Andrej Stuchlik (Hrsg.) Rentenreform in Mittel- und Osteuropa
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Andrej Stuchlik (Hrsg.) Rentenreform in Mittel- und Osteuropa
Andrej Stuchlik (Hrsg.)
Rentenreform in Mittelund Osteuropa Impulse und Politikleitbilder für die Europäische Union
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die vorliegenden Forschungsergebnisse wurden unterstützt vom Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung, dem Budapester Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Robert Bosch Stiftung.
. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-14914-1
Inhalt
Andrej Stuchlik Einleitung: Rentenkrisen – Impulse und Politikleitbilder für die Europäische Union?................................................................................ 7 I.
Grundlagen Winfried Schmähl Nationale Rentenreformen und die Europäische Union – Entwicklungslinien und Einflusskanäle .................................................. 17 Klaus Beckmann Rentenversicherung, implizite Staatsschuld und nachhaltige Fiskalpolitik................................................................... 43 Andrej Stuchlik „Alterssicherungspolitik“ – Politikwissenschaftliche Erklärungsansätze für Reformen ...................... 71
II.
Rentenreformen – Stand und Entwicklung Katharina Müller Die Politische Ökonomie der Rentenprivatisierung – Erfahrungen aus Mittel- und Südosteuropa ............................................. 95 Joanna Ratajczak-Tucholka Die polnische Altersrentenreform von 1999 – Welche Lehren können andere Länder aus den polnischen Erfahrungen ziehen? .......... 109 Ádám Rézmovits The Hungarian old age pension reform (processes, relevant problems, future tasks) .......................................... 127
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Inhalt
Michaela Willert Policy Transfer in Westeuropa? Soziale Inklusion und Privatisierungsprozesse im deutschen Rentensystem ..................... 145 III. Alterssicherungspolitik in der Europäischen Union Norbert Kollmer / Christiane Seifert Rentenpolitik und Sozialschutz in der EU ............................................ 179 Stefan Okruch Wirtschaftspolitisches Lernen und die OMK – Eine evolutionsökonomische Analyse .................................................. 197 Michael Bolle / Oliver Pamp Sustainable Convergence and Pension Reform in Central and Eastern Europe .............................................................. 225 Eberhard Eichenhofer Transformation und Sozialreformen in Mittel- und Osteuropa – Die Bedeutung für die Europäische Union als Ganze ........................... 251
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ...................................................... 257
Einleitung: Rentenkrisen – Impulse und Politikleitbilder für die Europäische Union? Andrej Stuchlik
Rentenkrisen und Rentenreformen „Möchten Sie lieber heute 1000,- oder nächstes Jahr 1100,- Euro erhalten?“ Da die meisten Menschen bei dieser Frage zur ersten Variante neigen, haben Regierungen ein grundlegendes Problem: ihre Bürger sparen zu wenig für ihr Auskommen im Alter, weil sie in der Regel den kurzfristigen Konsum vorziehen (s. Economist 2005). Diese je nach Zeithorizont unterschiedlichen KonsumPräferenzen liefern die ursprüngliche Begründung eines jeden verpflichtenden Alterssicherungssystems. Doch selbst Freiwilligkeit versuchen Regierungen zu beeinflussen: So führten jüngst Großbritannien und Neuseeland so genannte automatische Sparpläne ein, die sofort bei Beschäftigungsbeginn einsetzen und eine zusätzliche Form der Vorsorge bereit stellen sollen.1 Der zugrunde liegende Gedanke entstammt der Verhaltensökonomie und besagt, dass Rahmenbedingungen bei Sparentscheidungen eine große Rolle spielen: individuelle Sparanreize kommen demnach eher und dauerhafter zum Tragen, wenn Bürger z.B. erst aktiv aus einem Vorsorgesystem austreten müssen, anstatt sie etwa durch Steuererleichterungen zum freiwilligen Sparen zu ermutigen.2 Zugleich werden die Gesellschaften Europas immer älter und traditionelle Umlagesysteme (PAYG) damit immer kostspieliger. Regierungen sehen sich angesichts steigender Kosten vor der Herausforderung, die Steuer- bzw. Beitragshöhe für den einzelnen Bürger einzudämmen, um die Abgabenlast insgesamt nicht ausufern zu lassen. Beim Versuch ihre Alterssicherungssysteme umzugestalten, rücken so genannte paradigmatische Reformen, bzw. die „Privatisierung“ der Alterssicherung ins Blickfeld (vgl. Holzmann 2004). Gemeint ist damit eine teilweise Abkehr von traditionellem Umlageverfahren hin zu individuellen Sparkonten und 1
Neuseeland seit 2007, in Großbritannien setzt die Regelung ab 2012 ein. Vgl. die grundlegenden Arbeiten von Richard H. Thaler zu „mental accounting“ sowie mit Shlomo Benartzi (Benartzi/Thaler 2005) und siehe den Beitrag von Beckmann dieser Band, S. 57f.. 2
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einer Kapitalmarktfundierung. Doch der möglichen Reformwege gibt es viele: „Privatisierung“ bedeutet zunächst einmal nur das privatwirtschaftliche Management von Rentensystemen. Kapitalmarktfundiert bedeutet, anders als beim sofortigen „Konsum“ durch eine Rentnergeneration im Umlageverfahren, eine Ansammlung von Vermögenswerten zur Auszahlung in der Zukunft. Schließlich spielt im Reformprozess eine große Rolle, ob die Leistungen des künftigen Rentenbezugs beitragsdefiniert (DC – defined contribution) oder ertragsdefiniert ermittelt werden (DB – defined benefit). Daraus ergibt sich eine Reihe von Kombinationsmöglichkeiten, die unterschiedliche sozio-ökonomische Risiken unterschiedlich gut absichern können. So birgt beispielsweise ein staatliches DB-System ein weitaus geringeres Finanzmarktrisiko, als ein privatwirtschaftlich gesteuertes, da im letzteren Fall Arbeitgeber und Anteilseigner unmittelbar davon betroffen wären. In der öffentlichen Variante wird das Risiko dagegen auf die Allgemeinheit der Arbeitnehmer verteilt. Andererseits kann etwa ein privates DC-System etwaige Fehlanreize (moral hazard) zur Frühverrentung reduzieren.3 Dabei können Rentenreformen kaum isoliert von anderen Aspekten des Wohlfahrtsstaats untersucht werden. Die Alterung der Gesellschaft wirkt sich ebenso auf Arbeitsmärkte wie auf Pflegesysteme aus, und erhöht den notwendigen Finanzierungsbedarf, um den Bedürfnissen des steigenden Anteils der Alten und Ältesten gerecht zu werden. Veränderungen in den Erwerbsbiographien (z.B. durch längere Phasen von Selbstständigkeit, etc.) haben ebenfalls Folgen für die Leistungserwartungen an die Instrumente der Alterssicherung. Schließlich ist die Form und Größe des Risikos, die durch Rentensysteme abgefedert werden soll, geprägt durch den institutionellen Rahmen des jeweiligen Mitgliedstaates. Dabei ist das wohlfahrtspolitische Zusammenspiel von „Sicherheit, Teilhabe und Effektivität“ (Casey 2004: 3) und das damit verknüpfte Maß an gewünschter Umverteilung in einer Gesellschaft letztlich eine politische Entscheidung. Indes, die Suche nach politischen Innovationen und Policy-Vorschlägen vollzieht sich nicht entkoppelt von anderen Nationalstaaten, internationalen Organisationen (Holzmann 2004) oder supranationalen Entscheidungsstrukturen wie der Europäischen Union. Und einmal etablierte Lösungen können ihrerseits anderen Akteuren als Referenzfolie dienen. Ein nachhaltig einflussreicher Vorschlag, die Kosten nationaler Alterssicherungssysteme einzuhegen, war das 1994 von der Weltbank formulierte DreiSäulen-Modell (World Bank 1994)4. Damit wird ein umfassender Umbau der so 3
Kritisch dazu z.B. Orzag/Stiglitz 2001. Seinerseits beeinflusst durch Reformerfahrungen in Lateinamerika, v.a. in Chile seit den 1980-er Jahren. 4
