Schrei, wenn der Dämon kommt Ein Gespenster-Krimi von Robert Lamont
Nacheinander begannen die sieben Schädel zu glühen...
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Schrei, wenn der Dämon kommt Ein Gespenster-Krimi von Robert Lamont
Nacheinander begannen die sieben Schädel zu glühen. Beschwörende Laute einer dämonischen Sprache klangen dumpf und drohend auf. Ei ne große, düstere Gestalt, von einem schwarzen, funkenknisternden Mantel umweht, hob die Hände. Aus den leeren Augenhöhlen der glü henden Schädel zuckten Blitze hervor. Sie trafen sich an einem Punkt im Zentrum eines fünfzackigen Sterns. Dort flammte etwas auf, sprüh te Funken und schleuderte Lichtlanzen nach allen Seiten. Dampf bro delte und strömte über den Boden, hüllte bald den gesamten großen Raum ein, wich aber der Gestalt sorgsam aus. Im Zentrum der auftreffenden schwarzmagischen Energie befand sich eine handtellergroße Silberscheibe, mit eigenartigen Zeichen und Symbolen verziert. Sie veränderte jetzt ihre Farbe, begann weißglü hend zu werden. Aber sie schmolz nicht. »Jetzt«, flüsterte der Dämon heiser. »Jetzt wirst du mir dein Geheimnis preisgeben . . .« Da gellte ein markerschütternder Schrei durch den Raum. Die Schädel platzten auseinander. Plötzlich war alles nur noch ein einziges flam mendes Inferno . . .
»Er muß wahnsinnig geworden sein«, zischte der Dreigehörnte. Ei ne gespaltene Zunge bewegte sich in seinem Rachen hektisch hin und her. Unter den Hornschuppen seiner Panzerhaut glomm es grünlich wie Phosphor. »Größenwahnsinnig«, bestätigte Astaroth. »Was, bei den Abgründen des Abyssos, macht er? Wir müssen ihn stoppen!« Ein dumpfes Vibrieren ging durch die immateriellen Wände. Das Glü hen des Höllenfeuers verstärkte sich. Verlorene Seelen schrien, aber nie mand achtete darauf. Die beiden Dämonen hatten jetzt andere Interes sen. Zerstörerische Schwingungen pulsierten. Sie gingen vom Thronsaal des Fürsten der Finsternis aus. Dort mußte etwas Unglaubliches gesche hen. Die Schwingungen wurden immer unerträglicher. Astaroth fühlte, daß etwas sich auszubreiten versuchte, das tot war und dennoch lebte, das voller Haß war und vernichten wollte. Und es besaß Macht . . . »Wir müssen Lucifuge Rofocale informieren«, kreischte der Dreige hörnte, einer der niedrigen Dämonen, der zu einer Audienz bei Astaroth vorgeladen worden war. Doch das, worüber die beiden Dämonen sich unterhalten wollten, war jetzt vergessen. »Nein«, fauchte Astaroth. »Dazu bleibt keine Zeit mehr. Wir müssen sofort handeln. Es wird auch in Lucifuge Rofocales Sinn sein, wenn wir diesem Treiben ein Ende bereiten:« Er stieß den Dreigehörnten vor sich her, dessen Schuppenschwanz nervös zur Seite gewirbelt, niedere Geister zuckten erschrocken zurück, ohnehin verwirrt von den rasenden, zerstörerischen Schwingungen, die vom Thronsaal des Fürsten der Finsternis ausgingen. Nahe dem Saal verlangsamten die beiden Dämonen ihr Tempo. Andere flirrten dort bereits verwirrt hin und her, kaum noch eines klaren Gedan kens fähig. »Eines Tages«, murmelte Astaroth, »werde ich ihn umbringen. Werde ihn erwürgen mit meinen eigenen Klauen . . . diesen Emporkömmling . . .« Der Dreigehörnte geriet in immer größere Panik. Er stob auf das große Portal zu, das in den Thronsaal führte, warf sich mit aller Kraft dagegen. Seine langen Krallen rissen tiefe Furchen in das Material, das härter war als verdichteter Stahl. Das Portal wurde aufgestoßen. Der Dreigehörnte jagte hinein in das feurige Inferno im Innern des Saales. Die anderen sahen noch, wie seine Umrisse unscharf wurden, wie er
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sich aufblähte und eine gleißende Flammenzunge sich in seinen Körper fraß, die Schuppen auflöste, das grüne Glühen darunter auslöschte. Ein durch Mark und Bein gehender Schrei gellte auf. Dann explodierte der Dreigehörnte. Astaroth gelang es gerade noch, sich abzuwenden und zurückzuwei chen, dann raste ein Feuerorkan aus dem Saal hervor. Es war ein kaltes, verzehrendes Feuer, das zwei Höllengeister innerhalb von Sekunden zu Staub zerpulvern ließ, bis es sich an den Wänden brach und verlosch. Wimmernde, geschwärzte Kreaturen sanken in sich zusammen, krochen hastig davon. Astaroth öffnete die Augen wieder. Er spürte noch die eisige Kälte des Feuers, das auch ihn fast noch berührt hätte. Nur durch seine Schnellig keit war er unversehrt davongekommen. Die anderen, die sich versam melt hatten, würden geraume Zeit an ihren Wunden lecken müssen. Langsam näherte sich Astaroth jetzt dem Portal. Dahinter sah er den Fürsten der Finsternis in ein Gewirr zuckender, düsterroter Blitze gehüllt, die von einer runden Scheibe ausgingen. Und in der Luft mani festierte sich etwas . . . . . . oder jemand . . . ? Im nächsten Moment durchraste ein heftiger Schlag den mächtigen Dämon vom Schuppenkamm seines Schädels bis in die Krallenspitzen seiner Füße und ließ ihn ohnmächtig zusammenbrechen . . .
� »Etwas, das tot ist und doch lebt . . .« Cascal preßte die Lippen zusammen. Blitzschnell sah er sich um und verschwand als Schatten in den Schatten. Die Nische zwischen zwei dicht beieinander stehenden Häusern nahm ihn auf und verbarg ihn. Aber es blieb still. Niemand hatte die Worte gehört, die er unbewußt gemurmelt hatte: Etwas, das tot ist und doch lebt . . . Unwillkürlich tastete er zu seiner Brust. Dort hing unter dem halb of fenen karierten Hemd eine handtellergroße Silberscheibe an einer lan gen Kette. Yves Cascal berührte sie. Seine empfindlichen Fingerkuppen glitten über die teils eingravierten und teils leicht erhaben gearbeiteten Symbole und Zeichen, von denen die Scheibe bedeckt war. Er fühlte eine leichte Erwärmung, die aber wieder schwand.
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Cascal lehntes ich an die Hauswand und atmete tief durch. Durch den Hemdenstoff spürte er die kühlen Steine. Hierher drang tagsüber kein Sonnenlicht, also konnten sich die Steine auch nicht erwärmen. Wie komme ich auf so eine Formulierung? fragte er sich. Was tot ist, kann nicht leben . . . Das Amulett kühlte wieder ab. Seine Finger lösten sich von der po lierten Oberfläche. Etwas, das tot war und doch lebte, schien mit dem Amulett in Verbindung zu stehen. Auf welche Weise, war ihm allerdings nicht klar. Er wußte auf irgendeine unerklärliche Weise, daß das Amulett die ge dankliche Formulierung erzeugt hatte. Und dann hatte er die Worte, die nicht seine eigenen waren, auch noch ausgesprochen. Er hakte mit einem schnellen Griff das Amulett von der Kette und sank in die Knie. Er hielt die Scheibe jetzt so weit von sich, daß ein Mondstrahl sie berührte. Der seltsame Gegenstand leuchtete hell auf, reflektierte das Mondlicht. »Was bist du nur für ein seltsames Ding«, murmelte Cascal. »Du gibst mir ein Rätsel nach dem anderen auf . . . warum? Woher stammst du? Wer hat dich geschaffen? Und . . .« Er verstummte. Wie bist du in meinen Besitz gekommen? Aber er sprach diese letzte Frage nicht aus. »Eines Tages werde ich es wissen«, murmelte er. »Es muß doch ei ne Möglichkeit geben, hinter dein Geheimnis zu kommen. Du Rätsel stern . . .« Der stilisierte Drudenfuß im Zentrum schimmerte kaum merklich hel ler als die anderen Zeichen. Der fünfzackige, von einem Kreis umgebene Stern . . . »Wenn ich nicht wüßte, daß das gar nicht möglich ist, würde ich be haupten, du willst mir etwas sagen«, flüsterte er. »Aber was könnte das sein? Nein . . .« Ein Tier hätte ihn vielleicht noch auf etwas aufmerksam machen kön nen. Aber doch kein toter Gegenstand! Aber war er wirklich tot? Cascal dachte an den Unheimlichen, der auf jener Lichtung im Sumpf wald erschienen war. Plötzlich stand die Szene wieder vor seinem in neren Auge. Tagelang hatte das Amulett ein recht seltsames Verhalten an den Tag gelegt, das nicht zu einem normalen Schmuck-Gegenstand paßte, hatte ihn schließlich aus Baton Rouge hinaus in den Sumpfwald
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gelockt, in die Nähe des abgestürzten Flugzeuges . . . Er hatte einen unheimlichen dunklen Mann in seinen Visionen gesehen, und plötzlich stand der Dunkle leibhaftig vor ihm . . . einer, der aus dem Nichts kam, um im Nichts wieder zu verschwinden, aber er trug ein Amulett, das dem Cascals aufs Haar glich, und damit schickte er Blitze aus, die einen Mongolen verbrannten . . . beide Amulette in gleißendem Feuer . . . eine flammenumhüllte dunkle Gestalt . . . ein Schrei . . . dann war der Unheim liche fort . . . Nur noch der Tote war da, der Mongole, und das Mädchen. Es war stumm. Aber irgendwie wußte Cascal, wohin er es bringen mußte. Nach Flo rida, in ein bestimmtes Haus. Er war sicher, daß er dieses Wissen von seinem Amulett hatte. Aber wie kam das alles zustande? Woher kamen die Visionen? Was hatte es mit dem Amulett auf sich, das von jenen, die in dem Haus im Süden Floridas wohnten, nicht gesehen werden wollte? (siehe Band 404/405) Verrückt! Ebenso verrückt wie die Worte »Etwas, das tot ist und doch lebt.« Auf welche Weise waren sie in Cascal entstanden? Er umklammerte die Silberscheibe. Etwas Beruhigendes ging von ihr aus, aber zugleich eine warnende Unruhe. Plötzlich war es wieder fast wie neulich, als er in seinen Visionen den Unheimlichen sah und sich in die Sümpfe gezogen fühlte. Etwas ging vor, das er nicht begriff. Und er fühlte, daß sich irgendwo, unendlich fern und doch ganz nah, etwas Unbegreifliches mit seinem Amulett befaßte. Er befand sich in Lebensgefahr . . .
� Der 28jährige Neger mit dem halblangen, schwarzen Haar und den grau en Augen glitt wie ein Schatten durch die Dunkelheit. Das war auch sein Name geworden, den andere ihm seiner Lautlosigkeit und zeitweiligen »Unsichtbarkeit« wegen gegeben hatten – l’ombre, der Schatten. Die Dunkelheit war sein Verbündeter. Er kannte alle Straßen und Schlupf winkel, er kannte alle und jeden. Nachts gehörte Baton Rouge, Louisia na, ihm.
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Yves Cascal hatte immer auf der anderen Seite der Straße gestanden. Als er dreizehn Jahre alt war, kamen seine Eltern ums Leben, und er hatte nie erfahren, wie das geschah. Seit jener Zeit trug er die Verant wortung für zwei jüngere Geschwister, und er hatte gelernt, in einer Welt zu überleben, in der es nur totale Sieger und totale Verlierer gab, in der der Vorurteile wegen nur zwischen Gut und Böse unterschieden wur de; etwas dazwischen schien es nicht zu geben. Manchmal fand Cascal Arbeit, aber selten für längere Zeit. Dennoch brauchten er und seine Geschwister nicht zu hungern. Es fand sich immer etwas, das herrenlos herumlag. Ein Stück Brot, eine Geldbörse . . . Er hatte es nicht einmal nötig, auf Diebeszüge zu gehen. Er schlug sich schon irgendwie durch, und es reichte immer, Miete und Stromkosten für die Kellerwohnung aufzubringen, in der Nähe des breiten Mississippi-Stromes. Hier, in der schmalen Seitengasse des Choctaw Drive, der ganz Baton Rouge durch zog, wohnten die Außenseiter der Gesellschaft. Der Flußuferbereich war Slum-Bereich. Am einen Ende der Gasse begannen die Lagerschuppen des Hafens, am anderen der Rotlichtbezirk. Aber das störte Cascal nicht. Er konnte mit seinen Geschwistern in drei kleinen Kellerzimmern, einer winzigen Toilette und einer kaum we niger winzigen Küche leben. Er stellte keine großen Ansprüche. Nachts, wenn die anderen schliefen, war er meistens unterwegs, und wenn er zurückkehrte, fand er seine Ruhe. Und irgendwann war das Amulett in seinen Besitz geraten. Seit jenem Tag gelang ihm nahezu alles . . . Aber seit jenem Erlebnis auf der Lichtung begann er zu befürchten, daß das Amulett sein Leben nachhaltig zu verändern versuchte. Träu me, Visionen . . . früher hatte er sie in dieser erschreckenden Form nie gehabt. Immer wieder mußte er an das helle Aufleuchten des Amuletts denken, an jenen furchtbaren Schrei von Schmerz, Wut und Verzweif lung, der von irgendwoher gekommen sein mußte, vielleicht von dieser silbernen Scheibe übertragen . . . (siehe Band 399, 404) Er war sich nicht sicher, ob er diese unheimlichen Erscheinungen fürchten sollte oder nicht. Er wußte nur, daß er sie würde ergründen müssen. Aber wie? Ihm fehlte die Anleitung. Er konnte nur aus steter Erfahrung hinzulernen, allmählich einen Schritt nach dem andern ma chen . . . Dabei konnte er sich nicht einmal daran erinnern, wie er in den Besitz dieser silbernen Scheibe gekommen war. So sehr er darüber nachgrü
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belte, fand er die Lösung nicht. Es gab in ihm keine Erinnerung daran. Er konnte nicht einmal den genauen Zeitpunkt fixieren. Er trug das Amulett fast ständig; es hing offen vor seiner Brust. Und bisher hatte es ihm noch niemand zu stehlen versucht, weder heimlich noch bei einem offenen Überfall. Und er kannte nicht einmal den Wert. Er hatte es schätzen lassen wollen, doch ohne eine Materialprobe woll te der Mann, den er darum bat, sich auf keine auch nur annähernde Schätzung einlassen – eine Materialprobe hingegen wollte Cascal nicht gestatten. Er wollte nicht, daß auch nur ein Atom abgeschabt wurde . . . Wieder dachte er an den Unheimlichen auf der Lichtung, der mit ei nem gleißenden Feuerstrahl aus einem genauso aussehenden Amulett den Asiaten niedergebrannt hatte. Wie hatte er das angestellt? Und wie war es dazu gekommen, daß Cascals Amulett dann zusammen mit dem fremden aufflammte, worauf der Unheimliche ins Nichts verschwand? Ließ sich so etwas möglicherweise steuern? Aber wie, und zu welchem Zweck? Damals hatte er die Annäherung des Fremden gespürt. Auf eine unbe greifliche Weise hatte ihn sein Amulett darauf aufmerksam gemacht. Jetzt wollte es ihn anscheinend wieder auf etwas stoßen. Etwas schien sich aus der Ferne mit Cascals Amulett zu befassen. Etwas bedrohte ihn. Handelte es sich dabei um etwas, das tot war und doch lebte? Plötzlich empfand Cascal es als sicherer, in dieser Nacht nicht nach Hause zurückzukehren. Er wollte seine Geschwister nicht in die Ge schehnisse hineinziehen. Er durfte sie nicht gefährden. Aber was war das für eine Gefahr, die ihn bedrohte . . . ?
� Gut achttausend Kilometer weiter östlich, um sieben Zeitzonen und da mit sieben Stunden verschoben, war es längst heller Vormittag, als Pro fessor Zamorra blinzelte und den hellen Lichtschimmer durch das Zim mer geistern sah. Es war reiner Zufall, daß er in diesem Moment halb wach war; eigentlich hatte er vorgehabt, noch wenigstens zwei weitere Stunden zu schlafen und sich erst um die Mittagstunde allmählich zu erheben. Die Fenster waren halb verdunkelt; angenehmes Dämmerlicht herrschte. Zamorra war von dem Aufblitzen irritiert. Er richtete sich halb auf und öffnete die Augen ganz. Woher war das Blitzen gekommen? Geisterte Ni
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cole mit einer Taschenlampe durchs Zimmer? Aber bei diesem Dämmer licht? Außerdem hörte er sie im nächsten Moment neben sich atmen. Er war versucht, sie leicht zu berühren, ihre Nähe zu fühlen. Die Nacht war ver flixt lang geworden, und der Hauch von Zärtlichkeit und Liebe schwang noch durch das Zimmer. Das Aufblitzen! Zamorra orientierte sich. Er sah Kleidungsstücke wild verstreut auf dem Teppich, und er sah auch Merlins Stern. Von dort war das geister hafte Licht gekommen. Der Parapsychologe hob die Hand und konzentrierte sich auf den Ruf. Das Amulett überbrückte die paar Meter Distanz und landete in seiner zufassenden Hand. Es war warm; wärmer, als es seinem pseudometallischen Charakter nach eigentlich hätte sein dürfen. Aber die Erwärmung wich; das Mate rial kühlte sich schnell wieder auf seine Normaltemperatur ab. Zamorra schürzte die Lippen. Eine Erwärmung deutete auf die Nähe Schwarzer Magie hin. Aber rings um das Château Montagne wölbte sich die unsichtbare Schutzglocke des Abwehrschirmes, der ein Durchdrin gen schwarzmagischer Kräfte so gut wie unmöglich machte. Es mußte etwas anderes geschehen sein. Gib mir eine Antwort darauf! verlangte er konzentriert in seinen Ge danken. Aber das Amulett reagierte nicht darauf. Es wurde von sich aus nicht erneut aktiv. Zamorra atmete tief durch. Er warf einen Blick auf Nicole, die neben ihm ausgestreckt lag, die leichte Decke verrutscht, ein zufriedenes Lä cheln im Gesicht. Der Professor wartete einige Minuten. Dann, als nichts weiter geschah, sich der Lichtblitz nicht wiederholte, ließ er das Amulett neben dem Bett auf den Teppich und sich selbst zurück auf das Kissen sinken. Er schloß die Augen. Wenn unmittelbare Gefahr gedroht hätte, hätte das Amulett anders reagiert. Also konnte er auch noch bis zum Mittag weiter schlafen. Schließlich hatte er selbstverordneten Urlaub . . .
� Auch an anderen Orten der Welt und der Unterwelt reagierten Amulette.
Die drei, welche Sid Amos in Merlins Burg in Wales unter Verschluß hielt,
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leuchteten ebenso auf wie das, welches der Erzdämon Lucifuge Rofocale in den Höllentiefen trug, ohne daß jemand davon wußte. Doch während Amos das Aufleuchten nicht bemerkte und ahnungslos blieb, entging es Lucifuge Rofocale nicht. Diese Reaktion seines Amulettes war ihm unbekannt, aber er stellte fest, daß mit einem der sieben Sterne von Myrrian-ey-Llyrana etwas ge schehen sein mußte. Der Verdacht lag nahe, daß es sich um jenes Amulett handelte, das Leonardo deMontagne trug. Denn nur zu deutlich spürte Lucifuge Rofo cale das Inferno, das der Fürst der Finsternis in diesen Stunden entfacht hatte. Der Erzdämon, Satans Ministerpräsident, spielte mit dem Gedanken, über sein eigenes Amulett herauszufinden, was geschehen war, noch ehe andere Dämonen oder Hilfsgeister sich bemüßigt fühlten, es ihm zu be richten. Seine Stärke war, daß er stets über alles Bescheid wußte und andere mit seinem Wissen verblüffte. Aber er ließ davon ab. Sein Amulett war zwar ranghöher als das des Montagne-Fürsten, aber so wie es auf jenes reagierte, mochte es andersherum auch der Fall sein. Und Lucifuge Rofocale hielt es noch nicht für sinnvoll, daß Leonardo etwas von dem Amulett seines Vorgesetzten zu ahnen begann. Das brauchte noch niemand zu wissen . . . So wartete er weiter ab. Aber seine Neugierde wuchs von Minute zu Minute . . .
� Die mächtige, dunkle Gestalt war etwas in sich zusammengesunken. Das wirbelnde Feuer floß ab. Langsam schälten sich wieder erkennbare Um risse aus den rasenden Flammen hervor. »Jetzt wirst du mir dein Geheimnis preisgeben«, hatte Leonardo deMontagne gezischt, ehe der Schrei ertönte und das Chaos ausbrach. Jetzt sah er die zerborstenen, teilweise geschmolzenen Schädel, die noch vor wenigen Tagen lebenden Menschen gehört hatten. Der Fürst der Fin sternis hatte sie töten und ihr Lebenspotential konservieren lassen, um diese Energie umzuwandeln und in entarteter Form für seine Zwecke einzusetzen. Aber so wie es aussah, hatte es nichts genützt.
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Die Energie war nutzlos vergeudet. Die Linien, die der Dämon auf den Boden gezeichnet hatte, waren zer laufen, teilweise verbrannt oder verwischt. Inmitten des Chaos lag nach wie vor das Amulett. Sein Amulett . . . Und es hatte sein Geheimnis nicht preisgegeben. Finster starrte Leonardo es an. Fehlschlag! durchfuhr es ihn. Wieder einmal ein Fehlschlag . . . Nachdem Zamorra jener Falle auf dem Galgenhügel entgangen war, nach dem Verlust des schon eroberten Caermardhin jetzt ein neuer Fehl schlag. Zorn fraß in dem Dämon. Klappte denn neuerdings überhaupt nichts mehr? Was auch immer er anfaßte – es ging schief. Der einzige Erfolg, den er in letzter Zeit zu verbuchen hatte, war die Liquidierung des Mongolen Wang Lee Chan. Damit war die Zamorra-Crew wiederum um einen wichtigen Mitstreiter verringert worden. Der Fürst der Finsternis vergaß Verräter nie . . . Plötzlich registrierte er, daß das Portal seines Thronsaals, in dem er die Beschwörung vorgenommen hatte, offenstand. Und draußen, nur wenige Meter vom Portal entfernt, lag eine furchterregende Gestalt reglos auf dem Boden. Leonardo widerstand dem Impuls, Sklaven zu rufen, die den Reglosen zu ihm schleppten. Noch vibrierte und glühte hier alles. Noch brauchte auch niemand das Amulett zu sehen, das auf dem Boden lag und daraus zu schlußfolgern, was für ein Experiment hier stattgefunden hatte. Leo nardo ahnte, daß es weite Teile der Hölle erschüttert hatte. Das hatte sich leider nicht vermeiden lassen. Von hier aus gingen aber Tausende von Verbindungen in alle Regionen der Schwefelklüfte; immerhin muß ten seine Anweisungen ebenso rasch übertragen werden, wie er seiner seits Neuigkeiten erfuhr. Jene magischen Kanäle hatten mit Sicherheit auch das Inferno übertragen, das im Thronsaal getobt hatte, auch wenn Leonardo versucht hatte, die Kanäle zu verstopfen. Sicher, er hätte das Experiment in einem entlegenen Teil der Schwe felklüfte vornehmen können, oder auf der Erde – aber nur hier waren die Sicherheitsvorkehrungen so perfekt, daß er selbst ungefährdet blieb. Die Geschehnisse gaben ihm recht. An jeder anderen Stelle wäre er in dem kalten Feuer verbrannt. Er straffte sich und schritt langsam nach draußen. Dort sah er, daß es sich um Astaroth handelte. Der Dämon war ohne Bewußtsein.
