Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.447 � .447
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Wenn der � Katzenmann � kommt...
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Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.447 � .447
Frederic Collins �
Wenn der � Katzenmann � kommt… � 2 �
Über den Bergen der Cordillera Real hingen tiefe graue Wolken. Vor einer Stunde war der Himmel noch strahlend blau gewesen, hatte der goldene Schein der Sonne auf den Graten, Schroffen und Plateaus gelegen. Dann hatte Wind eingesetzt, der vom Pazifik herkam, über die Küstenkordilleren fegte, das Wasser des Titicacasees peitschte und Wolkengebirge vor sich her trieb. Yara Moreno hatte Angst. Der Wind hatte ihren Topfhut erfasst, ihn hochgewirbelt und ihn einen grotesken Tanz aufführen lassen, bis der alte Filz in einer Schlucht verschwand. »Dios mio… por todos los santos…!« betete Yara Moreno. »Warum habe ich nicht das getan, was der Padre gesagt hat! Ich werde sterben! Es wird so kommen, wie der Padre es prophezeite!« * Die grauen Wolken sanken tiefer, verfärbten sich, wurden fast schwarz und hüllten das junge Indiomädchen ein. Um sie herum war es so dunkel, als wäre es Nacht gewesen. Ihr Herz schlug wie rasend, die Furcht schnürte ihr die Kehle zusammen. Langsam sank sie in die Knie, faltete die Hände und betete. Ihre großen, etwas mandelförmigen Augen waren geschlossen. Während sie pausenlos Gebete murmelte, teilten sich hinter ihr die Wolken, zerriss der grauschwarze Vorhang. Der blaue Himmel wurde sichtbar, angestrahlt von der Nachmittagssonne. Doch die Helligkeit drang nicht bis zu dem Mädchen hin. Yara Moreno vernahm plötzlich – mitten in ihr Flehen und Beten hinein – eine Stimme. Eine Frau sprach zu ihr.
»Dreh dich um!« sagte die Stimme. � »Steh auf, sieh mich an und knie � dann vor mir!« � »Madre de Dios«, murmelte Yara, � »sie hat meine Gebete erhört!« � Es war ein Irrtum, wie sie Sekundenbruchteile später feststellen sollte. Die Stimme kam aus dem Maul einer riesigen Schlange. Kalte Augen starrten das Indiomädchen an. Yara sah die gespaltene Zunge, die weit aus dem Maul hervorzüngelte und fast ihr Gesicht erreichte. »We… wer bi… bist du?« stammelte das Mädchen. »Ich bin Pachamama! Knie nieder und hör, was ich dir zu sagen habe!« Yara Moreno spürte den inneren Zwang, dem Befehl nachzukommen. Sie war willenlos geworden, hatte sich der Erdgöttin unterworfen, die die Gestalt einer Schlange angenom3 �
men hatte. Sie sank auf die Knie, senkte den Blick und stützte sich mit den Händen auf dem steinernen Boden ab. »Ich habe dich auserwählt, mir und Illapa zu dienen«, sagte die Schlange. Die Stimme klang jetzt warm und einschmeichelnd. »Morgen ist die Nacht des Mondes! Und es wird die Nacht sein, in der Illapa und ich über Quilla triumphieren werden! Morgen um die gleiche Zeit wirst du wiederkommen und zwei andere Menschenkinder mitbringen. Mädchen wie du! Du kannst dich gegen diesen Befehl wehren, es wird dir nichts nützen! Steh wieder auf!« Gehorsam erhob sich Yara und öffnete die Augen. Die kalten Augen der riesigen Schlange hypnotisierten das Indiomädchen, das nun steif und starr dastand. Die Schlange hatte sich aufgerichtet, und Yara mußte den Kopf zurücklegen, um die Bestie ganz sehen zu können. Plötzlich hatte die Schlange einen zweiten Kopf. Yara Moreno glaubte zu träumen, aber das Bild blieb. Links war der Schlangenkopf, rechts der eines Jaguars. Das Mädchen sah die spitzen Zähne im geöffneten Maul, die drohend funkelnden Lichter der Raubkatze. »Ich bin Illapa«, kam es grollend aus dem Rachen des Jaguars. »Ich bin mit Pachamamas Wahl einverstanden. Du kannst jetzt in dein Dorf zurückkehren! Aber schweig über
das, was du hier erlebt hast! Wenn du auch nur ein Wort davon zu jemandem sagst, komme ich sofort und hole dich!« Und die Schlange fügte hinzu: »Er wird dich holen, und ich werde dein Dorf vernichten!« Kaum war das letzte Wort verklungen, als der Boden unter Yards Füßen zu wanken begann. Dumpfes Grollen war zu hören, die Berge ringsum schienen sich zu bewegen. Das Wasser des Titicacasees begann zu schäumen. Wellenberge türmten sich auf und überfluten an einigen Stellen die Ufer. Aus dem Maul des Jaguarkopfes zuckten mehrere Blitze, dann beendete ein schmetternder Donnerschlag den Spuk. Die Starre in Yara Moreno löste sich. Das Mädchen atmete tief durch und schlug ein Kreuz, sah sich ängstlich um. Mit dem Donnerschlag hatten sich die Wolken in Nichts aufgelöst. Über dem Indiomädchen stand strahlend blauer Himmel. Kein Lüftchen wehte, es war brütend heiß. Yara schüttelte den Kopf. Sie glaubte, das alles geträumt zu haben. Aber dann fielen ihr die Namen ein, die sie soeben gehört hatte: Pachamama… die Erdgöttin – Illapa… der Gewittergott. Und dann noch Quilla, die Mondgöttin und Gattin des Sonnengottes Inti. 4 �
Oft hatte Yara den Alten in Tipuani, ihrem Heimatdorf, zugehört, wenn sie über die alten Götter der Inkas sprachen. Daher kannte sie die Namen. Und sie wußte auch, was man sich über diese Götter erzählte. Daß die Inkas beispielsweise dem Sonnengott Jungfrauen geopfert hatten. Und daß man Männer und Frauen, die einen der Götter beleidigt hatten, lebendig den Jaguaren und Schlangen zum Fraß vorgeworfen hatte. Yara Moreno schüttelte sich, als sie an diese Schauergeschichten dachte. Oder waren es vielleicht gar keine Märchen, wie sie bisher geglaubt hatte? Und hatte sie eben nicht geträumt? Hatten die Schlange und der Jaguar wirklich zu ihr gesprochen? Eine innere Stimme meldete sich. »Geh ins Dorf! Und schweig! Tu das, was dir befohlen wurde!« Es war Yara plötzlich, als griffe eine eiskalte Hand nach ihr. Wie von Furien gehetzt, rannte sie davon. Hinter ihr erklang lautes Lachen, das als vielfaches Echo von den Bergwänden zurückgeworfen wurde. * »Venus, die Schaumgeborene, entsteigt dem feuchten Element!« Clint Bowen stand am Rande des Swimming-pools, streckte seine
Rechte aus und grinste jungenhaft. Sein Kompliment galt einer großen, schlanken Frau, die eben die Leiter emporkletterte, die ihr gereichte Hand ergriff und »Danke, Herkules!« sagte. Noch hatte sie nicht ausgesprochen, da segelte der mit Herkules titulierte, athletisch gebaute Mann kopfüber ins Wasser. Als er auftauchte, drang glockenhelles Lachen an sein Ohr. »Na warte, Mädchen!« rief er. »Das kostet eine Kleinigkeit!« Sie war inzwischen auf ihren langen Beinen zu der fahrbaren Hausbar gestakst, die neben einem Tisch und zwei Liegen auf dem Rasen stand. Als er zu ihr trat, reichte sie ihm ein Glas. »Hier, Clint! Dein geliebter Jack Daniel's! Ohne Soda mit zwei Eiswürfeln! Und nun verrate mir mal, warum du mich mit der guten alten Venus verwechselt hast!« Clint Bowen ließ seinen Blick an ihrer Figur hinabgleiten – über die hohen, festen Brüste, den flachen Bauch, die schwellenden Hüften, die gut proportionierten Schenkel und die untadeligen Beine. »Tja, weißt du, Shirl, Venus war nackt. Na ja, und du hast ja auch nicht gerade etwas Züchtiges an!« Er meinte ihren Tanga, der tatsächlich so winzig war, daß sie ihn genauso gut hätte weglassen können. »Mich mit der Venus zu verglei5 �
chen, ist eine Beleidigung«, sagte Shirl Randall. »Die Gute war nämlich alles andere als schlank, Clint!« Sie hatte ihren Bamoo Cocktail inzwischen fertig gemixt und hob ihm das Glas entgegen. »Frieden, Honey!« »Frieden, Baby«, feixte er. »Sei froh, daß ich nur eine Badehose anhabe und nicht meinen besten Anzug!« Das Telefon auf dem Tisch schlug an. Shirl seufzte. »Hoffentlich kein Klient! Heute ist Samstag!« »Richtig, Baby«, sagte Clint Bowen. »Unser Wochenende!« Shirl Randall hob den Hörer ab und meldete sich. Bowen blickte ihr ins Gesicht. Er kannte Shirl Randall gut genug, um in ihrem Gesicht lesen zu können. Schon der wechselnde Ausdruck in ihren Augen sagte ihm alles. Er seufzte. Dann, als ein Name fiel, wußte er es ganz genau. Das Wochenende fiel ins Wasser – zumindest würde es nicht so stattfinden, wie sie es geplant hatten. Traute Zweisamkeit in Shirls Bungalow in Santa Monica. Damit war's nun nichts mehr. Clint Bowen kannte den Anrufer: Professor Haskell von der American Parapsychology Foundation. Irgendwo auf der Welt brauchte man wieder einmal die Hilfe der Parapsychologin und Spezialistin für transzendentale Meditation und
astrale Projektion Shirl Randall. Er hatte sich nicht geirrt. Als Shirl den Hörer auf die Gabel zurücklegte, machte sie ein sehr nachdenkliches Gesicht. »Hallo, Baby!« riß er sie aus ihrem Grübeln. »Was beschäftigt dich? Untote, Dämonen, lebende Mumien, reitende Leichen… oder was?« »Ophiolatrie«, murmelte die junge Frau. »Ophi… was?« Sie hob den Blick, sah ihn an. Ihre grünen Augen waren etwas verschwommen. »Ophiolatrie ist religiöse Schlangenverehrung, Clint. Das war Haskell. Ich soll nach La Paz fliegen. Aber an Ophiolatrie glaube ich nicht. Nein, das muß etwas anderes sein.« Clint Bowen trat zu ihr, legte den Arm um ihre nackten Schultern und sagte leise: »La Paz, also Bolivien. Inkas… dein Spezialgebiet, Honey. Nun erzähl mal! Worum geht's? Und soll ich mitkommen?« Sie schmiegte sich an ihn. »Ja, das wäre vielleicht gut, Clint! In einem Dorf sind Mädchen verschwunden. Und Bewohner haben seltsame Beobachtungen gemacht. Die Regierung in La Paz hat sich an Haskell gewandt. Mit der Bitte um Hilfe. Die Polizei hat aufgegeben.« »Das ist alles? Mädchen verschwinden nicht nur in Bolivien, Shirl. Mehr weißt du nicht?« 6 �
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, mehr weiß ich nicht. Noch nicht, Clint. Aber denken kann ich mir so einiges. Du sagtest ja, Inkas wären mein Spezialgebiet. Sehr richtig. Und daher…« Seine Hand legte sich auf ihren Mund. »Nun mal langsam, Baby«, lachte er. »Das kannst du mir alles unterwegs erzählen. Wie ich dich kenne, verlierst du keine Zeit, dem schönen Kalifornien den Rücken zu kehren und auf Geisterjagd zu gehen.« Shirl Randall löste sich mit einer geschmeidigen Bewegung ihres schlanken Körpers von Clint Bowen. »Du hast es erfasst«, sagte sie. »Und während ich mich anziehe, darfst du den Flug für uns beide buchen. Wir werden entweder in Bogota oder in Caracas umsteigen müssen.« »Okay. Hoffentlich können wir nicht schon in einer halben Stunde fliegen, Baby. Ich möchte nämlich vorher noch nach Hause. Schließlich muß ich auch packen.« »Wir werden in La Paz nicht vor Montag erwartet, Meisterdetektiv! Heute wird ohnehin keine Maschine mehr gehen, zumindest nicht in unsere Richtung!« Shirl Randall irrte sich nicht. Sie konnten erst am Sonntag fliegen. So hatten sie den Abend und die Nacht noch für sich. Am Abend saßen sie auf der Terrasse bei einem kühlen Drink. Clint
Bowen war inzwischen in seiner Wohnung gewesen, hatte einige Sachen eingepackt, von denen er glaubte, daß er sie brauchen würde. Tropenkleidung wollten sie in La Paz kaufen. Der Privatdetektiv und die junge Wissenschaftlerin kannten sich noch nicht lange – nicht einmal ein halbes Jahr. Ihr Zusammentreffen war recht dramatisch gewesen und hatte dazu beigetragen, daß Clint fast an seinem Verstand gezweifelt hatte. Er war Detektiv, ein sehr guter und erfolgreicher. Ein nüchtern und logisch denkender Mann, der weder an Wunder noch an Geister und Ähnliches glaubte. Schon gar nicht an Untote. Bis er sich zwei Zombies gegenübersah und erschreckt wie verblüfft feststellen mußte, daß sein 44er Smith & Wesson Magnum wirkungslos war. Genauso gut hätte er mit einer Wasserpistole auf die beiden Untoten schießen können. Eine Stunde zuvor hatte er Lieutenant Barrett von der Los Angeles Police ausgelacht, als dieser vorgeschlagen hatte, Shirl Randall hinzuzuziehen. Seit Wochen befasste sich die Polizei mit der Aufklärung einer Mordserie. Der Vater eines der Opfer hatte Clint Bowen beauftragt, den oder die Mörder seiner Tochter aufzuspüren, weil die Polizeidetektive offensichtlich im Dunkeln tappten. 7 �
Lieutenant Barrett, der die Sonderkommission leitete und mit Bowen gut bekannt war, hatte nichts dagegen. Er gehörte zu den wenigen, anfangs skeptischen Detektiven, die von Shirl Randall davon überzeugt worden waren, daß es Zombies, Monster und Dämonen gibt. Und nur der Tatsache, daß Barrett Shirl Randall längst, wenn auch inoffiziell, hinzugezogen hatte, verdankte Clint sein Leben. Shirl erschien buchstäblich im letzten Moment, nachdem er die Trommeln seines schwerkalibrigen Revolvers auf die Zombies geleert hatte und sehen mußte, daß sie trotz der Einschüsse in ihren Körpern unbeirrt auf ihn zu marschierten. Clint Bowen hatte in Vietnam einiges erlebt und war so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen. Aber hier sträubten sich ihm doch die Haare und liefen kalte Schauer über seinen Rücken. Plötzlich war eine große, schlanke, blonde Frau aufgetaucht. Sie war ihm vorgekommen wie eine altindische Gewittergöttin, als es an ihrer rechten Seite jäh aufblitzte. Und dann erlebte er ein grausiges Schauspiel. Die beiden Zombies, gegen 44er Magnum-Geschosse immun, begannen sich aufzulösen, zerflossen förmlich, als wären sie aus Gummi. Übrig blieben zwei Häufchen Asche. Nach diesem Erlebnis lachte Clint
Bowen nicht mehr, wenn irgendwo die Sprache auf Geister und Dämonen kam. Er und Shirl trafen sich einige Male, und er konnte feststellen, daß sie nicht nur eine Kapazität auf dem weit gespannten Gebiet der Parapsychologie war, sondern auch eine leidenschaftliche Frau, die seine Gefühle in jeder Hinsicht erwiderte. Sie hatten viele Nächte miteinander verbracht – mal in seinem Penthouse, mal in ihrem Bungalow. Und sie hatten so manche Stunde miteinander diskutiert. Clint Bowen hatte sich überzeugen lassen und arbeitete nun mit ihr zusammen. In einigen Fällen, die durchaus irdischer Natur waren, hatte Shirl ihm geholfen, mit Hilfe transzendentaler Meditation. Ihr Lebenslauf war erstaunlich. Geboren war sie in Los Angeles, hatte das College besucht, später Psychologie studiert. Als ihre Eltern bei einem Unfall starben, brach sie das Studium aus finanziellen Gründen ab, lernte Maskenbildnerin und arbeitete nebenher als Stuntgirl in den Film- und TV-Studios von Hollywood. In einem Horrorfilm sollte sie für eine Hauptdarstellerin in einer gefährlichen Szene einspringen. Dabei bemerkte sie plötzlich, daß sie über gewisse Fähigkeiten verfügte. Sie brauchte ihren Part nicht zu spielen, sie erlebte ihn. Nur sie wußte, daß sich mit ihr eine Teilung 8 �
vollzog, daß sich der physische vom psychischen Körper löste. Shirl Randall wandte sich von diesem Tage an der Parapsychologie zu und wurde Spezialistin für transzendentale Meditation, für astrale Projektion und Bilokation. Sie entwickelte Methoden zur Bekämpfung von Untoten, Dämonen und Monstern aller Art. Ganz besonders aber interessierte sie sich für die Kultur der Inkas und Mayas. Mittels des Astralbandes war sie mehr als einmal ins Reich der Toten vorgedrungen und hatte Dinge erlebt, die sie einige Jahre zuvor für unmöglich gehalten hätte. Shirl Randall verzichtete keineswegs auf die moderne Technik. Sie hatte ja in Hollywood gearbeitet und als Stuntgirl mehrmals in SF-Filmen mitgewirkt. Für die Universal arbeiteten zwei Physiker, die die Waffen der Weltraumkämpfer entwickelten und dabei Erstaunliches schafften. Shirl ließ sich von ihnen eine Laserpistole herstellen. Dabei war ihr zugute gekommen, daß einer der beiden für die NASA gearbeitet hatte und einige technische Raffinessen kannte. Die Pistole arbeitete mit eigens für diesen Zweck entwickelten Knopfbatterien, deren Spannung so hoch war, daß der gebündelte Lichtstrahl mit ihrer Hilfe in der Lage war, das
härteste Metall zu durchtrennen, als wäre es nur Papier. Zombies und andere Wesen aus dem Reich der Toten und der Dämonenwelt waren gegen diese Waffe nicht gefeit. Selbstverständlich benutzte Shirl auch herkömmliche Waffen – wie Holzpflöcke oder Silberkugeln, die ein mexikanischer Padre in Pasadena in feierlicher Zeremonie weihte. Zu Shirls »Arbeitsgerät« gehörten auch ein Kruzifix und geweihte Amulette sowie eine Kette aus Bernsteinkugeln, die ihr ein Guru in San Francisco geschenkt hatte. Von ihm hatte sie auch gelernt, sich binnen von Sekundenbruchteilen in Trance zu versetzen. Der Guru hatte ihr dieses Geheimnis verraten, nachdem er erkannt hatte, über welch immense mediale Fähigkeiten Shirl Randall verfügte. Inzwischen war Shirl Randall in Fachkreisen so bekannt, daß man sie sehr oft zu Hilfe rief. Die American Parapsychology Foundation vermittelte sie in alle Welt. Wie auch jetzt, als das Verschwinden einiger Mädchen den Behörden in Bolivien Kopfzerbrechen bereitete. * Inspektor Benavides hatte geflucht wie ein alter Schafhirte im Gewitter, als man ihn nach Tipuani schickte. In den verdammten Bergen waren 9 �
drei Mädchen verschwunden! Na und, hatte er gedacht, deswegen braucht man doch nicht mich in dieses Bergnest zu schicken! Kommt ohnehin nichts dabei heraus. Er war erst vor zwei Monaten nach La Paz versetzt worden. Drei lange Jahre hatte er ein herrliches Leben in Oruro geführt, weit von der Hauptstadt entfernt. Und nun schickten sie ihn in eins dieser gottverlassenen Bergnester. Wahrscheinlich hatten die Mädchen das erbärmliche Leben satt gehabt und sich aus dem Staub gemacht, waren möglicherweise längst in La Paz untergetaucht. Inspektor Benavides Befürchtungen wurden weit übertroffen. Tipuani bot nicht die kleinste Annehmlichkeit. Ein Bergdorf, bestehend aus einem guten Dutzend elender Lehmhäuser, einem Gasthaus, in dem nicht einmal die Fliegen Nahrung fanden, und einer kleinen Kirche mit Pfarrhaus. Außerdem gab es eine Polizeistation – ein aus Bruchsteinen gemauertes Haus, in dem die beiden Polizisten mit ihren Familien wohnten. Dieses Haus stellte die einzige Verbindung zur Außenwelt dar, weil es auch eine kleine Funkstation beherbergte. Der Beamte aus La Paz hatte mit den beiden Polizisten, dem Padre und dem Bürgermeister gesprochen, aber das hatte nicht viel eingebracht. Die drei Mädchen waren eines Tages
von ihren Familien vermisst worden und nicht wieder aufgetaucht. Benavides war ein guter Kriminalist. In Oruro hatte er es mehr als einmal unter Beweis gestellt. Aber in den Bergen nordöstlich des Titicacasees versagten seine Künste. »Ich kann wohl einen Mordfall in La Paz aufklären«, erklärte er bei einer Besprechung mit den beiden Polizisten, dem Padre und dem Bürgermeister, »aber hier braucht man einen Fährtenleser – jemanden, der die verdammten Berge so gut kennt wie sich selbst.« Zwei Tage lang war er mit dem alten klapprigen Jeep der Polizeistation und den beiden Beamten herumgefahren, ohne auch nur die geringste Spur zu finden. Dabei hatte er erfahren, daß er noch Glück hatte, denn die Polizeistationen der anderen Bergdörfer besaßen nicht einmal ein Fahrzeug. Am dritten Tag hatte der Inspektor über Funk mit dem Polizeipräsidium in La Paz gesprochen und berichtet. Er hätte alles untersucht, aber nichts entdeckt. Fremde wären im Dorf und seiner Umgebung auch nicht gesehen worden, doch hielte sich unter den Bewohnern hartnäckig das Gerücht, Pachamama, die Erdgöttin, und Illapa, der Gewittergott, hätten die Mädchen zu sich geholt. Natürlich lachte der Inspektor darüber, machte sich lustig und erhielt 10 �
zu seiner Verblüffung von seinem Chef einen Anpfiff. Noch ehe er sich von seiner Überraschung erholt hatte, wurde ihm bedeutet, daß der Armeehubschrauber, der ihn nach Tipuani gebracht hätte, ihn wieder abholen würde. Dann sprach der Coronel mit Padre Martine Benavides, der den Priester beobachtete, grinste, als er sah, wie dieser das Gesicht verzog und mehrmals ein Kreuz schlug. »Na, Padre«, meinte der Inspektor, »Sie glauben auch nicht an Dämonen und Götter der alten Inkas, was?« »Der Herr behüte mich davor«, murmelte Padre Martino. »Sie schicken Spezialisten aus Amerika. Sagen Sie, Inspektor, was ist Coronel Toja für ein Mensch? Ein Verrückter? Wissen Sie, was er behauptete? Die drei Mädchen wären von dämonischen Göttern geholt worden. Und er meinte, wir würden sie nie wieder sehen.« »Was soll ich dazu sagen, Padre?« Benavides hütete sich, etwas gegen seinen Chef zu sagen. »Coronel Toja ist Polizeichef. Er hat immer recht. Lassen Sie die Spezialisten kommen. Sie werden auch nicht mehr finden als ich – nämlich gar nichts!« Padre Martino zuckte mit den Schultern. »Es kommt noch jemand, ein Professor von der Universität. Ich kenne seinen Namen, er ist ein berühmter Mann. Inkaforscher. Ich