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genannten „1. Säule“, des Umlageverfahrens nahe gelegt, um im Verbund mit kapitalgestützten Zusatzelementen und freiwilligen bzw. betrieblichen Vorsorgesystemen, einen angemessenen „public-private-mix“ zu ermöglichen (Casey 2004: 7, Fultz 2004, Holzmann 2004).5 Die meisten der neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten6 haben unter tätiger Mithilfe der Weltbank diesen Reformpfad beschritten und das obwohl solche Politikmaßnahmen (aus Sicht etablierter Wohlfahrtsstaaten) als äußerst unpopulär gelten (z.B. Pierson 2001, Müller dieser Band). Seit dem 1. Mai 2004 greifen nun auch für die Neumitglieder die Vorgaben der wirtschaftspolitischen Koordinierung und im Zuge dessen vollzieht sich auch dort der schleichende Umbau zu einem „halbsouveränen Wohlfahrtsstaat“ (Leibfried/Pierson 1998) in den Strukturen der EU. Neben den so genannten harten Koordinierungsformen wie dem Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie der Verpflichtung, die Gemeinschaftswährung so bald als möglich einzuführen, wird nationale Rentenpolitik (seit 2001) im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung (OMK) erfasst.7 Im sozialpolitischen Gefüge der Europäischen Union sollen Alterssicherungssysteme demnach „angemessen“, „langfristig tragfähig“ sein und kontinuierlich „modernisiert“ werden (Europäische Kommission 2001). Alle drei Ziele eröffnen aber politische Spielräume auf Seiten der Europäischen Kommission wie auf Seiten der Mitgliedstaaten. Den Einfluss der EU-Mitgliedschaft auf die Sozialpolitik in Mittel- und Osteuropa abzuschätzen, ist bislang schwierig (Stuchlik 2008). Aber die zunehmende Heterogenität der Union im Politikfeld Alterssicherung erzeugt mittelfristig (liberale) Reformimpulse auch für die westeuropäischen Mitgliedstaaten (Orenstein 2008).8 Der vorliegende Sammelband sucht daher Antworten auf die Frage, welche Impulse die Reformerfahrungen der mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten für die Länder der alten EU erwarten lassen? Der dreistufige Aufbau des Buches widmet sich zunächst den theoretischen Grundlagen von Alterssicherungssystemen. Im zweiten Abschnitt spiegeln diese Überlegungen konkrete Reformergebnisse in ausgewählten Mitgliedstaaten, insbesondere den Vorreitern Polen und Ungarn. Der dritte und letzte Abschnitt schließlich verknüpft die Erkenntnisse mit Aspekten nationaler Politikgestaltung im Politikfeld Rente innerhalb der Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union. 5 Die Weltbank propagiert inzwischen ein fünfgliedriges System, wobei eine so genannte 0. Säule (Mindestsicherung/Sozialhilfe) und eine 5. Säule (informale, familiäre Unterstützungsleistungen) die obigen Strukturen ergänzen (vgl. Holzmann/Hinz 2005). 6 Ungarn (1998), Polen (1999), Lettland (2001), Bulgarien (2002), Estland (2002), Litauen (2004), Slowakei (2005), s. Müller dieser Band, S. 97f. 7 S. die Beiträge von Schmähl und Kollmer/Seifert in diesem Band. 8 Im Nachgang der Finanzkrise 2007/2008 könnte dieser Effekt verringert werden.
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Andrej Stuchlik
Grundlagen
Im ersten Beitrag zeichnet Winfried Schmähl die wesentlichen Argumentationslinien der Rentenpolitik in der Europäischen Union nach. So unterscheiden sich die Konzeptionen der Mitgliedstaaten entlang zweier wesentlicher sozialpolitischer Ziele, Armutsvermeidung einerseits und Einkommensverstetigung im Alter andererseits (S. 28). Der Blick auf die graduelle rentenpolitische Einflussnahme der EU verdeutlicht hingegen, dass die bisherige Ausrichtung der OMK in erster Linie finanzpolitische Gesichtspunkte in den Vordergrund rückt (vgl. Scharpf 2002). Klaus Beckmann betrachtet aus dem Blickwinkel fiskalpolitischer Nachhaltigkeit die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die Rentensystemen innewohnen, und die folglich die Grundlage für sämtliche Reformoptionen darstellen. In drei Dimensionen sind demnach Rentenreformen möglich: (i) beim Ausmaß an eingeführter Kapitaldeckung, (ii) beim Grad der Äquivalenz zwischen Beiträgen und späteren Bezügen und (iii) schließlich bei der Risikoverteilung zwischen den Generationen (S. 64f.). Und letztere ist es, die durch Alterungsprozesse neu justiert werden muss. Indes gilt, „you cannot escape demography“ (Casey 2004, Orszag/Stiglitz 2001) und so ist es mit dem Einsatz von „privaten 2. Säulen“ allein noch nicht getan. Vielmehr zeigt Beckmann die Bedeutung kollektiver Erbschaften im Umgang mit impliziter Staatsverschuldung. Der dritte Beitrag in diesem Abschnitt widmet sich dem politikwissenschaftlichen Zugriff auf die Reformierbarkeit wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, insbesondere Rentensystemen. Eine Fülle theoretischer Konzepte ringt um die angemessene Erklärung von Rentenreformen. Allerdings sind nicht alle für westliche Wohlfahrtsstaaten konzipierten Ansätze gleichermaßen für die neuen EU-Mitgliedstaaten geeignet. Eine besondere Rolle spielen dort Erklärungsmodelle, die inter- und transnationale Akteure als „Reformvermittler“ berücksichtigen.
II
Rentenreformen – Stand und Entwicklung
Katharina Müller skizziert in ihrem Beitrag die Reformlogiken in acht mittelund osteuropäischen Staaten, die ihr Alterssicherungssystem grundlegend verändert haben. Und dies „entgegen den gängigen Annahmen der Wohlfahrtsstaatsliteratur“ (S. 106). Deutlich wird dabei die Einflussnahme internationaler Finanzakteure, die teils maßgeblich an Reformprozessen beteiligt worden waren sowie zugleich die ideelle „Passfähigkeit“ liberaler Wirtschaftsreformen mit Ansätzen der Privatisierung bestehender Sicherungssysteme.
Einleitung: Rentenkrisen – Impulse und Politikleitbilder für die Europäische Union?
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Die polnische Rentenreform untersucht Joanna Ratajczak-Tucholka in ihrem Beitrag. Bereits 1999 wurde dort das Altersrentensystem grundlegend verändert und eine beitragsdefinierte Rente als so genannte 2. Säule eingeführt. Vorrangiges Ziel dabei war die Sicherung der finanziellen Tragfähigkeit des Systems. Während einer der damaligen Reformarchitekten, Marek Góra die paradigmatische Veränderung als geglückt erachtet9, kommt Ratajczak-Tucholka zu einer differenzierteren Einschätzung: Für die Ökonomin sind die sozialpolitischen Ziele nicht angemessen berücksichtigt worden (S. 122). Demnach werden künftig die Nettoersatzraten, also die Erträge gemessen am letzten Einkommen, weit hinter der aktuellen Leistungsfähigkeit zurückfallen. Auch die Situation von Frauen dürfte sich verschlechtern sowie das Armutsrisiko im Alter insgesamt steigen. Die Details der Rentenreform in Ungarn, dem, neben Polen, zweiten Vorreiterland in der Region, beleuchtet Ádám Rézmovits. Seine Perspektive ist die des „policy maker“ im Ungarischen Finanzministerium. Neben den Kernelementen des ungarischen Weges, verweist er auch auf eines der Risiken für die jeweilige Reformgeneration: zahlreiche Arbeitnehmer (in Ungarn ca. 10-15%, S. 135) wechselten vom alten ins neue System, obwohl sie sich damit schlechter stellten, weil ihre verbleibende Dauer im Erwerbsleben nicht ausreichen wird, um eine zum Umlageverfahren vergleichbare Rendite zu erzielen.10 Dennoch, Ungarns Rentenreform stärkte das Versicherungsprinzip und zugleich die finanzielle Basis des Gesamtsystems. Michaela Willert wirft einen soziologischen Blick auf jüngere Reformerfahrungen in den alten EU-Mitgliedsländern und untersucht wechselseitige, mögliche Transferprozesse sowie die Veränderung von Sicherungsleistungen entlang des Zielkonflikts angemessener Alterseinkommen einerseits und finanzieller Stabilität andererseits. Zunächst lässt sich am deutschen Reformbeispiel der Jahre 2001-2004 (anhand von simulierten Erwerbsverläufen) ein Übergang von ehedem Leistungsstabilität hin zur Beitragssatzstabilität (S. 167f.) zeigen. Hinsichtlich potenziell nutzbarer „Transferpotenziale“ von anderen Reformländern skizziert Willert ein vielschichtiges Bild: Ein Policy Transfer, also die Übernahme und Orientierung an sozialpolitischen Instrumenten (etwa Großbritanniens) fand demnach zwar in Teilen statt, erfolgte aber insbesondere entlang bereits zuvor bestimmter innenpolitischer Reformziele. Einem tatsächlichen zwischenstaatlichen Lernprozess entspricht das nicht.