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Leonardo verzog das Gesicht zu einer bösartigen Fratze. Astaroth! Ei ner der ganz alten, ganz großen Dämonen. Jener, dem es nach dem Ab gang des abtrünnigen Asmodis am ehesten zugestanden hätte, Fürst der Finsternis zu werden. Jener, der von sich selbst behauptete, keinen Ehr geiz zu haben, der aber im Hintergrund gegen Leonardo deMontagne intrigierte und versuchte, ihn vom Thron zu stürzen. Dies – wäre die Gelegenheit, sich dieses Widersachers zu entledigen. Astaroth lag hilflos vor ihm . . . Aber dann zog sich Leonardo zurück. Eine schnelle Handbewegung löste eine magische Kraft aus. Das Portal wurde von Geisterhand ge schlossen. Sollte Astaroth dort draußen liegen bleiben. Trotz seiner Bewußtlosig keit würde er nach dem Erwachen wissen, daß Leonardo bei ihm gewe sen und ihn in seiner Hilflosigkeit, sein Ausgeliefertsein höhnisch beob achtet hatte. Das war für Astaroth sicher niederschmetternder, als wenn Leonardo sich an ihm vergriffen hätte. Nun sah es so aus, als habe der Fürst der Finsternis es gar nicht nötig, Astaroth zu töten . . . Zudem mochte jemand die Szene beobachten und später Lucifuge Ro focale davon berichten, daß Astaroth nicht in dem Inferno versehentlich umgekommen war wie jener andere Dämon, dessen Tod Leonardo noch roch, sondern nachträglich ermordet worden war. Das könnte Ärger ge ben . . . Dabei reichte ihm der Ärger schon, den es dadurch geben würde, daß ihm diese Beschwörung aus den Fugen geraten war. Er nahm das Amulett auf. Langsam schritt er zu seinem Knochenthron, stieg die Stufen hinauf und ließ sich in dem aus Menschengebeinen er richteten Sitz nieder. Nachdenklich hielt er sich das Amulett vors Gesicht und betrachtete es. Der Schrei, der erklungen war, als die sieben Schädel explodierten . . . er hatte ihn schon einmal gehört. Damals, als Merlin verschwand . . . Es hatte einen gewaltigen magischen Schlag gegeben. Und dann noch einmal, als in Louisiana jener Fremde auftauchte, der ebenfalls einen der Sterne von Myrrian-ey-Llyrana besaß. Leonardo hatte den Eindruck ge habt, als spränge ihn jemand an, um ihn zu erwürgen. Und der Schrei . . . Und jene Stimme, die aus dem Amulett gekommen zu sein schien, als
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sie ihm seinerzeit zuraunte, daß Merlin, Zamorra und die anderen aus der Welt hinaus in eine andere geschleudert worden waren . . . Leonardo wußte, daß sein Amulett sich nicht so verhielt, wie es eigent lich zu erwarten war. Etwas lebte darin. Damals, als er Zamorras Amulett besaß, war das anders gewesen. Dieses hier, das viel früher entstanden und demzufolge viel weniger ausgereift war, schien in einem Punkt doch viel weiter entwickelt zu sein. Aber das war unmöglich. Jemand mußte es irgendwann manipuliert und ihm eine besondere Kraft und Fähigkeit aufgepfropft haben . . . Leonardo hatte herausfinden wollen, was das für eine Kraft war. Wel ches Geheimnis das Amulett in sich verbarg. Deshalb hatte er jetzt sein stärkstes Geschütz aufgefahren, nachdem andere Versuche, die Silber scheibe auszuloten, zu seiner Verblüffung gescheitert waren. Dabei be saß er durch Zamorras Amulett eine Erfahrung mit diesen Llyrana-Ster nen wie kaum ein anderes lebendes Wesen im Universum . . . Zornbebend umklammerte er die Scheibe jetzt. Es fehlte nicht viel, und er hätte versucht, sie in seiner Wut zu zerbrechen. Aber er wußte nicht, ob das überhaupt möglich war, abgesehen davon hatte er das vier te Amulett nicht an sich gebracht, um es zu zerstören, sondern um sich seiner Kräfte zu bedienen. Aber das konnte er nicht, solange er nicht genau wußte, womit er zu rechnen hatte. Alle bisherigen Versuche, nachzuforschen, worum es sich bei dem auftretenden Phänomen handelte, waren allerdings abgeblockt worden. Im Amulett gab es eine Verkapselung, die Leonardo energischen Widerstand entgegensetzte. Und jetzt hatte er diesen Widerstand auch mit der Gewalt der Be schwörung noch nicht zerbrechen können . . . »Was steckt in dir, du Ungeheuer?« murmelte er. Mehr als du ahnst, flüsterte plötzlich eine Stimme, die nicht im Thron saal laut wurde, sondern nur in seinen Gedanken. Viel mehr . . . Er schrie auf. »Dann sprich! Erkläre dich! Steckst du in dem Amulett? Wer bist du?« Ahnst du es nicht? Lautloses Gelächter hallte in ihm auf. Du glaubst, du könntest mich zwingen, du Narr? Ich war schon immer besser und größer als du, aber du hast es nie wahrhaben wollen. Du hast versucht, mich zu unterdrücken. Selbst, als ich dich überrundete, versuchtest du gegen mich zu intrigieren . . . Leonardo starrte die Silberscheibe an.
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Er glaubte in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. »Nein«, keuchte er. »Nein! Das – das ist unmöglich! UNMÖGLICH!« Sein Schrei hallte von den Wänden wider. Er wollte nicht wahrhaben, was die mentale Stimme andeutete. Es konnte doch nicht sein. »Du bist tot!« kreischte er. Er sprang von seinem Thron auf, schleuder te das Amulett von sich. Der silberne Diskus schwirrte durch den Saal, beschrieb eine fast gerade Linie durch die Luft und prallte gegen eine nachglühende Wand. Wie von einem Trampolin wurde das Amulett zu rückgefedert und fiel etwa auf halber Strecke zwischen der Wand und dem Dämon zu Boden, wo es noch ein paar Meter weiter rutschte. »Du bist tot!« schrie Leonardo. »Tod! Ich habe dich selbst hingerichtet, auf das Urteil des Tribunals hin . . .« Wieder klang das Gelächter auf. Meinen Körper hast du hingerichtet. Meinen Geist – kannst du nicht töten. Niemals . . . Leonardo ließ sich wieder auf die Sitzfläche des Knochenthrons fallen. Er starrte das Amulett an. So harmlos sah es aus, wie es da auf dem Steinboden lag . . . Und so gefährlich erschien es ihm plötzlich! »Es ist unmöglich«, wiederholte er. »Wie . . . wie könnte es sein? Nein, niemals . . .« Wieder das Gelächter. Und er kannte die Stimme! Er wußte jetzt, wo her er sie kannte. Sie gehörte Magnus Friedensreich Eysenbeiß . . .
� Schlagartig kamen die Erinnerungen wieder. Vor langer Zeit hatte er Eysenbeiß aus einer anderen Dimension ge holt. Damals war er selbst noch kein Dämon gewesen, nur ein Magier, der sein zweites Leben lebte. Aber er hatte schon Macht besessen, und er sammelte Vasallen um sich. Wie Eysenbeiß, so hatte er auch Wang Lee Chan zu sich geholt. Den einen als Berater, den anderen als Leibwächter. Von beiden war er verraten worden. Später, als er sich zum Dämon wandelte und Fürst der Finsternis wurde. Wang Lee Chan hatte sich von ihm abgewandt und war zu Zamorra übergelaufen. Doch was Eysenbeiß tat, war schlimmer. Er, der kein Dä mon, sondern nur ein Mensch war, überrundete Leonardo, seinen Herrn,
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heimlich, und setzte sich auf den Thron des Lucifuge Rofocale, den jener ihm freimachen mußte, weil Eysenbeiß den dämonenvernichtenden Ju Ju-Stab gegen ihn einsetzte, den er Zamorra einst abnahm. Jeder hatte damals angenommen, Lucifuge Rofocale sei vernichtet worden. Und LU ZIFER, der Kaiser der Hölle, hatte keinen Einspruch erhoben, sondern Eysenbeißens Thronbesteigung stillschweigend geduldet. Der Thron, den eigentlich Leonardo ins Auge gefaßt hatte . . . denn mit seiner Position war er noch längst nicht zufrieden . . . So hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, Eysenbeiß in Mißkredit zu bringen, und es war ihm auch gelungen. Eysenbeiß hatte einmal den Feh ler begangen, einen Pakt mit den Feinden der Höllendämonen zu schlie ßen, und das wurde ihm zum Verhängnis. Ein Tribunal verurteilte ihn, den Verräter, zum Tode. Leonardo deMontagne vollstreckte das Urteil. Sein Schatten, den er von sich lösen und als selbständig Handelnden auf die Reise schicken konnte, erwürgte Eysenbeiß. Doch seine Hoffnung, nun aufzurücken, erfüllte sich nicht. Denn Lu cifuge Rofocale kehrte zurück. Klug, wie er war, hatte er lediglich aus einem Versteck heraus abgewartet, wie andere für ihn die Arbeit erle digten und den Menschen vernichteten, der ihn vom Thron vertrieben hatte. Leonardo hatte nach Eysenbeißens Tod dessen Besitztümer beschlag nahmt. Der Ju-Ju-Stab, glaubte er, war von dem Dämon Astardis in den Tiefen eines aktiven Vulkans für alle Zeiten versiegelt worden. Daß Astardis den Stab für sich behalten hatte, ihn inzwischen aber wieder an Zamorra verlor, konnte Leonardo nicht einmal ahnen. Er hielt diese Gefahr für beseitigt. Das Amulett nahm er stillschweigend selbst an sich und gedachte es auch zu benutzen. Es war zwar längst nicht so stark und wirksam wie das Professor Zamorras, aber besser als gar nichts, wie sich gezeigt hatte. Aber anscheinend . . . war es ein Fehler gewesen. Ja, hörte er die lautlose Stimme Eysenbeißens wieder. Es war ein Feh ler . . . oder vielleicht nicht? Bedenke die Fortentwicklung deiner Fähig keiten. Meinst du nicht, daß dir dabei vielleicht jemand geholfen haben könnte? Leonardo knirschte mit den Zähnen. »Welchen Grund könntest ausgerechnet du haben, mir zu helfen?« stieß er wütend hervor. »Du bist zerfressen von Haß gegen mich, du mußt es sein!«
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Und doch . . . daß du deinen Schatten vervielfältigen kannst . . . das, Leonardo deMontagne, ist nicht allein dein Werk . . . ich half dir dabei . . . »Vielleicht bist du eher für den Fehlschlag verantwortlich, der Zamor ra entkommen ließ, obgleich er die Schlinge schon um den Hals trug«, fauchte Leonardo zornig. Das spöttische Lachen war wieder da. Zamorra ist mein Feind ebenso wie dein Feind. Um ihn zu vernichten, half ich dir, deine Fähigkeiten wei ter zu entwickeln . . . und du wirst auch weiter auf mich zählen können. Deshalb hast du mich doch an dich genommen, nicht wahr? Du brauchst meine Magie! »Deine Magie?« schrie Leonardo. »Die des Amulettes, nicht deine!« Ich bin das Amulett . . . »Du bist Eysenbeiß! Du bist nicht das Amulett!« Wer weiß, Fürst. Wer weiß . . . Möglicherweise irrst du dich auch, und die Lage ist in Wirklichkeit ganz anders . . . reizt es dich nicht, es heraus zufinden? »Es reizt mich, dich endgültig auszulöschen«, ächzte der Dämon. Das abermalige Gelächter ließ seinen Zorn weiter wachsen. Es ging ihm auf die Nerven. Wir sollten diese Unterhaltung zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen, sagte die Stimme. Jemand naht. Aber ich gebe dir noch einen kleinen Hinweis. Während du versuchtest, mich mit der Energie der Schädel zu überladen, konnte ich einen Teil davon nutzen. Ich kann dich zu jenem führen, der ein weiteres Amulett besitzt und dich schlug, als du Wang Lee verbranntest. Leonardo erstarrte. »Was soll das heißen?« zischte er. Aber die Stimme antwortete nicht mehr. Da sprang er auf, lief zur Mitte des Saales und nahm das Amulett an sich. Kaum war es unter seinem Gewand verschwunden, als das Portal ruckartig aufgestoßen wurde. Astaroth trat ein. Aber er kam nicht allein. Dämonenknechte, die das Sigill Lucifuge Rofocales trugen, waren bei ihm . . .
� Als Zamorra erwachte, dachte er nicht mehr an das kurze Aufleuchten des Amuletts, dem er ohnehin keine große Bedeutung beigemessen hat
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te. Er warf einen Blick neben sich – Nicole Duval, seine Lebensgefährtin, Sekretärin und Kampfgenossin, war nicht mehr da. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß er nun doch noch länger geschlafen hatte, als er eigent lich wollte. Es war bereits nach zwei Uhr nachmittags. Er gähnte und erhob sich. Nun ja, immerhin waren sie erst morgens um sieben dazu gekommen, einzuschlafen. Zamorra und Nicole waren der Ansicht, daß man die wenigen freien Tage, die es gab, intensiv aus nutzen sollte . . . Er zog die Vorhänge vom Fenster zurück und sah nach draußen. Er konnte die Baugerüste am Haupttrakt des Schlosses sehen. Aber im Mo ment wurde nicht gearbeitet. Der Regen hatte die Arbeiter verscheucht, die daran arbeiteten, die schweren Zerstörungen zu beseitigen und Château Montagne in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Der Himmel war eine endlose graue Fläche, die etwa zwei Kilometer entfernte Loire unten im Tal ein stumpfer, breiter Strich. Vor ein paar Tagen war es noch brütend heiß gewesen. Richtig abgekühlt hatte es sich auch jetzt nicht, deshalb nahm Zamorra den Regen nicht einmal als unangenehm hin. Er lächelte, suchte das Bad auf, kleidete sich an und begab sich zum verspäteten »Frühstück«. Raffael, der alte Diener, wartete auf ihn. »Mademoiselle Duval ist ins Dorf gefahren, um Zeitungen und Post zu holen, und vor einer Stunde kam ein Anruf aus Florida, Monsieur«, erklärte er. Zamorra nickte ihm zu, während der Diener ihm den Kaffee einschenk te. »Tendyke?« »Ja, Monsieur. Er erwartet Ihren Rückruf.« Zamorra seufzte. Er ahnte, daß Nicole nicht gerade begeistert sein würde. Wenn Anrufe kamen, bedeutete das meistens Gefahr und Arbeit. Das Schicksal hatte sie damit geschlagen, ständig irgendwo benötigt zu werden. Hatten sie einmal ein paar Tage Ruhe, stolperten sie garantiert in eine Dämonenfalle, wie vor ein paar Tagen, als die Schattenkreaturen am Galgenhügel auf Zamorra gewartet hatten. Und irgendwo in der Welt tauchten immer Höllenwesen auf, um die Menschen zu knechten. Und Zamorra hatte sich vor langer Zeit geschworen, mit den Dämonen aufzuräumen. Als er Merlins Stern erbte, hatte er diese Verpflichtung auf sich genommen. Aber zur Zeit wollte er eigentlich nur Ruhe haben. Er war noch nicht ganz mit dem Frühstück fertig, als Nicole eintrat,
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naß wie eine Katze, die ins Regenfaß gefallen ist. Sie begrüßte Zamor ra mit einem Kuß und warf ein paar in Plastikfolie eingerollte trockene Zeitungen auf den Tisch. »He, regnet dein BMW neuerdings durch? Oder bist du mit offenem Schiebedach gefahren?« Nicole schüttelte den Kopf. »Unsinn. Es hat mich auf den paar Metern vom Auto zur Haustür erwischt. Es gießt wie aus Eimern. Anscheinend will der Himmel alles nachholen, was er in den letzten zwei Wochen ver säumt hat.« Zamorra grinste. »Schon mal was von Regenschirmen gehört?« »Altes Lästermaul«, murrte sie. »Glaubst du, ich suche diesen Spiel zeugfallschirm aus der Mottenkiste, bloß weil mal ein paar Regentropfen fallen?« »Ein paar . . .« Zamorra schmunzelte und erhob sich. »Du solltest dich in trockene Kleidung werfen, ehe du dir eine Erkältung holst«, empfahl er. Nicole lächelte ihn an. »Hilfst du mir dabei?« Und ob ich dir dabei helfe, dachte er vergnügt. Mein lieber Tendyke, du wirst auf meinen Rückruf noch ein bißchen warten müssen . . . Erst zwei Stunden später erinnerte er sich wieder daran und erzählte Nicole von dem Anruf des Abenteurers aus Florida. Zu seiner Überra schung meuterte Nicole nicht. »Wenn er uns einlädt, nimm sofort an, cherie«, empfahl sie. »Hier regnet’s ja doch nur Bindfäden, und in Flori da scheint die Sonne . . .« »Na, hier hat sie zwei Wochen lang so vom Himmel gebrannt, daß wir uns kaum davor retten konnten!« »Aber heute regnet es. Also laß uns nach Florida jetten – und nach Möglichkeit die Tickets von Tendyke bezahlen!« Zamorra lachte. »Na gut. Was ist, wenn er wieder einen Dämon für uns auf Lager hat?« »Hat er nicht, wetten? Astardis wird die Prügel nie vergessen, die er bezogen hat. Der kommt nicht wieder nach Florida . . .« Der Professor ging in sein Arbeitszimmer hinüber und griff zum Tele fon. Nach etwa zehn Minuten hatte er die Verbindung. Über Satelliten funk klang Robert Tendykes Stimme so deutlich, als befände er sich nur im Nebenzimmer. »Bei euch regnet es doch bestimmt, Zamorra. Wie wäre es, wenn ihr zu einem Sonnenbad herüberkommt?«
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»Ganz Nicoles Worte. Was liegt an, Freund?« erkundigte Zamorra sich. »Hoffentlich nicht wieder ein Fall für uns . . . dann muß ich nämlich pro testieren.« »Ach, Unsinn. Keine Magie, keine Dämonen, Vampire und sonstiges Getier. Trotzdem brauche ich deine Hilfe. Ich suche jemanden.« »Wen?« »Einen Mann namens Ombre. Ich habe dir schon von ihm erzählt. Der Mann, der Su Ling hierher brachte.« »Und warum suchst du ihn?« »Ich habe bei dem Burschen ein ganz komisches Gefühl, Zamorra. Und ich habe endlich eine Spur.« »Und weshalb brauchst du mich dazu?« Tendyke lachte. »Weil du ein besseres Französisch sprichst als ich, Professor. Ich habe vorsichtshalber schon Tickets für euch gebucht. Ihr fliegt von Lyon über Paris und New York nach Miami.« Zamorra stellte fest, daß Nicole ebenfalls eingetreten war. Sie hatte die letzten Worte mitgehört, da die Freisprechanlage eingeschaltet war. Jetzt nickte sie. »Wir kommen«, rief sie Tendyke über rund achttausend Kilometer Distanz zu. »Da hörst du es«, sagte Zamorra. »Mein geliebter Privatvampir be fiehlt, und ich gehorche. Wir kommen, mon ami. Wann geht die Maschi ne?« »Frag in Lyon am Terminal nach. Bis bald, Freunde.« Tendyke unterbrach die Transatlantik-Verbindung. Nicole stemmte die Arme gegen die Hüften. »Wie war das gerade? Pri vatvampir?« zischte sie. »Du wirst unverschämt, Monsieur! Das wimmert nach Bestrafung.« Sie warf sich halb auf ihn, und er spürte ihre Zähne an seinem Hals. »He!« protestierte er. »Du willst doch wohl nicht wirklich zubeißen?« »Warum nicht? Vampire beißen nun mal . . .« »Dann sieh zu, daß du nicht gepfählt wirst«, lachte er. »Komm, packen wir die Koffer und reisen ab. Floridas Sonne lacht.« »Hoffentlich lacht sie uns nicht aus, wenn du so am Flughafen er scheinst.« Nicole grinste Zamorra an. »Vielleicht solltest du dich vorher noch anziehen . . .« Manchmal, fand Zamorra, brachte Nicole durchaus brauchbare Vor schläge . . .
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Und während sie über den Atlantik jetteten, fragte er sich, warum Ten dyke seine Unterstützung wirklich brauchte . . .
� Leonardo deMontagne hatte eine harte Zurechtweisung hinnehmen müs sen. Lucifuge Rofocales Diener hatten ihn vor den Thron des Höllenfür sten zitiert, und der hatte ihn kaltlächelnd gefragt, ob es nötig sei, die halbe Hölle zum Einsturz zu bringen, nur um einen dreigehörnten Dä mon zu töten. Dadurch und durch Astaroths Bestätigung hatte Leonardo erfahren, welcher Dämon beim Eindringen in seinen Thronsaal umge kommen war. Leonardo versuchte mehr schlecht als recht, sich mit halbwahren Er klärungen aus der Affäre zu ziehen und war erstaunt, daß Lucifuge ihm keine Detailfragen stellte. Der Stellvertreter Satans warnte ihn aller dings davor, seine Macht weiter auf diese Weise unter Beweis zu stel len, da es die Grundfesten der Hölle erschütterte. Und es sei auch nicht vonnöten, grundlos unter den Höllendämonen aufzuräumen – es reiche schon völlig, wenn Menschen wie Zamorra das taten. »Du solltest wissen, daß unser Kaiser LUZIFER dich jederzeit auf mein Anraten hin von deinem Thron fegen kann, Fürst der Finsternis«, schloß Lucifuge Rofocale grimmig. »Und nun geh und kümmere dich um das, was zu deinen Pflichten gehört . . .« Im Davongehen bemerkte Leonardo das zynische Lächeln Astaroths und wußte, daß er die Punkte, die er gegen jenen gewonnen hatte, so eben wieder verlor. Aber momentan berührte ihn das nicht weiter. Er war mit einem an dern Problem beschäftigt. Lucifuge Rofocales Anpfiff hatte er nur mit halbem Ohr wahrgenommen. Er dachte an das Amulett. Und er wußte, daß er in der letzten Zeit entschieden stärker geworden war als früher. Er hatte hinzugelernt, was den Einsatz Schwarzer Magie anging, seine Kräfte und Fähigkeiten hatten sich verstärkt. Sicher, in der Theorie war er schon immer sehr bewandert gewesen, sowohl in seinem ersten als auch in seinem zweiten Leben. Er hatte immer dafür gesorgt, daß sein Wissen sich erweiterte. Aber zwischen Theorie und Praxis gab es doch Unterschiede. Ein Mensch und ein Dämon konnten Zauberfor meln benutzen und mußten der Magie Kraft liefern, die aus ihnen selbst
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kam. Stärkere Dämonen vermochten das relativ leicht, Zauberer muß ten diese Kraft durch Askese, Selbstdisziplin und auch Blutopfer erst ge winnen. Doch jetzt wuchs Leonardo über dieses Stadium immer weiter hinaus. Das Inferno, das er jetzt entfesselt hatte, wäre ihm früher niemals ge lungen. Und doch fühlte er sich jetzt nur wenig geschwächt. Seine Gei stesabwesenheit rührte mehr von seinem Grübeln. Und die neue Fähigkeit, seinen Schatten aufzuteilen . . . und jeden Teil für sich handeln zu lassen . . . auch sie war neu. Sollte das tatsächlich alles diesem Amulett zuzuschreiben sein? Eysenbeiß? Leonardo deMontagne zweifelte. Eysenbeiß hatte ihn immer gehaßt. Selbst der gemeinsame Feind Zamorra hatte sie beide schließlich nicht mehr zusammenführen können. Der Fürst der Finsternis konnte sich nicht vorstellen, daß sich der Geist Eysenbeißens im Tode gewandelt hat te. Oder sollte das Amulett seinerseits Einfluß auf ihn haben? »Ich muß es in Erfahrung bringen«, murmelte der Dämon, während er in sein Refugium zurückkehrte. »Ich muß es wissen, um jeden Preis.« Aber wie sollte er es erfahren, wenn er keine Möglichkeit hatte, die Verkapselung aufzubrechen? Dies war sein letzter und stärkster Versuch gewesen. Mehr Energie konnte er nicht mehr einsetzen. Die Barriere hielt stand. Wenn jener Geist, der sich im Amulett eingenistet hatte, sich nicht von selbst verriet und sein Geheimnis preisgab, würde Leonardo es nicht erfahren . . . Er ballte die Fäuste und schrie eine Verwünschung. Er konnte nicht begreifen, wie eine Verschmelzung zwischen Eysen beißens Geist und dem Amulett hätte stattfinden können. Die Seele die ses Mannes hätte bei seinem Tod unverzüglich ins Höllenfeuer wandern müssen. Leonardo verwünschte sich, daß er nicht darauf geachtet hatte. Aber vielleicht konnte er feststellen, ob die Seele des Magnus Friedensreich Eysenbeiß nicht doch irgendwo in der Glut der Ewigkeit schrie. Es würde ihn erleichtern. Denn wenn Eysenbeiß tatsächlich im Amulett weiterexistierte, würde er eines Tages Leonardo böse in den Rücken fallen – falls er es nicht schon getan hatte, falls die Niederlagen der letzten Zeit nicht auf seinen Verrat zurückzuführen waren. Aber da waren noch zwei Dinge.
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Das eine war die Andeutung, die der Geist im Amulett gemacht hatte. Ich kann dich zu jenem führen, der ein weiteres Amulett besitzt und dich schlug, als du Wang Lee verbranntest . . . Würde Eysenbeiß ihm diesen Typ geben? Höchstens, um ihn damit in eine Falle zu locken . . . Aber – der Verdacht war geweckt! Und die Andeutung, nach der das Amulett wieder in Schweigen verfiel, hatte Leonardo deMontagne neu gierig gemacht. Vielleicht konnte er jenen Amuletträger zur Rechen schaft dafür ziehen, daß er Leonardo angriff – und ihm jenes Amulett möglicherweise abjagen . . . ? Er mußte es zumindest versuchen. Denn dann konnte er vielleicht besser gegen Lucifuge Rofocale auf trumpfen. Er war sich nicht ganz klar darüber, was der Höllenfürst ei gentlich wirklich von ihm gewollt hatte. Sicher, es hatte eine scharfe Zurechtweisung gegeben. Aber das konnte nicht alles gewesen sein. Auf eine eigenartige Weise hatte sich Leonardos Amulett schwach er wärmt und vibriert. Ganz kurz nur, aber deutlich spürbar. Damit zeigte es an, auf einen äußeren Einfluß reagiert zu haben. Doch was mochte das für ein Einfluß gewesen sein? Nun – es war zweitrangig. Wichtig war jetzt, die Spur zu verfolgen, die sein Amulett ihm weisen wollte. Und dabei aufzupassen, daß nicht eine Falle über ihm zuschlug . . .
� Lucifuge Rofocale wußte jetzt, daß mit dem Amulett des Fürsten der Fin sternis etwas nicht stimmte. Er hatte es mit dem seinen kurz angetastet. So unauffällig wie möglich – es kam ihm zugute, daß Leonardo es, unter seiner Gewandung verborgen, mitgebracht hatte. So war es nicht weit entfernt gewesen, und die Berührung ließ sich leicht bewerkstelligen. Lucifuge Rofocale war sicher, daß Leonardo diese Berührung kaum ge spürt hatte – und sie sicher nicht mit dem Höllenfürsten in Verbindung bringen würde. Solange er nicht einmal ahnte, daß Lucifuge Rofocale den fünften Stern von Myrrian-ey-Llyrana besaß, würde er dahingehend keinen Verdacht schöpfen. Wenn er etwas bemerkt hatte, würde er es einem anderen Phänomen zuschreiben.
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Lucifuge Rofocale hatte nicht feststellen können, was wirklich mit Leo nardos Amulett geschehen war. Aber etwas war darin, was nicht hinein gehörte. Etwas Untypisches. Etwas – Gefährliches . . . Um Leonardo sorgte Satans Ministerpräsident sich nicht. Eher um sich selbst. Wenn Leonardo starb, war das nicht weiter schlimm; Ersatz wür de sich finden, wenn auch nicht ein so guter, wie es Asmodis einst gewe sen war. Aber die Gefahr könnte auch Lucifuge Rofocale bedrohen. Leonardos Amulett war schwächer als das seine. Aber Lucifuge Rofo cale hatte aus der Geschichte von David und Goliath gelernt . . . Er würde fortan sorgsamer auf alles achten müssen, das Leonardo deMontagne tat.