vermag mir nur sehr schwer vorzustellen, daß Professor Rosqui an solchen heidnischen Kram glaubt?« »Wer weiß?« meinte Benavides vorsichtig. Er war froh, daß man ihn zurückbeordert hatte. La Paz bot eine Menge Annehmlichkeiten. Und außerdem wartete Jaquinetta auf ihn, seine Freundin. * Es war Yara Moreno nicht schwer gefallen, ihre beiden Freundinnen Dionisia Melos und Pilar Fuez zum Mitkommen zu überreden. Die drei Mädchen waren hübsch, gut gewachsen und dunkelhaarig. Sie waren zwar ärmlich, jedoch sauber gekleidet. »Was sollen wir denn auf der Mesa?« hatte Pilar Fuez gefragt. »Da ist doch nichts los. Ringsum kahle Felsen. Windig ist es auch. Und unheimlich.« »Ihr werdet es schon sehen. Lasst euch überraschen«, war Yaras Erwiderung gewesen. Sie war ruhig, spürte keine Angst wie tags zuvor. Darüber wunderte sie sich nicht einmal, obwohl sie an die Schlange und den Jaguar denken mußte. Yara konnte nicht wissen, daß sie sich im Banne Pachamamas und Illapas befand, deren Macht bis ins Dorf reichte. Dionisia Melos lachte. »Was soll uns auf der Mesa schon passieren, 11 �
Pilar? Gehen wir mit! Sieh mal den Himmel! Wolkenlos und windstill ist es auch. Die Sonne scheint. Ich bin neugierig!« »Habt ihr vergessen, was Padre Martino gesagt hat?« Pilar Fuez schüttelte den Kopf. »Es wäre gefährlich, allein durch die Berge zu streifen. Es gäbe dort…« »Ach was«, unterbrach Dionisia sie, »den Hirten passiert ja auch nichts, wenn sie mit den Ziegen und Schafen dort oben sind. Hast du etwa Angst?« Das hätte sie nicht sagen dürfen, denn damit verletzte sie Pilars Stolz. »Angst? Ich? Daß ich nicht lache. Gut, gut, ich komme mit!« Die anderen beiden Mädchen hätten besser auf Pilar gehört, viel Leid wäre ihnen erspart geblieben. * Niemand in Tipuani achtete auf die drei Mädchen, als sie das Dorf verließen. Gerade an diesem Nachmittag war es heißer als sonst, und wer nicht unbedingt außerhalb der Häuser etwas zu tun hatte, blieb drinnen. Die Luft war stickig, kein Lüftchen wehte. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise wehte in dieser Höhe stetiger kühler Wind. Yara und ihre Freundinnen hatten das Dorf hinter sich gelassen und stiegen nun über eine breite Felsterrasse hinauf zur Mesa – dorthin, wo
sich Yara am Tage zuvor den beiden alten Inka-Göttern in Schlangengestalt gegenüber gesehen hatte. Auf einem breiten Vorsprung legten die Mädchen eine Pause ein, denn das ständige Klettern strengte doch sehr an. »Ich möchte nur wissen, was für eine Überraschung uns erwartet«, maulte Pilar Fuez. »Ich gebe ja zu, daß ich neugierig bin. Denn was erleben wir schon in Tipuani? Nichts. Höchstens, daß alle zwei Jahre mal neue Polizisten kommen und die alten ablösen.« Sie hatte recht. Weder sie noch ihre Freundinnen waren jemals aus ihrem Dorf herausgekommen. Padre Martino hatte ihnen von den Städten erzählt, von La Paz, von Oruro und Potosi. Sie wussten auch, daß es weiter im Norden Bergwerke gab und daß in gar nicht allzu großer Entfernung eine Straße durch die Berge führte. Aber gesehen hatten sie nichts davon. Auch nicht von den fruchtbaren Tälern. Yara Moreno erhob sich. »Weiter!« sagte sie. Sie brauchten noch fast eine halbe Stunde, bis sie die Mesa erreicht hatten. Schwer atmend blieben sie stehen. Die Luft war dünn in dieser Höhe. »So. Nun sind wir da«, meinte Dionisia Melos. »Was jetzt?« Yara wollte schon antworten, doch sie kam nicht mehr dazu. Ihr blieb 12 �
das Wort buchstäblich im Halse stecken. Die Natur um sie herum veränderte sich schlagartig. Wolkengebirge wurden mit rasender Geschwindigkeit von Westen herangetrieben, man hörte das Pfeifen des Windes, in das sich dumpfes Donnergrollen mischte. Grauschwarze Wolkenfetzen senkten sich hernieder, hüllten die drei Mädchen ein. Pilar und Dionisia waren auf die Knie gesunken, schlugen ein Kreuz und begannen, laut zu beten. Yara Moreno stand neben ihnen, starr und steif wie eine Statue, den Blick auf die Felswand vor sich gerichtet, die von einem hohen Spalt durchzogen war. Der strahlende Tag war zur Nacht geworden. »Dios mio!« sagte Pilar laut. An der Felswand flammte es plötzlich auf. Lodernde gelbrote Flammen rahmten den Felsspalt ein, züngelten links und rechts hinauf, vereinigten sich in zehn Meter Höhe zu einem Feuerdom. Pilar und Dionisia schlugen die Hände vor das Gesicht. In ihren Ohren dröhnte und rauschte es. Und dann hörten sie die Stimme einer Frau. »Steht auf!« sagte sie. »Und seht her zu mir!« Gehorsam erhoben sich die beiden, nahmen die Hände herunter und blickten dorthin, von wo die Stimme
gekommen war. Das sich ihnen bietende Bild ließ sie erstarren. Eine riesige Schlinge ringelte sich vor ihnen, bäumte sich jetzt auf, bis der hässliche platte Kopf dicht vor den Gesichtern der Mädchen war. »Ich bin Pachamama!« Pilar und Dionisia waren unfähig, zu sprechen und sich zu bewegen. Die kalten, glitzernden Augen der riesigen Schlange starrten sie hypnotisierend an, nahmen ihnen jeglichen Willen. Yara erging es nicht anders. Und dann plötzlich ging mit der Schlange eine Verwandlung vor sich. Der Kopf teilte sich, verschwand für Sekunden hinter einer dichten dunklen Wolke. Ein heftiger Windstoß fuhr über die Mesa, ließ die Flammen am Felsspalt hell auflodern und zerfetzte die kleine schwarze Wolke. Der Schlangenleib hatte nun zwei Köpfe. Der rechte war der eines Jaguars. Der Rachen öffnete sich, heißer, stinkiger Atem fuhr Pilar und Dionisia entgegen. »Ich bin Illapa«, fauchte es. Die Schlange mit den beiden Köpfen setzte sich in Bewegung, glitt an den Mädchen vorbei. Yara, Dionisia und Pilar folgten ihr, einem unhörbaren Befehl gehorchend. Sie gingen mit staksigen Schritten wie Marionetten, mit steinernen Gesichtern und ohne sich umzusehen. 13 �
Pachamama und Illapa übermittelten ihre Befehle auf telepathischem Wege. Als die Mädchen vor dem von züngelnden Flammen eingefassten Felsspalt zögerten, drehte sich der Jaguarkopf um. Die grünen Augen glühten, die langen Reißzähne schimmerten weiß. Der Rachen war weit geöffnet. »Weiter!« Grollend kam es aus dem Maul der Bestie. Sie hatte nicht Spanisch gesprochen, sondern sich des Aimarä bedient, der Umgangssprache der Hochlandindianer. Gehorsam setzten die Mädchen ihren Weg fort, durchschritten die feurige Pforte, ohne Schaden zu nehmen. Sie spürten nicht einmal die glühende Hitze, tauchten gleich darauf in völlige Dunkelheit. Hinter ihnen schloß sich der Felsspalt, die Wolken über der Mesa zerrissen, der blaue Himmel und die noch immer mit aller Kraft scheinende Sonne wurden sichtbar. Yara, Dionisia und Pilar schritten durch die Dunkelheit. Schweigend und von unsichtbarer Hand geführt. Sie gingen hintereinander. Yara an der Spitze, Pilar am Schluss. Alle drei Mädchen vermochten nicht zu denken. Ihre Hirne waren durch den Willen Pachamamas und Illapas abgeschaltet. Sie folgten einem inneren Zwang, wussten nicht, was sie taten und wo sie sich
befanden. Die Mächte der Finsternis hatten Besitz von ihnen ergriffen. Sie folgten einer Art nebligen Lichts, das ihnen den Weg tief in das Massiv der Cordillera Real wies. Sie tauchten hinein in die ›Periode der Finsternis‹, in die ›Chamay-Pacha‹. Fast eine Stunde dauerte der Marsch durch die Berge. Dann wurde es plötzlich vor ihnen hell. Die doppelköpfige Schlange glitt in eine Höhlung und ließ die Mädchen an sich vorbei. Yara, Dionisia und Pilar erreichten eine riesige Grotte, in die von oben Sonnenlicht fiel. Es glitzerte und gleißte ringsum, es schien, als wären die Wände aus purem Gold. Mitten in der Grotte stand eine Art Altar. Er war mit einer bunt bestickten Decke verhüllt, auf der goldene Gefäße standen. Der Altar wurde zu beiden Seiten von lebensgroßen steinernen Jaguaren bewacht. An der linken Wand standen steinerne Bänke. Die Schlange glitt an die Mädchen heran. Die Augen des Jaguarkopfes schössen Blitze. »Setzt euch«, grollte die dumpfe Stimme der Bestie. Die Mädchen gingen zu einer der Bänke und nahmen nebeneinander Platz. Langsam schlängelte sich das Untier zum Altar, ringelte sich davor zusammen und blieb so liegen, den Hals mit den beiden Köpfen erhoben. Zwei Augenpaare 14 �
starrten hinüber zu Yara, Dionisia und Pilar – bösartig funkelnd, nichts Gutes verheißend. Minuten vergingen. Nichts geschah. Die Mädchen saßen reglos da, als wäre kein Leben mehr in ihnen. Unverwandt wurden sie von der Schlange und dem Jaguar fixiert. Plötzlich tauchte hinter dem Altar ein Mann auf. Er war groß und schlank, trug einen goldenen, spitz zulaufenden Helm und einen langen goldbestickten Mantel. Die Stickereien zeigten Jaguare und Schlangen. Das Gesicht des Mannes war hager, asketisch. Dunkle, stechende Augen und eine Hakennase über einem schmallippigen Mund verliehen dem Gesicht etwas Dämonisches. Mit kurzen, harten Schritten kam er um den Altar herum, blieb neben der doppelköpfigen Schlange stehen. Die beiden Köpfe wandten sich ihm zu. »Ich sehe Schwierigkeiten«, sagte der Mann mit gutturaler Stimme. »Die Nacht des Jaguars wird vergehen, ohne daß etwas geschieht!« Das Maul des Jaguars öffnete sich weit. Drohendes Fauchen schlug dem Mann entgegen. Auch der Schlangenkopf riß das Maul auf, die gespaltene Zunge wurde sichtbar. Zwei Augenpaare funkelten den Mann mit dem Goldhelm an. »Es ist die Nacht des Jaguars«,
sagte der Jaguarkopf grollend. »Quilla will die Macht über diese Nacht an sich reißen!« »Wir werden es nicht zulassen, Vilca Umu!« zischte der Schlangenkopf. Der Mann machte eine herrische Geste. »Führt die Mädchen in den Raum, den ich dafür bestimmt habe. Und ihr beide, Illapa und Pachamama, werdet gehorchen! Es gibt noch viele Nächte, die von Quilla erhellt werden!« Der Jaguar begann wütend zu fauchen, die Schlange zu zischen. Fast sah es so aus, als wollten sie sich auf den Mann stürzen, der den Namen des Obersten Priesters – Vilca Umu – trug. Voller ohnmächtiger Wut zuckten die beiden Köpfe des Monsters zurück, als Vilca Umu die Arme bis in Schulterhöhe hob und Blitze von den Handflächen auf den steinernen Boden zuckten. Donnergrollen erfüllte die Grotte. »Widersetzt euch nicht meinen Befehlen«, rief Vilca Umu. »Ich habe die Macht, euch zu vernichten! Fort mit euch! Nehmt die Mädchen mit!« Yara, Dionisia und Pilar hatten jedes Wort der in Aimarä geführten Unterredung gehört und in sich aufgenommen, ohne jedoch darauf zu reagieren. Die Schlange richtete sich auf, die beiden Köpfe schwankten hin und her, dann senkte sich der Leib wieder und das Untier glitt davon. Die 15 �
Mädchen standen gleichzeitig auf und folgten. Hinter dem Altar befand sich eine Öffnung im Boden. Eine Treppe führte nach unten. Vilca Umu sah zu, wie erst die Schlange, dann die Mädchen verschwanden. Sein bisher unbewegtes Gesicht verzog sich zu dämonischem Grinsen, als auch er die Treppe hinabstieg. * Coronel Toja war höchstpersönlich am Flugplatz El Alto erschienen, um Shirl Randall und Clint Bowen abzuholen. Die Zollformalitäten entfielen. Wegen der Waffen gab es auch keine Schwierigkeiten. Shirl und Clint besaßen Ausnahmegenehmigungen der US-Regierung. Hermanno Toja begrüßte die beiden Amerikaner mit – wie es Clint vorkam – etwas übertriebener Freundlichkeit. Dann geleitete er sie zu einem Mercedes. Ein Polizist brachte das Gepäck, verstaute es im Kofferraum und setzte sich dann hinters Steuer. Während der Fahrt vom Flugplatz in die elf Kilometer entfernte Stadt gab der Coronel einen ersten Bericht und schloß mit den Worten: »Ich habe im Hotel ›Libertador‹ Zimmer für Sie reservieren lassen! Morgen Mittag bringt sie ein Helikopter nach Tipuani. Es ist ein großer Sikorsky, der auch einen Landrover
mitnimmt.« »Warum erst morgen, Coronel?« erkundigte sich Clint Bowen und deutete auf seine Rolex. »Es ist erst neun Uhr.« »Wir sind hier über dreieinhalbtausend Meter hoch, Señor«, erwiderte der Coronel lächelnd. »Und Tipuani liegt noch etwas höher. Sie sollten sich erst ein wenig akklimatisieren. Einer meiner Leute wird Ihnen am Nachmittag die Stadt zeigen. Es ist Inspektor Benavides. Er war in Tipuani, hat jedoch keinen Erfolg gehabt.« Shirl sah ihn nachdenklich an. »Sie erwähnten vorhin, daß mehr Mädchen verschwunden wären. Alle aus dem gleichen Ort?« Man merkte dem Coronel an, daß er verlegen wurde. »Nein, nicht aus Tipuani, Señorita. Aber aus der gleichen Region. Insgesamt sind es acht. Wir haben keine Spur von ihnen gefunden. Bisher nahmen wir an, daß die Mädchen in den Bergen verunglückt wären. Ausgeschlossen ist das nicht. Steinlawinen, Geröllhänge, Felsspalten – Sie verstehen?« »Und warum hat sich Ihre Regierung dann zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschlossen?« ließ Shirl nicht locker. »Tja, in Tipuani ist zum ersten Mal von der Bevölkerung über die Möglichkeit gesprochen worden, daß die Mädchen von Dämonen geholt worden wären. Wissen Sie, die Leute 16 �
sind gute Christen, aber das hindert sie nicht daran, an die alten Götter der Inkas zu glauben. Und natürlich an böse Geister, Dämonen und andere Mächte der Finsternis.« Shirl Randall nickte. »Sie selbst sind auch nicht ganz frei von diesem Glauben, Coronel, Stimmts?« Hermanno Toja zuckte mit den Schultern. »Ich habe indianisches Blut in den Adern, Señorita. Ist es da ein Wunder? Wer kann schon aus seiner Haut? Übrigens – sollte Ihnen schlecht werden, lassen Sie sofort einen Arzt kommen. Viele Besucher werden vom ›Soroche‹ befallen, einer Bergkrankheit. Und nehmen Sie warme Kleidung mit. Der Wind in den Bergen kann eisig sein, selbst dann, wenn die Sonne hoch am Himmel steht.« Der Coronel kümmerte sich um die Unterbringung im ›Libertador‹, das sich als erstklassiges Hotel entpuppte. »Inspektor Benavides wird sich nachher bei Ihnen melden«, verabschiedete sich Toja. »Am späten Nachmittag erwarte ich Sie dann im Präsidium.« Sie hatten zwei nebeneinander liegende Zimmer bekommen, die durch eine Tür miteinander verbunden waren. Clint ließ sich eine Flasche Jack Daniel's Whisky kommen und ging zu Shirl hinüber, die gerade im Begriff war, ins Bad zu verschwinden, um zu duschen. »Trinkst du immer allein?« fragte
sie und schlüpfte in einen Bademantel, was Clint enttäuscht registrierte. »Nein, Honey!« erwiderte er und füllte ein zweites Glas, das er ihr dann reichte. »Weißt du, worüber ich mich wundere? Nicht etwa, daß es böse Götter und Dämonen geben soll, die junge Mädchen verschleppen, sondern daß ein so hoher Polizeioffizier daran glaubt. Der Mann spricht ein so ausgezeichnetes Amerikanisch, daß ich den Verdacht nicht loswerde, er könnte bei uns ausgebildet sein.« »Na und? Du bist ja auch eine Intelligenzbestie und hast dich von mir überzeugen lassen. Jedenfalls scheint die Regierung an etwas Übersinnliches oder Nichtirdisches zu glauben. Allerhand Aufwand, findest du nicht? Man holt mich und…« Er unterbrach sie lachend. »Das wäre noch kein Aufwand, Honey.« »Ekel!« zischte sie. »Na gut. Aber sie fliegen uns mit einem SikorskyHelikopter in die Berge, nehmen sogar einen Landrover mit. Das ist doch schon was, oder?« »Da hast du allerdings recht, ShirlGirl«, grinste Clint. »Aber nun lassen wir dieses Thema erstmal, ja?! Genießen wir den Tag. Ich könnte mir nämlich vorstellen, daß wir in den kommenden Tagen auf Komfort verzichten müssen.« Daß er damit richtig lag, stellte sich schon bald heraus. 17 �
Shirl Randall und Clint Bowen waren mit Duschen und Ankleiden gerade fertig geworden, als Inspektor Benavides erschien. Glücklicherweise sprach er Englisch. Clint verstand kein Spanisch, und Shirl konnte sich in dieser Sprache nur radebrechend verständigen. Benavides fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er die gut gewachsene und wohlproportionierte Shirl sah. »Sie… Sie sind der Spezialist aus den USA?« stotterte er. »Ich hatte eigentlich einen vertrockneten Professor oder so was erwartet.« »Tut mir leid, wenn Sie nun enttäuscht sind, Inspektor«, lachte Shirl. »Bin ich gar nicht«, beeilte er sich, zu versichern. Dann saßen sie bei einem Jack Daniel's zusammen, den Benavides offensichtlich genoss. »Ein phantastischer Tropfen«, anerkannte er. »So was kriegt man nicht jeden Tag.« Das war verständlich, denn Importe sind nun mal in jedem Land teuer. »Coronel Toja hat mir befohlen, Ihnen alles zu erklären. Nachher werden wir einkaufen gehen – auf Kosten unserer Regierung. Sie brauchen vor allem warme Kleidung. Na ja, und noch so einiges, denke ich.« Als er schließlich von Pachamama und Illapa zu sprechen begann, mußte er überrascht feststellen, daß er Shirl Randall nichts Neues erzählte. Sie entpuppte sich als aus-
gesprochene Inka-Expertin. Shirl lachte. »Mein Spezialgebiet, Inspektor. Inkas und Mayas, Pachamama und Illapa sind die Erzfeinde der Mondgöttin Quilla. Pachamama und Illapa treten oft als doppelköpfige Schlange in Erscheinung. Die Erdgöttin als Schlange, der Gewittergott als Jaguar. Also darum war von Ophiolatrie die Rede. Ein bisschen weit hergeholt.« Benavides machte ein genauso verständnisloses Gesicht wie Clint Bowen in Los Angeles. Wieder lachte Shirl Randall. »Ich spreche von Schlangenverehrung. Inspektor, der Coronel erwähnte, daß insgesamt acht Mädchen verschwunden wären. Ich würde gern Ihre Meinung hören.« Benavides zuckte mit den Schultern. »Was soll ich dazu sagen? Die Ermittlungen verliefen im Sande, wie man so schön sagt. Natürlich habe ich mir meine Gedanken gemacht. Wissen Sie, ich dachte schon mal an Mädchenhandel. Aber dagegen spricht eigentlich die Tatsache, daß alle Mädchen Indianerinnen sind. Zugegeben – hübsche Mädchen. Trotzdem… ich weiß nicht…« »Indiomädchen«, murmelte Clint Bowen. »Ungewöhnlich wäre es schon, Inspektor. Für Bordelle in Südamerika werden blonde Weiße 18 �
bevorzugt. Daß man Indiomädchen… also nein, das hab' ich noch nie gehört.« »Ebene, eben«, erwiderte der Inspektor. »Hinzu kommt noch etwas: Wir haben sehr strenge Gesetze. Prostitution ist verboten. Na ja, natürlich gibt es sie, jedoch nicht in so großem Stil wie beispielsweise in Rio oder Caracas. Und diese Mädchen tun es freiwillig, wenn man mal so sagen darf. Niemand zwingt sie dazu… außer der Not.« Er sah Shirl Randall an. »Glauben Sie, daß die Mädchen Opfer von… von Dämonen wurden? Oder vielleicht Opfer irgendeines Kults?« Die Antwort überraschte ihn. »Beides wäre möglich, Inspektor. Und in beiden Fällen werden wir es herausfinden. Eins steht jedoch fest: Mit den üblichen kriminalistischen Methoden kommen wir nicht weiter. Und genau darum sind wir hier. Eine Frage: Gibt es in der Nähe jener Orte, aus denen die Mädchen verschwanden, alte Begräbnisstätten?« Benavides nickte. »Die finden sich in den Bergen überall. In der Umgebung von Tipuani gab es mal einen Inka-Tempel. Die Reste stehen noch. Grabstätten gibt es dort auch. Allerdings habe ich sie nicht gesehen. Don Martino, der Priester in Tipuani, hat es mir erzählt. Ein seltsamer alter Knabe.« »Wieso?« fragte Shirl. »Er ist Mestize. Auf der einen Seite
wettert er dagegen, daß die Leute noch immer die alten Götter verehren, obwohl sie Christen sind, andererseits jedoch macht er mir den Eindruck, als fürchtete er diese Götter. Und auch Dämonen, von denen es ja eine Menge gegeben haben muß damals.« Shirl Randall verzichtete darauf, zu erwähnen, daß es diese Dämonen immer noch gab. Und daß sich die alten Götter materialisieren konnten. Sie hatte es mehr als einmal erlebt. In alten May-Tempeln auf Yucatan. »Ich denke, daß wir etwas essen gehen sollten«, mischte sich Clint Bowen in das Gespräch. »Ein guter Vorschlag«, erwiderte der Inspektor. »Sie sind Gäste der Regierung. Ich schlage das ›Maxims‹ vor, ein sehr gutes Restaurant. Nachher zeige ich Ihnen etwas von La Paz. Und dann müssen wir noch einige Sachen für Sie besorgen.« Es wurde ein sehr angenehmer Nachmittag. Inspektor Benavides führte sie durch die Stadt, zeigte ihnen die Plaza Murillo und führte sie durch die drei Hauptgeschäftsstraßen Comercio, Potosi und Mercado. Natürlich vergaß er auch nicht, den beiden Amerikanern die Avenida 16 de Julio, den Prado, zu präsentieren, die Prachtstraße von La Paz. Für Clint Bowen war La Paz eine Stadt der Gegensätze. Auf der einen Seite niedrige Lehmhütten mit ver19 �
rosteten Blechdächern, dann wieder Alleen mit Hochhäusern und Vorstädte mit Quintas und Fincas, mit Wäldern und Eukalyptushainen. Und im Hintergrund als majestätische Kulisse der fast siebentausend Meter hohe Illimani. Am späten Nachmittag brachte Benavides die beiden zum Polizeipräsidium, nachdem die Einkäufe getätigt waren. Es war eine ganze Menge, was der Inspektor ins Hotel ›Libertador‹ bringen ließ. Die Unterredung mit Coronel Toja dauerte eine gute Stunde. »Wie gesagt«, meinte der Coronel zum Abschied, »Capitano Fuente, der Sie nach Tipuani bringt, wird Ihnen einen sehr leistungsstarken Sender übergeben, mit dessen Hilfe Sie uns jederzeit erreichen können.« Den Abend verbrachten Shirl und Clint mit dem Inspektor. Sie aßen wieder im ›Maxims‹ und blieben danach noch eine Stunde in der Bar des Hotels ›Libertador‹. Als Shirl ostentativ gähnte, verstand der Inspektor den Wink mit dem Zaunpfahl und verabschiedete sich. Seine Order lautete, Shirl und Clint am Morgen zum Militärflugplatz zu bringen. Die Verbindungstür zwischen beiden Hotelzimmern blieb unverschlossen, Shirl Randalls Bett unbenutzt.
