinander im Schwertkampf an die Reihe. Die Fotografen des Daily machten malerische Bilder in greller Beleuchtung, und die für Minnesota typischen Spätsommergewitter hielten sich bis nach der Dämmerung zurück. Sie hatten den letzten der zerbrechlichen Pavillons abgebaut und zum Gebäude des Heims geschafft, als der erste Blitz den westlichen Himmel zerriß. Drinnen mußten sie ihre Kostüme neu richten, die draußen im Freien schon angefangen hatten, völlig normal auszusehen. Im Innern, zwischen Beton und langen Reihen künstlicher Neonbeleuchtung, mit grünen Wänden und Sandwich-, Süßigkeiten- und Milchgetränkemaschinen als Hintergrund, wurden das seltsame Aussehen 156
der Kostüme und die Attraktivität der sorgfältiger hergestellten sofort offensichtlich. Corey und Marv Atwood, die beschlossen hatten, die Zeile „Er träumte von Thebes“ zu illustrieren, zeigten sich morbiderweise als entzündete Semele (ein ätherisches Arrangement roter und orangefarbener Gazeschleier über einem weißen Kleid) und als blinder Ödipus. Die Brüder Hatchman waren selbstverständlich als Helden der Geschichten gekommen, die sie für das Clubmagazin schrieben, Hatch als Herzog Philtron und Jim als Veris von Lujan. Sie hatten die Gestalten nach ihrem eigenen Aussehen entworfen, und das wirkte wirklich authentisch: Jim, mit länglichem Gesicht und Körper, in Veris’ schwarzem Mantel und goldfarbenem Kilt, und Hatch im weißen Trauergewand von Ceremark und kurzgeschnittenem Bart. Kaum hatte die Party begonnen, drängte Marv die Brüder in eine Ecke, wo sie einen Bericht über den Stand des derzeitigen Abenteuers geben mußten. „Wir haben den Handlungsrahmen noch nicht völlig abgesteckt“, sagte Hatch. „Ich glaube nicht, daß wir den Termin halten können“, fügte Jim hinzu. „Verräter.“ Marv zuckte resigniert die Achseln. „Das Problem ist, ich kann mir nicht vorstellen, wie der Herzog ohne die Hilfe des verstorbenen Veris seine Ländereien zurückbekommen kann. Oder wollt ihr einen Reichenbach durchziehen und ihn wieder zum Leben erwekken?“ „Nun … eigentlich“, sagte Hatch, „dachte Jim, wir 157
sollten es dabei belassen, aber ich sagte ihm, das wäre den Personen gegenüber nicht fair.“ „Ich glaube, wir sollten etwas ganz anderes schreiben“, sagte Jim. „Klar“, sagte Hatch. „Werden wir auch, Junge. Später.“ „Derweil“, sagte Marv, „stehen wir unter Druck. Ist Veris am Leben?“ Hatch wollte gerade zugeben, daß sie es so weit noch nicht ausgearbeitet hatten, aber Jim richtete sich zu voller Größe auf und überragte Marv mit einem durchdringenden, geheimnisvollen Blick. „Okay, okay!“ sagte Marv mit einem Kichern, das sein Make-up springen ließ. „Bäh“, sagte er und berührte zögernd sein Gesicht. „Ich wasche diese Schmiere lieber ab.“ „Das wird aber eine Enttäuschung für die Lokalreporter sein“, sagte Hatch, „wenn sie dich noch nicht im Kasten haben.“ „Klar doch, als wir draußen im Freien waren. Sind ihnen nicht schon dort die Filme ausgegangen?“ „Nee“, sagte Hatch und deutete mit dem Finger. Marv drehte sich unwillkürlich um und sah direkt in das grelle Aufleuchten eines Blitzlichts. „He, wollt ihr Jungs mich blenden?“ sagte er. Er machte sich auf zur Herrentoilette und erwartete, daß sein Sehvermögen sich dabei wieder herstellen würde. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, daß das Licht tatsächlich ausgegangen war. Er hörte jemanden rufen, es würde nur einen Augenblick dauern, die Sicherungen auszuwechseln. „Scheint ja ein ganz ordentlicher Sturm zu sein“, sagte 158
Marv in die Richtung, in der er die Hatchmans vermutete. „Laßt mich wissen, wenn ich euch heimfahren soll.“ Die Wände des Zimmers, wo die Brüder standen, leuchteten sanft, aber das Licht schien trübe, verglichen mit dem Blitz. Zuerst sahen sie gar nichts. Langsam sahen sie den großen grauen Kessel in der Mitte des Fußbodens. Er gab ein grünes Licht ab, welches das Gesicht eines Kindes erhellte, das kaum über den Rand sehen konnte. Das Gesicht betrachtete sie mit einem glücklichen Lächeln, das immer breiter wurde und sich allmählich in ein ersticktes Kichern verwandelte. „Was, zum Teufel, soll das?“ fragte eine argwöhnische Stimme. Ein magerer junger Mann sah zur Zimmertür herein. „O Gott“, fuhr er fort und trat rasch an die Seite des Mädchens. Er beugte sich über den Kessel, und das grüne Leuchten wurde türkis, als es die Seide seines Gewands erhellte. „O Gott“, wiederholte er. Er ging zu einem niederen Diwan in der Ecke, auf den er sich niedersinken ließ, dann streckte er die Beine von sich, überkreuzte die Arme und sog die Wangen ein. Das erstickte Kichern war einem Schluckauf gewichen. „O exzellenteste aller Schülerinnen“, sagte er voll Kummer, „warum tust du mir das an?“ „Ich habe es richtig gemacht, oder nicht … Onkel … Bvalir?“ fragte sie, vom Schluckauf unterbrochen. „Du hast es richtig gemacht.“ Er lächelte zögernd. „Du erinnerst mich daran, wie ich früher war.“ Sie lächelte. „Ich fand die Be… rechnungen in deinem Buch.“ 159
Bvalir hob die Arme und ließ den Kopf auf die Hände sinken. So saß er eine ganze Weile und schüttelte sich vor Lachen. Das Mädchen ging um Jim und Hatch herum und betrachtete sie voller Stolz. „Aufhören!“ sagte Jim und packte sie, als sie den Strom zum zweitenmal einschalten wollte. Er setzte sie so weit entfernt, wie es seine Reichweite zuließ, ab und stapfte dann hinüber, um sich an den Mann zu wenden. „Was soll das?“ Das Mädchen sah in Jims Gesicht, als wäre es entzückt, etwas so Großes erreicht zu haben, dann tänzelte sie einen Schritt beiseite, um den anderen anzusehen und auf seine Reaktion zu warten. Hatch sagte nichts, sondern betrachtete das seltsame Kind, den Mann und das Zimmer ringsum durchdringend. Bvalir hielt den Atem an und unterdrückte sein Lachen. „Einen Augenblick“, sagte er zu Jim, dann wandte er sich an das Mädchen. Er hielt ihr eine Hand hin. „Gib her.“ Sie ging zum Kessel zurück und hob ein in blaues Leder gebundenes Buch auf, das daneben lag. Sie brachte ihm den Wälzer und legte ihn auf seine Hand. Er überflog die erste Seite. „Oh, ja. Diesen Zyklus. Und wieviel hast du gelesen?“ „Bis Seite 136. War interessant.“ „Zweifellos.“ „Ja, wie damals, als du und Vater …“ „Still, Kleines. Geh zu deinem Vater und sag ihm, daß du in Ungnade gefallen bist. Und sag ihm warum. Aber 160
ich glaube“, fügte er hinzu, „um seines Seelenfriedens willen solltest du sagen, du hättest nur bis Seite 40 gelesen … oder so. Ich habe das Programm für dies alles nicht allein erstellt!“ „Ja, Sir.“ Sie wartete und betrachtete ihren Fund. „Hinaus, Kind.“ Sie winkte ihnen zu und verschwand durch die Tür. „Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Bvalir. „Ich hoffe, Sie werden den Mißbrauch magischer Kräfte entschuldigen.“ „Magische Kräfte: So etwas gibt es nicht!“ bellte Jim. Bvalir, der einen erstaunten Eindruck machte, sah sie eingehender an. „Ich könnte Ihnen eine Lektion über die Physik psionischer Manipulation der Kontinua erteilen, wenn Ihnen das etwas sagen würde und Sie die mathematischen Grundlagen hätten, aber das würde seine Zeit dauern. Ich glaube, es wäre besser, wenn ich Sie einfach nach Hause bringen würde. Woher kommen Sie?“ „Valleyride in Ceremark“, sagte Hatch leise. Jims Kopf schnellte in die Höhe und wurde noch länger als normal, aber er sagte nichts. „Oh? Aber in diesem Kontinuum existiert doch – sozusagen – Magie.“ Plötzlich grinste er. „Aber natürlich gibt es in jedem Kontinuum gesunde Skepsis.“ Er stand auf und ging zum Kessel. „Helfen Sie mir hierbei.“ „Wobei?“ fragte Jim. „Hierbei“, sagte er und bemühte sich, den Kessel umzustürzen. „Oh, okay“, sagte Jim und sah zu seinem Bruder. Hatch nickte, dann nahmen die drei den Kessel und kipp161
ten ihn um. Eine leuchtende, viskose Flüssigkeit ergoß sich daraus und floß in einen Abfluß im Boden. Der Ausguß füllte sich, lief fast über, gab dann aber ein obszönes Gurgeln von sich, und die viskose Flüssigkeit floß ab. Sie stellten den Kessel ab, worauf Bvalir mit der Hand zur Decke deutete und zweimal mit den Fingern schnippte. Ein Wasserstrahl ergoß sich in den Kessel. Sie schütteten auch das aus, bis das Metall des Kessels wieder sauber war. Bvalir bedeutete ihnen, auf dem Diwan Platz zu nehmen und zu warten. Dann ging er zur Wand und strich von Augenhöhe bis zum Fußboden mit dem Finger daran herab. In der glatten, leuchtenden Substanz wurde ein Riß sichtbar, der immer breiter wurde und den Blick auf ein Regal freigab, auf dem Karaffen, Kristallgläser und Kanister standen, dazu Papiere, Dokumente und Holzstäbe, die sich als Bleistifte entpuppten. Bvalir nahm einen, dazu ein Blatt Papier, und lehnte sich einige Minuten lang an die Wand, wo er rasche Berechnungen durchführte und eine Zeichnung hinkritzelte. Schließlich hielt er inne und strich mit dem ganzen Bleistift über die Breite des Papiers. Die Schrift verschwand, er legte beides in das Regal zurück, dann nahm er einen Armvoll der verschiedensten Substanzen, brachte sie zum Kessel, goß oder tröpfelte sie hinein und befahl einen weiteren Wasserstrahl herab, um sie zu mischen. Als die Pulver und Kristallpuder sich auflösten, bildeten sie bunte Schlieren im Wasser, aber das Endergebnis war eine klare, farblose Flüssigkeit, wie Wasser, nur gab sie einen schweren, einschläfernden Geruch ab. Jim und 162
Hatch mußten sich aufrecht hinsetzen und die Augen weit aufreißen, um wach zu bleiben, aber Bvalir schien unberührt. Schließlich wandte er sich ihnen zu, legte eine Hand auf den Kesselrand, um sich abzustützen, und sagte: „Gut jetzt. Springt hinein.“ „Einen Augenblick, bitte“, sagte Jim. „Dies ist nicht leicht zu bewahren. Beeilt euch.“ Jim zögerte, aber Hatch strich mit der Hand durch die kurzen Haare seines Barts, sprang auf die Beine und begann, den Diwan zum Kessel zu schieben. Der solchermaßen überfahrene Jim half schließlich mit, das Sofa in eine Position zu bringen, wo es als Sprungbrett dienen konnte. Hatch stieg hinauf, warf seinem Bruder einen letzten panischen Blick zu und sprang über den Rand. Er versank ohne Aufspritzen. „Ich kann den Zustand nicht länger halten“, sagte Bvalir zu Jim. Sein Gesicht wurde bleich, selbst im Dämmerlicht konnte man deutlich die Adern anschwellen sehen. Jim atmete tief ein, dann trat er an den Rand, schloß die Augen und sprang. Hatch stand auf festem Boden und spürte Sonnenlicht auf dem Rücken. Als sich seine Augen eingewöhnt hatten, stellte er fest, daß er vor einer Wand stand, und zwischen der Wand und ihm selbst standen die Stiefel seines Bruders. Noch während er zusah, wurden seine langen Beine sichtbar, dann Hände und Torso und Arme und schließlich der Kopf. Er war seltsam verlegen, als wäre es ir163
gendwie unziemlich, seinen Bruder halb körperlos zu sehen. Er sah weg, da er nicht einmal der Wirklichkeit von Jims ausgewachsener Gestalt traute. Als er ihre Umgebung sah, sank sein Kiefer herab. Sie standen vor einer Mauer, von der der Boden zu einem Fluß hin abfiel. Der gesamte Hang, bis zu der Stelle, wo sie standen, war von einer Menschenmenge übersät; alle trugen Variationen von Wams und Hosen oder Kilts. Einige brüllten und johlten (hauptsächlich die am Flußufer), die meisten lehnten sich auf Stäbe oder saßen am Boden, wo sie redeten oder aßen. Hatch sah ein paar Taschendiebe, einen kleinen Jungen mit rotem Haar, der entschlossen umherstapfte, als würde er den Oberspion spielen, eine Gruppe von Händlern, die versuchten, der Menge ihre Waren anzudrehen, und ein paar Hirten, die sich bemühten, den Händlern ihre Tiere zu verscherbeln. Jenseits des Flusses erstreckte sich eine Wiese mit unglaublich grünem Gras, die sich über flache Hügel erstreckte. Ein großes blaues Schiff mit gerefften Segeln wurde von einer Doppelreihe Ruderer den Fluß hinauf gerudert. Ein grauhaariger Mann, fast ebenso klein wie Hatch, stand am Dock. Er war in zeremonielles Silber gekleidet und eindeutig der Kopf eines offiziellen Empfangskomitees. An seiner Seite stand ein hochgewachsener junger Mann, der seine Hand festhielt. Eine Gruppe soldatenähnlicher Männer in Rot und Schwarz standen an der anderen Seite des Docks, ihm gegenüber, und ein paar Männer in Grau standen an verschiedenen Stellen zwischen Dock und Mauer, um den Weg zum Stadttor freizuhalten. 164
„Großer Gott!“ sagte Hatch, der den grauhaarigen Mann ansah. „Es ist der König!“ „Muß eine bedeutende Sache sein“, meinte Jim murmelnd. „Er hat den Prinzen dabei.“ Hatch nickte und betrachtete den jungen Mann mit dem leeren Gesicht, der seinen Vater nie losließ, es sei denn, um sich von einem Soldaten Süßigkeiten zu erbetteln. „Und … das ist der Rauchwasser?“ fragte Jim. Er betrachtete das ruhige, dunkle Wasser, als hätte er noch niemals einen Fluß gesehen. „Ich denke, das muß er sein“, sagte Hatch. Jim legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter. „Philip Hatchman“, sagte er und verwendete absichtlich den vollen Namen, was ihn zusammenzucken ließ. „Ich bin nicht sicher, ob mir deine Art von Humor gefällt.“ Hatch schüttelte die Hand ab. „Sorry.“ Er begann zu lächeln. „Wir wissen, weshalb wir hier sind, nicht?“ „Ich denke schon.“ Hatch tippte dem erstbesten Mann der Menge auf die Schulter. „Entschuldigen Sie, ist das nicht …“ „Ihr Götter, Tarn, sieh doch!“ Der Mann verpaßte Hatch einen Schlag direkt unters Kinn. „He!“ rief Jim, als Hatch gegen ihn fiel. Er schlug über Hatch hinweg nach ihrem Angreifer. Sein Schlag saß, und der Mann fiel gegen seinen Begleiter, denjenigen, den er Tarn genannt hatte. Beide trugen puppenhafte Kombinationen aus Rosa und Silber. „Soldaten“, dachte Jim und wußte, er hätte die Uniformen erkannt, wenn er nur Zeit zum Nachdenken gehabt hätte. Hatte er aber nicht. 165
Tarn versuchte, ihn zu schlagen, aber er verfehlte Jim, und sein Hieb prallte am Rücken seines Begleiters ab. „Idiot!“ sagte Tarn. „Wenn du ihm nicht aus dem Weg gehen kannst, dann bleib wenigstens mir vom Leibe. Und schlag zu!“ Er schob Hatch den ersten Soldaten entgegen. „Aber …“, begann Hatch, überlegte es sich dann aber anders und versuchte, in die Menge zu flüchten. Es erwies sich fast als unmöglich, aber drängend und rücksichtslos drückend kamen sie voran. Plötzlich stolperten sie ins Freie. Sie hatten den Gang zwischen Dock und Stadttor erreicht. Sie zogen am Tor und fanden es verschlossen, während die beiden Soldaten ebenfalls in den Gang drängten. Die Brüder stießen sie um und flüchteten den Gang hinab, doch ihre Verfolger rappelten sich auf und folgten ihnen. Sie hatten den Fuß des Hügels fast erreicht, ehe die Menschen entlang der Schneise begriffen hatten, was vor sich ging, abgesehen von dem rothaarigen Jungen, den Hatch zuvor gesehen hatte. Der Junge stand in dem Gang, und einen Augenblick glaubte Hatch, er würde ihn überrennen. Aber das Kind wich zur Seite aus, als er vorbeilief. Ein Aufprall, ein Poltern und ein Fluch folgten, und ihm wurde klar, daß einer der Soldaten über das Kind gestürzt sein mußte. Während sie über das Dock hasteten, erhaschte Hatch einen Blick auf den König, der mit grauem Haar und Bart, silbernem Gewand und bleichem Gesicht seltsam farblos wirkte. Er schien mit ihnen sprechen zu wollen, 166
aber dazu blieb keine Zeit. Am Ende des Docks kamen sie schlitternd zum Stillstand, aber ein Soldat war immer noch dicht hinter ihnen, und vor ihnen wurde die Schiffsplanke herabgelassen. Sie sprangen in verschiedene Richtungen vom Dock herab. „Haltet sie!“ brüllte Tarn. „Zu spät“, sagte der König. Tarn wurde mit Ellbogen vom Dock geschubst, als eine Parade von Männern mit schwarzen Mänteln, roten Wämsern und ebensolchen Kilts die Planke herabmarschierten, während die Rot-Schwarzen am Dock die Schwerter zückten und sie über die Köpfe der Neuankömmlinge hielten. Irgendwo hinter der Menge begannen zwei Kapellen zu spielen, deren Klänge irgendwie nicht ganz zusammenpassen wollten. Der König der Lujanier, der in leuchtendes Rot und Gold gekleidet war, folgte seiner Leibwache vom Schiff herunter und umarmte König Tolemos von Ceremark. Gemeinsam marschierten die blasse und die farbenfrohe Gestalt den Hügel hinauf. Die beiden Kapellen einigten sich schließlich und spielten einen eindrucksvollen Fanfarenstoß. Das Tor der Hohen Stadt wurde aufgestoßen, und die beiden Könige traten ein, gefolgt von der Wache von Lujan, der wiederum die Stadtbewohner folgten. Im Drängen der Menge war es schwer, etwas anderes zu tun, als dem allgemeinen Strom zu folgen, und die Wiese war innerhalb weniger Minuten verlassen. Fast verlassen. Der Rot-Schwarze, der die Gruppe am 167
Dock befehligt hatte, war immer noch da und half der Schiffsbesatzung, die Planke zu heben. Als sie bereits wieder zum Schiff emporgezogen wurde, kniete er sich am Rand des Docks nieder und streckte die Hand aus. „Hier, Sir, darf ich Ihnen helfen?“ Jim war von der Strömung des Flusses gegen die Pfähle geworfen worden. Verblüfft akzeptierte er die Hilfe ohne Gegenfragen und ließ sich emporziehen, wo er sich kalt und tropfend niederkauerte. „Hier entlang, Sir“, sagte der Rot-Schwarze und zog ihn auf die Beine. „Schön, Sie zu sehen. Warum waren Sie so lange fort? Wir hielten Sie bereits für tot.“ Das Stadttor stand noch offen, und sie gingen den Weg empor und in die Stadt hinein. „Ich tot?“ sagte Jim. „Nicht, daß ich wü…“ Er blieb mit dem Fuß an einem Stein hängen und strauchelte. „Oh, mein Kopf!“ „Ich weiß, was Sie brauchen, Sir. Ein heißes Getränk!“ „Einen Trunk im Gateway!“ sagte Jim fassungslos. „Das ist einfach unmöglich.“ „Es ist direkt vor uns“, sagte der Rot-Schwarze ermutigend. Gegenüber der ersten Straße innerhalb der Stadtmauer war das Gateway Inn, dessen Emblem ein Portal und Trauben an einem Rebstock zeigte. Der Rot-Schwarze zog Jim ins Wirtshaus. „Zwei heiße Apfelwein!“ rief er. „Kommen, Sir“, sagte der Schankwirt lächelnd. „Was … wer …“, sagte Jim. „Warten Sie, bis Sie Marek sehen!“ sagte der RotSchwarze und ließ sich in einen Sessel an einem Tisch 168
fallen. Dann wurde sein Gesicht ernst, und er fuhr fort: „Nehmen Sie es mir bitte nicht krumm, wenn ich das sage, aber … er kann die Gruppe nicht zusammenhalten. Die Kalthölle weiß, er ist ein guter Soldat, aber wenn es darauf ankommt …“ „Danke, Soldat, das genügt“, sagte eine neue Stimme. „Marek!“ Der Soldat stieß den Sessel weg vom Tisch und sprang auf. Er verbeugte sich und sagte, um der erwarteten Strafpredigt zuvorzukommen, rasch: „Sehen Sie, Sir! Der Kapitän ist wieder da!“ Mareks Gesicht erhellte sich, und er verbeugte sich unwillkürlich in Jims Richtung. Dann aber richtete er sich ruckartig wieder auf und hielt das Gesicht störrisch abgewendet. „Sie sind betrunken, Soldat. Können Sie einen Betrüger nicht erkennen?“ „Aber …“ „Machen Sie, daß Sie hinauskommen.“ „Aber wir hatten nicht einmal einen …“ Der Soldat sah auf und beugte den Nacken, um Marek anzusehen, dann gab er sofort auf. Er zuckte zurück, warf eine Börse auf den Tisch neben Jim und Marek und marschierte wie zu Trommelschlägen aus der Taverne. Marek sah ihm nach und ließ den Blick auf der Tür ruhen, während er sagte: „Würden Sie mir bitte verraten, was Sie vorhaben?“ Jim betrachtete den großen, schlanken Mann, dessen Gesicht sein eigenes widerspiegelte, abgesehen vom helleren Braun des Haares und dem fehlenden Bart. „Marek“, sagte er und genoß den Klang des ausgesprochenen Namens. „Und Sie sehen tatsächlich wie er aus.“ 169
„Versuchen Sie nicht, komisch zu sein“, sagte Marek und starrte ihn finster an. Beim direkten Hinsehen wich die finstere Miene. Er betrachtete Jim völlig verblüfft. „Ver! Ich dachte …“ Er verstummte und bemühte sich, den finsteren Gesichtsausdruck wieder herbeizuzaubern. Es gelang ihm nicht, aber er sagte leise: „Hören Sie, mein Freund. Glauben Sie nicht, Sie könnten an mir vorbeikommen. Sie selbst würden es gegen mich verwenden, wenn es Ihnen gelänge.“ Eine Seite seines Mundes zuckte aufwärts. „Und ich habe auch ohne das schon Probleme genug.“ Er atmete tief durch, ließ den Atem entweichen und verließ ohne weiteres Wort das Wirtshaus. Die Getränke kamen. „Wohin ist Ihr Freund verschwunden?“ fragte der Schankwirt argwöhnisch. „Wurde ins Quartier zurückbeordert“, sagte Jim. „Keine Bange, er hat mir Geld dagelassen, damit ich die Getränke bezahlen kann.“ „Wirklich? Wenn ich dann bitten dürfte, Meister …“ Jim reichte ihm die Börse. Der Schankwirt nahm zwei Münzen heraus. Eine warf er auf den Tisch, in die andere biß er hinein. Er steckte beide in die Tasche und gab Jim die Börse zurück. „Bitte um Vergebung, Meister“, sagte er. „Schon recht“, sagte Jim. Er fragte sich, was hier vor sich ging. Und wohin Hatch verschwunden war. Und was er deswegen unternehmen wollte. Nach einem Augenblick des Nachdenkens kam er zu der Überzeugung, daß er, wenn er davon ausging, daß die Landschaft Cere170
marks ringsum keine Halluzination war, sondern Wirklichkeit, als erstes versuchen mußte, Hatch zu finden. Er stand auf, und sein Kopf begann zu pochen, wo er ihn am Dock angeschlagen hatte. Sein Blick verschwamm, und er klammerte sich an der Tischplatte fest, um nicht zu stürzen. Er setzte sich wieder, und sein Blick klärte sich, aber dennoch fühlte er sich wie jemand, der eine Halluzination hat, und nicht wie jemand, der die Wirklichkeit erlebt. Er dachte daran, Veris’ Freund aufzusuchen, den Tabakhändler, aber dann erinnerte er sich, daß die einzige Beschreibung der Lage seines Geschäfts, die er und Hatch gegeben hatten, in dem lakonischen Satz bestand: „Auf halber Höhe des Hügels, im Zentrum eines Labyrinths alter Seitengäßchen, die im Lauf der Jahre immer und immer wieder umgebaut und erneuert worden waren, bis keine gerade Strecke mehr existierte, die länger als fünf Schritte war.“ Er nahm die Entscheidung zurück. Als erstes mußte er den heißen Apfelwein trinken. Hatch hustete und spuckte und ruderte in einer Weise mit den Armen, die keineswegs darauf hindeutete, daß er sein Leben lang in einer Stadt der Seen gewohnt hatte, doch schließlich fand er zu einem gleichmäßigen Kraulstil, der ihn aus der raschen Strömung in der Mitte des Stroms heraus und zu den seichten Uferregionen brachte. Von dort konnte er ans Ufer kriechen, und dann schleppte er sich über den Strand zu einer staubigen Straße, wo er in der leichten Brise zitternd stehenblieb. Er sah eine vertraute Gestalt in Schwarz und Gold die Straße entlang171
schreiten. „He, warte!“ rief er. Veris von Lujan wirbelte herum und entspannte sich, als er Hatchs Gesicht sah. „Phil! Schön, dich zu sehen. Was war denn los?“ „Ich bin tropfnaß.“ „Das sehe ich selbst“, sagte Veris. „Keine Bange, das trocknet von selbst wieder. Wo sind wir, in der Nähe der Hohen Stadt?“ „Nun, ja. Ich wüßte nicht, wo wir sonst sein sollten. Ein Stück flußaufwärts.“ „Gut.“ Er lächelte Hatch zu. „Gehst du in meine Richtung?“ „Einverstanden.“ Hatch kam zu ihm und fühlte sich erleichtert, daß Jim offensichtlich nicht böse war, dermaßen in die Patsche gebracht worden zu sein. Daher war es wohl auch nur Neckerei, daß er Hatch beim Vornamen nannte, dachte dieser. Sie gingen schweigend nebeneinanderher und erreichten nach kurzer Zeit die Stadtmauer. Hatch sah sich nervös um, aber es waren keine Soldaten zu sehen, und außerhalb der Stadtmauer waren nur wenige Menschen zu sehen, abgesehen von Matrosen, die einen Frachtkahn entluden. Dann zupfte etwas an seinem Ärmel. Er sprang zur Seite, dann lachte er nervös über sich selbst und sah in kühle graue Augen unter einem vertrauten Rotschopf. „Wer ist das?“ fragte Veris. „Hi“, sagte der Junge. „Ich habe Äpfel. Will jemand?“ „Ja, danke“, sagte Hatch, dem plötzlich auffiel, daß ihn die Anstrengung hungrig gemacht hatte. Beide Männer nahmen einen Apfel. Hatch aß seinen hastig, sah sich 172
nach einer Mülltonne um, wurde sich darüber klar, daß er keine finden würde, und zwang sich, auch das Kerngehäuse zu essen. „Woher hast du die?“ sagte er und spie die Kerne aus. „Von dem Schiff dort unten gestohlen, wie du es mir gezeigt hast.“ „Ich?“ sagte Hatch. „Nun, ich hatte Hunger, und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Tut mir leid. Wie dem auch sei“, fuhr der Junge mit praktischem Tonfall fort, „du solltest dich besser nach einem Versteck umsehen. Die Hohe Stadt ist voll von Lord Odanders Männern, die wie Karnevalsgecken umherstolzieren. Ich dachte, vielleicht würde der König dich verstecken, wenngleich man sagt, daß er unter Beobachtung steht, aber …“ „Ja, er ist vielleicht die einzige Chance“, unterbrach ihn Veris. Der Junge sah zu Hatch, um Bestätigung zu erlangen. Hatch rieb sich die Stirn. Die Ereignisse liefen so schnell ab, daß er ihnen nicht folgen konnte. Er und Jim hatten sich die Politik in Ceremark stets genau aufschreiben und einen Merkzettel an die Wand hängen müssen. Dennoch, der König war vertrauenswürdig. „Gut.“ „Dann komm“, sagte der Junge. Er strich sich das Haar aus der Stirn und trottete den Hang hoch. Sie kamen sicher durch das Tor, aber als sie drinnen standen, verschwand der Junge plötzlich unter einem Torbogen und zog Hatch mit sich. Veris folgte automatisch. „Was ist denn?“ fragte er. „Hinein!“ sagte der Junge. 173
Sie schlüpften durch die Tür und fanden sich in einer lärmerfüllten, vollen Schankstube wieder. „Was ist denn los?“ fragte Hatch. „Ich habe meinen Vater gesehen.“ Das Gesicht des Jungen wurde hart. „Ich hasse ihn.“ „Tatsächlich?“ „Nun … nun …“ Der trotzige Ausdruck verschwand, und der Junge sah zu Boden. „Nein. Aber er haßt dich. Und er sagt, mein Onkel Brin ist ein Feigling, weil er dich nicht haßt. Und das stimmt nicht. Brin sono’Conner ist ebensowenig ein Feigling wie er selbst. Daher … daher … wünschte ich, Vater würde dich mögen.“ Hatch wollte eine zusammenhängendere Erklärung, aber der Junge war den Tränen nahe. „Irgendwie werden wir das klären“, sagte er und fragte sich, was er damit versprach. Der Schankwirt kam zu ihnen geeilt und sagte seine Begrüßungsformel wie einen Bannspruch auf: „Wenn die Herren gütig genug sein möchten, einen Augenblick zu warten, dann wird es mir eine Ehre sein …“ Er verstummte, sah zu Veris, sah weg und wieder hin, und dann murmelte er: „Erstaunlich!“ Danach beendete er seinen Satz: „… Sie zu bedienen, sobald ein wenig Platz ist.“ „Wie Sie wünschen“, sagte Veris, der den länglichen Kopf beugte und den Wirt studierte, der sich vor ihnen verbeugte und verschwand, um sich um ein paar besonders ungeduldige Kunden zu kümmern. „Ich glaube, das gute Geschäft hat seinen Verstand aufgeweicht.“ „Nein, er ist verwirrt wegen des Burschen in der Ecke dort drüben“, sagte Hatch. „Von hier sieht er wie du aus.“ 174
„Wohl richtig. Aber es ist nicht Marek. Ich frage mich, ob es ein Vetter von ihm ist.“ Veris ging zu ihm. Doch Hatch packte ihn am Arm, als er plötzlich eine vertraute und unerwünschte Stimme unter der Tür hörte. „… also haben wir Dienst“, sagte die Stimme vor der Tür. „Aber das Suchen ist Schwerstarbeit, Tarn, und ich brauche etwas zu trinken, damit ich sie überstehe. Schließlich war es nicht unsere Schuld, daß er abhauen konnte.“ „Nein, aber es war deine Schuld, daß wir ihn nicht erwischt haben, als sich die Möglichkeit bot.“ Hatch schlich an der ersten Tischreihe entlang und nahm seine Gefährten mit sich, da öffnete sich die Tür. „Außerdem ist es hier überfüllt“, sagte Tarn. „Stimmt nicht. Und was meinst du damit, meine Schuld? Du warst auch nicht gerade eine große Hilfe, da wir schon beim Thema sind.“ „Ach, zum Arsch Odanders damit“, sagte Tarn. „Jetzt habe ich auch Durst.“ „Wirt!“ bellten sie wie aus einem Munde. „Seht jetzt nicht hin“, sagte Hatch, „aber ich befürchte, wir werden gleich Ärger bekommen.“ Der Junge sah dennoch hin. „Kann schon sein. Es sind dieselben, die dich am Rauchwasser festnehmen wollten. Verschwinden wir.“ Das hellrote Haar des Jungen erregte Tarns Aufmerksamkeit. Veris sagte gerade: „Unsere beste Chance ist der Keller …“, als die beiden Soldaten auf sie zusprangen. Veris schlug einen Purzelbaum und brachte die Angreifer da175
mit zu Fall. Er saß aufrecht auf einem gestürzten Soldaten. Er rieb sich ungeduldig den Kopf, um seine Benommenheit abzuschütteln, dann zog er sich mit Hilfe eines Stuhls in die Höhe. Er zog den Stuhl unter dem verwirrten Gast hervor, der auf ihm saß, und verwendete ihn als Keule, um den anderen Soldaten bewußtlos zu schlagen. Der immer noch halb besinnungslose Tarn bemühte sich, auf alle viere zu kriechen und sich hochzurappeln, aber der Junge schnappte einen Teller und zertrümmerte ihn auf seinem Kopf. Tarn gab ein Stöhnen von sich und brach zusammen. „Guter Junge“, sagte Veris. „Aber jetzt fort von hier!“ Er nahm den Jungen an der Hand, lief zur Theke, duckte sich hinter ihr und eilte zwischen Stapeln von Fässern Stufen hinab, bis er sich in einem kleinen, spärlich erleuchteten Raum am Ende des Kellers befand, dessen einzige Lichtquelle ein schmutziges kleines Fenster war. Er sprang hinein und hielt den anderen die Tür offen, und da erst stellte er fest, daß er einen seiner Gefährten verloren hatte. „Phil?“ rief er mit der gepreßten Stimme von jemandem, der rufen muß, aber nicht möchte, daß Unbefugte es hören. „Er ist immer noch oben!“ sagte der Junge und machte auf der Stelle kehrt. „He, laß das“, sagte Veris und versperrte ihm den Weg. „Vielleicht ist er zur Vordertür hinaus.“ Er zog den Jungen hoch und stellte ihn auf seine Schultern. „Siehst du etwas?“ Der Junge stieß das Kellerfenster auf und blinzelte in die Helligkeit. „Ich sehe ihn. Mein Lord Phi-i-ltron!“ 176
Seine Stimme konnte den Verkehrslärm nicht übertönen. Er zog den Kopf herein. „Er ist um die Ecke verschwunden. Kommen Sie, sonst verlieren wir ihn.“ Veris ließ den Jungen herunter und schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn er zum König gelangt, ist er in Sicherheit, und ich bezweifle, ob wir ihm helfen können, dorthin zu gelangen.“ Veris sah zur Tür hinaus in den Keller. Bisher sahen sie keine Spur von Verfolgern. Er murmelte ein kurzes Dankgebet für die Götter, schloß die Tür und lehnte sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers dagegen. „Vielleicht können wir ihn später in der Königshalle treffen. Vorerst möchte ich nur herausfinden, was hier vorgeht, wenn du gestattest. Was hat Lord Odander vor? Und wer bist du? Ich nehme an, einer von Phils Burgbewohnern.“ „Ich bin Rvadrin sono’Duonal und Mag.“ „R…“ Veris konnte die Silben nicht nachsprechen. „Kurz Rory“, sagte der Junge spöttisch. „Gut, Rory. Und Odander?“ „Er hat Lord Philtron gefangengenommen und versucht, sein Land an sich zu bringen – einschließlich der Klippen. Nun, mein Vater mag den Herzog nicht, aber darauf wollte er sich nicht einlassen, daher mobilisierte er die Stämme und ließ mich aus dem Land-Zentrum holen, bevor Odander es übernahm, und dann versuchte er, die Klippen von ihm zurückzugewinnen, aber derweil ging er fort … ich meine …“ Rory verlor die Übersicht über seine Pronomen und verstummte. „Schon gut“, sagte Veris. „Ich verstehe.“
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Jim stand würdevoll auf und drehte sich gerade noch rechtzeitig herum, um Hatch durch die Tür verschwinden zu sehen. „Hatch!“ rief er. „He, Phil!“ Aber seine Worte blieben ungehört. Er stützte sich auf den Stuhl und dachte darüber nach, daß der Apfelwein stärker war, als er geschmeckt hatte. Er wußte, er hatte keine Chance, seinen Bruder einzuholen, überhaupt bezweifelte er, ob er lange das Gleichgewicht halten konnte. Inzwischen lagen zwei unangenehm vertraute bonbon-farbene Uniformen am Boden. Der Schankwirt lief an ihm vorbei dem Eindringling hinterher, der hinter seiner eigenen Theke in den Keller geflüchtet war, ohne sich dafür zu entschuldigen. „He!“ sagte Jim, packte den kleinen Mann am Knopfloch und beugte sich drohend über ihn. „Einen Augenblick, ehrwürdiger Herr, wenn Sie mich entschuldigen wollen …“ „Nein“, sagte Jim bestimmt. „Wo ist das Hinterzimmer?“ „Sir?“ sagte der Wirt. „Ah … im Hof ist ein Abort, aber wenn Sie ein Bad wollen, könnte ich …“ „Nein, nein, nein. Kein Badezimmer, ein Hinterzimmer. Hier ist es zu laut. Überall springen Leute herum.“ „Oh. Ja, gewiß, Sir. Schlecht fürs Geschäft. Und Sie möchten noch einmal dasselbe?“ „Ich denke schon.“ „Es wird nur einen Augenblick dauern, gnädiger Herr …“ „Nein“, sagte Jim und legte dem Wirt eine Hand auf die Schulter, um sich zu stützen. „Gleich.“ 178