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Persönliches Interview, April 2008. Ähnliche Zahlen berichtet das Slowakische Sozialministerium. Dort wurde die Frist für eine mögliche „Rückkehr“ ins alte System auf diesem Grund (und aufgrund der Finanzkrise!) verlängert. 10
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III Alterssicherungspolitik in der Europäischen Union Die Sozialpolitik der Europäischen Union vollzieht sich einerseits über materielle und regulative Kompetenzen der Gemeinschaft und andererseits seit dem so genannten Luxemburg-Prozess 1997 und der Lissabon-Strategie im Jahre 2000 über die Offene Methode der Koordination (OMK).11 Diese Einflusskanäle und Regelungen im primärrechtlich nicht verankerten Politikfeld Alterssicherung beleuchten aus juristischer Perspektive Norbert Kollmer und Christiane Seifert. Demnach existiert bereits heute eine Fülle europäischer Normen, die auf nationale Handlungsspielräume einwirken. In diesem Zusammenhang kommt gerade der Europäischen Kommission eine Schlüsselfunktion zu: sie steuert über eigene Initiativen (z.B. Grünbuch „Demografie“, „sozialpolitische Agenda“, etc.), über die Koordinierung bei der Festlegung vergleichbarer Sozialindikatoren und über die Kontrolle der Freizügigkeit, erheblich die rentenpolitische Ausrichtung der Gemeinschaft. Im Kern ermöglicht das dazugehörige Koordinierungsinstrument OMK, so die Annahme seiner Verfechter, einen dezentralen Politikvergleich, eine laborähnliche Situation zur (zielgerichteten) Ermittlung von best practices und benchmarks (vgl. Schludi 2003). Diese Begründungslogik unterzieht Stefan Okruch einer Prüfung aus wettbewerblicher Sicht. Der Binnenmarkt führt demnach zu einem erweiterten Konkurrenzverhalten der Staaten, einem Systemwettbewerb innerhalb dessen sie auch um Politikbündel ringen. Die OMK dient zwar in erster Linie der OutputLegitimation europäischer Normgebung, zielt aber im Grunde auf die Frage, welche Wissensgrundlagen Staaten ex ante überhaupt steuern können und ob sich (zwischenstaatliche) Lernprozesse initiieren lassen? Aus Sicht der evolutorischen Ökonomik gelinge es der OMK, an „der Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb“ (S. 218ff.) mitzuwirken und zur Wissensgewinnung wie – nutzung beizutragen. Der Bedeutung rentenpolitischer Entscheidungen im Gesamtzusammenhang des realwirtschaftlichen Aufholprozesses widmen sich im Anschluss Michael Bolle und Oliver Pamp in ihrem polit-ökonomischen Beitrag. Darin erinnern sie an die Rationalität der Osterweiterung aus Sicht der neuen Mitgliedstaaten. Können Rentenreformen dazu beitragen, die Einkommensunterschiede zur alten EU-15 abzuschmelzen, als Teil einer gesamtfiskalischen Transformationsstrategie? Sie können es insofern, als sie sowohl Auswirkungen auf heimische Kapitalmärkte als auch potenziell auf Sparquoten in diesen Ländern haben. 11
„Die EU nimmt […] bereits heute unmittelbar und umfassend Anteil an der Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherung der Mitgliedstaaten mit einer klaren, öffentlich indes selten wahrgenommenen sozialpolitischen Tendenz.“ (Eichenhofer 2007: 16)
Einleitung: Rentenkrisen – Impulse und Politikleitbilder für die Europäische Union?
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Bolle und Pamp verweisen auf die ohnehin hohen Leistungsbilanzdefizite der Transformationsländer in Mittel- und Osteuropa, die deshalb besonders von den Effekten einer Kapitalfundierung profitieren würden (v.a. S. 240). Die zahlreich entwickelten Fäden auf der Suche nach Impulsen und Leitbildern am Ende alle aufzunehmen, gebührt dem Sozialrechtler Eberhard Eichenhofer. Sein Fazit fällt positiv aus: Die vollzogenen Reformschritte, die sich am ungarischen und polnischen Beispiel verdeutlichen lassen, erscheinen im gesamteuropäischen Vergleich als moderne Wege mit dem Ziel langfristiger Stabilität. Die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas könnten künftig „eine aktive Rolle in der gesamteuropäischen Fortentwicklung von Alterssicherung (…) übernehmen“ (S. 255).
Dank Die vorliegenden Ergebnisse gehen in ihrem Ursprung zurück auf einen interdisziplinären Workshop an der Deutschsprachigen Andrássy-Universität in Budapest (AUB) im April 2005, und wurden seitdem grundlegend überarbeitet und um zwei weitere Beiträge ergänzt. Viele helfende Mitstreiter und Mitstreiterinnen haben dieses Projekt begleitet, aber Einigen gebührt besonderer Dank: Michael Ehrke vom Budapester Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung hat von Anfang an die Forschungsidee unterstützt und zahlreiche Anregungen gestiftet. Christine Haller und Ina Werner vom Lektorenprogramm der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart verdanke ich nicht nur finanziellen Rat. Dank gebührt ebenfalls dem Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung Bund, ohne dessen Unterstützung diese Publikation nicht möglich gewesen wäre. Und schließlich danke ich den ehemaligen Kollegen der Fakultät für Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaften an der AUB und namentlich Melinda Tieger für ihre wertvolle Hilfe bei der Zusammenstellung des Manuskripts. Berlin, Speyer im Juli 2009
Literaturverzeichnis Bernartzi, Shlomo/Thaler, Richard E. (2007): Heuristics and Biases in Retirement Savings Behavior. In: Journal of Economic Perspectives. 21. 3. 81-104 Bos, Ellen/Dieringer, Jürgen (Hrsg.) (2008): Die Genese einer Union der 27. Die Europäische Union nach der Osterweiterung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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Casey, Bernard H. (2004): Evaluating Pension Reform. In: Scandinavian Insurance Quarterly 2. 1-11 The Economist (2005): Economic focus: Pensions by default. London 27.08. 62 Eichenhofer, Eberhard (2005): Europäisierung sozialer Sicherung. Vortrag an der Andrássy-Universität Budapest. 30.04. Eichenhofer, Eberhard (2007): Geschichte des Sozialstaats in Europa. München: C.H.Beck Europäische Kommission (2001): Unterstützung nationaler Strategien für zukunftssichere Renten durch eine integrierte Vorgehensweise. Mitteilung. Brüssel 03.07. 362 endg. Fultz, Elaine (2004): Pension reform in the EU accession countries: Challenges, achievements and pitfalls. In: International Social Security Review 57. 2. 3-24 Holzmann, Robert (2004): Toward a Reformed and Coordinated Pension System in Europe: Rationale and Potential Structure. World Bank – Social Protection Discussion Paper Series Holzmann, Robert/Hinz, Richard (2005): Old-Age Income Support in the 21st Century An International Perspective on Pension Systems and Reform. Washington D.C.: World Bank Leibfried, Stefan/Pierson, Paul (1998): Standort Europa: Sozialpolitik zwischen Nationalstaat und Europäischer Integration. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Leibfried, Stefan/Pierson, Paul (1998). Halbsouveräne Wohlfahrtsstaaten: Der Sozialstaat in der Europäischen Mehrebenen-Politik. In: Leibfried/Pierson (1998): 58-99 Orenstein, Mitchell A. (2008): Out-liberalizing the EU: pension privatization in Central and Eastern Europe. In: Journal of European Public Policy 15. 6. 899-917 Orszag, Peter R./Stiglitz, Joseph E. (2001): Rethinking Pension Reform: Ten Myths about Social Security Systems. In: Stiglitz/Holzmann (Hrsg.) (2001): 17-56 Pierson, Paul (Hrsg.) (2001): The New Politics of the Welfare State. Oxford: Oxford University Press Scharpf, Fritz W. (2002): The European Social Model: Coping with the Challenges of Diversity. In: Journal of Common Market Studies 40. 4. 645-670 Schludi, Martin (2003): Chances and limitations of "benchmarking" in the reform of welfare state structures - the case of pension policy. Amsterdam Institute of Advanced Labour Studies Stiglitz, Joseph E./Holzmann, Robert (Hrsg.) (2001): New Ideas about Old Age Security: Toward Sustainable Pension Systems in the 21st Century. Washington: World Bank Stuchlík, Andrej (2008): Sozialpolitik in der erweiterten Europäischen Union. In: Bos/Dieringer (Hrsg.) (2008): 213-225 World Bank (1994): Averting the Old-Age Crisis: Policies to Protect the Old and Promote Growth. Oxford: Oxford University Press
I. Grundlagen
Nationale Rentenreformen und die Europäische Union Entwicklungslinien und Einflusskanäle Winfried Schmähl
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Zur Eingrenzung des Themas
Rentenreformen gehören in vielen europäischen Ländern sicherlich zu den am meisten diskutierten innenpolitischen Themen. Immer wieder war es notwendig, mit der Gestaltung der Alterssicherung auf sich ändernde soziale, politische, ökonomische und demographische Bedingungen zu reagieren. Aber auch die Beurteilung der Wirkungen der Alterssicherung ist im Zeitablauf Änderungen unterworfen. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass sich vielfach die Zielvorstellungen der politisch relevanten Akteure verändert haben. Besonders deutlich wird all dies in der Entwicklung mittel- und osteuropäischer Länder, deren politisches und ökonomisches System sich in den letzten 15 Jahren grundlegend wandelte. Diese „große Transformation“ hatte auch Auswirkungen auf die Alterssicherung.1 Doch nicht allein in ehemals sozialistischen Ländern sind tiefgreifende Reformen beschlossen worden. Man gewinnt den Eindruck, dass nach dem Wegfall des sozialistischen „Konkurrenzmodells“ und der Integration dieser Länder in die internationale Arbeitsteilung die Sozialpolitik generell, aber auch die vom Staat durchgeführte Alterssicherung nun auch in schon länger marktwirtschaftlich organisierten Ländern politisch zunehmend unter großen Druck geraten ist. Sozialpolitik wird vielfach primär als Kostenfaktor bezeichnet, als Belastung für Unternehmen wie auch für die Bürger, insbesondere auch die jüngere Generation. Die in vielen Ländern in den letzten Jahren durchgeführten Reformen der Alterssicherung haben oftmals grundlegend die Konzeptionen und Strukturen der Alterssicherung verändert. Im Folgenden soll aber kein vergleichender Überblick über die verschiedenen Reformdiskussionen oder -ansätze geliefert werden, sondern es soll zum einen auf die inzwischen beträchtliche Rolle der
Ergänzte Fassung eines Einführungsvortrags, den der Verfasser am 29.04.2005 im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung an der Andrássy-Universität in Budapest gehalten hat. 1 Hierzu liegt inzwischen eine Fülle an Veröffentlichungen vor, in denen sowohl deskriptiv die Entwicklungen dargestellt als auch Ansätze zur Erklärung versucht werden.