* La Paz… Avenida Simon Bolivar… Ein Haus gegenüber dem RooseveltPark… Die Jalousien vor den beiden großen Panoramafenstern waren heruntergelassen. Außer zwei Lampen am Anfang der Zufahrt war kein Licht zu sehen. Vor der Freitreppe parkte ein Wagen. Ein Cadillac. Im großen Wohnraum saßen drei Männer. Rubén Rodríguez war der Hausherr. Ihm gehörten mehrere Bergwerke, in denen Zink, Kupfer und Wolfram gefördert wurden. Außerdem besaß er einige große Güter, dazu noch Zementfabriken und Brauereien. Rodríguez war mittelgroß, untersetzt, hatte einen Stiernacken und ein rohes, brutales Gesicht. Ihm gegenüber saßen sein Bruder Basilio und sein Sekretär Luis Pasco. Alles in allem drei äußerst unsympathische Zeitgenossen. Coronel Toja und Inspektor Benavides wären sehr überrascht gewesen, hätten sie hören können, worüber die drei Señores sprachen. Shirl Randall und Clint Bowen sehr wahrscheinlich auch. »Wir brauchen mehr Mädchen«, sagte Rubén Rodríguez und sah seinen Sekretär an. »Narciso soll sich mit seinem verdammten Hokuspo20 �
kus beeilen. Die fünf sind zu wenig. Was ist mit den drei neuen? Was hat er gesagt?« »Daß er noch zwei Tage braucht«, erwiderte Luis Pasco. »Ich versteh nichts davon.« »Logisch«, lachte Rubén Rodríguez, »schließlich stammst du auch nicht von den Inkas ab, sondern von den Spaniern.« Plötzlich wurde er wieder ernst. »Und du, Basilio? Glaubst du, daß diese Amerikaner uns in die Quere kommen könnten?« Der Gefragte, im Gegensatz zu seinem Bruder war er groß und hager und hatte das Gesicht eines Andengeiers, zuckte mit den Schultern. »Ich kann es mir nicht vorstellen. Wie ich mir auch nicht vorstellen kann, daß es tatsächlich diese Götter und Dämonen gibt, die Narciso für seine Zwecke einspannt.« Rubén Rodriguez machte eine Handbewegung. »Für unsere Zwecke, mein Lieber, für unsere. Möglich ist alles. Und vergiß nicht: Narciso Guitierrez stammt in direkter Linie von Vilca Umu ab. Und das war ein berühmter Priester. Von ihm sagt man, daß er sich die Mächte der Finsternis Untertan gemacht hat. Luis, du hast Narciso doch mal in Aktion gesehen?« Der Sekretär nickte. »Zweimal. Er ließ mich in die Hölle sehen. Madre de Dios, es war
furchtbar.« Rubén Rodriguez lachte meckernd. »Immerhin verschafft er uns die Mädchen. Und er polt sie so um, daß es ihnen nichts ausmacht, diesen verdammten Indios in den Minen Freude zu schenken. Überlegt mal, was passiert wäre, wenn es nicht gelungen wäre, die, hm, Bedürfnisse der Arbeiter zu befriedigen. Die Brüder wären noch aufsässiger geworden. Wisst ihr, was ich überlegt habe? Man könnte es in ganz großem Stil aufziehen und die Mädchen verkaufen.« Die beiden anderen sahen ihn erstaunt an. »Verkaufen? Wohin denn?« fragte Basilio. »Himmel, seid ihr langsam von Begriff. Nach Peru. Nach Paraguay. Und Brasilien. Na, und dann gibt es noch Venezuela und Mexiko. Denkt mal an die Ölarbeiter. Denen ist es egal, mit wem sie sich vergnügen. Ob weiß, schwarz oder gelb – Hauptsache, es sind Frauen. Im Norden gibt es genug Dörfer, aus denen man Mädchen rekrutieren könnte. Ich mußte mal mit Narciso sprechen. Mir schwebt da etwas vor. Er müßte seine Dämonen und Götter den Leuten in den Dörfern zeigen. Mit allem Drum und Dran. Donner Blitze und kleine Beben. Luis, du fährst morgen zu ihm! Oder nein, das ist Unsinn. Ich fahre selber.« Basilio Rodriguez hatte einen Ein21 �
wand. »Du solltest vorsichtiger sein. Ich habe Toja und den Inspektor gesehen. Und diese Amerikaner. Eigentlich müßte… ah, das wird er sein!« Wie auf Stichwort hatte das Telefon geklingelt. Basilio stand auf, ging hinüber zu einer Anrichte und nahm den Hörer des dort stehenden Apparates ab. »Ja…?« Er lauschte eine Weile, nickte mehrmals, meinte schließlich: »Muy bien! Ich melde mich wieder.« Dann legte er auf. »Unser Mann im Präsidium. Die Amerikaner werden morgen früh mit einem Hubschrauber nach Tipuani geflogen. Die Frau ist Parapsychologin. Sie…« Sein Bruder unterbrach ihn. »Nun mach dir nicht gleich in die Hosen, Basilio. Was kann sie schon finden? Narciso kennt alle Tricks. Vielleicht läßt er die Frau von einem seiner Dämonenfreunde verspeisen, hahaha! Nein, die Amerikaner stören uns nicht. Vielleicht kann Narciso sie in den Berg holen? Eine Amerikanerin wäre nicht schlecht, was meint ihr?« Der Sekretär grinste schief. »Zweifellos eine Bereicherung«, meinte er. »Aber irgendwie gefällt mir die Sache nicht.« »Was soll das heißen?« fuhr Rubén Rodriguez auf. »Toja ist ein scharfer Hund«, meinte Luis Pasco. »Er hat dafür
gesorgt, daß diese Amerikanerin gerufen wurde. Und Er wurde unterbrochen. »Die Frau erreicht auch nicht mehr als dieser Inspektor.« Rubén Rodriguez winkte ab. »Gegen Narciso, seinen Hokuspokus und seine Freundschaft mit den Göttern kommt niemand an. Schluss der Debatte. Ich werde morgen mit Narciso reden. Du begleitest mich, Basilio.« Es sah so aus, als. fühlte sich Basilio Rodriguez nicht sehr wohl bei dem Gedanken, Narciso Guitierrez gegenüberzutreten. * Yara Moreno erwachte zuerst. Verstört blickte sie sich um, sah glatte Wände, in die Jaguare und Schlangen eingemeißelt waren. Ihr Blick wanderte weiter. Nach links. »Dios mio!« flüsterte sie, als sie Dionisia und Pilar sah. Die Mädchen lagen, genau wie sie, auf primitiven Holzbetten. Dionisia war mit einer bunten Decke zugedeckt, Pilar hatte sich losgestrampelt. Sie war nackt. Erst jetzt bemerkte Yara, daß auch sie unbekleidet war. Instinktiv zog sie die Decke bis zum Kinn hoch. Dann aber, nach Sekunden, sprang sie auf, wickelte sich die Decke um den schlanken Körper und huschte hinüber zu Pilar, rüttelte sie an der Schulter. Es dauerte eine Weile, ehe die 22 �
Freundin die Augen öffnete. »Was… was ist denn?« fragte sie schlaftrunken. »Ich weiß nicht, Pilar«, flüsterte Yara. »Kannst du dich nicht erinnern?« Pilar Fuez setzte sich aufrecht. »Erinnern? Woran?« Sie schaute an sich herunter. »Ich… ich hab' ja nichts an!« murmelte sie verstört. »Du nicht, Dionisia nicht. Und ich ebenfalls nicht«, klang es leise zurück. »Ich kann mich an nichts erinnern, Pilar. Ich weiß nicht, wo wir sind. Und wie wir hierher gekommen sind.« Dionisia wurde wach, richtete sich auf, reckte sich und gähnte. Als sie den Blick wandte und die beiden anderen sah, blieb ihr der Mund offen stehen. »Pilar… Yara…«, flüsterte sie. »Was ist passiert?« In diesem Moment wurde sie sich ihrer Nacktheit bewußt und kreuzte die Arme vor den vollen Brüsten. »Wir wissen es nicht, Dionisia«, erwiderte Yara. »Ich erinnere mich nur, daß ich gestern…« Sie stockte, dachte nach, murmelte dann: »War es gestern?« Pilar überlegte. »Ich erinnere mich nur daran, daß ich das Haus meiner Eltern verlassen habe!« »Ich auch.« Das war Dionisia. Yara Moreno nickte. »Bei mir ist es dasselbe. Dios mio, wenn ich nur wüsste, was geschehen ist, wo wir
sind und warum man uns die Kleider weggenommen hat!« Die drei Mädchen sahen sich an. In ihren großen dunklen Augen standen Angst und Schrecken. Yara fasste sich zuerst. Sie ließ die Decke fallen und begann, im Raum umherzuwandern. Ihre schlanken Hände glitten über die Wände. Sie suchte eine Tür. »Was machst du?« wollte Pilar wissen. »Irgendwie müssen wir doch reingekommen sein.« Die anderen beiden beteiligten sich an der Suche, doch sie fanden alle drei nichts. Die Wände waren, bis auf die eingemeißelten Tierfiguren, glatt. Nirgendwo gab es eine Ritze, die auf das Vorhandensein einer Tür schließen ließ. Schließlich hocken sich alle drei auf eins der Betten. Dionisia schluchzte. Auch Yara kämpfte mit den Tränen. Pilar Fuez, die in der Mitte saß, legte die Arme um die Freundinnen und sagte: »Mir fällt da etwas ein, was mir mal mein Großvater erzählte. Von bösen Dämonen, die die Götter manchmal auf die Erde schicken. Vielleicht sind…« Das Wort blieb ihr im Halse stecken, denn eine Wand des quadratischen Raumes glitt, wie von Geisterhand bewegt, zur Seite. Eine bläulich schimmernde Wolke schwebte auf die Mädchen zu, löste sich jäh auf, 23 �
und dann stand der hochgewachsene Mann mit dem Goldhelm vor ihnen. Sein hageres, asketisches Gesicht verzog sich zu einem widerlichen Grinsen. Sein Blick glitt über die nackten Körper der Mädchen. Yara, Dionisia und Pilar waren keiner Bewegung fähig, es war, als hätte der Mann sie in steinerne Statuen verwandelt. »Ihr könnt euch an nichts erinnern, nicht wahr?« sagte er mit seiner gutturalen Stimme. »Ich habe euch die Erinnerung genommen. Steht auf und folgt mir!« Er drehte sich um und schritt davon. Die Mädchen erhoben sich und gingen ihm nach. Die Decken blieben zurück. Es ging durch einen schmalen Gang, der sie zwang, hintereinander zu gehen. Die Wände links und rechts leuchteten schwach bläulich. Je weiter sie gingen,, um so mehr änderte sich die Farbe. Das Bläuliche ging ins Gelbliche über, wurde orange, dann purpurrot. Sie gelangten in eine kleine Halle, an deren Wänden gelblich brennende Fackeln in goldenen Haltern hingen. Der Mann im Goldhelm blieb stehen und deutete nach vorn, wo eine abwärts führende Treppe sichtbar geworden war. »Dort geht es ins Reich Illapas«, sagte er. »Ihm seid ihr geweiht! Und
er wird bestimmen, was mit euch geschehen wird.« Er setzte sich wieder in Bewegung und stieg die Stufen hinab. Wie Marionetten folgten Yara, Dionisia und Pilar. Ihre Gesichter glichen steinernen Masken. Die Treppe bestand aus gelblichem Gestein, das mit roten Adern durchzogen war. Ohne sich umzublicken, schritt der Mann weiter – einen breiten Gang entlang, dessen Wände mit in allen Farben leuchtenden Mosaiken bedeckt waren. Die drei Mädchen sahen starr geradeaus, bemerkten nicht, daß die Mosaiken Jaguare darstellten – Jaguare in sitzender Position, Jaguare im Sprung, Jaguare in Lauerstellung. Plötzlich standen sie vor einer mannshohen Tür. Sie war aus purem Gold, die mächtigen Griffe stellten Jaguarköpfe dar, die kunstvoll herausgearbeiteten Reliefs auf der Tür zeigten wieder dieses Raubtier. Der Mann schlug dreimal mit der Faust gegen die Tür. »Illapa, öffne!« rief er. »Hier steht Vilca Umu!« Die beiden Flügel der Tür glitten zurück. Vilca Umu schritt hindurch, sah sich dabei nicht um. Er wußte, daß die drei Mädchen seinem telepathischem Befehl gehorchen würden. Nun standen sie in einem kuppelartigen Gewölbe. Hoch oben schwebte eine gelblich schimmernde Wolke, die für mildes, mystisches Licht sorgte. 24 �
Vilca Umu schritt auf einen Altar zu, der genau in der Mitte des Gewölbes stand. Die Mädchen waren stehen geblieben, starrten blicklos auf den mit Edelsteinen verzierten Altar. Nichts geschah. Minuten vergingen. Dann plötzlich zuckten Blitze durch das Gewölbe, Rauch wölkte auf, es roch seltsam. Der Rauch zerflatterte. Zwischen Altar und Vilca Umu hockte ein riesiger Jaguar. Er war wenigstens zweieinhalb Meter lang, mit gedrungenem, massigem Körper und riesigem Kopf, in dem die Augen grün schimmerten. Illapa, der Gewittergott in Gestalt des Jaguars, die Verkörperung übernatürlicher Kräfte und Mächte. Von irgendwoher erklang Musik – ein monotoner Rhythmus, geblasen auf einer Sechston-Schilfflöte. Dann setzte eine Zimbel ein. Vilca Umu stand vor dem Jaguar, die Arme erhoben. Die Bestie hatte das Maul halb geöffnet, so daß die scharfen Eckzähne zu sehen waren. Die Augen gingen hin und her, an Vilca Umu vorbei, richteten sich auf die Mädchen, deren nackte Körper im diffusen Licht bronzen schimmerten. Im Gewölbe herrschte angenehme Wärme. Die Musik brach plötzlich ab. Im gleichen Augenblick vollzog sich mit dem Jaguar eine Wandlung. Für Sekunden war nur noch der Kopf
sichtbar, dann hatte sich der Tierkörper in den eines Mannes verwandelt. Ein großer Mann, fast einen Kopf größer als Vilca Umu – ein Mann mit dem Kopf des Jaguars. Er trug eine enganliegende Hose aus Rohleder und bunt bestickte Stiefel, die bis in Wadenhöhe reichten. Der Oberkörper war mit einem Umhang bedeckt, aus dem behaarte Arme mit Jaguarpranken heraus sahen. »Vilca Umu!« kam es aus dem Raubtierrachen. »Morgen nacht regiert Quilla, die Mondgöttin! Dann werden diese drei Mädchen sterben! Pachamama und ich werden dadurch die Kraft gewinnen, Quilla zu vernichten. Und mit ihm Inti, den Sonnengott und Quillas Gemahl! Führe sie weg!« Der rechte Arm mit der krallenbewehrten Pranke streckte sich aus und wies auf Yara, Dionisia und Pilar. Der Mann mit dem Goldhelm verneigte sich. Wieder zuckten Blitze durch das Gewölbe, und der Jaguarmensch war plötzlich verschwunden. Nur seine Stimme war zu hören. Sie kam von irgendwoher. »Vilca Umu, Pachamama und ich haben dir Macht verliehen! Verspiele nicht unsere Gunst! Das Ritual wird stattfinden! Wenn du wieder versagst, wirst du sterben! Dann wirst du auf meinem Blitzstrahl verbrennen!« Das Gesicht Vilca Umus, der eigentlich Narciso Guitierrez hieß, 25 �
verzerrte sich. In ihm breitete sich das Gefühl aus, ein sehr hohes Spiel zu spielen, das unter Umständen anders ausgehen konnte, als er es vorausgesehen hatte. Er drehte sich um und winkte den Mädchen. »Kommt!« sagte er. Seine Stimme zitterte ein wenig. * »Wäre ich nur in L.A. geblieben«, stöhnte Clint Bowen in komischer Verzweiflung. Shirl Randall kicherte. »So hab' ich's mir vorgestellt, Darling«, meinte sie und sah sich in dem Zimmer des Gasthauses um. Vor einer halben Stunde war der Sikorsky S-61'N nach La Paz zurückgeflogen. In Tipuani hatte das Erscheinen des großen Hubschraubers beträchtliches Aufsehen erregt. So eine große Libelle hatten die Dorfbewohner noch nie zu Gesicht bekommen. Mit großen Augen hatten sie beobachtet, wie ein Landrover aus der Ladeklappe rollte. Padre Martino und die beiden Polizisten hatten Shirl und Clint begrüßt. Francisco Abbado, der eine Polizist, hatte Shirl so ungeniert angestarrt, daß der Padre ein entrüstetes Räuspern hören ließ. Dann hatte er einige Worte mit Capitano Fuente gewechselt, bevor er sich an die beiden Amerikaner wandte.
»Sie werden mit einem Zimmer in unserem Gasthaus vorlieb nehmen müssen«, hatte er gesagt und dabei einen verzeihenden Blick zum Himmel gerichtet. »Das einzige bewohnbare«, fügte er dann hinzu. Es klang wie Entschuldigung und Rechtfertigung zugleich. Nun befanden sich Shirl Randall und Clint Bowen in dem Zimmer. Zwei Indio-Jungen hatten das Gepäck hinauf gebracht und waren sofort wieder verschwunden. Es gab einen wackeligen Tisch, zwei alte Stühle, eine Art Kommode mit Wasserkanne und Blechschüssel sowie ein breites Bett mit einer alten Matratze und einigen Decken. Den Schrank ersetzten etliche in die Lehmwand geschlagene Nägel. »Ich kenne das«, lachte Shirl. »Als ich auf Yucatan war, hatte ich auch nichts Besseres.« »Und wie war's in Peru?« erkundigte sich Clint. »In Cuzco ging es, aber in den Bergdörfern war es so wie hier. Nun wein mal nicht gleich, Clint-Honey! Wahrscheinlich werden wir die meiste Zeit ohnehin nicht hier, sondern draußen sein.« »Ist dir auch aufgefallen, was der Padre für ein Gesicht gemacht hat?« Sie nickte. »Ja. Das wird mehrere Gründe haben, Clint. Erst einmal hat er bestimmt keine Frau erwartet. Und dann dürfte er von meiner Arbeit 26 �
nicht viel – oder besser gar nichts halten. Na ja, wir werden's ja sehen, wenn wir mit ihm sprechen.« Clint Bowen zündete sich eine Zigarette an. »Was wirst du zuerst tun?« Shirl Randall trat ans Fenster und starrte durch die blinde Scheibe auf die Straße, die diese Bezeichnung gar nicht verdiente. Es war ein ausgefahrener Lehmweg. »Ich fahre ein bisschen herum – soweit es möglich ist. Ich befürchte nämlich, daß uns der Landrover nicht viel nützen wird. Es ist gut, daß wir Walkie-Talkies bekommen haben. Denn du wirst beim Wagen bleiben, während ich…« Clint unterbrach sie. »Das kommt nicht in Frage, Baby! Ich lass' dich doch nicht allein.« Sie drehte sich um, trat zu ihm, legte die Arme um seinen Hals und schmiegte sich so fest an ihn, daß er ihre festen Brüste spürte. »Dir wird nichts anderes übrig bleiben, Clint«, sagte sie leise. »Wenn ich mich in Trance versetze, das weißt du, bin ich lieber allein. Dann kann ich mich besser konzentrieren. Deine Ausstrahlung würde mich stören. Was soll mir schon geschehen, hm? Ich habe meine Abwehrwaffen mit.« Er packte sie an den Schultern, trat einen halben Schritt zurück und sah sie an. »Mädchen, und was ist, wenn alle deine Künste und, hm, Abwehrwaf-
fen versagen?« Ihre Augen wurden groß. »Clint, du hast ja Angst! Keine Sorge, ich weiß, was ich tue! Also keine Debatten mehr. Und im übrigen, Darling: Wenn meine Waffen, mein Wissen, mein Können nichts nützen, dann tut es dein Revolver auch nicht.« Sie lachte wieder. »Bisher bin ich noch mit jedem Zombie, jedem Dämon und Monster fertig geworden, und hier wird es nicht anders sein.« »Dein Wort in Gottes Gehörgang«, murmelte Clint Bowen. Er wurde das Gefühl nicht los, daß sich Shirl Randall in große Gefahr begab. Und er wußte, daß er im Ernstfall nicht sehr viel machen konnte. Dann aber hatte er eine Idee. »Baby, du hast zwei Laser-Pistolen. Eine wirst du mir überlassen – für alle Fälle. Mit meinem Magnum werde ich tatsächlich nichts ausrichten können – falls es wirklich Dämonen sind, die hier ihr Unwesen treiben.« Shirl war einverstanden. »Gut, Darling, ein akzeptabler Vorschlag. Weißt du, was mich wundert? Daß wir die Höhenluft gut vertragen.« Er lächelte. »Wir sind eben zwei ganz besondere Menschen, Baby. Und was jetzt?« »Reden wir mit dem Padre. Und mit den beiden Polizisten. Glücklicherweise spricht der Padre etwas Englisch. Mit meinem Spanisch ist es nicht weit her, abgesehen davon 27 �
sprechen die Leute hier Aimarä oder ein mit Brocken dieser Indio-Sprache durchsetztes Spanisch.« Als sie etwas später das Gasthaus verließen, trugen sie Jeans, Rollkragen-Pullover, Armeemützen und derbe Stiefel. Der Padre stand vor dem kleinen Haus neben der Kapelle und bat sie hinein. »Es ist sehr bescheiden hier«, meinte er, »aber auf Besuch bin ich nun mal nicht eingerichtet.« Es gab ein altes zerschlissenes Sofa, auf das sie sich setzen mussten. Padre Martino bot ihnen Wein an, aber sie lehnten ab. Es wurde ein langes Gespräch. Der Priester ließ durchblicken, daß er von Parapsychologie nichts hielt und es am liebsten gesehen hätte, wenn Clint und Shirl das Dorf wieder verließen. »Alles Teufelskram«, murmelte er. »Die Leute hier faseln dummes Zeug. Das tun sie immer, wenn Vollmondnächte sind. Dann spukten ihnen alle möglichen Götter und Dämonen in den Köpfen herum. Pachamama, Illapa, Quilla, Inti, Viracocha und Pachacamac. Gestern habe ich die Eltern der drei verschwundenen Mädchen erwischt. Sie knieten auf dem alten Friedhof und beschworen die Malkis, ihnen ihre Kinder wiederzugeben.« Shirl Randall sah erstaunt auf. »Malkis? Mumien? Hier gibt es Gräber, in denen Mumien liegen,
Padre?« Don Martino seufzte. »Ja. Nicht weit vom Dorf steht eine Tempelruine. Daneben ist ein Begräbnisplatz. Ich verstehe nicht, warum die Regierung nichts unternommen hat. Man hätte die Gräber öffnen und die…« »Padre«, warf Shirl ein, »wissen Sie, wie viele solcher Begräbnisstätten es gibt? In Bolivien, Chile und Peru?« Der Priester zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Nur eins weiß ich: Die Leute hier erinnern sich stets dann an diesen ganzen Teufelskram, wenn es ein Unglück gegeben hat. Dann beschwören sie Inti, den Sonnengott, rufen die ZaraMama's, die Maisgeister, oder die Koka-Mama's, die Kokageister. Oder andere. Yara Morenos Mutter beispielsweise – Yara ist eins der Mädchen – stand gestern Mittag vor einem Monolithen südlich des Dorfes und flehte Ticana um Hilfe an. Wissen Sie, wer Ticana ist?« Shirl nickte. »Ja, eine der Sonnenjungfrauen.« Bevor der Padre etwas sagen konnte, mischte sich Clint Bowen ein. »Was ist denn Ihrer Meinung nach mit den drei Mädchen geschehen, Padre?« fragte er. »Drei Mädchen! Wäre es nur eins, könnte man an einen Unfall glauben. Aber wenn ich richtig informiert bin, sind alle drei 28 �
zur gleichen Zeit verschwunden.« Padre Martino antwortete nicht sofort. In seinem Gesicht arbeitete es. Er war Mestize, was nicht zu übersehen war. In seinen Adern rollte Aimarä-Blut. Und spanisches. Die Aimaräs sind Nachkommen der Inkas. Padre Martino war zwar katholischer Priester, aber wie viele seiner Amtsbrüder in diesem Lande sah er mit einem weinenden und einem lachenden Auge auf seine Landsleute, die heidnische Bräuche mit ihrem christlichen Glauben verbanden. Und wahrscheinlich kam Don Martino auch nicht so ganz los von dem, woran seine Vorfahren vor Jahrhunderten geglaubt hatten. Eher unbewußt als bewußt. »Ich habe keine Erklärung für das Verschwinden der drei«, murmelte er. »Die Polizisten meinten, sie wären nach La Paz. Das ist Unsinn. Alle drei sind nie aus Tipuani herausgekommen. La Paz ist weit. Wie sollten sie dorthin gelangt sein?« »Man sollte alles in Betracht ziehen«, erwiderte Bowen. »Es gibt doch Minen in den Bergen. Und dorthin führen Straßen.« Padre Martino nickte. »Das ist richtig. Aber die einzige Straße, die aus diesem Dorf fortführt, geht nach Nordosten – zum Rio Beni. Es gibt mehrere Zinnminen, aber die befinden sich weit im Westen. Von dort führt eine Straße am Titicacasee ent-
lang nach La Paz. Nein, nein, das ist unmöglich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß die Mädchen so dumm gewesen wären. Sie kennen die Berge, wissen, wie gefährlich sie sind.« Shirl Randall hatte bis jetzt geschwiegen. »Ob wir nun reden oder nicht«, erklärte sie, »ändert nichts am Verschwinden der Mädchen. Padre, ich versuche es auf meine Weise. Wir haben eine Vollmondperiode. Und ich weiß sehr gut, was das bedeutet.« Padre Martino lächelte. »Aber…« Shirl winkte ab. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Padre. Damals, zur Zeit der Inkas, hatte der Mond eine bestimmte Bedeutung. Nun, auch heute hat er noch eine. Zumindest für die Natur. Und für eine bestimmte Kategorie von Menschen… wissenschaftlich erwiesen und bedeutungsvoll!« Damit war für sie die Unterredung beendet. Ihr war klar geworden, daß sie von dem Padre nicht viel erfahren konnten. Wenn er irgend etwas wußte, würde er es für sich behalten. Denn eine Blöße würde er sich ganz sicher nicht geben. Sie verabschiedeten sich von Padre Martino und verließen das Haus. »Die Polizisten brauchen wir gar nicht erst zu interviewen«, meinte Shirl. »Die wissen noch weniger. Fahren wir erst einmal zu der alten Tempelanlage.« 29 �
Ein paar Kinder standen um den Landrover herum. Als Shirl und Clint näher kamen, verschwanden sie. Francisco Abbado, einer der beiden Polizisten, kam auf die Amerikaner zu. Diesmal unterließ er es, Shirl anzustarren. Es lohnte sich auch nicht, denn der Parka ließ von ihren Formen nicht viel erkennen. Der Uniformierte tippte an den Mützenschirm, rückte sein Koppel zurecht und sah Shirl fragend an. Sie kratzte ihre Spanischkenntnisse zusammen und erkundigte sich nach dem Weg zu dem alten Tempel und der Begräbnisstätte. Abbado verstand sie und beschrieb den Weg. Er sprach langsam, damit sie ihn verstehen konnte. Kopfschüttelnd sah er zu, wie sie in den Wagen stiegen und davonfuhren. Clint saß am Steuer. Der Wagen holperte über Geröll, drohte einmal von der buckligen Straße abzurutschen, aber es gelang Clint, gegenzusteuern und den Landrover in der Spur zu halten. Sie fuhren durch einen Hohlweg, zwischen steil aufragenden Felswänden hindurch, gelangten dann auf eine Art Plateau, das in eine weite Fläche überging, auf der Gestrüpp und Unkraut wucherten. »Da… der alte Tempel!« sagte Shirl und deutete nach vorn. »Und das da links sind die Grabstätten.« Clint Bowen ließ den Wagen aus-
rollen und stellte schließlich den Motor ab. »Trostlose Öde.« Er stieg aus und sah sich um. Auch Shirl kletterte aus dem Wagen. »Siehst du die verwitterten Platten?« fragte sie und deutete auf eine Grababdeckung. »Geborsten.« »Das sehe ich«, grinste Clint. »Und durch diese Risse zwängen sich nachts die Mumien und holen sich aus dem Dorf hübsche junge Mädchen.« Shirl sah ihn böse an. »Lass diese dummen Spaße, Clint Bowen!« Er schwieg. Diesen Ton kannte er an ihr. Und wenn sie ihn dann noch beim vollen Namen nannte, war sie wirklich wütend. »Bleib hier beim Wagen«, sagte sie. »Ich gehe zu dem Tempel!« »Gut. Vergiß die Pistole nicht, Baby!« Clint ließ sie, wenn auch schweren Herzens, gehen. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß Widerspruch nutzlos war. Shirl nickte und holte ein WalkieTalkie und die Laser-Pistole aus dem Landrover. »Ich melde mich, wenn irgend etwas ist«, sagte sie. »Und du rührst dich nicht von der Stelle.« »Okay, Boss«, erwiderte er, lehnte sich gegen den rechten Kotflügel und zündete sich eine Zigarette an. Shirl Randall marschierte los, ging zwischen einzelnen Gräbern hindurch, blieb hin und wieder stehen und betrachtete sich die Steinplatten. 30 �
Sie fragte sich, woher man im Dorf wußte, daß Mumien darunter lagen, denn die steinernen Platten waren ganz sicher nicht bewegt worden. Aber das mußte nichts heißen, sagte sie sich, man kann schon vor Jahren nachgesehen haben. Dann stand sie vor dem halb zerfallenen Eingang des Tempels. Eine der vier Säulen war so gut erhalten, daß Shirl die von Künstlerhand eingemeißelten Tierfiguren erkennen konnte: Jaguar und Schlange. »Aha«, murmelte sie, »die beiden Verbündeten! Illapa und Pachamama!« Sie sah an der Säule vorbei und erblickte die Vorhalle des Tempels. Viel gab es da nicht zu sehen. Eine Wand war herausgebrochen, die anderen wiesen so große Witterungsschäden auf, daß von den Reliefs und Zeichnungen, die sie einmal geschmückt hatten, nichts mehr zu erkennen war. Clint Bowen sah, wie Shirl im Inneren des alten Inka-Tempels verschwand, und unterdrückte einen Fluch. »So ein Leichtsinn«, murmelte er, »solch altes Gemächer kann zur Falle werden!« »Clint!« Das Walkie-Talkie hatte sich gemeldet. Er drückte die Taste und meldete sich. »Ja?« Dann kam wieder Shirls Stimme. »Ich bin jetzt im Hauptraum des Tempels. Mach dir keine Sorge, Honey! Eine Weile wirst du nichts
von mir hören! Ich leite jetzt eine astrale Projektion ein! Ende.« Clint schaltete ab. »Hoffentlich geht alles gut«, sagte er und zündete sich eine neue Zigarette an. * Shirl Randall befand sich im Hauptraum des Tempels. Ein Dach gab es nicht mehr, es war heruntergestürzt, die Trümmer lagen überall verstreut. Der steinerne Altar war seltsamerweise genauso erhalten wie die beiden Opferschalen links und rechts. Dunkle Flecken auf ihnen ließen den Schluss zu, daß in früheren Zeiten Blutopfer dargebracht worden waren. Langsam ließ sich Shirl auf einem Trümmerblock nieder, schloß die Augen und begann, sich zu konzentrieren. Minuten höchster Anspannung folgten, und dann plötzlich ließ die Spannung in der jungen Frau nach, ihr Ich teilte sich. Shirl sah sich davongehen, obwohl sie nach wie vor auf dem Trümmerstück saß. Ihr Astralleib hatte sich vom physischen gelöst und ging auf Wanderschaft. Sie schwebte mehr, als sie ging, wanderte an Clint Bowen vorbei, der sie natürlich nicht sehen konnte. Das Tempo steigerte sich, und plötzlich hob sich Shirl vom Boden ab, schwebte in horizontaler Lage durch die Luft, wobei sie ein blau-silbern
schimmerndes Band hinter sich herzog, das ihren Astralleib mit dem physischen Gegenbild verband. Plötzlich sah sie unter sich die Mesa, von der die drei Mädchen verschwunden waren. Shirl Randall spürte einen jähen stechenden Schmerz im Hinterkopf, Nebel wallten vor ihren Augen, die nach Sekunden zerrissen. Und nun sah die junge Amerikanerin alles das wie einen Film abrollen, was an jenem Nachmittag mit den drei Mädchen aus Tipuani geschehen war. Jedes Detail konnte Shirl Randall verfolgen: sie sah die Mädchen, dann die doppelköpfige Schlange, den flammenumhüllten Felsspalt und schließlich Vilca Umu. Aber dann wurde es dunkel vor Shirls Augen. Irgend etwas war da, was sie sich nicht erklären konnte. Etwas Fremdes unterbrach den Kontakt den Shirl durch die astrale Projektion mit den Mächten der Finsternis gewonnen hatte. Unter dem dicken Parka war sie schweißgebadet. Noch einmal spannte Shirl alle ihre Sinne an, aber es war vergebens. Ihr wurde schwindlig, der Kopfschmerz verstärkte sich, und sie hatte jäh das Gefühl, durch einen dunklen Tunnel zu gehen. Dann jedoch – völlig unvermutet – sah sie sich einer ringförmigen Öffnung gegenüber, durch die sie in
einen lichtüberfluteten Raum sah. An der hinteren Wand standen drei geöffnete prunkvoll verzierte Särge. Sie waren schräg gegen die Wand gelehnt. In jedem dieser Särge lag ein totes Mädchen. Shirl Randall sah sie so deutlich, als stünde sie dicht davor. Die Mädchen hatten die Hände vor der Brust gefaltet. Doch magnetische Ströme übertrugen den dreifachen Herzschlag bis zu Shirl, die es im Unterbewusstsein aufnahm. Das Bild änderte sich. Die Öffnung verschwand, die Mädchen in den Särgen verblassten. Dafür erschien der Kopf des Jaguargottes vor Shirls geistigem Auge. Grüne Augen funkelten sie an. Der Rachen öffnete sich, Blitze zuckten um den Kopf, Donner grollte. – »Ich werde dich vernichten«, kam es aus dem Maul der Bestie. »Du wirst meine Macht zu spüren bekommen!« Mit einem Schlag wurde es dunkel um die junge Frau. Sie bekam das Gefühl, als würde ihr Körper aufgesaugt werden… wie von einem riesigen Schwamm oder einem Stück Löschpapier. Ihr wurde leicht, sie glaubte schwerelos zu werden, aber dann gab es einen heftigen Ruck, es war wie ein Aufprall auf etwas Hartes. Shirl Randall öffnete die Augen, sah sich um, fuhr mit der Rechten über die Stirn, die mit kaltem
Schweiß bedeckt war. Minutenlang saß sie ruhig da und ließ noch einmal alles das, was sie während der astralen Projektion erlebt hatte, vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Sie wußte, wie mächtig Illapa, der Gewittergott mit dem Jaguarkopf, war. Aber sie wußte nun auch, daß sich die drei verschwundenen Mädchen aus dem Dorf in seiner Gewalt befanden. Sie war also einen Schritt weitergekommen, hatte mehr erfahren, als sie gehofft hatte. Nun galt es, die Mädchen aus den Krallen Illapas zu befreien. Das würde nicht leicht sein. Ihr fiel ein, daß sich eine fremde Macht dazwischengeschaltet hatte, und fragte sich, um wen es sich dabei handeln könnte. Pachamama schied aus, sie war mit Illapa verbündet. Quilla, die Mondgöttin, konnte es auch nicht sein. Deren Macht konnte nur nachts wirksam werden. Und auch nur dann, wenn der Mond zu sehen war. Vielleicht hatte sich Inti, der Sonnengott und Gemahl Quillas, eingeschaltet. Ausgeschlossen war das nicht. Zwischen ihm und Pachamama sowie Illapa hatte es seit jeher Machtkämpfe gegeben. Nun war aber nicht gesagt, daß Inti helfen wollte. Genauso gut war es möglich, daß er die drei Mädchen für sich haben wollte. War es so, bedeutete es den Tod für Yara, Dio-
nisia und Pisa. »Ich werde sie herausholen«, murmelte Shirl. »Ich kenne ja jetzt den Weg!« Das stimmte. Ihr Astralleib hatte die Mesa gefunden. Dorthin wollte Shirl. Sie wußte, worauf sie sich einließ… * Clint Bowen atmete auf, als er Shirl aus dem Tempel kommen sah. Er löste sich vom Wagen, an dem er noch immer stand, ging ihr entgegen und bemerkte sofort, daß sie erschöpft war. Sie hatte nichts dagegen, daß er einen Arm um sie legte. »Ich brauche einen Schluck, Clint«, murmelte sie. »Kannst du haben, Baby!« Mit keinem Wort fragte er nach dem, was im Tempel gewesen war. Sie würde von selber reden – er kannte das. Sie setzten sich in den Wagen. Clint zog eine Taschenflasche aus seinem Parka und reichte sie Shirl. Sie schraubte den Verschluss ab, nahm einen kräftigen Schluck und gab die Flasche zurück. »Ich habe die Mädchen gesehen, Clint«, sagte sie nach einer Weile. »Nackt und in Särgen.« Sie berichtete ausführlich; Bowen hörte zu, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen. »Wenn ich mit dir nicht schon
ganz andere Dinge erlebt und einiges nicht mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leibe gespürt hätte, würde ich glauben, daß du spinnst, Baby«, sagte er schließlich. »Also eine Schlange mit zwei Köpfen, wovon der eine einem Jaguar gehört. Und du hast gesehen, wie die Mädchen in die Gewalt dieses Monsters gerieten! Hm, dann werden wir sie eben rausholen! Shirly, dieser Vil… Vil…« »Vilca Umu«, warf sie ein. »Er war einmal Oberpriester und besaß enorme Macht. Von ihm heißt es, daß er über immense übersinnliche Kräfte und über ein Heer von Dämonen verfügte. Verdammt, Clint… er könnte es gewesen sein, der sich einschaltete. Ja, ihm ist es zuzutrauen. Dieser Bursche hat sich Illapa und Pachamama verschrieben. Die Frage ist nur, was er mit den Mädchen vorhat. Vielleicht will er Illapa Blutopfer bringen, damit dieser genügend Kräfte sammeln kann, um Quilla, die Mondgöttin, zu besiegen.« Clint legte seine Rechte auf ihren linken Schenkel. »Shirl, vorhin hat es geblitzt und gedonnert.« Shirl Randall nickte. »Das war Illapa. Er wollte seine Macht demonstrieren.« »Reizender Zeitgenosse«, meinte Clint Bowen. »Was hast du jetzt vor, Baby?« »Ich setze mich ans Steuer, Clint,
und wir fahren zu dieser Mesa, die ich gesehen habe. Dort werden wir warten.« »Warten? Worauf?« »Daß sich etwas tut.« Shirl Rahdali lehnte sich zurück. »Ich bin sicher, daß etwas geschieht. Illapa hat mir ja deutlich zu verstehen gegeben, daß er mich vernichten will. Er weiß, daß ich seine Gegnerin bin. Das hat er gespürt. Eins ist mir nur nicht klar. Die Mädchen sind seit Tagen verschwunden. Die Nacht, die jenem Nachmittag folgte, war eine Vollmondnacht. Die Mädchen leben aber noch. Es muß also einen Grund geben, dessentwegen Illapa noch nichts unternommen hat.« Clint Bowen zuckte mit den Schultern. »Dazu kann ich nichts sagen, Baby, ich verstehe zu wenig davon. Du hast keine Erklärung?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Vor mehreren Hundert Jahren war es anders. Da opferten die Inkas in Vollmondnächten Menschen: Kinder, Jungen und Mädchen. Oder Jungfrauen.« »Raue Sitten waren das.« »Kult, Clint, nichts anderes. Später brachten sie den Göttern andere Opfer dar. Gold, Feldfrüchte. Wein. – Komm, lass mich ans Steuer. Ich habe die Befürchtung, daß wir nicht mehr viel Zeit haben, um die Mädchen zu befreien. Und ich kann nur hoffen, daß sie keine seelischen 34 �
Schäden davongetragen haben.« Clint Bowen stieg aus und ging um den Wagen herum. Shirl setzte sich auf den Fahrersitz und startete die Maschine. »Wir werden die Kiste unterhalb der Mesa stehen lassen, Clint«, meinte sie. »So weit rauf können wir nicht fahren. Diesmal kommst du mit! Okay?« »Okay. Ich freue mich schon darauf, die Bekanntschaft dieses jaguarköpfigen Dämons zu machen.« »Nicht Dämon, Clint«, wurde er korrigiert. »Illapa ist ein Gott. Allerdings dürfte es Dämonen geben, die ihm Untertan sind.« * Clint Bowen wunderte sich, wie sicher Shirl den Weg fand. Sie steuerte den Landrover um das Dorf herum, fuhr durch eine Schlucht, in der es karge Vegetation gab und hielt schließlich unterhalb einer Felsterrasse. Tipuani lag etwa drei Kilometer hinter ihnen und gut hundert Meter tiefer. »Wir müssen dort rauf«, meinte Shirl und wies auf die Felsterrasse. »Den Wagen wird ja wohl keiner klauen.« »Höchstens ein Dämon«, flachste Clint. »Oder dein Freund Illapa zaubert ihn mit einem Blitzstrahl weg. Ich muß schon sagen, du bist sehr
zielstrebig gefahren. So, als kanntest du den Weg seit Jahren.« »Ich habe genau gesehen, welchen Weg die drei Mädchen einschlugen, Clint. Das hab' ich dir doch gesagt.« Er schüttelte den Kopf. »Weiß der Himmel, das werde ich nie verstehen, Mädchen?« Shirl zuckte mit den Schultern. »Viele begreifen es nicht, Clint. Also dann los! Klettern wir nach oben.« Sie stiegen aus und nahmen alles an Waffen mit, was sie im Wagen hatten. Shirl steckte sich ein paar kurze, angespitzte Holzpfähle in die linke, tiefe Tasche des Parkas. Jeder von ihnen hatte eine Laserpistole und eine andere, aus der Silberkugeln verschossen werden konnten. Außerdem hatte Clint noch seinen 44er Magnum Revolver bei sich. Während des Aufstiegs mussten sie einige Male pausieren; die dünne Luft machte ihnen doch zu schaffen, besonders jetzt, da sie sich körperlich anstrengen mussten. Nach mehr als einer Stunde hatten sie die Mesa erreicht, von der die doppelköpfige Schlange die drei Mädchen geholt hatte. »Uff!« pustete Clint. »Runter geht es wenigstens schneller und kostet weniger Kraft, Baby!« Shirl reckte sich. »Daß du dich da nur nicht täuschst! Der Abstieg ist gefährlicher und kostet nicht weniger' Kraft.« Clint Bowen sah sich um. 35 �
»Du hast von einem flammenumhüllten Felsspalt erzählt, Baby. Ich sehe nichts. Nicht einmal einen Riß im Gestein, durch den sich ein Mensch zwängen könnte.« »Richtig. Ich habe davon erzählt, jedoch nicht gesagt, daß er jetzt sichtbar sein müsse.« Er sah sie verblüfft an. »Was denn, was denn, Baby? Willst du damit sagen, daß dieser Illapa oder wer auch immer das Tor zur Hölle nach Bedarf öffnen kann?« »Hölle ist nicht der richtige Ausdruck«, erwiderte Shirl, »aber sonst stimmt es.« Clint Bowen kratzte sich das Kinn. »Verdammt, verdammt«, murmelte er, »wie ich die Sache sehe, stehen wir jetzt hier als Köder. Ist es so?« Shirl lächelte sparsam. »So könnte man sagen – ja. Angst?« »Angst? Ich?« Er lachte. »Nicht die Bohne, Baby. Du bist ja bei mir! Übrigens – dieser Jaguar hat zu dir gesprochen. In welcher Sprache?« »Englisch, Darling! Aber das hat nichts zu bedeuten.« »Verdammt noch mal, Shirl, lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wieso hat das nichts zu bedeuten? Entschuldige, aber ich finde es komisch, daß ein alter blutrünstiger Inkagott Englisch spricht.« »So ist es auch nicht«, erwiderte Shirl Randall. »Wahrscheinlich hat
er in irgendeinem Dialekt gesprochen. Ketschua vermutlich. Bei mir sind seine Worte transponiert angekommen.« »Was?« Shirl lächelte. »Ich weiß, das ist schwer zu begreifen«, meinte sie, »aber so etwas gibt es. Magnetische Schwingungen übersetzen Illapas Worte in unsere Sprache. Und wenn ich antworte, kommen meine Worte bei ihm in seiner Sprache an.« Clint Bowen fischte sich eine Zigarettenpackung aus der Tasche, schüttelte ein Stäbchen heraus und zündete es an. »Großer Lord«, sagte er, »Sachen gibt's, die gibt's gar nicht. Und was nun, Geisterbeschwörerin?« Sie verzog das Gesicht. »Ich möchte den Tag erleben, an dem du meine Arbeit ernst nimmst, Clint. Wir werden hier warten. Wie es sich für Köder gehört.« »Okay, dann setzen wir uns!« Sie ließen sich auf den Felsboden nieder. Shirl schloß die Augen und dachte nach. Erstaunlicherweise war es hier oben windstill und sogar warm. Kein Laut war zu hören. Nur einmal vernahmen sie das Brummen eines Flugzeugs. Zu sehen war es jedoch nicht. Wahrscheinlich flog es zu hoch. Dann war es Clint einmal, als hätte er das Flappern eines Helikopters 36 �
gehört. Allerdings nur für eine knappe Minute. Danach war es wieder still. Sie warteten. Aber nichts geschah. Die Sonne verschwand im Westen hinter den Bergen, es begann zu dämmern und wurde kühler. »Ich habe die Befürchtung, daß Illapa Angst vor uns hat«, meinte Clint nach einer Weile. »Kein Felsen tut sich auf, keine Schlange mit zwei Köpfen erscheint, um uns in den…« »Hör auf«, zischte Shirl. »Du kannst ja ins Dorf zurückfahren! Ich bleibe jedenfalls hier!« »Unsinn«, beeilte er sich zu versichern. »Ich bleibe bei dir, Baby. Aber du mußt zugeben, daß bisher nichts passiert ist. Die Mädchen sind an einem Nachmittag verschwunden. Von hier. Nun, es dämmert. Und bis jetzt ist nichts passiert.« »Na und? Das hat gar nichts zu sagen. Ich weiß, daß irgend etwas geschehen wird, Clint.« Woher sie es wußte, verriet sie nicht. Sie hatte eine telepathische Nachricht aufgefangen. Sie war von Pachamama gekommen und an sechs Dämonen gerichtet, die sich bereithalten sollten. Mehr wußte Shirl nicht, aber diese Mitteilung bewies ihr, daß Pachamama und Illapa etwas im Schilde führten. Gegen sie und Clint. »Also gut, warten wir weiter, Shirl«, gab sich Clint Bowen zufrieden.
Es wurde zusehends dunkler. Hinter ihnen, über den Bergen, schob sich der Mond höher. Noch war er nur zu einem Drittel sichtbar, aber in einigen Stunden würde er voll und als große runde Scheibe am Himmel stehen – es wäre denn, der Wind würde Wolken vor ihn schieben. Schweigend saßen sie nebeneinander. Clint Bowen rauchte und spielte mit seiner Laserpistole. Shirl hielt die Augen geschlossen und war voller Konzentration. In fast allen Geistergeschichten spielt Mitternacht eine dominierende Rolle. Gespenster werden um Mitternacht wach und geistern eine volle Stunde herum. Hier jedoch spielte die Zeit keine Rolle. Das wußte Shirl Randall. Inkagötter und Dämonen, die dieser Kultur zuzurechnen sind, können zu jeder Tages- und Nachtzeit aktiv werden. Darin täuschte sich die junge Amerikanerin nicht. Während sie auf der Mesa warteten, geschah einige Kilometer weiter etwas Unheimliches. In der alten Begräbnisstätte am Tempel wurde es ›lebendig‹. Von sechs Gräbern hoben sich die steinernen Abdeckplatten, schwebten sekundenlang und richteten sich dann auf, blieben auf der schmalen Kante stehen. Schweigsam und ohne Geräusch zu verursachen tauchten die mumifizierten Körper von sechs Männern aus den Gräbern auf. Von ihrer Klei37 �
dung waren nur noch Fetzen übrig geblieben. Dem einen fehlte ein Stück der Schädeldecke. Ein anderer hatte nur noch eine halbe Nase. Alle sechs waren lädiert, es gab keinen, dem nicht irgend etwas fehlte. Dort, wo die Haut noch vorhanden war, spannte sie sich wie altes vergilbtes Pergament über die Knochen. Als das Mondlicht auf eins der Gesichter fiel, war zu erkennen, daß es keine Augen besaß, nur leere Höhlen, in deren Hintergrund es grünlich schimmerte. Und als die Mumie den linken Arm etwas anhob, zeigte sich, daß stellenweise die Knochen zu sehen waren. Es war ein schauerlicher Anblick – diese sechs mumifizierten Inkapriester, die sich jetzt an den Händen fassten. Plötzlich wurde ein sanfter, aufund abschwellender Ton hörbar. Ein bläulich schimmernder Kreis schwebte auf die Mumien zu, die, sich immer noch an den Händen haltend, einen Kreis gebildet hatten. Wie ein starker Magnet zog der schimmernde Ring die sechs an, hob sie hoch und trug sie davon, in weitem Kreis um das Dorf herum und über die Berge hinweg… bis zu jener Mesa, auf der sich Shirl Randall und Clint Bowen befanden. Der schwingende, summende Ton wurde lauter und zugleich heller…
* »Shirl!« Clint Bowen zuckte zusammen und fuhr auf. »Ich weiß«, erwiderte sie und erhob sich. »Was ist das?« fragte er und deutete nach oben. Clint Bowen war alles andere als ein Feigling. Schließlich war er bei den Ledernacken gewesen, und was er dort erlebt hatte, war alles, nur kein Zuckerlecken gewesen. Aber was er hier sah, war grauenhaft. Die sechs Mumien schwebten langsam auf die Mesa hinab, noch immer von dem bläulich schimmernden Ring gehalten, der erst verblasste, als die schreckliche Last den Boden erreicht hatte. Die Mumien ließen sich los, formierten sich zu einer Reihe und kamen auf Shirl und Clint zu. Sie bewegten sich staksig wie Marionetten. Kein Laut kam aus den Öffnungen, die einmal Münder gewesen waren. Nur in den leeren Augenhöhlen flimmerte es grünlich. »Ich werd verrückt!« flüsterte Clint Bowen und trat hinter Shirl. Er tat es nicht aus Angst, sondern weil er Shirl, der Expertin, die Initiative überlassen wollte. Clint Bowen wollte nichts falsch machen. Er würde so handeln wie seine Partnerin. »So was hab' ich erwartet«, raunte 38 �
Shirl. Fast im gleichen Moment flammte es drüben an der Felswand auf, züngelten Lohen empor, rahmten einen Felsspalt ein, der zuvor nicht dagewesen war. Clint sah es mit Verblüffung. Die Mumien waren keine zwanzig Schritte von ihm und Shirl entfernt. »Und nun?« flüsterte Clint der vor ihm stehenden Shirl ins Ohr. Sie antwortete nicht, sondern hob ihre Laserpistole, betätigte den Abzug. Ein rotgelber, dünner Strahl fuhr, ohne ein Geräusch zu verursachen, auf die Mumien zu. Shirl hatte auf den Felsboden gezielt, wollte die Mumien stoppen, doch sie gingen weiter. Lautlos, geisterhaft, nur hin und wieder klapperte irgendein Knochen. Jetzt blieb Shirl nichts anderes übrig, als den Laserstrahl auf die Mumien zu richten. Dort, wo der Strahl den steinernen Boden getroffen hatte, war ein Loch entstanden, war der Fels geschmolzen. Die erste Mumie ging in Flammen auf. Clint nahm sich die nächste vor. Die anderen vier störten sich nicht an den wie Fackeln brennenden, schritten weiter, dem alles vernichtenden Laserstrahl entgegen. Brennend schritten die ihren Gräbern entstiegenen Mumien weiter, bis sie zusammenfielen und zu glosenden, stinkenden Häufchen wurden.