Der Schankwirt betrachtete die Hand, dann sah er zu Jim auf. „Hier entlang, Sir“, sagte er und führte Jim eine Treppe empor. Wo sich die Treppe wand und weiter ins Obergeschoß führte, war eine Zwischenetage, wo schwere Vorhänge einen ruhigen Alkoven bildeten. Jim warf dem Wirt die Börse zu. Dieser zögerte, während er offensichtlich sein Recht, Dreistigkeit und Unwissenheit des Fremden gegen seine Kraft und Größe aufzuwiegen, überdachte. Dann nahm er eine Handvoll Silbermünzen heraus und eilte die Treppe hinab, wobei er noch über die Schulter rief: „Ein Apfelwein, kommt sofort, Sir.“ Am Fuß der Treppe stolperte er über die beiden Soldaten, die gerade wieder zu sich kamen. „Wohin sind sie verschwunden?“ fragte Tarn, der die Schultern des Wirts packte und sich auf sie stützte. Nun endlich verlor der Wirt die Beherrschung. „Wenn Sie, geehrte Herren, die Kundschaft meinen, die Sie ohne jegliche Provozierung ihrerseits angegriffen haben, dann muß ich Ihnen sagen, meine Herren, daß ich es nicht weiß. Sie sind gegangen. Und ich würde vorschlagen, daß Sie dasselbe tun.“ Er befreite sich aus dem Griff und ging zur Theke, um eine längst überfällige Bestellung Wein aufzugeben. Trotz der Hitze des Feuers stand er zitternd dort und wartete ab, wie die Soldaten auf seinen Ausbruch reagieren würden. Die Soldaten sahen einander an und zuckten gleichzeitig die Achseln. „Los, komm“, sagte Tarn. „Vielleicht können wir ihn immer noch fassen.“ Sie eilten hinaus und versuchten, die Tür hinter sich zuzuschlagen, aber 179
sie war zu schwer und dick, als daß man sie rasch bewegen hätte können, daher sahen sie einfach mit den furchteinflößendsten Blicken zurück, die sie zustande brachten, und verschwanden im Straßenverkehr. Der Schankwirt dankte allen Göttern, die ihm einfielen, eine Aufgabe, die ihn eine ganze Weile beschäftigte, danach beschloß er, seine Nerven zu beruhigen, indem er selbst einen Apfelwein trank, bevor er den oben wartenden Fremden und die anderen Kunden bediente. Und mit der Vertreibung der nach unten geflüchteten Kunden konnte er ganz sicher noch eine Weile warten. „Philtron konnte also entkommen, bevor er sich formell ergeben mußte?“ sagte Veris. „Das ist typisch. Und es erklärt, warum Odanders Männer hinter ihm her sind. Dennoch seltsam.“ Er rieb sich die gerunzelte Stirn. „Ich hatte zuletzt gehört, der König hätte Odander unter Kontrolle.“ „Er hat ein magisches Schwert aus dem Sommertempel gestohlen“, sagte Rory. „Das hat er getan!“ Veris’ Stirnrunzeln vertiefte sich noch. „Und nun haben deine Leute zu den Waffen gegriffen?“ Rory schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Nicht nachdem Philtron entkommen ist. Mein Onkel hat dem Herzog die Treue geschworen. Mein Vater sagt, das bindet ihn nicht – mein Vater, verstehen Sie –, und er wollte die Klippenbewohner in meinem Namen führen …“ „In deinem Namen?“ „Onkel Brin hat keine Kinder, und ich bin sein Neffe, 180
daher … Aber ich glaube nicht, daß sie ihm folgen würden, es sei denn, mein Onkel sagt, sie könnten es.“ „Vielleicht nicht“, sagte Veris. „Aber, nebenbei, welche Einwände hast du gegen den Plan?“ „Ich erbe den Schwur ebenfalls“, betonte Rory und streckte den Rücken in dem Bemühen, eine edle Pose einzunehmen. Dann zuckte er die Schultern, sank wieder in sich zusammen und fügte düster hinzu: „Außerdem mag ich Lord Philtron. Er war nett zu mir, als ich seinen Hof besuchte. Und der König ist sein Vetter. Wir müßten gegen das ganze Land kämpfen, um das Herzogtum zu bekommen.“ Veris zog die Brauen hoch. „Ich wünschte, einige meiner Kollegen hätten deinen Blick für Realitäten, mein Junge. Nun.“ Er trat ans Fenster und streckte die Arme hinaus. „Gehen wir.“ „Und treffen Lord Philtron in der Königshalle?“ „Nein. Nein, ich glaube, wir gehen zum Büro der Lujanier und sehen nach, ob genügend meiner Männer verfügbar sind, um einen Überfall aussichtsreich zu machen – wünscht sich nicht jede Armee ein magisches Schwert?“ Rory grinste. „Daran zweifle ich nicht.“ Veris schob den Jungen zum Fenster hinaus, dann zog er sich selbst hoch und kletterte mit Hilfe des Jungen ins Freie. Die Passanten gaben keinerlei Bemerkungen von sich. Schließlich handelte es sich um das Gateway Inn. Die hölzerne Halle war groß, rechteckig und konturlos. Nur die Kristallpforte, die im Sonnenlicht glitzerte, verriet ihre Identität als Heimat der Könige von Ceremark, 181
was sie seit sieben Generationen war. Hatch grinste, als er sich erinnerte, wie er Philtrons halb snobistische, halb spöttische Bemerkungen über die Königshalle als behelfsmäßige Stätte unter den Orten der Macht beschrieben hatte. Sie hielt keinen Vergleich mit dem LandZentrum aus, dem Steinturm, der damals, als König von Ceremark und Herzog von Ceremark noch ein und derselbe Titel gewesen waren, die Hauptstadt gebildet hatte. Dafür war die Königshalle, wenngleich weniger pompös, doch besser bewacht. Hatch fragte sich, ob er es wagen konnte, unter Philtrons Namen hineinzugehen, aber nach einigen Augenblicken des Nachdenkens beschloß er, den Tarnnamen zu verwenden, den Philtron manchmal benützte. Mit ihm würde er ebenso bei Tolemos vorgelassen werden, und die Feinde des Herzogs würden ihn damit wahrscheinlich nicht aufspüren. Er warf der Kristallpforte einen letzten bewundernden Blick zu, dann trat er vor und wies sich als Ormraven aus, der eine Audienz beim König wollte. Seine weiße Uniform zog seltsame Blicke auf sich, um so mehr, da sie verschmutzt und zerknittert war, aber immerhin wurde er bis in die kleine Kammer gebracht, welche an den großen Saal angrenzte. Dort mußte er warten. Die Stühle bestanden aus kunstvoll geschnitztem und poliertem Eichenholz, wie er sie beschrieben hatte. Er stellte aber ebenfalls fest, daß sie sehr hart und für einen Mann mittlerer Größe entworfen worden waren. Einem kurzen Mann, wie Hatch, bereiteten sie Nackenschmerzen und Druckstellen an Rücken und Schenkeln. Hatch fragte sich, wie Tolemos das aushalten konnte, und kam 182
zur Überzeugung, daß es sich nur mit Kissen bewerkstelligen ließ. Momentan schienen aber keine da zu sein, daher vergaß er die Stühle und streckte sich lang auf dem Holzboden aus. Der war ebenso hart, aber weitaus weniger unbehaglich. „…s nicht der Herzog von Ceremark?“ Die verblüffte Stimme weckte Hatch. „Nein, das ist der Bastard eines Vetters, Ormraven. Ein Hampelmann.“ „Sie meinen, ein Spion?“ „Wenn Sie ihn in Lujan erwischt hätten und würden behaupten, daß er einer ist, könnte ich nichts dagegen sagen.“ Hatch öffnete die Augen und mußte zu seiner Enttäuschung feststellen, daß sich beide Könige der zeremoniellen Gewänder entledigt hatten und statt dessen schlichte graue Wollkleidung trugen. „Hallo“, sagte er. Tolemos schüttelte traurig den Kopf. „Orm, du hast keinen Verstand für Höflichkeit. Eigentlich“, fügte er hinzu, „hast du überhaupt keinen Verstand. Ich bin beschäftigt. Geh und komm später wieder.“ „Gehen?“ sagte Hatch und bemühte sich, den letzten Rest Schlaf abzuschütteln. „Ja, genau das“, sagte Tolemos ermutigend. Er wandte sich dem zu Besuch weilenden König zu. „Wenn Sie verzeihen würden …“ „Gewiß …“ „Würden Sie gehen und Herzog Odander sagen, daß ich in Kürze zu Ihnen kommen werde? Vielen Dank.“ Er wartete, bis sein Gast das Zimmer verlassen hatte, dann 183
zog er Hatch auf die Füße. „Nun komm schon. Hampelmann, sagte ich, und vielleicht hatte ich recht.“ Hatch stolperte hinter ihm her ins private Tagungszimmer des Kleinen Rates, weiter ins Schlafgemach des Königs und dort zur Schießscharte in der Wand. „Was, bei der Pest, treibst du hier?“ fragte der König, so wütend es sein Flüsterton zuließ. „Ist dir nicht klar, daß Odanders Männer die ganze Stadt nach dir durchsuchen? Und ich habe derzeit deinen Vetter hier im Schloß, der mit mir und den Lujanern verhandelt, ob er Truppen in Ceremark stationieren darf.“ „Wirst du es zulassen?“ fragte Hatch neugierig. „Woher soll ich das wissen?“ Tolemos öffnete eine Geheimtür. „Ich weiß nicht, welche Macht er in die Verhandlung einbringen kann – noch nicht. Und jetzt beeil dich.“ Hatch trat durch die Tür, und Tolemos verschloß sie wieder und ließ ihn in einer stickig riechenden Dunkelheit zurück. Er tastete vorsichtig mit einem Fuß und stellte fest, daß der Boden unmittelbar neben ihm steil abfiel. Weitere Untersuchung ergab, daß es sich um eine Treppe handelte, der Hatch abwärts folgte, bis er einen staubigen Zwischenboden erreicht hatte. Er folgte der Wand an einer Seite ein paar Schritte. Der Raum war offensichtlich schmal; als er auf etwas Weiches trat und rutschte, stieß er sich den Kopf an der gegenüberliegenden Wand an, worauf er das Interesse daran verlor, einen Raum zu erforschen, den er nicht sehen konnte, und statt dessen beschloß, sein unterbrochenes Schläfchen fortzusetzen. Das Weiche, worüber er gestolpert war, waren 184
mehrere Kissen, die er unter sich ausbreitete. Die Kissen bildeten eine angenehme Unterlage, und die innere Uhr seines Körpers verriet ihm, daß die Schlafenszeit längst überfällig war, selbst die Schlafenszeit nach einem Gelage. Als er erwachte, wurde der Raum von einer Öllampe teilweise erhellt, die unsicher an einer Fackelhalterung am Fuß der Treppe angebracht worden war. König Tolemos unterhielt sich mit einem jungen Mann, der eine schmutzige Tunika und verwaschene grüne Hosen trug. „Aber ich war nicht draußen“, sagte der junge Mann. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Hatch erhaschte einen Blick auf sein eigenes Gesicht und kniff sich – nicht so sehr um sicherzustellen, daß er wach war, sondern um sich zu vergewissern, daß er immer noch war, wo er zu sein glaubte, und nicht auf der anderen Seite der Schießscharte. Dann erkannte er, daß er Philtron ansah, den Herzog von Ceremark im Königreich Ceremark. „Tatsächlich“, sagte Philtron, „schlief ich fast den ganzen Tag, bis du herunterkamst und anfingst zu toben. Mein Gott, Tom! Hältst du mich für einen Narren?“ Tolemos grinste einen Augenblick. „Nicht antworten“, bat Philtron hastig. Tolemos ließ sich seufzend auf der untersten Stufe nieder. „Sagen wir einmal, ich glaube, daß du Fehler hast. Aber ich ziehe dich Odander vor. Wenigstens wirst du nach meinem Tod wahrscheinlich meinen Jungen am Leben lassen, wenn du den Thron übernimmst.“ 185
„Was?“ Philtron drehte ruckartig den Kopf herum. „Ich möchte nicht König sein. Ich habe schon Probleme genug.“ „Natürlich. Aber ich bezweifle, daß deine persönlichen Wünsche viel Gewicht haben, wenn die Zeit kommt. Derweil, tu mir einen Gefallen und bleib am Leben, ja?“ „Glaub mir, ich bin kein solcher Narr, daß ich im Rauchwasser schwimmen würde, wenn die Schergen unseres Herzogs die ganze Stadt absuchen. Es sei denn, ich wäre auf meine alten Tage zum Schlafwandler geworden.“ „Meine Berichte melden übereinstimmend, daß du da warst. Und ich habe dich selbst gesehen.“ Hatch richtete sich vom Boden auf und stöhnte über seine eingerosteten Gelenke. „Ich glaube, ich bin die Ursache des Problems.“ Philtron und Tolemos wirbelten herum und zückten beide gleichzeitig die Messer. „Wer ist da?“ fragte Philtron leise. Hatch trat ins Licht und zeigte sein Gesicht. „Hi, ich … sehe so aus wie Sie. Ich bin Philip Hatchman. Kurz Hatch genannt.“ Er streckte die Hand aus und bemühte sich, vertrauenerweckend zu wirken. Philtron sog die Unterlippe ein und zog die Brauen hoch, womit er ein solches Bild der Verblüffung abgab, daß Hatch kicherte und Tolemos stöhnte. Philtron wirbelte das Messer durch die Luft und steckte es wieder in die Scheide. „Oh, beruhige dich, Tolly. Jetzt kennst du das Problem, ein Doppelgänger. Es ist kein Schaden entstanden, und wir müssen ihn nur noch eingesperrt lassen.“ „Nein, einen Augenblick!“ sagte Hatch. Philtron fuhr fort, ohne auf ihn zu achten. „Eigentlich 186
hat er vielleicht sogar genützt. Mein sanfter Vetter muß inzwischen halb wahnsinnig sein.“ „Wer, Odander oder ich?“ fragte Tolemos. Philtron bedachte ihn mit einem engelsgleichen Lächeln. „Und du kannst bessere Bedingungen mit Dandy aushandeln, wenn er halb wahnsinnig ist. Er kann nicht klar denken, wenn er wütend ist, der arme Kerl.“ Das Gesicht des Königs zeigte ein Lächeln. „Wie wahr! Er hat mir und meiner Wache soeben Neutralität zugesichert.“ „Das hat er tatsächlich?“ Philtrons Lächeln wurde, sofern das überhaupt möglich war, noch süßer, und er bat, mehr Einzelheiten über das Gespräch zu erfahren. Aber in diesem Augenblick öffnete sich die Geheimtür am oberen Ende der Treppe, und ein klein wenig Licht fiel von oben in die verborgene Kammer. Philtron umklammerte Hatchs Handgelenk und zog ihn in eine dunkle Ecke des Raumes, worauf er sich in die andere Ecke flüchtete. „Sind Sie dort unten, Sir?“ fragte eine Stimme, welche genau die richtige Lautstärke einnahm, um unten gehört zu werden, nicht aber außerhalb der Mauern des Schlafzimmers. Tolemos entspannte sich und lächelte Philtron zu. „Ja, ich bin hier, Crosskeys. Was ist denn?“ Ein Wachsoldat des Königs mit rundlichem Gesicht und einer kreuzförmigen Narbe auf der Stirn, die seinen unschuldigen Gesichtsausdruck Lügen strafte, kam mit drei Sprüngen die Stufen herab und gab seinen Bericht ab. „Lord Odanders Männer kämpfen mit einer Gruppe 187
von Lujaniern, und vor den Toren der Stadt steht eine Horde, die das Tor erstürmen will. Der Anführer der Lujanier sieht wie Kapitän Veris aus …“ „Sein Halbbruder“, sagte Tolemos. „Nein, Sir, Marek ist in Begleitung des Königs hier, und beide behaupten, daß es sich um einen Betrüger handelt.“ Tolemos sah zu Hatch. „Noch ein Doppelgänger?“ „Ja, Sir.“ Plötzlich kicherte Philtron und trat ins Licht. „Was ist mit der Horde vor dem Tor? Woher stammt sie?“ Crosskeys sperrte den Mund auf, als er zwei mit demselben Gesicht sah, dann erholte er sich wieder, zuckte die Achseln und sagte: „Ich weiß nicht. Ihre Pferde sehen wie die zottigen kleinen Ponies aus, die ich einmal auf Ihren Ländereien gesehen habe, Sir.“ „Ponies!“ Philtron stieß einen Schrei aus und eilte die Stufen empor, bevor ihn jemand aufhalten konnte, wobei er unterwegs noch Crosskeys Schwert aus dessen Scheide zog. „Phil, du verdammter Narr, warte!“ Tolemos lief hinter ihm her, stolperte bereits über die erste Stufe und gab auf. „Wenn er in diese Stimmung kommt, bewegt er sich zu schnell. Nun gut. Was tut Odander gegen all das?“ Crosskeys runzelte die Stirn, was die Narbe kräuselte. „Er ist aufgebrochen, Sir. Wenn ich eine Vermutung äußern dürfte, ich glaube, er wird sein magisches Schwert holen und sich zu seinen Männern gesellen.“ „O ja, das erscheint vernünftig.“ Tolemos seufzte und strich mit den Fingern durch den Bart. „Meister Hatchner?“ 188
„Ja, Sir?“ Hatch kam es närrisch vor, jemanden Sir zu nennen, aber bei Tolemos fiel es ihm nicht schwer. Er glaubte, er hätte sogar ein „Eure Majestät“ herausbringen können, ohne sich zu verhaspeln, aber er wußte, daß Tolemos keinerlei Wert auf Äußerlichkeiten legte. „Könnten Sie Philtron verkörpern, sollte es notwendig sein?“ „Ich denke schon.“ Tolemos wandte sich an den Wachmann. „Bring Meister Hatchner Mantel und Schwert und halte ihn versteckt, bis sein Gesicht verborgen ist. Dann schaffe ihn aus der Halle hinaus. Und dann laß die Wache ausrücken, nur mit Stöcken, keine Klingen. Verlegt das Kampfgeschehen aus der Stadt hinaus. Und wenn ihr sie erst vor dem Tor habt, werden Phils Klippenbewohner mit Odanders Haufen fertig werden können. Und der König wird sich die ganze Zeit über neutral verhalten haben, seine Sorge galt lediglich dem Frieden der Hauptstadt.“ Crosskeys sah ihn verblüfft an, dann kicherte er. „Jawohl, Sir.“ Tolemos sah zu Hatch: „Finden Sie Philtron und Veris … den Doppelgänger, wenn Sie können, und sagen Sie ihnen, die Klippenbewohner sind draußen. Und sagen Sie Phil, er soll hinausgehen und diese Barbaren von der Stadtmauer weglocken. Sie können mit dem Kampf warten, bis der Feind vor dem Tor ist. Und wenn Sie sie nicht finden können, dann versuchen Sie, die Meute selbst hinzuhalten.“ „Ja, Sir.“ Sein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, aber er bemühte sich, dieses Gefühl zu unterdrücken. 189
Crosskeys spurtete die steile Treppe empor, wartete oben gerade lange genug, bis Hatch aufgeschlossen war, dann schritt er in einer raschen, geschäftstüchtigen Gangart weiter. Hatch folgte dichtauf und verbarg sein Gesicht hinter dem Rücken des größeren Mannes. Crosskeys führte ihn ins Wachzimmer. Die Wache, eine große junge Frau, die auf einem kleinen Tasteninstrument spielte, das sie im Schoß liegen hatte, sah bei ihrem Eintreten auf und nickte, ohne aus dem Takt zu kommen. „Was gibt’s Neues vom Gezänk?“ fragte sie, ohne mit dem Spiel aufzuhören. „Beim Tanz oder im Kampf?“ Crosskeys brachte einen schlichten grauen Mantel ohne Schmuck oder Rangabzeichen zum Vorschein, dazu einen Schwertgürtel aus dem Spind. „Kampf, mein Lieber, Kampf“, sagte sie, wenngleich die Melodie, die sie spielte, ihre Worte Lügen zu strafen schien. „Wenig. Wir sollen versuchen, sie vor das Stadttor zu drängen. Mit etwas Glück wird das genügen. Nur Stöcke.“ Er tippte sich mit dem Finger nachdenklich ans Kinn, dann fügte er noch einen Helm hinzu und reichte Hatch das Bündel. „Ich werde es weitergeben“, sagte die Frau. Sie beendete ihr Stück mit einem trillernden Crescendo, stellte das Tasteninstrument weg und eilte leichtfüßig aus dem Zimmer. „Kennen Sie den Weg hinaus?“ fragte Crosskeys. Hatch nickte. „Gut. Dann auf Wiedersehen.“ Crosskeys wandte sich 190
ab und begann, Helme und Schlagstöcke zurechtzulegen. Hatch wollte protestieren, dann wurde ihm klar, daß Crosskeys eine so hohe Meinung von ihm hatte, ihm zuzutrauen, die ihm auferlegte Verantwortung zu übernehmen. Tolemos Angewohnheit, Selbstvertrauen und Zuverlässigkeit bei seinen Männern vorauszusetzen, hatte offensichtlich auf diese abgefärbt. Hatch atmete tief durch, unterdrückte ein Zittern, legte die Kleidung an, die Crosskeys ihm gegeben hatte, und stolzierte hinaus. Die Straßen waren so dichtgedrängt wie zuvor die Docks am Fluß, aber diese Menge war kein Publikum. Sie bemühte sich zu fliehen und konnte nicht, denn niemand wußte genau, wo die Gefahr lag oder wie sie aussah, nur, daß sie von den Männern Odanders von Meadale ausging. Rufe wie: „Zu mir! Schnappt die Dalianer!“ oder einfacher: „Dalianer! Schnappt sie euch!“ deuteten auf Versuche hin, die Stadtbewohner zum Kampf zu mobilisieren, aber diese Rufe ergingen von verschiedenen Punkten in der Menge, und diejenigen, die kämpfen wollten, kollidierten ständig mit denen, die sich in Sicherheit bringen wollten. Hatch versuchte, sich hindurchzudrängen, aber er stürzte und lag sofort zwischen trampelnden Füßen. Er hatte nicht genügend Platz zum Aufstehen, daher kroch er weiter, wobei er versuchte, diesem bestimmten Teil der Menge zu folgen, damit er nicht zertreten wurde. Dennoch wurde er ständig von schweren Stiefeln in die Seiten getreten, und der Staub und Gestank von Pferdemist drangen ihm in die Nase, so daß er dauernd würgen mußte. Er war halb bewußtlos, als jemand über ihn stol191
perte und sein Kopf und der Oberkörper in kühlen, dunklen Freiraum ragten. Er stieß gegen etwas Festes, klammerte sich daran und vernahm den erstaunten Schrei einer Frau weit über sich. Hände packten ihn und zogen ihn in die Höhe, in reine, klare Luft. „Danke“, konnte Hatch nur hervorstoßen. „Sie!“ sagte eine unbekannte Stimme. „Nein, bin ich nicht“, sagte Hatch, schon fast ein Reflex. „Ich sehe nur wie er aus.“ Er zupfte an seinem Mantel und versuchte, die Kapuze wieder an Ort und Stelle zu bringen. Er stellte fest, daß er an einer Hauswand lehnte, an einer Seite von einem kräftigen rothaarigen Mann gestützt, an der anderen von der Frau, unter deren weitem Rock er Schutz vor dem Drängen der Menge gefunden hatte. Das Paar sah irgendwie vertraut aus. „Aber, Duonal …“, sagte die Frau. Der Klang ihrer Stimme und das rote Haar des Mannes verrieten Hatch plötzlich, wer sie waren. „Oh, Sie sind die Eltern dieses Jungen“, sagte er ungenau, aber sie verstanden ihn dennoch. „Haben Sie Rory gesehen?“ Duonals Stimme war so donnernd, daß sie die Menge im Umkreis von einigen Metern zum Verstummen brachte. „Macht den Weg zur Halle frei!“ rief Hatch, der die entstandene Stille ausnützte. „Macht den Weg frei! Die Wachen kommen, um den Kampf zu beenden!“ Er wandte sich an Duonal. „Ich habe ihn gesehen, aber ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Helfen Sie mir,“ „Ihnen helfen?“ fragte Duonal höhnisch. „Entweder das, oder wir werden zerquetscht wie Bee192
ren in einem Marmeladenglas“, sagte seine Frau. „Macht den Weg frei!“ rief sie und richtete ihre Stimme so, daß sie von den Fensterscheiben der Gebäude widerhallte. Duonal runzelte die Stirn, folgte dann aber ihrem Beispiel. Hatch versuchte es ebenfalls, bekam den Kniff mit dem Echo aber nicht in den Griff, daher folgte er einfach in ihrem Kielwasser und brüllte, so laut er konnte. Die Menge vor ihnen löste sich langsam auf und verschwand in den Seitenstraßen. Als die Wachen aus der Königshalle gestürmt kamen, hatte Hatch bereits die halbe Strecke den Hügel hinab zurückgelegt und konnte die hellen Farben der Soldaten von Lujanir und Meadale erkennen, die vor dem Stadttor kämpften. Jenseits der Mauer konnte er den Lärm der Klippenbewohner hören. „Warten Sie“, sagte er und hielt Duonal und seine Frau an den Schultern fest. „Ich muß über die Mauer.“ „Warum?“ fragte Duonal. „Um die Klippenbewohner zu warnen, nicht einzudringen. Die Wachen sollen die Kontrahenten vor das Tor treiben, dort können sie sie bekämpfen.“ Duonal wandte sich an seine Frau. „Mag, dein verdammter Narr von einem Bruder hat seine Leute mobilisiert, um Philtron zu helfen!“ „Das mag sein“, stimmte sie zu. „Wäre es dir lieber, die Dalianer würden die Macht übernehmen?“ Duonal gab einen knurrenden Laut des Einverständnisses von sich und sagte: „Stimmt auch wieder. Komm weiter.“ Er und Mag bogen in eine Seitenstraße ein, und Hatch folgte ihnen. Sie umgingen das Zentrum der 193
Kampfhandlungen und gelangten ohne Mühe zum Stadtrand. Die beiden Klippenbewohner nahmen ihre Seile und Pickel heraus und begannen, die Mauer zu erklimmen. Eine aufmerksame Wache erspähte sie, als sie sich dem oberen Rand näherten, und sie beschwerte sich zu den Wolken: „Ihr Götter! Sie kommen und gehen!“ Sie streckte den Stab aus, um einen Fassadenkletterer von außen abzuwehren, dann wandte sie sich um, um sich den beiden von innen zuzuwenden. „Nein!“ rief Hatch und warf die Kapuze zurück. „Wir müssen hinaus und sie veranlassen, draußen zu warten.“ Sie starrte ihn an, dann zuckte sie die Achseln und kniete nieder, um Mag und Duonal zu helfen. Kaum standen sie oben, warfen die beiden Klippenbewohner ein Seil herunter, und Hatch versuchte, daran hinaufzuklettern. Mit Straßenkleidung und mit Mantel und Schwert erwies sich das als schwieriger als damals bei den Turnübungen. Mag und Duonal tauschten schockierte Blicke aus, dann ließen sie eine Schlaufe herab und zogen ihn hoch. Auf der Mauer konnte er die Soldaten von Meadale und Lujanir eine Querstraße weiter kämpfen sehen, und die Männer des Königs ebenfalls, die sich ihnen näherten. In der Mitte des Scharmützels leuchtete ein greller roter Lichtstreifen auf, und plötzlich wurde ihm klar, daß das das Flammenschwert in Odanders Händen war. Er erschauerte und wandte sich rasch ab. „Sehen Sie Brin?“ fragte er Mag. Sie bedachte ihn mit einem weiteren erstaunten Blick, 194
dann winkte sie einem großen Rothaarigen zu, der, zusammen mit einem Dutzend anderen, mit einem Pfahl auf das Tor einstürmte. „He! Brüder!“ rief sie und bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. „Hört auf! Wartet!“ Derweil hatte Duonal ein Seil befestigt, und Hatch ließ sich daran hinab. Es gelang ihm, sich dabei nicht die ganze Haut von den Händen zu schürfen. Brin ließ den Pfahl los und kam zur Mauer. Sein Gesicht hellte sich auf, als er erkannte, wer auf ihn wartete. „Schön, dich am Leben zu sehen. Was gibt es Neues?“ „Laß deine Männer sich kreisförmig vor dem Tor aufstellen und warten. Die Dalianer werden gleich aus der Stadt hinausgedrängt werden. Aber die Lujaner mit ihnen, also paßt auf, wohin ihr schlagt. Und Lord Odander hat ein Flammenschwert.“ Derweil waren auch Duonal und Mag heruntergeklettert und umarmten Brin – Mag herzlich, Duonal weniger. Brin lachte und zog das Seil für sie von der Mauer. „Duonal, wirst du uns helfen?“ fragte er. „Ich … ja.“ Brin und Duonal eilten zur Menge der Klippenbewohner zurück und machten sich daran, sie in Warteformation zu bringen. Hatch sah sich nach einem sicheren Ort um, wo er sich verstecken konnte, aber der offene Hügel bis hinab zum Fluß bot keinen Schutz, und die Ponies hatten sich beim Grasen weit flußauf- und flußabwärts verstreut. Er sah sich um, was Mag tat, und mußte feststellen, daß sie doch tatsächlich mitten unter die Soldaten marschierte und den Pickel bereithielt, um ihn als Streitaxt zu verwenden. 195
Hatch zog das Schwert heraus, das er bekommen hatte, und reihte sich seufzend neben ihr ein. Das Tor öffnete sich, und die kämpfenden Massen ergossen sich heraus oder wurden herausgestoßen. Hatch sah benommen zu und suchte nach vertrauten Gesichtern. Odander war deutlich zu sehen, das Flammenschwert schuf einen breiten Freiraum um ihn herum und versengte das Gras zu seinen Füßen, so daß sein Weg von einer braungebrannten Schneise markiert war. Hatch konnte Jims Gesicht sehen, und sein eigenes … Philtrons, verbesserte er sich. Ein Büschel roten Haares in Brusthöhe von Philtron verriet ihm, daß Mags Sohn sich ebenfalls in der Menge befand. Dann stürmten die Klippenbewohner los, und Hatch lief mit ausgestrecktem Schwert auf die Soldaten von Meadale zu. Das Schwert stieß zu und traf, was ihn zum Stehenbleiben zwang. Der Mann schrie, Blut ergoß sich über seine rosafarbene Uniform. Hatch zog an dem Schwert. Es kam frei, und der immer noch blutende Mann stürzte. Das Schwert eines anderen bohrte sich in seine Schulter. Hatch schrie und klappte sich übergebend zusammen. Er vergaß nicht, sich abzurollen, und so fiel er hügelabwärts und weg vom Kampf geschehen, wo er nicht von den Stiefeln der Kämpfer getreten werden konnte. Kaum war er mit Kotzen fertig, versuchte er, sich weiter zu entfernen, denn die Bewegung des Kampfes verlief in seine Richtung, aber seine Schulter schmerzte zu sehr. Außerdem war der Raum um ihn herum immer noch frei. Dann spürte er Wärme, die sich ihm näherte. 196
Er mühte sich in eine instabile kauernde Haltung, auf Knien und der unverletzten Hand, und sah Odander auf sich zustürmen. Es gelang Hatch, den Kopf zu heben. „Ich bin nicht Philtron“, sagte er, so laut es ihm mit dem sauren, kratzenden Geschmack im Mund möglich war. „Sehen Sie hinter sich.“ „Das ist ein alter Trick“, sagte Odander. Er hob das Schwert. Rory packte ihn von hinten an den Beinen, und die beiden stürzten und rollten fort. Der Junge kreischte, als sein Ärmel und das Gras Feuer fingen. Dann waren Veris und Philtron bei ihnen und traten die Flammen aus. Philtron ergriff das Flammenschwert und hielt es hoch in die Luft. „Ergib dich, Odander“, sagte er, „oder ich werde dich hiermit erschlagen.“ Odander sagte nichts. Philtron zögerte und sah zu Veris, der Odanders Helm herunterriß und ihn mit der flachen Seite seiner Axt besinnungslos schlug. „Männer von Meadale, ergebt euch!“ rief Philtron. Er hatte den Echo-Trick von den Klippenbewohnern gehört, und seine Stimme hallte von der Stadtmauer wider. „Der Herzog ist besiegt, Dalianer! Legt die Waffen weg!“ Einige gehorchten. Für die anderen wurde der Kampf zur Verfolgungsjagd. Die Soldaten Meadales flohen in alle Richtungen den Fluß hinauf und hinab, verfolgt von Lujaniern und Klippenbewohnern. Philtron wollte sich neben Rory niederknien, aber 197
dann erinnerte er sich an das Schwert, fluchte und blieb mit in die Höhe gestrecktem Arm stehen. „Mag! Duonal!“ rief er. Sie eilten zu ihm und knieten neben ihrem Sohn nieder. „Wie geht es ihm?“ fragte Philtron. Mag, die ein Stück ihres Kleides als Verband abriß, gab keine Antwort, aber Duonal sagte: „Er kommt durch, Tiefenländer.“ „Danke“, sagte Philtron. Er wandte sich ab und sah nach Veris. „Tiefenländer“, sagte Duonal. „Ja?“ Philtron drehte sich wieder um. „Soweit ich weiß, hat der närrische Bruder meiner Frau Ihnen Treue geschworen.“ „Ja.“ „Das werde ich nicht tun – aber ich werde mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen.“ „Danke, Duonal“, sagte Philtron. Die beiden Männer sahen einander einen Augenblick an. „Wenn jemand vernünftig genug war, Salben und Verbandszeug in den Satteltaschen mitzubringen“, sagte Mag, „dann sollte jemand die Ponies holen.“ Duonal nickte und ging den Hügel hinab. Veris hatte mittlerweile den Herzog verschnürt (wobei er Odanders Mantel und Gürtel benützte) und kam nun zu Philtron herüber. „Erlahmt dein Arm nicht allmählich?“ fragte er und studierte die statuenhafte Haltung Philtrons. „Doch. Möchtest du es haben?“ fragte er. „Ich dachte schon, aber wenn ich es mir genau überlege … nein.“ 198
Philtron rieb sich mit der freien Hand über die Stirn. „Nun, mir wird schon etwas einfallen, wie ich damit zurechtkomme. Ihr Götter, Veris, bist du das wirklich? Ich hielt dich für tot.“ „Ist er auch“, sagte Hatch mit dünner Stimme. Der Fluß, der Hügel und die Stadt um ihn herum verschwammen, und er fragte sich, ob er das Bewußtsein verlor oder starb. Die Schwärze hob sich, und er lag auf einem Kachelboden in einem nur spärlich erleuchteten Zimmer. Bvalirs Gesicht wurde über ihm sichtbar. „Ihr seid nicht Philtron und Veris“, sagte er vorwurfsvoll. „Nein“, sagte Hatch. Er hörte Jim gleichzeitig nein sagen, aber er konnte seinen Bruder nicht sehen und war zu müde, sich umzudrehen. „Wohin gehört ihr wirklich?“ „Ins Studentenheim der Uni“, sagte Jim. „Wohin?“ „Die U. von M. Die Universität …“ „Lassen wir das. Ich denke, wir werden zurechtkommen.“ Bvalir hielt einen Stab mit einem Kristall am Ende. Der Kristall fing an zu leuchten, während er sprach und warf winzige Regenbogen durch den Raum, während der Stab bewegt wurde. „Und wie hat euch Ceremark gefallen?“ fragte er. „Wollen Sie meinem Bruder nicht helfen?“ fragte Jim wütend. „Was? Oh, die Schulter. Nein. Nur noch einen Augenblick, wenn ihr zurück seid, könnt ihr ihn verbinden. Ich möchte den Zauberspruch nicht noch einmal von vorne 199
beginnen. Anscheinend hattet ihr eine interessante Reise.“ „Klar“, bestätigte Hatch. „Ich habe nicht viel mitbekommen“, sagte Jim. „Ich war die ganze Zeit im Gateway Inn und … nun, ich habe mich unter den Tisch getrunken und wartete darauf, daß das Delirium nachlassen sollte.“ „Du bist verrückt!“ sagte Hatch und verlor wieder das Bewußtsein. Als er erneut erwachte, saß er auf dem Fußboden, und jemand stützte ihn von hinten. Die Neonröhren des Studentenheims leuchteten in ordentlichen Reihen über ihm. Cory, die immer noch ihr seidenes Flammenkostüm trug, und Jim verbanden seine Schulter mit Mull aus dem Erste-Hilfe-Kasten des Klubs. „Hi, Cory“, sagte Hatch. „He, halt still“, sagte Marvs Stimme hinter ihm. „Ich kann dich nicht stützen, wenn du keine Ruhe gibst. Was ist überhaupt mit euch beiden passiert? Ich dachte, alle wären gegangen, als der Bursche im Drachenanzug endlich seine Show abgezogen hatte und verschwand. Ich ging herum und sah nach, ob jemand etwas vergessen hatte, und dann fand ich euch immer noch hier, und der alte Hatch blutete den ganzen Fußboden voll.“ „Keine Ahnung“, meinte Hatch mehr oder weniger ehrlich. „Er muß gegen etwas gestoßen sein“, sagte Jim vorsichtig. „Nun, ihr solltet vielleicht bei der Unfallaufnahme vorbeischauen“, merkte Cory praktisch an. „Diese Bandage sieht verdammt professionell aus, würde ich sagen, 200
aber ich nehme an, sie können sie besser richten.“ Sie fing an, das Verbandszeug wegzupacken. „Ja, ich denke auch.“ „Glaubst du, du kannst aufstehen?“ fragte Marv. „Hm-hmmm.“ Marv half ihm auf und stützte ihn von der Seite. „Wie fühlst du dich?“ „Ganz gut. Benommen.“ Jim stützte ihn von der anderen Seite, und sie gingen langsam auf die Hintertür des Studentenheims zu. „Nun“, sagte Marv, „damit dürfte die Frage erledigt sein, ob ihr die Geschichte für die nächste Ausgabe des Fanzines fertig haben könnt.“ „Oh, ich denke, wir werden die Story schon irgendwie hinkriegen“, meinte Jim. Sie traten in die Dämmerung hinaus. Das Gras hinter dem Studentenheim wurde von Regentropfen versilbert, Sonnenlicht fiel vom Fluß über die stillen Straßen, während die Sonne über dem Krankenhaus aufging. „Wir werden die Geschichte fertigschreiben“, bekräftigte Hatch. Er betrachtete das zerrissene und schmutzige, ehemals weiße Philtron-Kostüm. „Gut, daß ich endlich dieses Kostüm ausziehen kann.“