� Zamorra und Nicole hatten im Lauf der Jahre gelernt, mit Zeitverschie bungen zurechtzukommen, so oft, wie sie unterwegs waren. Am kritisch sten war es, wenn sie sich von den Druiden Gryf und Teri von einer Hälfte der Weltkugel zur anderen bringen ließen. Da waren sechs Stunden Flug, die durch die Zeitzonen zu annähernd Null zusammenschrumpften, noch harmlos – in diesen sechs Stunden ließ sich einiges an Schlaf nachholen oder auf Vorrat ruhen. Gegen 19 Uhr Ortszeit landete die Maschine aus New York auf dem Rollfeld des Miami-Flughafens. Eine halbe Stunde später waren sie durch die Kontrollen und wurden von Rob Tendyke erwartet. Tendyke trug seine übliche Lederkleidung im Western-Stil und hatte den breitran digen Lederstetson tief ins Gesicht gezogen. Er chauffierte die Ankömm linge zu Tendykes Home, dem großzügigen, eineinhalbstöckigen Bun galow in einer Traumlandschaft in unmittelbarer Nähe des EvergladeNationalparks. Eine Privatstraße, mit einer Sperrschranke »gesichert«, führte direkt zu dem Anwesen. Scarth, der Butler, servierte die Begrüßungsdrinks. Monica und Uschi Peters, die beiden eineiigen Zwillinge aus Germany, die irgendwann hier in Florida endgültig hängengeblieben sind, begrüßten Zamorra und Ni cole überschwenglich. Zamorra hob erstaunt die Brauen, als er die bei den blonden Mädchen kritisch musterte. »He, was ist denn mit euch los? Jetzt kann man euch schon wieder nicht voneinander unterscheiden . . . Wer ist denn nun wer?«
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Nicole lächelte. »Das ist Uschi, und das ist Monica«, unterschied sie mit traumhafter Sicherheit die beiden Mädchen, die sich zu allem Über fluß auch noch gleich kleideten. Nicole war anscheinend auf der gan zen Welt die einzige Person, die die beiden auseinander halten konnte – möglicherweise hatte selbst Rob Tendyke Schwierigkeiten damit. In den letzten Wochen hatte sich Uschis Schwangerschaft bemerkbar gemacht, aber wie es aussah, zog Monica mit ihrer Schwester gleich! »Eine Scheinschwangerschaft«, erklärte Monica. »Es ist zu ärgerlich. Uschi bekommt das Kind, ich gehe leer aus und darf trotzdem mit leiden in dieser Hitze . . . wenn’s doch endlich Winter würde . . .« »Hier wird es nie Winter«, warf der Abenteurer ein. »Was glaubt ihr wohl, warum ich mich ausgerechnet hier angesiedelt habe? Bestimmt nicht nur der Flamingos und Alligatoren wegen.« Er grinste. »Was meinen beiden Damen noch weniger gefällt, ist, daß sie gewis sermaßen hier eingesperrt sind, damit kein Dämon sich des Ungebore nen bemächtigen kann . . .« ». . . was totaler Unsinn ist«, protestierte Monica, »weil wir mit unse ren telepathischen Fähigkeiten die Annährung eines Dämons rechtzeitig bemerken würden und uns in Sicherheit bringen könnten . . . gib’s ruhig zu, Rob, daß du nur die Sklaverei in abgewandelter Form wieder einge führt hast.« Tendyke winkte ab. »Diese Argumente«, erklärte er seinen beiden Besuchern, »kommen immer dann, wenn die Ladies mal wieder nicht weiterwissen. Wollt ihr euch erst einmal einquartieren, oder kommen wir sofort zur Sache?« »Du hast einen Swimmingpool«, sagte Nicole. »Den werde ich zwecks Abkühlung und Erfrischung mal von innen inspizieren.« Eine halbe Stunde später drehte sie ihre Runden im Pool, während die anderen es sich auf der Terrasse bequem gemacht hatten. Die Son ne senkte sich allmählich dem Horizont entgegen, ohne daß es zu einer Abkühlung kam. »Was ist jetzt mit meinen Französisch-Kenntnissen, die du angeblich benötigst? Du hast uns doch hoffentlich nicht hierher fliegen lassen, da mit wir anschließend wieder nach Frankreich jetten . . .« Tendyke grinste. »Es gibt auch noch andere Länder, in denen franzö sisch gesprochen wird. Guayana, Marokko, Algerien . . .« Zamorra winkte ab. »Komm zur Sache, Vater der Weitschweifigkeit.«
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»Nun gut. Als ich vom Silbermond hierher zurückkehrte . . .«, er zö gerte sekundenlang und wich Zamorras fragendem Blick aus, um dann fortzufahren: ». . . traf ich auf Su Ling. Ich habe euch ja schon am Telefon davon erzählt. Ein Neger hatte sie her gebracht, der sich Ombre nannte. Und Monica und Uschi konnten seine Gedanken nicht lesen.« »Er schirmte sie wahrscheinlich ab. Denn daß er gar nicht dachte, möchten wir doch bezweifeln«, sagte Uschi. »Was ist eigentlich aus Su Ling geworden?« erkundigte Zamorra sich nach der San-Francisco-Chinesin, die die Lebensgefährtin des ermorde ten Wag Lee gewesen war. »Sie ist weg«, sagte Tendyke. »Sie hat gekündigt. Ich habe ihr eine großzügige Abfindung zukommen lassen und ansonsten ihren Wunsch respektiert, daß sie fortan nichts mehr mit uns allen zu tun haben möch te. Sie ist untergetaucht. Vielleicht ist sie wieder in Frisco, vielleicht irgendwo sonst in den Staaten. Ich weiß es nicht. Sie wird über Wangs Tod hinwegkommen, da bin ich sicher. Die Zeit eilt, teilt und heilt.« Zamorra nickte. »Okay. Weiter . . . dieser Ombre. Ombre heißt Schat ten . . . könnte er dämonisch sein? Vielleicht eine neue Scheinidentität unseres Freundes Astardis?« »Der läßt sich hier nie wieder blicken, nach der letzten Niederlage, die er damals kassierte. Nein . . . außerdem hätte er kaum Su Ling hierher gebracht, sondern sie allenfalls als Geisel verwendet, um uns zu etwas zu zwingen. Dämonische Wesen scheiden aus. Er muß ein Mensch sein.« »Bloß einer, der seine Gedanken abschirmen kann, und das kann uns nicht gefallen.« »Als ich davon hörte«, griff Tendyke den Faden wieder auf, »bekam ich ein ganz seltsames Gefühl, und das ist bis jetzt geblieben. Ich traue diesem Ombre nicht über den Weg, auch wenn er das Mädchen scheinbar uneigennützig hergebracht hat. Etwas stimmt mit diesem Neger nicht.« Zamorra hob die Schultern. »Weißt du . . . ich bin ja nach Louisiana gerast, weil ich versuchen woll te, Wang zu helfen, als das Flugzeug dort abstürzte. Aber kurz bevor ich ihn erreichte, waren da zwei Männer. Es kam zum Schußwechsel. Einen habe ich in Notwehr erschossen, der andere verschwand im Unterholz wie ein Schatten.« Zamorra beugte sich vor. »Was ist da eigentlich genau vorgefallen?« fragte er. »Zum Teufel, sobald man etwas darüber von dir wissen will, windest du dich wie eine Katze. Schußwechsel . . . du kannst mir nicht
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erzählen, daß dir dabei nichts passiert ist. Vor einiger Zeit hat dir mal Bill Fleming eine Kugel in den Rücken gejagt. Du verschwandest unter Zurücklassung einer erheblichen Blutspur und tauchtest vollkommen ge sund und munter etwas später an einem anderen Ort wieder auf. Jetzt erzählst du von dieser Schießerei im Sumpfwald von Louisiana. Direkt danach erscheinst du auf dem Silbermond, hilfst uns dort nach Kräften, ergehst dich gleichzeitig in geheimnisvollen Andeutungen, und wir alle gehen dem Meegh in die Falle und landen im Zentrum einer wohl atoma ren Explosion. Bloß sterben wir nicht dabei, sondern kommen wieder in Caermardhin an – und du hier. Was zum Teufel passiert da? Was sind das für Raumzeit-Sprünge? Wie machst du das eigentlich, Rob?« »Wir sprachen über diesen Ombre«, wich Tendyke aus. »Nicht ablenken, Freund«, drängte Zamorra. »Ich will es jetzt wissen. Jetzt sind wir nämlich gerade so schön bei der Sache.« Zamorra . . . bitte!« Überrascht sah der Parapsychologe die beiden Mädchen an. Uschi – oder war es Monica? – schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. »Bedränge ihn nicht. Uns hat er es auch nie verraten, aber ich denke, wir können damit leben. Ein Mensch sollte ein kleines Geheimnis bewah ren, nicht? Oder verrätst du jedem deine kleinen Geheimnisse?« »Mädchen, hier geht es nicht um kleine Geheimnisse«, fuhr Zamorra auf. »Hier geht es um existentielle Dinge, um Leben und Tod. Und da wir auf dem Silbermond selbst mit betroffen waren, möchte ich wissen, was ich da erlebt habe oder warum mir ein paar Stunden oder Tage im Gedächtnis fehlen, verflixt! Ich habe ein Recht darauf!« »Vielleicht nicht«, wandte die Telepathin ein. »Ihr wißt doch etwas!« hielt Zamorra ihr vor. »Zamorra, wir sind keine Gedankenschnüffler!« protestierte Uschi ver ärgert. »Wenn jemand etwas für sich behalten will, werden wir es ihm lassen! Das solltest du wissen.« »Ja, euer telepathischer Ehrenkodex . . . trotzdem! Rob . . .« »Monica und Uschi haben mir diesen Monsieur Ombre beschrieben«, sagte Tendyke, als habe er nur auf ein Stichwort gewartet. Ehe Zamor ra protestieren und ihn wieder auf das andere Thema zurückzwingen konnte, fuhr er fort. »Die Beschreibung paßt hundertprozentig auf die sen zweiten Mann, der floh, als ich seinen Komplizen niederschoß. Ich bin sicher, daß es sich um ein und dieselbe Person handelt. Das erklärt
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auch, wieso er mit Su Ling hier auftauchte – er war ja vor Ort, als der Mongole starb.« Zamorra seufzte. Es sah so aus, als könne er Tendyke nicht dazu zwin gen, über sein kleines Geheimnis zu plaudern . . . vielleicht ein ander mal . . . »Jetzt erheben sich ein paar Fragen«, sagte der Abenteurer. »Gehört dieser Ombre zu Leonardo deMontagne? Waren die beiden Männer seine Helfer, die Wang und Su dem Dämon zutreiben sollten? Das könnte eine Erklärung dafür sein, daß der andere Typ sofort auf mich schoß. Er fühlte vielleicht, daß ich ihre Pläne durchkreuzen wollte.« »Oder ist er ein Unbeteiligter, der irgendwie in die Sache hineinrutsch te, nicht wahr?« ergänzte Zamorra die zweite, noch unausgesprochene Frage. »Ein kleines Gangsterpärchen vielleicht«, sagte Tendyke, »das von dem Flugzeugabsturz profitieren wollte. Die im Morast versinkende Ma schine konnten sie nicht mehr plündern, da haben sie sich vielleicht an vereinzelt herumirrende überlebende Passagiere heranmachen wollen, und ich kam ihnen in die Quere. Das wäre eine Möglichkeit, aber sie erklärt nicht, warum dieser Ombre seine Gedanken abschirmen kann.« Zamorra antwortete nicht. Er sah zum Pool, wo Nicole sich immer noch im Wasser wohl fühlte und sich treiben ließ. Sie war nahe genug, daß sie mithören konnte. Zamorra griff nach dem Glas Orangensaft und nahm einen kleinen Schluck. Er überlegte. Beide Möglichkeiten waren gleich wahrscheinlich und die Gedankenabschirmung ein noch unlösbares Rätsel. Die Parapsycho logie lehrte zwar, daß nicht jeder Telepath jedes Menschen Gedanken aufnehmen konnte, außerdem kam es auf die momentane Verfassung an, aber die Peters-Zwillinge waren dermaßen para-begabt, daß diese Ein schränkungen für sie nicht galten. Daß zumindest der Erschossene tatsächlich ein Helfer Leonardo deMontagnes gewesen war und Yves Cascal, der »Schatten«, eher durch das Amulett und mit Überredungskunst des anderen Mannes dort aufge taucht war, ahnte niemand von ihnen (siehe Band 404: »Tod im Schlan gensumpf«) »Ich muß diesen Ombre aufspüren und ihn mir ansehen«, sagte Ten dyke. »Er könnte eine Bedrohung sein. Wenn er seine Gedanken abschir
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men kann, kann er vielleicht noch mehr. Möglicherweise hat er erkannt, was es mit dem Kind auf sich hat.« Er strich zärtlich über Uschis Bauch, der mittlerweile auch durch das weit geschnittene Kleid nicht mehr zu kaschieren war. »Was hat es mit diesem Kind eigentlich auf sich, daß ihr so ein Rie sengeheimnis daraus macht?« fragte Zamorra. »Okay, seine Mutter ist eine Telepathin, und du bist jemand, der Gespenster sehen kann. Und vermutlich hast du noch ein paar interessante Fähigkeiten. Aber . . .« »Und damit könnte er zu einer Gefahr werden«, unterbrach Tendyke trocken. »Selbst wenn er kein Dämon oder Dämonendiener ist, könnten sie ihn schnappen und verhören und dabei etwas erfahren, die Schwarz blütigen . . . deshalb muß ich wissen, was es mit diesem Mann auf sich hat, was er weiß, wer er ist . . .« »Und so fort«, rief Nicole vom Pool her. »Aber was haben wir jetzt damit zu tun?« »Ich habe die letzte Zeit damit verbracht, Nachforschungen zu betrei ben«, sagte Tendyke. »Anscheinend kommt der Neger aus Louisiana. Aber weder dort noch in den Nachbarstaaten ist jemand bekannt, der den Namen Ombre trägt.« Zamorra pfiff durch die Zähne. »Wie hast du das herausgekriegt?« »Man kennt Leute, und man zahlt notfalls Bestechungsgelder«, sagte Tendyke. »Aber verrat’s nicht weiter. Nun, jemand, der ›Schatten‹ heißt, müßte mit diesem Namen ja doch eher auffallen in den Einwohnermel delisten als ein ›Smith‹ oder ›Millen. Nun, es gibt niemanden, der Ombre heißt. Aber ich erfuhr, daß in Unter- und Halbweltskreisen in Baton Rou ge, Louisiana, jemand herumstrolcht, der von den anderen kleinen und großen Gaunern ›der Schatten‹ genannt wird. Das ist doch ein Hinweis, nicht?« »Okay. Weshalb schnappst du dir diesen Schatten dann nicht? Wozu brauchst du uns dabei?« Tendyke streckte den Arm aus und zeigte auf Zamorras Brust. »Du bist schwach telepathisch begabt . . .« »Sehr schwach . . .«, schränkte Zamorra ein. ». . . und du besitzt ein paar magische Waffen und Werkzeuge. Dein Amulett, deinen Dhyarra-Kristall . . . ich denke, damit ließe sich die Ge dankenbarriere dieses Ombre knacken.« Zamorra tippte sich an die Stirn. »Sofern es sich nicht herausstellt, daß er tatsächlich ein Schwarzmagier oder Dämon ist, kannste das ver
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gessen, mein Bester. Ich wende meine Werkzeuge und Zaubertricks und meine Para-Begabung nicht an, um anderen Leuten psychische Gewalt anzutun.« »Wie war das noch mit dem Telepathen-Ehrenkodex . . . ?« murmelte Monica Peters. »Komm wenigstens mit«, sagte Tendyke. »Dann können wir immer noch entscheiden. Zudem sprichst du ein besseres Französisch als ich. Ich habe da immer ein wenig Probleme mit der Sprache.« Er grinste. »Notfalls braucht er dich als Rückendeckung, Zamorra, wenn die Fäu ste fliegen«, wandte Monica ein. »Fäuste, Messer, Kugeln, Untertassen . . .« murmelte Zamorra. »Okay, ich versuche es mal. Jetzt bin ich nämlich gerade mal hier. Aber ich den ke, daß es nicht heute abend sein muß, oder? Bis Baton Rouge sind es ein paar Meilen.« »Etliche«, grinste Tendyke. »Ein hübscher Flug . . . aber ich bin schon froh, daß du überhaupt mitmachst. Ich danke dir, Professor.« Er erhob sich und verließ die Terrasse. Zamorra sah ihn durch die Gla stürfront verschwinden. Er wandte sein Augenmerk wieder dem Swim mingpool zu. Nicole ließ sich in die Mitte des großen künstlichen Teiches treiben. Anscheinend wollte sie den Fischen Konkurrenz machen. Zamor ra wunderte sich, daß sie noch nicht wieder auf die Terrasse gekommen war. Ihre Haut mußte doch schon recht ausgedünnt sein . . . Er sah zum jenseitigen Poolrand. In dem Moment entdeckte er den Alligator.
� Rings um das Haus erstreckte sich eine ausgedehnte Rasenfläche, die von Sträuchern und Bäumen aufgelockert wurde; je weiter die Pflanzen vom Haus entfernt standen, um so dichter drängten sie sich zusammen, bis sie eine Art Dschungel mit kaum noch zu durchdringendem Unter holzdickicht bildeten. Von dort kam die Panzerechse. Das Reptil bewegte sich enorm schnell und wieselte auf den Pool zu. Als Zamorra es entdeckte, war es nur noch wenige Meter entfernt. Als er aufsprang und Nicole eine Warnung zurief, glitt das Biest gerade ins Wasser.
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Nicole schrie auf und versuchte schwimmend zu entkommen. Aber der Alligator war schnell. Zamorra setzte zum Sprung an. Es war zwar fast aussichtslos, waffen los mit einem Alligator fertig zu werden, aber vielleicht konnte er das Biest von Nicole ablenken . . . Schallendes Gelächter ließ ihn verharren. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, Tendyke müssen den Ver stand verloren haben. Der Abenteurer stand wieder in der Terrassentür und lachte! In der Hand hielt er einen kleinen Kasten mit einer Anten ne . . . Der Alligator bewegte sich nicht mehr. Nicole erreichte den gemauerten Beckenrand. »Du bist unmöglich, Rob!« sagte Monica vorwurfsvoll. »Mußte das un bedingt sein?« »Gator am Abend, erquickend und labend«, behauptete Tendyke. Er schaltete an dem Kasten. Der Alligator bewegte sich wieder, schwamm zum auf seiner Hälfte des Beckens abgeflachten »Teichrand« und kletter te an Land. Dann watschelte er am Rand des Pools entlang und näherte sich langsam Terrasse und Haus. Jetzt, bei näherem Betrachten, fiel Zamorra auf, daß das Reptil sich recht abgehackt und mechanisch bewegte. Das war doch kein lebendes Tier . . . »Sein neuestes Spielzeug«, sagte Monica abfällig. »Unser mechanischer Wächter«, grinste Tendyke. »Das elektrische Krokodil. Das liebe Tier ist eine Maschine.« Er berührte eine Taste. Der künstliche Alligator riß sein Maul auf. Ein halbes Hundert spitzer Zähne funkelte im Licht der Abendsonne. Nicole kletterte aus dem Pool. »Du bist verrückt, Robert Tendyke«, sagte sie verärgert. »Wie kannst du mir einen solchen Schrecken einja gen? Ich dachte, das Biest sei echt! Man sollte dich erschlagen, ist dir das klar?« »Eure Reaktionen haben jedenfalls noch nicht nachgelassen«, stellte Tendyke fest. Er tat, als winke er den Alligator herbei, und lenkte ihn über die Funkfernsteuerung. Das Reptil kam heran. Nicole betrachtete es mißtrauisch und wich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. »Old Sam brachte mich auf die Idee«, sagte Tendyke. »Old Sam? Wer ist Old Sam?« fuhr Nicole ihn an.
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»Erinnerst du dich nicht?« fragte Tendyke. »Der Sechs-Meter-Gator in Florida City, der sich in Walty Clarktons Pub allabendlich sein Nachtmahl abholt.« Langsam dämmerte es Nicole. Old Sam war ein zivilisationsgeschä digter Alligator, der sich in von Menschen bewohnte Gegenden traute, seelenruhig durch die Straßen spazierte und in Häuser eindrang. Er war friedlich – immerhin wurde er von den Leuten gefüttert, die sich ihren Spaß daraus machten, eine gefährliche Sumpfbestie »gezähmt« zu haben. Nicole hatte Old Sam kennengelernt, als sie seinerzeit mit den Zwillingen in Florida-City übernachtete, weil Sid Amos in Tendykes Ho me einquartiert werden mußte, wo er vorübergehend mit Zamorra und Tendyke an einem gemeinsamen Projekt arbeitete. »Wie gesagt«, erklärte der Abenteurer. »Old Sam lieferte mir die Grun didee und ein Bastler den Rest. Eine Alligatorhaut, drinnen ein Haufen Technik . . . immerhin kann das liebe Tier sich bewegen, schwimmen und das Maul auf- und zuklappen, wenn ich es entsprechend steuere. Das ist effektiver als ein Wachhund, und sieht lebensecht aus. Immerhin seid ihr darauf hereingefallen.« »Er hetzt das blöde Vieh auf Gerichtsvollzieher, Briefträger und Staub saugervertreter ohne Ansehen der Person«, behauptete Uschi. »Die Zähne sind mit geweihtem Silber überzogen«, sagte Tendyke. »Wenn der Robot ein dämonisches Wesen beißt, tut’s dem ziemlich weh.« »Traust du der Abschirmung nicht mehr?« fragte Zamorra, der sich allmählich wieder beruhigte. Für makabre Späße dieser Art, wie Tendyke es vorgeführt hatte, war er ebensowenig zu haben wie Nicole, die in diesem Fall noch mehr betroffen gewesen war. »Das schon. Aber der Gator kann sich auch außerhalb bewegen. Falls wir belagert werden sollten, erregt er keinen Verdacht, wenn er zwi schen den Schwarzblütlern herumkriecht und hier und da zuschnappt. Sie werden ihn nicht einmal ernst nehmen. Die Fernsteuerung reicht zu verlässig fast anderthalb Meilen. Wichtig ist nur, daß ich ungefähr sehe, wo das Biest sich aufhält. Irgendwann wird eine Videokamera eingebaut werden müssen, mit Sendeeinrichtung. Dann erst ist er perfekt.« »Spinner«, murmelte Nicole. »Ausgerechnet ein Alligator, und dann auch noch mich damit zu erschrecken . . .« »Wer weiß, wozu das Vieh einmal von Nutzen ist«, sagte Tendyke. Er funkte wieder Steuerbefehle. Der künstliche Alligator wandte sich ab und trottete dorthin zurück, von wo er gekommen war.
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Tendyke war bis an den Beckenrand getreten. Nicole wartete, bis der Alligator außer Sicht war und Tendyke die Fernsteuerung abschaltete. Dann packte sie zu und warf den Abenteurer mitsamt dem Gerät in den Pool.
� »Zeige mir, wo sich der Träger jenes Amuletts befindet«, murmelte Leo nardo deMontagne. Er beugte sich über die Silberscheibe. Seine Finger spitzen berührten einige der eigenartigen Symbole. Dämonische Kraft sprühte aus ihnen hervor und zwang das Amulett zum Gehorsam, löste die gewünschte Funktion aus. Oder wenigstens teilweise. So, wie er mit Zamorras Amulett seinerzeit hatte umgehen können, konnte er es hier nicht. Er mußte seine Anweisungen auf umständliche re Art erteilen, mußte Barrieren umschiffen und Ersatzfunktionen »vor schalten«. Es war etwa so, als wollte er eigentlich kopfrechnend mehr stellige Zahlen miteinander malnehmen, müsse sie in Wirklichkeit aber in langen Kolonnen umständlich schriftlich zusammenzählen, bis er das gewünschte Resultat erreichte . . . Es dauerte eine Weile, bis das Amulett »begriff«, was von ihm verlangt wurde. Er verstand das nicht. Vor ein paar Stunden hatte ihm die Stim me – die von Eysenbeiß? War er es wirklich? – noch erklärt, sie könne ihn dorthin führen. Und jetzt schien das Amulett absolut begriffsstutzig geworden zu sein. Aber dann spürte er langsam Resonanz. Da war etwas. Ein bekannter Eindruck. Ein Amulett? Vage nur nahm er es wahr, verwaschen und von tausend anderen Impulsen überlagert. Nun – es gab Milliarden Menschen auf der Erde. Daraus einen herauszu fischen, der ein Amulett besaß und nicht mit Professor Zamorra identisch war, mußte zwangsläufig schwer sein. Leonardo wunderte sich ohnehin, daß er nicht Zamorra aufspürte, dessen Amulett doch viel stärker strah len mußte als alle andern – wenn man die Aura als Strahlung bezeichnen mochte, dieses seltsame, unerklärliche Fluidum, das zu orten er sein ei genes Amulett zwang. Denn Zamorras Amulett war das siebte, das end gültig perfekte, das Haupt des Siebengestirns. Erst mit ihm war Merlin endlich zufrieden gewesen. Alle anderen waren schwächer, und der alte
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Zauberer hatte immer wieder einen neuen, verbesserten Versuch gest artet . . . Leonardo deMontagne bemühte sich, den Eindruck zu vertiefen, den er wahrnahm. Er versuchte, die Umgebung des angepeilten Objektes darzustellen. Aber es fiel ihm schwer. Erst nach vielen Stunden erkannte er eine Stadt. Er versuchte Stra ßenschilder zu lesen, aus Äußerungen von Menschen den Stadtnamen, die Region, zu erkennen. Tageszeitungen mochten etwas darüber verra ten . . . Aber Leonardos Kraft ließ rapide nach. Er spürte, wie er sich verausgabte, als er das Amulett mit einer dämo nischen Kraft fütterte, die es rasch verbrauchte. Und schließlich mußte er pausieren, mußte den Kontakt vorübergehend abbrechen. Ehe er erschöpft über der Silberscheibe einschlief, glaubte er die Stim me zu hören, die ihm unter den schon fast gewohnten spöttischen Lachen mitteilte, so etwa sehe es aus, wenn er sich nur auf seine eigene Kraft und Fähigkeiten verließe, ohne die direkte Unterstürzung jenes Geist wesens, das im Amulett integriert war und zu nichts gezwungen werden konnte . . . Bitte mich höflich, und ich werde mir überlegen, mit welcher Intensität ich dich unterstützen und deinen Versuch, das andere Amulett anzupei len, fördern werde . . . Er kam nicht einmal mehr zu einer bitteren Verwünschung, als die Müdigkeit und Erschöpfung ihn übermannte . . .