Shirl und Clint hatten inzwischen ihren Standort verlassen und waren nach rechts ausgewichen. Shirl sah hinüber zu dem Felsspalt. Er war noch da, umrahmt von den Flammen. »Das hätten wir«, bemerkte Clint Bowen. »Wo kamen die Kameraden denn her, Shirly?« »Aus der alten Grabstätte beim Tempel. Ich hatte mir schon so was gedacht. Illapa und Pachamama haben sie aus ihren Gräbern geholt. Sie waren die erste Hürde.« »Und was waren das mal für Knaben?« »Inka-Priester. Sie gehörten zu dem Tempel, an dem deutlich sichtbar Illapas Zeichen zu sehen sind. Eingemeißelte Jaguare. Also dann weiter, Clint!« Ihm sträubten sich die Haare. »Was denn? In den Berg, Shirl?« »Ja. Dort irgendwo befinden sich die Mädchen.« »Nein, Baby, ich werde hier bleiben. Nicht etwa, weil ich Schiss habe, sondern weil ich es für besser halte.« Shirl Randall dachte einen Moment lang nach. Schließlich nickte sie. »Vielleicht hast du recht. Wir haben ja die Walkies-Talkies mit. Notfalls können wir uns verständigen.« »Hm«, brummte Clint. »Vielleicht nützen sie uns nichts, wenn du im Berg bist. Und dann… was tue ich, 39 �
wenn der Felsspalt wieder verschwindet?« Shirl lächelte. »Dann wirst du eben hier warten, bis er sich wieder auftut. Ich bin sicher, daß Illapa dich auch gern haben möchte.« »Du mußt verrückt sein, Baby«, protestierte er. »Dann kannst du bereits über den Jordan gegangen sein.« »Nein.« Sie winkte ab. »Denk doch mal nach! Die drei Mädchen leben noch.« »Na und?« Shirl seufzte. »O Clint, ich weiß schon, was ich tue. Gefahr besteht erst, wenn die Vollmondperiode zu Ende geht. Ich kann dir doch jetzt nicht einen Vortrag über die Gewohnheiten der alten Inkas halten.« »Inkas? Ich denke, unsere Gegner wären Götter und Dämonen, die die Inkas verehrt haben.« Shirl gab es auf. »Später werde ich dir alles erklären. Jetzt gehe ich, Clint! Bleib auf jeden Fall hier, bis ich zurück bin! Und wenn es dich beruhigt: Ich komme aus dem Berg auch dann heraus, wenn der Zugang verschwunden ist.« Ohne seine Erwiderung abzuwarten, marschierte sie los, an den qualmenden, stinkenden Haufen vorbei, die einmal sechs Mumien gewesen waren. Clint Bowen unterdrückte einen
saftigen Fluch und sah Shirl Randall nach, die auf das Flammentor zuging, einen Moment stehen blieb und dann plötzlich verschwunden war. * Shirl Randall besaß einige Fähigkeiten, von denen Clint Bowen keine Ahnung hatte. Natürlich wußte er einiges, denn es war nur zu verständlich, daß er in der Zeit, in der er mit ihr zusammenarbeitete, etliches mitbekommen hatte. Doch sie hatte es für richtig gehalten, ihm nicht alles zu verraten. Dazu kannte sie ihn noch zu wenig, was allerdings nicht heißen soll, daß sie ihm in irgendeiner Weise misstraute. Sollten sie sich einmal trennen – sie wünschte es sich nicht, aber sie konnte es auch nicht ausschließen – so war es besser, wenn einige ihrer Fähigkeiten ihr Geheimnis blieb. Die junge Frau tauchte in den Gang und blieb nach zehn Schritten stehen, schloß die Augen und konzentrierte sich, brachte sich in Trance. In eine Trance, in der sie mehr sah und hörte als in wachem Zustand. Sie vermochte durch Mauern und Felswände hindurchzusehen, und sie sah Dinge, die sich erst ereignen würden, voraus. Als der Zustand der Trance erreicht war, ging sie weiter. Trotz 40 �
dieses medialen Zustandes war ihr Unterbewusstsein hellwach und würde eingreifen, wenn es erforderlich werden sollten. Genau gesagt: es würde Shirls Handeln bestimmen. Es gab gewissermaßen zwei Ich's: ein bewusstes und ein unbewusstes. Vielleicht war Shirl Randall der einzige Mensch, dem diese Fähigkeiten gegeben waren. Shirl Randall fand mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit jenes Gewölbe, in dem der edelsteinverzierte Altar stand. Die schwere goldene Tür mit den Jaguar-Reliefs hatte sich von selbst geöffnet. Hoch oben in der Kuppel schwebte die gelblich schimmernde Wolke. Shirl blieb zehn Schritte vor dem Altar stehen. Ihre Augen waren jetzt geöffnet, jedoch mit einem leichten Schleier überzogen. Musik setzte plötzlich ein. Es war wieder die Sechston-Schilfflöte. Diesmal war es eine andere Melodie, nicht so monoton, mehr tänzerisch, fast fröhlich. Die Zimbel fehlte. Minuten vergingen. Minuten, in denen nichts geschah. Plötzlich wuchs die Gestalt Vilca Umus hinter dem Altar auf. Er trug wieder den spitz zulaufenden Goldhelm und einen farbenprächtigen, verzierten mit Goldstickereien Umhang. Die Augen in seinem asketischen Gesicht richteten sich auf Shirl. »Wer bist du?« fragte er.
Er sprach Englisch mit starkem Akzent. Shirl verschränkte die Arme vor der Brust. Die Rechte schob sich dabei in den Parka, umschloss den Griff der Laser-Pistole. »Warum willst du das wissen, Vilca Umu?« stellte sie eine Gegenfrage. In seinem Gesicht zuckte es vor Überraschung. »Du kennst mich?« »Ja. Das heißt, ich kenne den echten Vilca Umu. Du bist es nicht!« Das asketische Gesicht verzerrte sich. »Wie willst du das wissen?« Shirl lachte leise. »Vilca Umu ist seit Jahrhunderten tot! Du siehst zwar aus wie er, bist es aber nicht. Spiel mir keine Komödie vor! Du bist ein Mensch wie ich! Deine Aura verrät dich! Du bist von dieser Welt! Und das finde ich sehr merkwürdig!« Grinsen erschien auf dem Gesicht des Mannes. »So? Findest du? Was würdest du sagen, wenn ich die Macht hätte, dich zu vernichten? Jetzt und hier?« »Versuch es«, klang es zurück. »Aber nicht ich werde sterben, sondern du! Und jetzt hör mir zu! Ich weiß, daß drei Mädchen in deiner Gewalt sind. Ich weiß auch, wer sie dir zugeführt hat! Die Schlange mit den Köpfen von Pachamama und Illapa! Die Mädchen liegen in Särgen, die aufrecht gegen eine Wand 41 �
gelehnt sind. Ah, ich sehe, daß dich mein Wissen erschreckt!« Vilca Umu war blaß geworden, es war deutlich zu sehen. Seine Lider flatterten, die stark ausgeprägten Wangenknochen traten stark hervor, spannten die Haut. »Sag mir, wer du bist!« »Das weißt du nicht?« lachte Shirl spöttisch. »Wärest du wirklich die Reinkarnation Vilca Umus, wüsstest du es. Ich will nicht abstreiten, daß du über gewisse Macht verfügst. Ich habe es gesehen, als ich den Weg der drei Mädchen verfolgte. Aber um das zu sein, was Vilca Umu gewesen ist… nein, dazu fehlt dir noch eine ganze Menge. Du weißt, daß Illapa im Tempel zu mir gesprochen hat?« »Das weiß ich«, stieß der Mann hervor, der sich den Namen Vilca Umu gegeben hatte und in Wirklichkeit Narciso Guitierrez hieß. »Und ich wundere mich, daß er noch nicht hier ist, um dich zu vernichten.« Wieder lachte Shirl. »Vielleicht will er erst einmal abwarten, über wie viel unirdische Macht ich verfüge. Dich fürchte ich nicht. Was wärst du ohne Pachamama und Illapa.« Hinter dem Mann öffnete sich die mit leuchtenden Mosaiken bedeckte Wand. Sie schob sich, wie von Geisterhand bewegt, nach zwei Seiten auseinander, bis ein gut zwei Meter breiter Spalt klaffte. Vier große Schlangen glitten in das
Gewölbe. Zwei hatten Schlangenköpfe, die anderen beiden die von Jaguaren. Shirl wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. Illapa und Pachamama schickten Hilfstruppen, um ihre Macht zu zeigen und sie zu vernichten. Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Hier gab es nur eins: den beiden grausamen Inka-Göttern zu zeigen, daß sie nicht wehrlos war. Der Mann hob den linken Arm. Sofort blieben die grauenhaften Reptilien stehen, ringelten sich hoch, wiegten mit den Köpfen, böse funkelnde Augen richteten ihre Blicke auf Shirl. In deren Hand lag jetzt die LaserPistole. »Deine Zeit ist um«, stieß der Mann hervor. »Wenn ich den Arm herunternehme, werden sie sich um dich ringeln und dich erdrücken!« »Warte«, stoppte Shirl ihn. »Weißt du, was mit den Mumienpriestern geschehen ist? Ich habe sie vernichtet.« Das war dem Mann offensichtlich nicht bekannt. »Du lügst!« sagte er mit lauter gutturaler Stimme. »Das müßte ich wissen. Und wenn es so wäre… mit ihnen hier wirst du nicht fertig! Illapa hat sie geschickt. Und Illapa ist mächtig! Die Priester… die hat Pachamama geschickt. Als Warnung.« Er ließ den Arm fallen, und sofort setzten sich die Schlangen wieder in 42 �
Bewegung. Shirl Randall zögerte keine Sekunde. Eine Schlange mit Jaguarkopf bekam den Laserstrahl zu spüren. Shirl hatte auf den Kopf gezielt. Der feine rotgelbe Strahl fuhr in das Maul der Bestie und trat hinten wieder heraus. Sofort senkte Shirl die Waffe, und nun glitt der Strahl an dem Schlangenleib hinab, zertrennte ihn und ließ ihn in Flammen aufgehen. Es begann, infernalisch zu stinken. Die Bestie ließ wütendes Knurren vernehmen, das jedoch schnell erstarb. Der Mann mit dem Goldhelm war zurückgewichen, als er das grauenhafte Schauspiel sah. Tatenlos mußte er zusehen, wie eine zweite Schlange getötet wurde und zu Asche verbrannte. Die restlichen Bestien waren inzwischen bedrohlich nahe heran gekommen. Eine zuckte vor, und fast wäre es ihr geglückt, Shirl zu erwischen. Aber die junge Frau hatte sich mit einer geschmeidigen Drehung außer Reichweite gebracht. Der Laserstrahl zuckte nach links und rechts, wanderte hin und her, bis das Schicksal der letzten Untiere besiegelt war. Die Waffe richtete sich auf den Mann. »Soll ich sie dir auch zu schmecken geben?« fragte Shirl. Der Mann wich noch weiter zurück. »Nein! Was… was ist das für ein Ding?«
Shirl Randall schüttelte den Kopf. »Wenn ich es dir sagte, würdest du doch nichts damit anfangen können. Pass auf!« Sie schwenkte herum und schoß den gebündelten Lichtstrahl auf die rechte Wand. Ein paar der Mosaiken zerplatzten, fielen herunter. Dann ließ Shirl den Strahl eine knappe Minute auf einer Stelle. Das Mosaik zerfloss, tropfte herunter, im Felsen dahinter entstand ein Loch. »Ich will die Mädchen sehen!« Der Mann hob die Hände, wehrte ab. »Das geht nicht. Sie gehören Illapa und Pachamama. Und…« »Gar nichts und! Ich will sie sehen. Und du wirst mich führen. Damit du dir keine falschen Illusionen machst: Ich finde sie auch allein. Aber du wirst dann sterben. Wie deine Freunde dort!« Sie wies auf eins der Aschenhäufchen. »Illapa und Pachamama werden zürnen«, sagte der Mann. »Ihr Zorn würde mich treffen.« »Nur dich?« spottete Shirl. »Dich auch. Das Ding da würde dir bei den beiden nichts nützen.« Shirl griff mit der Linken in die Tasche und zog ein Amulett heraus. Ein Guru in Los Angeles hatte es ihr vor einem Jahr geschenkt. Es war aus getriebenem Silber und stellte den Höchsten Persönlichen Gott dar, den Sri Krisna. Außerdem trug das Amulett in Sanskrit einen Aus43 �
spruch des Höchsten Persönlichen Gottes: »Ich, O Arjuna, bin das höchstes Prinzip der Transzendenz, und es gibt nichts Höheres als Mich. Alles Sein ruht auf Meinen Energien wie Perlen auf einer Schnur.« Der Guru hatte das Amulett besprochen, es geweiht und es dann Shirl mit den Worten übergeben: »Es wird dich beschützen, meine Tochter. Es wird dir stets dann Hilfe gewähren, wenn du in Gedanken darum bittest. Und es wird das tun, was du von ihm verlangst!« Einmal hatte sich Shirl seiner Hilfe bedient. Er war in Frisco gewesen, wo Hexen ihr Unwesen getrieben und Schwarze Messen abgehalten hatten. Einer der Hexen, zugleich ein Vampir, war es gelungen, Shirl zu umarmen. Sie wollte ihre langen spitzen Zähne schon in den Hals der jungen Frau schlagen, als Shirl das Amulett aus der Tasche zog und in Gedanken flehte: »Verwandle sie in eine Fliege und lass sie in eine der Kerzen flattern.« Das Amulett war warm geworden in Shirls Hand. Gleichzeitig war die Hexe zusammengeschrumpft, immer kleiner geworden und hatte sich in eine schmetterlingsgroße Fliege verwandelt, die dann tatsächlich in die Flamme der Kerze geflattert war. Mit einem häßlichen, schrillen Schrei war sie verbrannt. Und jetzt dachte Shirl sehr inten-
siv: »lass ihn für ein par Stunden erstarren!« Wieder erwärmte sich das Amulett. Und der Mann, der sich Vilca Umu nannte, wurde stocksteif, blieb mit weit aufgerissenen Augen und angewinkeltem rechten Arm stehen, als wäre er aus Stein. Shirl lächelte ihm ins erstarrte Gesicht. »Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst«, sagte sie. »lass es dir eine Lehre sein! Nach ein paar Stunden wirst du dich wieder bewegen können. Nicht einmal deine Freunde Pachamama und Illapa können dir jetzt helfen! Meine Macht ist größer als ihre!« In diesem Moment meldete sich das Walkie-Talkie in der rechten Tasche mit einem leisen Summton. Shirl nahm es heraus und meldete sich. »Was gibt's?« fragte sie. Die Antwort. ihres Freundes und Partners kam etwas verzerrt, aber dennoch gut verständlich. »Alles in Ordnung, Baby?« wollte Clint wissen. Sorge schwang in seiner Stimme mit. »Alles okay, Darling! Ich gehe jetzt zu den Mädchen.« Sekundenlang schwieg Clint Bowen. Dann jedoch fragte er, und in seiner Stimme schwang Verblüffung mit: »Du hast sie gefunden, Baby?« »Noch nicht, Clint, aber ich weiß, wo sie sind. Bis später! Ich melde 44 �
mich schon.« * Shirl Randall trat dicht an den erstarrten Narciso Guitierrez heran, dessen Augen weit aufgerissen waren. Sie blickte minutenlang in das Gesicht des Mannes, der die Rolle von Vilca Umu übernommen hatte, konzentrierte sich, drang in die Gedanken ihres Gegenübers ein. Schweißperlen traten auf die Stirn der jungen Frau, und vor ihren Augen begannen Nebel zu wallen. Nebel, die mehrmals die Farbe wechselten. Von gelblich über bläulich bis zu tiefem Rot. Sie merkte den Widerstand des Mannes, der zwar erstarrt war und nicht einmal eine Fingerspitze bewegen konnte, der jedoch offensichtlich alles zu sehen und zu hören vermochte, was um ihn herum geschah. Shirl Randall bemerkte, daß er über einen unwahrscheinlich starken Willen verfügte und alles tat, um sie abzuwehren. Es wurde ein Duell der Gehirne und schien unentschieden zu enden. Shirls Befehl, ihr den Weg zu den drei Mädchen zu weisen, prallte förmlich ab. Schließlich nahm sie erneut die Hilfe ihres Amuletts in Anspruch, hob es hoch, hielt es dicht vor die Augen ihres Gegenspielers und bat stumm um Hilfe. Sie merkte, wie sich das Amulett
erwärmte. Unsichtbare Kräfte wurden mobilisiert, die ihren Ausgang von der Mitte des Amuletts nahmen und unmittelbar auf Narciso Guitierrez Hirn wirkten. Nichts und niemand vermochte die Macht des Höchsten Persönlichen Gottes Sri Krsna zu brechen. Weder Pachamama noch Illapa. Narciso Guitierrez schon mal gar nicht. Shirl Randall stand da, das Amulett vor dem Gesicht, und empfing auf telepathischem Wege das, was sie wissen wollte – die Beschreibung des Weges, der sie zu den drei Mädchen führen sollte. Langsam drehte sie sich um und ging davon. Das Amulett hielt sie mit beiden Händen weit von sich gestreckt. Solange es warm blieb, bot es ihr Schutz vor allen Dämonen und Inka-Göttern, denn die Macht Sri Krsna's war, wie sie wußte, stärker als die Pachamamas und Illapas. Mit marionettenhaften Bewegungen schritt Shirl Randall durch die Finsternis, geleitet und beschützt durch das irdische Amulett. Sie wurde durch einen langen dunklen Tunnel geführt, ohne zu merken, daß es dreimal um scharfe Biegungen ging. Ihre Augen waren geschlossen, sie verließ sich voll und ganz auf das Amulett. Schweiß rann ihr übers Gesicht, ihr Körper dampfte förmlich, aber sie merkte es nicht. Shirl Randalls Bewußtsein war abgeschaltet, nur 45 �
ihr Unterbewusstsein war existent, stand in Verbindung mit dem Amulett. Shirl nahm auch nur im Unterbewusstsein die ringförmige Öffnung wahr, hinter der sich ein lichtüberfluteter Raum ausbreitete. Alles das hatte sie schon einmal gesehen. Im Hauptraum des alten Tempels während der astralen Projektion. Sie schritt durch die Öffnung direkt auf die drei an die Wand gelehnten Särge mit den drei Mädchen zu. Dann traf sie jäh der telepathische Befehl des Amuletts. Die junge Frau glaubte eine Stimme zu hören, die ihr befahl, an die Särge heranzutreten, das Amulett in beiden Händen zu behalten und jedes der Mädchen damit zu berühren. »Streiche über den Nabel«, sagte die Stimme, »durch ihn kam das Leben, und durch ihn wird es auch zurückehren!« Shirl Randall folgte dieser Aufforderung. Das Ergebnis war verblüffend. Yara Moreno nahm, kaum daß Shirl sie mit dem Amulett berührt hatte, die Hände herunter und verließ den Sarg, trat neben Shirl. Sekunden später standen auch Dionisia und Pilar neben der Amerikanerin. Shirl Randall hob das Amulett mit beiden Händen über ihren Kopf. Im gleichen Augenblick ertönte dump-
fes Grollen, der Boden begann zu schwanken, das helle gelbe Licht zu flackern. Shirl blickte nach oben, konnte jedoch nicht erkennen, woher dieses Licht kam. Langsam drehte sie sich um, immer noch das Amulett beidhändig über dem Kopf haltend. Das Grollen verstärkte sich, das Licht erlosch. Shirl Randall und die drei Mädchen standen in völliger Dunkelheit. »Fasst euch an den Händen!« sagte Shirl plötzlich. Sie hatte englisch gesprochen, doch ihre Aufforderung erreichte die drei Mädchen in spanisch. Trotz der herrschenden Finsternis sah Shirl Randall alles, was um sie herum geschah. So bemerkte sie auch die drei Schlangen mit Jaguarköpfen, die jäh – wie aus dem Nichts – aufgetaucht waren. Doch sie rührten sich nicht, starrten nur auf die vier Frauen, mit funkelnden Augen und geöffneten Rachen. Eine unsichtbare Sperre hinderte sie daran, sich auf die vier zuzuschlängeln. Als eine Schlange es versuchte, fuhr sie zurück, und aus dem Rachen des Jaguarkopfes kam wütendes und schmerzliches Fauchen. Nun setzte sich Shirl Randall in Bewegung, ging zielstrebig auf die ringförmige Öffnung zu, die sie trotz der Finsternis deutlich sah. Die drei Mädchen folgten ihr. 46 �
Jetzt nahm Shirl die Arme herunter, hielt das Amulett vor sich; es wies ihnen den Weg, lenkte ihre Schritte durch den dunklen Tunnel bis zu dem Gewölbe mit dem edelsteinverzierten Altar, wo noch immer der willenlose, erstarrte Narciso Gutierrez stand. Die goldene Tür mit den JaguarReliefs stand offen. Die Wolke an der Gewölbedecke schimmerte nicht mehr gelblich, sondern in sattem Blau. Nichts geschah, als Shirl und ihre drei Begleiterinnen durch die Tür schritten, die sich – wie von Zauberhand bewegt – hinter ihnen schloß. Noch immer grollte es um sie herum, es klang wie ferner Donner. Aber der Boden schwankte nicht mehr. Sie setzten ihren Weg fort, bis vor ihnen Flammen züngelten. Unbeirrt ging Shirl darauf zu. Und nichts geschah, als sie durch das lodernde Tor hindurchschritt. Auch den Mädchen geschah nichts. Doch kaum waren sie alle vier draußen, als die Flammen in sich zusammenfielen und sich der Felsspalt schloß. Über die Berge fegten dunkle, tiefhängende Wolken. Krachende Donnerschläge zerrissen die Stille der Bergwelt. Blitze zuckten über die Schroffen und Grate und ließen alles in unwirklichem Licht erscheinen. Clint Bowen kam auf die kleine Gruppe zugerannt. Als ein Blitz über eine Steilwand zuckte, sah man in
Bowens verzerrtes Gesicht. »Shirl!« schrie er. »Alles in Ordnung?« Sie antwortete nicht sofort »Shirl!« Er hatte sie erreicht, blieb jäh stehen, starrte auf das Amulett in ihren Händen, dann in ihr bleiches Gesicht, das im diffusen Licht geisterhaft erschien. Shirl Randall brauchte gewisse Zeit, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sie hatte das Gefühl, als säße in ihrem Hinterkopf eine glühende rotierende Nadel. Kalter Schweiß bedeckte nicht nur ihr Gesicht, sondern den ganzen Körper. Sie fror plötzlich, schüttelte den Kopf, stöhnte leise und öffnete endlich die Augen, starrte auf das Amulett, dann fiel ihr Blick auf Clint Bowen. »Alles in Ordnung«, kam es krächzend aus ihrem Mund. Clint wischte sich über die Augen. Er hatte das Gefühl, einen schlechten Traum gehabt zu haben. Dabei war das durchaus nichts Neues für ihn, ähnliche Empfindungen hatte er schon oft gehabt, seitdem er mit Shirl zusammenarbeitete. »Du… du hast es geschafft«, sagte er. Seine ausgestreckte Rechte wies auf die drei Mädchen, die stumm hinter Shirl Randall standen. Aber sie waren nicht mehr nackt, sondern so gekleidet, wie sie aus dem Dorf verschwunden waren. »Verschwinden wir von hier«, stieß Shirl hervor. »Zurück ins Dorf! 47 �
Ich werde dir später berichten.« * Schweigend kletterten Yara Moreno, Dionisia Melos und Pilar Fuez in den Landrover. Bisher hatte keins der Mädchen auch nur einen Ton von sich gegeben. Clint Bowen verhielt sich schweigend, er wartete ab. Shirl würde schon von allein reden, er kannte das. Sie nahm neben ihm Platz, starrte nach vorn durch die Scheibe, während er startete, die Scheinwerfer einschaltete und anfuhr. Doch kurz vor dem Dorf brach er das Schweigen. »Was beschäftigt dich, Shirl?« fragte er. »Irgend etwas geht doch hinter deiner schönen Stirn vor.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Später, Clint, später!« Sie wandte sich nach hinten, wo die drei Mädchen hockten. Der Mond stand hoch über den Bergen – in voller Größe, so daß in seinem kalten Silberlicht die Gesichter der drei zu erkennen waren. – Shirl bediente sich der spanischen Sprache. »Könnt ihr euch erinnern?« wollte sie wissen. »Wisst ihr, was mit euch geschehen ist?« Es war Yara, die antwortete. »Nein, Señorita. Ich bemühe mich schon die ganze Zeit, mich zu erinnern. Aber es gelingt mir nicht. Ich war erstaunt, als meine Freundinnen und ich plötzlich bei Ihnen
standen.« Shirl wollte etwas sagen, doch da meldete sich Dionisia. »Ich kann mich nur daran erinnern, daß Yara«, sie deutete auf das dritte Mädchen, »Pilar aufforderte, sie zu begleiten. Und dann…« »… und dann?« forschte Shirl Randall, als das Mädchen schwieg. »Ich weiß nicht«, klang es zurück. »Irgend etwas ist passiert. Aber was… ich weiß nicht…« »Ihr wisst alle drei nichts mehr?«, Shirl Randall blieb hartnäckig. »Wir sind zur Mesa gegangen«, erwiderte Yara Moreno. »Es donnerte und blitzte plötzlich. Von da ab erinnere ich mich an nichts mehr.« »Auch nicht daran, wann ihr zur Mesa gegangen seid?« Shirl war auf die Antwort gespannt. »Nein!« antworteten alle drei wie aus einem Mund. »Das ist schon einige Tage her«, erklärte Shirl. »Eure Eltern werden froh sein, euch wieder zu sehen.« Inzwischen hatte der Landrover die Dorfstraße erreicht und hielt vor dem ›Gasthaus‹. Natürlich war das Motorgeräusch nicht ungehört geblieben. Lichter flammten hinter den Fenstern auf. Aus der Polizeistation trat einer der Beamten; es war Francisco Abbado. Wenig später tauchte auch der Padre auf, blieb plötzlich stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer 48 �
gerannt, und schlug beim Anblick der im Mondlicht gut zu erkennenden drei Mädchen ein Kreuz. Aus einigen Häusern kamen Menschen gestürzt. Eine Frau stieß einen Jubelschrei aus, rannte auf Yara Moreno zu und schloß sie in die Arme. Shirl Randall und Clint Bowen lehnten sich gegen den Landrover und sahen den Begrüßungsszenen zu. Der Polizist trat zu ihnen. Padre Martino folgte. »Wo haben die drei gesteckt?« wollte Abbado wissen. »Wie meinen Sie das?« Shirls Frage klang aggressiv. Sie hatte den Unterton in der Stimme des Polizisten nicht überhört. »Nun, ich finde es komisch, daß…« Er wurde von Clint Bowen unterbrochen. »Was zu sagen ist, Señor, wird zuerst Coronel Toja erfahren. Und das ist keineswegs unsere Entscheidung, sondern seine.« Francisco Abbado schwieg beleidigt. Offensichtlich machte er sich seine eigenen Gedanken über das Verschwinden und Wiederauftauchen der Mädchen. Aber die Erwähnung des Coronels ließ es ihm geraten erscheinen, diese Gedanken für sich zu behalten und sich in Schweigen zu hüllen. Die Eltern der Mädchen drängten sich heran, um sich zu bedanken. Shirl Randall wehrte ab.