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George Alec Effinger ist einzigartig. Kein anderer Science Fiction-Autor ist wirklich vergleichbar mit ihm; kein anderer Autor hat auch nur annähernd Ähnlichkeit mit ihm. Ich bin nicht einmal ganz sicher, daß es George Alec Effinger wirklich gibt. Schriftsteller fangen sehr unterschiedlich an. Manche mühen sich jahrelang ab, bevor jemand bemerkt, wie sie da vor ihrer Schreibmaschine schwitzen. Andere werden mit einer einzigen Geschichte zum Star. Effinger – nun, Effinger wurde buchstäblich über Nacht zum SF-Star, obwohl er sich nicht auf eine einzige bescheidene kleine, wie eine Bombe einschlagende Geschichte beschränkte. Nein. Als er Anfang 1971 zum erstenmal gedruckt wurde, kam er gleich mit einem ganzen Bündel von Geschichten heraus, die Schlag auf Schlag in Zeitschriften und Anthologien und in weiteren Zeitschriften und weiteren Anthologien erschienen. Im Juni 1971 – noch im selben Jahr, in dem seine erste Geschichte erschien – besuchte Ihr Herausgeber ein SF-Regionaltreffen in Washington, und da war Effinger bereits eine Berühmtheit, der Autogramme gab, Fans abwehrte und an Diskussionsrunden teilnahm, hinter einem Schild, das ihn als den Stanton A. Coblentz seiner Generation bezeichnete. Das Äußere Effingers liefert keine Erklärung für seine spontane Popularität, seine Wandlung in Rekordzeit von einem Unbekannten zu einem Namen, mit dem man rechnen muß. Er ist ein junger Mann, klein, schmächtig, dunkelhaarig, sehr hager, der aussieht, als könnte er drin202
gend eine warme Mahlzeit vertragen, wenn nicht sogar zwei bis zehn. Mal trägt er einen Bart und mal nicht; mit Bart erinnert er entfernt an eine Miniatur von Robert Silverberg. Aber das erklärt noch nicht seinen Erfolg. Ein Gespräch mit ihm ist auch nicht aufschlußreicher. Effinger ist ein scheuer Mensch, mit sanfter Stimme, etwas zerstreut und zurückhaltend. Er lächelt und scherzt sehr viel, und er liebt Baseball und seinen japanischen Spielautomaten und sein privates Rezept für PfirsichSuppe. Warum also waren alle Herausgeber und Leser so begeistert? Ah … die Geschichten. Effingers Geschichten sind merkwürdig verzerrt und schwarz und roh. Sie sind hundertmal komischer als die Produkte der meisten selbsternannten Humoristen des Genres, aber es ist nicht ganz geheuer, darüber zu lachen – hinter jedem Lächeln verbirgt sich eine Klinge. Er ist der Autor von zwei entschieden merkwürdigen Romanen: What Entropy Means to Me und Relatives. Der erstere brachte ihm eine Nebula-Nominierung ein; ein Teil des letzteren wurde als unabhängige Novelette herausgegeben und kam in die Hugo-Endausscheidung. Er ist außerdem Autor eines ganzen Schlachtfeldes von herzhaft wahnsinnigen Kurzgeschichten, von denen auch einige für Preise nominiert wurden. Es ist nicht vorstellbar, daß manche der Geschichten, die er schreibt, von einem anderen überhaupt hätten geträumt werden können. Kein anderer hätte von dem stillen Kataklysmus berichten können, der begann, als alle 203
Mollies in allen Aquarien der Welt auf einmal starben. Kein anderer hätte in die Welt von The Wind in the Willows Umweltverschmutzung hereinbringen können. Kein anderer hätte das einbeinige Pferd erfinden können, das beim Kentucky Derby gewann. Und ich glaube, kein anderer außer George Alec Effinger hätte die folgende Geschichte erzählen können. G. R. R. M
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George Alec Effinger
Mutters Differentialgleichungen MOM’S DIFFERENTIALS Les Greuns Büro war eine kleine Zelle, ein gutes Stück vom Aufzug entfernt. Sein kleiner Raum war begrenzt von drei dünnen Wänden aus Gipsplatten und einem rechteckigen Loch; die Wände waren mannshoch und von dem gleichen hellen Grün wie die Wände der Grundschulen. Von seinem Platz am Schreibtisch konnte Les durch das Loch, oder den Eingang, auf eine grüne Trennwand auf der anderen Seite des schmalen Korridors blikken. Die Enge seiner eigenen Zelle störte ihn nicht; sie schien eigentlich angemessen. Les war keine Führungskraft. Er war Mitarbeiter eines Teams und nicht einmal ein besonders wichtiger Mitarbeiter. Es stand ihm nicht mehr zu. Mit Sicherheit hatte er keine mannshohe Tür mit Milchglasscheibe verdient. Aber Les war zufrieden. Er verzehrte sich nicht nach Dingen außerhalb seiner Reichweite, Dinge, die einen Status symbolisierten, nach dem er nicht strebte. Bei seinen Mitarbeitern war es unüblich, zufrieden zu sein. Mit Sicherheit wurde es nicht erwartet, und Les hatte gelernt, seine Gefühle der Zufriedenheit zu verbergen und sich seinen Kollegen in häufigen Gruppen-Frust-Kundgebungen anzuschließen. Seine Arbeit bestand darin, Auffahrten und kleeblattförmige Kreuzungen für Autobahnen zu entwerfen. In der Zelle direkt östlich von ihm arbeitete eine Frau mit einem mehr oder weniger gleichen Job. Sie hieß Judy Nominski, und eine ihrer Hauptklagen war, daß sie höchstwahr205
scheinlich nie die Kleeblätter, die sie entworfen hatte, selbst zu Gesicht bekommen würde, noch würden an den Fahrbahnen selbst kleine Bronzeplaketten kundtun, daß die Auffahrten kreative Produkte ihrer Talente seien. Les versuchte, ihren Zorn zu besänftigen, wenigstens in der ersten Zeit ihrer Freundschaft; er merkte bald, daß es unmöglich war, ihre Besorgnis völlig zu beschwichtigen. Er gab es auf und nickte und lächelte nur, wenn sie mit dem gewohnten Gesprächsthema kam. Les verbrachte seinen Arbeitstag damit, Gleichungen auszuarbeiten, die mit Hilfe eines Computers Diagramme ergaben mit geschwungenen Linien, die sich mit technischen Daten deckten, die er von verschiedenen Straßenbauämtern an verschiedenen Orten erhielt. Manchmal waren die Kleeblätter oder die Umgehungsstraßen von einer Standardgattung; in dem Fall gab es Nachschlagwerke, in denen er die genauen Gleichungen, die er brauchte, finden konnte. Dieser Teil seiner Arbeit langweilte ihn ein wenig. Da brauchte man das Zeichnen des Computers nicht zu überprüfen, man brauchte nicht neben dem Drucker zu stehen und zu beobachten, wie die anmutigen Kurven aus den elektronischen Wurzeln der Maschine herauswuchsen. Die Arbeit mit vorgezeichneten Daten aus den Handbüchern erinnerte ihn an seine Schulzeit, wenn er in Trigonometrie einfache Probleme löste mit Hilfe von Methoden und Werten aus Tabellen am Ende des Buches. Aber oft genug mußte er improvisieren, indem er schätzte und versuchte und herumprobierte, bis das gezeichnete Diagramm mehr und mehr dem verlangten Modell glich. Er dachte, daß dieser Teil 206
tatsächlich Spaß machte; er brachte Judy nie dazu, ihm zuzustimmen. An diesem besonderen Tag hatte Les ein kleines Stück der Ausfahrt einer geplanten Autobahn entworfen; die Straße sollte zwischen Lemontier und Claybury, Montana, gebaut werden, über eine Gesamtlänge von 125 Meilen, die fast völlig unter Les’ Kontrolle sein würde. Er fand die Gleichungen für die Ausfahrt gefällig: genau, klar und sauber, frei von allen Details; keine Zugangsstraßen, keine U-förmigen Wendestellen, keine Berührungspunkte mit kleineren Verkehrsadern. Les verließ seinen Schreibtisch um fünf Uhr mit dem Gefühl, einen Tag, so gut er konnte, ausgefüllt zu haben. Er war zufrieden. Zu Hause erwarteten ihn die Post und die Nachmittagszeitung. Les’ Frau, Charlotte, war noch nicht zu Hause; ihr blauer Dodge Dart stand nicht auf dem Parkplatz. Les nahm die Zeitung, die fünf Zeitschriften, die Rechnungen und die Briefe an sich und drückte auf den Aufzugknopf. Er wartete, und nach kurzer Zeit kam der Aufzug. Er fuhr nach oben und schloß seine Wohnungstür auf. Seine Katzen warteten ungeduldig darauf, gefüttert zu werden. In der Küche war kein Katzenfutter, daher ging Les zurück zur Eingangstür mit der Absicht, über die Straße zu gehen und Futter für die Tiere zu kaufen. Er sah ein Blatt Papier, das innen an der Tür befestigt war. Er nahm es ab und las es. Es lautete: Lieber Les, Wenn Du dies liest, werde ich natürlich schon weg sein, daher geht es nicht drum, daß ich Dich verlassen 207
möchte und Du versuchst, es mir auszureden, wie die anderen Male. Ich habe beschlossen, daß nichts Wunderbares daran ist, Lehrerin zu sein. Zumindest nicht für mich. Vielleicht gibt es Leute, für die es herrlich ist. Mir bringt es nicht genug Freude. Ich gehe nach Californien, wo ich so leben kann, wie es für mich vorausbestimmt ist. Du weißt, was ich meine, wir haben genug darüber diskutiert. Ich möchte ein natürlicheres Leben. Ich möchte mich entfalten. Mit dreiunddreißig, denke ich, wird es Zeit dazu. Es ist nicht persönlich gemeint, weißt Du. Ich liebe Dich, und ich werde Dich immer in besonderer Erinnerung behalten. Ich werde an Dich denken, sooft ich eine Autobahn sehe, und das wird ziemlich oft sein. Ich bin sicher, daß es Dir gutgehen wird. Du bist intelligent. Du kannst einfach so tun, als hätte es die letzten zwölf Jahre nie gegeben. Ich werde es so machen. Ich werde mich in Californien um die Scheidung kümmern; ich weiß, wie sehr Du es haßt, Dich mit solchen Dingen zu belasten. Aber in ein paar Monaten, wenn mein W-2-Formular kommt, mußt Du Dich um die Einkommensteuer kümmern. Okay? Auf jeden Fall hoffe ich, daß Du das wahre Glück findest, und denke nicht zu schlecht von mir. Dies ist etwas, das ich einfach tun muß. Alles Liebe Charlotte. Von diesem Moment an begann Les Greun sich nach dem Sinn des Lebens im allgemeinen und dem Sinn seines Lebens im besonderen zu fragen. 208
„Weißt du, Judy“, sagte Les am nächsten Morgen bei der Arbeit, „meine Frau hat mich verlassen, und ich fange an, selbst die Grundlage von allem, was ich je geglaubt habe, in Frage zu stellen.“ „Du wirst nach einer Weile dahinterkommen“, erwiderte Judy. „Wahrscheinlich wird es dir am Anfang schwerfallen. Ich könnte dir ein paar Tips geben.“ „Da wäre ich dankbar dafür“, meinte Les. „Wirklich.“ Judy fing an zu reden, hielt ein, schüttelte den Kopf, dann zuckte sie mit den Schultern und ging in ihre eigene Zelle zurück. Les ging in die seine und warf einen Blick auf die Arbeit, die ihn erwartete. Er mußte die Ausfahrt zu Ende bringen und damit anfangen, eine Auffahrt von einer kleinen Straße in der Nähe der Stadt Kerrigan zu planen. Um halb zehn ließ die Firma Musik einfließen. Vor mehreren Jahren fand eine Studie heraus, daß flotte Musik um halb zehn schläfrige Angestellte ermutigen könnte, sich an die Arbeit zu machen. Die Musik hörte nach kurzer Zeit auf, weil die Studie bewies, daß ununterbrochene Musik anfängt, unwirksam zu werden. Nach einer kurzen Pause fing sie dann wieder an. Dies ging so weiter bis zum Mittagessen, wobei die Auswahl der Stükke sich in Stimmung und Tempo den Höhen und Tiefen der Tabellen des Effizienzgutachtens anpaßte. Nach dem Mittagessen wurde die Musik beschwingter, um die Schwere nach dem Mittagessen überwinden zu helfen. Gegen drei Uhr legte Les seinen Bleistift nieder, stand auf und ging zu Judy Nominskis Zelle. „Judy?“ sagte er leise. 209
„Hmm?“ fragte sie. „Weißt du was? Meine Frau ist weg.“ „Ich weiß“, sagte Judy, wobei sie zu Les aufsah und seufzte. „Du hast es mir heute morgen erzählt. Du wirst es dir immer wieder neu klarmachen. Du wirst dich daran gewöhnen.“ „Weißt du, was mich wirklich bedrückt?“ „Wie sollte ich?“ „Es scheint mir egal zu sein“, meinte Les, mit einer Spur von Erstaunen in der Stimme. „Das beunruhigt mich.“ „Entweder bist du in einer Art Schock, oder es ist dir wirklich egal“, sagte Judy. „Ist das nicht ein Zeichen von Wahnsinn?“ fragte Les. „Du sprichst von Gefühlsverflachung“, sagte Judy. „Mein Psychiater ist das alles mit mir durchgegangen. Mach dir keine Sorgen. So kompliziert bist du nicht. Ich werde es dir sagen, wenn Grund zur Sorge besteht.“ „Danke, Judy“, erwiderte Les. „Ich brauche einfach jemanden, mit dem ich reden kann. Meine Arbeit scheint nicht mehr so wichtig zu sein, nicht nach all diesem.“ „Du machst Fortschritte, Les“, sagte sie. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, und Les ging zurück zu seiner Zelle. Kurze Zeit später, auf dem Heimweg, sah Les eine ältere Frau, die auf dem Bürgersteig schrie. Sie schien mit jemandem zu streiten, der, soweit Les sehen konnte, nicht da war. Sie war eine verrückte Dame. „Es gibt eine Menge solcher Dinge“, dachte Les. „Ich frage mich, wie ich Tag für Tag in meiner Zelle sitzen kann und abstrakte 210
Kurven auf einem Computer zeichnen kann, wenn es in der Welt so viel gibt, um das man sich kümmern müßte. Es gibt keinen Sinn mehr. Das ist es, was Judy schon immer sagte.“ Er kaufte im Laden einige Erdbeeren und etwas Sahne-Milch-Getränk und Thunfisch-Ei-Katzenfutter und ging hinauf in seine Wohnung. Seine Katzen waren froh, ihn zu sehen. Als er an diesem Abend allein in seinem Wohnzimmer saß, fühlte er eine wachsende, unbegründete Angst. Der Raum war schwach erleuchtet und still; die Katzen schliefen unter Stühlen; nichts bewegte sich außer Les’ eigenem Spiegelbild im Glas des Leroy Neiman-Drucks. Die Angst, wenn es Angst war, wurde so stark, daß Les sich versucht fühlte, jemanden anzurufen. Er widerstand dem Impuls, weil er nichts Besonderes zu sagen hatte, und er wollte sich nicht noch mehr wie ein Idiot vorkommen. Statt dessen legte er einen Stapel Platten auf und versuchte, sich in ein Buch zu vertiefen. Die Platten halfen ein wenig, aber nicht genug, um ihn ganz zu entspannen, und das Buch war nicht sehr gut. Er erinnerte sich, daß Charlotte behauptet hatte, eins ihrer Vitaminpräparate hätte eine beruhigende Wirkung; er erinnerte sich nicht, welches. Das Innere des Kühlschranks hatte immer einer Apotheke geglichen. Les hatte nicht bemerkt, ob Charlotte die Pillen mitgenommen hatte, aber er nahm es an. Er hatte keine Lust nachzuschauen. Statt dessen beschloß er, in der kühlen Nachtluft einen kleinen Spaziergang zu machen. Im Aufzug, umgeben von der Musikberieselung der Firma Muzak, ein Kundendienst der Immobilienverwal211
tungsgesellschaft, fühlte sich Les ein bißchen besser. Er schloß die Augen, und er konnte sich fast einreden, daß er in seinem Büro bei der Arbeit wäre. Dann dachte er, wie wenig seine Sammlung von Kurven und Millimeterpapier mit seinen Problemen zu tun hatte, und wieder fühlte er sich von Angst überflutet. Menschen verhungerten und heulten und starben, und er verbrachte seine Zeit ungerührt, indem er mit Variablen und geheimnisvollen Gleichungen jonglierte. Die Gleichungen waren oft so komplex, daß sie alles verschleierten, was vielleicht an Wirklichkeit dahinterstecken mochte. Er konnte sich in dieser Komplexität verlieren. Er konnte sich genauso leicht in der Einfachheit der fertigen, vollkommenen Kurve verlieren. Es war seine Art, sich vor der Welt zu verstecken. Charlotte hatte recht gehabt. Judy Nominski hatte recht. Es gab hungernde Menschen in Asien, und er versteckte sich. Es gab hungernde Menschen in Amerika, genau dort, wo die verdammten Autobahnen sich entlangzogen. Les erbebte und lauschte auf die Muzak. Die Aufzugtüren öffneten sich, und er sah die Außenwelt. Sie sah nicht besonders schön aus. Les wartete, dann drückte er den Knopf für sein Stockwerk. Die Aufzugtüren schlossen sich. Die Muzak spielte weiter Weisen aus aller Welts Lieblingshitshows, und die Kabine stieg langsam höher; wieder fühlte sich Les ein kleines bißchen besser. Am nächsten Tag, obwohl Samstag, suchte Les einen Arzt auf. Der Doktor war ein sehr gewissenhafter, sehr kostspieliger Doktor, dem Les absolut vertraute. „Da Sie 212
schon hier sind“, sagte der Doktor, „möchte ich eine Urinprobe von Ihnen haben, und ich möchte, daß Sie für mich die kleinen Treppen rauf und runter laufen. Nehmen Sie dieses Glas mit ins Badezimmer.“ Les tat, wie ihm der Doktor befahl. Die sanfte Musik spielte im Sprechzimmer, sogar im Waschraum, wo Les die Urinprobe produzierte. Er fühlte trotzdem plötzlich Panik, die gleiche Panik, die ihn immer in den Waschräumen der Ärzte überfiel. Les wußte nie, wieviel. Wenn er bloß eine kleine, eine bescheidene Menge gab, eine sorgfältige Antwort, könnte es vielleicht, medizinisch gesehen, unzureichend sein. Andererseits, wenn er das Glas bis zum Rand füllte, wie würde sich dann die Krankenschwester fühlen? Er ging einen Kompromiß ein, während die Muzak eine langsame, gedämpfte Trompetenversion spielte, von einer ansonsten lebhaften Melodie aus einer zwanzig Jahre alten Broadway-Show. Danach gab ihm der Arzt einige Ratschläge, die Les nicht gefielen. „Dies ist ein Rezept für einige Pillen, die Sie aufmuntern sollen“, sagte der Doktor. „Und dies ist ein Rezept, das Ihnen helfen soll, Ihre Ängste zu dämpfen.“ „Ich bin dankbar“, antwortete Les, „aber ich hasse den Gedanken, daß ich zu den Leuten gehöre, die Drogen nehmen. Ich habe mich immer für selbstsicherer gehalten.“ „Das sagen viele meiner Patienten“, meinte der Doktor müde. „Ich sage Ihnen, daß ich das langsam satt habe. Wenn Sie eine Infektion haben, kommen Sie hierher, und die Krankenschwester gibt Ihnen eine Spritze. Wenn Sie 213
eine Muskelzerrung haben oder einen Knochenbruch, dann kommen Sie hierher, und ich tue für Sie, was ich kann. Aber wenn Sie durch eine Krise gehen, wie Sie es gerade tun, wenn Ihr ganzes Leben kopfsteht und Sie sich etwas merkwürdig fühlen, dann kommen Sie hierher und hören nicht auf mich. Diese Drogen wurden gerade für solche Situationen entwickelt. Genau dafür sind sie da. Hier, nehmen Sie sie.“ „Okay“, sagte Les und nahm widerstrebend die Rezepte. Später, nachdem er die Rezepte eingelöst hatte, ging Les nach Hause, ohne Angst vor der leeren Wohnung. „Und wie denkst du jetzt über das Leben?“ fragte Judy Nominski am folgenden Montag bei der Arbeit. „Es geht“, sagte Les. „Meine Wohnung ist sehr sauber.“ „Nun“, meinte Judy, „es ist gut, daß du sie los bist. Frag, wen du willst. Sie sagen alle das gleiche.“ „Natürlich tun sie das“, antwortete Les. „Was meinst du, daß sie sonst sagen sollen?“ „Egal“, sagte Judy. „Je schneller du erkennst, daß du dich anpassen mußt, desto schneller können wir anderen aufhören, dich zu bedauern.“ „Ich habe schon ein gutes Stück auf diesem Weg zurückgelegt“, erwiderte Les. „Schau.“ Er schüttete mehrere gelbe Tabletten in seine Hand. „Wunderbar“, sagte Judy und tat die Tabletten zurück in die Flasche. „Ich habe diese Tabletten eine Zeitlang selbst genommen. Ich bin zu besseren übergegangen.“ „Ich kann es kaum erwarten, daß mir das passiert“, meinte Les. „Inzwischen bin ich mit diesen zufrieden.“ 214
„Langsam, aber sicher, dann kommst du ans Ziel.“ „Ja“, sagte Les. „Ja. Natürlich.“ „Übrigens“, meinte Judy, „ich habe über deine ExFrau nachgedacht. Charlotte? War das ihr Name?“ „O Gott, Judy“, sagte Les, „du warst bei der verdammten Hochzeit dabei. Du hast sie seit Jahren gekannt.“ „Ich dachte nur, daß während all dieser Zeit vielleicht mehr vor sich gegangen ist, als ins Auge fiel. Dein Auge.“ „Meinst du Charlotte und ein geheimnisvoller Liebhaber?“ Judy zuckte die Schultern und gab Les ein kleines Lächeln, aber sie sagte nichts. Sie wandte sich um und ging weg. Er wandte sich auch um und begann, eine der aufgezeichneten Kurven, die er gerade beendet hatte, zu studieren. Er mochte diese Kurve besonders gern. Er schaute sie eine Weile schweigend an, dann nahm er sie auf und brachte sie zum Xerox-Apparat. Er machte eine Kopie und befestigte sie an einer Wand seiner Zelle, neben vielen anderen seiner früheren Erfolge. Als er diesmal jedoch die Kurve an der Wand befestigte, bemerkte er etwas Sonderbares. Er war sich nicht ganz klar darüber, was so sonderbar war, oder was es bedeutete; aber er besaß auch nur geringe Fähigkeiten, Geheimnisvolles zu deuten. Er ging zum Mittagessen. Eine Stunde später beschloß Les, seine Zelle, sein kleines Reich, zu verschönern. Er wollte drei oder vier seiner Lieblingsdiagramme nehmen, in seinen alten Projekthandbüchern ihre ursprünglichen Gleichungen heraussuchen, ihre Parameter weiterfuhren, über den Punkt hinaus, der für die alten Jobs erforderlich war, und sehen, 215
was für wunderbare Dinge dabei herauskamen. Die Diagramme wurden ganz unerwartet ein aufregendes Erlebnis für Les. Die einzelnen Kurven unterlagen vorher den Straßenanforderungen; jetzt wurden sie nur durch seine Phantasie begrenzt. Dies war eine Eigenschaft, von der Les glaubte, daß sie ihm schon vor Jahren abhanden gekommen sei. Diese neuen Kurven waren in vielen Hinsichten anziehender als die Originale, weil sie größer, anmutiger und irgendwie wärmer waren in ihren erweiterten Formen. Die Umgebung des Computers war genauso erfüllt von Muzak wie seine Arbeitszelle. Der Klang gab Les das Gefühl, heil und gesund zu sein. Er fühlte sich braun gebrannt, was er in Wirklichkeit nicht war. Nachdem er seine graphischen Darstellungen beendet hatte, beschloß er, etwas für sein Äußeres zu tun. Er ging zu seiner Zelle und setzte sich an den Schreibtisch; bis zum Feierabend dachte er über Sonnenbräune nach. Er beschloß, den Rest der Woche durch reine Willenskraft hinter sich zu bringen. Dann würde er mit einem Programm der Selbstvervollkommnung beginnen, aber erst vom Ersten des Monats an. Um fünf Uhr nahm er eine der gelben Pillen, stand auf und ging nach Hause. Les fuhr die fünf Meilen auf der überstaatlichen Autobahn und die zweieinhalb Meilen von der Hauptstraße zu seinem Wohnblock. Dann parkte er seinen Wagen auf dem geschützten Parkplatz, wobei er einen Angstanfall hatte, der sich genauso darstellte, wie er sich immer den Wahnsinn vorgestellt hatte. Es fiel ihm schwer, einen 216
einzigen zusammenhängenden Gedanken im Kopf zu haben. Er fühlte sich schwindelig, und in seinen Ohren war ein lautes Summen. Seine Hände prickelten. Sein Bauch war verspannt. Er wollte sich hinlegen, aber er war zu aufgewühlt. Er wollte die große, nervöse Energie, die sich seiner bemächtigt hatte, abarbeiten, aber das Mietshaus bot dafür keine Möglichkeit. Es drängte ihn, schwere Gewichte zu heben, aber in der Nähe des Parkplatzes gab es nur einige alte, zerbrochene Ziegel. Les wandte sich ab und ging auf die Rückseite des Gebäudes. Im Hof waren ein kleines Schwimmbecken und ein Grillplatz, dazu ein schwarzer, schmiedeeiserner Tisch und drei dazu passende Stühle. Ein vierter Stuhl lag auf dem Grund des Schwimmbeckens. Les schaute sich nervös um. Es gab nichts zu tun. Er geriet in Panik, und es gab nichts zu tun. Er griff in seine Taschen und nahm ein Plastikröhrchen heraus; darin waren die Pillen, von denen der Doktor gesagt hatte, sie würden ihm helfen, seine Angst zu beherrschen. Er schluckte eine; sie schmeckte fürchterlich und schien in seinem Hals zu kleben, so daß er hinterher dreimal gewaltsam schlucken mußte. Nach einer Minute schluckte er noch eine. Er blickte wieder in das Schwimmbecken. Welke Blätter trieben auf dem grünlichen Wasser. Les verließ den Hof und ging zurück zum Aufzug. In seinem Briefkasten war eine Mitteilung von Charlotte. „Großartig“, dachte er. „Genau, was ich brauche.“ Er drückte den Knopf für den Aufzug und riß den Umschlag auf. Auf der Rückseite, dort, wo normalerweise der Absender stehen sollte, war das Firmenemblem einer 217
großen internationalen Fluggesellschaft. Darunter standen die Worte: Auf dem Flug. Als sich die Aufzugtüren öffneten, warf Les einen Blick auf den ersten Satz des Briefes. Da stand: Lieber Les, Pat und ich haben beschlossen, ein Jahr lang in Hongkong zu leben. Les stopfte den Umschlag in seine Tasche und trat in den Aufzug. Die Lautsprecher boten ihm eine Violin- und Cello-Wiedergabe von Sousas „National Emblem“Marsch. Les beschloß, daß er ganz entschieden deprimiert war. Die zwei Pillen halfen vielleicht gegen seine Ängste – bis jetzt gab es kein Anzeichen, daß sie das taten, obwohl es noch zu früh war –, aber es waren die gelben Tabletten, die seine Lebensgeister wecken würden. Er erinnerte sich, daß der Doktor genau diese Worte gebraucht hatte. Er hatte eine der Tabletten in der Hand, noch bevor er die Schlüssel aus seiner Tasche geholt hatte. Er hielt die Pille in der Hand, während er seine Wohnungstür öffnete. Er eilte an seinen miauenden Katzen vorbei zur Küche, wo er die Tablette mit viel Cola schluckte. Dann ging er ins Wohnzimmer und fiel auf die Couch. Er blieb nicht länger als fünfzehn Sekunden liegen. Er fühlte sich unerträglich gereizt. Mit seinem Kopf wußte er, daß es nichts gab, das ihm Angst machen mußte. Gefühlsmäßig war die Sache allerdings völlig anders. Sein Herz pumpte Blut durch seinen Körper, als ob Les sich 218
auf eine Flucht oder einen Kampf vorbereiten müßte. Er ging ins Schlafzimmer. Er setzte sich aufs Bett. Er stand auf. Er beschloß, daß er hinuntergehen und in den Laden gehen müßte, aber er wollte noch niemandem gegenübertreten. Er wollte überhaupt nichts tun. Er wollte sich bloß normal fühlen. Er ging in das Gästezimmer und schaute sich den Stapel Rechnungen auf dem Schreibtisch an. Er setzte sich hin und nahm sein Scheckbuch heraus. Er bezahlte alle Rechnungen, adressierte die Umschläge und frankierte sie. Er schrieb kurze Mitteilungen, um die Mitgliedschaft in drei Buchklubs, denen Charlotte angehört hatte, zu kündigen. Er kündigte vier Zeitschriftenabonnements. Dann schaute er in die Schubladen des Schreibtisches. Da waren eine ganze Menge Dinge, die Charlotte zurückgelassen hatte. Les nahm sie alle und warf sie in den Abfalleimer. Er war verbittert. Es war ihm aufgefallen, daß Charlotte beim Weggehen kein einziges Photo von ihm mitgenommen hatte. Sie hatte kein einziges Schmuckstück, nicht einmal irgendeines der komischen kleinen Dinge, die er ihr geschenkt hatte, mitgenommen. Er ging mit einer Einkaufstasche durch die Wohnung und füllte sie mit all diesen Dingen. Dann ging er nach unten und warf die Einkaufstasche in den Müll. Les fühlte sich deprimiert, voll Panik und sehr zornig. Er ging über die Straße in den Lebensmittelladen. Er konnte Blut schmekken, da, wo er auf seine Unterlippe gebissen hatte. Judy Nominski war sehr beunruhigt, als Les zur Arbeit erschien. „Wie geht es dir?“ fragte sie. „Ich rief dich et219
wa drei- oder viermal an gestern abend. Ich war beunruhigt deinetwegen. Es hat niemand abgenommen.“ Les schaute verlegen zu Boden. „Ich war nicht zu Hause“, antwortete er. „Wohin gingst du?“ „Nicht sehr weit“, sagte Les. „Ich fühlte mich ziemlich durcheinander. Mir wurde klar, daß die gelben Tabletten mich wirklich nervös machen. Ich konnte nicht stillsitzen. Ich arbeitete mich durch meine Wohnung wie ein Kommandotrupp. Gott, ich dachte, daß sie gestern sauber war. Du solltest sie heute sehen. Ich habe sogar meine Perserkatze gesaugt.“ „Wo warst du also?“ fragte Judy. „Ich fühlte mich verängstigt“, antwortete Les. „Ich verbrachte die Nacht im Fahrstuhl.“ „Im Fahrstuhl?“ „Durch die Muzak fühlte ich mich wohler“, sagte Les. „Hast du gut geschlafen?“ fragte Judy. „Nein“, gab Les zur Antwort. „Dauernd kamen Leute herein und weckten mich auf. Sie konnten mich einfach nicht schlafen lassen. Sie mußten Fragen stellen. Du würdest dich wundern, wie viele Leute zwischen Mitternacht und sechs Uhr nach Hause kommen.“ „Hast du aufgehört, die gelben Pillen zu nehmen?“ fragte sie. „Ja“, sagte Les. „Ich habe sie weggelegt, bis meine Wohnung wieder schmutzig ist.“ „Mach dich an die Arbeit, Les“, forderte Judy. „Dies sind alles Stationen auf dem Weg.“ Sie lächelte kurz und berührte kurz seinen Arm und ging den Korridor entlang 220
zu ihrer Zelle. Les fand Frieden in der Aussicht auf seine eigene Arbeit und den Klang der morgendlichen Tonbandmusik und ging zu seinem Büro. Trotzdem war da etwas Störendes, etwas, das sich einschlich in die Muzak-Wiedergabe von „Clair de Lune“. „Was könnte es sein?“ dachte Les. „Alles sieht hier genauso aus wie gestern abend.“ Er starrte auf die Wand mit den ausgestellten Kurven. Nachdenklich trat er näher heran. Dann, wie unter einer plötzlichen Inspiration, änderte er die Position der drei Computer-Blätter. Er hatte recht gehabt; sie bildeten jetzt ein lesbares Wort – KAY. Kay? dachte Les. Er kannte niemanden, der Kay hieß. Was ihn bei dem KAY aus der Fassung brachte, war die Tatsache, daß es eher in Schreibschrift als in Druckbuchstaben dastand, und die Schrift – die Handschrift – war vertraut. Die Schnörkel und Striche waren charakteristisch und lockend. Er versuchte, andere Teile der graphischen Darstellungen umzuordnen. Manchmal paßten auch diese zueinander. Das beunruhigte Les noch mehr. Er fand drei Teile die MUTT ergaben, wenn sie zusammengefügt wurden. Andere Kombinationen ergaben zwei oder drei zusammenhängende Buchstaben, aber keine weiteren Worte. Und sie waren alle in einer Handschrift geschrieben, die ihm irgendwie sehr vertraut war. Den Rest des Tages verbrachte Les damit, seine alten Lieblingsgleichungen auszugraben und sie weiterzuführen, innerhalb der gleichen Parameter, die er am Tag zuvor gewählt hatte. Dann befestigte er auch diese an der Wand. Als Feierabend war, hatte er nichts von seiner Arbeit erledigt, aber er hatte zwei ganze Wände mit be221
drucktem Papier bedeckt. Er starrte unentwegt darauf. Er schob sie herum. Es kam weiter nichts mehr heraus. Endlich verließ er frustriert seine Zelle und ging heim für die Nacht. Es waren eine Fahrt und ein Ziel, zu denen er wenig Lust verspürte. Um seine Ankunft hinauszuzögern, hielt Les an einem kleinen Einkaufszentrum an der Autobahnausfahrt direkt vor seiner eigenen Ausfahrt. Obwohl er klugerweise keine der gelben Pillen genommen hatte – und auch keine von den anderen, den Angstbeherrschern, für alle Fälle –, fühlte er sich nicht wohl. Das Autoradio war auf einen AM-Sender eingestellt, der sanfte Instrumentalmusik spielte; er fühlte sich dabei fast so wohl wie bei Muzak in der Firma und in seinem Aufzug zu Hause. Aber sobald ein Ansager oder eine Werbung die Musik unterbrach, konnte Les nur mit Mühe einen Verkehrsunfall vermeiden. Jetzt, bei abgestelltem Motor und Radio, fühlte Les, wie die Panik zurückkehrte. Er öffnete die Autotür und stieg aus. Er eilte über den überfüllten Parkplatz zu einem niedrigen, rechteckigen Kaufhaus. In Wirklichkeit brauchte Les nichts aus dem Geschäft. Aber er war angenehm überrascht, daß auch das Geschäft seine Kunden mit eingeschleuster Musik versorgte. Er fühlte sich sofort besser. In einer Art Betäubung kaufte Les eine ausziehbare Vorhangstange und einen rostroten Duschvorhang. Dann kaufte er drei schwarz und weiß gestreifte Kissen. Mehr Bargeld hatte er nicht, nicht einmal genug für ein Abendessen. Er brachte seine Einkäufe zurück zum Auto, stellte das Radio an und fuhr heim. Les hatte nicht die Absicht, in seine Wohnung zu ge222
hen. Er drückte den Aufzugknopf. Während er wartete, schaute er sich die Tagespost an. Da waren zwei Rechnungen, drei Zeitschriften und ein weiterer Brief mit dem Poststempel Hongkong. Als der Aufzug kam, schob Les seine Pakete hinein. Er hängte den Duschvorhang an die ausziehbare Vorhangstange und installierte ihn etwa zwei Fuß von der Rückwand des Aufzugs entfernt. Die Muzak segnete ihn bei seiner Arbeit mit heiterer Ruhe. Er freute sich, daß der Vorhang so gut zum Teppich des Aufzugs paßte. Er legte die Kissen hinter dem Vorhang, auf den Boden. Dann drückte er auf den Knopf für sein Stockwerk. Als sich die Aufzugtüren öffneten, warf er die leeren Papiertüten hinaus. Les ging zurück hinter den Duschvorhang und setzte sich auf seine Kissen. Die Aufzugtüren schlossen sich mit einem befriedigenden Geräusch, und Les lehnte sich zurück und lauschte auf die Muzak, die seine Seele heilte. An diesem Abend hatte er eine Verabredung, die erste seit Charlotte ihn verlassen hatte. „Es wird langsam Zeit“, dachte er. „Ich muß einen Versuch machen, mein Leben zu normalisieren. Das Leben geht weiter. Ich kann nicht einfach fortfahren, mich selbst zu bedauern. Ich muß rauskommen. Ich muß Spaß haben. Vielleicht werde ich mich dann nicht so verängstigt fühlen.“ Das waren alles Dinge, die der Doktor ihm gesagt hatte, als Les ihn an dem Abend anrief. Les hatte wenig Vertrauen in ihre Wirksamkeit. Wie nicht anders zu erwarten, war Judy Nominski die einzige Frau, die einzuladen er sich fähig fühlte. Er plante ein nettes Abendessen in einem nicht zu 223