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Winfried Schmähl
europäischen Ebene für die Alterssicherungspolitik hingewiesen werden. Das ist etwas, was in vielen Ländern erst allmählich stärker ins Bewusstsein rückt. Zum anderen soll auf einige Entwicklungstendenzen in der Alterssicherungspolitik eingegangen werden, die sich in jüngerer Zeit zeigen. Damit verbunden ist dann die Frage, ob über die europäische Ebene – auch angesichts der Erweiterung der EU und in EU-Ländern inzwischen durchgeführter Rentenreformen – Rückwirkungen auf die Entwicklung nationaler Alterssicherungssysteme eintreten können. Dabei stehen Konzeptionen der Alterssicherungspolitik und dafür relevante Zielvorstellungen im Zentrum,2 nicht einzelne Instrumente wie die Gestaltung von Altersgrenzen oder Formeln zur Berechnung und Anpassung von Renten.3
2
Die europäische Ebene als Einflussfaktor für nationale Alterssicherungssysteme
Auf Umfang und Struktur der Alterssicherungssysteme wirken viele Faktoren ein, solche von der nationalen Ebene und aus dem internationalen Umfeld. Zu letzterem sei nur schlagwortartig verwiesen auf die vorübergehende oder dauerhafte Migration u.a. von Arbeitskräften und die engere ökonomische Verflechtung (meist mit dem Schlagwort der „Globalisierung“ bezeichnet) sowie die damit verbundene Intensivierung des ökonomischen Wettbewerbs.4 Weiterhin ist hinzuweisen auf die nationale Rechtsprechung wie auch die des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die als Einflussfaktor häufig – vorwiegend von Ökonomen – nicht hinreichend beachtet wird. Vor allem aber ist der politische Entscheidungsprozess von zentraler Bedeutung. Dies betrifft insbesondere die Frage, welche Ziele durch die verschiedenen Elemente des Alterssicherungssys2 Dazu gehören auch sich ändernde Vorstellungen über die Rolle des Staates in der Alterssicherung, damit verbunden die Aufgabenteilung zwischen privatem und öffentlichem Sektor sowie die Frage, wer die Risiken tragen soll, die mit der Vorsorge für das Alter und der Absicherung in der Altersphase verbunden sind. 3 Welche Vielfalt hier anzutreffen ist, zeigt ein kurzer Beitrag von Werding (2004). 4 Die Intensivierung des ökonomischen Wettbewerbs reduziert tendenziell die Möglichkeit zur Weiterwälzung von (steigenden) Kosten, was insbesondere im Zusammenhang mit (lohnbezogenen) Sozialbeiträgen und Lohnkosten in der Diskussion vieler Länder als Folge von „Globalisierung“ ein politisch häufig verwendetes Argument ist. Allerdings kann ein Schlagwort wie „Globalisierung“, hinter dem vielschichtige und unterschiedliche Entwicklungen und Faktoren verborgen sind, Alibifunktion in öffentlichen Auseinandersetzungen haben bzw. zur kaum hinterfragten Begründung für bestimmte Forderungen dienen. Für das hier behandelte Thema ist insbesondere auch die engere Verflechtung der Finanzmärkte von Bedeutung. Die Literatur über die (möglichen) Einflüsse der „Globalisierung“ auf die Sozialpolitik ist inzwischen kaum noch überschaubar. Die Auffassungen über Art und Richtung der Einflüsse divergieren z.T. beträchtlich. Vgl. u.a. Mishra (1999), Atkinson (2002), Weizsäcker (1999), Rieger/Leibfried (2001). Für einen kurzen Überblick über unterschiedliche Hypothesen in der Literatur siehe auch Brady et. al. (2004).
Nationale Rentenreformen und die Europäische Union
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tems realisiert werden sollen, also durch staatliche, betriebliche und sonstige private Einrichtungen. Hier haben sich in vielen Ländern tiefgreifende Veränderungen vollzogen, und zwar nicht allein in den ehemals sozialistischen Ländern (was unmittelbar einsichtig ist). Diese Veränderungen resultieren aus einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Akteure – von Politikern, Interessenvertretern, internationalen Organisationen, Wissenschaftlern und Medien. Es wäre eine lohnende Aufgabe für multidisziplinäre Forschung, diese Prozesse mehr als bisher aufzuhellen. Das Gewicht mancher dieser Akteure ist deutlich gestiegen, so das der Finanzmarktakteure (also Versicherungen, Banken, Pensionsfonds) und auch das der Finanzminister (auf nationaler wie internationaler Ebene). Bemerkenswert ist auch, dass sich vielfach eine im Grundansatz recht einheitliche Auffassung über die Art der Reformstrategie herausgebildet hat, was manchmal bis zu einer weitgehend uniformiert wirkenden öffentlichen Diskussion führt. Zu den Einflussfaktoren gehören – wie bereits erwähnt – zunehmend solche, die von der europäischen Ebene ausgehen. Es existiert inzwischen ein ganzes Bündel an Einflusskanälen und Regelungen, die von der europäischen Ebene direkt oder indirekt auf nationale Alterssicherungssysteme einwirken, auf die öffentlichen wie auch die betrieblichen und sonstigen privaten Einrichtungen. Dazu gehören die vielfältigen Maßnahmen, die zur Verwirklichung der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes ergriffen wurden, so die schon seit langem genutzten Instrumente der Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen und Mitteilungen,5 Maßnahmen im Zusammenhang mit der Mobilität insbesondere von Arbeitskräften, dem freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. So soll auch ein europäischer Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen geschaffen werden, was im Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung privater Altersvorsorge unmittelbar relevant ist. Im Hinblick auf die Durchsetzung der Grundfreiheiten sind Entscheidungen des EuGH von erheblicher Bedeutung.6 Durch den Maastrichter Vertrag wurden die Möglichkeiten der Europäischen Union ausgeweitet, um auf sozialpolitischem Gebiet aktiv werden zu können. Mindestvorschriften (z.B. zur Verbesserung der Arbeitsumwelt, zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer) können seitdem mit 5 Vgl. dazu Schulte (2001: 9-92) mit vielen weiteren Verweisen. Unstrittig waren im Prinzip die Koordinierungsregeln, die bei grenzüberschreitenden Aktivitäten Nachteile – insbesondere und zunächst für mobile Arbeitskräfte – vermeiden helfen sollten. Das entstandene äußerst komplizierte Regelwerk zur Koordinierung wird durch die Ost-Erweiterung der EU allerdings noch komplexer. 6 Zum Überblick über diesen vielgestaltigen Problemkomplex siehe außer Schulte (2001) auch die Beiträge in Schmähl/Rische (1995) und Schmähl/Rische (1997) sowie in Schmähl (1990), Schmähl (1989) und Rische (2002). Kritisch zur „Rechtsfortbildung“ und Entscheidungspraxis des EuGH am Beispiel der Unionsbürgerschaft und deren Bedeutung für den Zugang zu Sozialleistungen eines Landes Hailbronner (2004).