� Yves Cascal hatte seine kleine Kellerwohnung seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr betreten. Seinen Geschwistern hatte er eine Nach richt zukommen lassen, daß sie sich keine Sorgen um ihn machen sollten. Es kam öfters vor, daß er für ein paar Tage verschwunden war. Einen großen Teil der hellen Tagesstunden hatte er in einem seiner Verstecke verschlafen, die nur ihm bekannt waren. Selbst der Mann, der sich als einziger rühmen durfte, von Cascal Freund genannt zu werden, kannte diese Verstecke nicht. Wenn Cascal nicht wollte, daß ihn jemand fand, blieb der Schatten unauffindbar. Immer wieder lauschte er in sich hinein.
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Die Unruhe blieb, aber sie war in den Stunden nicht stärker gewor den. Er versuchte, sich selbst zu erforschen; es war fast dasselbe Gefühl wie neulich, als es ihn zu dem Zusammentreffen mit dem Unheimlichen hinzog. Doch diesmal fühlte Cascal sich nicht von Baton Rouge fort gezogen. Alles blieb stabil. Hin und wieder betrachtete er die Silberscheibe. Aber sie reagierte nicht wieder so wie in den letzten Morgenstunden. Er hätte viel darum gegeben, wenn er das Geheimnis dieses Amuletts hätte enträtseln kön nen. Die Unsicherheit machte ihn nervös. Was würde es diesmal für eine Begegnung sein, die ihm bevorstand? Würde sie ähnlich aufregend und gefährlich verlaufen wie jene kürzlich? Er war nicht sicher, ob das wirk lich das Leben war, das er führen wollte. Bisher hatte er sich zu seiner Zufriedenheit durchschlagen können. Lebensgefahr gehörte nicht unbe dingt dazu. Der Schatten bemühte sich, größeren Fischen nicht in den Weg zu schwimmen, und so wurde auch er in Ruhe gelassen. Er agierte in einer Grauzone. Aber wenn das Amulett seine Zukunft bestimmen sollte – und danach sah es wohl aus – konnte sich das ändern. Jene Schießerei im Sumpfwald, den Ben Clastowe das Leben kostete, die brennende Gestalt, das flam mende, gleißende Amulett und sein Gegenstück vor der Brust des Un heimlichen . . . das deutete auf gewalttätige Auseinandersetzungen hin. Denen war Cascal so weit wie möglich aus dem Weg gegangen. Er war ein Kung-Fu-Schüler erster Klasse und hatte auch ein paar andere asiatische Kampfsportarten kennengelernt, so daß er sich waffenlos sehr gut zu helfen wußte und andere dadurch irritierte, indem er die unter schiedlichen Kampftechniken miteinander variierte. Aber wenn es eben machbar war, ging er den Kämpfen aus dem Weg. Lieber feige als tot . . . Aber er wollte das Amulett auch nicht wieder aufgeben. Seit er es besaß, hatte er mehr Glück als früher. Aber hatte nicht alles seinen Preis . . . ? Irgendwann, als der Abend kam, glaubte er plötzlich zu erblinden. Von einem Moment zum anderen sah er seine Umgebung nicht mehr. Das Amulett glühte heiß vor seiner Brust, versetzte ihm einen Stich. Er sah in einer unergründlichen Schwärze eine große Gestalt, in der er jenen Un heimlichen von der Sumpfwaldlichtung wiederzuerkennen glaubte. Eine bösartige Drohung ging von der Gestalt aus.
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Dann verblaßte sie wieder, und Cascals Sehvermögen kehrte zurück. Er hockte sich auf eine halbmeterhohe Hafenmauer. »Zum Teufel«, murmelte er. Das Gefühl der Bedrohung blieb. Das Amulett erkaltete allmählich wie der. Cascal tastete nach der Haut. Aber sie zeigte keine Verbrennungs erscheinungen. »Was war das bloß?« Aber das Amulett war ein Stück Metall. Es konnte ihm nicht antworten. Yves Cascal erhob sich wieder. Es wurde Zeit, einen Rundgang durch die abendlichen Seitenstraßen zu machen. Vielleicht ergab sich wieder einmal eine günstige Gelegenheit, an Geld zu kommen. Das Gefühl einer sich nähernden Gefahr wollte geraume Zeit nicht mehr weichen und ließ ihn vorsichtiger sein als sonst. Seine Wachsam keit hinderte ihn daran, etwas zu unternehmen, und langsam bildete sich ein gesunder Ärger in ihm. Aber dann endlich, nach Stunden, brach die Empfindung jäh ab. Das Amulett fühlte sich metallisch kalt an . . .
� Irgendwo, unendlich weit entfernt, vielleicht aber auch sehr nah, tankte eine unbegreifliche Macht Energie. Jedesmal, wenn die Amulette benutzt wurden, war dies der Fall. Ihre freigesetzten Energien wurden in einer anderen Dimension gespiegelt. Am Ziel wurden sie in unveränderter Stärke wirksam, aber zugleich als Spiegelung dort aufgesogen, wo jene Macht begierig ihrer harrte und dadurch stärker wurde. Je öfter die Amulette benutzt wurden, desto stärker wurde die Macht im Laufe der Zeit. Doch noch zeigte sie sich nicht. Noch war ihre Zeit nicht gekommen. Fast niemand ahnte überhaupt, daß es diese Macht gab. Nur Merlin wußte davon. Merlin hatte gewarnt. Doch seine Warnungen waren in den Wind ge schlagen worden. Die Amulette wurden benutzt. Immer wieder. Und bei jedem Benutzen erstarkte jene unbegreifliche, unerklärliche Macht, und bei jedem Benutzen wuchs das Verlangen eines Amulett-Be
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sitzers unmerklich, es wieder und wieder einzusetzen. Die Macht profi tierte davon . . . irgendwo in den Tiefen des Universums. Es gab nur zwei Amulette, die der Macht keine Energie lieferten . . .
� »Ich hasse dieses sündhaft frühe Aufstehen«, stellte Professor Zamorra trocken fest. »Man sollte es generell verbieten.« Umständlich ließ er sich am Frühstückstisch nieder. Nicole war noch im Gästezimmer geblieben; sie war sauer auf Tendyke wegen des künst lichen Alligators und zog es vor, noch ein wenig zu schlafen. Rob Ten dyke nahm es zur Kenntnis. Grinsend sah er Zamorra an. »Rede keinen Quatsch. Du pendelst so oft zwischen den Zeitzonen hin und her, daß es absolut keine Rolle spielt, welche Ortszeit gerade gültig ist. Außerdem – wenn du es nach MEZ berechnest, ist es . . .« »Sündhaft früher Morgen«, unterbrach Zamorra. »Du hast wohl ge rade in die verkehrte Richtung gerechnet. Frankreich liegt im Osten, sechs Stunden weit entfernt. Außerdem geht es mir ums Prinzip. Es ist mir egal, welche Ortszeit gerade gilt. Ich hasse das frühe Aufstehen zu jeder Tageszeit.« »Hm«, machte der Abenteurer. »Dabei wirst du auf dem Weg nach Baton Rouge noch eine weitere Stunde gewinnen. Wir überfliegen eine Zeitzonengrenze.« »Auch das noch«, murmelte Zamorra. »Was ist das nur für ein Land, in dem fünf verschiedene Zeiten gelten? Früher, als all dieses weite Land noch den Indianern gehörte, hat man sich nicht darum gekümmert. Aber dann kam der weiße Mann . . .« »Ich sehe, es geht dir schon wieder sehr gut«, stellte Tendyke fest. »Stipp endlich dein Brötchen in den Kaffee. Es wird allmählich Zeit, daß wir starten. Was ist mit Nicole?« »Bleibt hier und wird deinen Damen wohl Gesellschaft leisten. Hof fentlich hecken sie nicht irgend etwas gegen uns Männer aus.« »Scarth wird schon auf sie aufpassen. Außerdem habe ich Chang an gewiesen, ihnen eine Hungerkur zu verordnen, falls sie sich mausig ma chen.« »Chang?« Zamorra hob die Brauen. »Ist das nicht . . . ?« »Er ist. Der dschungelerprobte chinesische Expeditionskoch, der kein ›R‹ aussprechen kann. Nachdem die Peru-Expedition aufgelöst wurde,
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hatte er keinen Job mehr, und da habe ich ihn eingestellt. Jetzt sucht er nach Rezepten, wie man Alligator kocht und brät.« »Besser das als seine Schlangenrezepte«, murmelte Zamorra. Bei frü heren archäologischen Expeditionen hatte Chang die anderen zur Ver zweiflung getrieben, wenn er unter Beweis stellte, daß er weit über fünf zig verschiedene Arten beherrschte, diverse Schlangen zuzubereiten, die in der Umgebung des jeweiligen Camps frisch gefangen wurden . . . Eine halbe Stunde später räumte Scarth ab. Tendyke verließ das Eß zimmer und kehrte wenig später mit einer Smith & Wesson-Pistole zu rück, die er samt einigen Ersatzmagazinen vor Zamorra auf den Tisch legte. »Was soll ich damit?« wollte Zamorra wissen. »Dich deiner Haut wehren, falls dir jemand an den Kragen geht«, sag te Tendyke. »Oder willst du ernsthaft ›nackt‹ durch die Unterwelt von Baton Rouge streifen?« Zamorra verzog das Gesicht. Er hatte sich den Gebrauch von Schuß waffen schon vor geraumer Zeit abgewöhnt. Man konnte nur zu leicht Unheil damit anrichten. Vorsichtshalber hatte er sogar die Laserwaffe in Frankreich gelassen, die er vor einiger Zeit einem Agenten der DYNA STIE DER EWIGEN abgenommen hatte. Nicht nur der Flugzeugkontrol len wegen, sondern überhaupt . . . Er war zu der Überzeugung gelangt, daß jemand, der eine Waffe besitzt, diese irgendwann auch anwendet. Ihm reichten seine magischen Waffen gegen die dämonischen und schwarzblütigen Kreaturen. Das Amulett wirkte nicht gegen »normale« Menschen, konnte ihnen nicht schaden. Damit war Zamorra zufrieden. Sollte er einmal mit diesen Instrumenten nicht auskommen, pflegte er sich mit Verstand und Witz aus der Affäre zu ziehen. »Behalte die Zimmerflak«, sagte er. »Ich komme auch so zurecht. Die uniformierten Polizisten, die Bobbys in England, tragen keine Schußwaf fen und werden trotzdem von der Unterwelt respektiert; wer auf einen Bobby schießt, wird von seinen eigenen Leuten geächtet. Und auf die sem Kontinent hier war es früher auch höchst unfein, auf einen Unbe waffneten zu schießen. Ich hoffe, daß sich doch ein wenig von diesem alten Pioniergeist des Wilden Westens in die Gegenwart gerettet hat. Ich verstehe euch Amerikaner ohnehin nicht. Hier kann jeder hingehen und sich eine Waffe kaufen, Pistole, Gewehr, Maschinengewehr bis hin zur leichten Flak. Wozu braucht ihr den Kram eigentlich? Um euch stärker
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zu fühlen? Das ist doch ein Witz, wenn auch der Nachbar ’ne Kanone hat.« »Es ist ein freies Land, in dem jeder Bürger das Recht hat, eine Waffe zu tragen«, sagte Tendyke. »Es ist ein Stück Freiheit. Das müßtest du doch wissen, immerhin hat du unter anderem auch einen amerikanischen Paß, oder?« »Du bist ziemlich gut unterrichtet«, gestand Zamorra, der früher lange Zeit in den USA gelebt hatte, ehe er sein Erbe in Frankreich antrat. »Aber in den Ländern Europas gibt es auch Freiheit, ohne daß jeder mit ’nem Schießeisen in der Tasche herumläuft.« »Weißt du was? Wenn wir durch die Slums ziehen und durch dunkle Gassen kommen, hängst du dir am besten ein Schild um den Hals, an dem dein Anti-Schußwaffen-Vortrag niedergeschrieben ist. Und dann be test du am besten, daß dein Gegenüber auch lesen kann.« Er legte Zamorra die Hand auf die Schulter. »Komm, wir fahren los. Ich habe ein Flugzeug gechartert, das uns nach Baton Rouge bringt.« »Sollten wir uns nicht erst noch von den Zwillingen verabschieden?« fragte Zamorra und stand ebenfalls auf. »Die schlafen noch tief und fest, nehme ich an. Komm, auf geht’s . . .« Wenig später waren sie unterwegs. Eine zweimotorige Maschine brachte sie vom Miami-Airport zum Flughafen im Norden von Baton Rou ge. Unter ihnen erstreckte sich zuerst die wilde Sumpf- und Waldland schaft der Everglades, die nur von einigen schnurgeraden, auf hohen Dämmen gebauten Straßen durchschnitten wurde und in der hier und da kleine Schlangen- und Alligatorfarmen existierten. Dann kam die silbern gleißende Wasserfläche des Golfes von Mexiko, die das Flugzeug schräg überquerte, um Louisiana anzusteuern. Ein Touristendampfer zog weit draußen ein langes Kielwasser-Dreieck hinter sich her. Weiter draußen glitzerten kaum erkennbare Punkte; Öltanker von der texanischen Küste. »Hast du deinen Pilotenschein eigentlich noch?« fragte Tendyke zwi schendurch. Zamorra schüttelte den Kopf. »Er wurde nicht verlängert«, sagte er. »Ich konnte die pro Jahr verlangten Mindestflugstunden nicht mehr nachweisen, also hat man mir keinen Stempel mehr gegeben. Aber not falls pilotiere ich diesen Vogel noch, in dem wir hier sitzen. So etwas verlernt man nicht so schnell.« »Es sei denn, das Cockpit wird mit immer neuerer Elektronik vollge stopft«, grinste der Abenteurer. »In manche Kisten traue ich mich selbst
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schon gar nicht mehr hinein, weil ich mit der Supertechnik nicht mehr klarkomme. Am liebsten wäre mir so ein alter Doppeldecker, offen, wie ihn euer Baron Münchhausen hatte.« »Richthofen«, murmelte Zamorra. »Außerdem war das ein Deutscher.« »Auf jeden Fall hatte er so ein wunderschönes fliegendes Draht- und Sperrholzgestell. So macht Fliegen noch richtig Spaß.« »Vor allem das Landen bei Nebel«, gab Zamorra zurück. »Hat dein Informant dir eigentlich verraten, wo wir diesen Monsieur Ombre finden können?« »Nein. Wir werden ihn suchen müssen. Aber das dürfte nicht sehr schwer sein. Baton Rouge ist klein. Hat nur etwa 170 000 Einwohner . . .« »Nur«, ächzte Zamorra. »Worauf habe ich mich da eingelassen, Mann?«
� Leonardo deMontagne gönnte sich nur wenig Ruhe. Er achtete nicht auf die Zeit. Kaum daß er aus seinem Erschöpfungsschlaf wieder erwacht war, setzte er das Amulett erneut ein. Er dachte nicht daran, der Stimme aus der Silberscheibe den Gefallen zu tun, sie höflich zu bitten. Wenn es sich dabei wirklich um die geistige Essenz des Magnus Eysenbeiß handelte, wäre diese Bitte eine Selbst erniedrigung gewesen, die Leonardos Stolz und Haß nicht verkraften konnte. Er wollte es so schaffen, so schwierig es auch sein mochte. Der Hin weis auf das fremde Amulett reichte ihm schon. Der Besitzer dieses anderen Amulettes konnte sich überall auf der Welt aufhalten. Bei Zamorra war es ja ebenso. Heute war er hier, morgen dort zu finden. Wer ihn aufspüren wollte, mußte flexibel sein. Aber Zamorra war ein recht einmaliger Mensch. Es mochte sein, daß der andere Amulettträger ein vollkommen unterschiedlicher Typ war. Je intensiver Leonardo darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Ver mutung, daß es sich um einen recht seßhaften Menschen handeln mußte. Denn sonst wäre er sicher schon irgendwo auf der Welt aufgefallen . . . Leonardo übersah in seiner Nervosität, daß es auch anders sein konn te. Nicht jeder Träger eines Amuletts – oder gar deren mehrerer, wie Sid Amos in aller Heimlichkeit – produzierte sich damit in der Öffentlich keit . . .
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In Louisiana waren sie damals aufeinandergeprallt, nördlich von Baton Rouge. Wahrscheinlich lebte dieser Fremde irgendwo in jener Gegend. Also war es ratsam, dort mit der Suche zu beginnen. Leonardo schalt sich einen Narren, daß er nicht von Anfang an daran gedacht hatte. Aber wahrscheinlich war er zu sehr auf die Bemerkung fixiert gewesen, daß jener Geist in seinem Amulett ihm den Weg zeigen würde. Darauf hatte er sich verlassen, was ein Fehler gewesen war. Erschöpfung war das einzige, was es ihm eingebracht hatte. Diesmal wollte er es anders versuchen. Vielleicht sollte er Vassago bemühen? Jenen Dämon, der zwischen Gut und Böse stand und hoffte, eines Tages erhöht zu werden? Seine Kräfte konnte jeder beschwören, der die Formeln kannte; Vassagos Zauber war nicht an Schwarze oder Weiße Magie gebunden. Ein Gefäß mit Wasser, die Beschwörung . . . und Vassago würde in der Wassertiefe dem Zaube rer zeigen, was er zu sehen wünschte . . . Aber dann schüttelte Leonardo den Kopf. Es war nicht gut. Je weniger andere von dem wußten, was er tat, desto besser war es. Er verließ die Hölle und versetzte sich dorthin, wo er damals mit dem Fremden zusammengetroffen war. Der Fürst der Finsternis erschien auf der Erde. Auf jener Lichtung, wo er Wang Lee Chan tötete . . . Und die Schlange packte zu und schlug ihre Giftzähne durch das Stie felleder in sein linkes Bein . . .
� Yves Cascal sah die gesichtslose Gestalt. Ein Mann, der ein Amulett in der Hand hielt. Seines – oder ein anderes? Er wußte es nicht. Er sah nur, wie der Fremde, dessen Gesicht ein wesenloser Schatten blieb, ein grauer Fleck ohne Umrisse, ohne Augen, Mund und Nase, die Hände aus streckte, nach Cascals Hals griff. Er hatte plötzlich sehr viele Hände. Er entriß Cascal sein Amulett, führte es an das fremde heran, und die bei den Silberscheiben verschmolzen miteinander. Dann tötete der Fremde Cascal . . . Mit einem Schrei wachte Yves auf. Er sah sich um. Er war allein. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß er gerade eine Stunde, vielleicht etwas mehr, geschlafen haben konnte. Es war keine gute Nacht gewesen. Er hatte keinen Erfolg bei seinen
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Streifzügen gehabt. Als der Morgen kam und Yves sich zurückzog, war er verärgert und todmüde gewesen. Es verdroß ihn, daß plötzlich ein paar Dinge nicht mehr so funktionier ten wie bisher. Und dann dieses warnende Gefühl, das seinen Ursprung in dem Amulett hatte . . . Es war dämmerig in der kleinen Hütte weit draußen vor der Stadt, in die er sich zurückgezogen hatte. Durch ein paar Ritzen in der Bretterwand drang Tageslicht. Vielleicht wußte längst niemand mehr, daß es diese Hütte gab. Vor hundertzwanzig oder mehr Jahren sollte sie einmal ein Unterschlupf für entlaufene Sklaven gewesen sein, die sich hier vor den Bluthund-Streifen der Weißen verbargen. Ein fast undurchdringli ches Dickicht umgab die verfallene Hütte mit den moderigen, teilweise verfaulten Brettern. Man brauchte sich nur dagegen zu lehnen, und sie zerbrachen. Kein Weg führte hierher. Vielleicht fanden alle paar Jahre einmal spielende Kinder diesen Platz, vielleicht auch nicht. Cascal kannte einen Schleichweg in sein Versteck. Der führte durch die Äste und das dichte Laub hoher Bäume. Wie im Tarzanfilm mußte man sich hier an Seilen von Ast zu Ast und von Baum zu Baum schwin gen, um die Hütte zu erreichen. Die Seile waren gut versteckt und nicht auf Anhieb zu sehen. Aber selbst, wenn jemand sie fand – wer würde schon daran denken, wozu sie wirklich dienten? Wenn es einen Ort gab, an dem sich der Schatten wirklich sicher fühl te, dann war es dieser. Schon als Kind hatte er sich manchmal hierher verkrochen, wenn er allein sein wollte. Er hatte auch noch andere Verstecke, die er in regelmäßigen Abstän den aufsuchte. Niemand fand ihn, wenn er es nicht wollte. Aber dieser Alptraum hatte ihn gefunden. Er hatte schon lange keine Alpträume mehr gehabt. Warum jetzt? Es hing mit dieser Warnung zusammen. Sollte der Fremde in der Nähe sein? Kam er heute zurück? Suchte er jetzt nach Yves Cascal mit seinen unbegreiflichen Mitteln? »Verdammt. Zeige ihn mir, wenn er hier ist«, flüsterte Cascal. Aber das Amulett reagierte nicht. Der Neger trat an die Tür der Hütte und schob sie einen Spaltweit auf. Er lauschte. In der Ferne hörte er die Geräusche der Stadt. Nicht weit entfernt machte sich der Mississippi bemerkbar. Es roch nach Fluß. Grillen zirpten. Ein paar Vögel schrien wechselweise, unterhielten sich
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scheinbar. Zweige knackten unter den Pfoten kleiner Tiere. Laub raschel te. Aber nirgendwo waren vorsichtige Schritte eines Wesens, das sich der Hütte näherte. Nirgendwo versuchte jemand, das Dickicht ringsum zu durchbrechen. Cascal schloß die Tür wieder. Er lehnte sich an die Wand und schloß die Augen. Er sah einen Kopf. Er konnte nicht erkennen, ob es der eines Fremden war oder eines Menschen, den er kannte. Es schien ein Mann zu sein. Der Kopf und eine Hand ragten aus dem Erdreich. Jemand hatte den Mann eingegraben – lebendig eingegraben. Die Augen waren weit aufgerissen, bewegten sich. Die Finger der Hand krümmten sich, versuchten, die Er de zu berühren, fortzukratzen. Ein Blutfaden rann aus dem Mundwinkel des Mannes. Im nächsten Moment war das Bild verschwunden. Yves sah wieder das dämmerige Innere der Hütte vor sich. »Zum Teufel, jetzt träume ich schon im Wachzustand«, murmelte er. »Aber was hat das für einen Zusammenhang? Diesmal war kein Amulett im Spiel, auch der unheimliche Fremde nicht . . .« Oder . . . oder? Zeigte sich hier nur etwas, was der Fremde vielleicht getan hatte oder noch tim würde? Yves Cascal seufzte. »Dabei will ich doch nichts anderes als meine Ruhe haben«, stöhnte er und ließ sich auf sein Lager aus alten Decken sinken. »Himmel, was geht mit mir vor?« Er umklammerte das Amulett. Aber die Beruhigung, die er sich erhofft hatte, trat nicht ein. Er legte sich flach und versuchte wieder einzuschlafen. Er war müde. Aber der Schlaf wollte nicht mehr kommen . . .
� Leonardo deMontagne zuckte zusammen. Er beugte sich leicht vor und sah nach unten. Die Giftschlange hatte sich mit den Zähnen im Stiefel schaft des Dämons verfangen und konnte sich nicht wieder befreien. Der Fürst der Finsternis grinste. »Aber doch nicht so, mein Kleines«, krächzte er rauh. »Ich bin für dich keine Beute. Ich bin wohl ein bißchen zu groß, wie?« Er bückte sich blitzschnell, packte die Schlange direkt hinter dem Kopf und löste das sich windende Reptil aus dem Stiefelschaft. Die Schwarz
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rassel bewegte sich heftig klappernd. Der Schlangenleib wand sich blitz schnell um den Arm des Dämons, der das Reptil hochhob und betrachte te. »Wärest du eine Kobra, würde ich fast glauben, Ssacahs Brut wäre zur Erde zurückgekehrt«, sagte der Fürst der Finsternis. »Aber Ssacah und seine Ableger befinden sich jetzt auf einer anderen Welt.« Die gespaltene Zunge der Klapperschlange pendelte vor Leonardos Gesicht hin und her. Die Giftzähne waren trocken; die tödliche Flüssig keit war in das Bein des Dämons gespritzt worden. Aber auf diese Weise ließ sich ein Dämon seiner Art nicht umbringen. Sein Körper neutralisierte das Gift bereits. Es schwächte ihn nicht ein mal vorübergehend. »Was fange ich jetzt mit dir an?« überlegte Leonardo. Seine andere Hand strich rasch über den Schlangenleib. Funken sprühten. Wie unter elektrischen Schlägen zuckte die Klapperschlange, löste ihre Umschlingung um Leonardos Arm. Rasch öffnete er seinen Dä monenschlund – und stopfte die Giftschlange hinein. Zwei, drei schnelle Schluckbewegungen, und das Reptil war verschwunden. Der Dämon lachte. »Sieh zu, meine Liebe, daß du so schnell wie möglich wieder Gift er zeugst. Wir könnten es schon bald gebrauchen . . .« Dann sah er sich auf der Lichtung um. Nichts hatte sich verändert – au ßer daß der verkohlte Leichnam des abtrünnigen Mongolen verschwun den war. Man hatte ihn fortgeschafft. Aber der Brandfleck war noch da, und auch der umgestürzte Baumstamm, auf dem Wang Lee und das Mäd chen gesessen hatten, als Leonardo eintraf und sie angriff. Er griff unter sein Wams und zog sein Amulett hervor. Ruhig glitten seine Finger über die seltsamen, unentzifferbaren Schriftzeichen. Leo nardo begann die Silberscheibe zu aktivieren und in Tätigkeit zu setzen. Seine Gedanken hämmerten die Befehlsimpulse hinein. Wenn er angenommen hatte, die Stimme würde wieder reagieren, sah er sich getäuscht. Der Geist im Amulett meldete sich nicht. Auf dem Baumstamm sitzend, versank der Dämon in Trance und be gann, über sein Amulett wieder die suchenden »Radarstrahlen« auszu senden, mit denen er die andere Zauberscheibe zu finden hoffte . . .