teuren Restaurant, einen erfreulichen Film, einige Drinks und ein angenehmes Gespräch. Sollte sich der Abend darüber hinaus entwickeln, wäre Les überrascht. Er wußte nicht, ob es angenehm wäre oder nicht. Er rief sie an, kurz nachdem er mit seinem Arzt gesprochen hatte. Sie hatte schon zu Abend gegessen, aber sie hatte Verständnis für seine Gefühle. „Natürlich, Les“, sagte sie, „ich würde mich freuen, mit dir auszugehen. Es wäre – nun – Heilbehandlung. Es würde mir guttun, deinen Schmerz zu lindern.“ „Ich will nicht, daß du meinen Schmerz linderst“, erwiderte Les. „Ich will nur, daß wir ausgehen und den Abend angenehm verbringen.“ „Natürlich, Les“, sagte sie mit besänftigender Stimme. Das ganze Gespräch irritierte ihn. Sie verabredeten, daß er sie in einer halben Stunde in ihrer Wohnung abholen würde, und dann würden sie einen neuen, angeblich sehr komischen Film ansehen. Judy dachte, daß auch das seinen Schmerz lindern würde. Les biß sich wieder auf die Unterlippe, und es schmerzte sogar noch mehr. Nach dem Film, nach den Drinks, nach dem kurzen, gespannten Gespräch wurde Les klar, daß ihre Verabredung einen Moment der Entscheidung erreicht hatte. Es hing jetzt viel davon ab, was Les als nächstes sagte. Er fühlte sich unsagbar einfältig. „Äh“, sagte er, „würdest du, äh …“ Judy half überhaupt nicht, und sie war diejenige, die immer von sich behauptete, alles so gut zu verstehen. Vielleicht dachte sie, es sei wichtig, daß er es selbst tat. „Möchtest du noch mit in meine Wohnung kommen, bevor ich dich nach Hause bringe?“ fragte er. 224
„Ich könnte dir zeigen, eh, wie …“ „Natürlich, Les“, sagte Judy und wirbelte die Eiswürfel in ihrem Glas herum. Ihre Stimme war unnötig unschuldig, fand er. Kurze Zeit später waren sie in seiner Wohnung. Nicht viel später waren sie im Schlafzimmer. Les dachte, daß dies das erste Mal war, daß er versuchte, mit jemandem zu schlafen, seit Charlotte ihn verlassen hatte. Und es war auch noch in ihrem Bett. Alles schien bedeutungsschwerer zu sein, als überhaupt möglich war. In der Stille sehnte sich Les nach der Muzak. Seine Panik wuchs, bis er entdeckte, daß es ihm unmöglich war, den Reißverschluß seiner Hose zu öffnen. Davor hatte er fast drei Minuten gebraucht beim Versuch, Judys Büstenhalter aufzuknipsen, bis er sich erinnerte, daß BHs keine Druckknöpfe, sondern Haken hatten. Judy war sehr freundlich gewesen und hatte gar nichts gesagt. Les verfluchte sie dafür. Sie versuchten sich zu lieben. In der grotesk angstvollen Stimmung, in der sich Les befand, war es unmöglich. Sie versuchten es beide immer wieder. Judy war so verständnisvoll, daß Les sie am liebsten erwürgt hätte. „Hör zu“, sagte er. „Es liegt nicht an dir.“ „Ich weiß“, meinte sie. „Ich weiß.“ „Nein“, sagte er beschwörend. „Hör zu. Ich bin sicher, daß wir es können. Aber nicht hier.“ Judy lächelte. Sie dachte, daß sie verstand. „Zieh einen Bademantel an und komm mit mir“, sagte Les. „Charlotte ließ einige ihrer Sachen im Schrank zurück. Ich bin noch nicht fertig damit, alles rauszuschmei225
ßen.“ Judy tat, was er sagte, und folgte ihm; er zog einen blauen Flanellbademantel an und führte sie hinaus in den Flur. „Wohin gehen wir?“ fragte sie, und zum erstenmal war ein Zweifel in ihrer Stimme. „Zum Fahrstuhl.“ „Was?“ Les drückte den Knopf, der Aufzug kam, und die Türen öffneten sich fast lautlos. „Komm“, sagte Les, nahm Judy am Arm und drängte sie in den Aufzug. „Was bedeutet dieser Duschvorhang, Les?“ fragte sie, selbst etwas verängstigt. „Das ist mein kleiner Zufluchtsort“, sagte er. Die Muzak lullte ihn ein. Zum erstenmal nahm er die Formen von Judys Brüsten wahr, wie sie sich unter dem dünnen Bademantel abzeichneten. Er fühlte, wie er erregt wurde. „Du kommst hier herein und fühlst dich wohl?“ fragte Judy. „Du fühlst dich hier geistig gesund? Du hast dir eine kleine Insel des Friedens und der Abgeschiedenheit eingerichtet in einer Welt, die dich in den Wahnsinn treibt?“ „Jetzt endlich verstehst du mich wirklich, Judy“, sagte Les mit heiserer Stimme. Er streckte die Hände nach ihr aus, er versuchte sie zu küssen. Sie schob ihn weg. „Ich verstehe“, erwiderte sie. „Ich verstehe dich wirklich. Und ich kann dir nicht sagen, wie glücklich ich für dich bin. Es gibt mir ein warmes Gefühl zu denken, was für einen Fortschritt du gemacht hast. Du hast dir einen Ort der Geborgenheit geschaffen, die Art von Nische, die die meisten Menschen nie haben.“ 226
„Was ist denn los?“ fragte er. „Es ist widerlich“, sagte sie und verließ den Aufzug. Les starrte ihr nach. Er dachte einen Moment über die Frauen nach. Dann dachte er, daß es letzten Endes nicht sein Leben sei, das bedeutungslos war. In Wirklichkeit war das ganze Universum schuld. Bei der Arbeit am nächsten Tag begegnete Les Judy in einem Korridor. Er schaute weg und versuchte so zu tun, als hätte er sie nicht gesehen, aber es war eine klägliche List in dem schmalen Gang. Sie sprach ihn an. „Schau, Les“, sagte sie. „Ich möchte, daß du weißt, was gestern abend los war. Es liegt wirklich nicht an dir. Wirklich. Du mußt das glauben. Ich bin sicher, daß eine Menge Frauen gern auf diese Weise mit dir schlafen würden, im Aufzug. Du mußt nur eine finden, das ist alles. Es ist das gleiche Problem, mit dem wir alle konfrontiert sind, nicht mehr und nicht weniger. Ich könnte sogar herumfragen, wenn du willst.“ Sie schaute ihn an, unfähig, seinen Gesichtsausdruck zu lesen. Sein Gesichtsausdruck war leer, und seine Gedanken waren leer. Er wünschte verzweifelt, etwas Kinoreifes zu sagen, etwas Endgültiges, Schneidendes, Vernichtendes. Es fiel ihm nichts ein. Banalitäten wie „Sicher“ oder „Ich trage dir nichts nach“ oder „Alles in Ordnung“ wollte er nicht von sich geben und sagte lieber nichts. Er ging an ihr vorbei in seine Zelle. Die Diagramme an der Wand überraschten ihn. Durch die Ereignisse am Vortag hatte er das Geheimnisvolle vergessen, das sich um seine Kurven aufbaute und um 227
die Überführungen und Kleeblätter, die sie darstellten. Jetzt nahmen sie seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Judy Nominski war endgültig vergessen. Les gruppierte versuchsweise die Blätter um. Die ersten fünf Versuche waren Mißerfolge; der sechste brachte Kurven zusammen, die ein H und einen Teil eines O bildeten. Wie am Vortag verbrachte er die Vormittagsstunden damit, Teile von einem gigantischen und zu einer sonderbaren Obsession gewordenen Puzzle zusammenzufügen. Bis zum Mittagessen hatte er mehrere weitere Buchstaben zusammengesetzt. Die I-Punkte waren kleine Kreise; es fiel Les ein, wessen Handschrift es war. Es war eine verrückte Idee, aber irgendwie paßte sie zu seiner Lage. Durch die Muzak fühlte er sich ruhig und aufgeschlossen für neue Ideen; der Zwischenfall mit Judy hatte seinen plötzlichen Erfolg beim Zusammenfügen der Bruchstükke ausgelöst. Les war sicher, daß ohne die belebende Musik oder Judys abrupten Einbruch in seinen psychologischen Alptraum diese Botschaft ihm für immer verborgen geblieben wäre. Es war in der Tat eine Botschaft, und nach der Handschrift zu urteilen, stammte sie von seiner Mama. Les war nicht neugierig genug, um sich zu fragen, ob er während all der Jahre, die er hier arbeitete, unbewußt Autobahnen entworfen hatte, deren Teile, wenn sie bloß richtig gedreht wurden, zu ihm sprechen würden. Vielleicht war es ein unerklärliches, übernatürliches Phänomen – immerhin war seine Mutter schon seit mehreren Jahren tot. Les machte keine Mittagspause. Als die Muzak aussetzte, fühlte er seine tiefe Furcht wiederkehren; aber 228
jetzt hatte er die Kraft, sie nicht zu beachten und mit seiner Aufgabe fortzufahren. Gegen halb vier hatte er die ganze Botschaft zusammen. Sie war mit Reißzwecken an den Gipsplatten seiner Zelle befestigt. Sie lautete: OKAY. DU BIST AUF GRUND GESTOßEN. JETZT WIRD ES DIR GUTGEHEN. HÖR ZU. HIER SPRICHT DEINE MUTTER. Les lachte. Sogar das doppelte Unterstreichen war eine Eigenart seiner Mama. Als die Muzak wieder einsetzte, saß er in seinem Stuhl und fühlte sich so selbstsicher und ausgeglichen, daß er wünschte, daß Judy Nominski in seine Zelle kam. Aber sie kam nicht. Die Heimfahrt war genauso entsetzlich wie immer; das Radio beschwichtigte seine Furcht etwas, aber trotzdem zitterte er und umklammerte krampfhaft das Lenkrad. Er parkte seinen Wagen und öffnete den Briefkasten. Es war keine Post da. Was bedeutete das? Les war ratlos, aber seine Verwirrung begann sich zu legen, als er den Aufzugknopf drückte. Da er keine Post erhalten hatte, erinnerte er sich, daß er Charlottes Brief vom Vortag noch nicht gelesen hatte. Er zog ihn aus seiner Tasche, öffnete ihn und las ihn. Er lautete: Lieber Les, Nun, wir sind hier im Hong Kong Breezeway Inn. Wir werden hier bleiben, bis wir eine Wohnung gefunden haben. Ich nehme an, es wird schwieriger sein, hier eine Wohnung zu finden als in den Staaten. Es ist wirklich 229
aufregend und anders. Ich könnte Dir gar nicht all die Dinge aufzählen, die wir gesehen haben in der kurzen Zeit, seit wir hier sind. Ich nehme an, Du mußt einfach selbst herkommen. Hier änderte sich die Handschrift. Les war ein bißchen neugierig und las weiter. Hallo. Ich heiße Pat Colerra. Wir sind uns nie begegnet, aber ich nehme an, daß Charlotte Ihnen von mir erzählt hat. Sie hat diesen Brief heute morgen angefangen. Ich dachte, ich sollte ihn zu Ende schreiben; ich denke, Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Wir gingen zum Mittagessen in ein japanisches Restaurant. Charlotte war sehr aufgeregt; Sie wissen, wie gern sie japanisch ißt. Sie sagte, daß sie nicht glaubte, je eine bessere Gelegenheit zu bekommen, unverfälschtes japanisches Essen zu probieren, als hier, diesseits des Pazifik. Sie lachte darüber, wie sehr Sie rohen Fisch haßten, und das Hotel empfahl uns ein Restaurant, das für sein Sashimi berühmt ist. Ich mache mir auch nicht viel aus rohem Fisch, daher aß ich keinen. Charlotte hatte eine Menge gehört von diesem besonderen Sashimi, der aus irgendeinem verdammten Fisch namens Fugu zubereitet wird. Ich erinnere mich, darüber im Japanischen Kochbuch von Times/Life gelesen zu haben. Teile des Fugu sind so giftig, daß, sobald das Gift durch unsachgemäßes Ausnehmen und Zubereiten mit den eßbaren Teilen in Berührung kommt, der Speisende einfach seine Eßstäbchen fallen läßt und tot zu Boden fällt. Das Gift wirkt innerhalb von Sekunden. Der Fugu muß irgendeine 230
besondere Anziehungskraft haben. Er muß ganz besonders vorzüglich schmecken, nehme ich an, oder alle Japaner, die ein Ritual daraus machen, den Fisch zu essen, spielen bloß eine Art Selbstmordspiel. Ich meine, selbst wenn der Fugu perfekt zubereitet ist, werden Lippen und Zunge des Speisenden taub von der winzigen Menge des vorhandenen Giftes. Die Küchenchefs, die Fugu zubereiten, brauchen eine besondere Lizenz; sie legen Examen ab und haben Ausweise mit ihrem Photo, genau wie die Taxifahrer in New York. Nun. Jedenfalls. Charlotte Der Aufzug blieb stehen, und die Türen öffneten sich. Die Muzak lud Les ein einzutreten. Er stopfte den Brief zurück in seine Tasche; tatsächlich las er ihn nie zu Ende. Er ließ sich auf seine Kissen hinter dem Dusch Vorhang nieder und lauschte einer Melodie, die er erkannte, aber nicht benennen konnte. Er war sehr zufrieden. Seine Mama, obwohl tot, hatte recht. Genauso wichtig war ihm, daß seine Autobahnen recht hatten. Offensichtlich hatte jemand in den oberen Stockwerken auf den Knopf gedrückt, denn die Türen schlossen sich, und der Aufzug begann zu steigen. Les grub sich noch tiefer in seine Kissen ein. Er holte tief Atem und schloß die Augen. „Hör zu“, schien die Muzak zu singen. „Hier spricht deine Mutter.“
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Jerry Pournelle hatte gewonnen. Im Frühjahr 1973 waren die Vornominierungen zusammen mit denen für den Hugo bekanntgegeben worden. Die Wahlen dauerten den ganzen Sommer lang. Am Tag der Arbeit wurde in Toronto das Urteil der Fans und Leser verkündet. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen gewesen, was niemanden verwunderte, denn jeder der beiden Spitzenreiter allein hatte mehr eigene Prosa im Druck als die übrigen vier Kandidaten zusammen. George Alec Effinger erhielt einen Sonderpreis, nachdem er ganz knapp unterlegen war. Und Dr. Jerry Pournelle errang zum erstenmal den John W. Campbell-Preis als bester neuer SF-Schriftsteller. Pournelle war in vieler Hinsicht ein würdiger Sieger, denn er war vielleicht das letzte große, von John W. Campbell jr. entdeckte Talent. Kurz vor seinem Tod hatte Campbell nicht weniger als fünf von Pournelles Erzählungen erworben, und diese Geschichten – sie erschienen zwischen 1971 und 1972 in Campbeils Magazin Analog – waren es, die Pournelle seinen Ruf, eine Hugo-Nominierung und schließlich den Campbell-Preis eintrugen. Dies war sein erster Preis, doch es wird sicherlich nicht der letzte bleiben. Bis heute wurde er fünfmal für den Hugo nominiert, und mit jedem Jahr scheint er neue Nominierungen zu sammeln. Sein bedeutendster Roman, Der Splitter im Auge Gottes, den er in Zusammenarbeit 232
mit Larry Niven schrieb, war, als er Ende 1974 erschien, ein SF-Ereignis ersten Ranges und ist zum jetzigen Zeitpunkt ein aussichtsreicher Anwärter auf den Nebula. Daneben haben weitere Romane ihren Platz, und noch mehr sind im Erscheinen begriffen. Pournelle schreibt immer noch regelmäßig in Analog, und seine Erzählungen über die Kriegsführung der Zukunft schneiden bei allen Leserumfragen des Magazins gut ab. Pournelles Söldner- und Militärgeschichten sind bestens fundiert: Als ehemaliger Soldat der US-Armee in Korea hält er engen Kontakt mit Berufsoffizieren in aller Welt. Ebensoviel versteht er von Wissenschaft und Politik, und er macht sich dieses Wissen für seine Prosa zunutze. Während seiner zehnjährigen Tätigkeit als Raumfahrtwissenschaftler arbeitete er an den Projekten Mercury, Gemini und Apollo mit. Außerdem war er erfolgreich als Leiter politischer Kampagnen und hatte für kurze Zeit das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von Los Angeles inne. Er ist Inhaber akademischer Grade für Psychologie, Betriebswirtschaft und Politikwissenschaften. Damit noch nicht genug, ist er auch noch ehemaliger Präsident der SFWA, des amerikanischen SF-Schriftstellerverbands. Er war ein starker Präsident – das heißt, es finden immer noch Kontroversen über einige Dinge statt, die er getan hat. Als vollberuflicher Schriftsteller seit 1971 beschränkt er sich durchaus nicht auf SF. Zusammen mit Stefan Possony hat er The Strategy of Technology geschrieben, ein im Kriegscollege der USAF verwendetes Lehrbuch, und 233
er schreibt ständig populärwissenschaftliche Beiträge für Galaxy. Wenn er nicht schreibt, ist Pournelle ein enthusiastischer Segler und Sportler. Er lebt mit seiner Frau, vier Söhnen und einem Schlittenhund namens Klondike in Südkalifornien („Im Gegensatz zu den meisten anderen Science Fiction-Schriftstellern“, sagt er, „habe ich keine Katzen!“). Über die folgende Geschichte schreibt Pournelle: „Es war die letzte Geschichte, die Mr. Campbell ablehnte. Er schickte seinen üblichen neun Seiten langen Begründungsbrief mit. Bis jetzt hatte ich nicht das Herz, dieses Ding zu überarbeiten, aber für dieses Buch schien es angebracht, dies zu tun. Ich weiß nicht, ob es John so, wie es jetzt ist, gefallen hätte, aber vieles von seinen Ratschlägen ist darin eingeflossen.“ G. R. R. M.
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Jerry Pournelle
Ungeschriebene Gesetze SILENT LEGES 1 Achttausend junge Körper wanden sich zum Wahnsinnsbeat eines Elektrobasses. Einige tanzten, während andere im Gras lagen und tranken oder rauchten. An der Musik konnte keiner vorbei, auch wenn man den näselnden Tenor kaum wahrnahm, dessen Stimme nicht kräftig genug war, um gegen die schrille Elektronik und die schwirrenden Stahlseiten von einem Dutzend Gitarren anzukommen. Zwischen der Backsteingotik der Universitätsgebäude von Los Angeles war ein graues hölzernes Podium aufgebaut, auf dem andere Gruppen darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Ein paar von den Musikern waren so wild darauf anzufangen, daß sie ihre Instrumente bearbeiteten. Dabei kam nichts Hörbares heraus, weil ihre Verstärker nicht angeschlossen waren, aber dies ermöglichte es ihnen, in die frenetische Festivalbegeisterung auf der Campusgrünfläche einzustimmen. Das Konzert war ein willkommenes Ereignis. Bürger von einer nahe gelegenen Wohlfahrtsinsel schlossen sich den Studenten im Collegepark an. Geschäftstüchtige Händler boten alkoholische Getränke, Gras und Borloi feil. Kantinenwagen schafften Essen heran. Die Daughters of Lilith spielten Originalstücke, während die Slime auf ihren Auftritt warteten, und nach ihnen würden sogar 235
noch bekanntere Gruppen kommen. Eine Atmosphäre von Frieden und Gemeinschaftlichkeit schloß die Menge zusammen. „Lumpenproletariat.“ Eine junge Frau sagte dies. Sie stand am Fenster eines Seminarraums, von dem aus man auf die Grünfläche und das verrückte Schauspiel unten blicken konnte. „Lumpen“, sagte sie erneut. „Ach, laß doch das Bolschigerede! Der Kommunismus ist keine Lösung. Guck dir die Sowjetwelt an …“ „Die verratene Revolution! Verraten!“ sagte das Mädchen. Sie sah ihrem Herausforderer ins Gesicht. „Es wird keinen Frieden und keine Freiheit geben, bis …“ „Schluß damit!“ Der Versammlungsvorsitzende schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wir haben zu tun. Dies ist keine Ideologiestunde.“ „Ohne die richtige revolutionäre Theorie erreicht man gar nichts.“ Dies kam von einem bärtigen Mann in Lederjacke. Er sah erst den Vorsitzenden und dann die zwölf anderen im Seminarraum an. „Erst mal muß das Problem richtig verstanden sein. Dann können wir handeln.“ Der Vorsitzende schlug wieder mit der Faust auf den Tisch, doch jetzt sprach jemand anderes. „Taten, nicht Worte! Wir sind hierhergekommen, um eine Aktion zu planen. Was, zum Teufel, soll das ganze Gerede? Ihr gottverfluchten Theoretiker macht mich krank! Was wir brauchen, ist eine Aktion. Der Untergrund hat mehr für die Bewegung getan, als ihr je …“ „Scheißdreck“, schnaubte der Lederjackenmann verächtlich. Darauf erhob er sich. Seine Stimme war laut und deutlich. „Ihr handelt also. Ihr bringt das L. A.236
Transportsystem für drei Tage zum Erliegen. Wirklich schlau! Und was hat das gebracht? Die Steuerzahler hat es so weit gebracht, Lohnerhöhungen für die Bullen rauszuschinden. Ihr habt den gottverdammten Bullenstreik beendet, das habt ihr getan!“ Es entstand ein allgemeines Stimmengewirr, und der Untergrundsprecher versuchte zu antworten, aber der Lederjackenmann fuhr fort. „Ihr habt Lebensmittelkrawalle in den Bürgerzonen angefangen. Wirklich toll. Was dabei letztlich herausgekommen ist, was ihr dabei rausgeholt habt, war die CoDominium Marineinfanterie! Ihr habt die Mariner da reingebracht, das habt ihr getan!“ „Stimmt genau! Wir haben das Regime als das bloßgestellt, was es wirklich ist! Die Revolution kann nicht eher kommen, als bis das Volk versteht!“ „Die Revolution schmiere ich mir an die Backe. Kriegt’s in eure Köpfe rein, die Technologie ist das einzige, was uns retten wird. Befreit die Technologie, befreit die Wissenschaftler, und wir werden …“ Er wurde von den übrigen niedergeschrien. Wieder redeten alle durcheinander. Mark Fuller saß am Tisch und sog alles in sich hinein. Die wilde Musik draußen. Die Reden von Revolution. Pläne für Aktionen, damit etwas passiert. Das Establishment würde sie schon noch bemerken. Alles war neu, und er war hier in diesem Raum, wo die wirkliche Macht der Universität lag. Mein Gott, wie ich das liebe, dachte er. Nie zuvor habe ich irgendwelche Macht gehabt. Nicht mal über mein eigenes Leben. Und jetzt können wir es ihnen allen zeigen! 237
Er fühlte sieh lebendiger als irgendwann zuvor in den zwanzig Jahren seines Lebens. Er sah auf das Mädchen neben sich und lächelte. Sie lächelte und streichelte seinen Oberschenkel. Spannung stieg in seinen Lenden hoch, bis es fast unerträglich war. Er erinnerte sich an ihre vergangenen Tage und stellte sich ihre zukünftigen vor. Die stille Welt des Steuerzahlerlandes, in dem er aufgewachsen war, schien sehr weit weg. Die anderen setzten die Debatte fort. Mark hörte zu, aber seine Gedanken verirrten sich immer wieder zu Shirley, zur Wärme ihrer Hand auf seinem Schenkel, zu den Stellen, wo ihr Pullover sich spannte, zu dem erinnerten Fühlen ihrer Knie an seinem Rücken und zu ihren Schreien der Leidenschaft. Er wußte, er sollte der Diskussion genauer zuhören. Eigentlich gehörte er überhaupt nicht in diesen Raum. Wenn Shirley ihn nicht mitgenommen hätte, hätte er nicht einmal gewußt, daß diese Versammlung stattfand. Aber ich werde mir meinen Platz hier verdienen, dachte er. Ich ganz allein. Macht. Die haben sie, und ich werde lernen dazuzugehören. Der bejackte Technokratenmann sprach wieder. „Ihr malt zu viele Teufel an die Wand“, sagte er. „Seht zu, daß die CoDominium-Geheimpolizei den Wissenschaftlern vom Pelz rückt, und es werden keine zwanzig Jahre vergehen, bis die ganze Erde ein Paradies ist. Die ganze Erde, nicht nur das Steuerzahlerland.“ „Ein verseuchtes Paradies! Was willst du denn? Zurück in den Smog? Öllachen, tote Fische, ausgerottete Tiere, das ist es, was …“ 238
„Quatsch. Die Technologie bringt uns raus aus …“ „Genau die hat doch das Problem erst aufgebracht!“ „Weil wir nicht weit genug gegangen sind! Seit der gottverdammten Raumfahrt hat es keine neue wissenschaftliche Idee mehr gegeben! Ihr seid so verdammt stolz, weil es keine Verschmutzung gibt. Hier jedenfalls nicht. Aber das kommt nicht von Plaudereien, das kommt daher, daß die Leute ausgeschifft werden, von der Auslese, von …“ „Er hat recht, die Leute hungern, während wir …“ „Stimmt genau! Freie Gedanken, Freiheit zu planen, zu forschen, ohne Zensur zu veröffentlichen, das wird die Welt befreien.“ Die Debatten gingen weiter, bis der Vorsitzende es leid war. Er schlug wieder mit der Faust auf den Tisch. „Wir sind hier, um etwas zu tun“, sagte er. „Nicht, um heute nachmittag die Probleme der Welt zu lösen. Darüber waren wir uns einig.“ Schließlich verebbte das Gerede, und der Vorsitzende sprach bedeutungsvoll: „Dies ist unsere Chance. Eine friedliche Demonstration der Macht. Zeigt ihnen, was wir von ihren gottverdammten Vorschriften und Statuskarten halten. Aber wir müssen vorsichtig sein. Es darf nicht außer Kontrolle geraten.“ Mark räkelte sich ein Dutzend Meter vom Podium im Gras. Er streckte sich genüßlich in der kalifornischen Sonne, während Shirley ihm den Rücken streichelte. Erregung strömte durch all seine Sinne. So hatte er sich das College vorgestellt. Die Jungs an der teuren Privatschule, 239
in die sein Vater ihn geschickt hatte, hatten oft von Festivals, Demonstrationen und Konfrontationen geflüstert, aber das war nicht die Realität gewesen. Jetzt war es wirklich. Er war vorher kaum mit Bürgern zusammengetroffen, und jetzt waren sie überall um ihn herum. Sie trugen Kleidung von der Wohlfahrtsausgabe und redeten in merkwürdigen Dialekten, die Mark nur zur Hälfte verstand. Alle, Bürger und Studenten, wanden sich zur Musik, die sie umbrandete. Marks Vater wollte ihn in ein College im Steuerzahlerland schicken, aber das Geld hatte nicht gereicht. Er hätte ein Stipendium gewinnen können, doch daraus war nichts geworden. Mark redete sich ein, das sei Absicht gewesen. Konkurrenz war kein Leben. Viele seiner Freunde hatten es abgelehnt, bei der Hetzjagd mitzulaufen. Allerdings war keiner von ihnen hier gelandet. Sie hatten das Geld für Princeton oder Yale gehabt. Mehr Bürger strömten herein. Das Festival sollte eigentlich nur für Leute mit Tickets offen sein, und die Bürger durften das Campusgelände eigentlich gar nicht betreten, aber die Studentengruppe hatte die Tore aufgemacht und die Zäune durchtrennt. Es war alles in der Versammlung geplant worden. Jetzt brannte der Torkontrollschuppen, und jeder, der in der Nähe wohnte, konnte hereinkommen. Shirley war ganz aus dem Häuschen. „Sieh sie dir an!“ rief sie. „So war es früher! Die Bürger sollten gehen können, wohin sie wollen. Gleichheit für alle Zeiten!“ Mark lächelte. All dies war neu für ihn. Er hatte sich nie viel Gedanken über die Einteilung in Bürger und 240
Steuerzahler gemacht und seine Privilegien akzeptiert, ohne Notiz davon zu nehmen. Er hatte eine Menge von Shirley und seinen neuen Freunden gelernt, aber es gab noch soviel mehr, was er nicht wußte. Aber ich werde es schon rauskriegen, dachte er. Wir wissen, was wir tun. Wir können die Welt um so vieles besser machen – alles können wir! Für die blöden alten Knochen ist die Zeit zum Abrücken gekommen, damit ein frischer Wind wehen kann. Shirley reichte ihm eine Borloipfeife. Das war auch etwas Neues für ihn; es war ein Brauch bei den Bürgern, etwas, das sein Vater verabscheute. Mark konnte nicht verstehen, warum. Er zog den Rauch tief ein und genoß die Welle des Wohlbehagens, die er erzeugte. Dann wandte er sich Shirley zu und hielt sie in der Wärme seiner Zuneigung und Liebe. Er wußte, sie war ebenso glücklich wie er. Sie lächelte ihn freundlich an, und sie wiegten sich zu der Musik, der Beat hämmerte, ihre Gesichter glühten vor Erwartung dessen, was kommen würde, was sie an diesem Tag vollbringen würden. Die Pfeife kam wieder herum, und Mark griff begierig danach. „Die Bullen! Die Bullen kommen!“ Der Ruf kam vom äußeren Rand der Menge. Shirley drehte sich ihren Begleitern zu. „Bleibt nur hier. Provoziert die Schweine nicht. Seht zu, daß ihr nichts weiter macht, als still dazusitzen.“ Beipflichtendes Gemurmel. Mark spürte, wie ihn eine Welle von Erregung durchfuhr. Jetzt war es soweit. Und 241
er war ganz vorne bei den Anführern; selbst wenn sein ganzer Status daher rührte, daß er Shirleys derzeitiger Freund war, so war er doch einer von den Anführern, einer von den Leuten, die was losmachten … Die Polizisten versuchten durch die Menge zu kommen, das Festival zu stoppen. Der Universitätspräsident war bei ihnen und rief etwas, das Mark nicht verstehen konnte. Weiter drüben am Rand der Grünanlage war eine Menge Rauch. Brannte ein Gebäude? Das war unsinnig. Es sollte keine Brände geben, nichts sollte beschädigt werden; einfach die Bullen ignorieren und die Leute von der Universität, zeigen, wie Bürger und Studenten friedlich beisammensein konnten, zeigen, wie dumm die verdammten Vorschriften waren. Da war ein Feuer. Vielleicht mehr als eins. Polizei und Feuerwehr versuchten durch die Menge zu kommen. Jemand trat nach einem Bullen, und der Blaue ging zu Boden. Ein Dutzend seiner Kumpel pferchte sich in die Menge. Ihre Stöcke gingen auf und nieder. Der friedliche Traum verflog. Mark starrte verwirrt. Irgendwo schrie ein Mann, wo war er? In dem brennenden Gebäude? Eine Gruppe fing zu singen an: „Gleichheit jetzt! Gleichheit jetzt!“ Eine andere Gruppe baute eine Barrikade quer über die Grünfläche. „Das dürfen sie nicht!“ rief Mark. Shirley grinste ihn an. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung. Mehr Polizei rückte an, dann noch mehr, und eine Gruppe kam auf Mark zu. Sie hoben Aluminiumschilde hoch, als Steine über den Rasen flogen. Die Polizei rückte näher. Einer der Bullen hob seinen Schlagstock. 242
Er war drauf und dran, auf Shirley einzuschlagen! Mark langte nach dem Gummiknüppel und lenkte ihn ab. Bürger und Studenten drängten sich heran. Ein paar warfen sich auf die Bullen. Ein kräftiger Mann, gut angezogen, zu alt für einen Studenten, trat nach dem Polizisten an der Spitze. Der Bulle ging zu Boden. Mark zerrte Shirley fort, während ein Dutzend schwarzbejackte Lampenbrenner sich in das Gemenge mischten. Die Lampenbrenner würden sich um die Bullen kümmern, doch Mark wollte nicht zusehen. Die Jungs in seiner Schule hatten voll Verachtung von Bullen geredet, aber der einzige Polizist, dem Mark je begegnet war, war höflich und respektvoll gewesen. Dies war häßlich, und … Sein Kopf war völlig durcheinander. Vor einer Minute noch hatte er in Shirleys Armen gelegen, mit Musik und Gemeinsamkeit und allem, und alles war wunderbar gewesen. Jetzt war da Polizei, und Gruppen schrien: „Bringt die Bullen um!“, und Feuer brannten. Die Lampenbrenner waren überall. Sie waren nicht in der Versammlung gewesen. Die meisten behaupteten, von der Polizei gesucht zu werden. Aber sie hatten einen Vertreter bei der Planungssitzung gehabt, sie hatten zugestimmt, daß dies eine friedliche Demonstration sein sollte. Ein Mann sprang vom Dach des brennenden Hauses. Niemand stand unten, um ihn aufzufangen, und er prallte auf die Stufen wie eine zerbrochene Puppe. Blut floß aus seinem Mund, ein hellrotes Gespritze auf den rosa Marmorstufen. Aus einem anderen Gebäude schossen Flammen himmelwärts. Mehr Polizei kam an und baute elekt243
rische Barrieren rund um die Menge. Einer in Zivil, dessen helle Kleidung sich gegen das trübe Polizeiblau abhob, stieg aus einem Streifenwagen und dann auf ihn hinauf, während Polizisten ihre Schilde vor ihn hielten. Er fing an, durch ein Sprachrohr zu rufen: „ICH VERLESE IHNEN DIE ABGEÄNDERTE VERFÜGUNG VON 1991. WENN EINE VERSAMMLUNG ABGEHALTEN WIRD, DIE ÖFFENTLICHEN ODER PRIVATEN BESITZ ZU GEFÄHRDEN DROHT ODER DAS LEBEN VON BÜRGERN UND STEUERZAHLERN, SIND DIE GESETZLICHEN KRÄFTE DAZU ANGEHALTEN, DAFÜR ZU SORGEN, DAß ALLE VERSAMMELTEN PERSONEN AUSEINANDERGEHEN, UND SIE ZU WARNEN, DAß DIE UNTERLASSUNG ALS REBELLIONSERKLÄRUNG ANGESEHEN WIRD. DIE GESETZLICHEN KRÄFTE GEBEN GENÜGEND ZEIT …“ Mark kannte die Bestimmung. Er hatte miterlebt, wie sie in der Schule diskutiert worden war. Es wurde Zeit, sich davonzumachen. Der örtliche Bürgermeister würde bald mehr als genügend Machtbefugnis haben, sich mit dieser verrückten Szene zu beschäftigen. Er könnte sogar Militär von den US oder dem CoDominium zu Hilfe rufen. Die Barrieren waren an zwei Seiten der Grünfläche aufgestellt, aber die Bullen hatten nicht alle Gebäude abgeschlossen. Nach vorn hin war ein Durchgang, und Mark zog Shirley in diese Richtung. „Los, komm!“ Shirley wollte nicht kommen. Sie stand trotzig da, wild grinsend, schüttelte die Faust gegen die Polizisten und rief ihnen Schmähungen zu. Dann wandte sie sich Mark zu. „Wenn du Angst hast, geh nur weiter, Baby, hau ab.“ 244
Jemand reichte eine Flasche herum. Shirley trank und gab sie Mark. Er hob sie an die Lippen, trank aber nichts. Sein Kopf hämmerte, und er fürchtete sich. Ich sollte weglaufen, dachte er. Ich sollte rennen wie der Teufel. Der Bürgermeister ist fertig mit der Verlesung der Verfügung … „GLEICHHEIT JETZT! GLEICHHEIT JETZT!“ Das Skandieren war ansteckend. Die Hälfte der Anwesenden machte mit. Die Polizei wartete unbewegt. Ein Offizier blickte von Zeit zu Zeit auf seine Uhr. Dann nickte der Offizier, und die Polizei rückte vor. Vier Techniker holten Schläuche aus einem der Streifenwagen und richteten Ströme von Schaum über die Köpfe der vorrückenden blauen Linie. Die schleimige Flüssigkeit fiel in einem Sprühregen rund um Mark herab. Mark fiel hin. Er versuchte aufzustehen und konnte es nicht. Alle um ihn herum fielen hin. Alles, was mit der Flüssigkeit in Berührung kam, wurde so glitschig, daß keiner mehr Halt finden konnte. Die Polizei schien es nicht zu behindern. Instant-Bananenschale, dachte Mark. Er hatte im Tri-V gesehen, wie es angewendet wurde. Alle hatten gelacht, als sie das im Tri-V sahen. Jetzt kam es einem nicht so lustig vor. Ein paar Versuche zeigten Mark, daß er nicht von der Stelle kam. Kaum kriechen konnte er. Die Polizei kam schnell näher auf ihn zu. Steine und Flaschen klirrten gegen ihre Schilde. Die schwarzbejackten Lampenbrenner holten Sprühdosen aus ihren Taschen. Sie besprühten ihre Schuhe und 245
Hände, dann standen sie auf. Sie machten sich durch die hilflose Menge auf und davon, weg von der Polizei in Richtung auf ein leeres Gebäude. Die Polizeilinie erreichte die Gruppe um Mark. Die Bullen spielten mit ihren Schlagstöcken. Sie sprachen leise miteinander, zu leise, um aus nächster Entfernung verstanden zu werden. „Zeit für die Stöcke“, meinte einer. „Ja, jetzt sind wir dran“, antwortete sein Gesprächspartner. „Hat hier jemand Anspruch auf den Steuerzahlerstatus?“ Der Bulle musterte kalt die Gruppe. „Melden.“ „Ja. Hier.“ Ein Junge versuchte aufzustehen. Er fiel wieder hin, hielt aber seinen Personalausweis hoch. „Hier.“ Mark suchte nach seinem. „Verräter!“ schrie Shirley. Sie warf etwas auf den anderen Jungen. „Heuchler! Schwein! Verräter!“ Auch andere schrien mit. Mark sah Shirleys haßerfüllten Blick und steckte seinen Ausweis wieder in die Tasche. Später würde es noch Zeit genug geben. Zwei Polizisten griffen sich ihn. Einer hob seine Füße hoch, der andere nahm ihn bei den Schultern. Als er etwa zwei Fuß vom Boden weg war, ließ der an seinen Schultern los. Das letzte, was Mark hörte, als sein Kopf auf das Pflaster schlug, war das spöttische Gelächter des Bullen. Der Justizbeamte war grotesk mit seinem Schnurrbart wie Wyatt Earp und seinem enormen Wanst, der ihm über den Uniformgürtel hing. Mit gelangweilter Stimme las er: „Fall 457-984. Das Volk gegen Mark Fuller. Rebellion, schwere Bedrohung, Widerstand bei der Festnahme.“ 246