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qualifizierter Mehrheit erlassen werden. Diese Möglichkeiten können und werden extensiv interpretiert. Gleiches gilt für den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Arbeits- und Sozialrecht, der auch unmittelbar Auswirkungen für die Alterssicherung besitzt. Die im November 2000 erlassene „Rahmenrichtlinie Gleichbehandlung“, die bis spätestens Ende 2006 in nationales Recht umzusetzen ist, sieht u.a. ein Verbot der Diskriminierung wegen Alters vor. Dies kann für den Arbeitsmarkt – dort u.U. für die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer und damit (mittel- und unmittelbar) auch für Alterssicherungssysteme – Auswirkungen haben.7 Deutlich ist bereits jetzt in vielen Ländern die Tendenz, die „Altersgrenzen“ im Rentenrecht für Männer und Frauen einander anzugleichen. Dies geschieht in der Regel dadurch, dass diese Grenzen für Frauen tendenziell denen der Männer angeglichen bzw. stärker angehoben werden. Eine erhöhte Erwerbsbeteiligung Älterer wird in der EU in jüngster Zeit – nach Jahren der gezielten Frühverrentung in vielen Ländern – als ein wichtiges Mittel zur Erreichung „fiskalischer Nachhaltigkeit“ von (umlagefinanzierten) Alterssicherungssystemen angesehen. So wurde vom Europäischen Rat 2001 in Stockholm eine Erhöhung der Beschäftigungsrate 55- bis 64-Jähriger in der EU von 38,8 % (2001) bis 2010 auf 50 % oder mehr angestrebt. Außerdem ist 2002 in Barcelona vereinbart worden, das Rentenalter bis 2010 um fünf Jahre anzuheben. Die Realisierung dieser Zielwerte erfordert in den meisten EU-Ländern eine beträchtliche Erhöhung der Beschäftigungsraten, insbesondere jenseits des 60. Lebensjahres. Es bestehen erhebliche Unterschiede in der Höhe von Erwerbsquoten in den Ländern der EU-15 (also vor der Erweiterung), doch ist in allen Ländern ein deutlicher Rückgang der Erwerbsbeteiligung in der Altersgruppe von 60 bis 64 Jahren im Vergleich zur Gruppe der 55- bis 59-Jährigen festzustellen. Auch in den neuen EU-Ländern existieren beträchtliche Unterschiede in der Höhe der Erwerbsbeteiligung. Die Integration der neuen Mitgliedsländer wird die Realisierung der Zielwerte, die sich die EU gesetzt hat, nicht erleichtern. Denn der weitere Transformationsprozess in diesen Ländern – in Verbindung mit dem Integrationsprozess – dürfte die Beschäftigungschancen Älterer nicht gerade fördern, zumal in einigen der Länder (man denke z.B. an Polen) die Arbeitslosenquote hoch ist (2002 mit 19,9 % ähnlich hoch wie in Ostdeutschland). Zudem ist z.B. in Polen der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen beträchtlich, in einem Sektor, der von der EU-Integration besonders berührt wird.8 Außerdem werden Ältere kaum zu denen gehören, die eine Beschäftigung 7 8
Vgl. zum Überblick Wank (2003). Vgl. hierzu Schmähl (2004a).
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– welcher Art auch immer – im Ausland annehmen. Zudem ist die Erwerbsquote Älterer aufgrund früherer Frühverrentungen sowieso relativ niedrig. Zwar ist in jüngster Zeit Ernüchterung eingetreten hinsichtlich der in Lissabon im Jahre 2000 vollmundig verkündeten überaus ehrgeizigen Zielvorstellung, die EU bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten, wettbewerbsfähigsten und wissensbasiertesten Standort der Welt zu machen. Doch die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung Älterer steht nach wie vor – mit Recht – auf der politischen Tagesordnung der EU und auch vieler Länder. Allerdings haben manche Länder (wie insbesondere seit einer Reihe von Jahren Deutschland) mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Die Steigerung der Erwerbsbeteiligung Älterer setzt nicht nur eine allgemein verbesserte Arbeitsmarktlage voraus, sondern auch eine Reihe flankierender Maßnahmen – insbesondere auf betrieblicher Ebene hinsichtlich Arbeitsorganisation, Arbeitsplatzgestaltung und Weiterbildung. Und die Realisierbarkeit hängt auch ab von der Entwicklung der gesundheitlichen Situation der Erwerbstätigen. Doch ohne eine tiefgreifende Verbesserung der Arbeitsmarktlage in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit werden die Beschäftigungschancen für Ältere ungünstig bleiben. Von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung nationaler Alterssicherungssysteme können auch die Maastricht-Stabilitätskriterien für die Finanzierung der öffentlichen Haushalte sein, also die Kriterien für die Begrenzung der Defizite in öffentlichen Haushalten und zum Stand der öffentlichen Verschuldung. Denn hierin kann ein politisch wichtiger Hebel zur (Um-) Gestaltung der Alterssicherung liegen – sowohl was deren Umfang als auch deren Struktur betrifft. So streben Wirtschafts- und Finanzminister zur Entlastung der öffentlichen Haushalte eine Reduzierung umlagefinanzierter öffentlicher Systeme der Alterssicherung an. Die in umlagefinanzierten Systemen angesammelten Ansprüche werden in diesem Zusammenhang häufig als implizite öffentliche Verschuldung charakterisiert und der expliziten Staatsverschuldung gegenübergestellt.9 Bereits in einem im Oktober 2001 vom Ausschuss für Wirtschaftspolitik der EU10 veröffentlichten Bericht über Herausforderungen für öffentliche Haushalte, die aus dem Alterungsprozess der Bevölkerung resultieren (Economic Policy Committee 2001), wurden Indikatoren zur Messung der „fiskalischen Nachhaltigkeit“ von Alterssicherungssystemen vorgeschlagen. Dabei wurde „Nachhaltigkeit“ in der Weise definiert, dass die Situation der Alterssicherungssysteme in Übereinstimmung stehen muss mit den Budgeterfordernissen der Europäischen 9 Während die implizite Verschuldung eine potentielle Belastung darstellen kann, ist die explizite Verschuldung „real”. Vgl. kritisch und relativierend zu diesen Konzepten Cichon et. al. (2004: 194198). Siehe auch Müller in diesem Band. 10 Economic Policy Committee, EPC, einem Unterausschuss des Ecofin-Rates.
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Währungsunion, insbesondere mit dem Ziel, die öffentlichen Haushalte weitgehend auszugleichen oder gar mit einem Überschuss abzuschließen.11 Schließlich wurde als weiteres und noch relativ neues Instrument die „Methode der offenen Koordinierung“ eingeführt und inzwischen auch auf die Alterssicherung angewandt. Hierdurch soll durch Einigung über Zielsetzungen für die Alterssicherung, über die konkrete Definition von Indikatoren zur Messung der jeweiligen Ziele sowie die Interpretation und Bewertung dieser Informationen ein Beitrag zur Konvergenz im Bereich der nationalen Alterssicherungssysteme geleistet werden. Was bei einem solchen Prozess herauskommt, hängt nicht zuletzt vom Einfluss der hierbei maßgebenden Akteure und deren eigenen Zielvorstellungen ab. Bevor auf diesen neuen Mechanismus weiter unten näher eingegangen wird, soll zunächst auf einige Entwicklungstendenzen in nationalen Systemen der Alterssicherung in Europa aufmerksam gemacht werden, da diese für den erwähnten Koordinierungsprozess auf europäischer Ebene bedeutsam sein dürften.
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Einige Entwicklungstendenzen in der Gestaltung von Alterssicherungssystemen in Europa
Für den in der EU angestrebten Koordinierungsprozess ist insbesondere von Bedeutung, welche Gewichtsverschiebungen sich zwischen verschiedenen Konzepten zur Gestaltung von Alterssicherung in jüngster Zeit vollzogen haben. Dabei konzentriere ich mich stichwortartig auf sechs Tendenzen, die selbstverständlich nicht in allen Ländern zu verzeichnen sind, zumal sich die Konzeptionen, die der Alterssicherungspolitik eines Landes zugrunde liegen, zwischen EU-Ländern deutlich unterscheiden. 1.