»Bitte, nehmen Sie Ihre Töchter und gehen Sie nach Hause«, sagte sie. »Und sorgen Sie dafür, daß sie in den kommenden Tagen die Häuser nicht verlassen. Diesen Rat gebe ich allen, die Töchter haben. Mehr kann ich vorerst nicht sagen. Ich bin sehr erschöpft und möchte schlafen gehen. Irgendwann kann ich mehr sagen. Heute jedoch nicht mehr.« Damit wandte sie sich ab und begann, den Wagen auszuladen. Clint Bowen half ihr, brachte alles ins Haus und schloß den Landrover ab. Langsam verzogen sich die Einwohner des Dorfes. Man hörte sie murmeln, einige schlugen Kreuze, andere schüttelten die Köpfe. Es gab wohl niemanden in Tipuani, der die Gedanken des Polizisten teilte. Mochten die Leute auch noch so fromm sein, so glaubten sie dennoch an die alten Inka-Götter, an Dämonen, die diesen Göttern einst gedient hatten, und an deren Existenz fast alle noch glaubten. Schließlich gab es einige unter ihnen, die Dämonen und zu Leben erwachte Mumien gesehen hatten. Oder gesehen haben wollten. Am nächsten Tage sollten sie den Beweis erhalten, daß sie keine Halluzinationen gehabt hatten. Dann nämlich, als man die offenen und verlassenen Gräber auf der alten Begräbnisstätte entdeckte. Es waren die Gräber jener Mumien, die Shirl Randall vernich49 �
tet hatte! � * � »Hast du Padre Martino beobachtet«, meinte Clint Bowen, als sie auf ihrem Zimmer waren. Shirl schüttelte den Kopf. »Nein, Clint. Wieso?« »Hm.« Er rieb sich das Kinn, sah Shirl nachdenklich an. »Dieser Polizist scheint zu glauben, daß die drei Girls auf… na ja, sagen wir mal, auf Abwege geraten waren. Padre Martino jedoch machte den Eindruck, als nähme er etwas Unwirkliches an.« Shirl zuckte mit den Schultern. »Möglich. Wir unterhalten uns darüber, wenn ich geschlafen habe, Clint. Ich bin nämlich tatsächlich erschöpft.« Sie lächelte schwach. »Na, hast du wieder was dazu gelernt?« Für Rätsel-Freunde, die ihrem Verstand ein Vergnügen bereiten wollen. Er nickte. »Ja. Obwohl ich es einfach nicht verstehe. Ob ich's jemals kann… wer weiß?! Du, wir sollten La Paz informieren.« »Tu du das! lass dem Coronel ausrichten, daß die drei Mädchen wieder da sind! Und daß er sich am Vormittag mit mir unterhalten kann.« Clint Bowen grinste. »Glaubst du eigentlich, daß er glauben wird, was passiert ist? Er
sah mir eigentlich nicht so aus, als glaubte er an…« Sie winkte ab. »Was er glaubt, ist mir egal. Und sollte er dieselben Gedanken haben wie der Ortspolizist, wird er was zu hören bekommen. Im übrigen, Clint: Sie haben uns schließlich geholt und wissen genau, auf welchem Gebiet wir ›arbeiten‹.« Sie begann sich auszukleiden. Trotz der späten Stunde und trotz ihrer Erschöpfung wusch sie sich, so gut es unter diesen Umständen ging, kalt ab. Währenddessen informierte Clint Bowen mit Hilfe des Senders die Polizei in La Paz und beschränkte sich darauf, mitzuteilen, daß die verschwundenen Mädchen wieder da wären. Alles weitere würde Coronel Toja später ausführlich berichtet bekommen. Dann schaltete er ab. Nachdem auch er sich erfrischt hatte und neben Shirl lag, die die Decke anstarrte, sagte er: »Darling, was beschäftigt dich so intensiv? Ich kenn dich doch! Normalerweise würdest du längst in Morpheus Armen liegen und schnarchen.« Sie drehte den Kopf, blickte ihn groß an und zischte: »Ich schnarche nicht! Aber du hast recht, etwas beschäftigt mich tatsächlich.« »Und was, Sweety? Es muß schon was Schwerwiegendes sein, wenn es 50 �
dir keine Ruhe und dich nicht einschlafen läßt.« Sie schwieg eine ganze Weile. Clint schob seinen Arm unter ihren Rücken und zog den schlanken Körper an sich heran. Sie erwiderte seinen Kuss, zog dann den Kopf ein wenig zurück und sagte: »Da ist irgend etwas. Was ich im Berg erlebte, war etwas Irreales. Etwas Unwirkliches. Oder Überirdisches. So weit – so gut! Für mich war alles, wenn ich mal so sagen darf, etwas Normales. Und doch… ich hatte während der ganzen Zeit meiner Transzendenz das Gefühl, daß sich etwas Reales dazwischen schöbe. Verdammt, ich kann es nicht erklären. Da war zum Beispiel dieser Vilca Umu. Seine Aura verriet mir, daß er genauso ein Mensch aus Fleisch und Blut ist wie ich. Trotzdem verfügte er über eine Macht und über Kräfte, wie sie damals der wirkliche Vilca Umu gehabt haben muß. Und noch etwas, Clint. Ich spürte es im Unterbewusstsein, und du weißt aus anderen Fällen, daß ich eine sehr sensible Antenne für so was habe. Dieser Mann hatte einen ›schwarzen Hintergrund‹. Frag mich nicht, wieso ich darauf komme. Es ist Instinkt. Oder Intuition. Wie immer man es auch nennen will.« Sie hatte Clint schon einmal erklärt, was ein ›schwarzer Hintergrund‹ ist. Shirl und Clint hatten mehrere Fälle aufgeklärt, bei denen
sich Verbrecher überirdischer Kräfte bedient hatten – entweder aus purer Lust am Töten oder um sich so Vorteile zu verschaffen. Knapp einen Monat war es her, da hatte sich in Los Angeles ein Mann der Hilfe von Zombies bedient, um einen Geldtransport auszurauben. Es war ihm auch gelungen. Es war purer Zufall gewesen, daß Shirl Randall ihn aufspürte. Während einer transzendentalen Meditation, die ihren Ursprung in einem völlig anders gelagerten Fall gehabt hatte, hatte sie – so nannte sie es später – die falsche Wellenlänge erwischt und war Zeugin eines Dialogs zwischen dem Verbrecher und Shimor geworden. Und Shimor war Shirl keineswegs ein Unbekannter. Shimor gehörte zu den Mächtigen der Finsternis und befehligte ein ganzes Heer von Dämonen, Vampiren, Werwölfen, Hexen und Zombies. Und wenn Shimor auch sehr mächtig war, so mußte er doch vor Shirl Randall kapitulieren. Ihre Macht hatte sich als stärker erwiesen. Der Gangster hatte einen unheilvollen Pakt mit Shimor geschlossen. Shimor half ihm, dafür durfte er den Verbrecher nach dessen Tod zu einem Zombie machen. Ein Bündnis, das gar nicht einmal so selten war. Um es kurz zu sagen: ein ›schwarzer Hintergrund‹ war nichts anderes als ein Abkommen zwischen einem 51 �
verbrecherischen Menschen und den Mächten der Finsternis. Oder der Unterwelt im wahrsten Sinne des Wortes, wie es Shirl Randall ausgedrückt hatte. »Du glaubst also, daß dieser VilcaUmu-Verschnitt ein ganz materielles Ziel verfolgt?« erkundigte sich Clint Bowen. »Richtig, mein Schatz«, murmelte Shirl Randall. »Und dabei muß ich an die Worte dieses Inspektors in La Paz denken.« »Was denn… was denn…?« Clint schüttelte den Kopf. »Mädchenhandel! Das glaube ich nicht, Baby. Und wenn… ich meine, falls deine Annahme stimmen sollte… wozu dann dieses ganze Brimborium, Shirl? Er brauchte die Mädchen doch nur zu entführen. Hier, in den Bergen, könnte man wochenlang suchen, ohne eine Spur zu finden.« Shirl Randall schmiegte sich eng an ihn, legte eine Wange auf seine Brust. »Natürlich ginge das. Aber er – oder sie – rechnen anders, Clint! Nämlich mit dem Aberglauben der Leute hier. Und ihrer Furcht vor den alten Göttern und Dämonen. Immer vorausgesetzt, daß es so wäre.« Clint Bowen dachte nach. Schließlich meinte er: »Okay, Baby. Du hast diese drei Girls rausgeholt. Das muß Folgen haben. Oder meinst du nicht? Wenn ja – welche?«
»Kann ich dir nicht sagen, Clint. Es gibt etliche Möglichkeiten. So könnte es sein, daß sich Pachamama und Illapa an Vilca Umu rächen. Entweder weil sie ihm auf die Schliche kommen, oder nur, weil er sich die Mädchen abnehmen ließ. Möglicherweise brüten Pachamama und Illapa auch etwas gegen mich aus. Die ›Nacht des Jaguars! steht bevor, und in dieser Nacht verlangt der Donnergott Opfer. Das heißt, damals verlangte er sie. Menschenopfer.« Clint schüttelte sich. »Grausig. Aber nun zu diesem Vilca Umu, Baby. Du sagtest, seine Aura verriete, daß er aus Fleisch und Blut wäre. Wenn er aber, ich drücke es mal so aus, mit den beiden Göttern zusammenarbeitet, muß er doch über bestimmte Fähigkeiten verfügen.« »Zweifellos, Clint! Aber jetzt möchte ich endlich schlafen!« Dafür hatte Clint Bowen Verständnis. Schließlich hatte er Shirl Randall bereits mehr als einmal in Aktion erlebt und wußte daher, wie erschöpft sie nachher immer war. Sie verausgabte sich stets psychisch und physisch völlig. So schwieg er. Minuten darauf verkündeten tiefe und ruhige Atemzüge, daß Shirl fest schlief. * Vilca Umu stand wie zur Salzsäule � 52 �
erstarrt und mußte tatenlos zusehen, wie die drei Mädchen aus Tipuani von Shirl Randall befreit wurden. Er sah und hörte alles, vermochte jedoch kein Glied zu bewegen. Es war, als wäre er versteinert. Vier Stunden dauerte diese Starre. Während dieser Zeit stand er da und mußte es sich gefallen lassen, daß ein prächtiger Jaguar um ihn herumstrich. Es war Illapa, der allein gekommen war. Nur wenn er mit Pachamama gemeinsame Sache machte, erschien sein Kopf auf einem Schlangenleib. Die Macht des Donnergottes war so groß, daß er in verschiedenen Gestalten erscheinen konnte, aber stets mit dem Kopf eines Jaguars. In den einsamen Bergdörfern Perus und Boliviens gab es Leute, die behaupteten, sie hätten ihn in Menschengestalt mit Raubtierkopf gesehen. Möglich war es, und es sollte sich auch noch bewahrheiten. Als Shirl Randalls Amulett die Wirkung seiner Macht aufhob, begann sich Vilca Umu zu bewegen. Der Jaguar zog sich knurrend zurück und verschwand. Er spürte wahrscheinlich die magischen Kräfte des Amuletts und zog es vor, erst einmal abzuwarten. Vilca Umu sah sich um, machte ein zorniges Gesicht und verließ das Gewölbe. Niemand erschien, um ihn daran zu hindern. Alles blieb ruhig. Weder Pachamama noch Illapa zeig-
ten sich. Der Mann mit dem goldenen Helm tauchte im dunklen Tunnel unter… * Der Helikopter kam aus La Paz, war westlich am sechseinhalbtausend Meter hohen Illampu vorbeigeflogen und dann nach Nordosten abgeschwenkt. Minutenlang blieb er über einem der vielen Seitentäler stehen, drehte sich um fünfundvierzig Grad, bevor er zur Landung ansetzte. Als die Kufen auf einer von der Erosion glatt geschliffenen Mesa aufsetzte, tauchte aus einer Felsspalte an der linken Steilwand ein Mann auf. Er trug Jeans, hochhackige Stiefel, ein schwarzes Hemd und eine Lederjacke. Sein blauschwarz schimmerndes Haar reichte bis auf den Kragen der Jacke. Einen Hut trug er nicht. Langsam ging er auf den Helikopter zu, dessen Rotoren noch einige Umdrehungen machten, ehe sie stehen blieben. Aus dem Cockpit kletterten zwei Männer: Rubén Rodríguez und sein Bruder Basilio. »Hola, Narciso!« Rubén Rodríguez winkte dem Mann zu, der die Rolle Vilca Umus spielte. »Alles in Ordnung?« Narciso Guitierrez schüttelte den Kopf. »Nein, Señor«, sagte er mit kehli53 �
ger Stimme. »Es ist was passiert, das Ihnen nicht gefallen wird.« Die dunklen Augen des Industriellen aus La Paz zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »So was hör' ich gar nicht gern, Narciso. Also…?« »Die drei Mädchen sind frei.« Es traf Rubén Rodríguez wie ein Schock. Er zuckte zusammen, ballte die Hände und war mit drei langen Schritten dicht vor Guitierrez. »Was heißt das?« zischte er. »Verdammt, Luis hat sie bereits anvisiert! Und du weiß genau, wie aufsässig die Burschen in den Minen sind! Mierda!« Nach diesem unschönen Fluch packte er Narciso an den Aufschlägen seiner Jacke. »Erzähl!« Die hohen Wangenknochen des anderen zuckten und traten stark hervor. In seinen dunklen Augen wetterleuchtete es, drohend und gefahrverkündend. Dann griffen seine Hände zu und umklammerten Rubén Rodríguez' Gelenke. Der Mann aus La Paz unterdrückte einen Schmerzensschrei. Er hatte plötzlich das Gefühl, unter Hochspannung zu stehen. Feurige Ströme gingen von den Händen Narcisos aus, flössen durch Rodríguez Arme und breiteten sich über den ganzen Körper aus. Wie durch Watte gefiltert, drang Narcisos Stimme an sein Ohr. »Señor, ich bin nicht Ihr Sklave! Ich habe mich bereiterklärt, meine
Fähigkeiten gegen gute Bezahlung für Ihre Interessen einzusetzen! Das gibt Ihnen aber keineswegs das Recht, mich wie einen Ihrer Minenarbeiter zu behandeln!« Basilio Rodríguez war einen Schritt zurückgewichen, als er das schmerzverzerrte Gesicht seines Bruders sah. In respektvoller Entfernung blieb er stehen und spürte, daß ihm kalter Schweiß auf die Stirn getreten war. Bis jetzt hatte er Zweifel an Narciso Guitierrez' Fähigkeiten gehabt, doch sie begannen nun zu schwinden. Rubén, sein Bruder, war alles andere, nur kein Schwächling. Und nun mußte er erleben, wie Rubén unter dem Griff des Mannes, der ein Nachkomme des legendären Vilca Umus sein sollte, zu zittern begann, daß er nicht den geringsten Versuch unternahm, sich aus der Umklammerung der Hände zu befreien. Narciso Guitierrez ließ Rubén plötzlich los, trat einen Schritt zurück und blickte den Industriellen starr an. »Verdammt!« Mehr sagte Rubén Rodriguez zunächst nicht. Er blickte auf seine Handgelenke. Auf der gebräunten Haut zeichneten sich Narcisos Finger ab – so deutlich, als wären sie eingebrannt. »Keine Sorge, Señor«, meinte Narciso, »wenn Sie wieder in La Paz sind, wird man nichts mehr sehen. Das war nur eine kleine Warnung!« Der Industrielle schluckte mehr54 �
mals, warf einen Blick auf Basilio, dessen Gesicht sich verzogen hatte. Eine Mischung aus Skepsis und Verblüffung stand darin. »Also gut«, meinte der Industrielle endlich. »Ich hab's kapiert, Narciso. Doch nun würde ich gern erfahren, was geschehen ist.« »Diese blonde Frau… sie hat die Mädchen geholt.« Über Narcisos Gesicht huschte ein Schatten. »Ich…« Mittlerweile hatte sich Rubén Rodriguez wieder gefangen. Er hütete sich jedoch, heftig oder gar ausfallend zu werden. »Wie ist das möglich?« unterbrach er Narciso Guitierrez. »Hat diese Frau mehr Macht als du? Narciso, wir sind gekommen, weil wir…« Jetzt wurde er unterbrochen. Von seinem Bruder. Basilio war näher getreten und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. »Nun lass Narciso doch erst einmal erzählen, Rubén«, sagte er. »Was wir wollen, können wir ihm nachher sagen.« Und in Gedanken fügte er hinzu: ›Falls es dann überhaupt noch Zweck hat.‹ »Gut, gut!« Rubén rieb sich die noch immer schmerzenden Handgelenke. »Also bitte, Narciso…« »Diese Frau ist ein Phänomen«, kam es über Narcisos Lippen. »Niemals hätte ich gedacht, daß sie über solch geheimnisvolle Kräfte verfüge. Sie hat Mumienpriester, die aus
ihren Gräbern gekommen waren, vernichtet. Und dann schaffte sie es, einige von Illapas Jaguarschlangen zu töten. Mit einem Lichtdolch.« »Lichtdolch?« Rubén Rodriguez schüttelte den Kopf. »Was soll das sein, Narciso?« Der Gefragte beschrieb es. Und Rubén Rodriguez schüttelte erneut den Kopf. »Ich bin zwar kein Techniker, Narciso, aber wie du es schilderst… nein, so was gibt's nicht. Was meinst du, Basilio? Denkst du das, was ich denke?« »Laser. Ja, daran denke ich auch, Hermanno! Allerdings, hm, bis jetzt habe ich solche Dinger nur in SF-Filmen gesehen. Immerhin sollen die Amerikaner Lasergewehre besitzen, die sie in Vietnam ausprobiert haben. Unmöglich ist nichts in dieser Zeit.« Narciso Guitierrez winkte ab. »Von solchen Dingen verstehe ich nichts. Nur das weiß ich: Diese Frau kann mit dem Lichtstrahl töten. Sogar Illapas Jaguarschlangen, gegen die nicht einmal eine Revolverkugel etwas auszurichten vermag. Aber dieses tödliche Licht ist nicht alles. Sie besitzt ein Amulett, das über eine ungeheure Macht verfügt.« Und er berichtete, was mit ihm geschehen war. Als er schwieg, sahen sich die Brüder Rodriguez an. Basilio hütete sich, etwas von seinen Zweifeln an 55 �
Narcisos Bericht laut werden zu lassen. Wenn er auch zugeben mußte, daß Narciso Guitierrez über bestimmte übersinnliche Kräfte verfügte – er verglich ihn manchmal mit einem Fakir – so nahm er ihm bei weitem nicht alles ab. Anders hingegen Rubén. Seitdem er durch Luis Pasco, seinem Sekretär, mit Narciso Guitierrez ins ›Geschäft‹ gekommen war, um sich dessen Hilfe bei der Beschaffung von Mädchen für die Indioarbeiter in den Minen zu versichern, glaubte er alles, was er über diesen Mann erfahren hatte. Auch, daß Narciso ein direkter Nachkomme Vilca Umus und von diesem mit enormen Fähigkeiten ausgestattet worden war. »Ein Teufelsweib«, murmelte Basilio. Narciso wirbelte herum. »Und wenn sie mit dem Teufel im Bunde stände, Señor… glauben Sie, daß der Teufel mächtiger ist als Illapa und Pachamama?« Basilio zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich kenne mich da nicht aus.« Narciso Guitierrez schien zu spüren, daß Basilio anders dachte als Rubén. »Señor«, sagte er, »ich weiß, was Sie denken. Aber ich sage Ihnen: Wenn diese blonde Frau nicht für immer verschwindet, werde ich
Ihnen nicht helfen können!« Schweigen breitete sich zwischen den drei Männern auf der Mesa aus. Es war Rubén Rodriguez, der es brach. »Narciso, wir dachten daran, daß diese Frau sich sehr gut im Camp der Minenarbeiter machen würde. Sie soll sehr hübsch sein. Und blond dazu. Ist mal was anderes, und ich bin sicher, daß sich die Minenarbeiter um sie reißen werden. Oder?« Guitierrez machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, nein! Da spiele ich nicht mit, Señor! Es ist… ich meine… es geht nicht! Illapa und Pachamama sind erzürnt, weil ich versagt habe. Und…« »Moment! Was soll das heißen, Narciso?« Rubén Rodríguez sah ihn mißtrauisch an. »Die Nacht des Jaguars«, klang es zurück. »Illapa erwartet, daß…« Narciso Guitierrez brach ab, weil er merkte, daß er auf dem besten Wege war, die Wahrheit darüber zu sagen, was mit den drei Mädchen ursprünglich hätte geschehen sollen. Die Brüder Rodríguez waren Bolivianer und wussten, was es mit der ›Nacht des Jaguars‹ auf sich hatte. Jeder Mensch in diesem Lande wußte es. »Das heißt also, daß du gar nicht die Absicht hattest, die Mädchen in die Mine zu bringen, Narciso«, zischte Rubén Rodríguez. »Sie soll56 �
ten deinem verdammten Illapa geopfert werden. Ist es so?« Narciso versuchte, sich aus der Schlinge zu ziehen. »Nur symbolisch, Señor«, stieß er hervor. »Nur symbolisch. Am nächsten Morgen hätte ich sie zu den Minenarbeitern gebracht.« Rubén lachte hinterhältig. »Und du denkst, daß ich dir das abnehme? Gut, Narciso, ich gebe dir eine Chance! Besorge andere Mädchen! Oder dieselben. Und die Amerikanerin dazu. Tust du es nicht, wirst du sterben.« Narciso Guitierrez war blaß geworden. »Señor, das… das ist… ist unmöglich.« »Du hast keine Wahl, Narciso«, klang es kalt zurück. »Entweder tust du, was ich gesagt habe, und wirst dafür gut bezahlt… oder du fährst in die Hölle. Und das meine ich wörtlich! Kapiert? Komm, Basilio!« Er wandte sich ab und ging zum Helikopter. Sein Bruder folgte ihm. Narciso Guitierrez blickte ihnen wütend nach. »Cojones!« fluchte er sehr unfein. Dann drehte er sich um und ging davon. * »Wollen doch mal sehen, ob er nicht spurt«, knurrte Rubén Rodriguez und schnallte den Gurt um. »Wir brauchen die Mädchen, Basilio!