Der Richter sah von seinem Tisch herunter. „Wie bekennen Sie sich?“ „Schuldig, Euer Ehren“, sagte Marks Anwalt. Sein Name war Zower, und er war nicht teuer. Marks Vater konnte sich keinen teuren Anwalt leisten. Aber ich habe mich nicht schuldig bekannt, dachte Mark. Ich habe es nicht. Als er das allerdings vorher gesagt hatte, war der Verteidiger voll Verachtung gewesen. „Halt den Mund, sonst machst du es noch schlimmer“, hatte der Anwalt gesagt. „Ich hatte Mühe genug, die Verschwörungsklage vom Tisch zu bekommen. Stell dich hin, mach ein unschuldiges Gesicht, und sag keinen gottverdammten Ton.“ Der Richter nickte. „Haben Sie irgendwelche mildernden Umstände anzuführen?“ Zower legte eine Hand auf Marks Schulter. „Mein Mandant vertraut ganz auf die Gnade des Gerichts“, sagte er. „Mark hat bisher nie in dummen Geschichten gesteckt. Er stand unter dem Einfluß übler Kumpane und Rauschmittel. Es war kein wirklicher Vorsatz vorhanden, Verbrechen zu begehen.“ Der Richter sah nicht beeindruckt aus. „Was hat das Volk hierzu zu sagen?“ „Euer Ehren“, begann der Staatsanwalt, „das Volk ist dieser Studentenunruhen mehr als überdrüssig. Dies hier war kein Gag übermütiger junger Steuerzahler. Das war vorsätzliche Rebellion, im voraus geplant. Wir verfügen über Aufzeichnungen, die zeigen, wie dieser Rowdy einen Polizeioffizier schlägt. In der Folge war der Offizier das Opfer gefährlicher Schläge mit drei 247
Frakturen, einem Nierenriß und weiteren Verletzungen. Es ist ein Wunder, daß der Offizier noch am Leben ist. Wir können weiterhin zeigen, daß der Angeklagte nach der Proklamation des Bürgermeisters keinen Versuch gemacht hat, das Gelände zu verlassen. Falls die Verteidigung diese Tatsachen bestreitet …“ „Nein, nein“, sagte Zower hastig. „Wir machen daraus keinen Streitpunkt, Euer Ehren,“ Er brummelte sich etwas in den Bart, gerade laut genug, daß Mark es verstehen konnte. „Darauf kann ich sie nicht herumreiten lassen. Das würde den Richter erst richtig hochbringen.“ Zower stand auf. „Euer Ehren, wir streiten nicht über Marks mangelnde Urteilskraft, aber bedenken Sie, daß er unter dem Einfluß von Rauschmitteln stand. Er war mit neuen Freunden zusammen, Freunden, die er nicht sehr gut kannte. Sein Vater ist ein geachteter Steuerzahler, Angestellter der General Fords in Santa Maria. Mark ist nie vorher festgenommen worden. Ich bin sicher, diese ganze Sache war ihm eine Lehre.“ Und wo ist Shirley, fragte sich Mark. Irgendwie hatte ihr Politiker-Vater erreicht, daß sie nicht einmal angeklagt worden war. Der Richter nickte. Zower lächelte und flüsterte Mark zu: „Ich bin ihm schön um den Bart gegangen in der nichtöffentlichen Sitzung. Wir werden Bewährung kriegen.“ „Mister Fuller, was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“ fragte der Richter. Mark stand eilfertig auf. Er wußte nicht genau, was er sagen würde. Flehen? Um Gnade bitten? Ihm sagen, er 248
solle es dabei belassen? Nicht das. Mark atmete heftig. Ich habe Angst, dachte er. Er ging unsicher auf den Tisch zu. Das Gesicht des Richters explodierte in einer roten Wolke. Im Saal gab es wildes Gelächter. Und noch ein Ballon mit roter Tinte segelte quer durch den Gerichtssaal und zerplatzte auf dem hohen Tisch. Mark lachte hysterisch, völlig außer Kontrolle, während die Zuschauer brüllten. „GLEICHHEIT JETZT!“ Der Chor von acht Stimmen übertönte das Durcheinander. „GERECHTIGKEIT! GLEICHHEIT! BÜRGERRICHTER, NICHT STEUERZAHLER! GLEICHHEIT JETZT! GLEICHHEIT JETZT! GLEICHHEIT JETZT! ALLE MACHT DER BEFREIUNGSPARTEI!“ Letzteres schlug ein wie eine Bombe. Das Gesicht des Richters wurde noch röter. Er stand wutentbrannt auf. Der dicke Gerichtsdiener und seine Begleiter bahnten sich entschlossen einen Weg durch die Menge. Zwei der Demonstranten flohen, aber der Gerichtsdiener war erheblich schneller, als seine Leibesfülle vermuten ließ. Einige Zeit später war es wieder still im Gerichtssaal. Der Richter stand da voll Tinte, die ihm vom Gesicht und von der Robe tropfte. Er lächelte nicht. „Das amüsiert Sie?“ fragte er. „NEIN“, sagte Mark. „Ich kann nichts dafür!“ „Ich glaube nicht, daß die verbotene Befreiungspartei sich für jemanden bemühen würde, der nicht einer der ihren ist. Mark Fuller, Sie haben sich schwerer Verbrechen für schuldig bekannt. Unter normalen Umständen würden wir den Sohn eines Steuerzahlers in eine Rehabi249
litationsschule schicken, aber Sie und Ihre Freunde haben Gleichheit gefordert. Sehr gut. Die werden Sie bekommen. Mark Fuller, ich verurteile Sie zu drei Jahren verschärfter Zwangsarbeit. Da Sie Ihrer Staatstreue zu den Vereinigten Staaten Abbruch getan haben durch Teilnahme an einer vorsätzlichen Rebellion, wobei diese Teilnahme laut Ihrem Anwalt noch dadurch bekräftigt wird, daß Sie keine Absicht zeigten, die Versammlung nach der Proklamationsverlesung zu verlassen, haben Sie das Recht auf Ansprüche gegenüber den Vereinigten Staaten verloren. Die Vereinigten Staaten verbannen Sie. Hiermit wird angeordnet, daß Sie den CoDominiumBehörden zwecks Urteilsvollstreckung übergeben werden, und dies an einem ihr angemessen scheinenden Ort.“ Der Hammer fiel auf den Tisch nieder. Ganz und gar nicht laut. 2 Die geringe Schwerkraft der Luna-Basis war besser zu ertragen als der endlose Alptraum des Hinflugs. Er war in ein enges Abteil geklemmt gewesen, dessen Schlafstellen so dicht übereinander lagen, daß sich bei hoher Beschleunigung die durchhängende Koje von oben gegen ihn drückte. Das Schiff hatte ekelhaft nach Erbrochenem und abgestandenem Wein gestunken. Jetzt stand er in einem grell erleuchteten nackten Raum aus Beton. Der Beton war graugrün wie das Mondgestein. Es gab keine Aussicht nach draußen, und 250
von der geringeren Schwerkraft einmal abgesehen, hätte er sich ebensogut in einem Keller auf der Erde befinden können. Tausend andere standen mit ihm in dem grellen, fluoreszierenden Licht. Die meisten hatten den stumpfen Blick des Entsetzens in den Augen. Ein paar starrten trotzig vor sich hin, doch behielten sie ihre Meinung für sich. Im Raum patrouillierten Aufseher in grauen Anzügen und mit glockenförmigen Sono-Betäubern. Ihnen die Waffen wegzunehmen hätte sich allerdings nicht gelohnt: An jedem Eingang wimmelte es von CoDominiumMarineinfanteristen in Blau und Hellrot. Sie lehnten lässig auf Waffen, die alles andere als harmlos waren. „Uns auseinanderbringen“, sagte Marks Begleiter. „Teile und herrsche.“ Mark nickte. Bill Halpern war der einzige, den Mark kannte. Halpern war der Technokratensprecher in der Campusversammlung gewesen. „Teile und herrsche“, sagte Halpern noch einmal. Und so war es in der Tat. Die Gefangenen waren nach Geschlecht, Rasse und Sprache aufgeteilt worden, so daß rund um Mark alle weiß, männlich und entweder Nordamerikaner oder anderweitig englischsprachig waren. „Worauf, zum Teufel, warten wir hier?“ Halpern stellte sich diese Frage, auf die es keine Antwort gab, und es schien ihnen, als stünden sie schon seit Stunden. Dann gingen die Türen auf, und eine kleine Gruppe kam herein. Drei Unteroffiziere der CoDominium-Marine und ein Oberfähnrich, der nicht älter als siebzehn war, jünger als Mark. Er sprach durch einen Lautsprecher zu der versammelten Gruppe. „Freiwillige für die Marine?“ 251
Ein paar Rufe kamen, und einige Gefangene traten vor. „Verräter“, sagte Halpern. Mark nickte zustimmend. Allerdings meinte er es nicht ganz so wie Halpern. Marks Vater hatte das auch immer gesagt. „Verräter!“ hatte er gepoltert. „Fallen auf diese verdammten Sowjets rein. Eines Tages wird diese Marine die Macht in diesem Land übernehmen und uns an den Kreml ausliefern.“ Marks Lehrer in der Schule hatten da andere Vorstellungen. Die Marine brauchte man nicht. Auch das CD nicht. Die Menschen machten keinen Krieg mehr, jedenfalls nicht auf der Erde. Die Querelen in den Kolonien interessierten auf der Erde sowieso niemanden. Das Militär war eine überflüssige Spielerei, so hatte man ihm gesagt. Seine neuen Freunde im College hatten gesagt, der Zweck des CoDominium sei es, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion reich bleiben zu lassen und alle anderen zu unterdrücken. Später hatte man angefangen, die CD-Flotte und die Marineinfanterie zur Unterstützung der Binnenregierungen einzusetzen. Das ganze CD war nichts weiter als ein Teil einer Unterdrückungsmaschinerie. Und dennoch – im Tri-V war die CD-Marine herrlich. Sie bekämpfte Piraten (nur wußte Mark, daß es in Wirklichkeit keine Raumpiraten gab), sorgte für Ordnung in den Kolonien (nur hatten seine College-Freunde ihm erzählt, daß das nichts mit Ordnung, sondern nur mit Unterdrückung freier Menschen zu tun hatte). Die Raumfahrer trugen Uniformen und erforschten neue Planeten. 252
Der CD-Fähnrich ging die Reihe der Gefangenen entlang. Zwei ältere Unteroffiziere gingen hinterher. Sie hatten eine stolze Art dabei – eine verächtliche sogar. Für sie waren die Gefangenen wie eine andere Rasse, nicht im geringsten so etwas wie Mitmenschen. Ein Gefangener in Marks Nähe trat aus der Reihe. „Mister Blaine“, sagte der Mann. „Bitte, Sir.“ Der Fähnrich hielt an. „Ja?“ „Kennen Sie mich nicht mehr, Mister Blaine? Able Spacer Johnson, Sir. In Mister Learys Division bei Magog.“ Der Fähnrich nickte gravitätisch wie ein Siebzehnjähriger es tut, der um seine bedeutsamen Aufgaben weiß. „Ich erinnere mich an Sie, Johnson.“ „Lassen Sie mich wieder rein, Sir. Sechs Jahre hab’ ich gedient, keine Drückebergergeschichten.“ Der Fähnrich zog Papiere aus seinem Block und fuhr mit dem Finger eine Liste entlang. „Trunkenheit und Aufrührerei, tätlicher Angriff auf einen Steuerzahler, bewaffneter Überfall, zum drittenmal straffällig. Zwangsüberführung. Mich wundert nicht, daß Sie die Marine vorziehen, Johnson.“ „Aber nein doch, Sir. Ich hätte nie im Leben mein Ausmusterungsgeld nehmen sollen. Nie von der Flotte weggehen sollen, Sir. Konnte mich im Zivilleben nicht zurechtfinden, Sir. Ich hab’ weiß Gott zuviel getrunken, aber im Dienst war ich nie betrunken, Sir, gucken Sie in meinen Papieren nach …“ „Kriech dem Fähnrich doch gleich in den Hintern, du Jammerarschloch“, sagte Halpern. 253
Einer der Unteroffiziere blickte auf. „Ruhe in den Reihen.“ Er legte die Hand auf seinen Schlagstock und fixierte Halpern. Der Fähnrich dachte einen Augenblick lang nach. „In Ordnung, Johnson. Sie kommen als Leichtmatrose rein. Den Streifen müssen Sie sich erarbeiten.“ „Ja, Sir, na klar, Sir.“ Johnson machte sich zu dem Teil auf, der für die Rekruten vorgesehen war. Mit jedem Schritt änderte sich seine Gehweise. Zuerst kroch er dahin, doch am Ende des Raumes hatte er sich gestrafft und ging aufrecht. Der Fähnrich setzte seinen Gang die Reihe entlang fort. Zwanzig meldeten sich, aber er nahm nur drei. Eine Stunde später kam ein CoDominium-Feldwebel und suchte Männer. „Keine Rebellen und keine Entarteten!“ sagte er. Er wählte sechs junge Männer, verurteilt wegen öffentlichen Randalierens, Brandstiftung, schwerer Körperverletzung, Widerstands bei der Verhaftung, tätlichen Angriffs auf die Polizei und einer Reihe weiterer Delikte. „Straßenbande“, sagte Halpern. „Wie geschaffen als Mariner.“ Schließlich trieb man sie wieder in einen Bunker und überließ sie sich selbst. „Du hast wirklich einen Haß auf das CD, oder?“ fragte Mark seinen Begleiter. „Ich hab’ einen Haß auf das, was sie tun.“ Mark nickte, doch Halpern hatte nur ein Hohnlächeln für ihn. „Du hast doch keine Ahnung von irgendwas“, sagte Halpern. „Unterdrückung? Aufrührer erschießen? 254
Klar, das macht das CD auch, aber das ist nicht das schlimmste. Symptom, nicht Ursache. Die Ursache ist ihr gottverfluchter sogenannter Nachrichtendienst. Unterdrückung wissenschaftlicher Forschungsarbeit. Zensur technischer Zeitschriften. Sie haben sogar dem Anschein elementarer Forschung ein Ende gemacht. Wann hat denn ein anerkannter Physiker zuletzt eine vernünftige Idee gehabt?“ Mark zuckte mit den Schultern. Von Physik hatte er keine Ahnung. Halpern grinste ohne die geringste Spur von Wärme. Seine Stimme klang schneidend. „Den Frieden erhalten, sagen sie. Nur neue Waffenentwicklung hemmen, neue Militärtechnologie. Scheißdreck, alles haben sie abgewürgt aus Angst, einer könnte mit was …“ „Halt die Fresse.“ Der Mann war groß, behaart wie ein Bär, mit einem dicken Wanst, der über den Gürtel seines Anzugs ragte. „Wenn ich dies gottverdammte Gejammer noch einmal höre, schlag’ ich dir den gottverdammten Schädel ein.“ „He, mach’s mal halblang“, sagte Halpern. „Wir sitzen hier alle drin. Wir müssen uns gegen den Klassenfeind zusammenschließen …“ Die Hand des Großen holte ohne Vorwarnung aus. Er schlug Halpern auf den Mund. Halpern strauchelte und fiel hin. Sein Kopf schlug auf den Betonboden. „Hab’ dir gesagt, sollst’s Maul halten.“ Er drehte sich zu Mark um. „Wolltest du was sagen?“ Mark packte das Entsetzen. Ich müßte was unternehmen, dachte er. Was sagen. Irgendwas. Er versuchte, et255
was zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Der Große grinste ihn an, dann trat er Halpern voll in die Rippen. „Dachte ich mir. He, du siehst gar nicht übel aus, Kleiner. Sechs Monate werden wir in diesem gottverdammten Schiff sein, ohne Frauen. Du kannst meine Koje teilen. Ich kümmere mich um dich, paß auf, daß keiner dir was tut. Das wird dir gefallen.“ „Laß den Kleinen in Ruhe.“ Mark konnte nicht sehen, wer das sagte. „Laß ihn, hab’ ich gesagt.“ „Wer sagt das?“ Der Behaarte schob Mark an die Wand und drehte sich dem Neuankömmling zu. „Ich.“ Der Neue sah nach nichts Besonderem aus, dachte Mark. Mindestens vierzig und schmal. Aber auch nicht dünn, wie Mark bemerkte. Der Mann stand da, mit den Händen in die Anzugtaschen gegraben. „Laß ihn in Ruhe, Karper.“ Karper grinste und griff den Neuen an. Als er sich nach vorn warf, wirbelte sein Gegner herum und trat nach Karpers Kopf. Karper taumelte zurück, und schon knallte sein Kopf, von zwei neuen Fußtritten getroffen, an die Wand. Darauf ging der Neue vor und stieß Karper voll mit dem Knie in die Nieren. Der Große fiel um und rollte neben Halpern. „Los, komm, Kleiner, hier stinkt’s.“ Er grinste Mark an. „Aber mein Kumpel …“ „Vergiß ihn.“ Der Mann zeigte auf fünf Aufseher. Sie kamen gerade herein. Sie hoben Halpern und Karper hoch und trugen sie fort. Einer der Aufseher zwinkerte, als sie an Mark und dem anderen vorbeikamen. „Verstehst du? Vielleicht siehst du deinen Freund wieder, 256
vielleicht auch nicht. Sie mögen Leute nicht, die Ärger machen.“ „Bill macht keinen Ärger! Der andere hat angefangen! Das ist nicht fair!“ „Kleiner, das Wort ‚fair’ solltest du lieber vergessen. Das könnte dir eine Menge Ärger einhandeln. Haste was zu rauchen?“ Mit einem Blick auf die Marke nahm er von Mark die Zigarette. „Danke. Und wie heißt du?“ „Mark Fuller.“ „Dugan. Kannst Biff zu mir sagen.“ „Danke, Biff. Ich glaube, ich konnte Hilfe brauchen.“ „Das kann man wohl sagen. Teufel, das hat mir Spaß gemacht. Karper ging mir sowieso auf die Nerven. Wie alt bist du, Kleiner?“ „Zwanzig.“ Und was will er? Herrgott, sucht er auch nach einem Kojengenossen? „Wie zwanzig siehst du nicht aus. Steuerzahler, oder?“ „Ja – woher weißt du das?“ „Sieht man. Wie gerät ein Steuerzahlersohn hierher?“ Mark erzählte. „Es war nicht fair“, sagte er zum Schluß. „Wieder dieses Wort. Du warst im College, was? Kannst du lesen?“ „Ja natürlich, jeder kann doch lesen.“ Dugan lachte. „Ich kann’s nicht. Nicht sehr gut. Und ich wette, du bist der einzige in diesem Bunker, der je ein ganzes Buch gelesen hat. Wo hast du’s gelernt?“ „Na, in der Schule. Ein bißchen zu Hause vielleicht.“ Dugan blies einen Ring aus Rauch. Er hing zwischen ihnen in der Luft. „Ich hab’ nie ein Buch aus der Nähe 257
gesehen, bis man mich zur Schule geschleift hat, und keiner hat sich drum gekümmert, ob wir die Dinger lasen oder nicht. Ein paar Sachen mußte man schon behalten, aber … Hör mal, vielleicht weißt du ein paar Sachen, die ich nicht weiß. Wie wär’s, wenn wir eine Weile zusammenblieben?“ Mark musterte ihn mißtrauisch; Dugan lachte. „Zum Teufel, ich treib’s nicht mit kleinen Jungs. Wenigstens nicht, solange man mich nicht wesentlich länger einsperrt als hier. Aber einen Kumpel braucht man schon, und du hast deinen verloren.“ „Ja, okay. Willst du noch eine Zigarette?“ „Besser, wir heben sie auf. Wir werden alle brauchen, die du hast.“ Die Bunkertür ging auf, und ein Unteroffizier rief: „Einteilung. Hier raus.“ „Das ging ja schnell“, sagte Dugan. „Los, komm.“ Sie gingen hinter den anderen her durch einen langen Gang bis zu einem anderen großen Raum. An dessen Ende standen Tische. Hinter jedem Tisch saß ein Aufseher. Nach einer Weile standen Mark und Dugan vor einem von ihnen. Der Aufseher sah sie kaum an. Sie sagten ihre Namen, und er gab diese in ein Gerät auf dem Tisch ein. Die Druckmaschine klickte ein paarmal leise und warf zwei Blätter Papier aus. „Irgendwelche Wünsche?“ fragte der Aufseher. „Was steht denn an, Kamerad?“ fragte Dugan. „Ich bin nicht dein Kamerad“, versetzte der Aufseher. „Tanith, Sparta und Fulsons Welt.“ 258
Dugan schüttelte sich. „Na, Fulsons Welt wollen wir ganz bestimmt nicht.“ Er langte in Marks Tasche, zog die Zigarettenschachtel heraus und legte sie auf den Tisch. Sie verschwand im Anzug des Aufsehers. „Fulsons nicht“, sagte der Kalfakter. „Nun, in Sparta soll man die Gefangenen frei rumlaufen lassen, habe ich gehört.“ Mehr sagte er nicht, besah sie sich aber genau. Mark erinnerte sich, daß Sparta von einer Gruppe Intellektueller gegründet worden war. Sie machten eine Art soziales Experiment. Im Gegensatz zu Tanith mit seinem CoDominium-Gouverneur war Sparta mehr oder weniger unabhängig. Dort würden sie eine bessere Chance haben. „Wir nehmen Sparta“, sagte Mark. „Sparta ist ziemlich beliebt“, sagte der Aufseher. Er ließ erwartungsvoll einen Moment verstreichen. „Tja, nichts zu machen.“ Er kritzelte „Tanith“ auf ihre Papiere und reichte sie herüber. „Weitergehen.“ Ein Unteroffizier winkte sie durch eine Tür hinter dem Tisch. „Wir wollten aber Sparta“, protestierte Mark. „Macht, daß ihr hier rauskommt“, sagte der Unteroffizier. „Macht schon.“ Dann war es bereits zu spät, und sie waren durch die Tür hinaus. „Wenn ich nur ein paar Scheine bei mir gehabt hätte“, brummelte Dugan. „Immerhin haben wir uns Fulsons vom Hals geschafft. Das ist schon was wert.“ „Aber – ich habe etwas Geld. Ich wußte nicht …“ Dugan sah ihn seltsam an. „Kleiner, dir hat man nicht viel beigebracht in deiner Schule. Na, komm, wir werden schon zurechtkommen. Aber vielleicht sollte ich lieber auf das Geld aufpassen.“ 259
Die CDSS Wladiwostok raste in Richtung Jupiterumlaufbahn. Der umgebaute Truppenangriffstransporter war vollgestopft mit Tausenden von Männern, in provisorische Kojen gepfercht, eingeschweißt in die Truppenbuchten. Die Zahl der Männer war größer als die der Kojen; viele der Gefangenen mußten die Hälfte der Zeit über schachern. Dugan belegte eine Ecke mit Beschlag. Ecken waren begehrte Plätze, und zwei Männer wollten ihm den Platz streitig machen. Nachdem man beide fortgetragen hatte, hielt es keiner mehr für sinnvoll, das gleiche zu versuchen. Biff verwendete Marks Geld zur Finanzierung eines Würfelspiels rund um ihre Kojen, und innerhalb weniger Tage hatte ihr Kapital sich verdreifacht. „Wirklich zu schade“, sagte Dugan. „Wenn wir auf Luna soviel gehabt hätten, wären wir jetzt nach Sparta unterwegs. Jedenfalls haben wir uns den Weg in dieses Schiff erkauft, und das ist auch schon was wert.“ Er quittierte Marks Schweigen mit einem Grinsen. „He, Kleiner, es könnte viel schlimmer sein. Wir hätten beim USB landen können. Du meinst vielleicht, das Marineschiff ist übel, dann versuch’s mal mit einem USB-Höllengefährt.“ Mark fragte sich, wie es möglich sein konnte, daß Umsiedlungsbüroschiffe schlimmer waren, aber herausfinden wollte er das nicht. Die Nachrichtenstellen auf der Erde hatten Sonderberichte über das USB. Darin hieß es immer, die Bedingungen seien hart, aber erträglich. Auch von Ruhm war darin die Rede: Die Menschheit besiedelt andere Welten in anderen Sternsystemen. Mark merkte im Moment nichts von Ruhm. 260
Zu Hause würde Zower Berufung einlegen. Oder zumindest seinem Vater eine Berufung in Rechnung stellen. Was soll’s, dachte Mark. Nichts würde dabei herauskommen. Oder vielleicht doch? Jason Fuller hatte einige politische Verbindungen. Er könnte ein paar Hebel in Bewegung setzen. Innerhalb eines Jahres könnte Mark auf dem Weg nach Hause sein. Er wußte es besser, aber sonst gab es keine Hoffnung. Sein Leben war ein einziges Elend, in dem er bei geringer Schwerkraft infolge niedriger Umdrehung, pappigem Essen und dem ständigen Gestank der anderen Häftlinge vor sich hinbrütete. Das war alles schlimm, aber am schlimmsten war das Wasser. Er wußte, es war wiederaufbereitetes Wasser. Auch auf der Erde wurde das Wasser wiederaufbereitet, aber da dachte man nicht daran, wie es zuvor dazu benutzt worden war, die stinkenden Wunden des Mannes zwei Abteilungen weiter in Richtung Steuerbord auszuwaschen. Manchmal kam es vor, daß ein Häftling schreiend durch das Abteil raste, Kojen zerschmetterte und seine Mitgefangenen wie Streichhölzer durch die Gegend warf, bis ihn ein Dutzend Männer zu Boden schlugen und die Wärter ihn schließlich abtransportierten. Keiner von ihnen kam je zurück, keiner von ihnen. Das Schiff erreichte die Jupiterumlaufbahn und tankte an den eigens wartenden Tankschiffen, dann setzte es sich in Richtung auf den gestaltlosen Punkt im Raum in Bewegung, der den Alderson-Sprung-Korridor markierte. Die Warnanlagen lärmten, dann verschwand alles im Nebel. Sie saßen auf ihren Kojen und waren so durcheinan261
der, daß sie weder denken noch sich rühren konnten. Das dauerte weit über den eigentlichen Sprungmoment hinaus an. Das Schiff hatte in einem einzigen Moment Lichtjahre zurückgelegt. Jetzt hatten sie das Schwerkraftfeld eines weiteren Sterns hinter sich zu bringen, dann würden sie am nächsten Sprungpunkt ankommen. Zwei Wochen später kam ein Unteroffizier in das Abteil. „Zwei Männer zum Saubermachen im Mannschaftsteil. Es gibt Navy-Futter. Freiwillige?“ „Klar“, sagte Dugan. „Mein Kumpel und ich. Irgend jemand was dagegen?“ Keiner meldete sich. Der Unteroffizier grinste. „Sieht so aus, als wärt ihr gewählt.“ Er führte sie durch Korridore und Gänge zum vorderen Schiffsteil, wo sie zum Schottenschrubben eingeteilt wurden. Ein gelangweilter Marineinfanterist hielt träge Wache. „Hast du nicht gesagt, man solle sich nie freiwillig melden?“ fragte Mark. „Ein gutes Prinzip. Aber was sollen wir sonst machen? Springt besseres Futter bei raus. Wenn’s nicht schlimmer werden kann, mußt du’s immer auf einen Versuch ankommen lassen.“ Das Mittagessen war gut, und die Arbeit war nicht schwer. Selbst der Geruch von Desinfektionsmittel war eine Erholung, und vom Schotten- und Deckenschrubben wurden ihre Hände zum erstenmal seit der Abfahrt wieder sauber. Am Nachmittag kam einer von der Mannschaft vorbei. Er hielt an und starrte sie einen Augenblick lang an. 262
„Dugan! Himmel noch mal, Biff Dugan!“ „Horrigan, du alte Kanaille! Seit wann bist du bei dem Laden?“ „Ach, du weißt ja, wie’s läuft, Biff. Sie sind mir auf die Nerven gegangen, und was sollte ich machen? Sie haben dich also erwischt …“ „Ganz recht. Sarah hat mich verpfiffen.“ „Ich hab’s dir doch gleich gesagt, daß sie sich nie mit deinen Geschichten abfinden würde. Wer ist dein Kumpel da?“ „Das ist Mark. Er ist Student. He, Goober, was kannst du für mich tun?“ „Komisch, daß du mich das fragst. Vielleicht hätt’ ich was. Willst du dich freiwillig melden?“ „Zum Teufel, sie wollen mich nicht. Ich hab’s auf Luna probiert. Zu alt.“ Horrigan nickte. „Ja. Aber beim Zahlmeister werden Leute gebraucht. Ein Ausgeklinkter hat gestern zwölf von der Mannschaft umgebracht. Rekruten. Dieser Irrsinnsclown hat eine Luftschleuse geöffnet, und keiner hat ihn aufgehalten. Deswegen seid ihr hier am Schrubben. Hör mal, Biff, wir gehen auf lange Patrouille, wenn wir euch Jungs auf Tanith abgesetzt haben. Vielleicht kann ich das klarmachen.“ „Ein Versuch kann nichts schaden. Mark, hast du irgendwas auf Tanith verloren?“ „Nein.“ Aber zur CD-Marine will ich auch nicht. Aber warum nicht? Er versuchte sich in der unbeschwerten Gleichgültigkeit seines Freundes. „Schlimmer als bei uns kann’s nicht werden.“ 263
„Genau“, sagte Horrigan. „Wir gehen zum Zahlmeisterfähnrich. In Ordnung, Kamerad?“ fragte er die Wache. Die zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen.“ Horrigan führte sie. Mark war übel vor Aufregung. Aus der Gefangenenabteilung herauszukommen wurde plötzlich die wichtigste Sache in seinem Leben. Den Fähnrich überraschte es nicht, daß zwei Gefangene zur Marine wollten. Er stellte ihnen ein paar Fragen. Dann beschäftigte er sich mit Dugans Daten auf dem Bildschirm. „Sie waren schon auf Raumflug, aber in Ihren Unterlagen steht nichts …“ „Ich habe nie gesagt, daß ich draußen war.“ „Nein. Sie waren’s aber. Sind Sie ein Deserteur?“ „Nein“, sagte Dugan. Greschin zuckte die Schultern. „Wenn Sie einer sind, kriegen wir es raus, wenn nicht, soll es uns recht sein. Ich sehe keinen Grund, Sie nicht zu nehmen. Ich werde Leutnant Breslow holen.“ Breslow war fünfzehn Jahre älter als sein Fähnrich. Er sah sich Dugans Daten an. Dann überprüfte er die von Mark. „Dugan kann ich nehmen“, sagte er. „Sie nicht, Fuller.“ „Aber warum nicht?“ fragte Mark. Breslow zuckte die Schultern. „Sie sind ein Rebell, und Sie haben eine hohe Intelligenz. Das steht hier. Es gibt Offiziere, die es riskieren, Leute wie Sie zu rekrutieren, aber ich gehöre nicht dazu. Wir können Sie auf diesem Schiff nicht brauchen.“ „Oh.“ Mark wandte sich um und wollte gehen. 264
„Warte mal, Kleiner.“ Dugan sah den Offizier an. „Danke, Leutnant, aber vielleicht bleib’ ich lieber mit meinem Kumpel zusammen …“ „Nein, laß das“, sagte Mark. Eine Welle von Dankbarkeit gegenüber dem älteren Mann überkam ihn. Dugans Angebot schien ihm das Beste zu sein, was je einer für ihn hatte tun wollen. „Wer kümmert sich um dich? Du wirst dir die Gurgel abschneiden lassen.“ „Vielleicht nicht. Ich hab’ eine Menge dazugelernt.“ Breslow stand auf. „Ihre Haltung Ihrem Freund gegenüber ist bewundernswert, aber Sie verschwenden meine Zeit. Melden Sie sich?“ „Er meldet sich“, sagte Mark. „Danke, Leutnant.“ Er ging hinter dem Wachmann zum Gang zurück und machte sich wieder daran, das Schott zu schrubben. Er schrubbte wie ein Wilder, um sein Elend und seine Hoffnungslosigkeit zu vergessen. Alles war so unfair! 3 Tanith, das war heißer, dampfender Dschungel unter einer ständig grauen Wolkendecke. Die Schwerkraft war zu hoch und die Luftfeuchtigkeit fast unerträglich. Trotzdem war es nach dem überfüllten Schiff eine Wohltat, dort zu sein, und Mark war gespannt, was jetzt mit ihm passieren würde. Mit Überraschung stellte er fest, daß es ihm nicht egal war. Er wurde durch medizinische Prozeduren geschleust, Immunisierung, Identifizierung, ein bedeutungsloses Ein265
teilungsgespräch und psychologische sowie Begabungstests. Sie liefen von einem Test zum nächsten und standen dann in langen Reihen oder warteten einfach so. Am vierten Tag holte man ihn aus dem geschlossenen Bunker und brachte ihn in einen kahlen Raum mit Wänden aus Lehmziegeln und groben, hölzernen Möbeln. Die Wachen ließen ihn dort. Das Gefühl, allein zu sein, hob seine Stimmung. Gespannt sah er auf, als sich die Tür öffnete. „Biff!“ „Hallo, Kleiner. Hab’ was für dich.“ Dugan hatte den blauen Anzug der CD-Marine an. Er blickte schuldbewußt um sich. „Das hier hatte ich noch von dir, und ich hab’ ein bißchen mehr daraus gemacht.“ Er hielt ihm eine Handvoll CoDominium-Scheine hin. „Los, nimm’s schon. Ich kann wieder was kriegen, du nicht. Hör mal, wir ziehen hier bald ab, und …“ „Ist schon in Ordnung“, sagte Mark. Aber es war nicht in Ordnung. Ihm war bis zur Trennung von Dugan nicht klar gewesen, was Freundschaft bedeutete; jetzt, als er ihn in der Marineuniform sah und wußte, Dugan würde von diesem schrecklichen Ort fortgehen, haßte er seinen ehemaligen Freund. „Ich werd’ schon zurechtkommen.“ „Das wirst du, verdammt noch mal! Hör auf herumzuschmollen, wie unfair alles ist, und warte auf deine Chance. Du kriegst sie schon. Hör zu, du bist ein junger Kerl und meinst, alles wäre für ewig, aber …“Dugan schwieg und schüttelte bedauernd den Kopf. „Nicht daß du väterlichen Rat von mir brauchst. Oder daß es irgendwas bringen würde. Aber alles geht zu Ende, Mark. Die Tage gehen vorbei und die Wochen und die Monate.“ 266
„Ja, natürlich.“ Sie tauschten noch mehr Nichtigkeiten aus, und dann ging Dugan. Jetzt bin ich ganz allein, dachte Mark. Es war ein niederschmetternder Gedanke. Ein paar von den Reden, die er in seiner kurzen Collegezeit gehört hatte, kamen ihm immer wieder in den Sinn und verfolgten ihn. Die Gedanken sind frei. Ja, natürlich. Eines Menschen Gedanken sind immer frei, und niemand kann einen freien Menschen versklaven, die schwersten Ketten und tiefsten Verliese können niemals den Geist eines Menschen einsperren. Quatsch. Ich bin ein Sklave. Wenn ich nicht tue, was sie wollen, werden sie mich quälen, bis ich es tue. Und ich habe verdammt zuviel Angst vor ihnen. Aber da war noch etwas, das ihm mehr Trost bot. „Sklaven haben keine Rechte, also auch keine Pflichten.“ Bei Gott, das paßte gut, dachte er. Ich schulde keinem was. Keinem hier und keinem von den Arschlöchern auf der Erde. Ich tue, was zu tun ist, kümmere mich um mich selbst und pfeife auf den Rest. Es gab hier kein Gefängnis oder vielmehr: Der gesamte Planet war ein Gefängnis, doch das CD-Hauptgebäude diente ausschließlich der Einteilung und Zuweisung. Die Gefangenen wurden an reiche Plantagenbesitzer verkauft. Es kursierten eine Menge Gerüchte über die verschiedenen Orte, an denen man landen konnte: große Firmenfarmen, die wie Fabriken funktionierten und von denen es hieß, daß kaum ein Häftling lebend die Strafzeit überstand, Industrieanlagen in der Nähe großer Städte, die einen besseren Ruf hatten, weil man Stadtausgang be267
kam, sobald man als verläßlich galt, einsame Pflanzungen im äußersten Hinterland, wo die Besitzer machen konnten, was sie wollten, und dies im allgemeinen auch taten. Die Männer wurden ausgeladen, der Bunker leerte sich allmählich. Dann kam Mark an die Reihe. Er wurde in einen Raum geführt und konnte sich hinsetzen. Zum zweitenmal seit Monaten war er allein und genoß es. Aus dem Nebenraum hörte er Stimmen. „Warum behalten Sie ihn nicht, hein?“ „Unreif, hat keinen Grund zur Loyalität dem CD gegenüber.“ „Oder mir gegenüber.“ „Oder Ihnen. Und zu intelligent, um einen dumpfen Bullen abzugeben. Sie könnten einen Vorarbeiter aus ihm machen. Der Gouverneur interessiert sich für den hier, Ludwig. Er behält alle mit einem hohen IQ im Auge. Hören Sie, Sie können ihn kriegen, ich stehe in Ihrer Schuld. Ich kümmere mich darum, daß Sie gute Leute kriegen.“ „Okay, ja. Denken Sie mal dran, wenn Sie ein paar mit viel Muskeln und wenig Grips reinbekommen. Okay, sehen wir uns Ihr Genie an.“ Über wen, zum Teufel, reden die da, fragte sich Mark. Über mich? Verglichen mit den meisten anderen aus dem Schiff könnte man mich wohl ein Genie nennen, aber … Die Tür öffnete sich. Mark stand auf. Die Wachen sahen das gern. „Fuller“, sagte der Feldwebel. „Dies ist Herr Ewigfeuer. Sie werden für ihn arbeiten. Seine Farm ist ein Landclub.“ 268
Der Pflanzer war schwer gebaut und hatte breite Unterkiefer. Er war unrasiert, und seine Shorts und sein Khakihemd waren voll Schweißflecken. „Sie sind also der neue Häftling, den ich auf meine schöne Farm mitnehme.“ Er musterte Mark mit kaltem Blick. „Er geht schon, er geht schon. Okay, wir gehen jetzt, ja?“ „Jetzt?“ fragte Mark. „Ja, jetzt. Denken Sie, ich hab’ den ganzen Tag Zeit? Kann in Whiskeytown bleiben, während mein Vorarbeiter die Hilfsleute alles aufessen und faul rumliegen läßt? Geben Sie mir die Papiere, Feldwebel.“ Der Feldwebel nahm ein Bündel Papiere aus einer Mappe. Er kritzelte unten etwas darauf und gab dann Mark den Füller. „Unterschreiben Sie hier …“ Mark fing an, die Dokumente zu lesen. Der Feldwebel lachte. „Unterschreiben Sie, verdammt noch mal! Wir haben noch mehr zu tun.“ Mark kritzelte resigniert seinen Namen. Der Feldwebel händigte Ewigfeuer zwei Kopien aus und wies zur Tür. Sie gingen durch geziegelte Korridore bis zu einem Wachposten am Ende. Der Pflanzer übergab der Wache eine Kopie des Vertrags, und die Tür wurde geöffnet. Draußen traf die Hitze Mark wie ein physischer Schlag. Drinnen war es schon heiß genug gewesen, aber die dicken Lehmmauern hatten das Ärgste abgehalten. Jetzt war es geradezu unerträglich. Es war keine Sonne da, aber die Wolken waren hell genug, um seine Augen schmerzen zu lassen. Ewigfeuer setzte eine dunkle Brille auf. Er steuerte auf einen Laden gegenüber dem Gefängnis zu und kaufte eine für Mark. „Setzen Sie das auf“, 269