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Festzustellen ist eine zunehmende Bedeutung des Versicherungsgedankens in der Alterssicherung, d.h. eine engere Beziehung zwischen Leistung und Gegenleistung. Dies hat zum einen seinen Grund in einer steigenden quantitativen Bedeutung von privaten Formen und Einrichtungen der Alterssicherung in vielen Ländern. Aber diese Orientierung am Versicherungsgedanken zeigt sich auch in vielen öffentlichen Alterssicherungssystemen. Dies betrifft nicht allein „Sozialversicherungsländer“, in denen in unterschiedlich ausgeprägter Form bereits eine Beziehung zwischen Vorleistung (Beitrag) und späterer Gegenleistung (Rente) – also damit vor allem inter-
„Close to balance or in surplus“. Vgl. Economic Policy Committee (2001: 66).
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temporale Einkommensumverteilung – angestrebt wurde. Diese Tendenz zeigt sich auch in Ländern, deren öffentliches Basissystem der Alterssicherung überwiegend der interpersonellen Einkommensumverteilung (z.B. zwischen Arm und Reich) diente und kaum eine Verknüpfung zwischen Beitrag und Rente aufwies. Dies betrifft zum einen viele der früher sozialistischen Länder, aber auch z.B. ein Land wie Schweden, das ja lange als Prototyp eines Landes mit einer steuerfinanzierten Staatsbürgerversorgung galt. Vielfach geht die Entwicklung zu einer (engeren) Verknüpfung von Beitrag und späterer Rente einher mit einer Reduzierung des (relativen) Umfangs der (umlagefinanzierten) staatlichen Alterssicherungssysteme. Besonders ausgeprägt ist die enge Verknüpfung zwischen Beitrag und Rente dann, wenn ein beitragsdefiniertes (defined contribution) System eingeführt wird, insbesondere wenn der Beitragssatz fixiert wird und die Rente von der absoluten Höhe des Nominalbetrags der Beiträge und deren Verzinsung abhängt. D.h., hier wird also kein Leistungsziel vorgegeben, sondern maßgebend ist die Höhe der Beitragszahlung. Solche beitragsdefinierten Systeme sind z.B. aus der betrieblichen Alterssicherung bekannt und charakterisieren private Spar- und Rentenmodelle. Doch nun findet sich dieses Konzept auch in öffentlichen umlagefinanzierten Basissystemen der Alterssicherung, wobei sie in vieler Hinsicht privat organisierten kapitalfundierten Alterssicherungssystemen nachgebildet werden, ohne dass jedoch Kapitalakkumulation im System erfolgt. Ein im Lebensablauf angesammelter virtueller Vermögensbestand wird dann bei Rentenbeginn in eine lebenslange Annuität umgewandelt (notional defined contribution schemes). Schweden und Italien aus der Gruppe der EU-15 haben eine Reformentscheidung dieser Art getroffen.12 In den neuen EU-Ländern haben Lettland und Polen ihre öffentlich organisierte Basis-Alterssicherung gleichfalls in dieser Weise neu gestaltet.13 Eine engere Beziehung zwischen Vorleistung und Gegenleistung in öffentlichen Systemen wird aber auch in den bislang leistungsdefinierten (defined benefit) Systemen verschiedener Länder angestrebt. Dies wird mit unterschiedlichen Instrumenten verwirklicht, so durch die Reduzierung von interpersonellen Umverteilungselementen in der Sozialversicherung (auch durch den Abbau von Privilegien für bestimmte Gruppen der Bevölkerung) oder dadurch, dass die Finanzierung solcher Umverteilungselemente nun
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Vgl. für Schweden Palmer (2003) und für Italien Franco (2003). Näheres findet sich für Lettland in: Bite (2002), bzw. für Polen in: Golinowska/Zukowski (2002) sowie Chlon-Dominczak (2002). Zur neueren Entwicklung und zu bisherigen Erfahrungen in Lettland siehe Bite (2005) und in Polen siehe Ratajczak (2005). 13
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aus Steuern und nicht mehr aus Sozialversicherungsbeiträgen erfolgt.14 In verschiedenen Ländern wird bei der Rentenberechnung eine Ausdehnung des Zeitraumes vorgenommen, für den Beitragszahlungen berücksichtigt werden (also z.B. statt der letzten zehn Jahre stufenweise eine größere Anzahl von Jahren, im Extrem die gesamte Versicherungs-(Erwerbs-)dauer umfassend), oder es wird die Anzahl der Beitragsjahre erhöht, die erforderlich ist, um die volle Rente zu erhalten.15 Vielfach erfolgt teilweise eine Substitution von öffentlicher durch private Alterssicherung. Auch hierfür liefern wiederum einige der neuen EU-Mitgliedsländer Beispiele, neben Polen und Lettland auch Estland und Ungarn. Deutschland bietet mit Reformentscheidungen der Jahre 2001 und 2004 ein weiteres Beispiel. Dort soll betriebliche und private Alterssicherung nicht mehr (wie bisher) als Ergänzung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung (also der Sozialversicherung) dienen, sondern zur Kompensation der Leistungsreduktion in der gesetzlichen Sozialversicherung. Mit einer solchen Substitution öffentlicher durch private Alterssicherung ist auch verbunden: (a) eine Verlagerung von Risiken zwischen Staat und Privathaushalten: Den Privathaushalten wird ein höheres Maß an Verantwortung für die Alterssicherung, aber auch an damit verbundenen Risiken zugewiesen.16 (b) eine Reduzierung umlagefinanzierter Alterssicherung und eine Ausweitung kapitalfundierter Formen der Alterssicherung. Eine solche partielle Substitution umlagefinanzierter Alterssicherungssysteme durch kapitalfundierte Systeme findet in verschiedenen Varianten statt, so beispielsweise in Polen und Ungarn durch Überführung eines Teils von Beiträgen in die neuen Systeme, in Deutschland auf den Wegen über staatlich geförderte Privatvorsorge. Dadurch steigen insgesamt die Vorsorgeaufwendungen und Alterssicherungsausgaben, sofern nicht eine drastische Reduktion laufender Leistungen erfolgt. Und zwar steigen die Belastungen über das Maß hinaus, das in umlagefinanzierten Systemen erforderlich wäre als Reaktion insbesondere auf strukturelle Veränderungen in Demographie, Ökonomie und Erwerbsbiographien.17 Dies sind die bekannten „Übergangskosten“ bei einem Umstieg von der Umlagefinanzierung zur Kapitalfundierung. Diese zusätzlichen Kosten können unterschiedlich
Ausführlicher dazu Schmähl (1997). Beispiele hierfür liefern Österreich und Frankreich. 16 Dies sollte allerdings hinreichende Kenntnis über die Folgen der Alternativen und Entscheidungen voraussetzen. Hier ist in vielen Ländern ein erhebliches Defizit zu konstatieren. Nicht zuletzt ist für diesen Mangel auch „die Politik“ mitverantwortlich. Informationen werden oft recht selektiv – mit Blick auf die möglichen positiven Effekte der politisch favorisierten Strategie – gegeben. 17 Im Hinblick auf neue EU-Länder siehe hierzu Fultz (2004: 23). 15
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verteilt werden, führen aber im Regelfall für einen längeren Zeitraum zu einer stärkeren Einkommensbelastung privater Haushalte für Zwecke der Altersvorsorge.18 Verschiedentlich erfolgt auch eine Entlastung von Arbeitgebern und eine Mehrbelastung von Arbeitnehmern bei den Beitragszahlungen für die Alterssicherung. In sozialistischen Ländern wurden die Beiträge (resultierend aus dem in sozialistischen Ländern praktizierten Verteilungssystem) in der Regel überwiegend von den (Staats-)Unternehmen an den Staatshaushalt (in dem in der Regel auch die Sozialversicherung integriert war) abgeführt, während die geringen Beiträge der Arbeitnehmer eher symbolischen Charakter hatten. Auch hier erfolgten im Zuge des Transformationsprozesses nun vielfach eine Reduzierung der Arbeitgeberzahlungen und eine direkte Finanzbelastung der Arbeitnehmer durch höhere Arbeitnehmerbeiträge. In den westlichen „Sozialversicherungsländern“, wo zur Finanzierung in hohem Maße Sozialversicherungsbeiträge eingesetzt werden, ist die damit verbundene Belastung von Unternehmen mit sogenannten „Lohnnebenkosten“ (zu denen die Arbeitgeberbeiträge zählen) ein wichtiges Diskussionsthema. Aus beschäftigungspolitischer Perspektive und mit Blick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen wird diese Belastung beklagt, können doch damit verbundene Kosten angesichts der schwieriger gewordenen Wettbewerbssituation immer weniger z.B. in Preisen weitergewälzt werden. Eine Verschiebung in der Zahllast hin zu den Arbeitnehmern kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen. In Deutschland treten teilweise an die Stelle der Sozialversicherungsbeiträge, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je zur Hälfte gezahlt werden, nun Beiträge für die private Altersvorsorge, die allein von Arbeitnehmern entrichtet werden. Zugleich werden vielfach auch betriebliche Alterssicherungssysteme umgestaltet, indem vermehrt beitragsdefinierte Formen an die Stelle von Leistungszusagen treten.19 Im Zuge dieser Umgestaltung reduzieren Arbeitgeber auch ihre eigene Finanzierungsbeteiligung, d.h., Arbeitnehmer finanzieren auf direktem Wege diese Ansprüche selbst. Das Beispiel der Entgeltumwandlung zeigt dies besonders deutlich – wenn also zugunsten des Erwerbs von Ansprüchen auf Alterssicherung auf die Auszahlung von Teilen des Arbeitsentgelts verzichtet wird. Diese Änderungen in der Konzepti-
Die im Jahre 2001 in Deutschland beschlossenen Maßnahmen illustrieren dies deutlich. Siehe dazu Schmähl (2004b). 19 Diese Entwicklung ist in jüngster Zeit in Deutschland durch die Einführung eines Rechts der Arbeitnehmer auf Entgeltumwandlung gefördert worden. Da dies auch ohne Zahlung von Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer erfolgen kann, wird damit zugleich die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung geschwächt; vgl. dazu Schmähl (2003a).