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»Und wie belieben der Herr nun vorzugehen?« erkundigte sich Zamor ra. Nach der Landung hatten sie einen Mietwagen übernommen, den Tendyke schon von Miami aus telefonisch hatte reservieren lassen. Ein geschlossener Ford Bronco, geländegängig, mit Klimaanlage, Funk und extrem breiten Reifen sowie einem durchzugkräftigen, starken Motor. Zamorra fühlte sich auf dem Beifahrersitz des relativ hohen Wagens fast wie in einem Lastwagen. Er zog flache, schnelle Limousinen und Sport wagen vor. Geländewagen wie dieser waren nicht unbedingt sein Fall. Er hatte zwar selbst vor langer Zeit mal einen Renault Rodeo besessen, aber das war ein recht kleines Gefährt. Der Ford Bronco war dagegen ein riesiger Klotz. »Laß bloß die Fenster zu«, warnte Tendyke, als Zamorra seine Tür scheibe nach unten surren lassen wollte. »Wir haben schließlich ’ne Kli maanlage. Wenn du ein- und aussteigst, mach schnell. Ansonsten haben wir nämlich innerhalb weniger Augenblicke die prachtvollste Mücken plage hier drinnen . . .« Zamorra nickte. »Aber wenn wir aussteigen müssen, kriegen wir die Mückenstiche trotzdem.« »Ich habe mit den Biestern einen Nichtangriffspakt«, behauptete Ten dyke. »Aber im Ernst, Professor. Draußen kannst du um dich schlagen. Hier im Wagen ist das weniger gut, vor allem während der Fahrt. Al so . . .« »Okay«, dehnte Zamorra und versuchte, den Südstaaten-Slang nach zuahmen. Tendyke grinste. »Wir fahren erst mal zum Hafen«, sagte er. »Dort sehen wir uns ein wenig um. Inzwischen dürften die ersten Pubs schon wieder zum Früh schoppen geöffnet haben. Vielleicht gibt uns jemand einen Tip, wo wir Monsieur Ombre, den Schatten, finden können.« »Hoffen wir’s«, sagte Zamorra wenig überzeugt. Er war nicht hundertprozentig sicher, ob nicht doch dämonische Kräfte am Werk waren, wenigstens aber Schwarze Magie. Sein Amulett hatte vorhin, kurz nach der Landung, einmal schwach angesprochen. Aber ehe er sich darum kümmern konnte, war die Reaktion bereits wieder vorbei, und er konnte nicht mehr feststellen, was das Amulett erkannt hatte. Auf Tendykes Anraten hin hatte er auf sein »Markenzeichen«, den wei ßen Leinenanzug, verzichtet und sich in Jeans und ein buntes Hemd ge worfen. Der Abenteurer hatte ihm die Sachen zur Verfügung gestellt.
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Zamorra wunderte sich darüber. »Man sieht dich doch grundsätzlich nur in Leder. Wie kommst du an diese Klamotten?« »Lag im Kleiderschrank rum«, war die Antwort. Er hatte Zamorra noch einen breitrandigen Strohhut auf den Kopf gestülpt und glaubte, ihn da mit passend ausstaffiert zu haben. Immerhin schützte die breite Krempe vor der heißen Sonnenstrahlung. Tendyke selbst trug wieder die weichen Stiefel, Lederjeans und ledernes Fransenhemd; die Gürtelschnalle wur de von einem großen Rebellenflaggenmotiv geziert. Am Gürtel hing ein schmales Holster, darin steckte die Pistole, die Zamorra verschmähte. Zamorra war sicher, daß sein Amulett ausreichte, das er unter dem of fenen Hemd vor der Brust trug. Es war nur zum Teil verdeckt. Zamorra hoffte, daß niemand auf dumme Gedanken kam und es ihm abzunehmen versuchte. Er hätte es zwar mit einem einzigen Gedankenbefehl sofort zurückrufen können, aber derlei Aktionen gingen selten ohne Gewaltan wendung ab . . . Tendyke startete den Motor des Geländewagens und gab Gas. Das bul lige Fahrzeug machte einen Satz vorwärts. Zamorra war gespannt, ob sie anhand der vagen Andeutungen diesen Mann namens Ombre tatsächlich finden würden . . .
� Leonardo deMontagne empfand ein leichtes Ziehen. Es zog ihn in nörd liche Richtung, einem schwachen Magneten nicht unähnlich. Sollte dort sein Ziel liegen? Er richtete sich langsam auf. Er hatte alles versucht, aber mehr konn te er nicht feststellen, ohne um Unterstützung bitten zu müssen. Er ver wünschte die Schwäche dieses Amuletts. Er war Besseres gewohnt. Aber es war schon ganz gut, daß es überhaupt arbeitete. Nun, wenn der darin steckende Geist ihm so nicht helfen wollte, kam Leonardo auch aus eigener Kraft zurecht. Norden also. Leider konnte er die Entfernung nicht feststellen, die er zurückzulegen hatte. Aber es würden schon keine tausend Kilometer sein. Da er überhaupt etwas spüren konnte, würde das andere Amulett in relativer Nähe sein. Er brauchte sich also erst einmal nur in Richtung Norden zu bewegen. Dann würde das Bild wohl schon deutlicher werden. Vermutlich war er
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einfach noch zu weit entfernt. Es war ohnehin schon erstaunlich, daß ein Amulett das andere anpeilen konnte – wenigstens annähernd. Leonardo deMontagne verformte sich. Er nahm eine andere Gestalt an. Die eines großen Vogels, dessen Äußeres seiner Fantasie entsprach. Er wußte nicht, welche Vogelarten hier heimisch waren, und so war die Gestalt willkürlich gewählt. Sein wehender Mantel verschmolz mit den Armen zu großen, kräftigen Flügeln, und mit wildem Schlag der Schwin gen erhob der Dämon sich in die Luft. Ein riesiger schwarzer Raubvogel strich nach Norden. Einige Men schen auf den Straßen und kleinen Ansiedlungen, die er überflog, sahen ihn am Himmel und erschauerten. Dieser riesige Vogel war das personi fizierte Böse . . .
� Der Mississippi war ein breiter Strom, der in einer Breite von annähernd einem Kilometer an Baton Rouge vorbei zog. Ruhig bewegten sich die Fluten. Ein seltsamer Glanz lag auf der grauen, gewellten Fläche, wo das Sonnenlicht sich spiegelte. Große Schiffe befanden sich auf dem Strom, andere lagen im Hafen. Vorwiegend Frachter und Schleppzüge, aber auch ein paar weiße Vergnügungsdampfer waren zu sehen, im al ten Western-Stil mit den riesigen Schaufelrädern an den Seiten, von de nen sie angetrieben wurden. Alles wirkte wie eine große Filmkulisse. Im Hafen ragten die mächtigen Gitterkonstruktionen der Ladekräne auf. Si gnalhörner röhrten, Motoren dröhnten und wummerten. Der Wind trug Befehle und Schreie herüber, das Quietschen von Winden und das Kra chen hart aufgesetzter Lasten. »Wenn du etwas genauer hinsiehst, erkennst du unter dem Glanz auch das Elend«, sagte Tendyke. »Eine ganze Menge Elend sogar. Und kannst du dir vorstellen, daß dieser breite Strom im vorigen Jahr nur halb so breit war? Das war in der großen Dürreperiode. Der Mississippi, der sonst bis weit in den hohen Norden hinauf schiffbar ist, war ein totes Rinnsal. Hier in Baton Rouge hörte alles schon auf. Weiter fuhren die großen Frachter nicht mehr, weil sie sonst steckengeblieben wären. Eini ge Transportunternehmer haben die erzwungenen Liegezeit nicht über standen und mußten hochverschuldet aufgeben. Eine Menge der Lasten konnte auf die Straße und die Schiene umgeschichtet werden, aber trotz dem war überall der Teufel los.«
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»Unvorstellbar, wenn ich mir diesen breiten Strom ansehe«, sagte Zamorra. »Sonst gibt’s doch hier immer Überschwemmungen en mas se . . .« »Richtig. Es ist noch gar nicht so lange her, daß man es endlich ge schafft hat, den Mississippi einigermaßen zu zähmen. Aber auch die mo dernen Deiche werden immer wieder mal unterspült und weggerissen, wenn man nicht aufpaßt.« »Bei uns in Europa pflegte man in jeden Deich etwas Lebendiges ein zubauen«, sagte Zamorra. »Der Aberglaube sagte, daß nur ein solcher Deich halten würde. Fehlte das Lebendige, brach der Deich bald darauf. Gewissermaßen ein Blutopfer, um den Meeres- oder Flußgott zu besänf tigen.« Tendyke nickte. »Ich erinnere mich dumpf. Einer eurer großen Dichter hat doch eine Gruselgeschichte draus gemacht, nicht? ›Der Schimmelrei ter‹ . . .« »Was sich so Gruselgeschichte nennt«, brummte Zamorra. »Außerdem war das nicht einer unserer Dichter, sondern ein Deutscher.« »Ist das ein Unterschied? Franzose oder Deutscher dürfte dasselbe sein wie Floridaner und Texaner . . . es wird Zeit, daß ihr eure Grenzen abbaut.« Er lenkte den Geländewagen auf einen Parkplatz. »Ab hier schauen wir uns mal um«, sagte er und stieg auf. Er drückte einem Halbindianer einen halben Dollar in die Hand. Der faltengesichtige Parkplatzwächter bezog den Ford Bronco daraufhin in seine Aufmerksamkeit mit ein. »Wie viele Lokale gibt es eigentlich, die wir zu durchforschen haben?« »Pubs, kleine Hinterhofwerkstätten, Händler . . . ich schätze, insge samt werden es schon ein paar hundert Anlaufadressen sein. Den Rot lichtbezirk dürfen wir auch nicht vergessen . . . wenn wir Glück haben, erfahren wir ziemlich schnell, wo Ombre sich aufhält, wenn wir Pech haben, suchen wir übermorgen noch.« »Vielleicht sollten wir auf den Abend warten«, überlegte Zamorra. »Dann treffen wir mehr Leute. Wen hat dein Informant überhaupt ge fragt?« »Keine Ahnung. Irgend jemanden. Aber Namen sind ohnehin Schall und Rauch.« »Ach, ja. Vielleicht auch der Name Ombre . . .« »Dann versuch’s doch mit Hellsehen«, schlug Tendyke vor. Zamorra schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich nicht zuständig«, sagte er.
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Sie schlenderten über den Gehsteig. Eisengitter versperrten zu ebener Erde Türen und Fenster. Lichtreklameschilder waren abgeschaltet. Za morra konnte sich vorstellen, daß es bei Dunkelheit hier hoch her ging. Er schlug nach einer Stechmücke, die sich auf seinen linken Handrücken setzen wollte. »Hier grenzt wohl eine Kneipe an die andere . . .« »Und ein Billig-Hotel ans andere. Hier kriegst du noch Zimmer, wenn überall sonst die Häuser ausgebucht sind, bloß schlafen kannst du da nicht. Entweder ist es zu laut, oder du wirst bestohlen . . .« »Reizend . . .« Ein Dutzend Meter entfernt verprügelten zwei Halbwüchsige einen barfüßigen Negerjungen. Als Zamorra drohend auf sie zu marschierte, ergriffen sie die Flucht. Der Geschlagene raffte sich auf, sah Zamorra an, seine Augen wurden groß, und dann rannte er ebenfalls davon. Tendyke schüttelte den Kopf. »Es ist nicht gut, sich überall einzumischen«, sagte er. »So etwas kann Ärger geben.« Zamorra winkte ab. »Glaubst du, ich schaue zu, wenn jemand von Stär keren zusammengeschlagen wird?« »Vielleicht hat der Kleine die beiden anderen bestohlen . . .« »Klar. Weil er Neger ist, wie?« Tendyke faßte Zamorra am Arm und zwang ihn, sich halb zu drehen und dem Abenteurer ins Gesicht zu sehen. »Wir sind beide weit genug herumgekommen, Zamorra«, sagte er. »Wir haben uns beide schon auf dem Gala-Empfang und in den Slums herumgetrieben und wissen, was uns an Glanz und Elend in der Welt erwartet. Wir können nichts daran ändern. Wir können die Reichen und Mächtigen nicht arm machen, und wir können die Armen und Schwachen nicht reich und glücklich werden lassen. Falls du auf die Idee kommst, hier Moralpredigten halten und Streetworker-Sozialarbeit machen zu wollen – dann such dir jemanden, der dir zuhört und es dir glaubt. Aber wir haben etwas anderes vor.« »Wir können . . .« »Stopp, Zamorra«, unterbrach Tendyke. »Es ist schön, sich um Schwa che und Unterdrückte zu kümmern. Meinst du, mir hat die Szene vorhin gefallen? Aber hier scheuchst du die beiden Bengel weg, und an der nächsten Ecke haben sie den Schwarzen wieder in der Mangel. So etwas muß man anders anpacken. Und dafür sind wir momentan nicht gerüstet. Okay? Wir suchen Ombre! Sonst nichts.«
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»Na schön. Trotzdem werde ich mir nicht vorschreiben lassen, was ich zu tun und zu lassen habe«, brummte Zamorra. »Vielleicht hätten wir den Jungen fragen sollen . . .« »Wäre ’ne Idee gewesen . . . zu spät.« Sie schritten weiter. Hier und da begegneten sie anderen Menschen aller Hautfarben, die sich in Baton Rouge ein Stelldichein gaben. Vor ei nem Haus wurde getanzt. Ein Casettenrecorder lieferte die Musik dazu. »Wie wird es hier erst am Abend sein?« überlegte Zamorra, »wenn sie jetzt schon ausflippen . . .« »Am Abend sind die hier dann garantiert müde. Und ruhig.« Er trat durch eine Tür, hinter der eine Treppe abwärts führte. Zamor ra folgte ihm vorsichtig, nachdem er sich vergewissert hatte, daß laut Reklameschild in diesem Keller »Daddy French« Alkohol an seine Gäste ausschenkte. Tendyke schob einen Vorhang am Ende der Treppe zur Sei te und trat in eine kleine Kneipe. Zamorra rümpfte die Nase. Es stank nach verschüttetem und verschaltem Bier. Ein fetter Mischling polierte mit einem grauschleierüberzogenen Tuch Gläser, die nicht blank werden wollten. In einer Ecke saßen zwei Männer und unterhielten sich leise. Ein paar nackte Glühbirnen an der Decke ersetzten Lampen und spende ten ein schummeriges Licht. Fenster schien es nicht zu geben. In einer Ecke des Raumes wirbelte leise summend ein Wandventilator warme Fri schluft ins Kneipeninnere. Eine Frau mittleren Alters in einem gefleckten Kittel trat aus einem Nebenraum. Sie hatte eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit dem fetten Mulatten hinter der Theke und begann, Stühle hochzustellen und auszufegen. Es sah so aus, als sei das hier eines der Lokale, die durchge hend geöffnet hatten und in denen man die ruhigen Vormittagsstunden nutzte, um einigermaßen sauberzumachen, ohne Gäste verscheuchen zu müssen. Zamorra blieb in der Nähe des Ausganges stehen, während Tendyke zur Theke ging. Die beiden Männer am Tisch sahen auf, streiften die Pistole an seinem Gürtel mit einem kurzen Blick und unterhielten sich dann weiter. »Ich suche einen Freund«, sagte Tendyke leise. Der Mulatte polierte ungerührt an dem Glas weiter und beachtete den Abenteurer nicht wei ter. Tendyke legte die Hand auf die Theke. Als er sie wieder zurückzog, lag ein Geldschein neben einer Bierpfütze. »Wen?«
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»Ombre.« »Kenne ich nicht«, hörte Zamorra den Wirt sagen. Er sah, wie Tendyke einen weiteren Geldschein opferte. »Ich kenne ihn nicht. Wenn Sie nichts trinken wollen, gehen Sie«, brummte der Fette. »Sie nehmen den anderen Gästen die Plätze weg.« »Haha«, machte Tendyke grimmig. Er wollte die beiden Scheine wie der an sich nehmen, aber der Mulatte faßte schneller zu. Er sah Tendyke drohend an. Zamorra straffte sich. Er roch Ärger. Aber Tendyke legte es nicht auf eine Konfrontation an. Er machte einen Schritt zurück. »Wenn du Ombre siehst, sag ihm, daß ein Freund ihn sucht. Ich denke, daß er mich eher finden wird als ich ihn.« Damit wandte er sich um. Zamorra gab ihm den Weg frei und folgte ihm dann die Treppe hinauf wieder nach draußen. Die beiden Männer, die sich unterhalten hatten, erhoben sich auf einen Wink des Mulatten. Ohne ein Wort zu sagen, verließen sie gemächlich das Lokal.
� Der große, schwarze Vogel glitt über eine Stadt hinweg. Eine Hafen stadt. Der Vogel landete am Stadtrand und verwandelte sich ungese hen in einen Menschen zurück. Ein unauffälliger Mann in Alltagsklei dung schlenderte am Straßenrand auf das Ortsschild zu. »Baton Rouge, Hauptstadt des Staates Louisiana«, las er. Damit wußte er zumindest genau, wo er sich befand. Früher hatte er nicht darauf geachtet. Aber daß er jetzt die Stadt vom Namen her kannte, half ihm noch nicht viel weiter. Er mußte den Amulettträger finden. Aber der Sog war schon stärker geworden. Leonardo deMontagne fühlte, daß er in der Stadt selbst nicht fündig werden würde. Der Mann, den er suchte, befand sich außerhalb. Der Dämon verwandelte sich wieder in einen Vogel. Mit schnellem Flü gelschlag hob der riesige Gefiederte sich wieder in die Luft. Er drehte einige Kreise und orientierte sich. Er sah ein ausgedehntes Waldgebiet in der Nähe der Stadt. Dort irgendwo befand sich jener, den er suchte . . .
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� Sie schlenderten weiter. Ein Polizeiwagen glitt leise die Straße entlang; die Beamten schienen entweder den Bewohnern der Hafengegend oder den Steckmücken gegenüber kontaktscheu zu sein, denn sämtliche Fen ster des Wagens waren geschlossen. Daß an einigen am Straßenrand ge parkten Fahrzeugen die Kühlerfiguren und Radioantennen abgebrochen worden waren, fiel ihnen entweder nicht auf, oder es berührte sie nicht. Zamorra und Tendyke schenkten sie keine besondere Aufmerksamkeit. An einer schmalen Kreuzung glaubte Zamorra sekundenlang den Ne gerjungen wiederzusehen, der nach seiner »Rettung« geflüchtet war, aber der Junge war zu schnell wieder verschwunden, als daß der Pa rapsychologe ihn hätte identifizieren können. »Dieser erste Versuch war ja nicht gerade ermutigend«, sagte Zamor ra. »Wie würdest du es denn anstellen, Mister James Bond?« Zamorra tippte sich an die Stirn. »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß es etwas bringt, durch die Pubs zu marschieren und die Wirte nach Ombre zu fragen. Einer hat dir schon was gehustet, bei den anderen wird es kaum anders sein.« »Ich höre immer noch keinen Gegenvorschlag.« Tendyke deutete auf den Polizeiwagen, der schon weit entfernt war. »Wir könnten ihn ja über Lautsprecher ausrufen lassen, wie?« »Frag nicht, wo er sich aufhält«, sagte Zamorra. »Sondern laß ihm durch so viele Leute wie möglich ausrichten, daß du ihn an einem be stimmten Treffpunkt zu einer bestimmten Zeit erwartest.« »Au weh«, sagte Tendyke. »Was habe ich denn wohl eben getan? Was habe ich dem Wirt erzählt?« »Du hast ihm keinen Treffpunkt genannt. Nur erwähnt, daß Ombre dich wohl finden würde.« Der Abenteurer schnipste mit den Fingern. »Das reicht völlig aus in diesen Kreisen.« »Da scheinst du dich ja sehr gut auszukennen . . .« »Soll ich dir das jetzt übelnehmen?« Tendyke blieb vor der Tür eines weiteren Lokals stehen. »Ich gehe hinein und horche mich wieder um. Wenn es nicht klappt, können wir ja anschließend mal deine Patentme thode anwenden.«
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Zamorra hob die Brauen und nickte. Tendyke betrat das Lokal. Der Pa rapsychologe hielt es für recht albern, wie sein Freund hier vorging. So dumm stellten sich nicht einmal die Fernsehdetektive an. Aber er wußte auf Anhieb auch nicht zu sagen, wie er es anstellen konnte. Er hatte kei ne detektivische Erfahrung in diesem Sinne. Wesentlich einfacher wäre es gewesen, wenn er selbst mit diesem Ombre schon einmal Kontakt ge habt hätte und dieser tatsächlich ein Schwarzzauberer wäre. Dann hätte Zamorra ihn mit dem Amulett aufspüren können. Aber so, nur auf einen vagen Verdacht hin . . . Aber vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit. Eine, auf die Ten dyke wohl nicht kam, weil er sie nicht kannte. Caermardhin, Merlins unsichtbare Burg! Von dort aus gab es die Möglichkeit, jeden Menschen irgendwo auf der Welt aufzuspüren, es sei denn, er schirmte sich so total ab, daß er für tot gelten mußte. Voraussetzung: man wußte etwas über ihn. Zamor ra beschloß, diesen Versuch zu starten, wenn es anders nicht ging. Sie würden dazu zwar nach Europa zurückfliegen und Merlins Burg in Wales aufsuchen müssen, aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Es würde nur ein wenig dauern. Aber Zamorra war sicher, daß Merlins Stellvertreter Sid Amos ihm helfen würde, Ombre zu finden. In der Nähe ertönte ein schriller Pfiff. Zamorra wirbelte herum, konnte aber niemanden dort entdecken, wo der Pfiff ertönt war. Er wollte gerade Tendyke in die Kneipe folgen, um zu sehen, ob der Mann in Leder sich diesmal etwas geschickter anstellte, als ein dunkelgrüner Lieferwagen heranrollte. In dem geschlossenen Kasten glitt eine Schiebetür auf, noch während das Fahrzeug direkt vor der Kneipentür stoppte. Zamorra sah zwei Männer im Laderaum. Einer winkte ihm zu. »He, Mann, hast du mal Feuer?« Er schwenkte eine Zigarette zwischen den Fingern. Zamorra war zwar Nichtraucher, ein Feuerzeug trug er aber meistens bei sich. Vorwiegend, weil so manche dämonische Kreatur das Feuer kaum weniger fürchtet als das Weihwasser . . . Er griff in die Tasche und suchte, während er an den Wagen trat. »Oh, verflixt. Hab’ die falsche Hose an . . .« Sein Feuerzeug befand sich in der Anzugtasche in Florida. »Macht nichts, mon ami«, sagte der Mann mit der Zigarette. Blitz schnell packte er zu. Seine Hände rissen Zamorra in den Lieferwagen,
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der im gleichen Moment anfuhr. Die Schiebetür krachte ins Schloß. Za morra wollte sich aus dem Griff des angeblichen Rauchers befreien, aber da griff der zweite ein. Er erwischte Zamorra so, daß der Professor sich nicht mehr wehren konnte. Auch mit seinen Judo- und Karatetricks kam er hier nicht mehr voran. Der erste Mann hatte die kalte Zigarette fallengelassen. Er ballte bei de Fäuste und schlug zu. Zamorra spürte einen reißenden Schmerz und krümmte sich zusammen. Er bekam kaum noch Luft. Als er wieder eini germaßen denken konnte, lag er auf dem harten Metallboden des Wa gens, und die beiden Männer kauerten neben ihm. »So«, zischte der Schläger. »Und jetzt erzählst du uns erst mal, warum du l’ombre bestohlen hast!«
� Tendyke machte es wie beim ersten Mal. Er orientierte sich, marschierte bis zur Theke vor und sprach den Mann dahinter an. Der hellhäutige Bur sche mit dem krausen Braunhaar und dem Oberlippenbart, sah Tendyke erstaunt an. »Ombre suchst du? Na, stelle sich das mal einer vor.« Tendyke nickte. Anscheinend wurde er hier bereits fündig. Es wun derte ihn nur wenig. Der Mann, der ihm diesen Namen genannt hatte, hatte ihm auch gesagt, daß dieser Ombre im Hafenviertel recht bekannt sei. Deshalb hielt Tendyke die direkteste Methode noch für die nützlich ste. Daß sein Ermittler l’ombre selbst nicht aufgestöbert hatte, war ver ständlich – es hatte nicht zu seinem direkten Auftrag gehört. Solange nicht hundertprozentig erwiesen war, daß dieser Schatten mit dem Ne ger Ombre identisch war, der Su Ling nach Florida gebracht hatte, wollte Tendyke erst einmal selbst nachfassen und die Erstbegegnung sich vor behalten. »Wo kann ich ihn finden?« erkundigte Tendyke sich. Der Keeper hinter dem Tresen grinste ihn an. »Dreh dich mal freund lich um, Mister«, sagte er. Tendyke hatte keine Schritte gehört. Die beiden Männer, die hinter ihm aufgetaucht waren, mußten sich völlig lautlos bewegt haben. Tendyke sah noch eine Faust groß wie eine Baggerschaufel heranflie gen. Dann setzten seine Sinne aus.
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� Der Dämon näherte sich seinem Ziel. Er wußte, daß er jetzt ganz nah dran war. Die Gestalt des schwarzen großen Raubvogels kreiste über einem wild wuchernden Wald am Stadtrand. Aber er konnte nichts ent decken, was auf eine menschliche Behausung hinwies. Sollte der Amulettträger ein wilder Waldmensch sein, der hier außer halb der Zivilisation lebte? Das war kaum vorstellbar. So hatte er nicht ausgesehen. Leonardo deMontagne versuchte Gedankenimpulse aufzuspüren. Aber er konnte nichts erkennen. Dort unten befand sich niemand. Trotzdem – kamen die Impulse, die ihn wie mit einem Magneten ange zogen hatten, eindeutig von hier und nicht aus der Stadt. Eine Täuschung? Eher mochte sich das Amulett geirrt haben und der Geist, der darin wohnte. »Eysenbeiß«, zischte der Vogel aus halb geöffnetem Schnabel. »Solltest du mich hereinlegen wollen, mach dich auf etwas gefaßt!« Es kam keine Reaktion. Wahrscheinlich hielt es der Geist im Amulett gar nicht für nötig zu antworten. Immerhin hatte es Leonardo ja schon einmal nicht geschafft, ihm beizukommen. Der Vogel landete verdrossen auf einem freistehenden Ast am Wald rand. Er verwandelte sich wieder in seine ursprüngliche Gestalt zurück. Das Amulett, während des Fluges vom Federkleid verborgen, glitt förm lich in seine Hände, während er auf dem Ast kauerte. Wenn die ursprünglichen Angaben stimmten, mußte er ganz nahe dran sein – und jetzt wollte er überprüfen, weshalb er keine Lebenszeichen wahrnahm. Keine Gedanken, keine Bewußtseinsaura . . . nichts. Gerade so, als befände sich hier kein Mensch. Heiß durchzuckte es ihn. Sollte das Amulett hier nur einfach so liegen? Vielleicht hatte sein Be sitzer es deponiert? Aber wo? Leonardo mußte es finden! Irgendwo zwischen den Bäumen oder im Unterholz mußte das Ver steck sich befinden! Plötzlich entdeckte er die Seile, die an den Ästen hingen . . .