befahl er. „Blind sind Sie zu nichts nutze. Kommen Sie jetzt.“ Sie gingen durch belebte Straßen. Der Himmel war trüborange verhangen wie in einem ewigen Sonnenuntergang. Mark brach der Schweiß auf der Stirn aus und tropfte ihm in den Anzug hinein. Er wünschte, er hätte Shorts an. Fast alle in der Stadt trugen Shorts. Sie kamen an schmutzigen Läden und offenen Ständen vorbei. Auf den Gehwegen lagen Waren ausgebreitet, fast alle schlecht verarbeitet oder von der Marine ausgemustert oder aus den CD-Lagerräumen gestohlene Schwarzmarktware. Merkwürdige Tiere zogen Karren durch die Straßen, und Automobile gab es überhaupt nicht. Ein Pferdegespann spritzte Ewigfeuers Beine mit Schlamm voll. Der dicke Pflanzer drohte dem Fahrer mit der Faust, doch der beachtete ihn nicht. „Haben Sie schon mal Pferde besessen?“ fragte Ewigfeuer. „Nein“, sagte Mark. „Ich hatte nicht damit gerechnet, hier welche zu sehen.“ „Pferde machen mehr Pferde. Traktoren nicht“, sagte der Pflanzer. „Mit Pferden und Eseln kann man auch Maulesel kriegen. Besser als Traktoren. Besser als die verfluchten Stormandviecher. Stormande mögen keine Menschen.“ Er zeigte auf eins dieser fremdartigen Tiere. Es sah wie eine Kreuzung zwischen einem Maulesel und einem Elch aus, mit breiten, gespreizten Füßen und traurigem Blick, der bösartig wurde, sobald jemand ihm nahe kam. Es gab hier mehr Leute, als Mark erwartet hatte. Sie 270
schienen sich in drei Klassen zu unterteilen. Zunächst waren da die Ladenleute, die ölig lächelten, wenn der Pflanzer vorbeiging, dann gab es welche, die geschäftig durch die schlammigen Straßen eilten, und schließlich jene, die ziellos umherwanderten oder mit leerem Blick an den Straßenecken standen. „Worauf warten sie?“ fragte Mark. Er hatte es nicht laut sagen wollen, aber Ewigfeuer hatte es gehört. „Sie warten auf den Tod“, sagte der Pflanzer. „Ja, sie glauben, es wird noch etwas kommen, das sie rettet. Sie werden was zu stehlen finden, so daß sie vielleicht noch eine weitere Woche leben oder einen Monat, vielleicht sogar ein Jahr, aber sie warten auf ihren Tod. Und es sind Weiße!“ Dies war für Ewigfeuer anscheinend ihr größtes Verbrechen. „Von Schwarzen könnte man nichts Besseres erwarten“, sagte er. „Aber nein, die Schwarzen arbeiten oder gehen in den Busch und leben da – vielleicht nicht gerade wie zivilisierte Menschen, aber sie leben. Nicht so die hier. Die warten auf den Tod. Das war ein schlimmer Tag, als ihre Strafzeit abgeleistet war.“ „Ja, sicher“, sagte Mark, aber so, daß der Pflanzer es nicht hören konnte. Er sah eine Gruppe von Leuten auf Bänken nicht weit von einem kleinen offenen Platz. Sie machten den Eindruck, als ob sie seit dem Morgen, seit dem vorangegangenen Tag oder seit jeher keine einzige Bewegung gemacht hätten, als würden sie immer noch so dasitzen, wenn der orangefarbene Himmel sich verdunkeln würde, und beim nächsten Morgengrauen mit Wiedereinbruch der Hitze und der Feuchtigkeit würden sie 271
immer noch da sein. Mark wischte sich mit dem Ärmel die Stirn. Die Hitze über Whiskeytown machte jede Bewegung zu einer anstrengenden Angelegenheit, der Pflanzer aber drängte ihn die Straße entlang, seine kurzen Beine bewegten sich schnell durch die Schlammpfützen. „Und was passiert, wenn ich einfach loslaufe?“ fragte Mark. Ewigfeuer lachte. „Nur zu. Glauben Sie, man wird Sie nicht kriegen? Wo wollen Sie hingehen? Sie haben keine Papiere. Mit Geld können Sie sich vielleicht welche kaufen. Vielleicht sind die dann aber nicht gut genug. Und wenn man Sie schnappt, wird man Sie nicht auf meine hübsche Farm schicken, sondern an einen furchtbaren Ort. Laufen Sie, ich werde Ihnen nicht hinterherlaufen. Ich bin zu alt und zu dick.“ Mit einem Achselzucken ging Mark weiter neben Ewigfeuer her. Er bemerkte, daß der dicke Mann bei all seiner unbekümmerten Art darauf achtete, daß Mark nicht hinter ihn geriet. Eine Ecke weiter kamen sie zu einem großen leeren Platz. Vorne stand ein Hubschrauber. Es gab noch mehr davon auf dem Gelände. Ein Mann mit einem Gewehr saß unter einem Schirm und bewachte sie. Ewigfeuer warf dem Mann Geld zu und stieg in den nächsten Chopper. Er ließ den Motor zweimal aufheulen, dann hoben sie über die Stadt ab. Whiskeytown war ein häßlicher großer Fleck auf dem Plateau. Der Hügel erhob sich direkt aus dem Dschungel. Als sie weiter oben waren, konnte Mark erkennen, daß das Plateau Teil einer Hügelkette auf einer Halbinsel 272
war, das Meer rundum war grün mit gelben Streifen. Das CoDominium-Verwaltungsgebäude aus Beton war das größte Bauwerk in Whiskeytown. Es gab keinen anderen Luftverkehr, und sie überflogen die Stadt, ohne mit Flugkontrollen in Kontakt zu kommen. Jenseits der Stadt erhoben sich braune Hügel, die aus dem häßlichen grünen Dschungel ragten. In den folgenden Stunden blieb alles gleich – Dschungel zur Linken, grüngelbe See zur Rechten. Mark hatte keine Straßen gesehen und nur vereinzelt Häuser, die gruppenweise zusammenstanden, niedrige Ziegelhäuser auf braunen Hügeln. „Besteht der ganze Planet aus Dschungel?“ fragte er. „Ja, Dschungel, Sumpfland, schlimmes Zeug. Auf den Hügeln kann man leben, aber weiter unten ist die grüne Hölle. Weemstiere, lebensgefährliches Viehzeug wie Schildkröten, Krokodile, so riesig, wie man sie sich kaum vorstellen kann, und sie sind schneller als irgend jemand. Da kommt keiner weit.“ Ein perfektes Gefängnis, dachte Mark. Er starrte auf die See hinaus. Da waren ein paar Boote zu sehen. Ewigfeuer folgte seinem Blick und lachte. „Ein paar verdammte Dummköpfe versuchen, mit Fischerei Geld zu machen. Vielleicht stellen sie sich nicht so dumm an dabei, aber sie werden schnell umkommen, noch bevor die Steuerfarmer ihnen alles wegnehmen können, was sie gewinnen. Haben Sie schon mal vom Ungeheuer von Loch Ness gehört? Auf Tanith haben wir etwas, gegen das Nessie ein Regenwurm ist.“ Sie flogen über eine weitere Gruppe Ziegelhäuser. 273
Ewigfeuer sprach per Funk mit den Leuten unten in einer Sprache, die Mark nicht kannte. Wie Deutsch hörte es sich nicht an, aber sicher war er sich nicht. Darauf überquerten sie eine weitere, endlos wirkende Dschungelstrecke. Schließlich kam eine neue Häusergruppe in Sicht. Die Plantage unterschied sich nicht von den anderen, die sie gesehen hatten. Um ein größeres, weißgetünchtes Holzhaus gruppierten sich braune Ziegelhäuser oben auf einem Hügel, auf den kleineren Hügeln rundum gab es angebaute Felder. Die Ränder dieser Felder gingen in Dschungel über. Männer arbeiteten auf den Feldern. Es dürfte nicht schwierig sein fortzulaufen, dachte Mark. Zu leicht sogar. Wenn es nicht einfach dumm wäre, es zu versuchen, würde es Zäune geben. Abwarten, dachte er. Abwarten und die Augen offenhalten. Ich schulde niemandem etwas. Eine Chance abwarten … … eine Chance zu was? Er schob den Gedanken von sich. Der Vorarbeiter war groß und schrecklich gutaussehend. Er hatte schmutzige weiße Shorts an, einen Tropenhelm auf, und an seinem Gürtel war eine Pistole angeschnallt. „Kümmern Sie sich um den hier, ja“, sagte Ewigfeuer. „Einer von den Lieblingen des Gouverneurs. Es heißt, er hätte Grips genug für einen leitenden Posten. Wir werden sehen. Mark Fuller, drei Jahre.“ „Ja, Sir. Los, komm, Mark Fuller, drei Jahre.“ Der Vorarbeiter wandte sich um und ging davon. Nach einer Weile folgte Mark ihm. Sie kamen an Gebäuden aus gestampfter Erde vorbei und überquerten eine Riesenlache 274
aus Schlamm. Die Gebäude waren mit einer plastikartigen Masse besprüht, was ihnen einen trüben Glanz gab. „Du brauchst Stiefel“, sagte der Vorarbeiter. „Und einen neuen Anzug. Ich heiße Curt Morgan. Komm mit mir klar, und dir geht’s gut, komm mir in die Quere, und dir geht’s schlecht. Kapiert?“ „Ja, Sir.“ „Sir sagst du nur zu mir, wenn ich’s dir befehle. Jetzt sagst du Curt zu mir. Wenn du Hilfe brauchst, sag’s mir. Ich kann dir vielleicht ‘nen guten Rat geben. Wenn’s mich nichts kostet, mach’ ich das.“ Sie erreichten ein viereckiges, einstöckiges Gebäude, das den übrigen glich. „Hier ist deine Unterkunft.“ Drinnen befand sich ein langer Raum mit Plätzen für dreißig Mann. Jedes Abteil hatte eine Koje, einen Schließschrank und zwei mal drei Meter freien Platz. Nach dem Schiff war das wie ein Palast. Die Innenwände waren mit demselben Plastikmaterial besprüht wie draußen. Es hielt Insekten davon ab, sich in den Wänden einzunisten. Einige der Männer hatten billige Bilder über ihren Kojen hängen: meistens Pin-ups, doch in einer Ekke gab es Original-Kohleskizzen von Männern und Frauen bei der Arbeit, ebenso ein halbfertiges Ölgemälde. Ein Dutzend Männer befanden sich im Raum, einige lagen auf den Kojen ausgestreckt. Einer strickte etwas Kompliziertes, und eine kleine Gruppe am anderen Ende spielte Karten. Einer der Kartenspieler, ein kleiner Mann mit einem Frettchengesicht, verließ die Runde. „Euer neuer Mann“, sagte Curt. „Mark Fuller, drei Jahre. Fuller, dies ist dein Unterkunftsführer. Er heißt 275
Lewis. Lew bring den Kleinen unter und aus den Gefängnisklamotten raus.“ „Klar, Curt.“ Lewis beäugte Mark sorgfältig. „Ungefähr die richtige Größe für Joses alte Kleider. Ist alles sauber.“ „Ist dir das recht?“ fragte Curt. „Kannst Geld sparen so.“ Mark guckte hilflos drein. Die beiden Männer lachten. „Mußt ihm wohl sagen, was er tun soll, Lew“, sagte Curt Morgan. „Fuller, ich würde mir das nicht zweimal sagen lassen mit dem Zeug. Sag mir, wieviel er dir abgenommen hat, ja? Er wird dich nicht zu sehr ausnehmen.“ Es gab Gelächter in der Unterkunft, als der Vorarbeiter ging. Lewis zeigte auf ein Abteil in der Mitte. „José war hier, Kleiner. Hat sein ganzes Zeug hiergelassen, als er abgehauen ist. Ich lass’ dir das Ganze für, hm, fünfzig Scheine.“ Und was jetzt, fragte sich Mark. Am besten, ich lass’ ihn nicht merken, daß ich überhaupt Geld habe. „So viel hab’ ich nicht …“ „Zum Teufel, du unterschreibst einen Zettel dafür“, sagte Lewis. „Der Alte zahlt einen Schein pro Tag.“ „Von wem krieg’ ich den Zettel?“ „Den kriegst du von mir.“ Lewis’ wäßrige Augen wurden klein. Durch seine dicken Brillengläser sahen sie riesig aus. „Dir geht was durch den Kopf, Kleiner? Willst es nicht probieren.“ „Ich probiere gar nichts! Ich verstehe bloß nicht …“ „Klar. Denk nur dran, ich bin hier verantwortlich. Wenn 276
einer abhaut, krieg’ ich sein Zeug. Ich. Sonst keiner. José hatte gutes Zeug, allemal fünfzig Scheine wert …“ „Quatsch“, sagte einer der Kartenspieler. „Nicht mehr als dreißig, und das weißt du.“ „Halt die Klappe. Klar, in Whiskeytown wärst du besser dran, aber nicht hier. Hör zu, Morgan hat gesagt, ich soll mich um dich kümmern. Ich verkaufe dir das Zeug für dreißig. Gebongt?“ „Klar.“ Lewis lächelte ihn breit an. „Du wirst schon klarkommen, Kleiner. Hier ist dein Schlüssel.“ Er gab Mark einen Magnoschlüssel und widmete sich wieder dem Kartenspiel. Mark machte sich Gedanken darüber, wer Zweitschlüssel hatte. Sie ließen sich nicht ohne Spezialgeräte herstellen: Die Magnetpunkte mußten genau an der richtigen Stelle sitzen. Ewigfeuer hatte sicher einen, natürlich. Wer noch? Sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Mark stopfte sein Geld in eine Sockenspitze, warf seine anderen Kleider obendrauf und verschloß alles im Schrank. Er fragte sich, was er mit dem Geld anfangen sollte – er hatte fast dreihundert Scheine, ein Zehnmonatsgehalt bei einem pro Tag – genug, um dafür umgebracht zu werden. Den ganzen Weg zur Dusche lang ließ ihm das keine Ruhe, doch danach waren das unbegrenzt fließende Wasser, ein neues Stück Seife und ein guter Rasierapparat solch eine Wohltat, daß er an nichts anderes mehr dachte.
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4 Die Borshitepflanze sieht ähnlich wie eine Artischockenpflanze aus: große stachelige Blätter, die aus einer zentralen Krone ragen, und ein blütentragender Stiel, der bis eineinhalb Meter hoch wird. Ihre Vermehrung geschieht durch Knollen. Im Frühjahr wird die Vorjahresernte ausgegraben, und die zarten Knollen werden vorsichtig getrennt und einzeln neu gepflanzt. Unkraut gibt es in Unmengen, und es muß per Hand gejätet werden. Der Dschungel wächst ständig wieder in die Pflanzungen und fordert den von Menschen bebauten Boden zurück. Pflanzenfresser vertilgen die Ernte, wenn die Felder nicht bewacht werden. Mark hatte das innerhalb einer Woche gelernt. Die Arbeit war schwer, und es war heiß, aber insgesamt war es erträglich. Die Gerüchte bestanden zu Recht: Ewigfeuers Besitz war ein Landclub. Die Häftlinge legten es darauf an, dorthin zu kommen. Ewigfeuer forderte harte Arbeit, aber er war fair. Das machte es für Mark noch bedrückender. Wenn dies die leichte Art war, seine Zeit abzuleisten, welche Greuel hatte er dann zu erwarten, wenn er einen Fehler machte? Ewigfeuers schlimmste Drohung war der Transfer, und Mark ertappte sich häufig dabei, wie er auf Mittel und Wege sann, seinen Meister zufriedenzustellen. Er verabscheute sich selbst, aber es gab keinen anderen Weg. Nie war er einsamer gewesen. Nichts hatte er mit den anderen Männern gemeinsam. Nie waren seine Witze 278
komisch. Ihre Geschichten interessierten ihn nicht. Mit der Zeit lernte er so gut zu pokern, daß er sich beim Spielen unbeliebt machte. Sie wollten keinen harten Spielgegner, der ihnen Geld abnehmen konnte. Einmal beschuldigte man ihn des Betrugs, und obwohl alle wußten, daß es nicht stimmte, handelte er sich Prügel und leere Taschen ein. Danach ging er der Spielerei aus dem Weg. Die Arbeit hielt seine Hände in Bewegung, nicht seinen Geist. Es gab keine Bücher zu lesen. Es blieb kaum etwas anderes übrig, als vor sich hinzubrüten. Und ich wollte Macht, dachte er. Wir haben damit gespielt. Ein Spiel. Aber die Polizei hat nicht gespielt, und jetzt bin ich ein Sklave. Wenn ich zurückkomme, weiß ich ein bißchen besser, wie dieses Spiel funktioniert. Ich werd’s ihnen zeigen. Aber das würde er nicht tun, nicht wirklich, das wußte er. Er lernte hier nichts. Manche der Häftlinge verbrachten ihre Tage und Nächte in angerauchter Friedseligkeit. Aus Borshitepflanzen wird Borloi hergestellt, und die Hälfte der Bürger der Vereinigten Staaten war von Borloi abhängig, um jeden einzelnen Tag durchzustehen. Die Regierung versorgte sie damit, und falls sie den Nachschub nicht aufrechterhalten konnte, würde ihre Regierungszeit nicht lange dauern. Auf Tanith war es genauso, und Herr Ewigfeuer war nicht knausrig mit Pfeifen und Borloi. Mark probierte es damit, aber er mochte nicht, was es bei ihm bewirkte. Drei Jahre seines Lebens stahl man ihm, aber er würde nicht mitmachen und dazu beitragen, daß es leichter wurde. 279
Seine Collegefreunde hatten eine Menge von der Würde der Arbeit geredet. Mark fand sie überhaupt nicht würdevoll. Warum sich nicht zurauchen und so bleiben, dachte er. Was tue ich schon Wichtiges? Warum nicht einfach aufhören zu sein und Schluß? Sollte die Routine ihn überschwemmen, ersäufen … Oft gab es Schlägereien. Sie hatten ihre Spielregeln. Wenn einer verletzt wurde, so daß er nicht mehr arbeiten konnte, mußten er und sein Gegner zusammen die verlorene Arbeitszeit aufholen. Dies trug dazu bei, daß Verletzungen weniger häufig waren und man versuchte, Knochenbrüche zu vermeiden. Immer wenn es eine Schlägerei gab, gingen alle hin und schauten zu. So hatte Mark Zeit für sich selbst. Er war nicht gern allein, aber Schlägereien mochte er sich nicht ansehen, nicht zuletzt deshalb, weil er selbst in eine hätte geraten können … Die Männer feuerten die Kämpfenden an. Mark lag auf seiner Koje. Er hatte Alkohol, wollte aber nicht trinken. Immer wieder kam ihm der Gedanke, einen Schluck zu nehmen, nur einen, es wird mir beim Einschlafen helfen … und schließlich weißt du ja, was du tust … und warum nicht? Der Mann war klein und nicht mehr jung. Mark wußte, er wohnte in den Unterkünften nicht weit vom großen Haus. Er kam in die Baracke und sah sich um. Die Lichter waren nicht an, und er hatte Mark nicht gesehen. Er sah sich wieder verstohlen um und bückte sich dann, um sich an Schrankdeckeln zu schaffen zu machen, auf der 280
Suche nach einem unverschlossenen. Er kam an Marks Schrank, öffnete ihn und langte hinein. Seine Hand fand Zigaretten und die Flasche … Er spürte oder hörte Mark und blickte hoch. „Äh, guten Abend.“ „Guten Abend.“ Der Mann sah recht gefaßt aus, obwohl er die unter den Männern hier übliche Bestrafung für Diebstahl riskierte. „Hast du vor, deine Kameraden zu rufen?“ Die wäßrigen Augen schossen auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit umher. „Ich habe wohl nichts, was für mich spricht.“ „Wenn du etwas hättest, was wäre das dann?“ „Wenn du einmal so alt bist wie ich und lebenslänglich hast, nimmst du, was du kriegen kannst. Ich bin Alkoholiker und stehle, um mir was zu trinken zu kaufen.“ „Warum rauchst du nicht Borloi?“ „Das bringt mir wenig.“ Die Hände des alten Mannes zitterten. Er sah liebevoll auf die Flasche Gin, die er aus Marks Schrank geholt hatte. „Ach, zum Teufel, trink schon!“ sagte Mark. „Danke.“ Er trank in gierigen Schlucken. Mark nahm seine Flasche zurück. „Man sieht dich nicht auf den Feldern.“ „Nein. Ich arbeite in der Buchhaltung. Herr Ewigfeuer war so nett, mich hierzubehalten, aber nicht so nett, genug zu zahlen, daß …“ „Wenn du mit den Arbeitsberichten zu tun hast, könntest du Vergünstigungen verkaufen.“ „Sicherlich. Eine Zeitlang. Bis ich erwischt werde. Und was dann? 281
Mein Leben ist vielleicht nicht besonders lebenswert, aber ich hänge daran.“ Er stand eine Weile stumm da. „Kaum zu glauben, nicht wahr? Aber es ist so.“ „Du redest ziemlich merkwürdig.“ „Die Stigmata der Bildung. Du siehst Doktor Richard Henry Tappinger vor dir, allgemein Taps genannt. Ehemals Inhaber des Bates Lehrstuhls für Geschichte und Soziologie an der Yale Universität.“ „Und warum bist du auf Tanith?“ Diese Frage stellen Gefangene sonst nicht, aber Mark konnte tun, was ihm paßte. Das Leben des Mannes war in seiner Hand: ein Wort, ein Ruf, und die anderen würden sich mit Tappinger vergnügen. Und warum rufe ich sie nicht, fragte sich Mark. Er fröstelte bei dem bloßen Gedanken daran, es auch nur in Erwägung zu ziehen. Tappinger schien das nicht zu stören. „Alkohol, junge Mädchen, deren Liebhaber und ein alter Tor, das ergibt eine explosive Mischung. Dir macht es doch nichts aus, wenn ich nicht genauer werde? Ich habe einen beträchtlichen Teil meines Lebens damit zugebracht, mich vor mir selbst zu schämen. Kann ich vielleicht noch einen Schluck bekommen?“ „Ich denke schon.“ „Du bist auch stigmatisiert. Du warst Student?“ „Nicht lange.“ „Aber Bildung wert und außerdem großzügig. Du heißt Fuller. Ich habe die Berichte und erinnere mich an deinen Fall.“ Die Schlägerei draußen war vorbei, und die Männer kamen in die Baracke zurück. Lewis trug einen Bewußt282
losen in den Duschraum. Er überließ ihn anderen Leuten, als er Tappinger sah. „Du dreckiger Mistkerl. Ich hab’ dir gesagt, was passiert, wenn ich dich in meiner Unterkunft erwische. Was hat er geklaut, Fuller?“ „Nichts. Ich hab’ ihm was zu trinken gegeben.“ „Ach ja? Na, sieh zu, daß er hier draußen bleibt. Wenn du mit ihm reden willst, dann mach das gefälligst draußen.“ „Gut.“ Mark nahm seine Flasche und folgte Tappinger nach draußen. Es war heiß drinnen, und die Männer unterhielten sich über die Schlägerei. Mark ging hinter Tappinger über den Hof. Sie machten einen Bogen um die Frauenunterkünfte. Mark war mit niemandem dort befreundet und konnte sich andere Arten von Besuch nicht leisten – nicht sehr oft wenigstens. Keine der Frauen schien anziehend oder auch nur gepflegt zu sein. „Die zwei Außenseiter tun sich also zusammen“, sagte Tappinger. „Zwei rosa Affen unter braunen.“ „Vielleicht sollte ich das nicht gut finden.“ „Warum nicht? Hast du viel mit denen gemeinsam? Oder stört dich die Tatsache, mehr mit mir gemeinsam zu haben?“ „Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Ich sitze einfach die Zeit hier ab. Warte, daß es vorbeigeht.“ „Und was willst du dann tun?“ Sie fanden einen Platz zum Hinsetzen. Von Westen kam ein schwacher Wind, der die Dschungelgeräusche herüberwehte, Brünsten und Knurren und seltsame Töne. „Was kann ich schon machen?“ fragte Mark. „Zurück 283
zur Erde gehen und …“ „Du wirst nie zur Erde zurückkommen“, sagte Tappinger. „Wenigstens wärst du einer der ersten, denen das gelingt. Oder hast du jemanden, der dir die Rückfahrt bezahlt?“ „Das kostet eine Menge.“ „Genau.“ „Aber sie müssen uns zurückbringen!“ Mark spürte, wie all seine sorgsam aufgebauten Schutzmauern zusammenbrachen. Er lebte für das Ende der drei Jahre – und jetzt … „So lauten die Bestimmungen, und die Häftlinge reden davon, nach Hause zurückzukehren – aber es geschieht nicht. Auf der Erde wollen sie keine Rebellen. Es würde das bequeme Leben stören, das die meisten dort haben. Nein, wenn du woanders hingehst, dann in eine andere Kolonie. Es sei denn, du bist sehr reich.“ Also bleibe ich hier für alle Zeiten. „Was kann man denn hier machen? Was machen die Ex-Häftlinge hier?“ „Sie schreiben sich als Landarbeiter ein“, erwiderte Tappinger achselzuckend. „Sie bauen eigene Plantagen auf. Sie gehen in den Regierungsdienst. Für dich ist Tanith eine Sklavenwelt, und das ist es ja auch, aber das wird nicht immer so bleiben. Einige von euch, Leute wie du, werden daraus etwas anderes aufbauen, etwas Besseres oder Schlechteres, aber sicher etwas anderes.“ „Ja, ja, sicher. Die jungen Pioniere sind da.“ „Was meinst du wohl, was mit unfreiwilligen Kolonisten passiert?“ fragte Tappinger. „Oder hast du dir nie darüber Gedanken gemacht? Die meisten Leute auf der 284
Erde kümmern sich nicht viel um den Preis, den ihr Wohlstand kostet, ihre saubere Luft und ihre sauberen Meere. Doch der einzige Unterschied zwischen dir und einem, der mit dem USB hierherkam, ist, daß du in einem etwas bequemeren Schiff transportiert worden bist und daß du drei Jahre ableisten mußt, bevor man dich dir selbst überläßt. Ja, ich bin der Meinung, du solltest in den Staatsdienst gehen. Du könntest da ganz gut aufsteigen.“ „Für diese Sklavenschinder arbeiten? Lieber verhungere ich!“ „Nein, das würdest du nicht. Ebensowenig wie viele andere. Das ist leichter gesagt als getan.“ Mark starrte in die Dunkelheit. „Warum so verbissen? Es gibt Chancen hier. Der neue Gouverneur versucht sogar, einige Mißstände zu beheben. Natürlich ist er, genau wie wir, durch das System eingeengt. Er muß sein Quantum an Borloi und Wunderdrogen exportieren, die geforderten Steuern bezahlen. Er muß die Produktion in Gang halten. Die Marine fordert das.“ „Die Marine?“ Tappinger lächelte im Dunkeln. „Du würdest dich wundern, wie viele von den CD-Marineoperationen mit dem Drogenhandel von Tanith finanziert werden.“ „Das überrascht mich überhaupt nicht. Diebe. Mistkerle. Aber es ist blödsinnig. Eine Tretmühle. Mit Gefängnissen, die für sich selbst und die verdammte Flotte zahlen …“ „Weder blödsinnig noch neu. Die Sowjets machen das seit fast zweihundert Jahren und finanzieren mit den Ein285
nahmen der Arbeitslager die Geheimpolizei. Und unser Steuereinnahmesystem ist sogar noch älter. Es geht bis auf das alte Rom zurück. Die Profite einiger Planeten dienen zur Unterstützung der USB. Tanith unterstützt die Marine.“ „Zum Teufel mit der Marine.“ „Oh nein, das solltest du nicht sagen. Froh sein solltest du, daß es sie gibt. Ohne die CD-Flotte würden sich die Regierungen auf der Erde schnell an der Gurgel sitzen. Gerade im Moment sind sie fast soweit. Und da sie nicht für die Marine zahlen und die Marine bitter nötig für den Frieden auf der Erde ist, na, deshalb müssen wir weiterarbeiten. Merkst du, welch ehrenvolle Tätigkeit wir ausüben, wenn wir die Borloifelder jäten?“ Das unerträglich heiße Frühjahr ging in einen erbarmungslos heißen Sommer über, und es gab immer weniger zu tun. Die Borshitepflanzen waren jetzt fast hüfthoch und konnten sich gegen das Unkraut und die Schädlinge so gut wie allein behaupten. Die Felder brauchten kaum mehr als überwacht zu werden. Die Arbeit war leichter, aber zum Ausgleich war das Wetter stickig heiß mit warmem Nebel, der von der Küste heranrollte. Der Himmel war jetzt nicht mehr orange, sondern trübgrau. Nur zweimal seit seiner Ankunft hatte Mark Sterne gesehen. Mit dem Sommer kam der leichte Sex. Männer und Frauen konnten sich abends besuchen, und wenn man sich finanziell mit den Unterkunftsführern arrangierte, auch die ganze Nacht. Der Lagerdruck ließ etwas nach. 286
Mark fand mehr Geschmack an der leichteren Arbeit als an den Frauen. Wenn er es nicht mehr aushalten konnte, zahlte er für ein paar Minuten wilder Erleichterung, dann versuchte er, solange es ging, nicht an Sex zu denken. Seine Aufgaben waren einfach. Die Crownears, spitzmausartige Tiere von der Größe einer Bisamratte, fraßen unbewachte Borshitepflanzen. Sie mußten verjagt werden. Es waren dumme, gefräßige Tiere, die nicht sehr gefährlich waren, wenn nicht gerade eine ganze Horde von ihnen einen Mann erwischte, der im Schlamm festsaß. Mit einem Speer konnte ein Mann sie von der Ernte fernhalten. Es gab noch andere Tiere, auf die man achten mußte. Das Weemstier, so genannt nach dem ersten Mann, der ein Zusammentreffen mit ihm überlebt hatte, war am schlimmsten. Seine natürliche Beute waren die Crownears, aber es griff fast alles an, was sich bewegte. Weemstiere hatten entfernte Ähnlichkeit mit Maulwürfen, waren aber über einen Meter lang. Anstelle einer Greif schnauze hatten sie ein gelenkiges Vorderteil mit Krallen und Scheinaugen. Auf Tanith näherte man sich Löchern sehr vorsichtig. Das Weemstier lag mit Vorliebe gerade eben unter der Erdoberfläche und kam dann mit erstaunlicher Schnelligkeit hervor. Normalerweise verließen sie den Dschungel nicht, um Menschen auf offenem Feld anzugreifen. Mark machte seinen Rundgang auf den Feldern zu Fuß, Curt Morgan zu Pferd. Nachmittags saß Morgan oft mit Mark zusammen und teilte mit ihm seine Bierration, und das kalte Bier zusammen mit der geruhsamen Arbeit 287
waren fast genug, das Leben wieder lebenswert zu machen. Zuweilen gab es einen Wetterwechsel, und ein kühlerer Wind strich über die Felder. Mark saß an einem Baum, genoß die relative Kühle des Tages und trank seine Bierration. Morgan saß neben ihm. „Curt, was wirst du machen, wenn du deine Strafe abgesessen hast?“ fragte Mark. „Ist schon abgesessen, schon seit zwei Jahren. Zwei auf Tanith, drei auf der Erde.“ „Und warum bist du dann noch hier?“ „Was kann ich sonst schon machen? Ich spare Geld; eines Tages werde ich mir selbst hier was kaufen.“ Er setzte sich auf und feuerte sein Gewehr in den Dschungel ab. „Dieses Viehzeug wird jeden Sommer frecher. Das ist alles, was ich weiß. Ich bringe nicht genug Geld zusammen, um in den Steuerverband hineinzukommen.“ „Könntest du Leute so ausquetschen?“ „Wenn es sein müßte. Entweder sie oder ich. Steuereinnehmer werden reich.“ „Klar. Mein Gott, es ist wirklich alles verflucht hoffnungslos, oder? Alles ist im Eimer.“ Mark trank sein Bier aus. „Wo ist das nicht so?“ fragte Morgan. „Du meinst, es ist schlimm jetzt, aber du hättest mal hier sein sollen, bevor der neue Gouverneur gekommen ist. Wo sie mich da hingesteckt hatten – mein lieber Freund, die haben uns geschafft! Für alles, was wir gegessen oder angezogen haben, haben sie uns was abgeknöpft, und wenn du den Mund aufgemacht hast, gab’s einen Monat zusätzlich auf 288
die Strafzeit. Das konnte einen zum Abhauen bringen.“ „Äh … Curt … gibt es …?“ „Komm bloß nicht auf komische Gedanken. Mir war’s gar nicht recht, wenn ich dich mit den Hunden suchen müßte. Wahrscheinlich eher deine Leiche. Ja, ja, es gibt Leute da im Dschungel. Wie die Ratten leben sie. Lieber wäre ich wieder unter Strafe, als so wie die Freistaatler zu leben.“ Der Gedanke reizte Mark. Ein Freistaat! Das müßte so sein, wie Shirley und ihre Freunde gesagt hatten, mit Gleichheit, und keine Steuern würde es in einer freien Gesellschaft geben. Er dachte an das, was freie Menschen brauchten. Sie würden ein hartes Leben führen und arm sein, weil sie Flüchtlinge waren, aber frei wären sie! In seiner Phantasie baute er den Freistaat auf, bis er realer war als Ewigfeuers Plantage. Am Tag darauf waren die Crownears sehr lästig, und Curt Morgan brachte eine zweite Hilfskraft auf Marks Feld. Sie kamen zusammen auf den kräftigen Percheronpferden angeritten, die von der Erde als tiefgefrorene Embryos hergebracht und hier in mehreren Generationen auf noch breitere Hufe hingezüchtet worden waren, damit sie sich besser auf dem ewigen Schlamm halten konnten. Der Neuankömmling war ein Mädchen. Mark hatte sie schon gesehen, aber noch nie mit ihr gesprochen. „Hab’ dir was Schönes mitgebracht“, sagte Curt. „Dies ist Juanita. Juanny, wenn dieser Witzbold dir Ärger macht, brech’ ich ihn in Stücke. Bin in einer Stunde wieder da. Hast du deine Trompete?“ Mark zeigte auf das Instrument. 289
„Halt sie gut bereit. Diese Dinger geben keine Ruhe da draußen. Ich glaube, irgendwo ist hier ein Kroko. Und Porker. Haltet die Augen offen.“ Curt ritt zum nächsten Feld davon. Mark stand verlegen da und sagte nichts. Das Mädchen war jünger als Mark, und verschwitzt war sie. Ihr Haar hing in losen blonden Strähnen herunter. Um ihre Augen waren dunkle Ringe, und ihr Gesicht war schmutzig. Sie war eher wie ein drahtiger Junge gebaut als wie ein Mädchen. Außerdem war sie das schönste Mädchen, das Mark je gesehen hatte. „Hallo“, sagte Mark. Er verfluchte sich selbst. Schüchternheit paßte in die Zivilisation, aber nicht ins Gefängnis. „Hallo, auch. Du bist aus Lewis’ Unterkunft.“ „Ja. Ich hab’ dich noch nicht gesehen bisher. Außer bei der Messe.“ Jeden Monat kam ein Priester der ökumenischen katholischen Kirche zur Plantage. Mark hatte nie am Gottesdienst teilgenommen, aber er hatte still aus einiger Entfernung zugesehen. „Normalerweise arbeite ich im großen Haus. Heiß ist es, nicht wahr?“ Er stimmte zu, daß es heiß war, dann wußte er nicht weiter. „Du bist wunderhübsch“ ist sowieso klar, wenn ich auch meine, daß es wirklich so ist. „Komm, wir reden mit deiner Unterkunftsführerin“ ist auch keine besonders gute Idee, weniges auch genau das ist, was ich sagen möchte. Ganz davon abgesehen, daß sie so was gar nicht hat, wenn sie im großen Haus wohnt. „Wie lange hast du?“ 290
„Zwei noch. Wenn ich achtzehn bin. Sie zählen die Strafzeit immer noch nach der Erdzeit. Eigentlich bin ich elf.“ Wieder Schweigen. „Du sagst nicht gerade viel, oder?“ „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Tut mir leid.“ „Schon in Ordnung. Die meisten reden sich den Mund fusselig. Versuchen mich zu bequatschen, verstehst du, was ich meine?“ „Oh.“ „Ja, ja. Aber ich hab’s nie gemacht. Ich bin gläubig, gefirmt und alles.“ Sie sah ihn an und lächelte lausbübisch. „Also bin ich ein doofes Chormädchen, und über was soll man da noch mit mir reden?“ „Ich denke daran, daß ich mir gewünscht habe, ich wäre du“, sagte Mark und lachte. „Das ist es nicht genau, was ich meine. Ich wollte sagen, ich hab’ dich bei der Messe angesehen. Du hast glücklich ausgesehen. Als hättest du was, wofür du lebst.“ „Na, selbstverständlich. Das haben wir doch alle. Müssen wir haben – die Leute versuchen schon mit aller Kraft, am Leben zu bleiben. Wenn ich hier rauskomme, werde ich den Padre bitten, daß ich ihm helfen darf. Vielleicht werde ich Nonne.“ „Willst du nicht heiraten?“ „Wen? Einen Häftling? Meine Mutter hat das gemacht, und guck dir doch an: Mich haben sie ‚in die Lehre’ genommen, bis ich achtzehn Erdjahre alt bin, weil ich ein Gefangenenkind bin. Das wird meinen Kindern nicht passieren!“ „Du könntest einen freien Mann heiraten.“ 291