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on betrieblicher Alterssicherung und ihrer Finanzierung gehen einher mit einer Verlagerung von Risiken von Arbeitgebern zu Arbeitnehmern.20 In verschiedenen Ländern wurde ein zweites obligatorisches Element der Alterssicherung, und zwar in kapitalfundierter Form, eingeführt.21 Dies geht z.T. einher mit der Einführung beitragsdefinierter umlagefinanzierter öffentlicher Systeme. Dem schwedischen Konzept folgend zeigt sich dies in Polen und Lettland. Aber auch in weiteren neuen EU-Ländern ist eine obligatorische kapitalfundierte zweite Schicht geschaffen worden, so in Ungarn, Estland und jetzt auch in der Slowakei. Diese Kombination zweier obligatorischer Systeme – sei es durch ein gesetzliches Obligatorium oder durch ein auf Kollektivverträgen basierendes Quasi-Obligatorium – war bereits in vielen Ländern anzutreffen, in denen die umlagefinanzierten öffentlichen Systeme ein sehr niedriges Niveau aufwiesen, das dann durch eine zweite obligatorische kapitalfundierte Schicht ergänzt wurde. Dies zeigt sich z.B. in den Niederlanden, wo auf der Basis von Kollektivverträgen branchenweite Zusatzsysteme geschaffen wurden, oder in der Schweiz, wo das Basissystem (AHV) durch gesetzlich eingeführte obligatorische Betriebsrenten ergänzt wird.22 Anders war es dagegen bislang in solchen Ländern, in denen „großzügigere“ öffentliche (einkommensbezogene) Basissysteme existierten. Hier waren ergänzende Einrichtungen in der Regel freiwillig. Die zuletzt genannten Beispiele illustrieren den Tatbestand, dass in den meisten Ländern nicht allein eine Form der Alterssicherung gewünscht wird, die nur Armut im Alter vermeiden hilft, sondern dass eine anspruchsvollere Zielsetzung existiert, nämlich durch Altersvorsorge und Alterssicherung eine Verstetigung des Einkommens bzw. Konsums im Lebensablauf zu erreichen – hier insbesondere beim Übergang von der Erwerbs- in die Nacherwerbsphase. Die Aufgabenteilung zwischen staatlichen und betrieblichen Einrichtungen ist dabei unterschiedlich gestaltbar. Wenn – so wie dies in Deutschland seit 1957 (der Einführung der dynamischen lohnbezogenen Rente als Lohnersatz) der Fall war – die staatliche Rentenversicherung ein Leistungsniveau anstrebt, das bei längerer Versicherungsdauer Renten garantiert, die deutlich über der Armutsgrenze liegen, so sind
Zugleich wird damit der Unterschied zwischen „betrieblicher“ und „privater“ Altersvorsorge und -sicherung zunehmend aufgeweicht. Siehe u.a. Martin (2005). Für eine vergleichende Darstellung siehe Schmähl (2003b) sowie ders. (1999). Zur Entwicklung seit der „Wendezeit” siehe auch die vergleichenden sowie landesbezogenen Beiträge in Schmähl/Horstmann (2002) sowie (als kurze zusammenfassende Darstellung) Schmähl/Horstmann (2004) und Horstmann/Schmähl (2004). 22 Während andererseits in Ländern mit „großzügigerer“ öffentlicher Basissicherung die ergänzenden Formen in der Regel freiwillig waren. Vgl. hierzu bereits Schmähl (1991). 21
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private und betriebliche Alterssicherung freiwillige Formen zur Ergänzung. Wenn dagegen das staatliche System primär der Armutsvermeidung dienen soll und entweder einheitliche (allein von der Wohnsitzdauer abhängende) Altersrenten gewährt (wie in Systemen der Staatsbürgerversorgung) oder wenn das Leistungsniveau in Systemen, in denen die Renten von der Beitragszahlung abhängen (wie in den „notional defined contribution schemes“), recht niedrig ist, so werden obligatorische private und/oder betriebliche Systeme als erforderlich angesehen, um im Alter ein Einkommen zu ermöglichen, das mehr ist als reine Vermeidung von Armut. Übersicht 1 fasst diese Systemkonstellationen zusammen. Es deutet sich aber an, dass für öffentliche Basissysteme der Alterssicherung zunehmend das Ziel der Armutsvermeidung im Alter faktisch zum politischen Leitbild wird, auch wenn dies nicht immer zugegeben wird. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit für zusätzliche obligatorische private oder betriebliche Regelungen. Dabei ist allerdings erwähnenswert, dass bislang die Länder, in denen im staatlichen System Armutsvermeidung im Alter dominierte, in der Vermeidung von Armut weniger erfolgreich waren als Länder mit einem einkommensbezogenen großzügigeren Sicherungssystem (Korpi/Palme 1998). In schon länger marktwirtschaftlich organisierten Ländern wurden obligatorische private Einrichtungen dann eingeführt, wenn die staatlichen Systeme als unzulänglich beurteilt wurden. In Deutschland wird nun das staatliche System durch politische Entscheidungen erst unzulänglich gemacht und eher auf die Funktion der Armutsvermeidung reduziert, um damit die Notwendigkeit der (möglicherweise schon bald nicht mehr freiwilligen, sondern obligatorischen) Ergänzung durch kapitalfundierte Systeme zu begründen.23 Man sieht hieran, dass die Entscheidung über obligatorische oder freiwillige private und betriebliche Einrichtungen in Zusammenhang steht mit der für das staatliche Basissystem der Alterssicherung dominierenden verteilungspolitischen Zielsetzung.
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Ein einkommensbezogenes leistungsdefiniertes Alterssicherungssystem mit einer bisher engen Beziehung zwischen Vorsorgebeitrag und Rente wird durch die jetzt politisch dominierende Strategie in seinem Leistungsniveau so reduziert, dass längerfristig die Leistungs-GegenleistungsBeziehung nicht mehr akzeptiert werden dürfte und wohl bald ergänzende Einrichtungen nicht mehr – wie bisher – freiwillig bleiben werden (mit Förderung durch öffentliche Mittel), sondern verpflichtenden Charakter erhalten dürften.
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Übersicht 1 Alterssicherungssysteme Regel- (Basis-) Sicherung
Ergänzende Sicherung
– Umlagefinanzierung –
– Kapitalfundierung – freiwillig
x
einkommensunabhängig
x niedriges Niveau (Ziel: Armutsvermeidung) x einkommensbezogen (Ziel: Einkommensverstetigung) Quelle:
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obligatorisch
X
beitragsdefiniert leistungsdefiniert
X X
Eigene Darstellung
Die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK)24 vor dem Hintergrund konzeptioneller und struktureller Veränderungen in den Alterssicherungssystemen
Wie bereits erwähnt, soll innerhalb der EU durch Vereinbarung über Ziele der Alterssicherung und über Indikatoren zu deren Messung ein Beitrag zur Konvergenz auch im Bereich der Alterssicherung geleistet werden. In diesem Koordinierungsprozess wurden 11 Ziele definiert, die in drei Gruppen zusammengefasst sind, und zwar: (1) Angemessenheit der Alterssicherung (womit primär Vermeidung von Altersarmut, aber auch die Realisierbarkeit eines angemessenen Lebenshaltungsniveaus – Lebensstandards – im Alter in Verbindung stehen). (2) Finanzielle Tragfähigkeit der Rentensysteme (fiskalische Nachhaltigkeit) und (3) Modernisierung der Alterssicherungssysteme als Reaktion auf sich verändernde Bedürfnisse der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Einzelnen. 24
Vgl. den Beitrag von Stefan Okruch in diesem Band.