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»Was zum Teufel soll das heißen?« knurrte Professor Zamorra. Er ver suchte sich hochzustemmen, aber die beiden Männer hinderten ihn dar an. Er hatte flach auf dem harten Metallboden des Lieferwagens liegenzubleiben, und er spürte jedes Schlagloch als unangenehm harten Stoß. Vorn in der halb abgeteilten Fahrerkabine hockte ein Mann am Lenkrad, der sich nur für seine Aufgabe interessierte und dabei keine Rücksicht auf das nahm, was sich hinten abspielte. Wahrscheinlich würde er nicht einmal merken, wenn Zamorra die beiden anderen Männer überwältigte. »Los, Kerl. Rede. Wie hast du das gemacht?« fragte der Schläger. »Vielleicht könnt ihr mir mal erzählen, wovon ihr redet«, verlangte Zamorra. Er erhielt einen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. »Das bringt nichts. Der Kerl ist zäh«, sagte der andere Mann. »Viel leicht sollte ich ihn mal ein bißchen mit dem Messer kitzeln, damit er begreift und redet.« Der Schläger untersuchte schnell und geschickt Zamorras Taschen. Er ließ dem Parapsychologen keine Chance. Er nahm ihm Brieftasche und Ausweispapiere ab, steckte sie ein, nachdem er den Ausweis überprüft hatte. »Zamorra«, sagte er. »Das klingt ein bißchen nach Mafia.« Der andere grinste. »Dann hat die Mafia bald einen Mann weniger, was, Cimy?« Er griff in die Tasche und zog ein Springmesser hervor, das er auf schnellen ließ. Als Zamorra sich wieder bewegen und zum Angriff aus der Ruhelage übergehen wollte, erwischte ihn ein Schlag, der ihn fast betäubte. Er schlug mit dem Hinterkopf auf das harte Metall. Benom men blieb er liegen. Es hatte keinen Sinn. Die Kerle paßten höllisch auf. Hier im Wagen hatte er gegen sie keine Chance, angeschlagen, wie er war. Er wünschte sich, es mit dämonischen Kreaturen zu tun zu haben. Dann hätte er wenigsten das Amulett gegen sie einsetzen können. Den Dhyarra-Kristall konnte er auch nicht benutzen. Den hatte er in Florida gelassen. Das Messer berührte sein rechtes Ohr. »Auf die Muschel kannst du be stimmt verzichten, Zamorra, oder wie immer du heißt«, sagte der Mes sermann. »Wer nicht reden will, braucht auch keine Ohrmuscheln.« »Ihr seid ja wahnsinnig«, sagte Zamorra gepreßt. »Ich weiß wirklich nicht, wovon ihr redet.« Immer noch tanzten bunte Flecken vor seinen
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Augen. Er spürte leichte Übelkeit. Keine gute Ausgangsbasis, einen wei teren Gegenangriff zu riskieren. Und da war dieses verdammte Messer an seinem Ohr. »Du hast l’ombre bestohlen«, sagte der Schläger. »Und wir wollen wis sen, warum. Und vor allem, wie!« »Ich kenne l’ombre nicht einmal«, stieß Zamorra hervor. »Du lügst schlecht, mein Bester«, sagte Cimy, der Schläger. »Erstens hat dein Komplize sich vorhin nach ihm erkundigt, und zweitens trägst du den Beweis ja an dir. Ihr wollt l’ombre wohl eine Falle stellen, wie?« »Was für einen Beweis?« »Für den Diebstahl«, sagte Cimy. Er griff zu und umschloß das Amulett mit beiden Händen. Er fand sofort den Verschluß und hakte es von der Kette ab, um es sich aufrichtend mit in die Höhe zu nehmen. »Das hier«, sagte er. »Du mußt wirklich reichlich bescheuert sein, Za morra. Ich frage mich, wie so ein Ausbund an Dummheit es geschafft hat, l’ombre dieses Prachtstück abzunehmen!« Zamorra starrte ihn fassungslos an. Jetzt wurde es interessant!
� Tendyke wußte, daß er nicht lange ohne Besinnung gewesen sein konnte. Er sah, daß seine Umgebung sich nicht verändert hatte – er befand sich nach wie vor in dem Lokal. Der Keeper mit dem krausen Haar und dem Oberlippenbart beugte sich über ihn. Er hielt Tendykes Pistole in der Hand. Neben ihm standen die beiden Männer, die unvermittelt hinter dem Abenteurer aufgetaucht waren. Der ihn niedergeschlagen hatte, zuckte mit den Schultern. »Sorry, Buddy. Aber wahrscheinlich hättest du dich anders nicht von diesem Schießprügel getrennt, wie?« Tendyke sah in die schwarze Mündungsöffnung. Er erkannte, daß die Waffe entsichert war. Der Keeper brauchte bloß den Finger krumm zu machen. »Was soll das?« fragte Tendyke. »Darf man neuerdings in eurem Eta blissement keine Fragen mehr stellen?« »Oh, er drückt sich gewählt aus«, sagte der Keeper. »Was heißt hier neuerdings? Du warst doch noch nie hier. Was willst du von l’ombre?« »Mit ihm reden. Darf ich mich aufrichten?«
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»Da unten gefällst du mir besser, Freundchen. Du bist kein Freund von l’ombre, wie du es behauptest. Sonst wußtest du, wo du ihn erreichen kannst. Also . . . worum geht es?« »Seid ihr so was wie seine Leibwächter?« »Wir stellen hier die Fragen. Also . . . ?« »Mit Namenlosen unterhalte ich mich nicht«, sagte Tendyke. »Schon gar nicht mit Leuten, die so aggressiv reagieren, wenn man nach jeman den fragt.« »He, du . . .« Sekundenlang irrte die Pistolenmündung etwas ab. Darauf hatte Ten dyke gewartet. Er rollte sich zur Seite und rempelte die beiden anderen Männer dabei an. Sie taumelten und suchten nach Halt. Tendyke flog herum und traf die Kniekehle des Mannes, der noch am besten auf den Beinen stand. Jetzt kippte auch der. Der Keeper war nicht in der La ge, die Waffe abzufeuern, ohne seine Komplizen zu gefährden. Tendyke schnellte sich hoch. Er explodierte förmlich in einem wilden Wirbel von Schlägen. Die drei Männer flogen zur Seite. Dem Keeper entfiel die Pi stole. Tendyke fing sie am Lauf auf, warf sie hoch und bekam sie auffan gend mit der rechten Hand am Griff zu fassen. Sofort sprang er ein paar Schritte zurück in Richtung der Tür. Als die drei Männer sich aufzurap peln versuchten, blickten sie ihrerseits in die Pistolenmündung. Tendyke erreichte den Ausgang. Die Tür war abgeschlossen worden. So etwas ähnliches hatte er schon vermutet. Deshalb also war Zamorra anscheinend nicht nachgekommen. Vermutlich versuchte der Parapsy chologe inzwischen, durch einen anderen Eingang hereinzukommen. »Es gibt Dinge, die kann man mit mir nicht machen«, sagte Tendyke ruhig. Er kam wieder in den Schankraum zurück. Gelassen hob er den Leder-Stetson auf, den er vorhin verloren hatte, und drückte ihn sich wieder auf den Kopf. »Jetzt machen wir das Spielchen mal anders herum. Wer seid ihr? Warum habt ihr mich angegriffen?« »Wir mögen es nicht, wenn sich Fremde zu sehr um unsere Dinge küm mern«, sagte der Mann, der Tendyke vorhin niedergeschlagen hatte. »Da haben wir uns gedacht, daß wir dich mal ein bißchen befragen.« »Glaube ich euch nicht. Hat Ombre euch das aufgetragen?« »Nein, verdammt.« »Warum wollt ihr dann nicht, daß ich mit ihm rede, he? Da ist doch was faul. Wo finde ich Ombre? Raus mit der Sprache . . .«
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»Du findest ihn garantiert nicht«, sagte der Keeper. »Den findet keiner, wenn er nicht gefunden werden will. Was bist du eigentlich? Ein Bulle? Oder ein Teck?« »Weder Polizist noch Detektiv«, sagte Tendyke. »Es ist nur so, daß ich mit Ombre reden möchte, weil er mich vor kurzem besuchte.« »Ah«, der Keeper grinste. »Und nun möchtest du zurück haben, was er dir stibitzt hat?« Tendyke seufzte. »Schweift nicht ab, Leute. Also . . . wo ist Ombre zu finden? – Wie heißt er eigentlich wirklich?« Die gerade noch grinsenden Gesichter verhärteten sich. »Du kannst machen, was du willst, Buddy. Aber hier erfährst du nichts. Und du soll test dich jetzt ganz schnell dünn machen, solange du es noch kannst.« Tendyke schüttelte den Kopf. »Ihr könnt mir nicht drohen.« »Glaubst du, dein Begleiter könnte dir helfen?« fragte der Keeper kühl. »Dein Pech, Mann. Den haben wir nämlich auch.« Tendyke zuckte zusammen. Da steckte doch mehr hinter, als er an fangs angenommen hatte. Es war kein Zufall, daß er niedergeschlagen worden war! Man hatte sie getrennt! Er glaubte es dem Keeper sofort. »Dann«, sagte er, »werde ich andere Seiten aufziehen. Bisher war ich ja noch ganz friedlich. Aber ich kann auch anders. Jetzt will ich wissen, mit wem ich es zu tun habe . . .« Im nächsten Moment war er in der Schankstube allein. Die drei Män ner waren von einer Sekunde zur anderen wie vom Erdboden ver schluckt!
� Yves Cascal hatte von einem Moment zum anderen das Gefühl, daß er in seinem Versteck nicht mehr sicher war. Gefahr drohte! Und diese Gefahr war ganz nah! Das Amulett verriet es ihm, aber es ließ nicht erkennen, auf welche Weise es die Gefahr spürte und sie Cascal mitteilte! Nur eine leichte Erwärmung konnte der Neger feststellen. Und irgendwie ahnte er, daß jener Unheimliche hinter der Gefahr steckte, den er damals auf der Lichtung gesehen hatte. Die Annäherung . . . Das mußte es sein. Plötzlich war der Schatten froh, nicht eingeschlafen zu sein. Seine Mü digkeit war wie weggeblasen. Hätte er bereits geschlafen, wäre ihm die
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ser Gefahrenimpuls womöglich entgangen. Jetzt aber hatte er vielleicht noch Zeit, Gegenmaßnahmen zu treffen. Worin bestand die Gefahr? Wer war der Unheimliche? Oder handelte es sich um noch etwas anderes? Er verließ die Hütte. Draußen war nichts zu erkennen, was auf eine Gefahr hindeutete. Aber das Amulett erwärmte sich bereits stärker. Der Neger preßte die Lippen zusammen. Wie sollte er sich gegen et was zur Wehr setzen, das er nicht kannte, das er nicht einmal sah? So lange er nicht wußte, worin die Gefahr bestand, konnte er nichts gegen sie tun. Er konnte nur schleunigst von hier verschwinden. Er sah nach oben. Von einem der Bäume hing ein Seil herunter. Aber plötzlich warnte ihn ein Instinkt, dieses Seil zu benutzen. Oder ging die Warnung auf eine geheimnisvolle Weise von seinem Amulett aus? Es gab keinen anderen Weg von der Hütte fort – es sei denn, er schuf ihn sich. Entschlossen drang er in das dichte Unterholz ein. Rasch bog er Äste und Zweige zur Seite. Zwängte sich zwischen ihnen hindurch. Er murmelte Verwünschungen. Es ging nicht so einfach, wie er es sich gewünscht hätte. Eine Schneise blieb zurück, wo er sich bewegt hatte. Teilweise waren die Zweige des Dickichts so miteinander verwoben, daß sie eine undurchdringliche Fläche bildeten, die ihn zu Umwegen zwang. Er konnte sich nicht geräuschlos bewegen. Äste knackten, Laub raschel te. Es stimmte ihn verdrießlich. Es war eine seiner Eigenarten, daß er sich völlig lautlos bewegen konnte – nur klappte das hier nicht. Er versuchte, das Gestrüpp, hinter sich so weit wie möglich wieder zu schließen. Er verflocht die Zweige, so gut es eben ging. Und dann hielt er plötzlich in der Bewegung inne. Das Amulett war fast schmerzhaft heiß geworden. Yves spähte durch das dichte Laub. Er fühlte die Gefahr. Sie war da, sie hatte die Hütte erreicht! Plötzlich wußte er, weshalb ein Instinkt ihn davor gewarnt hatte, die Seile zu benutzen. Von dort kam der Feind! Er fiel förmlich vom Himmel, war plötzlich da. Eine schwarze, unheim liche Gestalt, groß, fast zu groß für einen Menschen. Schwarzes Leder, ein schwarzer, wallender Umhang. Harte, kantige Gesichtszüge, lange, schlanke Finger, deren Nägel lang wie Krallen waren. Augen glühten. Ei ne bösartige Ausstrahlung ging von dem Riesen aus, wehte bis zu Cascal herüber. Der Schatten hielt den Atem an.
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Er erkannte den Unheimlichen. Er war es, der damals auf der Lichtung aufgetaucht war. Der auch ein Amulett besaß . . . der in einer feurigen Lohe verschwunden war . . . Mit einem jähen Ruck fuhr der Unheimliche herum. Er starrte genau dorthin, wo Yves Cascal sich im Unterholz verbarg!
� Zamorra atmete tief durch. Er sollte l’ombre das Amulett abgenommen haben? Seine Gedanken überschlugen sich. Diese Männer irrten sich. Wie ka men sie darauf, daß dieses Amulett jenem Ombre gehören sollte? Es konnte nur bedeuten, daß sie es schon einmal bei ihm gesehen hatten. Genauer gesagt, eines der anderen . . . Die sieben Amulette waren äußerlich identisch. Vom bloßen Ansehen her konnte man sie nicht unterscheiden. Aber bei engerem Kontakt oder beim Benutzen bemerkte man die Unterschiede schon. Damals, als, Sid Amos Zamorra sein Amulett zusätzlich zur Verfügung gestellt hatte, um Merlin zu erwecken, hatte Zamorra sofort fühlen können, welche der beiden Silberscheiben Merlins Stern war und welche eines der anderen Amulette. Ombre, der geheimnisvolle Schatten, mußte also einen der sieben Sterne von Myrrian-ey-Llyrana besitzen! Das erklärte natürlich eine gan ze Menge . . . Vor allem aber dieses Mißverständnis . . . Der Mann betrachtete die Silberscheibe aufmerksam, als habe er sie noch nie aus der Nähe gesehen. »Du bist der erste, der es geschafft hat, l’ombre zu bestehlen. Los, wie hast du das ge . . .« Er kam nicht weiter. Zamorra nahm seine einzige, einmalige Chance wahr, die anderen zu verblüffen. Er öffnete seine Hand und rief das Amulett! Es reagierte sofort auf den gedanklichen Befehl. Die Hand des kleinen Ganoven war leer. Das Amulett befand sich in Zamorras Hand. Das sahen die beiden aber im ersten Moment noch gar nicht. Cimy stieß einen überraschten Schrei aus und betrachtete seine leeren Hän de. Der Messermann wandte den Kopf. Die Klinge entfernte sich von Zamorras Ohr.
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Dessen Fäuste flogen hoch und trafen den Messermann genau auf den Punkt. Besinnungslos kippte er nach hinten weg. Zamorra drehte sich halb und nahm Cimy in eine Beinschere. Der Mann stürzte. Zamorra schaffte es, sich mit einer schnellen Körperdrehung halb über ihn zu wälzen und den Mann zu betäuben. Dann sprang er auf. Der Fahrer war endlich aufmerksam geworden. Er machte eine Voll bremsung. Zamorra taumelte nach vorn gegen die Halbwand, die Fah rerkabine vom Laderaum trennte. Er fing sich ab. Da richtete der Fahrer eine Pistole auf ihn. Der Schuß peitschte. Die Kugel pfiff haarscharf an Zamorras Ohr vorbei und hackte in die Rückwand des Kleintransporters. Es krachte ohrenbetäubend in dem Fahrzeug. Zamorra glaubte taub zu werden. »Verdammt, immer auf die Ohren! Muß das sein?« schrie er und warf sich nach vorn. Ein leichter Schlag, richtig plaziert, betäubte den Fahrer, ließ ihn nach vorn auf das Lenkrad kippen. Er berührte die Huptaste, die sofort das Signalhorn im Dauerton auslöste. Zamorra hebelte ihn aus dem Fahrersitz und quartierte ihn rechts ein. Fußgänger, durch den Hupton aufmerksam geworden, sahen herüber, konnten aber nicht viel erkennen. Andere Fahrzeuge hupten, die hin ter dem auf der Straße stehenden Hindernis anhalten mußten. Zamorra klemmte sich hinter das Lenkrad und setzte den Wagen wieder in Be wegung. Er fuhr bis zu einer Parklücke am Straßenrand und lenkte den Lieferwagen erst einmal hinein. Dann nahm er sich die Zeit, das Amulett wieder an seiner Halskette zu befestigen. Er ging wieder nach hinten. Nachdenklich betrachtete er die Bewußt losen. Cimy schien ihm noch der Vernünftigste von ihnen zu sein. Der Fahrer war ihm zu schießwütig, und der Messermann war ihm auch nicht gerade sympathisch. Also legte er sich Cimy zurecht. Er konzentrierte sich auf das, was er vorhatte. Seine Finger strichen über Schläfen und Stirn des Bewußtlosen. Zamorra konzentrierte sich auf einen bestimmten Kraftfluß und eine bestimmte Bewegungsrichtung und -folge. Wenig später öffnete Cimy die Augen. Zamorra ließ ihm keine Chance. In der Aufwach-Phase war Cimy hilflos. Zamorra versetzte ihn in hyp notische Trance. Und dann hatte Cimy ihm Rede und Antwort zu stehen . . .
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� Leonardo deMontagne hatte sofort begriffen, wozu das Seil diente, das fast vor seinen Augen hing. Blitzschnell packte er zu und schwang sich waldeinwärts. Er stieß auf mehrere dieser Seile, mit denen er sich dicht unter den Baumwipfeln über das dichte Unterholz hinweg vorwärts be wegen konnte. Und dann fand er die Hütte! Die Tür war halb geöffnet. Eine Falle? Nein. Der Dämon entdeckte auch jetzt keine Gedanken und keine Ausstrahlung eines menschlichen Bewußtseins. Hier war niemand. Leonardo sah sich um. Plötzlich glaubte er etwas zu spüren. Außerhalb der Hütte im Unterholz . . . Alarmiert starrte er dorthin. Aber er konnte nichts und niemanden er kennen. Das Unterholz war dicht und unter keinen Umständen als Ver steck geeignet . . . Die Nähe des anderen Amuletts war jetzt deutlich zu spüren. Leonardo betrat die Hütte. Mit einem wilden Faustschlag zerschmet terte er die Tür. Das morsche Holz zerbröckelte sofort. Der Fürst der Finsternis schleuderte eine Feuerkugel aus seiner linken Hand ins Hüt teninnere. Im Lichtschein sah er, daß der Innenraum leer war. Er war genarrt worden! Jäh riß der Impuls ab, der ihm das Amulett hier gezeigt hatte! Nur noch – Leere . . . Nein. Hier war nichts. Der Amulettträger hatte eine falsche Spur ge legt. Er mußte gemerkt haben, daß Leonardo sich näherte, und hatte ihn hereingelegt. Der Dämon stieß einen wilden Wutschrei aus. Er setzte die gesamte Hütte in Brand. Trotz der Fäulnis brannte das Holz sofort. Die Flammen schlugen lichterloh empor. Leonardo verwandelte sich in den großen schwarzen Raubvogel zurück und schwang sich senkrecht empor in die Luft hinauf. Er schrie abermals vor Wut. Einige Male kreiste er noch über dem Brandherd, dann wandte er sich stadteinwärts. Hier draußen hatte er nichts mehr verloren. Hier war der Gesuchte nicht. Der hielt sich wahrscheinlich irgendwo in der Stadt auf . . . Dort würde Leonardo erneut mit der Suche beginnen. »Ich werde ihn finden!« schrie der Riesenvogel. »Und wenn die ganze Welt darüber untergehen müßte – ich finde ihn!« Ein verhaltenes, spöttisches Kichern drang aus seinem Amulett.
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� Der Schatten hatte den Atem angehalten. Für ewigkeitslange Sekunden sah es so aus, als habe der Unheimliche ihn im Dickicht aufgespürt. Das Amulett pulsierte. Es hüllte sich in einen silbrigweißen Lichtschein. Yves erfaßte, daß sich das Phänomen zu wiederholen begann, das damals auch auf der Lichtung eingetreten war – diesmal nur um ein Vielfaches langsamer. Er begriff auch, daß das ein Angriff war. Sein Amulett – wollte den Unheimlichen angreifen! »Nein«, keuchte er kaum wahrnehmbar. Nein. Das durfte nicht gesche hen. Nicht, ehe er den Gegner und seine Fähigkeiten nicht besser kann te. Er hatte den Asiaten nie vergessen, der auf der Lichtung verbrannt war. Innerhalb weniger Sekunden! Das war das Werk dieses Fremden gewesen, von dem eine Aura der Bösartigkeit ausstrahlte. Nein, Amulett! Kein Angriff! Er umklammerte es mit beiden Händen. Unter seinen Handflächen war es heiß. Das silberweiße Licht umfloß seine Hände, aber das war auch alles. Nicht einmal ein leichtes Kribbeln war zu spüren . . . Allmählich klang die Wärme ab, das Licht verblaßte. Ohne zu wissen warum, wußte Yves, daß es außerhalb des Strauchwerks nicht zu sehen gewesen sein konnte. Der Unheimliche wandte sich ab und drang in die Hütte ein. Als er sie wieder verließ, setzte er sie in Brand. Zorn stieg in Yves auf. Sein bestes Versteck, von dem Unheimlichen aufgespürt, wurde vernichtet! Er konnte es nie wieder benutzen! Irgendwie mußte er diesen Mann dafür zur Rechenschaft ziehen! »Aber . . . wie? Wie jemanden bestrafen, der sich plötzlich in einen Raubvogel verwan delt und senkrecht nach oben davonfliegt, so, wie Vögel es unter diesen Umständen eigentlich gar nicht fertigbringen? Diese Verwandlung . . . Sie paßte zu dem Unheimlichen. Er sah äußerlich einem Menschen ähnlich, aber er konnte keiner sein. Was aber dann? Ein Dämon des Voo doo-Kultes? »Was auch immer du bist . . . ich werde es herausfinden«, murmelte Cascal. Er senkte den Kopf und betrachtete sein Amulett. Er war sicher,
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daß es ihn auf irgend eine Weise vor dem Fremden gerettet hatte. Ein weiteres ungelöstes Rätsel. Er hatte eine Chance bekommen. Und er war gewillt, sie zu nutzen. Dazu mußte er aber erst einmal von hier verschwinden, ehe die Flammen ihn erreichten. Er drängte sich aus dem Dickicht heraus, achtete nicht darauf, daß die Zweige und Dornen ihm Haut und Kleidung zerrissen, und erreichte das Tau. Er kletterte gewandt hinauf und versetzte es in Schwingungen, bis er das nächste Seil erreichte. Gerade noch rechtzeitig . . . Das Feuer breitete sich aus. Wahrscheinlich würde es einen Teil des Waldstreifens vernichten, ehe es in der Feuchtigkeit wieder verlosch . . . Aber bis dahin war Yves Cascal längst nicht mehr hier . . .
� Tendyke trat unwillkürlich wieder ein paar Schritte zurück. Vorsichtig sah er sich um. Aber die drei Männer blieben verschwunden. Kein neuer Überfall erfolgte. Der Abenteurer bewegte sich jetzt vorsichtig dorthin, wo die drei ge rade noch gestanden hatten. Er hatte einen Verdacht, und als er den Bodenbelag eingehend betrachtete, bestätigte dieser Verdacht sich. Dort war eine Falltür! Sie war gerade so groß, daß alle drei Männer, die dicht beieinander gestanden hatten, blitzschnell in der Tiefe verschwinden konnten. Der Mechanismus mußte rasend schnell arbeiten, etwas begünstigt von dem diffusen Kneipenlicht. Eine Sicherheitsmaßnahme, um notfalls schnell untertauchen zu können . . . oder auch, um andere verschwinden zu las sen. Tendyke nahm an, daß der Keeper die letztere Möglichkeit bevor zugt hätte, wenn Tendyke zufällig auf der Falltür gestanden hätte. Im merhin waren beide Parteien voneinander getrennt worden, so oder so. Er suchte nach dem Mechanismus, der die Falltür auslöste. Es mußte irgendwo einen versteckten Schalter oder Hebel geben, vielleicht sogar eine Lichtschranke. Sie mußte von wenigstens einem der drei Männer zu erreichen gewesen sein. Tendyke versuchte sich zu erinnern, wie, wo genau und in welcher Haltung die drei gestanden hatten. Aber er konnte nichts entdecken.
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Das hieß, daß die Falltür aus der Ferne gesteuert wurde, von einem anderen Raum aus. Das hieß auch, daß es eine Möglichkeit gab, das Geschehen im Lokal zu beobachten und zu überwachen . . . und daß es noch jemanden in diesem Haus gab, der aus dem Hintergrund heraus die Fäden zog und seine Leute »zurückholte«, als ihm die Kontrolle vorüber gehend zu entgleiten drohte. »Na warte«, murmelte Tendyke. Die Angelegenheit nahm immer grö ßere Formen an. Und sie wurde immer undurchschaubarer. Steckte Om bre selbst hinter dieser Aktion?