„Die sind alle ziemlich alt, wenn sie ihre Zeit rum haben. Und sind nicht viel wert. Weder für sich selbst noch für sonst jemanden. Machst du mir einen Antrag?“ Er lachte, und sie lachte mit ihm; es wurde der angenehmste Nachmittag, seit er die Erde verlassen hatte. „Ich habe Glück gehabt“, erzählte sie ihm. „Der alte Ewigfeuer hat mich ausgelöst. Dort, wo ich geboren bin, würde der Pflanzer jetzt Geschäfte mit mir machen.“ Sie starrte in den Schmutz. „Ich kenne Mädchen, mit denen man das gemacht hat. Sie mögen sich selbst nicht mehr leiden nach einiger Zeit.“ Sie hörten die schrillen Trompeten von den anderen Feldern her. Mark suchte mit den Augen den Rand des Dschungels vor sich ab. Nichts rührte sich. Juanita erzählte weiter. Sie fragte ihn über die Erde aus. „Es ist schwer, sich diesen Ort vorzustellen“, sagte sie. „Ich habe gehört, die Leute leben dort ganz dicht zusammengedrängt.“ Er erzählte von den Städten. „In der Stadt, aus der ich komme, leben zwanzig Millionen Menschen.“ Er sprach auch von den Wohlfahrtsinseln aus Beton am Rand der großen Städte. Sie schauderte. „Lieber lebe ich auf Tanith als so. Es ist ein Wunder, daß die Leute auf der Erde nicht alles niederbrennen und in die Sümpfe ziehen.“ Der Abend kam schneller, als er erwartet hatte. Nach dem Abendessen verfiel er in eine nachdenkliche Stimmung. Seit langem hatte er sich nicht mehr gewünscht, ein Tag möchte andauern. Es ist dumm, so was zu denken, sagte er sich. Aber er war zwanzig Jahre alt, und 292
sonst war niemand da, an den er denken konnte. In dieser Nacht träumte er von ihr. Er sah sie oft im Laufe des Sommers. Sie hatte keinerlei Bildung, und Mark fing an, ihr das Lesen beizubringen. Er kratzte Buchstaben in den Boden und kaufte von seinem Geld reißerische Abenteuergeschichten – das einzige, was an Lesbarem aufzutreiben war. Juanita lernte schnell. Sie schien Spaß an Marks Gesellschaft zu haben, und oft richtete sie es ein, für dasselbe Feld wie er eingeteilt zu werden. Sie sprachen über alles: die Erde, und daß sie nicht nur aus Sümpfen bestand. Er erzählte ihr vom blauen Himmel, vom Segeln auf dem Pazifik und den Inselbuchten, die er ausgekundschaftet hatte. Sie glaubte, das meiste davon sei erfunden. Streit bekamen sie nur, wenn er sich darüber beschwerte, wie ungerecht das Leben sei. Sie lachte ihn aus. „Ich bin mit einer Verurteilung geboren“, sagte sie ihm. „Du hast in einem schönen Haus gewohnt mit eigenem Hubschrauber und einem Boot, und du bist zur Schule gegangen. Wenn ich nicht jammere, warum solltest du’s dann, Mr. Taxpayer?“ Er wollte ihr sagen, daß auch sie ungerecht sei, hielt sich aber zurück. Statt dessen sprach er zu ihr über verschmutztes Wasser und sich ausbreitende Städte. „Aber die Verschmutzung haben sie jetzt im Griff“, sagte er. „Und die Bevölkerungszahl sinkt. Was mit der Sperrzeit und dem USB …“ Sie sagte nichts, und Mark konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Juanita starrte auf den leeren Dschungel. 293
„Ich wünschte, ich könnte irgendwann mal einen blauen Himmel sehen. Ich kann mir das nicht einmal vorstellen, also muß es wohl wahr sein, was du sagst.“ Abends sah er sie nicht oft. Sie blieb allein oder arbeitete im großen Haus. Manchmal allerdings ging sie mit Curt Morgan spazieren oder saß mit ihm auf der Veranda des großen Hauses. Dann kaufte Mark eine Flasche Gin und machte sich auf die Suche nach Tappinger, denn dann war es nicht gut, allein zu sein. Der alte Mann pflegte lange, monotone Vorträge zu halten, bei denen Mark fast einschlief, doch dann stellte er Fragen, die jegliche Weltsicht Marks auf den Kopf stellten. „Aus dir könnte mal ein passabler Soziologe werden“, sagte Tappinger. „Na, es heißt ja, die beste Universität sei ein Baumstamm mit einem Studenten an dem einen und einem Professor am anderen Ende. Das haben wir ja.“ „Alles, was ich, soweit ich sehe, lerne, ist, daß alles kaputt ist. Alles ist verkehrt“, sagte Mark. Tappinger schüttelte den Kopf. „Es hat noch nie eine Gesellschaft gegeben, in der nicht einer gedacht hat, die Dinge sollten besser stehen – für ihn selbst. Der Trick bei der Sache ist, zu erkennen, daß diejenigen, die einen besseren Weg wollen, und zwar genug wollen, um dafür etwas zu tun, entweder innerhalb des Systems aufsteigen können oder von diesem unschädlich gemacht werden. Was die Erde natürlich auch tut – Kämpfer kommen zur Marine. Unzufriedene werden in die Kolonien ausgeflogen. Der Kreis ist geschlossen. Drogen für die Bürger, 294
Privilegien für die Steuerzahler, den Frieden für alle besorgt die Flotte – und die Sklaverei für Unzufriedene. Oder den Tod. Die Kolonien verbrauchen Menschen.“ „Dann ist es wohl stabil.“ „Kaum. Wenn die Erde sich nicht selbst zerstört – und den Gerüchten nach sind die Nationen sich an der Kehle, trotz Marine –, na, hier haben sie einen Dampfkessel aufgebaut für das, was die alte Welt eines Tages zerstören wird. Sieh dir an, was wir hier haben. Glücksritter, Abenteurer, Kriminelle, Rebellen – und alle nach Überlebensfähigkeiten ausgesucht. Der Deckel geht irgendwann hoch.“ Sie sahen Juanita und Curt Morgan um das große Haus herumgehen, und Mark zuckte zusammen. Juanita war größer geworden während des Sommers. Jetzt, mit gekämmten Haaren und in sauberen Kleidern, war sie so hübsch, daß es weh tat, sie anzusehen. Taps lächelte. „Ich sehe, mein Glanzschüler hat ein anderes Interessengebiet gefunden. Kopf hoch, Junge. Wenn du hier fertig bist, wirst du Arbeit finden. Du wirst die Wahl haben unter den Häftlingsmädchen – du kannst sie mieten oder geradewegs eins kaufen.“ „Ich hasse Sklaverei!“ Taps zuckte die Achseln. „Das solltest du auch. Obwohl du vielleicht überrascht wärst, was Menschen, die das sagen, zu tun imstande sind, wenn die Gelegenheit sich bietet. Aber beruhige dich. Ich habe gemeint: eine Ehefrau kaufen, nicht eine Hure.“ „Aber Ehefrauen kauft man nicht, verdammt noch mal! Frauen sind keine Gegenstände!“ 295
Tappinger lächelte mild. „Ich vergesse leicht, was für ein harter Schlag es für euch junge Leute ist. Ihr erwartet, daß alles so ist, wie es auf der Erde war. Und doch seid ihr hier, weil ihr mit eurer Welt dort nicht zufrieden wart.“ „Sie war kaputt.“ „Möglicherweise. Aber ihr mußtet das Kaputte suchen. Hier könnt ihr ihm nicht aus dem Weg gehen.“ Nach Abenden wie diesem konnte Mark lange keinen Schlaf finden. 5 Die Erntezeit war nicht mehr weit. Die Borshitepflanzen standen in voller Blüte und bildeten mattrote Tupfer gegen die braunen Hügel und den grünen Dschungel, in den Feldern wimmelte es von summenden Insekten. Die Natur hatte das Problem der Fortpflanzung ohne Inzucht auf Tanith sowie fünfzig anderen Welten auf dieselbe Weise gelöst wie auf der Erde. Die surrenden Insekten zogen Insektenfresser an, die ihrerseits Beute von anderen wurden. Kurz vor der Ernte gab es wenig Arbeit, aber die Felder mußten ständig bewacht werden. Wieder arbeiteten Leute aus dem Hausund Verarbeitungsbereich mit den Feldarbeitern zusammen, und Mark verbrachte viele Tage mit Juanita. Sie trieb ihn langsam zum Wahnsinn. Er wußte, so naiv, wie sie tat, konnte sie nicht sein. Sie mußte wissen, wie es ihm ging und was er wollte, aber sie gab ihm keine Chance. 296
Manchmal war er sicher, daß sie ihn ärgern wollte. „Warum kommst du nie mal abends zu mir?“ fragte sie eines Tages. „Das weißt du doch. Curt Morgan ist immer da.“ „Ja, klar, aber mein Vertrag ist – gehört doch nicht ihm. Klar, wenn du Angst vor ihm hast …“ „Da hast du verdammt recht, ich habe Angst vor ihm. Er könnte Hackfleisch aus mir machen. Ganz zu schweigen davon, was passiert, wenn der Vorarbeiter wütend auf einen Strafgefangenen ist. Im übrigen dachte ich, er gefällt dir.“ „Klar. Na und?“ „Er hat mir erzählt, er will dich einmal heiraten.“ „Das erzählt er allen. Mir hat er es allerdings noch nicht gesagt.“ Mark registrierte grimmig, daß vom Nonnewerden keine Rede mehr war. „Klar, Curt ist der einzige Mann, der wenigstens sagt, daß er … Mark, paß auf!“ Mark sah im Winkel seines Gesichtsfelds einen Schatten und schleuderte seinen Speer herum. Etwas war dabei, auf ihn loszugehen. „Sieh zu, daß du hinter mich kommst, und lauf!“ rief er. „Halt dich so, daß ich ihm gegenüber bleibe, und mach, daß du wegkommst!“ Sie ging hinter ihn, und er hörte ihre Trompete schmettern, aber sie lief nicht fort. Mark hatte keine Zeit mehr, sich mit ihr zu beschäftigen. Das Tier war fast eineinhalb Meter lang, gedrungen gebaut und hatte klobige Beine und breite Füße. Die Schnauze sah wie die eines 297
Erdwarzenschweins aus, mit vier nach oben ragenden Hauern. Sein dünner Schwanz peitschte, während es rannte. „Porker“, sagte Juanita leise. Sie war direkt hinter ihm. „Manchmal greifen sie Menschen an. So wie jetzt. Reize es nicht, vielleicht geht es weg.“ Mark war nichts mehr recht, als das Ding in Ruhe zu lassen. Es sah aus, als wäre es so schwer wie er selbst. Die ausladenden Füße mit den kleinen Krallen gaben ihm besseren Halt als Schuhnägel einem Menschen. Es umkreiste sie argwöhnisch in etwa drei Metern Entfernung. Mark drehte sich vorsichtig, um es vor sich zu behalten. Den Speer hielt er auf seinen Hals gezielt. „Ich hab’ dir gesagt, du sollst machen, daß du wegkommst“, sagte Mark. „Klar. Normalerweise tauchen diese Dinger zu zweit auf.“ Sie redete sehr leise. „Ich hab’ Angst, noch mal die Trompete zu blasen. Wenn nur Curt mit seinem Gewehr kommen würde.“ Da ertönten Gewehrschüsse, ziemlich weit weg, dem Klang nach zu urteilen. „Mark“, flüsterte Juanita eindringlich. „Da ist noch eins. Ich stelle mich Rücken an Rücken mit dir.“ „In Ordnung.“ Er wagte nicht, das Tier vor sich aus den Augen zu lassen. Was wollte es? Es kam langsam näher und hielt gerade außer Wurf reich weite an. Dann stürzte es mit einem Schrei los, der von einem irdischen Schwein nie hätte kommen können. Mark stieß mit dem Speer nach ihm, es zuckte vor der Spitze zur Seite und rannte vorbei. Mark drehte sich um und wollte ihm folgen, als er sah, daß das andere Tier auf 298
Juanita losging. Sie war im Schlamm ausgerutscht und hingefallen und versuchte verzweifelt, wieder auf die Beine zu kommen, während Porker auf sie zulief. Mark stieß einen tierischen Wutschrei aus. Er kam auf dem Schlamm ins Rutschen, konnte aber das Gleichgewicht halten, stürmte vorwärts und stieß mit einem neuen Schrei mit dem Speer zu. Er bohrte sich in das dicke Fell. Der Porker drängte gegen ihn, so daß er in den Schlamm fiel. Verzweifelt hielt er den Speer fest, doch das Tier ging unaufhaltsam weiter vor. Die Speerspitze drang durch das Rückenfell und kam wieder heraus, wobei der Schaft zwischen Fell und Fleisch entlangglitt und das Tier langsam, aber sicher aufspießte. Die Hauer näherten sich seinen Geschlechtsteilen. Mark hörte sich selbst wimmern vor Furcht. „Ich kann ihn nicht halten!“ rief er. „Lauf!“ Sie lief nicht. Sie kam auf die Füße und bohrte ihren Speer in die knurrende Kehle, dann zwang sie mit einem Ruck den Kopf in den Schlamm. Mark rappelte sich auf. Er blickte wild umher auf der Suche nach dem anderen Tier. Es war nirgends zu sehen, aber das aufgespießte Tier knurrte grauenhaft. „Mark, Liebster, zieh deinen Speer aus ihm raus, ich halt ihn solange“, rief Juanita. „Lange kann ich nicht halten – schnell, jetzt!“ Mark riß sich aus der Lähmung, in welche die Furcht ihn versetzt hatte. Die Hauer bewegten sich heimtükkisch, und er spürte sie, obwohl sie ihm nicht nahe kamen, spürte sie an seinen Lenden zerren. „Bitte, Liebster“, sagte Juanita. 299
Er zog am Speer, doch der wollte nicht loskommen, da stieß er ihn noch weiter vor, lief um das Tier herum, um ihn durch das lockere Rückenfell des Porkers herauszuziehen. Der Schaft kam blutig heraus. Seine Hände glitten ab, aber er hielt den Speer fest und stieß zu, wieder und wieder in blinder Wut und schrie: „Stirb, stirb, stirb!“ Morgan kam erst eine halbe Stunde später. Als er herangaloppierte, standen sie, mit den Armen einander umschlingend, da. Juanita ging langsam von Mark fort, als Morgan abstieg, blieb jedoch mit einem Blick an ihm hängen, in dem etwas Besitzergreifendes lag. „So steht’s also jetzt?“ fragte Morgan. Sie gab keine Antwort. „Ein Feld weiter war eine ganze Herde von diesen Dingern“, sagte Curt entschuldigend. „Drei Männer und eine Frau tot. Bin so schnell gekommen, wie’s ging.“ „Mark hat den hier getötet.“ „Sie war’s. Er hätte mich gekriegt …“ „Langsam“, sagte Curt. „Es lief genau in den Speer rein“, sagte Mark. „Das hab’ ich auch schon mal gesehen.“ Morgan schien seine Worte sorgfältig zu wählen. „Ihr zwei müßt noch eine Weile länger hierbleiben. Wir haben vier Leute verloren, und …“ „Wir kommen schon zurecht“, warf Juanita ein. „Ja, ja.“ Morgan ging zu seinem Pferd zurück. „Ja, ja, das glaube ich.“ Er ritt schnell davon. Dem Brauch nach stand der Kadaver Mark und Juanita 300
zu, und sie luden ihre Freunde an diesem Abend zum Schmaus ein. Danach gingen Mark und Juanita fort von dem Lagergelände und blieben lange weg. „Taps, was, zum Teufel, soll ich machen?“ fragte Mark. Sie waren draußen in der unerwarteten Kühle eines Spätsommerabends. Mark hatte geglaubt, es würde nie wieder kühler werden; jetzt stand die Ernte kurz bevor. Der Herbst und Winter würden von nur kurzer Dauer sein, doch diese Monate waren fast angenehm auf Tanith. „Was ist los?“ „Sie ist schwanger.“ „Kaum verwunderlich. Und auch kein Weltuntergang. Es gibt viele Wege, um …“ „Nein, davon will sie nichts wissen. Sie sagt, das ist Mord. Dieser verdammte Padre. Gottverfluchte Kirche, kein Wunder, daß sie diesen Spaßvogel herschicken. Der macht die Sklaven zufrieden.“ „Das ist wohl kaum die einzige Aktivität der Kirche, aber die Wirkung hat es. Na, und was bedeutet es für dich? Wie du schon oft dargelegt hast, gibt es hier für dich keine Verantwortungen. Und in dieser Sache hast du gewiß keine gesetzlichen Verpflichtungen.“ „Das ist mein Kind! Und sie ist meine – ich meine, ach, verdammt noch mal, ich kann nicht einfach …“ Tappinger lächelte grimmig. „Ich mache dich darauf aufmerksam, daß Gewissen und ethische Gefühle ein kostspieliger Luxus sind. Aber wenn du entschlossen bist, dich damit zu belasten, laß uns mal deine Alternativen durchgehen. 301
Du kannst Ewigfeuer um Erlaubnis bitten, sie zu heiraten. Wahrscheinlich wirst du sie bekommen. Der neue Gouverneur hat die sogenannte Lehre für in Haft geborene Kinder abgeschafft. Deine Strafzeit ist nicht allzu lang. Wenn sie vorbei ist, bist du frei …“ „Um was zu tun? Ich hab’ die Exhäftlinge in Whiskeytown gesehen.“ „Es gibt Jobs. Die gesamte Ökonomie eines Planeten ist hier aufzubauen.“ „Ja, ja, klar. Mir die Knochen für irgendwelche Händler kaputtschuften. Oder wie Curt Morgan arbeiten, Häftlinge schleifen.“ Tappinger zuckte mit den Achseln. „Es gibt Alternativen. Den öffentlichen Dienst. Oder selbst das Gewerbe lernen und Pflanzer werden. Eine Finanzierung ist immer drin für die, die produzieren können.“ „Ich wäre immer noch ein Sklavenhalter. Ich will raus aus dem System. Raus aus der ganzen verfluchten Geschichte!“ Tappinger seufzte und setzte die Flasche zum Trinken an. Zwischen zwei Schlucken sagte er: „Es gibt viele Dinge, die wir alle wollen. Na und weiter?“ Dann leerte er die Flasche aus. „Es gibt einen anderen Weg“, sagte Mark. „Einen, der aus all dem rausführt.“ Tappinger blickte schnell hoch. „Nicht einmal denken solltest du das! Mark, du glaubst, der Freistaat sei so eine Art Traumwelt. Genau das ist er – ein Traum. In der Realität ist da nichts weiter als eine Bande gesetzloser Menschen, die wie Tiere von dem leben, was sie stehlen kön302
nen. Ohne Gesetze kann man nicht leben.“ Verdammt gut kann ich ohne die Art von Gesetzen leben, die sie hier haben, dachte Mark. Und natürlich stehlen sie. Warum auch nicht? Wie sollen sie sonst leben? „Und andauern wird es sowieso kaum. Der Gouverneur hat ein Söldnerregiment eingeschaltet, das sich mit dem Freistaat befassen wird.“ Was anderes hätte ich auch nicht erwartet, dachte Mark. „Warum nicht die CD-Marineinfanterie?“ Tappinger hob die Schultern. „Budgetgeschichten. Es gibt nicht genug CD-Streitkräfte, um den Frieden aufrechtzuerhalten. Der Große Senat ist nicht bereit, für die Überwachung Taniths zu zahlen. Also werden wieder die Pflanzer angezapft, damit sie für ihren Schutz zahlen.“ Und das soll mir nur recht sein, dachte Mark. „Söldner können da doch nicht viel ausrichten. Die liegen lieber in Kasernen rum und kassieren den Sold.“ Seine Lehrer hatten das gesagt. „Hast du schon mal welche kennengelernt?“ „Nein, natürlich nicht. Hör mal, Taps, ich bin müde. Ich glaub’, ich geh’ lieber ins Bett.“ Er drehte sich um und verließ den alten Mann. Zum Teufel mit ihm, dachte Mark. Ein alter Mann, ein altes Weib, das ist er. Nicht genug Mumm hat er, hier rauszukommen und seinen eigenen Weg zu gehen. Na, soll er doch machen, was er will. Ich habe bessere Dinge vor. Die Ernte fing an. Die Borshiteschoten bildeten sich und wurden abgeschnitten, der klebrige Saft wurde gesammelt. Der Saft wurde gekocht, abgeschöpft und wie303
der eingekocht, bis er auf einen winzigen Bruchteil der massigen Pflanzen reduziert war, die sie den ganzen Sommer hindurch bewacht hatten. Und Ewigfeuer brach auf den Stufen des großen Hauses zusammen. Morgan flog ihn ins Krankenhaus nach Whiskeytown. Er kam mit einem jungen Mann zurück: Ewigfeuers Sohn, von seinem Verwaltungsposten in der Stadt beurlaubt. „Dieser alte Mistkerl will dich draußen sehen“, sagte Lewis. Mark seufzte. Er hatte einen langen Tag auf den Feldern hinter sich und war müde. Auch Tappingers ewige Vorträge über die Greuel des Freistaats war er müde. Aber der Mann war immer noch sein einziger Freund. Mark nahm die Flasche und ging nach draußen. Tappinger griff gierig nach der Flasche. Er schüttete ein paar kräftige Schlucke hinunter. Seine Hände zitterten. „Komm mit“, flüsterte er. Verwirrt folgte ihm Mark. Taps ging voraus zu dem schattigen Bereich am großen Haus. Juanita war dort. „Mark, Liebster, ich habe Angst.“ Tappinger nahm einen neuen Schluck. „Der Ewigfeuerjunge versucht Geld aufzutreiben“, sagte er. „Er fegt durchs Haus, wettert über all die unnützen Leute, die sein Vater hält, und brüllt, daß sein Vater sich ruiniert. Die Krankenhauskosten sind sehr hoch, wie es scheint. Und diese Farm ist schwer verschuldet. Er ist dabei, Verträge zu verkaufen. Ihrer war einer davon. Für fast zweitausend Scheine.“ „Verkauft?“ sagte Mark wie benommen. „Aber sie hat nicht mal mehr zwei Jahre!“ 304
„Ja“, sagte Taps. „Es gibt nur eine Art, wie ein Pflanzer hoffen könnte, soviel aus dem Kauf eines jungen, hübschen Mädchens wieder herauszuschlagen.“ „Verfluchte Bande“, sagte Mark. „Also gut. Wir müssen hier raus.“ „Nein“, sagte Tappinger. „Ich habe dir gesagt, warum nicht. Nein, ich weiß etwas Besseres. Ich kann die Unterschrift des Alten auf einem Genehmigungsschein fälschen, und du kannst Juanita heiraten. Die Fälschung wird rauskommen, aber bis dahin …“ „Nein“, sagte Mark. „Glaubst du, ich bleibe hier, um ein Rädchen in diesem System zu werden? Eine freie Gesellschaft braucht gute Leute.“ „Mark, bitte“, sagte Tappinger. „Glaub mir. Es ist nicht das, wofür du es hältst! Wie kannst du an einem Ort ohne Regeln leben, du mit deinen Ideen von Gerechtigkeit und …“ „Scheißdreck. Von jetzt an sorge ich selbst für mich. Und für meine Frau und mein Kind. Wir verschwenden Zeit.“ Er ging auf die Ställe zu. Juanita folgte. „Mark, du verstehst nicht“, protestierte Tappinger. „Halt den Mund. Ich muß die Wache finden.“ „Sie ist genau hinter dir.“ Morgans Stimme war ruhig und leise. „Mach keine komischen Geschichten, Mark.“ „Wo kommst du her?“ „Ich beobachte euch seit zehn Minuten. Hast du gedacht, du könntest zum großen Haus kommen, ohne dabei gesehen zu werden? Du verdammter Idiot. Ich sollte dich in den Dschungel laufen lassen, wo du umkommst. Aber du kannst ja nicht allein gehen – nein, du mußt 305
Juanny mitnehmen. Ich dachte, du hättest mehr Verstand. Wir haben den Prügelpfosten hier seit einem Jahr nicht mehr benutzt, aber zwei Dutzend könnten dich wieder zu Verstand bringen.“ Morgan wollte sich umdrehen, da bewegte sich etwas hinter ihm. Dann sackte er zusammen. Juanita schlug ihn noch einmal mit einem Holzscheit. Morgan fiel auf den Boden. „Ich hoffe, er wird sich erholen“, sagte Juanita. „Wenn er aufwacht, sag ihm bitte, Taps, warum wir weglaufen mußten.“ „Ja, kümmere dich um ihn“, sagte Mark. Er war damit beschäftigt, Morgan den Waffengürtel abzuschnallen. Mark fand den Kompaß und grinste. „Du bist ein Idiot“, sagte Tappinger. „Um Männer wie Curt Morgan braucht man sich nicht zu kümmern. Leute wie du sind es, die Hilfe brauchen.“ Tappinger redete immer noch, aber Mark hörte nicht mehr zu. Er brach das Schloß am Stall auf, dann öffnete er drinnen den Vorratsraum. Im Raum für das Zaumzeug fand er Kochgeschirr. Ein Plastikkanister mit Kerosin war auch da. Mark und Juanita sattelten zwei Pferde. Sie führten sie nach draußen an den Rand des Lagers. Tappinger stand an der aufgebrochenen Stalltür. Sie schauten eine Sekunde lang zurück, winkten dann und ritten in den Dschungel. Noch bevor sie ganz verschwunden waren, hatte Tappinger Marks letzten Rest Gin getrunken. Sie flohen panikartig nach Süden. Bei jedem Geräusch dachten sie, es sei Morgan oder ein Suchtrupp mit Hun306
den. Außerdem waren da noch die namenlosen Dschungelgeräusche. Die Pferde waren genauso verängstigt wie sie selbst. Am Morgen fanden sie ein Fleckchen mit braunem Gras, eine winzige Lichtung auf trockenem Grund. Ein Feuer zu machen, wagten sie nicht, und zu essen hatten sie nur ein paar Kekse und etwas Getreide. Ein Weemstier griff von einer kleinen Baumgruppe auf der Höhe der Lichtung her an. Mark erschoß es und verschwendete Munition dabei, indem er schoß und schoß, bis er sicher war, es getötet zu haben. Danach hatten sie zuviel Angst, dort zu bleiben, und machten sich wieder auf den Weg. Sie hielten sich in Richtung Süden. Mark hatte gehört, wie Häftlinge vom Freistaat gesprochen hatten. Im Süden, in einer Meeresbucht im Dschungel. Das war alles, was er als Orientierung hatte. Ein Krokodil bedrohte sie, doch sie ritten vorbei, Mark mit der Pistole fest in der Hand, während das Untier sie anstarrte. Natürlich war es kein richtiges Krokodil, aber es sah schon recht ähnlich aus wie die auf der Erde. Parallelevolution, dachte Mark. Welche Form wäre besser an das Leben in diesem Dschungel angepaßt? Am dritten Tag kamen sie an einen schmalen Meeresarm und folgten ihm nach links tiefer in den Dschungel hinein, mit der See zu ihrer Rechten und der grünen Hölle zu ihrer Linken. Das Wasser folgte den Windungen eines alten, durch geologische Verschiebungen vor langer Zeit ausgetrockneten Flußbetts. Kleine Bäche hatten sich durch die Klippen an beiden Seiten durchgearbeitet und stürzten über zerklüftete Felsen hundert Meter tief in 307
grünen Schaum. Am orangefarbenen, dunstigen Himmel zogen Wolkenfetzen in geringer Höhe vorbei. Als es dunkel wurde, machten sie halt, und Mark wagte ein Feuer. Er schoß ein Crownear, und sie rösteten es. „Das Schlimmste ist vorbei“, sagte Mark. „Jetzt sind wir frei. Frei.“ Sie kroch in seine Arme. Sie sah besorgt, aber zufrieden aus, doch ihr Gesicht zeigte Furchen, die sie älter als Mark aussehen ließen. „Du hast mich nie gefragt“, sagte sie. Er lächelte. „Willst du mich heiraten?“ „Klar.“ Sie lachten beide. Der Dschungel schien so nah, und die Pferde wieherten in unruhiger Angst. Mark schürte das Feuer. „Frei“, sagte er. Er hielt sie fest an sich gedrückt, und sie waren sehr glücklich. 6 Mark wachte mit einem Messer an der Kehle auf. Ein großer, häßlicher Mann, braungebrannt und mit Narben kreuz und quer über den nackten Oberkörper, hockte vor ihnen. Er beäugte Mark und Juanita und grinste. „Was haben wir denn da?“ sagte er. „Zwei Flüchtlinge?“ „Ich hab’ alles, Art“, sagte jemand hinter ihnen. „Ja, ja, okay, Kameraden, los geht’s. Raus da, ich hab’ nich’ den ganzen Tag Zeit.“ Mark half Juanita auf die Beine. Der Arm, in dem er sie gehalten hatte, war ihm eingeschlafen. Als Mark aufstand, nahm ihm der häßliche Mann fachmännisch die 308
Pistole aus dem Gürtel. „Wer seid ihr?“ fragte Mark. „Nenn mich Art. Feldwebel vom Boß. Los, kommt.“ Es waren noch fünf andere da, alle zu Pferd. Art ritt durch den Dschungel voran. Als Mark versuchte, etwas zu Juanita zu sagen, drehte Art sich um. „Ich sag’s dir nur einmal. Halt den Mund. Noch ein Wort zu irgend jemandem außer mir, und ich bring’ dich um. Irgendein Wort zu mir, das mir nicht paßt, und ich schneid’ dich in Stücke. Kapiert?“ „Ja, Sir“, sagte Mark. Art lachte, und sie ritten schweigend weiter. Der Freistaat bestand größtenteils aus Höhlen in den Hügeln über dem Meer. Mehr als fünfhundert Männer und Frauen zählten dazu. Im Dschungel draußen gab es noch mehr Flüchtlingslager, sagte Art. „Aber wir haben das größte. Sind schön vorsichtig gewesen – wenn wir die Pflanzer plündern, schaffen wir es im allgemeinen, daß es so aussieht, als wäre es irgend jemand von ihrem Verein gewesen. Der Gouverneur hat sowieso keine große Armee. Bis hierher kommen sie uns nicht hinterher.“ Mark wollte gerade etwas über die Söldner sagen, die der Gouverneur angeheuert hatte. Dann überlegte er es sich anders. Der Boß war ein schwergebauter Mann mit langen farblosen Haaren, die ihm bis über die Schultern hingen. Er hatte einen Schnauzbart und starr blickende blaue Augen. Er saß im Eingang einer Höhle auf einem großen, geschnitzten Stuhl wie auf einem Thron und hatte ein Gewehr quer über den Knien. Ein großer Schwarzer 309
stand hinter dem Stuhl, ließ keinen aus den Augen und sagte kein Wort. „Flüchtlinge, he?“ „Ja“, sagte Mark. „Ja, Boß. Vergiß das nicht.“ „Ja, Boß.“ „Was kannst du? Kannst du kämpfen?“ Als Mark nicht antwortete, deutete der Boß auf einen kleineren Mann in der Menge, die sich rundherum versammelt hatte. „Nimm ihn dir vor, Choam.“ Der kleine Mann ging auf Mark zu. Sein Fuß schoß nach oben und traf Mark in die Rippen. Dann kam er näher. Mark versuchte ihn zu schlagen, aber der Mann sprang zur Seite und schlug Mark quer über das Gesicht. „Das reicht“, sagte der Boß. „Du kannst nicht kämpfen. Was kannst du?“ „Ich …“ „Ja, ja.“ Er sah über die Schulter nach hinten zu dem Schwarzen. „Willst du ihn, George?“ „Nein.“ „Gut. Art, du hast ihn gefunden. Er gehört dir. Ich nehme das Mädchen.“ „Das dürfen Sie nicht!“ schrie Mark. „Nein!“ rief Juanita. Die übrigen Männer blickten den Boß an. Als sie sahen, daß er lachte, lachten sie alle. Art und noch zwei nahmen Mark bei den Armen und zogen ihn fort. Zwei andere führten Juanita in die Höhle hinter dem Boß. „Aber das geht doch nicht!“ schrie Mark. 310
Sie lachten noch mehr. Der Boß wandte sich der Höhle zu. Dann drehte er sich noch einmal zu Mark und den Männern um, die Mark festhielten. „Laß den Kleinen hier, Art. Ich möchte mit ihm reden. Macht das Mädchen sauber“, rief er nach hinten. „Und alle andern raus hier.“ Die anderen machten sich davon, alle, bis auf den Schwarzen, der hinter dem Thron vom Boß gestanden hatte. Der Schwarze ging ein paar Meter zur Seite und setzte sich unter einen Felsvorsprung. Es sah kühl aus da drinnen. Er zog eine Pfeife hervor und stopfte sie. „Komm her, Kleiner. Wie heißt du?“ „Fuller“, sagte Mark. „Mark Fuller.“ „Komm hier rüber. Setz dich.“ Der Boß zeigte auf eine flache Felsbank gerade hinter dem Höhleneingang. Die Höhle schien weit nach innen zu gehen, dann machte sie einen Bogen. Niemand war zu sehen. Mark glaubte, Frauenstimmen zu hören. „Setz dich, hab’ ich gesagt. Erzähl mir, wie ihr hierhergekommen seid.“ „Ich war bei einem Studentenaufstand dabei.“ Mark horchte angestrengt, aber aus der Höhle war nichts mehr zu hören. „Student also. Keine Angst, Fuller. Keiner tut deiner Freundin was. Deine Sorge ist rührend. So was sieht man hier nicht oft. Erzähl mir von eurem Aufstand. Wo war das?“ Der Boß war ein guter Zuhörer. Als Mark zu sprechen aufhörte, stellte er Fragen, prüfende Fragen, so als hätte er Interesse an Marks Geschichte. Manchmal lächelte er. Draußen waren verschiedene Gruppen bei der Arbeit: eine mit Holz, eine andere mit Grabarbeiten vor den 311
Höhlen beschäftigt. Frauen trugen Wasser. Niemand von denen interessierte sich für die Unterhaltung, die der Boß führte. Sie schienen eher ängstlich darauf bedacht, nicht in die Höhle zu sehen – alle, bis auf den Schwarzen, der in seiner kühlen Nische saß und niemals wegzuschauen schien. Nach und nach erzählte Mark von seiner Verhaftung, der Verurteilung und von Ewigfeuers Plantage. Der Boß nickte. „So bist du also auf der Suche nach den Freistaaten. Und was hast du erwartet?“ „Freie Menschen! Freiheit, nicht …“ „Nicht Despotismus.“ In den Worten klang etwas Freundliches mit. Der Boß lachte in sich hinein. „Weißt du, Fuller, es ist bemerkenswert, wie sehr deine Geschichte der meinen ähnelt. Außer, daß ich immer kämpfen konnte. Und Freunde finden konnte. Gute Freunde.“ Er bewegte den Kopf in Richtung auf den Schwarzen. „George da zum Beispiel. Zwischen uns gibt es nichts, was wir nicht regeln könnten. Du armer Irrer, was, zum Teufel, hast du dir vorgestellt? Was solltest du hier machen? Wozu taugst du denn? Du kannst nicht kämpfen, du jammerst rum von fair und gerecht, du kannst nicht für dich selbst sorgen, und da kommst du hier in den Busch zu uns. Du hast doch gewußt, wer wir sind.“ „Aber …“ „Und jetzt bist du völlig fertig wegen deiner Frau. Ich nehme mir nichts, wovon sie nicht eine Menge zu vergeben hat. Das verbraucht sich nicht.“ Er stand auf und rief einem der Männer auf dem Platz zu: „Hol Art rüber.“ „Sie werden Juanita also vergewaltigen.“ Mark sah 312
sich nach einer Waffe um, nach irgend etwas. Ein Gewehr stand bei dem Stuhl vom Boß. Seine Augen hefteten sich darauf. Der Boß lachte. „Versuch’s. Aber das machst du nicht. Ach, Fuller, zum Teufel, es wird schon werden. Vielleicht lernst du ja sogar etwas. Ich hab’ jetzt eine Verabredung.“ „Aber …“ Wenn es nur etwas gäbe, was ich sagen könnte, dachte Mark. „Warum tun Sie das?“ „Warum nicht? Weil ich deine wertvolle Loyalität verliere? Schreib dir das hinter die Ohren. Hier läuft die Sache. Es gibt nichts anderes, wo du hin kannst. Lebe hier, und finde dich mit uns zurecht, oder spring über die Klippen da. Oder hau ab in den Dschungel, und sieh, wie weit du kommst. Du meinst, du bist clever. Vielleicht bist du’s. Wir werden ja sehen. Vielleicht lernst du, dich nützlich zu machen. Vielleicht. Art, bring den Kleinen in dein Quartier, und schau, ob er sich einfügt.“ „Gut, Boß. Komm.“ Art nahm Mark beim Arm. „Hör zu, wenn du Sperenzchen vorhast, mach zu und bring’s hinter dich. Ich hab’ keine Lust, die ganze Zeit hinter dir her zu sein.“ Mark drehte sich um und ging hinter dem anderen her. Hilflos. Ein verdammter Idiot und hilflos. Er lachte. „Na?“ sagte Art. „Was gibt’s zu lachen?“ „Der Freistaat. Freiheit. Freie Menschen …“ „Wir sind frei“, sagte Art. „Freier als die Typen in Whiskeytown. Du wirst es vielleicht auch mal sein. Wenn wir dir vertrauen können.“ Er zeigte auf den Klippenrand. Dahinter war die Meerenge. „Jeder, dem wir 313
nicht vertrauen können, geht da rüber. Der Sturz bringt sie nicht immer um, aber ich habe noch nie einen gesehen, der es bis zur Küste geschafft hat.“ Art suchte ihm einen Platz in seiner Höhle, wo noch sechs andere Männer und vier Frauen waren. Sie sahen Mark einen Moment lang an und gingen dann wieder ihren Beschäftigungen nach. Mark saß da und starrte auf den Boden der Höhle. Von der Höhle des Bosses glaubte er Männerlachen zu hören und ein Mädchen, das weinte. Zum erstenmal seit er zwölf war versuchte er zu beten. Beten, für was, fragte er sich. Er wußte es nicht. Ich hasse sie. Alle. Mark Fuller, wann wirst du bloß jemals Kontrolle über dein Leben bekommen? Aber das kommt nicht einfach so. Ich muß es selbst zuwege bringen. Irgendwie. Eine Woche ging vorüber. Das Leben war ohne Sinn. Er kochte für das Quartier, sammelte Holz und wusch Geschirr, und nachts hörte er den Geräuschen der Männer mit ihren Frauen zu. Sie ließen ihn nie allein. Das Weinen in der Höhle des Bosses hörte auf, aber er sah Juanita nicht. Wenn er beim Holzsammeln war, traf er manchmal auf Frauen aus dem Quartier des Bosses, und er hörte sie darüber reden, was für eine Erleichterung es sei, daß Chambliss – so hieß wohl der Boß – eine neue Spielgefährtin habe. Sie waren anscheinend nicht im geringsten eifersüchtig auf die Neuankunft. Spiel das Spiel mit, dachte Mark. Spiel es mit, bis – ja, bis was? Was kann ich tun? Fliehen? Zur Plantage zurückgehen? Wie? Und was passiert dann? Aber ich werde 314