Diese verdammten Indios in den Minen werden sonst noch aufsässiger.« »Richtig. Außerdem könnte man es erweitern. Mädchen bringen nun mal gutes Geld, wenn man sie an die richtigen Stellen verkauft, Rubén. Was meinst du? Wird Narciso tun, was du verlangt hast?« Rubén lachte zynisch. »Was bleibt ihm denn übrig, hm? Sein Freund Illapa kann ihm kein Geld geben, haha.« Er fügte einen obszönen Fluch hinzu. »Und wir brauchen die Mädchen, Basilio. Scheißregierung! Wären die Obristen nicht so verbohrt und engstirnig, gäbe es keine Schwierigkeiten, für jeden Minero eine Liebesfee zu besorgen. Dann könnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Einmal stellen wir die Arbeiter zufrieden, zum anderen kassieren wir noch dabei ab. Paco wird sich um Narciso kümmern. Und wenn sich unser Freund sperrt, schicken wir ihm El Feo auf den Hals.« Basilio Rodriguez verzog das Gesicht. El Feo – der Hässliche – war ein breitschultriger Indio, dessen Gesicht von einer Messernarbe und einer Hasenscharte verunstaltet wurde. Er war das, was man gemeinhin als Killer bezeichnet. Vor einigen Tagen erst hatte er einen der Mineros, der nach Rubén Rodriguez Ansicht seine Kollegen aufgestachelt hatte, getötet und die 57 �
Leiche vom Hubschrauber aus in den Titicacasee fallen lassen. Aus ziemlicher Höhe und mit einem alten Getrieberad beschwert. »Rubén«, meinte Basilio, während sie über die Berge nach La Paz zurückflogen, »vielleicht wäre es besser, El Feo auf die Amerikanerin anzusetzen. Narciso scheint einen Höllenrespekt vor ihr zu haben.« »Ein guter Vorschlag, Brüderchen«, grinste Rubén Rodriguez. * »Und wie geht's jetzt weiter, Baby?« fragte Clint Bowen. Er und Shirl Randall saßen bei einem sehr frugalen Frühstück. Mit Coronel Toja hatte Shirl bereits über Funk gesprochen. »Das kann ich noch nicht sagen, Clint«, erwiderte sie. »Auf jeden Fall werden wir noch einmal zur Mesa hinauf fahren.« Clint schüttelte den Kopf. »Und was versprichst du dir davon?« Er zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort, da sie nicht sofort antwortete: »Unser Job ist erledigt, meine ich. Die Mädchen sind wieder frei und…« »… und irgendwann wiederholt sich das Ganze. Nein, Clint, erst muß der Bursche, der die Rolle Vilca Umus spielt, unschädlich gemacht werden.«
Clint Bowen lachte gezwungen. »Und wie willst du das anstellen, Baby?« fragte er. »Der Kerl verfügt doch offensichtlich über überirdische Kräfte.« »Wie ich, mein Lieber, wie ich.« »Na ja, zugegeben. Immerhin bist du ein Mensch aus Fleisch und Blut.« Er grinste. »Niemand kann das besser beurteilen als ich, Darling.« Sie tat so, als hätte sie die letzten Worte nicht gehört. »Clint, ich hab' dir doch gesagt, daß seine Aura ihn verraten hat. Er ist kein Geist, kein Dämon, kein Zombie. Daß er über übersinnliche Fähigkeiten verfügt, streite ich gar nicht ab.« Sie sah an Clint Bowen vorbei und starrte auf einen Fleck an der Wand. Nach einigen Minuten fragte Bowen: »Woran denkst du, Shirl?« »Mir ist eingefallen, daß es in diesen Bergen Minen gibt, Clint. Vielleicht existieren unterirdische Verbindungen. Eben von diesen Minen zu den Gewölben und Gängen, in denen ich gewesen bin. Und dann – dieser Bursche, der die Rolle Vilca Umus spielt, muß irgendwo leben und wohnen. Vielleicht arbeitet er sogar in einer der Minen.« »Möglich. Aber…« Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Komm, ich möchte mit Padre Martino und den beiden Polizisten 58 �
sprechen.« Sie erhob sich und angelte sich ihren Parka. Auch Bowen stand auf. Er verstand zwar nicht, was Shirl von den dreien erfahren wollte, aber er würde sich überraschen lassen. Als sie auf die Straße traten, die im hellen Sonnenlicht lag, sahen sie den Padre und einen der beiden Polizisten. Die beiden standen vor der Polizeistation und unterhielten sich, verstummten jedoch, als sie die beiden Amerikaner näher kommen sahen. Francisco Abbado grüßte respektvoll, der Padre begnügte sich mit leichtem Nicken des Kopfes. Shirl Randall sah den Priester an. »Ich habe eine Frage.« Ihr Blick glitt für einen Moment zu dem Polizisten hin. »Vielleicht kann sie mir einer von Ihnen beantworten.« »Bitte, fragen Sie«, murmelte der Padre. »Wo befindet sich die nächste Mine?« Die Antwort kam von Francisco Abbado. »Nicht sehr weit von hier. Aber der Weg dorthin ist sehr weit.« Dieser offensichtliche Widerspruch klärte sich schnell auf. Padre Martino erklärte es. »Luftlinie sind es nur wenige Meilen«, sagte er, »aber zwischen hier und der Mine liegen tiefe Schluchten einerseits und hohe Berge andererseits. Mit Ihrem Wagen wäre es natürlich einfacher als zu Fuß. Sie müßten bis zur Straße fahren, die
nach Norden zum Rio Beni führt. Allerdings gibt es nur einen sehr schlechten Karrenweg bis zu dieser Straße. Na ja, und die Straße selbst… sie ist sehr schlecht.« »Das nehmen wir in Kauf, Padre«, erwiderte Shirl Randall. »Wenn ich recht verstanden habe, müssen wir nach Südwesten abbiegen.« »Richtig«, klang es zurück. »Sie müssen, um zur Mine zu gelangen, bis zum Titicaca fahren. Kurz vor dem See zweigt eine gute Straße ab. Folgen Sie ihr.« »Sie geht zur Mine?« Der Padre nickte. »Ja. Sehen Sie dort!« Sein ausgestreckter Arm wies auf einen Berg, dessen Spitze pfeilförmig endete und hoch in den blauen Himmel ragte. »Die Mine liegt direkt dahinter. Wie gesagt – es wäre von hier aus nicht weit. Da es jedoch keine Möglichkeit gibt, auf kürzestem Weg dorthin zu kommen, muß man den großen Umweg machen. Wir leben nun mal in den Kordilleren, Señorita. Aber darf ich fragen, was Sie in der Mine sehen wollen? Das ist wahrlich kein Ort, an dem sich eine Frau sehen lassen sollte.« Shirl lächelte. »Raue Männerwelt – ich kann's mir vorstellen, Padre. Nun, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich belächeln – ich habe heute nacht Vilca Umu gesehen. Und mit ihm gesprochen. Er hatte die Mädchen in seiner Gewalt.« 59 �
Der Padre schlug ein Kreuz. Der Polizist riß die Augen auf, machte dann ebenfalls das Kreuzzeichen und murmelte: »Madre de Dios!« »Vilca Umu?« sagte Padre Martino. »Der alte Inkapriester? Aber so was gibt es nicht. Vilca Umu ist seit… ach was… Sie scherzen.« »Durchaus nicht«, widersprach Shirl Randall. »Natürlich weiß ich, daß Vilca Umu tot ist. Trotzdem – es gibt jemanden, der seine Rolle spielt.« Jetzt begriff Padre Martino. »Ah, so ist das. Aber…« »Moment bitte«, unterbrach Shirl ihn. »Damit wir uns nicht missverstehen, Padre: Dieser Mann besitzt übersinnliche Fähigkeiten. Ob Sie es nun wahrhaben wollen oder nicht. Besuchen Sie die alte Begräbnisstätte der Illapa-Priester. Sie werden einige leere Gräber vorfinden.« »Was?« »Ja. Ich… lassen wir es, Sie würden es sowieso nicht glauben. Noch zwei Fragen: Wem gehört die Mine? Und gibt es irgendwo in den Bergen noch ein Dorf? Beziehungsweise leben Menschen irgendwo außerhalb eines Dorfes?« Minutenlang herrschte Schweigen. Der Padre und der Polizist sahen sich an. Schließlich erklärte Francisco Abbado: »Nein, Señorita. In unmittelbarer Nähe gibt es keine Ortschaft. Die nächste ist Sarata im Südwesten. An
ihr vorbei verläuft übrigens die Straße zur Mine. Und ob jemand in den Bergen lebt? Nein, jedenfalls ist mir nichts bekannt. Ich wüsste auch nicht, wo und wie. In einigen Tälern, in denen zeitweise Schaf- und Lamaherden weiden, gibt es primitive Hütten für die Hirten. Aber ständig leben kann man dort nicht.« Shirl Randall dankte und wollte sich abwenden, doch Padre Martino hielt sie zurück. »Señorita«, sagte er, »vielleicht sollten Sie mir doch alles erzählen. Ich werde ein aufmerksamer Zuhörer sein.« Er lächelte sparsam. »Natürlich… ich bin Geistlicher, aber… na ja, ich bin auch ein Kind dieses Landes.« Shirl lächelte ebenfalls. »Ich verstehe, Padre. Nun, ich habe nicht nur Vilca Umu gesehen, dessen Aura mir allerdings verriet, daß er ein Mensch wie Sie und ich ist. Aber ich traf ihn in einem Tempelgewölbe mit einem jaguargeschmückten Altar. Einem sehr kostbaren übrigens. Das ist noch nicht alles, Padre. Ich mußte einige Schlangen mit Jaguarköpfen töten. Sie wissen, was das bedeutet?« Der Padre verfärbte sich und nickte. »Ja. Kreaturen Illapas, des alten Gottes mit dem Jaguarkopf.« Wieder schlug er ein Kreuz. . »Richtig. Aber die Tatsache, daß Vilca Umu eine menschliche Aura besitzt, läßt in mir einen gewissen Verdacht 60 �
aufkommen, den ich jedoch nicht aussprechen möchte. Noch nicht. Übrigens, eine meiner Fragen ist noch nicht beantwortet: Wem gehört die Mine?« »Einem Mann in La Paz«, ließ sich der Polizist vernehmen. »Rubén Rodríguez heißt er. Nicht sehr beliebt bei den Mineros. Ein harter Mann. Er beutet die Arbeiter aus. Und er kann es um so leichter, als es für die Männer sonst nirgendwo Arbeit gibt, Señorita.« »Arbeiten Männer aus diesem Dorf dort?« »Nein. Nicht in dieser Mine.« Shirl sah den Polizisten gespannt an. »Das klingt so, als arbeiten Männer aus Tipuani in anderen Minen?« »Ja. Ich habe gehört, daß Rodríguez niemals jemanden in Nähe seines Heimatdorfes arbeiten läßt. Fast alle Minen gehören ihm ja. Auch die weiter im Norden. Bei Mocomoco zum Beispiel.« »Danke, Padre, Sie sollten sich die alte Begräbnisstätte wirklich ansehen. Und Sie sollten dafür sorgen, daß nach Einbruch der Dunkelheit niemand die Häuser verlässt. Vor allem nicht junge Mädchen.« Padre Martino wollte noch etwas sagen, aber Shirl Randall hatte sich bereits abgewandt und ging zum Landrover. Clint Bowen, der der Unterhaltung schweigend gefolgt war, holte sie ein und fragte: »Du willst zur Mine?«
Sie nickte. »Zumindest in die Nähe. Ich bin sicher, daß wir Vilca Umu – besser gesagt, den Mann, der seine Rolle spielt – dort finden werden.« »Ich wundere mich über gar nichts mehr und lass' mich überraschen«, sagte Clint Bowen und setzte sich hinters Steuer. * Narciso Guitierrez stand auf einer Felsengalerie und sah hinunter auf die Straße, die zur Mine führte. Von seinem Standort aus konnte er weit im Westen die silbern schimmernde Fläche des Titicacasees sehen, in nordöstlicher Richtung schaute er auf die Holzbauten der. Mine. Er hatte lange überlegt. Und wenn er schließlich zu dem Schluss gekommen war, die blonde Amerikanerin unschädlich zu machen, dann nicht wegen der Forderung von Rubén Rodriguez. Es hätte einen anderen Grund: die Angst vor dem Zorn Illapas. Der Jaguargott hatte ein Opfer verlangt. Vielleicht gab er sich mit der blonden Frau zufrieden. Allerdings hatte Narciso Guitierrez nicht mehr viel Zeit. Denn die kommende Nacht gehörte Illapa, der sich mit Pachamama verbündet hatte. Und diesmal durfte nichts schief gehen. Bekam Illapa seinen Willen nicht, war alles vorbei. Die 61 �
›Nacht des Jaguars‹ fand nur alle fünfzig Jahre statt. Beim letzten Mal hatte Narcisos Vater dem Gott zwei Mädchen geopfert. Und nun war es an ihm, Illapa zufrieden zu stellen. Konnte er es nicht, würde es niemals wieder eine ›Nacht des Jaguars‹! geben, würde alles zerstört werden. Narciso Guitierrez verfluchte sich selber, weil er aus einer Laune heraus mit Luis Paco, dem Sekretär von Rodriguez, über seine Fähigkeiten gesprochen und ihm einen Beweis dafür erbracht hatte. Paco hatte dann dem Industriellen alles erzählt, der daraufhin Narciso unter Druck gesetzt hatte. Rubén Rodriguez sah eine Gelegenheit, den aufsässigen Mineros Mädchen zu beschaffen. Es gärte seit längerem in seinen Minen, weil er den Arbeitern keinen Urlaub gewährte, so daß sie nicht zu ihren Familien konnten. Oder in eine Stadt. Wenn sie auch nicht viel verdienten, so wollten sie jedoch für ihr Geld etwas haben. Vor allem Frauen. Die sollte nun Narciso beschaffen. Nur widerwillig hatte er eingewilligt. Und gerade jetzt war er in eine Zwickmühle geraten, denn nicht nur Rubén Rodríguez bedrängte ihn, auch Illapa wollte sein Recht. Er mußte also zwei Herren dienen. Nun war diese Amerikanerin aufgetaucht, hatte die drei Mädchen befreit, die er einerseits Illapa und
Pachamama zugedacht hatte, und auf die andererseits Rodríguez Anspruch erhob. Mädchen aus einem anderen Bergdorf, die Narciso Guitierrez in seine Gewalt gebracht hatte, lebten jetzt in einer Rodriguez-Mine in der Nähe des Dorfes Pelechuco. Plötzlich kniff Narciso Guitierrez die Augen zusammen. Ein Landrover kam die etwas ansteigende Straße zur Mine hinauf. Langsam ließ er sich auf die Knie nieder, legte sich dann lang hin und beobachtete den Wagen. * »Glaubst du, daß du hier etwas findest, Shirl?« fragte Clint Bowen. Sie zuckte mit den schmalen Schultern. »Möglich. Ich glaube jedenfalls, daß es unterirdische Verbindungen von der Mine zu den Gewölben und Gängen gibt, in denen ich gewesen bin. fahr weiter, warum bremst du ab?« Er hatte das Gas weggenommen und das Bremspedal getreten. »Soll ich durchbrechen?« fragte er und deutete nach vorn, wo sich eben ein Schlagbaum senkte. »Natürlich nicht. Halte an der Sperre! Irgend etwas wird mir schon einfallen, Clint.« Schon wollte er weiterfahren, als er sich aus dem Fenster beugte. »Ein Hubschrauber, Baby«, sagte er. Und 62 �
nun hörte sie auch das typische Flappern der Rotorblätter. »Ein Bell.« Jetzt geriet der Helikopter in ihr Blickfeld. Er flog sehr niedrig, passierte den Landrover und setzte hinter der rot-weißen Schranke auf dem freien Platz vor zwei größeren Holzhäusern zur Landung an. »Warte!« sagte Shirl. Clint Bowen schaltete den Motor aus und sah nach vorn. Ein Mann verließ den Helikopter, duckte sich und rannte auf die Schranke zu. Als er sich aufrichtete, war zu erkennen, daß es ein hochgewachsener Indio war. Er trat an die Schranke, wechselte einige Worte mit einem Mestizen, der aus einem der Häuser gekommen war, nickte, bückte sich, unterlief die Sperre und kam auf den Landrover zu, der in ungefähr dreißig Meter Entfernung stand. »Mein Himmel, ist der Kerl abschreckend hässlich«, entfuhr es Shirl Randall, als sie das Gesicht deutlicher erkennen konnte. Wirre, abstehende Haare, Segelohren, eine fliehende Stirn, breite Nase, stark hervorstehende Wangenknochen, eine blutrote Narbe, eine Hasenscharte und ein fast viereckiges Kinn. Und hervorstehenden Augen – wie bei einem Riesenfisch. El Feo – der Hässliche… Ruben Rodriguez Killer! *
»Der führt nichts Gutes im Schilde, Shirl«, murmelte Clint Bowen. »Und er sieht auch nicht aus wie ein Bergdämon, sondern wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Wie ein Mensch, der Lust am Töten hat.« Während er sprach, zog er seinen Magnum-Revolver und überprüfte ihn. »Was auch geschieht, Baby, du bleibst im Wagen!« »Was hast du vor?»fragte Shirl Randall. Er grinste. »Mit Geistern, Dämonen und anderem Unkraut wirst du fertig, Honey, aber Bestien in Menschengestalt fallen in mein Ressort.« Er stieg aus und blieb neben dem Kotflügel stehen, die Rechte mit der Waffe auf dem Rücken. El Feo fletschte die Zähne und rollte mit den Augen. Vielleicht hielt er das für besonders furchteinflößend. Ohne sich an Clint Bowen zu stören, trat er an die andere Seite des Landrovers. Shirl beugte sich nach links, als das hässliche Gesicht sich an die Scheibe preßte und sie angrinste. »Stop!« rief Clint Bowen. El Feo sprach zwar kein Englisch, aber dieses Wort verstand er. Sofort richtete er sich auf und hatte wie durch Zauberei ein Messer in der Rechten. Wieder fletschte er die Zähne und kam geduckt um den Wagen herum, 63 �
auf Bowen zu. Clint blieb stehen. Der Zeigefinger seiner Rechten lag bereits am Abzug, den Hahn hatte er längst zurückgezogen. Obwohl es bei der Double-Action-Waffe nicht notwendig war, tat er es vor dem ersten Schuß immer. Um ganz sicher zu gehen. Und um sehr schnell zu sein. Manchmal entscheiden Sekundenbruchteile. El Feo bewegte sich mit der Grazie eines Panthers, was man bei seiner großen, massigen Figur nicht erwartet hätte. Und wie ein Panther sprang er auch aus dem Stand heraus, das Messer in der zum Stoß erhobenen Rechten. Clint Bowen steppte zur Seite, drehte sich etwas und ließ das rechte Bein vorschnellen. El Feo konnte nicht mehr abbremsen, stolperte über das Bein, segelte mit dem Kopf voran und rammte mit ihm die Karosserie. Fast gleichzeitig gellte ein Schrei auf. Clint Bowen wirbelte herum, richtete den Revolverlauf auf den Indio, in der Annahme, daß der Bursche einen Trick versuchen würde. Dann aber sah er, daß das Messer bis zum Heft in der Brust El Feos steckte. Der Indio hatte im Moment des Stolperns und Fallens die Hand gedreht und war dann ins eigene Messer gefallen. Als sich Clint Bowen über ihn beugte, den schweren Körper ganz
herumdrehte, starrten ihn gebrochene Augen an. Er richtete sich auf, winkte Shirl beruhigend zu. »Er lebt nicht mehr«, sagte er durchs offene Fenster. »Und jetzt, Shirl, werde ich mich mal mit den Leuten in der Mine unterhalten. Schreib dir die Nummer des Hubschraubers auf.« Shirl nickte nur. In diesem Moment stieg der Helikopter, der bis jetzt mit laufendem Rotor gestanden hatte, auf und schnarrte davon, drehte ab und verschwand zwischen zwei Bergspitzen. »Hast du die Nummer, Baby?« erkundigte sich Clint Bowen. Er hatte noch immer den Revolver in der Hand und sah zur Schranke hin. Dort waren drei Männer aufgetaucht. Ein Weißer und zwei Indios. Die Schranke ging hoch, die Männer kamen auf den Landrover zu. »Ich hab' sie, Clint. Ich… was…« »Später, Mädchen, später!« zischte Clint. Er sah den dreien gespannt entgegen. Freundliche Mienen trugen sie nicht gerade zur Schau. »Señor!« sagte der Weiße und blieb mit seinen Begleitern einige Schritte vor Clint stehen. »Sie haben den Mann getötet!« Clint Bowen lachte humorlos. »Woher wollen Sie das wissen?« fragte er. »Er hat ein Messer in der Brust.« Clint hob die Rechte mit dem 64 �
Magnum. »Glauben Sie, daß ich mit dem Ding hier Messerklingen verschießen könnte?« »Sie könnten es ihm in die Brust gestoßen haben«, meinte der Mann. »Reden Sie keinen Unsinn, Amigo!« Clint Bowen deutete auf Shirl, die noch immer im Wagen saß. »Erstens habe ich eine Zeugin. Zweitens hat der Bursche mich angegriffen. Mit dem Messer in der Faust. Drittens ist er gestolpert, gefallen und hat sich selber umgebracht. Übrigens – wem gehört eigentlich der Hubschrauber, mit dem dieser Bursche da gekommen ist? Sie werden der Polizei einige Erklärungen geben müssen!« »Wer?« klang es zurück. »Wir?« Der Weiße lachte zynisch. »Ich befürchte, daß es Ihnen an den Kragen geht.« »Ach ja?« Clint Bowen schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, daß Coronel Toja da aber ganz anderer Ansicht sein wird. Also? Wer ist Besitzer des Hubschraubers? Wenn Sie's nicht sagen wollen – auch gut! Wir haben die Zulassungsnummer, und Coronel Toja wird sehr schnell herausfinden, wem das Ding gehört. Und jetzt nehmen Sie Ihren Freund mit und verschwinden.« Der Lauf der Magnum richtete sich auf die Brust des Weißen. »Gut, gut! Sie bedrohen uns mit der Waffe.« Der Mann gab den beiden Indios einen Wink, die darauf-
hin den toten El Feo aufnahmen und davontrugen. »Aber die Sache wird ein Nachspiel haben.« Clint grinste. »Das glaube ich auch. Aber anders, als Sie denken. Ich finde es nämlich sehr bemerkenswert, daß der Bursche ausgerechnet kam, als wir hier aufkreuzten. Irgend jemand hat ihn geschickt. Und sein Interesse galt meiner Begleiterin. Wir werden jetzt zurückfahren, Señor! Von Tipuani aus werde ich Coronel Toja in La Paz informieren. Und ich bin sicher, daß er sich dann sehr eingehend für diese Mine und ihren Besitzer interessieren wird. Wetten, daß Señor Rodríguez nicht nur die Mine, sondern auch der Hubschrauber gehört?« Das war ein Schuß ins Schwarze. Der Mann wurde bleich, gab einen Fluch von sich, drehte sich um und ging zurück. »He, lassen Sie die Schranke oben, damit ich auf dem Platz dort hinten wenden kann!« rief Clint ihm nach, schwang sich hinters Steuer und startete. Niemand erschien, niemand hinderte sie daran, den Landrover zu wenden und wegzufahren. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte Shirl Randall, als sie über die Straße zurückfuhren. »Aber ich, mein Liebling«, gab Clint zurück. »Irgend jemandem bist du im Wege. Rate mal, wem!« »Dem Minenbesitzer? Ich weiß 65 �
nicht, Clint. Ich hab' auch schon diesen Gedanken gehabt. Aber dem Mann gehören viele Minen, er dürfte Millionär sein. Was für einen Grund hätte er, mich aus dem Wege zu räumen? Und wieso sollte ich ihm auf die Füße getreten sein?« »Das wird sich noch herausstellen«, meinte er. »Dein Plan, sich in der Mine umzusehen, dürfte ins Wasser gefallen sein. Wir fahren ins Dorf zurück, damit ich Toja oder den Inspektor informieren kann.« »Einverstanden. Clint, wir haben die ›Nacht des Jaguars‹ vor uns. Ich habe die Absicht, wieder…« »Was?« Er bremste so abrupt, daß sie fast mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt wäre. »Wieder dorthin? Bist du lebensmüde, Shirl? Glaubst du, daß es immer so gut ausginge?« »Der Spuk muß beendet werden, Clint«, widersprach sie, »sonst haben die Menschen in dieser Region niemals mehr Ruhe. Wenn du willst, kannst du mich ja begleiten.« »Überallhin?« »Ja. Beruhigt?« Sie lächelte ihn an. »Und ob. Keinen Schritt wirst du ohne meine Begleitung tun, Baby!« »Okay, Darling, aber beklag dich nachher nicht. Unter Umständen wird es ziemlich turbulent und heiß werden.« »Heiß wird's mir in deiner Nähe
ganz bestimmt werden«, grinste er. � * Shirl Randall und Clint Bowen waren in Tipuani kaum aus dem Wagen gestiegen, als Padre Martino auf sie zu kam. »Hier ist alles in heller Aufregung«, meinte er. »Die leeren Gräber…!« Er schlug ein Kreuz. »Ich kann es mir nicht erklären! Es ist so ungeheuerlich, daß…« Er schwieg, sah die beiden nur an. »Was soll ich Ihnen darauf antworten«, meinte Shirl. »Ja, was soll Sie dazu sagen«, murmelte der Priester. »Die Menschen hier im Dorf haben Angst vor heute nacht, Señorita. Vor der ›Nacht des Jaguars‹. Ich habe vorhin mit dem alten Emilio gesprochen. Er kann sich an die letzte ›Nacht des Jaguars‹ noch gut erinnern. Vor fünfzig Jahren. Damals war er achtzehn. Seine Schwester verschwand tags zuvor und tauchte nie mehr auf. Sie war ein Jahr jünger als er. Er ist davon überzeugt, daß… aber nein, ich kann es nicht aussprechen.« »Illapa geopfert wurde – das wollten Sie doch sagen, Padre«, meinte Shirl Randall. »Es ist nicht auszuschließen.« »Ja. Noch ein Mädchen verschwand. Auch aus Tipuani. Die beiden Mädchen waren befreundet. Sie verließen, so erzählt Emilio, am Nachmittag das Dorf.« 66 �
Shirl nickte. »Denken Sie mal nach, Padre. Die drei Mädchen, die ich zurückbrachte, verließen ebenfalls am helllichten Tag Tipuani. Die Leute hier brauchen keine Angst zu haben. Wir beide«, sie deutete auf Clint, »werden die Nacht weiter oben verbringen. Und ich werde Illapas und Pachamamas Macht für immer brechen. Wenn es donnern und blitzen sollte, Padre, stehen Sie den Menschen hier bei. Illapa wird sich zur Wehr setzen, aber meine Macht ist größer als seine.« Wieder schlug Padre Martino ein Kreuz. »Madre de Dios«, murmelte er, »der Himmel beschütze Sie, Señorita!« Dann wandte er sich ab und ging davon. Shirl und Clint suchten ihr Zimmer auf. Clint schaltete den Sender ein und konnte wenig später mit Coronel Toja sprechen. Der Offizier hörte sich Clint Bowens Bericht an, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Nachdem Clint zu Ende war, schwieg der Coronel eine ganze Zeit. Nur atmosphärische Geräusche drangen aus dem Lautsprecher. Dann endlich erklang Tojas Stimme. »Señor, der Mann, der Sie angriff, wird El Feo, der Hässliche, genannt. Er arbeitet für Rubén Rodríguez, dem übrigens auch der Hubschrauber gehört. Ich muß Ihnen allerdings etwas sagen: Rodríguez ist ein sehr einflussreicher Mann. Natürlich