� Unter Hypnose redete Cimy wie ein Wasserfall! Mit seinen Antworten auf Zamorras Fragen machte er dem Parapsy chologen klar, wie schnell hier die Informationen weitergegeben wurden. Rascher konnte die Buschtrommel im afrikanischen Urwald auch keine Nachrichten übermitteln. Einem Negerjungen war aufgefallen, daß Zamorra die Silberscheibe trug, von der sich l’ombre, der Schatten, nie getrennt hatte, seit er sie besaß. Wie lange das nun her war, wußte niemand zu sagen. Aber an nähernd zwei Jahre bestimmt . . . und niemals war der Schatten seitdem ohne diesen Schmuckgegenstand gesehen worden. Es hieß, man könne ihn ihm auch nicht abnehmen. Ob jemand es ir gendwann einmal versucht hatte, wußte niemand, aber es wurde ange nommen, daß l’ombre einen solchen Versuch vereitelte. Nun war zum erstenmal jemandem aufgefallen, daß der Diebstahl anscheinend doch geklappt hatte. Der Negerjunge – Zamorra entsann sich; es war der Bursche, den er vor den beiden prügelnden Halbwüchsigen »gerettet« hatte und den er zwischendurch noch einmal kurz gesehen zu haben glaubte – hatte sei nen Boß informiert, daß da jemand herumlief, der l’ombre bestohlen hat te. Daraufhin hatte der Boß seine Leute eingesetzt, um diesen Jemand zu kassieren, ihm das Amulett wieder abzunehmen und es dem Schatten zu rückzugeben. »Ombre scheint ja ziemlich bekannt und beliebt zu sein«, murmelte Za morra. Kein Wunder, daß niemand sagen wollte, wo man Ombre traf . . . Vielleicht war es aber auch weniger Wertschätzung, sondern eher Re spekt und Furcht? »Ist Ombre so etwas wie ein Patron der hiesigen Halb
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welt? Ein Mafia-Boß? Einer, der das Hafenviertel und vielleicht mehr be herrscht?« Das »Nein« verblüffte ihn, weil es seine Gedankenkonstruktion schon wieder zum Einsturz brachte, ehe das Fundament sich verhärten konn te. Nach Cimys Worten war dieser Ombre eher ein kleines Licht, jemand, der sich irgendwie durchs Leben schlug. Aber es gab keinen Grund für Zamorra, die Aussage zu bezweifeln. Der Hypnotisierte sprach die Wahr heit. »Warum will denn euer Boß, daß ihr mich schnappt und l’ombre das Amulett zurückgebt? Was könnte ihm das einbringen an Vorteil, wenn der Schatten tatsächlich so eine unbedeutende Randfigur ist?« »Da mußt du den Boß schon selbst fragen. Ich weiß es nicht«, erwi derte Cimy monoton. »Auch ’ne Idee«, stellte Zamorra fest. »Dann wirst du mich mal zu euren Boß führen. Ich fahre. Du beschreibst mir den Weg.« Weigern konnte Cimy sich in seinem Zustand nicht, und Zamorra hü tete sich, ihn aus der Hypnose zu wecken. Er war gespannt darauf, wer dieser Boß war und wie er wirklich zu dem Schatten stand. Zumindest aber mußte er ihn gut kennen und wissen, wo er zu finden war. Hoffentlich hatte Tendyke nicht inzwischen eine Dummheit begangen. Er mußte sich ja auch seine Gedanken um Zamorras plötzliches Ver schwinden gemacht haben . . .
� Das Bewußtsein des Magnus Friedensreich Eysenbeiß, das seinerzeit nach der Hinrichtung in das Amulett geschlüpft war, war etwas irritiert. Eysenbeiß hatte das andere Amulett ziemlich deutlich gespürt. Es war ganz nahe gewesen. Eine falsche Spur, wie Leonardo deMontagne an nahm. Er ist dumm, dachte Eysenbeiß verächtlich. Er war immer primitiv, und er wird es immer bleiben. Er hat nie gelernt, nachzudenken. Was nicht mit Magie geht, geht mit Gewalt, und alles andere berührt ihn nicht . . . So hatte der Dämon nicht weiter überlegt, was hinter diesem jähen Ab bruch des Kontaktes stecken mochte. Er hatte die Hütte in Brand gesetzt und war zur Stadt geflogen.
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Eysenbeiß hatte ihn allerdings nicht daran gehindert. Sollte der Mon tagne eben seine eigenen Erfahrungen in diesem Fall machen! Solange er nicht um Hilfe bat, bekam er sie auch nicht – zumindest nicht über das hinaus, was Eysenbeiß ihm ohnehin nicht versagen konnte. Er hatte zwar eine intensive Kontrolle über das Amulett und konnte sich hervor ragend absichern, aber er konnte nicht verhindern, daß Leonardo das Amulett benutzte. Eysenbeiß machte sich allerdings seinerseits schon Gedanken über den Vorfall. Der Amulettträger hatte sich in der Nähe befunden. Aber dann mußte er sich abgeschirmt haben, so perfekt, daß weder der Dä mon noch die Verbindung Eysenbeiß/Amulett ihn noch bemerken konn ten. Das ließ den Schluß zu, daß jenes Amulett eines der jüngeren, stär keren sein mußte. Eysenbeiß wußte spätestens seit der Verschmelzung seines Bewußtseins mit seinem eigenen Llyrana-Stern, daß es sich um die Nummer 4 in der chronologischen Reihenfolge des Entstehens han delte. Somit blieb nicht mehr viel Auswahl. Nr. 5 oder Nr. 6 . . . Wer, bei Luzifers Gehörn, mochte die anderen Amulette besitzen, die seinerzeit in Raum und Zeit verstreut worden waren, als es zum Ent scheidungskampf zwischen dem damaligen ERHABENEN der Dynastie und der Zamorra-Crew kam? (siehe Band 307: »In der Lavahölle«) Eysenbeiß wischte den abschweifenden Gedanken beiseite und kon zentrierte sich wieder auf das Wesentliche. Gegen ein höherrangiges Amulett anzutreten, bedeutete äußerste Vorsicht. Denn in diesem Fall konnte er nicht darauf bauen, daß sein Bewußtsein das Amulett Nr. 4 so weit stärkte, daß es dem anderen gegenüber gleichwertig wurde. Viel leicht war das nicht einmal möglich . . . Genau konnte er es nicht sagen. Dazu kannte er die Eigenheiten der Amulette selbst zu wenig. Er hatte zeitlebens nicht genug Gelegenheit gehabt, den Llyrana-Stern zu erfor schen, weil er nur heimlich damit operieren konnte, um sein Geheimnis nicht den anderen Höllenkreaturen preiszugeben. Und auch jetzt bekam er keine Chance. Um das magische Innere der Silberscheibe intensiver zu erforschen, hätte er seine Verkapselung öffnen müssen und sich damit in die Hand des Dämons gegeben. Aber das wollte er nicht riskieren. Immerhin war der Dämon, in dessen Besitz er sich jetzt befand, sein ärgster Feind nach Professor Zamorra . . . Und nun war er gespannt, was Leonardo deMontagne als nächstes
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unternehmen würde, und er wartete darauf, daß der Dämon nicht mehr allein vorankam und über seinen eigenen Schatten springen mußte. Aber noch schien es doch nicht soweit . . .
� Solange Yves Cascal sich außerhalb der Stadt befand, fühlte er sich rela tiv sicher. Er hatte gesehen, wie der unheimliche Verwandlungskünstler sich schnurstracks entfernt hatte. An der in die Innenstadt führenden Ausfallstraße wartete Cascal, bis einer der zahlreichen Trucks auftauchte, die hier ihr Tempo erheblich abbremsen mußten. Er sprang aus der Sichtdeckung einer Plakattafel hervor, die die Autofahrer auf Einrichtungen, Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten der Hauptstadt Baton Rouge hinweisen, spurtete los, bis er schnell genug war, und sprang dann am Heck des Sattelaufliegers empor. Dort klammerte er sich an den Griffen der hinteren Doppeltür fest und ließ sich in die Stadt fahren. Er hatte Glück – der schwere Sattelschlepper rollte geradewegs ins Hafengebiet. Dort würde er wohl seine Fracht abliefern und neue auf nehmen. Aber das interessierte Cascal weniger. Wichtig war nur, daß er schnell zurück in die Stadt kam. Daß er sich am hellen Mittag hier sehen ließ, war ungewöhnlich. Aber wenn er den Unheimlichen hier aufspüren und beobachten wollte, durfte er nicht warten, bis der Verwandlungsfähige seinerseits ihn wieder fand. Der Schatten war vom Gejagten zum Jäger geworden, und er wollte das nicht abermals umkehren. Wie konnte er den Unheimlichen aufspüren? Und was sollte er tun, wenn er ihm gegenüber stand? Er mußte sich darauf einstellen, daß der andere ihn angriff. Daß er Cascal töten wollte. Das Verhalten an der Waldhütte deutete unbedingt darauf hin. Vielleicht wollte der Unheimliche in ihm einen Zeugen besei tigen, der den Mord an dem Asiaten beobachtet hatte. Das erklärte zwar nicht, wie er die Hütte finden konnte . . . aber es war Cascal schon vor Tagen aufgefallen, daß jemand Fragen stellte und ihm nachschnüffelte. Er hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Offenbar war das ein Fehler gewesen. Der erste Zorn war verraucht. Das Versteck war verloren, gut. Es wür de andere Verstecke geben. Jetzt galt es weniger, den Unheimlichen da
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für zu bestrafen, sondern ihn davon abzuhalten, daß er Cascal weiter verfolgte und tötete. Und Yves wollte herausfinden, was es mit jenem an deren Amulett auf sich hatte. Das seine war ihm schon ein Rätsel, aber wenn es zwei Exemplare gab . . . dieses Geheimnis mußte er ergründen. Welche Verbindung gab es zwischen ihm und diesem Gestaltwandler, der sicher alles andere war als ein Mensch. Aber was war er dann? Cascal berührte sein Amulett. Vielleicht . . . Er erschrak im ersten Moment vor seiner eigenen Idee, die ihm doch zu fantastisch erschien. Aber hatte er nicht schon genug fantastische Erlebnisse damit gehabt? Ein einfaches Schmuckstück war es jedenfalls nicht. Es war eher . . . ein Werkzeug? Werkzeug konnte man benutzen. Aber wie sollte er das Amulett dazu bringen, jenes andere zu finden? Yves wurde sich der Gefahr bewußt, in die er sich begab, wenn es tat sächlich klappte. Aber die Konfrontation mit dem Unheimlichen war un vermeidbar, und es war besser, wenn der Schatten die Regeln bestimmte. Hier in Baton Rouge hatte er Heimspiel. Hier war er im Vorteil. Er dachte keine Sekunde lang daran, andere um Hilfe zu bitten. Er war immer ein Einzelgänger gewesen, und er mußte auch mit dieser Bedrohung fertig werden. Er löste sein Amulett von der Kette und betrachtete es. Leicht glitten seine Finger über das Material, das sich wieder fast völlig abgekühlt hatte. Nur eine leichte Restwärme war geblieben. Du hast mich damals in den Sumpfwald geführt, zu jener Lichtung. Du hast mich wohl auch vorhin vor der Annäherung des Wandelbaren gewarnt . . . also reagierst du irgendwie auf ihn. Oder auf sein Amulett . . . Dann, verflixt noch mal, müßtest du mich doch auch jetzt in seine Nähe bringen können! Er muß sich doch irgendwo in der Stadt aufhalten, egal in welcher Gestalt! dachte der Schatten. Er fragte sich, ob er den Unheimlichen überhaupt rechtzeitig würde erkennen können. Er konnte als Vogel auftauchen oder als der riesenhaf te Mann in der schwarzen Lederkleidung mit dem wallenden Umhang . . . oder als Hund oder Katze . . . oder als ein Alltagsmensch . . . Yves war si cher, daß sein Gegner jede beliebige Gestalt annehmen konnte. Jeder, der ihm entgegen kam, ob Mensch oder Tier, konnte also der Gegner sein.
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Yves schloß die Augen. Er hielt die silberne Scheibe an die Stirn. Wie sollte er es anstellen, sich von dem Amulett den Weg zeigen zu lassen? Er wartete auf die seltsamen Empfindungen und Impulse, von denen er wußte, daß sie nicht aus ihm selbst kamen. Das Amulett müßte einen Schalter haben, dachte er. Langsam setzte er sich in Bewegung. Etwas zog ihn in eine bestimmte Richtung . . .
� Leonardo deMontagne suchte. Der Dämon hatte so gehandelt, wie es seine abartige Natur ihm vor zeichnete. Um seine Kräfte zu erneuern und zu stärken, brauchte er ein Blutopfer. Alain Corvier, später Abkömmling französischer Einwanderer, ahnte nichts Böses, als er seinen Spaziergang machte. Er war Frührentner und hatte viel Zeit, wenn auch sehr wenig Geld. Aber es reichte gerade so zum Leben in einem etwas armseligen kleinen Appartement in der Ha fengegend. Seit dem Dreißigjährigen vor vier Jahren eine Ladung Eisenträger das linke Bein und einen Arm zertrümmert hatte, ging es bergab. Er hatte nichts gelernt, und jetzt bekam er keine Arbeit mehr. Wie sollte er ar beiten können? Die Knochen waren zwar wieder zusammengewachsen, aber nicht mehr belastbar. Selbst seine täglichen Spaziergänge konn te er nur auf Krücken gestützt machen. Aber es zog ihn immer wieder zum Hafen, wo er manchmal mit früheren Arbeitskollegen ein paar Wor te wechselte oder nach Feierabend ein Bierchen trank, das die anderen ihm ausgaben; er selbst konnte es sich nicht einmal leisten. Auch jetzt war er wieder unterwegs. Er tappte langsam dahin, vorbei an den großen Lagerhallen am Hafenrand. Plötzlich sah er einen Mann in einer seltsamen Kleidung, den er hier noch nie gesehen hatte. Der Mann war hochgewachsen, und seine Augen funkelten rötlich. Das war unge wöhnlich, denn er war zwar bleich, aber kein Albino-Typ. Der Fremde starrte Corvier an. Dem Frührentner wurde es unbehaglich. Er ahnte, daß dieser Mann nichts Gutes beabsichtigte, und er wollte nicht hineingezogen werden. Selbst als Zeuge hatte man nichts als Scherereien. Corvier versuchte
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schneller zu humpeln, aber sein Bein begann schon wieder zu schmer zen. Er kam nicht recht voran. Der Fremde machte zwei, drei Schritte – und stand direkt bei Alain Corvier, obgleich mehr als zwei Dutzend Meter zwischen ihnen gewesen waren. »Komm mit mir. Ich benötige dich«, sagte der Fremde mit einer dunklen, rauhen Stimme. »Wer sind Sie? Lassen Sie mich in Ruhe«, wehrte Corvier ab. Da berührte der Schwarzgekleidete ihn. Corvier flog in hohem Bogen durch die Luft. Er wollte schreien, aber er konnte es nicht mehr. Er prallte irgendwo im Schatten hinter einem Lagerschuppen auf, unter hohen Bäumen. Rasender Schmerz durchzuck te ihn, dann konnte er seine Beine nicht mehr fühlen. Er wußte, daß er diese Stunde nicht mehr überleben würde. Der Unheimliche stand über ihm. »Warum?« keuchte Corvier. »Warum, Mister?« Doch der andere schwieg. Er streckte den Arm aus. Aus seinem Zeige finger zuckte etwas Schwarzes und zog Linien in den Boden. Um Corvier entstand ein Kreis, und um diesen Kreis herum bizarre Linien und Zei chen. Corvier sah eine dünne rote Nebelwolke aus seinem Mund und den Nasenlöchern aufsteigen. Seltsam, dachte er. Wieso ist das Blut so ne belhaft? Der Unheimliche trank das Blut aus der Luft. Corvier merkte, daß sein Leben versickerte. Und plötzlich war Erdreich über ihm. Dann war da nichts mehr. Er war tot. Während Leonardo deMontagne ungerührt die Lebensenergie seines Opfers aufsaugte, glitt dessen vertrocknender Körper ins Erdreich hin ein. Er verschwand einfach nach unten, als werde er in ein Wasserbecken und unter dessen Oberfläche hinabgelassen. Schon nach wenigen Minu ten blieb nichts mehr übrig. Der Leichnam war beseitigt. Kreis und Zauberzeichen verschwanden ebenfalls. Es gab keine Spu ren mehr, die auf den Mord hinwiesen. Aber der Fürst der Finsternis hatte seine Kräfte erneuert und war stärker als vorher geworden. Sein Gesicht verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen. Er hatte dieses Ritual zum ersten Mal durchgeführt. Normalerweise ließ er sich
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die Lebenskraft eines Ritualopfers vom Zauberpriester einer schwarzma gischen Sekte von irgendwo auf der Welt weihen und übermitteln. Doch Leonardo lernte immer weiter hinzu, je länger er auf dem Höllenthron saß. Er konnte nun in Ausnahmefällen wie diesem auch selbst für seine Regenerierung sorgen. Nach dieser Stärkung fiel es ihm leichter, die Suche nach dem Amulett träger wieder aufzunehmen. Doch er konnte nirgendwo entsprechende Impulse registrieren. Es gab einfach kein Echo. Da war es aus der Ferne einfacher gewesen . . . Leonardo wollte sich nicht vorstellen, daß der Amulettträger sich au ßer Reichweite begeben hatte. So schnell konnte er nicht sein. Wenn er ein Silbermond-Druide wäre, der sich per Teleportation innerhalb eines Augenblicks um Tausende von Kilometern versetzen konnte, hätte Leo nardo das schon bei der ersten Begegnung gespürt. Das Amulett schien sich abzuschirmen. Es war nicht mehr zu orten. Leonardo mußte es also anders anfassen. Es gab überall auf der Welt niedere Geister, die man sich dienstbar machen konnte. Der Dämon rief einige von ihnen hier zusammen. Und er befahl ihnen, nach einem Mann Ausschau zu halten, der ein Amulett besaß, wie er es ihnen beschrieb. Sie schwärmten aus. Der Fürst der Finsternis wußte, daß er so am ehe sten Erfolg haben würde. Die Geister waren schnell, und ihnen entging nichts. Jetzt brauchte er nur noch abzuwarten.
� Rob Tendyke war mit seiner Hausdurchsuchung noch nicht weit gekom men, als Zamorra in Begleitung eines nicht gerade vertrauenerweckend aussehenden Mannes auftauchte. Sie hatten den Hintereingang benutzt. Der Mann, den Tendyke als einen der Typen aus der ersten aufgesuchten Kellerkneipe wiedererkannte, machte einen ziemlich geistesabwesenden Eindruck. »Hast du ihn hypnotisiert?« fragte Tendyke. Zamorra nickte. »Er und noch zwei weitere Figuren haben mich drau ßen vor der Tür weggeschnappt. Ich konnte sie dann ausschalten.« Mit wenigen Worten berichtete er von dem Vorfall und auch von dem, was Cimy ihm unter Hypnose erzählt hatte. »Der Negerjunge als Informant«, sagte Tendyke kopfschüttelnd. »Ha be ich dich nicht gewarnt? Hättest du die beiden Schlägerknaben nicht
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verscheucht, wäre der Junge nicht auf dich aufmerksam geworden. Er hätte die Sache schon überlebt . . . aber jetzt haben wir den Ärger.« »Und die Spur zu Ombre«, sagte Zamorra. Er wies auf Cimy. »Er zeigt uns den Weg zu seinem Boß, und der wiederum kennt Ombre.« »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß das alles klappt«, sagte Tendyke. »Immerhin hat Cimy mich bereits hierher zurückgebracht. Da er den Auftrag hat, mich zum Boß zu führen, muß der Drahtzieher der Aktion sich also in diesem Haus befinden.« »Bloß habe ich außer einer Falltür ohne erkennbaren Auslösemecha nismus noch nichts gefunden«, wehrte Tendyke ab. Er erzählte jetzt sei nerseits. »Wenn ich nur wüßte, was dieses Versteckspiel soll«, schloß er. »Die schrägen Vögel hätten jetzt schon dreimal Gelegenheit gehabt, mich er neut zu überfallen. Aber nichts dergleichen ist passiert. Ich komme mir langsam vor wie ein Hanswurst.« »Jeder, wie er’s kann«, sagte jemand. Tendyke und Zamorra zuckten zusammen. Praktisch aus dem Nichts war ein Mann mittleren Alters aufgetaucht. Er stand da, wo sich die Fall tür befand, auf die in den letzten Minuten keiner der beiden Freunde ge achtet hatte. Nadelstreifenhose, ein gelbes, bis zum Nabel offenstehen des Rüschenhemd, glatt zurückgekämmtes schwarzes Haar und etwas wulstige Lippen, die negroiden Einschlag verrieten. Dazu jede Menge wuchtiger goldener Ringe, mit Brillanten besetzt, an den Fingern. Tendyke pfiff durch die Zähne. »Ihr Falltürchen ist wirklich schnell, Mister«, gestand er. »Wie machen Sie das, nach der rasenden Aufwärtsfahrt so gerade und ruhig dazuste hen?« »Mein Geheimnis. Ein paar Geheimnisse sollte jeder Mensch haben, finden Sie nicht auch? Hallo, Cimy, du Verräter.« »Ich habe ihn gezwungen«, sagte Zamorra. »Er konnte nicht anders. Er ist hypnotisiert.« »Ich weiß. Fürchten Sie, ich würde ihn dafür umbringen, daß er Sie hergebracht hat?« Zamorra hob die Brauen. »Die Wahrheit liegt stets im Verstand des Fragenden«, gab er zurück. »Sie sind der Boß, zu dem Cimy mich führen sollte, nehme ich an.« »Erraten. Ich denke, wir können uns zivilisiert unterhalten, ja? Aus Ihren Äußerungen Ihrem Komplizen gegenüber entnehme ich, daß Sie
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wissen, weshalb ich Sie kassieren ließ. Okay, Sie wissen Bescheid. Also können Sie mir dieses silberne Schmuckstück geben.« Zamorra tippte sich an die Stirn. »Kommt gar nicht in Frage.« »Ich werde sie nicht zu l’ombre führen. Diesen kleinen Dienst werde nämlich ich ihm leisten, nicht Sie.« »Ihm das Amulett zu geben?« Der Dandy nickte. »Genau. Sie sind fremd hier. Ich lasse Ihnen die Wahl. Entweder erfüllen sie meinen Wunsch und verlassen Baton Rouge lebend, oder ich nehme Ihrer Leiche das Amulett ab und gebe es l’ombre zurück.« »Sie sollten die dritte Möglichkeit in Betracht ziehen, Mister Namen los«, schlug Zamorra vor. »Ich habe kein Interesse, mir Ihr Geschwafel anzuhören. Ich diskutiere nicht. Ich befehle. Sie werden sich damit abfinden müssen.« »Und wenn wir nicht gehorchen, holen Sie Ihre drei Gorillas wieder aus dem Keller, wie?« spöttelte Tendyke. Der Dandy zuckte mit den Schultern. Er sah wieder Zamorra an und streckte die Hand aus. »Was versprechen Sie sich eigentlich von diesem kleinen Freund schaftsdienst Ombre gegenüber?« wollte der Parapsychologe wissen. »Sind Sie auf Ombre angewiesen? Brauchen Sie seine Hilfe, wollen Sie ihn sich verpflichten?« »Es könnte so sein. Er wäre mir dankbar«, sagte der Dandy. »Darf ich jetzt bitten?« Zamorra schüttelte den Kopf. Er suchte nach einer Chance, auch den Mann im Rüschenhemd unter hypnotische Kontrolle zu bekommen. Bei Cimy hatte er leichtes Spiel gehabt, der Mann war im Aufwachen aus seiner Betäubung viel zu benommen gewesen, als daß er überhaupt mit bekommen hätte, was ihm widerfuhr. Aber der Dandy wußte Bescheid. Und er war wachsam und konzentriert. Vielleicht gehörte er sogar zu den Menschen, die grundsätzlich nicht zu hypnotisieren waren. Zamorra hatte es jedenfalls versucht, sobald Tendyke den Dandy ablenkte, aber es war ihm nicht gelungen. »Gut. Sie hatten Ihre Chance, toter Mann«, sagte der Dandy und schnipste mit den Fingern. Eine Kamera, deren Objektiv nicht zu sehen war, mußte die Szene in den Kontrollraum unter der Bar übertragen. Dort reagierte man.
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Diesmal war zu sehen, wie der Boden der Falltür blitzschnell weg klappte und auf einer Art Plattform drei Gestalten hochkatapuliert wur den. Während ihre Plattform wieder wegglitt, schob sich der Boden, auf den die hochgeworfenen Männer wieder prallten, unter sie. Es dauerte gerade eine Sekunde. Es mußte eine Menge Training dazugehören. Aber die drei Männer aus der Tiefe beherrschten diesen Vorgang ebenso wie ihr Boß. Es waren der Keeper und die beiden »Gäste«, die Tendyke vorhin schon kennengelernt hatte. Alle drei hielten großkalibrige Pistolen in den Händen. »Knallt sie ab!« befahl der Dandy . . .
� Leonardo deMontagne hatte nicht mit einem so schnellen Erfolg gerech net. Schon kurz nachdem er die Hilfsgeister, Irrwische und dergleichen mehr ausgesandt hatte, kehrte einer von ihnen bereits mit einer Erfolgs meldung zurück. »Herr«, zwitscherte er unterwürfig. »Ich sah den Mann, der eine Sil berscheibe trägt wie die, die Ihr beschrieben habt. Er befindet sich im Gebiet des Hafens, ganz in der Nähe.« »Du bist sicher?« Leonardo war aufgesprungen. Seine Augen glühten intensiver. Begie rig starrte er den wesenlosen Schemen an, der vor ihm auf und nieder tanzte, unsichtbar für menschliche Augen. »Ganz sicher, Herr. Ich konnte die Silberscheibe deutlich sehen. Er trägt sie vor der Brust. Er stieg aus einem Auto, aber er war nicht allein.« Das spielte für Leonardo keine Rolle. Er wurde mit jedem Menschen fertig. Gefährlich würde allenfalls der Amulettträger sein. »Führe mich dorthin!« befahl der Dämon. »Sofort!« »So folgt mir, Herr. Es ist nicht weit.« Der Hilfsgeist wirbelte, heftig hin und her zuckend, vor Leonardo her, fort aus dem Lagerbereich am Hafenrand und in belebteres Gebiet. Jetzt, in den Mittagstunden, war der Autoverkehr auch im Bereich der an den Hafen angrenzenden Straßen stärker geworden, mehr Menschen eilten hin und her. Aus offenen Fenstern drang Musiklärm. Leonardo hatte sein Äußeres verändert. Der Hilfsgeist war unsichtbar für die Menschen, aber der Dämon selbst wollte nicht zu sehr auffallen.