da nicht mitmachen, ich werde nicht dazugehören! Nein! Eine Woche später nahmen sie Mark mit auf die Jagd. Er war unbewaffnet – seine Aufgabe war es, die Beute zu tragen. Sie mußten mehrere Kilometer von den Höhlen weggehen; Chambliss erlaubte nicht, in der Nähe des Lagers zu jagen. Mark war mit Art zusammen. Der Ältere war weder freundlich noch unfreundlich; er behandelte Mark wie ein nützliches Werkzeug, jemanden zum Tragen und Arbeiten. „Ist das alles, was es hier gibt?“ fragte Mark. „Jagen, im Lager rumsitzen, essen und …“ „… und ein bißchen vögeln“, sagte Art. „Was, zum Teufel, meinst du, sollen wir sonst machen? Farmen aufbauen, damit der Gouverneur weiß, wo wir sind? Uns geht’s gut. Keiner sagt uns, was wir zu tun und zu lassen haben.“ „Bis auf den Boß.“ „Ja, ja, bis auf den Boß. Aber niemand kommt uns in die Quere. Wir können für uns selbst leben. Kopf hoch, Kleiner, dir wird’s besser gehen, wenn du deine Frau zurückkriegst. Eines Tages wird er sie satt haben. Oder vielleicht kriegen wir ein paar mehr, wenn wir plündern gehen. Die Sache ist nur, daß du kämpfen mußt für eine Frau. Stell dich lieber besser dabei an als neulich.“ „Hat sie – haben sie gar nichts mitzureden dabei, mit wem sie zusammen sind?“ fragte Mark. „Warum sollten sie?“ Am zehnten Tag gab es Alarm. Jemand meinte, einen Hubschrauber gehört zu haben. Der Boß ordnete Nachtwachen an. 315
Mark war mit einem Mann namens Cal eingeteilt. Sie saßen zwischen den Felsen am Rand der Lichtung. Cal hatte ein Gewehr und ein Messer, Mark war unbewaffnet. Der Dschungel war pechschwarz, nicht einmal Sterne waren zu sehen. Schließlich zog der kleinere Mann Tabak und Papier aus der Tasche. „Auch eine?“ „Ja, gerne.“ „Gut.“ Er rollte zwei Zigaretten. „Vielleicht wirst du ja noch, hä? Am Anfang, als du gekommen bist, hab’ ich meine Zweifel gehabt. Es ist ein Wunder, weißt du, daß der Boß dich nicht über den Rand hat gehen lassen, so wie du mit ihm rumgeschrien hast. Keine Frau ist das wert, weißt du.“ „Ja, ja.“ „Hast sie sehr gern?“ fragte Cal. „Ziemlich.“ Mark schluckte heftig. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. „Klar, sie meinen, du gehörst ihnen, was sollst du da machen?“ Cal lachte. „Ja, ja. Hatte da mal ‘ne Alte in Baltimore. Eines Nachts ist sie mit dem Messer auf mich losgegangen, weil ich mit ihrer Schwester rumgemacht hab’. Wo bist du her, Kleiner?“ „Santa Maria, gehört zu San-San.“ „Bin ich auch schon mal gewesen. In San-San, nicht, wo du her bist. Da.“ Er gab Mark die Zigarette und machte ein Streichholz an, um beide anzuzünden. Sie rauchten schweigend. Es war nicht nur Tabak darin, wie Mark feststellte, sondern auch ein gutes Quantum Borloi. Mark vermied es, den Rauch einzuziehen, sprach 316
aber so, als hielte er ihn. Cal zog und ließ nichts verlorengehen. „Gutes Kraut“, sagte Cal. „Hättest was mitbringen sollen, als du abgehauen bist.“ „Hatt’s eilig.“ „Ja, ja.“ Sie lauschten den Dschungelgeräuschen. „Ein Leben ist das“, sagte Cal. „Ich wünschte, ich könnte zurück zur Erde. Irgendeine Wohlfahrtsinsel, irgendwo, wo es nicht so verflucht heiß ist. In Alaska würd’ ich leben. Schon mal da gewesen?“ „Nein. Gibt es keine – habt ihr keine Pläne, irgendwie die Sachen besser zu machen?“ „Na, der Boß redet davon, aber passieren tut nichts“, sagte Cal. „Ab und zu gehen wir irgendwo plündern, holen ein paar neue Frauen. Vor kurzem hatten wir eine Brennerei. Das ist was.“ Mark schüttelte es. „Cal?“ „Ja?“ „Hast du noch ‘ne Zigarette?“ „Die schuldest du mir dann aber.“ „Klar.“ Cal nahm Papier und Tabak heraus und rollte zwei neue Zigaretten. Eine gab er Mark. „Mir geht das im Kopf rum. Was Besseres als das hier müßte es schon geben. Aber ich weiß ehrlich nicht, wie es aussehen sollte.“ Als Cal das Streichholz anriß, schloß Mark die Augen, um nicht geblendet zu werden. Dann hob er den Stein auf, den er im Dunkeln gefunden hatte, und schlug ihn kräftig auf Cals Kopf. Der sackte um, doch Mark schlug noch einmal zu. Er fühlte etwas klebrig Nasses und 317
Warmes an seinen Fingern und schauderte. Dann wurde ihm übel, aber er mußte schnell machen. Er griff sich Cals Gewehr, sein Messer und die Streichhölzer. Sonst war nichts Brauchbares da. Mark verließ die Felsen und ging auf dem schmalen Streifen steinigen Bodens. Niemand sagte etwas. Mark rannte in den Dschungel. Er wußte nicht, wohin. Er versuchte nachzudenken. Sich bis zum Morgen zu verstecken, würde nichts bringen. Sie würden Cal finden und herumsuchen. Und Juanita war noch dort. Mark rannte durch den glitschigen Schlamm. Ihm kamen die Tränen, und er drängte sie zurück, doch dann schluchzte er. Wohin gehe ich? Wohin? Und was kümmert es mich noch? Er rannte, bis er neben sich eine Bewegung spürte. Er holte Luft, um zu schreien, doch da hielt ihm schon eine Hand den Mund zu. Eine andere griff sein Handgelenk. Er fühlte eine Messerspitze an der Kehle. „Ein Mucks, und du bist tot“, flüsterte eine Stimme. „Kapiert?“ Mark nickte. „Gut. Vergiß es nicht. Okay, Ardway, geh’n wir.“ „Roger“, antwortete eine Stimme. Sie trugen ihn fast durch den Dschungel, vom Lager fort. Es waren mehrere Männer. Er wußte nicht, wie viele. Sie gingen leise. „Kannst du laufen?“ „Ja“, flüsterte Mark. „Wer seid …“ „Halt den Mund. Noch ein Ton, und wir schneiden dir die Nieren raus. Es dauert eine Woche, bis du stirbst. Jetzt geh hinter dem Mann vor dir her.“ Mark machte mehr Lärm als alle anderen zusammen, obwohl er leise zu gehen versuchte. Ein langes Stück, 318
oder wenigstens schien es so, gingen sie durch knietiefes Wasser und dicken Schlamm, dann über festeren Grund. Es kam ihm vor, als gingen sie leicht bergan. Dann spürte er, daß keine Bäume mehr um ihn herum waren. Sie waren auf einer Lichtung. Es war pechschwarze Nacht. Wie stellen sie es an, etwas zu sehen, fragte sich Mark. Und was sind das für Leute? Er meinte, vor sich einen dunkleren Schatten ausmachen zu können, es war mehr ein Gefühl als sonst etwas, aber dann kam er damit in Berührung. Es war weich. „Da hindurch“, sagte jemand. Es war ein Vorhang. Ein weiterer wurde hinter ihm heruntergelassen, nachdem er hindurch war, und vor ihm öffnete sich noch einer. Licht blendete ihn. Er stand da und blinzelte. Er war im Inneren eines Zelts. Ein halbes Dutzend uniformierter Männer stand um einen Kartentisch. Mark gegenüber am anderen Ende des Zelts stand ein großer, dünner Mann. Mark konnte sein Alter nicht erraten, aber sein Haar war von feinen, grauen Strähnen durchzogen. Seine Dschungeltarnuniform war gut gebügelt. Er blickte Mark ausdruckslos an. „Na, Oberfeldwebel?“ „Merkwürdig, Herr Oberst. Dieser Mann saß Wache mit einem anderen. Keiner von beiden verstand etwas davon. Wir haben sie zwei Stunden lang beobachtet. Da schlägt dieser hier dem anderen mit einem Stein das Hirn ein und läuft mitten in den Dschungel rein.“ Söldner, dachte Mark. Sie sind gekommen, um … „Ich brauche Hilfe“, sagte Mark. „Sie haben meine … meine Frau da drinnen.“ 319
„Name?“ fragte der Oberst. „Mark Fuller.“ Der Oberst sah nach rechts. Ein anderer Offizier hatte einen kleinen Tischcomputer. Er tippte Marks Namen ein, und auf dem Bildschirm erschienen Wörter. Der Oberst las einen Moment lang. „Entflohener Häftling. Juanita Corlee ist mit Ihnen zusammen geflohen. Sie ist Ihre Frau?“ „Ja.“ „Und Sie hatten eine Auseinandersetzung mit den Freistaatlern.“ „Nein. So war es ganz und gar nicht.“ Mark sprudelte seine Geschichte heraus. Der Oberst blickte wieder auf den Bildschirm. „Und das hätten Sie nicht gedacht.“ Er nickte mit dem Kopf. „Daß die Schulen auf der Erde wenig taugen, war mir klar. Es heißt hier, Sie seien ein intelligenter Mann, Fuller. Bis jetzt hat man noch nicht viel davon gemerkt.“ „Nein. Herrgott, nein. Wer … wer sind Sie? Bitte.“ „Ich bin Oberst John Christian Falkenberg. Dieses Regiment ist vom Gouverneur Taniths beauftragt worden, die sogenannten Freistaaten zu zerschlagen. Sie sind von Oberfeldwebel Calvin gefangengenommen worden, und dies sind meine Offiziere. Nun, Fuller, was können Sie mir über die Lagersituation sagen? Was haben sie für Waffen dort?“ „Viel weiß ich nicht“, sagte Mark. „Sir.“ Warum hab’ ich denn das jetzt gesagt? „Im Lager sind noch andere weibliche Gefangene“, sagte Falkenberg. 320
„Hier, Fuller“, sagte einer der anderen Offiziere. „Zeigen Sie uns also, was Sie wissen. Wie gut ist diese Satellitenphotokarte?“ „Mein Gott, Rottermill“, sagte ein dritter Offizier. „Lassen Sie den Jungen einen Moment in Ruhe.“ „Major Savage, es ist mein Beruf, Informationen zu beschaffen.“ „Und menschliches Mitgefühl zu zeigen. Ian, meinen Sie, Sie können für den Jungen etwas zu trinken auftreiben?“ Major Savage winkte Falkenberg zu und ging mit ihm in die entfernte Zeltecke. Ein anderer Offizier holte ein Paket unter dem Tisch hervor und nahm eine Flasche heraus. Er reichte Mark den Brandy. Falkenberg hörte Savage zu, dann nickte er. „Versuchen können wir es ja. Fuller, haben Sie irgendwelche Anzeichen für Energiegewinnungsanlagen im Lager gesehen?“ „Nein, Sir. Es gab dort keinen Strom. Nur Taschenlampen.“ „Also ist es unwahrscheinlich, daß sie Laserwaffen haben. Rottermill, sind irgendwelche Zielsuchgeräte aus den Arsenalen als fehlend gemeldet? Besteht die Möglichkeit, daß sie welche haben?“ „Kaum, Herr Oberst. Meines Wissens ist nichts gestohlen worden.“ „Jeremy, Sie könnten recht haben“, sagte Falkenberg. „Ich glaube, wir können die Hubschrauber als Kampffahrzeuge einsetzen.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann sagte der Offizier, der Mark den Brandy gegeben hatte: „Das 321
ist verdammt riskant, Herr Oberst. Die Dinger sind herzlich schlecht mit Waffen bestückt.“ „Vor weniger als hundert Jahren waren Maschinen im Kampfeinsatz, die nicht viel besser waren, Hauptmann Frazer.“ Falkenberg studierte die Karte. „Sehen Sie, Fuller, unser Problem sind immer die Geiseln, Ihretwegen haben wir die Luftwaffenkompanie rausgelassen und unsere Truppen zu Fuß reingebracht. Wir konnten keine schwere Ausrüstung hertragen, noch nicht einmal viel an Einzelausrüstung pro Mann war bei diesen Sümpfen möglich.“ Nein, das kann ich mir denken, dachte Mark. Er versuchte sich vorzustellen, wie ein großer Trupp geräuschlos durch die Sümpfe zog. Es schien unmöglich zu sein. Wie hatten sie sich gegen angreifende Tiere verteidigen können? Schüsse waren keine abgegeben worden. Warum sollte ein bewaffneter Mann sich umbringen lassen, wenn er schießen konnte? „Ich nehme an, sie werden ihre Gefangenen bedrohen, sobald sie von unserer Anwesenheit hier wissen“, sagte Falkenberg. „Selbstverständlich werden wir es ablehnen, mit ihnen zu verhandeln. Wie lange werden sie Ihrer Meinung nach brauchen, um zu handeln, nachdem sie das wissen?“ „Ich weiß nicht“, sagte Mark. Vor zwei Jahren hätte er sich das nicht vorstellen können: Menschen, die töten und foltern würden, manchmal ohne jeden Grund. Nein, keine Menschen. Bestien. „Nun, durch Sie muß die Aktion etwas überstürzt stattfinden“, sagte Falkenberg. „Innerhalb weniger Stunden 322
wird man Ihren toten Begleiter finden. Hauptmann Frazer!“ „Sir.“ „Sie haben diese Karte studiert. Wenn Sie dieses Lager unterhielten, welche Verteidigungen würden Sie dann aufbauen?“ „Ich würde rund um dies Gebiet einen Graben ziehen und hoffen, daß einer dumm genug ist, durch den an uns heranzukommen, Herr Oberst.“ „Ja. Oberfeldwebel.“ „Sir!“ „Zeigen Sie mir, wo sie ihre Wachtposten aufgestellt haben.“ Falkenberg sah zu, während Calvin Vorposten markierte. Daraufhin nickte er. „Anscheinend hat ihr Boß einen elementaren Sinn für Militärstrategie. Wachtpostenringe. Eingehende Verteidigung. Können Sie da durchdringen, Oberfeldwebel?“ „Unwahrscheinlich, Sir. “ „Ja.“ Falkenberg stand einen Augenblick lang still. Dann wandte er sich Hauptmann Frazer zu. „Ian, Sie nehmen Ihre Scouts und die halbe Infanterie. Bereiten Sie sich für einen Angriff auf offenem Gelände vor. Der Kode dafür lautet Grün A. Dies hier ist kein Scheinangriff, Ian. Ich will, daß Sie den Durchbruch versuchen. Ich erwarte jedoch nicht, daß Sie Erfolg haben. Tun Sie also Ihr Bestes, daß es kein überflüssiges Blutvergießen gibt.“ Frazer ging in Habachtstellung. „Sir.“ „Wir lassen Sie nicht im Stich, Ian. Wenn der Feind dort beschäftigt ist, holen wir Sie mit Hubschrauberein323
satz raus. Dann schlagen wir von den Flanken aus zu und rollen sie auf.“ Falkenberg zeigte noch einmal auf die Karte. „Diese Senke scheint ausreichend sicher als Landeplatz. Der Kode hierfür: Grün A-eins.“ Major Jeremy Savage hielt ein Streichholz an seinen Pfeifenkopf und zog sorgsam. Als er mit dem Brand zufrieden war, sagte er: „Das erfordert ein straffes Timing, John Christian. Ian ist in der Klemme, wenn wir die Chopper verlieren.“ „Haben Sie eine bessere Idee, Jerry?“ fragte Falkenberg. „Nein.“ „Gut. Fuller, können Sie einen Hubschrauber steuern?“ „Ja, Sir. Ich kann sogar einen fliegen.“ Falkenberg nickte erneut. „Ja, Sie sind ein Steuerzahlersohn, nicht wahr? Fuller, Sie fahren mit Chopper Nummer 3. Oberfeldwebel, setzen Sie ein Sturmangriffskommando vom Hauptquartier in voller Ausrüstung bei Nummer 3 ein. Fuller wird den Piloten so nahe es geht zu der Höhle lotsen, wo der Boß die Frauen festhält. Nummer 2 wird mit einem weiteren Angriffskommando folgen. Es wird jede nur mögliche Anstrengung unternommen, die Geiseln lebend in Sicherheit zu bringen. Verstanden, Oberfeldwebel?“ „Sir!“ „Fuller?“ „Ja, Sir.“ „Sehr gut. Wenn die Truppen fort sind, müssen die Chopper schnell raus. Wir brauchen sie, um Ians Leute zu retten.“ 324
„Herr Oberst?“ sagte Mark. „Ja?“ „Nicht alle Frauen sind Geiseln. Einige werden kämpfen, glaube ich. Ich weiß nicht, wie viele. Und nicht alle Männer sind – nicht alle wollen dableiben. Einige würden weglaufen, wenn sie könnten.“ „Und was soll ich da machen?“ „Ich weiß nicht, Sir.“ „Ich auch nicht. Oberfeldwebel, in einer Stunde wird dieser Kommandoposten aufgelöst. Fuller, Sie können bis dahin Hauptmann Rottermill alles zeigen, was Sie über das Lager wissen.“ Es wird nicht klappen, dachte Mark. Ich habe gebetet, daß sie stirbt. Dabei weiß ich nicht mal, ob sie auch sterben will. Und jetzt wird sie sterben. Er nahm wieder einen Schluck aus der Flasche und merkte, wie jemand sie ihm aus der Hand nahm. „Später“, sagte Rottermill. „Jetzt erzählen Sie mir erst mal, was Sie über diese Leute wissen.“ 7 „Sie haben den toten Wachposten gefunden.“ Der Feldwebel am Funk rückte seinen Kopfhörer zurecht. „Scheinen deswegen ganz schön in Aufregung zu sein.“ Falkenberg sah auf die Uhr. Es war noch eine gute Stunde bis Sonnenaufgang. „Haben lange genug gebraucht.“ „Schade, daß Fuller den Chopper nicht im Dunkeln lenken konnte“, sagte Jeremy Savage. 325
„Ja. Oberfeldwebel, sagen Sie Hauptmann Frazer, er soll seine Leute bereitstellen, und halten Sie Ihre Wegtruppe für den Angriff aus dem Hinterhalt in Bereitschaft.“ „Sir.“ „Ich habe ein gutes Gefühl bei dieser Sache, John Christian.“ Savage klopfte seine Pfeife an seinem Stiefelabsatz aus. „Ein gutes Gefühl.“ „Ich hoffe, Sie haben recht, Jeremy. Fuller glaubt nicht, daß es klappen wird.“ „Nein, aber anscheinend ist er auch der Meinung, daß dies ihre einzige Chance ist. Er hat sich beruhigt. Realistische Einschätzung von dem, was möglich und wahrscheinlich ist. Alles in allem hält er sich gut.“ „Für einen verheirateten Mann.“ Ehemänner machen Versprechungen, die kein Mensch halten kann, dachte Falkenberg. Die Erinnerung ließ seine Lippen leicht zukken, und einen Augenblick lang war der Schatten von Graces Lächeln draußen über dem Dunkel des Dschungels. „Oberfeldwebel, lassen Sie die Choppermannschaften in Bereitschaft gehen.“ „Ist das immer so?“ fragte Mark. Er saß rechts im Hubschrauber. Er fühlte sich merkwürdig in der Ausrüstung und mit dem Helm. Er schwitzte in der dicken Kleidung. In den Helmkopfhörern krachte es von Kommandogeräuschen für andere. Draußen peitschten Schüsse. Hauptmann Frazers Angriff hatte vor einer Viertelstunde begonnen. Der Himmel über dem Dschungel hatte jetzt im Osten einen schwachen grauroten Schimmer. 326
Leutnant Bates grinste und drehte den Steuerknüppel. „Normalerweise ist es schlimmer. Wir kriegen sie schon raus, Fuller. Lotsen Sie uns nur gut zur richtigen Höhle.“ „Das mach’ ich schon, aber es wird nicht klappen.“ „Doch, doch.“ „Sie brauchen mich nicht aufzumuntern, Bates.“ „Brauch’ ich nicht?“ Bates grinste wieder. Er war kaum älter als Mark. „Vielleicht brauche ich ein bißchen Aufmunterung. Ich hab’ immer Angst davor.“ „Ehrlich? Das sieht man Ihnen nicht an.“ „Mehr wird nicht erwartet. Sich nichts anmerken zu lassen.“ Er drückte auf den Mikroknopf. „Alles klar da unten, Chef?“ „Aye-aye, Sir.“ Die Stimme in Marks Helm wurde laut und ernst. „ALLE HUBSCHRAUBER, MASCHINEN STARTEN. ICH WIEDERHOLE, MASCHINEN STARTEN!“ „Das sind wir.“ Bates langte zur Startkontrolle, und die Turbinen heulten auf. „Nicht grade sehr hell.“ „HUBSCHRAUBER, MELDEN, WENN STARTBEREIT!“ „Startbereit, aye-aye“, sagte Bates. „Aye-aye?“ fragte Mark. „Wir sind ein altes CD-Marineregiment“, sagte Bates. „Viele von uns jedenfalls. Sind mit dem Alten zusammengeblieben, als der Senat sein Regiment aufgelöst hat.“ „Dafür sehen Sie nicht alt genug aus.“ „Ich? Wohl kaum. Dies war Falkenbergs Söldnerlegion, lange bevor ich hinzukam.“ „Warum? Warum sind Sie zu den Söldnern gegangen?“ 327
Bates zuckte die Achseln. „Es gefällt mir, zum Regiment zu gehören. Oder meinen Sie nicht, daß die Arbeit es wert ist?“ „ABHEBEN, HUBSCHRAUBERANGRIFF BEGINNT.“ „Abheben, aye-aye.“ Das Turbinengeheul wurde lauter, und der Chopper hob in einer kreisenden Schleife ab. Bates hielt sich rechts in der Dreierformation. Mark konnte ungefähr das Dschungelgrün unten erkennen. Es wurde mit jeder Minute heller. Jetzt waren schon die Umrisse kleiner Lichtungen in den endlosen grünen Sümpfen deutlicher. „Übernehmen Sie sie“, sagte Bates, wobei seine Hände über dem Steuerknüppel in Bereitschaft blieben, um seinen Liebling gegebenenfalls diesem Fremden wieder abzunehmen. Mark ergriff den ungewohnten Knüppel. Die Maschine war anders als die seiner Familie, auf der er gelernt hatte, aber die Prinzipien waren dieselben. Das verlernt man nie richtig, dachte Mark. Der Chopper war eigentlich wie ein großer, fliegender Lastwagen, und so einen hatte er schon einmal in den Ferien in Yukon gefahren. Die Kanadischen Seen schienen endlos weit fort, zeitlich wie räumlich. Er war schnell wieder drin in der Fliegerei. Er dachte an die wilden Kunststücke, die er ausprobiert hatte, als er gerade seinen Flugschein hatte. Einmal hatten ein paar Leute aus seiner Schule ein Picknick auf der San-MiguelInsel gemacht, und Mark war in einer Meeresbucht gelandet, mitten in einem Sturm auf einem schmalen, unzugänglichen Stück Strand zwischen hohen Klippen. Das 328
war Blödsinn gewesen, aber wahnsinnig aufregend. Gute Übung für das hier, dachte er. Und ich habe eine Mordsangst, und was mach’ ich, wenn dies hier vorbei ist? Wird Falkenberg mich ausliefern? Hügel kamen in Sicht, mattbraun im frühen Morgenlicht. Im felsigen Gelände kauerten Männer. Die Gatling im Abteil hinter Mark krachte wie Speck in der Pfanne. Die Schüsse folgten unwahrscheinlich schnell aufeinander, wie ein ständiger Geräuschstrom, und der Hubschrauber fegte mit seinen peitschenden Garben über den Freistaat. Die kleinen Kugeln ließen Splitter von den Felsen herumfliegen. Die anderen Chopper eröffneten das Feuer, und sechs Leuchtspuren wanden sich in verrückten Mustern und umschlangen sich wie in einem Paarungstanz. Männer und Frauen starben auf dem steinigen Grund. Sie lagen in zerbrochenen Haufen, das Blut in roten Flekken auf dem Boden um sie herum, genau wie im Tri-V. Nur daß es jetzt wirklich ist, dachte Mark. Sie stehen nicht wieder auf, wenn die Kameras abschwenken. Haben sie das verdient? Hat irgend jemand das verdient? Dann war er zu sehr mit dem Fliegen beschäftigt, um an irgend etwas anderes zu denken. Das Gelände vor der Höhle war klein, sehr klein – war es groß genug für die Rotoren? Ein heftiger Windstoß vom Meer her brachte den Chopper gefährlich zum Schaukeln. „Paß auf …“ Was immer Bates auch hatte sagen wollen, er sagte nie mehr ein Wort. Er sackte nach vorn über den Steuerknüppel, gerade noch kurz davor von seinen Schultergurten zurückgehalten. Etwas Nasses und Kleb329
riges spritzte auf Marks linke Hand und den Arm. Gehirn. Eine große Kugel war im Winkel nach oben abgeprallt, hatte Bates in den Kiefer getroffen und war im Helm herumgeschlagen. Der junge Leutnant hatte so gut wie kein Gesicht mehr. Ich muß das Ding runterbringen. Mark sang sich zu, schön langsam, so, jetzt runter, wieder gerade und noch ein Windstoß, schön langsam … Aus dem absteigenden Hubschrauber stürmten Männer. Mark hatte Zeit, überrascht zu sein. Sie sprangen ab und liefen in die Höhle, selbst wenn ihre Freunde um sie herum fielen. Dann stach etwas in Marks linken Arm, und in der Plexiglas-Windschutzscheibe waren saubere Löcher. Die Männer liefen weiter in die Höhle. Sie waren gesichtslos in ihren großen Helmen, wie ein Roboter neben dem anderen, die vorwärts liefen oder in Haufen zusammenfielen … Mein Gott, sie sind großartig. Ich muß dieses Ding runterbringen! Plötzlich war dies das wichtigste überhaupt in seinem Leben. Runter und raus, in die Höhle mit jenen Männern. Juanita finden, ja, natürlich, aber mit ihnen gehen, etwas für mich selbst tun, weil ich es will … „BATES, HÖREN SIE AUF, ZEIT ZU VERSCHWENDEN, UND SEHEN SIE ZU, DASS SIE SCHNELLSTENS ZU GRÜN AEINS KOMMEN!“ Verfluchter Mist! Mark rummelte an der Sprechanlage. „Bates ist tot. Hier spricht Fuller. Ich setze den Chopper runter.“ Die Stimme im Kopfhörer war verändert. Jemand anders sprach. „Sind die Truppen noch an Bord?“ „Nein, sie sind draußen.“ 330
„Dann bringen Sie die Maschine sofort zu Grün-Aeins.“ „Meine … Frau ist da drinnen!“ „Das weiß der Oberst.“ Jeremy Savages Stimme klang ruhig. „Diese Maschine wird gebraucht, und zwar sofort.“ „Aber …“ „Fuller, dieses Regiment hat viel für diese Geiseln riskiert. Die Maschine wird dringend gebraucht. Oder meinen Sie im Ernst, Sie könnten da drinnen etwas ausrichten?“ Oh, mein Gott! In der Höhle wurde geschossen, und jemand schrie. Ich will ihn umbringen, dachte Mark, diesen blondhaarigen Mistkerl. Ich will sehen, wie er stirbt. Im Kopfhörer war Stimmengewirr. Knappe Befehle und Meldungen vermischten sich dazu im Hintergrund. Frazers Stimme. „Wir sitzen fest. Ich schicke sie so schnell wie’s geht zu A-eins zurück.“ Aus der Höhle klangen neue Schüsse. „Aye, aye“, sagte Mark. Er zündete die Maschine und hob in einer wirbelnden Schleife ab, um das Gefecht auf dem Boden durcheinanderzubringen. Es war noch jemand an Bord; die Gatling knatterte, und ihr heller Leuchtstreifen fegte über die Felsen. Wo war Grün A-eins? Mark warf einen Blick auf die Karte vor dem Steuerknüppel. Ein langer Schmierstreifen aus grauweißer Masse und hellrotem Blut zog sich quer über die Karte. Mark mußte Bates’ Kopf hochheben, um sich orientieren zu können. Neues Blut rann ihm über die Finger. 331
Dann lag das Gelände vor ihm, eine freie Senke, von Hügeln und Felsen umsäumt. Um den Rand der Mulde lagen Männer. Ein Granatenwerferteam ließ in mechanischer Arbeit die Granaten in das Rohr fallen, lehnte sich zurück, hob an, warf eine neue. Überall blitzte es hell auf. Mark ging in die Mulde hinunter, und die Blitze verschwanden. Er hörte noch Gewehre feuern und das Bamm! Bamm! des Granatenwerfers. Ein Trupp kam herübergelaufen und fing an, Verwundete in die Maschine zu laden. Dann winkte der Feldwebel ihn fort, und Mark rauschte zum dahinterliegenden Gelände, wo der Arzt wartete. Ein anderer Hubschrauber flog in Richtung Kampfgebiet vorbei. Die Sanitäter luden die Männer aus. „Warten Sie, Fuller, wir schicken einen anderen Piloten hin“, hörte er Savages ruhige Stimme im Kopfhörer. „Nein. Ich mache weiter. Ich kenne den Weg.“ Einen Moment war Pause. „Gut. Machen Sie sich auf den Weg.“ „Aye-aye, Sir.“ Der Eingang zur Höhle des Bosses war kühl, und der Arzt hatte das Feldkrankenhaus dort eingerichtet. Ein nicht abreißender Strom von Menschen kam aus dem Innern der Höhle: Gefangene, die ihre eigenen Toten trugen, und Falkenbergs Männer mit ihren Kameraden. Die Toten des Freistaats waren in Haufen am Klippenrand aufgeschichtet. Sobald man sie identifiziert hatte, wurden sie über den Rand geworfen. Die Regimentstoten trug man zu einem freien Platz und deckte sie zu. Bewaffnete Soldaten hielten Totenwache. 332
Liegt den Toten was dran, fragte sich Mark. Was kann ihnen schon daran liegen? Was soll das ganze Zeremoniell für tote Söldner? Er sah wieder auf die reglose Gestalt auf dem Bett. Sie sah klein und hilflos aus und atmete röchelnd. Ein Transfusionsgerät tropfte unaufhörlich. „Ich denke, sie wird es überleben.“ Mark wandte sich zu dem Regimentsarzt um. „Das Kind konnten wir nicht retten, aber sie kann zweifellos noch andere bekommen.“ „Was ist mit ihr passiert?“ fragte Mark. Der Arzt zuckte die Achseln. „Schuß in den Unterbauch. Von uns, von den anderen, wer weiß? Mantelgeschoß, es hat nicht allzuviel Schaden angerichtet. Der Oberst will Sie sehen, Fuller. Und hier können Sie nicht helfen.“ Der Arzt nahm ihn beim Ellbogen und führte ihn in das dunstige Tageslicht. „Hier entlang.“ Draußen war man noch bei der Arbeit. Immer noch trugen die Gefangenen Tote fort. Auf den Felsen surrten Insekten um dunkelrote Flecken. Sie sehen so tot aus, dachte Mark. So verflucht tot. Irgendwo weinte eine Frau. Falkenberg saß mit seinen Offizieren unter einem offenen Zelt auf der Lichtung. Da war noch ein Mann bei ihnen, ein Gefangener unter Bewachung. Sein Gesicht war durch die Zeltplane verdeckt, aber Mark kannte ihn. „Man hat Sie also lebend erwischt“, sagte Mark. „Es sieht so aus, als hätte ich überlebt.“ Der Boß verzog den Mund voll Verachtung. „Und du hast ihnen geholfen. Schöne Art, uns dafür zu danken, daß wir euch aufgenommen haben.“ 333
„Uns aufgenommen! Vergewaltigt haben Sie …“ „Woher weißt du, daß es Vergewaltigung war?“ fragte der Boß. „Du hast auf jeden Fall nichts Entscheidendes unternommen, oder? Du taugst zu verdammt gar nichts, Fuller. Was du unternommen hast, hat einen Dreck ausgemacht. War das überhaupt irgendwann mal anders?“ „Das reicht, Chambliss“, sagte Falkenberg. „Klar. Jetzt sind Sie hier verantwortlich, Herr Oberst. Nun, Sie haben uns geschlagen, also geben Sie die Befehle. Wir sind uns ziemlich ähnlich, Sie und ich.“ „Möglicherweise“, sagte Falkenberg. „Stabsunteroffizier, bringen Sie Chambliss in die bewachte Abteilung. Und passen Sie auf, daß er nicht entwischt.“ „Sir.“ Die Kavalleristen winkten mit dem Gewehr. Der Boß ging ihnen voran. Es sah so aus, als ob er sie führte. „Was wird mit ihm geschehen?“ frage Mark. „Wir übergeben ihn dem Gouverneur. Ich nehme an, er wird hängen. Das Problem ist, was wir mit Ihnen machen, Fuller. Sie haben uns einige Dienste erwiesen, und ich mag keine unbeglichenen Schulden.“ „Welche Möglichkeiten habe ich?“ fragte Mark. Falkenberg zuckte die Achseln. „Wir könnten Ihnen ein Pferd und Waffen geben. Es ist ein langer Weg bis zum Ackerland im Süden, aber einmal dort angelangt, könnten Sie wahrscheinlich einer Wiedergefangennahme entgehen. Wenn Ihnen das nicht zusagt, könnten wir ein gutes Wort beim Gouverneur einlegen, denke ich.“ „Was würde mir das bringen?“ „Das hängt von ihm ab. Er wäre mindestens dazu zu bewegen, über Ihre Flucht hinwegzusehen und Ihren Ar334
beitgeber dazu zu bringen, daß er Sie nicht wegen Diebstahls von Tieren und Waffen belangt.“ „Aber dann wäre ich wieder unter Strafe. Wieder ein Sklave. Was geschieht mit Juanita?“ „Das Regiment wird sich um sie kümmern.“ „Was, zum Teufel, soll das heißen?“ fragte Mark. Falkenbergs Gesichtsausdruck blieb unverändert. Mark wußte nicht, was der Oberst dachte. „Das heißt, Fuller, daß die Truppe sich ungern mit dem Gedanken anfreunden wird, sie dem Gouverneur zu übergeben. Sie kann bei uns bleiben, bis ihre Lehrzeit abgelaufen ist.“ „Sie sind also nicht besser als der Boß!“ „Nehmen Sie sich in acht!“ sagte einer der Offiziere. „Was Oberst Falkenberg sagen will“, sagte Major Savage, „ist, daß man ihr erlauben wird, bei uns zu bleiben, so lange sie will. Sicherlich fehlen bei uns Frauen, aber es gibt ein paar kleine Unterschiede zwischen uns und Ihrem Freistaat. Oberst Falkenberg befiehlt ein Regiment. Er herrscht nicht über einen Haufen.“ „Klar. Und wenn sie mit mir kommen will?“ „Dann werden wir dafür sorgen, daß sie es tut. Wenn sie sich erholt hat“, sagte Savage. „Was wollen Sie jetzt tun? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“ Was will ich tun? Großer Gott. Ich will nach Hause, aber das geht nicht. Dreckfarmer, ewig auf der Flucht. Oder Sklave, mindestens noch zwei Jahre lang. „Sie haben mir keine besonders angenehmen Alternativen gelassen.“ „Sie hatten noch weniger, als Sie hierhergekommen sind“, sagte Savage. 335
Eine Gruppe von Häftlingen wurde auf das Zelt zugetrieben. Sie standen da und blickten unruhig zu den sitzenden Offizieren, während ihre Bewacher gelassen mit ihren Waffen warteten. Mark fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich habe gehört, Sie haben ein paar von den Freistaatlern rekrutiert.“ Falkenberg nickte. „Ein paar. Nicht viele.“ „Könnten Sie einen Hubschrauberpiloten brauchen?“ Major Savage lachte leise. „Hab’s Ihnen ja gleich gesagt, daß er fragen würde, John Christian.“ „Heute morgen hat er sich gut gehalten“, sagte Hauptmann Frazer. „Und Piloten brauchen wir.“ „Wissen Sie, worauf Sie sich da einlassen?“ wollte Falkenberg wissen. „Soldaten sind keine Sklaven, aber sie müssen Befehle befolgen. Alle.“ „Sklaven müssen auch gehorchen.“ „Es ist für fünf Jahre“, sagte Major Savage. „Und wir verfolgen Deserteure.“ „Ja, Sir.“ Mark blickte von einem Offizier zum anderen. Sie saßen unbewegt da. Sie sagten nichts, sie sahen sich nicht an, aber sie gehörten zueinander. Und zu ihren Männern. Mark dachte zurück an die Clubs, die Kinder in seiner Nachbarschaft gegründet hatten. Es war wichtig gewesen dazuzugehören, wenn er auch nie hätte sagen können, warum. Es war wichtig, zu irgendwas dazuzugehören. „Sie sehen im Regiment nichts weiter als eine weitere unangenehme Alternative“, sagte Falkenberg. „Falls es dabei bleibt, ist das nicht ausreichend.“ „Er ist auf uns zugekommen, Herr Oberst“, sagte Frazer, „er mußte nicht.“ 336
„Ja. Ich entnehme dem, daß Sie für ihn sprechen.“ „Ja, Sir.“ „Nun gut“, sagte Falkenberg. „Oberfeldwebel, ist er annehmbar für die Männer?“ „Keine Einwände, Sir.“ „Jeremy?“ „Nichts einzuwenden, John Christian.“ „Adjutant?“ „Ich habe seine Unterlagen, Herr Oberst.“ Hauptmann Fast wies auf den Tischcomputer. „Er würde einen grauenhaften Mannschaftssoldaten abgeben.“ „Aber nicht notwendigerweise einen grauenhaften Offizier?“ „Nein, Sir. Dafür bringt er genug zusammen. Aber ich habe meine Zweifel in bezug auf seine Motivation.“ „Ja. Im allgemeinen zerbrechen wir uns jedoch nicht den Kopf über die Motive der Männer. Wir verlangen bloß, daß sie wie Soldaten handeln. Würden Sie dem widersprechen, Arnos?“ „Nein, Herr Oberst.“ „Dann hätten wir das ja. Fuller, Sie werden auf Probe dabeisein. Das wird nicht die leichteste Erfahrung in Ihrem Leben werden. Man muß sich den Weg in dieses Regiment verdienen.“ „Ja, Sir.“ „Sie können gehen. Es wird eine formelle Vereidigung geben, wenn wir in unser Quartier zurückkehren. Und zweifellos wird Hauptmann Fast Formulare haben, die Sie ausfüllen müssen. Abtreten.“ „Ja, Sir.“ Mark verließ das Kommandozelt. Die Welt 337
ist aus den Fugen, dachte er. Ist das jetzt das richtige? Egal. Hat irgend jemand Kontrolle über sein eigenes Leben? Ich bin dazu nicht in der Lage gewesen. Die Polizei, die Marineinfanterie, der Boß, jetzt diese Söldner – alle sagen sie einem, was man zu tun hat. Und wer sagt ihnen, was sie zu tun haben? Und jetzt gehöre ich dazu. Söldner. Es hört sich widerlich an, aber ich habe überhaupt keine Wahl. Ein Beruf ist das nicht. Nur ein Ausweg aus der Sklaverei. Und doch … Er dachte an den Kampfeinsatz am Morgen zurück, und er hatte Schuldgefühle bei der Erinnerung. Da hatte er das Gefühl gehabt zu leben. Männer und Frauen waren um ihn herum gestorben, aber er hatte so sehr das Gefühl gehabt zu leben wie nie zuvor. Er ging an den Gräbern vorbei. Die Ehrenwache stand starr in Grundstellung, ohne von den surrenden Insekten, ohne von irgend etwas um sie herum Notiz zu nehmen; sie stand über den Toten, die mit Fahnen bedeckt und ordentlich aufgereiht dalagen. Von der See her wehte ein kühler Wind. Der Winter würde bald kommen, und es würde angenehm sein auf Tanith, aber nicht lange.
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