werden wir ihn ab sofort überwachen. Aber wenn ich etwas gegen ihn unternehmen soll, brauche ich hieb- und stichfeste Beweise gegen ihn. Zugegeben, wir verdächtigen ihn seit geraumer Zeit, schmutzige Geschäft zu machen, konnten ihm jedoch bisher nichts nachweisen. Inspektor Benavides wird sich darum kümmern. Sagen Sie – aus den drei Mädchen ist nichts herauszubringen?« Clint Bowen sah Shirl an, die ihm das Mikrofon aus der Hand nahm. »Hallo, Coronel«, sagte sie. »Nein. Sie können sich an nichts erinnern. Allerdings habe ich noch keinen Versuch unternommen, mediale Fähigkeiten einzusetzen. Vielleicht wird es gar nicht notwendig sein.« «Señorita, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das detaillieren könnten«, klang Tojas Stimme aus dem Lautsprecher. »Coronel, wir beide werden nachher in die Berge fahren, um dort die ›Nacht des Jaguars‹ abzuwarten. Ich werde diesem, nennen wir es mal Spuk ein Ende bereiten. Für immer. Und ich bin sicher, daß die drei Mädchen dann ihre Erinnerung wieder finden werden. Im übrigen – aber das ist nichts als reine Spekulation, Coronel, dürfte es eine Verbindung zwischen diesem Minenbesitzer und den, hm, mystischen Vorgängen geben. Wie gesagt, Spekulation. Vorerst. Morgen werde ich 67 �
Ihnen dazu mehr sagen können. Ich habe das Gefühl, als stießen hier zwei Interessen aufeinander. Bitte, fragen Sie mich nichts weiter, ich würde dazu nichts sagen, weil es verfrüht wäre. Warten sie bis morgen. Aber das soll Sie nicht hindern, sich um diesen Señor Rodríguez zu kümmern.« »Gut, Señorita. Immerhin deutet der Vorfall an der Mine darauf hin, daß Rodríguez auf irgendeine Weise in der ganzen Sache drinhängt. Auf jeden Fall werde ich zwei Dutzend Polizisten in Bereitschaft halten. Für alle Fälle. Armee-Hubschrauber können sie in kürzester Zeit an jeden Ort bringen.« Abschließend erwähnte der Coronel noch, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchten – wegen El Feo's Tod. »Wenn die Minenleute sich bei mir melden«, sagte Toja, »werde ich sie zurechtstutzen.« Damit war das Gespräch beendet. Shirl Randall schaltete das Gerät ab und wandte sich an Clint. »So, mein Lieber, wir können uns noch ein bisschen ausruhen. Vorher überprüfst du den Wagen. Ich würde Benzin nachfüllen. Man kann ja nie wissen.« »Okay, Baby.« »Und ich werde die Batterie meiner Laser-Pistole auswechseln. Auch für alle Fälle.« »Eigentlich könntest du mir etwas über diesen Jaguargott erzählen,
Girly«, meinte Clint Bowen. »Ich weiß immer gern, mit wem ich es zu tun habe.« Sie machte ein ernstes Gesicht. »Gut, Clint. Beeil dich! Inzwischen mache ich uns einen kleinen Imbiss. Leider nur aus Konserven.« * Narciso Guitierrez hatte genau beobachtet, was sich vor der Zufahrt zur Mine abgespielt hatte. El Feo kannte er, wenngleich er ihn auch nur einmal gesehen hatte. Er wußte genau, welche Rolle der hässliche Indio spielte, Rubén Rodriguez hatte es ihm einmal in aller Breite erklärt. Diesmal hatte El Feo seinen Meister gefunden. Für einen Moment dachte Narciso daran, daß Illapa vielleicht seine Hand im Spiel gehabt hatte, um zu verhindern, daß die blonde Frau in die Hände von Rodriguez gefallen wäre. Dann jedoch verwarf er diesen Gedanken wieder. Wäre es so gewesen, hätte der Jaguar-Gott viel eher eingreifen können. Er hätte El Feo wahrscheinlich gar nicht bis in die Berge kommen lassen. Nein, die blonde Frau würde er, Narciso Guitierrez, in der kommenden Nacht Illapa opfern. Und daran würde auch Rubén Rodriguez nichts ändern können. Narciso war gewillt, dem Industriellen Mädchen für seine Männer zuzuführen – jedoch 68 �
erst nach der ›Nacht des Jaguars‹. Von dieser Nacht hing alles ab. War Illapa – und mit ihm Pachamama – zufrieden gestellt, würde Narciso seine Macht und seine übersinnlichen Fähigkeiten behalten. Gelang es ihm jedoch nicht, die Amerikanerin in seine Hände zu bekommen, damit er Illapas Forderung erfüllen konnte, war alles vorbei. Wenn die ›Nacht des Jaguars‹ erfolglos blieb, ging Illapas Reich unter. Und mit ihm auch Pachamama. Was aus ihm wurde – daran wagte Narciso Guitierrez gar nicht zu denken. Ging das Reich der beiden grausamen Inka-Götter unter, so war es nicht auszuschließen, daß auch das Reich Rubén Rodriguez' in Mitleidenschaft gezogen wurde – genau gesagt, die im Bereich der Berge liegenden Minen. Narciso Guitierrez verließ die Felsgalerie und verschwand durch einen mannshohen Felsspalt. In einer Grotte blieb er stehen, schloß die Augen und versetzte sich in Trance. Als er nach Sekunden die Augen wieder öffnete, befand er sich nicht mehr in der Grotte, sondern in Illapas Tempelgewölbe, das von gelblichem diffusem Licht erfüllt war. Vor dem Altar des Jaguar-Gottes verbeugte sich Narciso Guitierrez und murmelte eine Beschwörungsformel. Rubén Rodriguez sah den vor ihm
stehenden Mann wütend an. Es war der Hubschrauberpilot. »El Feo ist tot?« wiederholte der Industrielle. »Verdammt noch mal, wie ist so was möglich?« Der Pilot zog den Kopf in die Schultern. »Señor, er stieg aus, ging auf den Wagen zu, neben dem der Amerikaner stand. El Feo hatte sein Messer gezogen, stürzte sich auf den Amerikaner, aber das klappte nicht. Der Mann sprang zur Seite, El Feo stolperte, fiel hin, und dabei muß er sich selber das Messer in die Brust gerammt haben. Ich flog sofort ab.« »Was Blöderes ist Ihnen wohl nicht eingefallen, was? Und die anderen, he? Was taten sie?« »Welche anderen, Señor?« »Welche… welche…?« äffte der Industrielle nach. »Perrandiz, der Verwalter. Er hat schließlich Gewehre und Revolver. Und Sie waren doch auch bewaffnet? Warum habt ihr den Kerl nicht erschossen, die Frau gefangen genommen und den Wagen verschwinden lassen. Madre de Dios, in den Bergen gibt es genügend Möglichkeiten.« »Señor, davon hat niemand was gesagt. Ich hatte nur Order, El Feo zur Mine zu fliegen und…« »Mierda! Ich scheine nur von Idioten umgeben zu sein! Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, daß sich der Amerikaner die Nummer gemerkt hat? Inzwischen wird dieser verfluchte Toja Bescheid wissen. 69 �
Na, geht Ihnen ein Licht auf?« Basilio Rodríguez mischte sich ein. »Alles kein Beinbruch, Rubén«, meinte er. »Was ist denn schon passiert?« »Bist du verrückt?« brüllte der Industrielle. »El Feo griff den Kerl mit dem Messer an. Das ist passiert. Du glaubst doch wohl nicht, daß der Amerikaner schweigt?« »Was kann er denn schon sagen, Rubén?« Basilio schüttelte den Kopf. »Vergiß mal für einen Moment deine Wut und denk nach. Ein unglücklicher Zufall, weiter nichts. Wer sagt denn, daß El Feo den Mann umbringen wollte? Und schließlich ist El Feo ins eigene Messer gefallen. Mach dir keine Sorgen, Toja wird dir nichts anhängen können.« »Soviel Optimismus möchte ich haben«, schnaubte Rubén Rodríguez. »Du weißt genau, daß Toja scharf auf meinen Kopf ist. Glaub mir, Basilio, er und seine Offiziersfreunde warten nur darauf, mich fertigmachen zu können. Dann können sie sich in aller Ruhe alles unter den Nagel reißen. Ganz legal. Lehr du mich diese verdammte Clique kennen.« »Sei froh, daß die drei Mädchen frei sind«, erklärte Basilio. »Würde man sie ausgerechnet jetzt in einer der Minen als Feierabendbeschäftigung der Arbeiter finden, sähe es schlecht aus. Wir warten erst einmal
ab! Heute passiert sowieso nichts mehr. Bis Toja über den Zwischenfall informiert ist, vergeht einige Zeit.« Rubén nickte. »Da hast du recht, Basilio. Also gut.« Er wandte sich an seinen Piloten. »Verschwinden Sie! Wenn die Polizei Sie fragen sollte, so haben Sie nichts gesehen. Klar?« »Ich habe verstanden, Señor!« Der Mann war froh, gehen zu können, man sah es ihm deutlich an. »Jetzt brauche ich einen kräftigen Schluck«, murmelte Rubén Rodríguez, nachdem die Tür hinter dem Piloten zugefallen war. »Du auch?« »O ja«, nickte Basilio. »Wie die Sache auch ausgeht… wir sollten in Zukunft vorsichtiger sein, Rubén.« »Du meinst wegen der Mädchen? Wir brauchen sie. Das weißt du so gut wie ich. Die verdammten Mineros…« »Ich habe nicht gesagt, daß wir diesen Plan aufgeben sollen«, unterbrach Basilio seinen Bruder. »Ich würde vorschlagen, erst einmal ein paar Freudenmädchen zu importieren. Am besten wäre aus Pero. Nur um die Arbeiter zu beruhigen. Später spannen wir wieder Narciso ein.« Rubén Rodríguez stimmte zu. Allerdings ahnten weder er noch sein Bruder, daß ihr Schicksal bereits besiegelt war. *
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Es war noch hell, als Clint Bowen den Landrover anhielt, den Motor abstellte und Shirl ansah. »Da wären wir also«, meinte er. »Es wird kalt werden, Clint«, entgegnete sie. »Ich glaube kaum, daß es vor Mitternacht losgeht. Dann steht der Mond in seiner ganzen Größe und Pracht am Himmel, und die ›Nacht des Jaguars‹ beginnt. Also – packen wir's an!« »Und wie soll das aussehen?« Shirl lächelte. »Wir werden das Zelt mitschleppen. Ich hab' keine Lust, auf der Mesa im kalten Nachtwind zu hocken.« »Na, dann los, Baby!« Clint stieg aus. Zehn Minuten später begannen sie, schwer bepackt, den Aufstieg zur Mesa. Am meisten hatte Clint zu schleppen. Trotz des frostigen Höhenwindes war er schweißgebadet und froh, den gefütterten Parka anzuhaben. Auf der Mesa meinte er: »Dieser Toja hat an alles gedacht, Baby.« Er deutete auf das Zelt. »Ohne das Bolzenschussgerät könnten wir es gar nicht aufstellen. Denn wie soll man die Pflöcke in den felsigen Boden kriegen? Um ehrlich zu sein, eine Geisterjagd in Los Angeles, New York oder in einer anderen Stadt wäre mir lieber.« »Kann ich mir denken, aber darauf nehmen Geister und Dämonen nun mal keine Rücksicht.«
»Das ist es eben. Hoffentlich zahlt die bolivianische Regierung uns ein gutes Honorar.« Shirl zuckte mit den Achseln. »Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen, Clint. Warten wir also ab, wie viel den Bolivianern unsere Hilfe wert ist.« »Das bewundere ich immer so sehr an dir, Darling. Deinen unerschütterlichen Optimismus.« Clint Bowen trieb den ersten Pflock in den Felsboden. Dann hob er das Bolzenschussgerät hoch und meinte: »Hör mal, mit diesem Ding müßte man doch eigentlich Gespenster auch dahinbefördern, woher sie kamen – ins Jenseits.« »Das wage ich zu bezweifeln. Versuchen kannst du es ja zu gegebener Zeit«, lachte Shirl. * Clint Bowen hockte auf einem Luftkissen, das er mit Hilfe einer Pressluftflasche aufgeblasen hatte und war eingeschlafen. Shirl saß auf einem Klappstühlchen vor dem Zelt und sah zum Himmel hinauf. Bis Mitternacht fehlten noch knapp zehn Minuten. Noch schwebte eine graue Wolke vor dem Mond. Zwischen den Bergspitzen fegte kalter Wind hindurch. Shirl fröstelte. Sie spürte seltsames Brennen in sich. Irgend etwas Drohendes schwebte auf sie zu, jeden71 �
falls hatte sie dieses Gefühl. Sie schloß die Augen wie unter einem Zwang. Und dann erblickte sie eine Gestalt – eine nackte, schlanke, von seltsamem Licht umhüllte Frau. Sie war ziemlich groß, größer als Shirl. Das blauschwarz schimmernde Haar lag wie eine Krone um den schmalen, rassigen Kopf. Das Gesicht wies indianische Züge auf. Die Frau lächelte. »Ich wurde von Inti geschickt. Kennst du mich?« Sie hatte eine dunkle, warme Stimme. Shirl hörte sich antworten. »Ja, du bist Ticama, die Sonnenjungfrau. Warum hat dich Inti geschickt?« »Um dir beizustehen gegen Illapa und Pachamama, die sich dem Sonnengott widersetzen. Inti hat befohlen, daß die Erdgöttin und der Gewittergott Frieden halten sollen. Für alle Zeiten. Es soll keine ›Nacht des Jaguars‹ mehr geben! Vilca Umu ist in Gestalt eines Nachkommens zurückgekehrt, um Illapa zu dienen. Du wirst es mit meiner Hilfe verhindern!« Shirl wollte etwas sagen, doch da verblasste das Licht, die Gestalt der Sonnenjungfrau verblasste. Im gleichen Moment trat der Mond hinter der Wolke hervor. Dann zuckten Blitze über den Himmel, rollte Donner durch die Berge. Ein Blitz zuckte geradewegs auf Shirl Randall zu, aber sie rührte sich
nicht, versuchte nicht, der drohenden Gefahr des Getroffenwerdens zu entgehen. Obwohl ihr eine innere Stimme riet, sich zur Seite zu werfen. Der Blitz erreichte sie nicht. Fünfzig Meter vor Shirl wurde er durch eine unsichtbare Wand aus der Bahn geworfen, zersplitterte förmlich und endete an einer Steilwand. Clint Bowen war aufgeschreckt und kam aus dem Zelt. »Was ist, Baby?« krächzte er. Er bekam keine Antwort. Shirl stand aufrecht, die Augen geschlossen. Clint trat neben sie, ergriff ihre Hand und zuckte im selben Moment zurück. Es war ihm, als hätte er einen starken Stromschlag bekommen. Für Sekundenbruchteile war er wie gelähmt, hörte plötzlich Shirl sagen: »Dreh dich um, Clint! Siehst du es?« Sie nahm seine Linke. Diesmal verspürte er keinen Schlag, sondern ein seltsam beruhigendes Gefühl. Wieder umloderten Flammen einen Felsspalt, der zuvor nicht vorhanden gewesen war. »Komm, Clint!« Shirl setzte sich in Bewegung, und er ging gehorsam mit. Sie passierten das Flammentor, tauchten in den dunklen Gang ein. Shirl befand sich in Trance und wußte später nicht zu sagen, wie es dazu gekommen war. Sie vermochte 72 �
sich nicht zu erinnern, daß sie es selbst getan hatte. Wahrscheinlich war es Ticama, die Sonnenjungfrau, gewesen. Oder Inti selber, der Sonnengott. Sie erreichten das Gewölbe. Clint Bowen nahm alles wahr, konnte sich auch später an alles genau erinnern. Und im nachhinein noch pries er den Einfall, die Laserpistole in die Parkatasche gesteckt zu haben, bevor er sich auf das Luftkissen setzte. Das Gewölbe war von seltsamen Licht angefüllt. Mal schimmerte es bläulich, wechselte plötzlich ins Rötliche über, um dann erneut die Farbe zu wechseln und grün zu werden. Neben dem Altar stand Vilca Umu! Besser gesagt Narciso Guitierrez, der direkte Nachkomme des alten Inkapriesters, von dem er auch die Fähigkeiten geerbt hatte. »Ich wußte, daß ihr kommen würdet!« sagte er und hob beide Arme. Dann richtete sich sein Blick auf Shirl Randall. »Diesmal wird es dir nicht gelingen, mich zu bezwingen!« Clint Bowens Gestalt straffte sich. Seine Rechte glitt in die Tasche, umschloss den Griff der Laserpistole. Dann antwortete Shirl. »Du irrst dich, Vilca Umu – oder wer du auch sonst sein magst. Ich werde…« Narciso Guitierrez breitete die Arme aus, unterbrach Shirl.
»Ich habe dich für Illapa bestimmt, den Gewittergott, dem ich genauso diene, wie meine Vorfahren! Du wirst auf seinem Altar sterben. In dieser Nacht, die Illapas Nacht ist… die ›Nacht des Jaguars‹. Und Illapa selbst wird hier sein.« »Dann wird er mit seinem Reich untergehen«, sagte Shirl. Ihre Stimme klang monoton. Narcisos Gesicht verzog sich zu breitem, widerlichen Grinsen. »Irren ist menschlich. Und du bist ein Mensch, darum irrst du dich eben. Vielleicht schaffst du es, mir zu trotzen. Aber gegen Illapa wird deine Kraft nicht ausreichen. Du hast Glück gehabt. Ich habe gesehen, was an der Mine geschehen ist. Doch hier wirst du kein Glück haben, es hat dich verlassen.« In diesem Moment hörte Shirl wieder die Stimme Ticamas. Und zu Clints Überraschung vernahm auch er die Worte, die die Sonnenjungfrau sprach. »Inti ist bei euch! Seine Macht ist größer als die Illapas und Pachamamas zusammen.« Shirl nickte. Dann wandte sie sich an Narciso Guitierrez. »Du wirst nicht vernichtet werden! Wir werden dich mitnehmen! Aber Illapa und Pachamama werden die Strafe Intis zu spüren bekommen!« Hinter dem Altar tauchte in diesem Augenblick eine Gestalt auf. Ein großer, breitschultriger Mann. Auf 73 �
seinem Körper saß der Kopf eines Jaguars. Illapa, der jaguarköpfige Gewittergott war selbst erschienen. Und er war nicht allein. Hinter ihm erschienen vier Mumien. Einbalsamierte Priester einer vergangenen Epoche, die auf Geheiß Illapas ihre Gräber beim zerfallenen Tempel verlassen hatten. Zwei traten links, zwei rechts neben Illapa. Und dann krochen zwei riesige doppelköpfige Schlangen ins Gewölbe. Vier große, gespaltene Zungen stießen aus den geöffneten Mäulern. Dann sprach Illapa. Er besaß eine tiefe, kehlige Stimme. In welcher Sprache er redete, wussten Shirl und Clint nicht, aber sie vernahmen seine Worte in Englisch. »Ich bin gekommen, weil Vilca Umus Macht nicht ausreicht, weil er versagt! Und ich werde…« »Auch du hast keine Macht mehr!« klang da Shirl Randalls Stimme auf. »Ich werde es dir beweisen!« Ihre Rechte zuckte hoch, synchron mit der Clint Bowens. Aus den beiden Laserpistolen zuckten rotleuchtende Strahlen. Lautlos sanken die getroffenen Schlangen zusammen, verglühten zu Asche. Wenig später gab es auch die Mumienpriester nicht mehr. Narciso Guitierrez war zurückgewichen. Illapa stand da, die Arme vor der Brust verschränkt. Die gel-
ben Augen funkelten, das Raubtiermaul war weit auf gerissen, die spitzen Fangzähne sichtbar. Plötzlich war eine andere Stimme im Gewölbe. Eine weibliche, schrill kreischende Stimme. »Illapa!« schrie sie. »Illapa! Komm zurück! Ich verbrenne!« Die Stimme brach ab. Dann erklang eine andere – die Ticamas. »Illapa, Inti gewährt dir und Pachamama noch eine Frist! Geht zurück in euer Reich! Tut ihr es nicht, wird es für ewige Zeiten keine Pachamama und keinen Illapa mehr geben! Stellt Intis Macht nicht auf die Probe!« Aber der Jaguargott dachte nicht daran, nachzugeben. Geschmeidig bewegte er sich auf Shirl und Clint zu. Narciso Guitierrez, der abseits stand, beachtete er nicht. Shirl und Clint wollten ihre Pistolen heben, doch sie bekamen die Arme nicht hoch, waren wie gelähmt, standen steif und starr da. Narciso Guitierrez erging es nicht anders. Näher kam Illapa. Aus dem geöffneten Jaguarrachen kam stinkiger Atem. Die rote Zunge spielte hin und her. »Ich werde euch vernichten!« kam es grollend aus dem Raubtiermaul. »Auch dich, Vilca Umu! Du hast versagt! Dies ist meine Nacht. Die Nacht des Jaguars!« Er lachte wie irr, hob die Hände, 74 �
schrie: »Meine Blitze werden euch töten!« Nichts geschah. Kein Blitz zuckte durch das Gewölbe, wie Illapa es gewollte hatte. Dafür erlosch das grünliche Licht, im Gewölbe war es jäh stockdunkel. Shirl Randall und Clint Bowen hatten plötzlich das Gefühl, rückwärts gezogen zu werden. Sie konnten weder etwas sehen noch hören. Bis sich plötzlich Ticama meldete. »Ihr werdet gleich das Reich Illapas verlassen haben! Dann müßt ihr euch beeilen! Es wird nicht mehr lange dauern, bis Inti dieses Reich zerstört. Ihr werdet nicht allein sein! Vilca Umus Nachkomme wird bei euch sein!« Ein jäher Donnerschlag ließ den Berg erzittern. Shirl und Clint öffneten die Augen und sahen sich plötzlich auf der Mesa. Sekundenlang starrten sie sich an. Shirl deutete nach links. Dort lag Narciso Guitierrez. Er rührte sich nicht. Seine Augen waren geschlossen, aber er atmete regelmäßig. »Du hast es gehört, Clint! Frag jetzt nichts, sondern komm! Wir müssen von hier weg! lass das Zelt stehen!« »Und was ist mit ihm?« Clint Bowen deutete auf den Bewusstlosen. »Wir nehmen ihn mit. Kannst du ihn bis zum Wagen tragen?« »Wenn's sein muß!«
* � Als der Landrover vor dem Gasthaus in Tipuani hielt, verdunkelte sich plötzlich der blaue Nachthimmel, der Vollmond verschwand hinter einer riesigen schwarzen Wolke. Dann schien die Welt unterzugehen. Zwei der hohen Bergspitzen wankten und brachen plötzlich zusammen, als hätte sie nicht aus hartem Gestein, sondern nur aus Sand bestanden. Dort, wo die Tempelruine und die alte Begräbnisstätte gewesen war, klaffte jetzt ein tiefer Spalt. Als Shirl und Clint am nächsten Morgen zur Mesa hinaufstiegen, gab es sie nicht mehr. Der Weg dorthin war von Gesteinsmassen verschüttet. Narciso Guiterriez blieb bewusstlos. Bis zum Mittag des kommenden Tages, der auf die ›Nacht des Jaguars‹ gefolgt war. Er kam im Gasthof zu sich, Shirl hatte ihn in ein Zimmer bringen lassen. Und Clint hatte ihn gefesselt. Für alle Fälle, hatte er gemeint. Gegen Mittag kamen zwei große Armeehubschrauber. Coronel Toja und Inspektor Benavides waren mitgekommen. In La Paz wußte man inzwischen, was geschehen war. Clint Bowen hatte noch in der Nacht einen Bericht durchgegeben. Nun stellte sich heraus., daß es für 75 �
die mitgekommenen Polizisten nichts zu tun gab. Aber der Coronel schickte sie dann doch zur Mine, um dort nach dem Rechten zu sehen. Narciso Guitierrez aber war ein gebrochener Mann. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, mußte er wohl gespürt haben, daß seine Rolle als Vilca Umu ausgespielt war, daß Illapa ihm keine Macht mehr geben konnte. Alle seine übersinnlichen Fähigkeiten waren weg, gab es nicht mehr. Coronel Toja nahm ihn sich vor. Narciso machte aus der Not eine Tugend und packte aus. Es stellte sich heraus, daß er ein Angestellter der Minengesellschaft war. »Eines Tages erschien mir Illapa«, berichtete er, »und da nahm alles seinen Anfang. Als Señor Rodríguez davon erfuhr, drohte er mir. Er würde mich töten lassen, wenn ich nicht das täte, was er wollte.« Der Coronel gab über Funk Befehl, die Brüder Rodríguez und Luis Paco zu verhaften. »Ich bin davon überzeugt«, meinte er zu Shirl und Clint, »daß da noch mehr schmutzige Dinge zum Vorschein kommen, denn wir haben diese Leute seit langem in Verdacht. Rauschgift, Waffenschmuggel und so einiges mehr.« Die drei befreiten Mädchen, denen am Morgen dieses Tages die Erinnerung wiedergekommen war, mussten mit nach La Paz. Sie sollten vor
dem Richter aussagen. Narciso Guitierrez wurde als Hauptzeuge wie ein rohes Ei behandelt. Die Bolivianer zeigten sich äußerst großzügig, als Shirl die Frage des Honorars anschnitt. Sie konnten auch großzügig sein, denn das Gericht beschlagnahmte den gesamten Besitz der Rodriguez. Die Minen wurden kontrolliert, wobei man die entführten Mädchen aus anderen Dörfern fand. Zwei Tage später flogen Shirl und Clint nach Los Angeles zurück. Clint Bowen war merkwürdig still, so daß Shirl ihn fragte: »Was ist los mit dir, Honey?« Er warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Das fragst du noch, Sweety? Ist dir eigentlich klar, was ich alles erlebt habe? Oder war es nur ein Traum? Diese wunderschöne Sonnenjungfrau? Das Beben, das zwei Berge wegrasierte? Und alles andere?« Shirl drohte ihm mit erhobenem Zeigefinger. »Clint, mein Lieber? Dir hat es wohl Ticama angetan, hm? Du hast sie gesehen. Wie ich. Nur war sie eine Erscheinung. Aber du hast wohl inzwischen eingesehen, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, für die wir Menschen nicht immer eine Erklärung haben.« »Das kannst du laut sagen, Shirl. 76 �
Um ehrlich zu sein, ganz wohl war mir ja nicht, als dieser jaguarköpfige Bursche plötzlich erschien. Und dann die Mumien! Pfui Teufel. Von den doppelköpfigen Schlangen will ich gar nicht reden.« Sie legte die Rechte auf seinen Schenkel. »Clint, ich kann dir auch nicht alles erklären. Eins steht jedoch fest: die Parapsychologie und alles, was mit ihr in irgendeinem Zusammenhang steht, ist ein noch weitgehend unerforschtes Gebiet. Und es gibt Dinge, die wir sicherlich niemals ergründen werden.«
»Stimmt. Da ist mir so etwas Reales wie du schon lieber.« Sie lachte. »Das glaube ich. Trotzdem – wenn du von Ticama sprichst, kriegst du immer einen verklärten, nach innen gerichteten Blick. Eigentlich schade, daß Inti nicht erschienen ist.« »Wieso? Du meinst den Sonnengott?« »Stimmt. Ich habe mal eine Abbildung gesehen. Er muß phantastisch ausgesehen haben.« Shirl kicherte. Clint Bowen seufzte. »Ich werde nie wieder von Ticama sprechen, nur noch von Illapa.«
ENDE �
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