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Er war auf normale Größe geschrumpft und trug jetzt dunkle Alltags kleidung. So konnte er sich durch die Straßen bewegen, ohne daß sich jemand an ihn erinnern würde. Diesmal würde ihm der Mann mit dem Amulett nicht entkommen.
� Yves Cascal ließ sich treiben. Er achtete nicht darauf, wohin er ging – er kannte hier ohnehin jede Gasse und jeden Winkel. Das Amulett lenkte ihn. Wenn er eine falsche Richtung einschlug, ließ es in ihm das Gefühl entstehen, daß er sich von seinem Ziel entfernte, statt ihm näher zu kom men. Schließlich erreichte er eine der Gaststätten, die auch vormittags und mittags geöffnet hatten. Ein Lieferwagen stand am Straßenrand vor der Tür. Der Schatten sah auf dem Beifahrersitz einen offenbar schlafenden Mann. Mehr konnte er darin nicht erkennen. Er betrachtete die Hausfassade und hatte das Gefühl, daß er hier ei gentlich eintreten sollte. Sollte der Unheimliche sich in diesem Haus befinden? Yves Cascal preßte die Lippen zusammen, bis sie wie ein schmaler Strich wirkten. Er berührte den Türgriff. Aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie war abgeschlossen . . . Der Schatten nickte langsam. Es war nicht normal, daß diese Kneipe jetzt geschlossen war. Also hatte ihn das Amulett wohl richtig gelenkt. Daß hier etwas nicht stimmte, war mit Sicherheit auf die Anwesenheit des Unheimlichen zurückzuführen. Denn Bandenkriege gab es momen tan hier nicht, und es war ihm auch nicht bekannt, daß Polizei oder Ord nungsamt dieses Lokal bis auf weiteres geschlossen hätten. Solche Dinge sprachen sich innerhalb kürzester Zeit herum. Cascal umrundete das Haus, das durch schmale Ritzen von den Nach bargebäuden getrennt war. Er huschte vorsichtig hindurch; nichts eignet sich mehr für eine Falle als ein enger Durchgang. Aber niemand bedroh te ihn. Er fand den Hinterhof und den Hintereingang. Die Tür stand eine Handbreit offen. Eine Einladung . . . Aber der Schatten war noch nie in eine Falle gegangen. Das hier sah geradezu danach aus, als würde jemand dahinter auf ihn warten. Nicht mit mir, dachte Cascal. Er sah an der Hauswand hinauf. Oben gab es
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ein paar Fenster, aber selbst im ersten Stock waren sie vergittert. Keine Chance, dort hineinzugelangen. Also kehrte er wieder nach vorn, zur Straße, zurück. Vor der abge schlossenen Kneipentür blieb er stehen. Das Schloß bereitete ihm keine großen Schwierigkeiten. Er hatte es schon mit viel komplizierteren Sy stemen zu tun gehabt. Innerhalb von dreißig Sekunden hatte der Schat ten die Tür lautlos geöffnet und trat ebenso lautlos ein. Er hörte Stimmen und sah Menschen, aber er wurde selbst nicht gese hen. Er verharrte. Keiner der drei Anwesenden achtete auf ihn. Da war ein Mann, der wie ein Filmcowboy gekleidet war, und da war der andere, vor dessen Brust das Amulett hing, das dem Cascals so ähnlich sah. Was den Schatten verwirrte, war, daß er die Ausstrahlung von Bös artigkeit hier nicht wahrnehmen konnte, die er damals auf der Lichtung und vorhin an seinem Versteck gespürt hatte. Warum fehlte sie plötzlich? Irgend etwas war hier nicht richtig. Cascal hörte die letzten Worte der Unterhaltung zwischen den beiden nebeneinander stehenden Männern und dem Paradiesvogel im gelben Rüschenhemd mit. »Was versprechen Sie sich eigentlich von diesem kleinen Freund schaftsdienst Ombre gegenüber?« fragte der Mann mit dem Amulett. »Sind Sie auf Ombre angewiesen? Brauchen Sie seine Hilfe, wollen Sie ihn sich verpflichten?« »Es könnte so sein. Er wäre mir dankbar. Darf ich jetzt bitten?« Yves preßte die Lippen zusammen. Es ging um ihn! Niemand sonst in Baton Rouge, in ganz Louisiana wohl, wurde Ombre genannt. Was bedeutete das? »Gut. Sie hatten Ihre Chance, toter Mann.« Ein Fingerschnipsen. Dann tauchten drei Bewaffnete aus der Falltür auf. Cascal grinste nicht einmal. Er kannte die Falltür, er kannte auch die Räume darunter, ohne daß der Besitzer das wußte. Aber die Situation war zu ernst . . . »Knallt sie ab!« Da trat Cascal aus seiner Sichtdeckung heraus. »Ich denke, daß ihr damit noch ein wenig warten solltet, Rooster«, sagte er scharf. »Erst mal will ich wissen, was hier gespielt wird.«
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Die drei Pistolenmänner wirbelten herum. Die Mündungen ihrer Waffen kreiselten in Richtung des Neuankömmlings. Im gleichen Moment flogen Tendykes Hände empor. Er machte einen Schritt zurück und richtete seine Smith & Wesson im Beidhandanschlag auf den Dandy. »Bleibt alle ganz friedlich, oder euer Boß ist tot!« Automatisch hob der Mann im Rüschenhemd die Hände. Er lächelte dünnlippig. »Glaubst du im ernst, daß du eine Chance hättest, Mister?« fragte er spöttisch. »Du kannst mich erschießen, aber danach tragen sie dich trotzdem als Sieb nach draußen.« »Gehst du das Risiko ein, Freundchen?« knurrte der Abenteurer. Er ließ den Dandy nicht aus den Augen. Zamorra betrachtete derweil den Ankömmling, der die Unruhe ver ursacht hatte. Ein jung aussehender Neger in Jeans, Turnschuhen und offenem Hemd – und vor seiner Brust sah Zamorra das Gegenstück zu Merlins Stern. »Monsieur Ombre?« fragte er leise. Der Neger hob die Brauen. »Ja«, sagte er. Er starrte Zamorra durch dringend an, versuchte ihn abzuschätzen. Zamorra fühlte, wie schnel le Impulse zwischen den beiden Amuletten gewechselt wurden, aber er konnte nicht erfassen, was da an Informationen ausgetauscht wurde – wenn es das überhaupt war. »Warum verfolgst du mich, Fremder?« fragte Ombre. »Warum stellst du mir immer nach? Warum versuchst du mich ständig umzubringen?« Er tastete nach seinem Amulett, daß schwach leuchtete. »Umbringen? Ich verstehe nicht?« sagte Zamorra. »Ich begreife jetzt auch nichts mehr«, entfuhr es dem Dandy. »Du hast dein Amulett ja noch, Ombre! Aber wieso kann dieser Kerl ein Duplikat davon haben . . . ?« »Dafür beginne ich zu verstehen, Rooster«, sagte Ombre kühl. »Du hast wohl geglaubt, du könntest es ihm abnehmen und mir zum Kauf anbieten, wie?« »Nein! Ich dachte, er hätte es dir gestohlen, und wollte es dir zurück geben«, verteidigte sich Rooster, der Dandy. Cascal schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es mir jemals gestohlen werden könnte, glaubst du doch wohl, daß ich es mir jederzeit selbst zurückholen würde. Ich brauche
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deine recht zweifelhaften Dienste nicht. Ich kenne dich, Rooster. Aber deine Tricks kommen bei mir nicht an.« »Steckt die Kanonen ein, Jungs«, sagte Rooster. »Die Sache ist geklärt. Zum Teufel damit.« Zögernd ließen die Männer ihre Pistolen sinken, der Keeper steckte sich seine Waffe hinter den Hosenbund. Rooster deutete auf den weit im Hintergrund stehenden Cimy. »Wie wäre es, wenn Sie die Hypnose endlich von ihm nehmen würden Mister?« »Gleich«, sagte Zamorra. »Gleich, Rooster.« Auch Tendyke entspannte sich jetzt langsam und senkte die Hände mit der Waffe. Er starrte Cascal an. »Ihre Beschreibung war sehr gut, Ombre«, sagte er. »Wer sind Sie?« »Tendyke. Sie haben vor kurzem eine junge Chinesin nach Florida ge bracht, in mein Haus. Sie erinnern sich?« »An Sie nicht, Tendyke. Sagen Sie Ihren Spruch auf und verschwinden Sie. Ich habe nichts mit Ihnen zu tun.« Cascal wandte sich Zamorra zu. »Aber mit dir, mein Bester, habe ich zu reden. Wer bist du wirklich, großer schwarzer Vogel?« »Drücken Sie sich deutlicher aus, Ombre«, bat Zamorra. »Ich habe das dumpfe Gefühl, daß wir aneinander vorbeireden. Ich sehe Sie zum ersten Mal.« »Ach.« Cascal legte den Kopf schräg. Er lächelte spöttisch. »Faszinie rend. Du hast nicht unten auf der Lichtung im Sumpfwald einen Asiaten getötet? Du bist nicht feuerumhüllt im Nichts verschwunden? Du hast nicht vor knapp einer Stunde eine Hütte im Wald ausgeräuchert? Nein?« »Nein«, sagte Zamorra. Er begann einen Hauch der Wahrheit zu ah nen. »Er hält dich für Leonardo«, sagte Tendyke leise. »Das darf nicht wahr sein. Das verdammte Amulett . . .« Zamorra nickte. »Ich habe damit nichts zu tun«, sagte er. »Sie reden von einer anderen Person.« Cascal lachte leise auf. »Daß es eine Kopie meines Amulettes gibt, muß ich akzeptieren, weil ich sie hier deutlich vor mir sehe«, sagte er. »Aber daß es noch mehr davon gibt, kaufe ich dir nicht ab. Allerdings stelle ich fest, daß sich innerhalb der letzten Stunde etwas an dir verändert hat.«
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»Vorsicht«, warnte Tendyke. »Wenn er vor einer Stunde Leonardo be gegnet ist, heißt das, daß der Dämon in der Nähe sein muß. Du . . .« In diesem Moment spürte Zamorra, wie Merlins Stern sich erwärmte. Es ging rasend schnell. Das Amulett vor Ombres Brust leuchtete hell auf. Silberweiße Flam men umspielten die Scheibe. »Vorsicht!« schrie der Dämonenjäger. Rooster verzog das Gesicht. »Was wird hier eigentlich gespielt, zum Teufel?« schrie er. Da war der Teufel da!
� Der Dämon hatte das Haus ebenfalls erreicht. Der Lieferwagen, den der Hilfsgeist erwähnt hatte, stand da. Leonardo deMontagne wies den Geist an, vor ihm das Haus zu betreten, und folgte ihm dann. Er war gespannt darauf, wie der Amulettträger auf seine Entdeckung reagieren würde. Leonardo wollte ihm erst gar keine Chance geben, sich zur Wehr zu setzen. Lange genug hatte er sich mit diesem Menschen herumgeärgert, zu viel Zeit und Kraft verschwendet. Er würde ihn töten und sein Amulett an sich nehmen. Während er durch die Tür schritt, dem Geist folgend, konzentrierte er sich bereits auf sein Vorhaben, sammelte die vorhin beim Ritualmord aufgenommene Kraft, um sie mit der Energie seines eigenen Amulettes sofort abzustrahlen. Er sah Menschen. Vier, fünf, sieben – acht. Zwei davon kannte er, wie er mit jähem Erschrecken feststellen mußte. Da war dieser seltsame Abenteurer, den er noch nicht völlig durchschau te, und da war – »Zamorra!« brüllte er überrascht. »Mein Feind!« Die Gedanken fuhren in seinem teuflischen Gehirn Karussell. Zamorra hatte er hier nicht erwartet. War das etwa eine Falle, die ihm gestellt worden war? War es Zamorras Amulett gewesen, das er angepeilt hatte? War es Zamorra gewesen, den der Hilfsgeist gesehen hatte? Den Neger registrierte er in diesem Moment nur am Rande, nahm ihn überhaupt nicht wahr. Zamorra nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Blitzschnell mußte er sich auf die neue Situation einstellen.
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Er verlor ein paar wertvolle Sekunden. Da glühte Zamorras Amulett auf. Grünes Licht floß aus der Silberscheibe, begann Zamorra einzuhül len. Er baute seinen magischen Schutzschirm auf! Da endlich reagierte Leonardo deMontagne. Er schaltete Zamorras Amulett ab. Auch nach so langer Zeit hatte er immer noch genügend Einfluß auf Merlins Stern. Und er war der einzige, der es so nachhaltig blockieren konnte, daß Zamorra anschließend Stunden oder Tage brauchte, um es wieder zu aktivieren. Jäh erlosch Merlins Stern. Der grünleuchtende Schutzfilm um den Dä monenjäger verschwand augenblicklich wieder. Tendyke fuhr herum und schoß. Die Detonationen krachten überlaut in der Gaststube. Orangerote Mündungsblitze flammten auf, stießen Kugeln in Leonardo deMontagnes Dämonenkörper. Da setzte der Dämon seine ganze angestaute schwarzmagische Kraft gegen den in diesem Augenblick hilflosen Zamorra ein! Eine Feuerlohe brach aus seinen Händen und jagte auf Zamorra zu, um ihn niederzu brennen. Jetzt oder nie . . . Und der Fürst der Finsternis brüllte dabei seinen Triumph darüber hinaus, den verhaßten Feind endlich wehrlos zu erwischen und nieder machen zu können!
� Yves Cascal beobachtete fasziniert. Sein Amulett wurde warm, wurde heiß, und in diesem Moment spürte er auch wieder die bösartige Au ra. Da wußte er, daß es tatsächlich noch mindestens ein drittes dieser Amulette gab. Der Unheimliche, der seine Gestalt verändern konnte, war nicht mit diesem Mann hier identisch. Der Unheimliche kam! Und er griff sofort an. Um den Körper des anderen Mannes floß jetzt grünes Licht, verlosch wieder – und dann raste eine brüllende Feuerlohe aus den Händen des Unheimlichen, der selbst noch lauter brüllte. Die Zeit schien stillzustehen. Wie damals! dachte Cascal, der Schatten. Wie auf der Lichtung, als der Mongole verbrannte!
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Tendyke schoß. Die drei anderen Pistolenhelden zogen ebenfalls ihre Waffen, waren aber zu verwirrt, um die ungewöhnliche Situation zu be greifen. Mit weit aufgerissenen Augen standen sie da und wußten nicht, wessen Partei sie ergreifen sollten. Es ging auch alles viel zu schnell. Yves wußte selbst nicht, was er tat. Er gab sich einfach einem zwin genden Impuls hin. War es das Amulett, das ihn lenkte? Warum sonst sollte er so handeln, wie er es jetzt tat? Er hätte närrisch sein müssen, selbstmörderisch . . . Er sprang! Genau in die Feuerlohe hinein, und dann raste ein silberner, schenkel starker Lichtstrahl aus seinem eigenen Amulett auf den Unheimlichen zu. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war der ganze Raum nur noch ein Inferno. Das Triumphgebrüll wurde zum schmerzerfüllten Aufschrei. Wie damals! Der Unheimliche spie eine Klapperschlange aus seinem weit aufgeris senen Rachen, der Ungeheuerzüge annahm. Die Schlange flog beißend auf Cascal zu. Der duckte sich. Die Schlange verbiß sich in dem hinter ihm stehenden Mann. In diesem Moment floh der Dämon. Inmitten des Feuers stank es bestialisch nach Schwefel, als er im Nichts verschwand. Aus den Augenwinkeln erkannte Cascal einen im Zickzack durch die Gaststube rasenden Kugelblitz, der Gardinen und Tischdecken in Brand setzte, Fensterscheiben und Vitrinenglas zerplatzen ließ. Dann verglühte er zu einem Aschefleck an der Wand. Der Dandy riß sich die Schlange vom Oberarm und schleuderte sie in die Flammen. »Feuer!« schrie Rooster. »Raus hier, schnell! Hilfe!« Sie stürmten nach draußen. Jemand riß den willenlosen Cimy mit sich ins Freie. Flammen schlugen durch die offenstehende Tür hinter ihnen her auf die Straße. Das Glühen von Cascals Amulett war erloschen. Es war wieder eine kühle Schmuckscheibe, mehr nicht.
� Er war geflohen. Abermals hatte er der Kraft des anderen Amuletts weichen müssen. Ohnmächtiger Zorn tobte in Leonardo deMontagne. Der Schlag, der ihm
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versetzt worden war, war diesmal noch stärker gewesen als damals auf der Lichtung. Und das, obgleich er sich vorher noch gestärkt hatte! Der Fürst der Finsternis zitterte. Er kauerte am Ufer eines Bayous, irgendwo im Süden Louisianas. Wei ter hatte er es bei seiner Flucht nicht geschafft. Er hatte die höllischen Sphären nicht mehr erreicht. Sein Amulett pulsierte, glühte. Etwas in ihm tobte, nicht minder wü tend als Leonardo selbst. Wut und Zorn über die neuerliche Niederlage. Darüber, daß es abermals nicht gelungen war, Zamorra zu vernichten, weil sich dieser Neger dazwischengeworfen hatte. Zum zweiten Mal hat te er sich offen gegen den Fürsten der Finsternis gestellt. Ein neuer, starker Feind . . . Eine Verstärkung für die Zamorra-Crew! Das hatte dem Dämonenfürsten gerade noch gefehlt. Zamorra und seine Mitstreiter waren wie die Hydra der griechischen Sage. Wenn man einen von ihnen erschlug, tauchten zwei neue auf . . . Leonardo erhob sich. Er schwankte, war geschwächt. Narr! tobte die Stimme aus dem Amulett. Das wäre nicht nötig gewe sen! Du bist in den Raum gestürmt wie ein hirnloser Tölpel! Du hättest dich erst vergewissern müssen, mit wem du es in Wirklichkeit zu tun hattest! »Halts Maul«, fauchte der Dämon grob. »Du hättest mich warnen kön nen. Du hattest immerhin bessere Möglichkeiten, festzustellen, was los war! Es war eine Falle, in die ich geriet! Vielleicht – warst du daran gar nicht so unbeteiligt!« Wahnsinniger! ich wäre fast ebenfalls vernichtet worden! Leonardo deMontagne lachte bitterböse. »Das soll dir eine Lehre sein – fürs nächste Mal«, zischte er. »Dann wirst du mich lieber rechtzeitig warnen!« Das Amulett antwortete nicht mehr. Vielleicht hatte es keine Argumen te mehr, vielleicht brauchte es selbst Erholung. Der Dämon wußte es nicht. Er wußte nur, daß er abermals eine Niederlage hinnehmen mußte. Wenn andere Dämonen davon erfuhren, sank sein Einfluß weiter. Leo nardos Groll auf Zamorra und den neuen Gegner wuchs immer weiter. Wenn es ihm wenigstens gelungen wäre, ihn mit der Giftschlange zu tö ten, die er sich für einen solchen Notfall aufbewahrt hatte! Aber er hatte den Falschen getroffen. Die Klapperschlange hatte den Amulettträger verfehlt . . .
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Mühsam und verbittert machte der Fürst der Finsternis sich auf den langen Weg zurück zur Hölle. Niederlagen zu verkraften, fiel ihm von Mal zu Mal schwerer . . .
� Sie starrten in die Flammen, die aus dem Gebäude emporschossen. Feu erwehrwagen füllten die Straße aus. Armdicke Wasserstrahlen zischten in das aufbrausende Feuer, versuchten es zu löschen. Aber es hatte sich so blitzartig und intensiv ausgebreitet, daß wohl nicht mehr viel zu ret ten war. Deshalb konzentrierten die Männer der Feuerwehr sich auch darauf, die umliegenden Häuser vor einem Übergreifen des Brandes zu schützen. Zamorra hatte Cimy aus der Hypnose geweckt. Der Mann hatte keine Erinnerung an das, was geschehen war. Er war maßlos verblüfft, eben noch im Lieferwagen gewesen zu sein und sich jetzt auf der Straße vor dem brennenden Haus wiederzufinden, zwischen Schaulustigen, die den Feuerwehrleuten die Arbeit zusätzlich erschwerten, weil sie überall im Wege herumstanden. Rooster war mit einem Krankenwagen fortgebracht worden. Vermut lich würde er den Biß der Klapperschlange überleben – falls die im Bauch des Dämons nicht schwarzmagisch aufgeladen worden war und ihr Gift sich demzufolge verändert hatte. Aber das würde die Zukunft weisen. Yves Cascal war verschwunden. »Du kannst dich beruhigen, Rob«, versuchte Zamorra den darüber ver ärgerten Abenteurer zu besänftigen. »Wir haben ja trotzdem Erfolg ge habt.« »Erfolg? Nennst du das einen Erfolg? Leonardo ist wieder mal davon gekommen, und diesen Ombre können wir wieder von neuem zu suchen beginnen. Und der wird sich jetzt noch bedeckter halten als zuvor . . .« Zamorra schüttelte den Kopf. »Ich bin mir da nicht sicher«, sagte er. »Weiß der Teufel, woher er das Amulett hat, aber ich werde den Eindruck nicht los, daß er damit ein wenig überfordert ist – momentan wenigstens. Ich glaube, er kann es gar nicht richtig nutzen.« »Das sah aber gar nicht so aus, als er den Dämon angriff.« »Weißt du, wie es bei mir früher war, zu Anfang? Da übernahm das Ding hier«, er klopfte gegen das erloschene Amulett, »einfach selbst die
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Steuerung des Geschehens. Es griff Dämonenwesen an, ehe ich über haupt wußte, wie mir geschah. Erst später, als ich lernte, damit bes ser umzugehen, änderte sich das. Ich möchte behaupten, daß es diesem Monsieur Ombre ebenso geht wie mir damals. Er kann das Amulett noch nicht sehr lange besitzen.« »Sicher. Es ist ja noch nicht lange her, daß die Dynastie nahezu alle Amulette besaß und daß sie zerstreut wurden in Raum und Zeit . . .« Zamorra nickte. »Außerdem haben wir noch etwas gelernt«, fuhr er ruhig fort. »Dieser Ombre hat sich gegen Leonardo gewandt, steht also zumindest nicht auf seiner Seite, nicht auf der Seite der Hölle. Er hat mich gerettet, ist dir das klar? Wenn er sich nicht dazwischengeworfen hätte, wäre ich jetzt ein Klumpen Asche. So wie Wang Lee . . .« Tendyke verzog das Gesicht. »Der sah hinterher furchtbar aus«, ge stand er bedrückt. »Und dieses Amulett wird Ombre auch gegen dämonische Attacken schützen, wie mir scheint. Sollte er also damals in deinem Haus auch nur irgend etwas mitbekommen haben, wird man das Geheimnis ihm nicht entreißen können.« »Dein Wort in Merlins Ohr . . .« Zamorra lächelte. »Den Spruch hat Gryf doch sonst immer darauf . . . fällt dir nichts eigenes mehr ein?« Tendyke brummte etwas Unverständliches. »Dennoch sollten wir uns um diesen Burschen bemühen«, sagte er dann. »Er könnte wertvoll für uns werden . . .« Zamorra schüttelte den Kopf. »Ich versuche ein wenig, mich in seine Lage zu versetzen und ihn zu verstehen. Er hat sich zurückgezogen. Das hätte er eigentlich nicht tun müssen. Aber er wird erst einmal allein mit dem heutigen Erlebnis fertig werden wollen. Er muß das erst mal verkraften. Wir sollten das respektieren.« »Hm.« »Und zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen, wenn er – und wir auch – unsere Ruhe wiedergefunden haben. In ein paar Tagen, in ein paar Wochen . . . ich weiß es noch nicht. Und dann sollten wir es auch etwas geschickter anfangen. Vielleicht schaffen wir es sogar, ihn zu uns kommen zu lassen.« »Du bist ein hoffnungsloser Optimist, Zamorra. Ist dir das klar? Ich
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bin mir nicht sicher, ob ich dir zustimmen kann, aber ich denke drüber nach.« Zamorra legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dann laß uns hier verschwinden, ehe wir von den Mücken zerstochen, von der Feuerhitze gesotten und von der Zuschauermenge erdrückt wer den. Es gibt hier bestimmt ein nettes Café, in dem wir uns für ein paar Stunden niederlassen können . . . und dann schlage ich vor, daß wir Hei matkurs nehmen. Nicole wartet auf mich, die Zwillinge auf dich . . .« Tendyke nickte. »In Ordnung. Du darfst mich einladen«, sagte er trocken.
� Yves Cascal spürte, daß die unmittelbare Gefahr vorüber war. Er konnte sich wieder zu Hause sehen lassen, ohne die Geschwister oder andere Hausbewohner zu gefährden. Er dachte über die Ereignisse nach. Und über diesen Fremden, der Zamorra genannt wurde und der eben falls ein Amulett besaß – nur schien ihm das im Kampf gegen den Dämon nichts genützt zu haben. Aber Cascals Amulett hatte sie beide geschützt. Yves schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, wieso er sich in die Flam menbahn geworfen hatte. Er hatte einfach dem Impuls des Amuletts ge horcht. Er hätte sterben könne wie jener Asiate damals – oder nicht? Hatte das Amulett gewußt, daß ihm nichts gesehen würde? Er klopfte gegen die Silberscheibe. »Du bist mir aber inzwischen doch eine Menge Antworten schuldig«, sagte er leise. »Eine ganz verteufelte Menge.« Er hatte sich von diesem Zamorra und dem Mann namens Tendyke zurückgezogen. Zu einem späteren Zeitpunkt hoffte er den Kontakt er neuern zu können. Jetzt aber nicht. Irgendwie spürte er, daß sie versu chen würden, ihn für ihre Zwecke zu vereinnahmen – und das wollte er nicht. Er war immer ein Einzelgänger gewesen, hatte immer auf eigene Rechnung gearbeitet, und das sollte so bleiben. Der Dämon und Zamorra hatten sich gekannt. Sie waren bestimmt nicht zum ersten Mal aufeinan der gestoßen, und Yves war sicher, daß diese Zusammenstöße immer so turbulent und lebensgefährlich waren wie das Fiasko heute. Aber das – war nicht seine Welt . . .
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Und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, sein Amulett einschmelzen zu lassen. Aber das würde er nicht tun. Irgendwie hatte er sich an das verflixte Ding schon gewöhnt und kam nicht mehr von ihm los. Dieser vertrackte Stern der Rätsel . . .
ENDE