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Die allgemein formulierten Ziele sind unterschiedlich interpretierbar. Von besonderer Bedeutung ist deshalb, wie die jeweiligen Ziele durch Indikatoren operationalisiert werden und welches Gewicht dann den einzelnen Zielen bei der Bewertung der Alterssicherungssysteme eines Landes zugemessen wird. In diesem Koordinierungsprozess sind die Interessen und Einflussmöglichkeiten der nationalen Akteure wie auch der Akteure in europäischen Einrichtungen von großer Bedeutung. So haben Wirtschafts- und Finanzminister einerseits, Sozialminister andererseits hinsichtlich der Alterssicherung vielfach recht unterschiedliche Interessen. Im Prozess der OMK scheinen die Wirtschafts- und Finanzminister ein größeres Gewicht zu besitzen. Dies legen zumindest die bisherigen Erfahrungen nahe.25 So wurden in dem ersten im Jahre 2002 für die Alterssicherung vorgelegten „gemeinsamen Bericht der Kommission und des Rates über angemessene und nachhaltige Renten“ (Rat der Europäischen Union 2003) bestimmte Reformen als besonders vorbildhaft herausgestellt. Dazu gehört die Einführung beitragsdefinierter (wenngleich weiterhin umlagefinanzierter) Systeme, wie sie insbesondere in Schweden – oder zuvor schon in Lettland und jetzt auch in Polen – realisiert wurden, und auch die Gewichtsverschiebung in der Alterssicherung von öffentlichen umlagefinanzierten Systemen hin zu kapitalfundierter privater Altersvorsorge.26 In diesem Sinne äußerte sich auch die Europäische Zentralbank (o.V. 2003: 56). Diese Entwicklung soll vor allem auch der Entlastung der öffentlichen Haushalte dienen. Es bleibt abzuwarten, welche Wertungen im zweiten Bericht erfolgen, der 2006 vorgelegt werden soll und für den 2005 die Nationalen Strategieberichte vorzulegen sind. Doch dürfte sich vermutlich an der Tendenz der Aussagen wenig ändern. Kurz vor Ende der Arbeiten des Konvents wurde im Entwurf für eine Europäische Verfassung die OMK (wenngleich nicht unter diesem Begriff) auch für den Bereich der sozialen Sicherung verankert. Im jetzt zur Ratifizierung vorliegenden Lissabonner Verfassungstext heißt es dazu in Art. 156 AEUV (ex. Art. 140 EGV), dass die Kommission in enger Verbindung mit den Mitgliedstaaten tätig wird, „(...) und zwar insbesondere im Wege von Initiativen, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und Bewertung auszuarbeiten.“
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Ausführlich hierzu Schmähl (2003c); vgl. dazu auch Schmähl (2002). Hierzu wird von Terwey ein nicht namentlich genannter Experte der Kommission zitiert, der betont hatte, dass dies von der Kommission auch angestrebt wurde (Terwey 2003: 516).
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Durch das Initiativrecht erlangt die Kommission mehr Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der nationalen Systeme. Insgesamt handelt es sich um einen Ansatz, der bereits in der Wirtschaftsund Finanzpolitik praktiziert wird: die Formulierung von wirtschaftspolitischen wie auch beschäftigungspolitischen Leitlinien. Solche Leitlinien sind aber mehr als nur Empfehlungen für die nationalen Regierungen. „Insofern bedient sich die Kommission ...“ – so Günther Schmid mit Blick auf den Beschäftigungsbericht der EU-Kommission – „des öffentlichen ‚naming and shaming’ und übt über Rankings anhand der Benchmarks zusätzlichen Druck auf die Regierung aus. Daher handelt es sich bei den Empfehlungen der Kommission nicht nur um symbolische Politik, sondern um bedeutende politische Sanktionen, die das Ansehen eins EU-Mitgliedsstaates in der öffentlichen Meinung empfindlich treffen können.“ (Schmid 2004: 13f.)
D.h., die nationalen Regierungen werden verstärkt unter Rechtfertigungszwang gesetzt, nun auch in der Alterssicherungspolitik. Zwar haben die Staats- und Regierungschefs in einer Protokollerklärung betont, dass die im künftigen Art. 156 (AEUV) genannten Politikbereiche – dazu gehört als Teilbereich der Sozialpolitik die soziale Sicherung – „im Wesentlichen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen“ und dass die auf EU-Ebene zu ergreifenden Förder- und Koordinierungsmaßnahmen „ergänzenden Charakter“ haben. „Sie dienen der Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und nicht der Harmonisierung der einzelstaatlichen Regelungen.“27 Doch welche Bedeutung diese Erklärung schließlich in der Praxis in einem Prozess des „benchmarking“ haben wird, bleibt abzuwarten. Außerdem wurde mit einer Mitteilung der Kommission vom Mai 2003 ein Prozess der Straffung („streamlining“) der verschiedenen Koordinierungsaktivitäten der Gemeinschaft eingeleitet.28 Dadurch soll die Sozialpolitik besser mit der europäischen Beschäftigungsstrategie und den Grundzügen der Wirtschaftspolitik29 verzahnt werden. Zudem sollen die Bereiche des Sozialschutzes – also soziale Ausgrenzung (insbesondere Armutsvermeidung), Alterssicherung und Gesundheitsschutz – in einem gemeinsamen Bericht behandelt werden. Seit 2005 erscheinen die so genannten „Joint Reports“ von Kommission und Rat jährlich. 27
Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Addendum 2 zu Dokument 86/04, Vorläufige konsolidierte Fassung der der Schlussakte der Regierungskonferenz beizufügenden Erklärungen, Brüssel, 25. Juni 2004 (CIG 86/04, ADD 2). Dokument 86/04 enthält die konsolidierte Fassung des „Vertrags über eine Verfassung für Europa“. Art. III-107, künftig Art. 156 AEUV . 28 Siehe Europäische Kommission (2003). 29 Den „Broad Economic Policy Guidelines“ (BEPG).
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Eine solche Verzahnung der Politikbereiche erscheint auf den ersten Blick plausibel, doch auf den zweiten Blick sind darin allerdings auch Gefahren zu erkennen. Sie liegen für den Bereich der Alterssicherung darin, dass vor allem die Vermeidung von Armut im Alter in den Vordergrund rücken könnte und darüber hinausreichende Ziele in den Hintergrund treten – wie eine Verstetigung der Lebenshaltungssituation beim Übergang von der Erwerbs- in die Nacherwerbsphase und auch während dieser (immer länger gewordenen) Phase. Bereits der erwähnte erste Bericht, der noch allein der Alterssicherung gewidmet war, unterstreicht diese Befürchtung.30 Angesichts der oben erwähnten Tendenz in vielen Ländern, staatliche Systeme der Alterssicherung mehr auf die Armutsvermeidung zu beschränken, ist eine solche Gewichtsverschiebung in den Beurteilungskriterien nicht auszuschließen. Von der Kommission ist geplant, für die Beurteilung in den drei Bereichen „Soziale Eingliederung, Alterssicherung und Gesundheit“ eine gemeinsame Liste von Zielen sowie „Schlüsselindikatoren“ zugrunde zu legen. Die Kommission schlug Anfang 2005 vor (in Kraft erst seit 2008), für den gesamten Bereich der „Lissabon-Strategie“ nur noch 14 Schlüssel-Indikatoren vorzusehen, was für den Bereich sozialer Sicherung eine Reduzierung auf Zahlen über Arbeitslosigkeit und Armut bedeutet. Eine differenzierte Beurteilung z.B. unterschiedlicher Systeme der Alterssicherung wäre dann nicht möglich. Die Ziele sollen anhand quantitativer Indikatoren überprüfbar sein. Im Prozess der Auswahl und Ausgestaltung der Indikatoren besteht die Gefahr, dass bestimmte Aspekte eher zurückgedrängt werden. So sind z.B. Indikatoren, die den Input messen – wie etwa der Anteil öffentlicher Ausgaben für die Alterssicherung am Bruttoinlandsprodukt –, relativ leicht zu ermitteln. Hierdurch soll etwas über die „fiskalische Nachhaltigkeit“ der Alterssicherung ausgesagt werden. Im ersten 2002 vorgelegten Bericht zur Alterssicherung werden dazu die staatlichen Rentenausgaben vor Steuer für die verschiedenen Länder ausgewiesen, ohne dass allerdings hinreichend klar ist, welche Leistungen jeweils berücksichtigt wurden. Ausgedrückt in Prozent des Bruttoinlandsprodukts reichte diese Relation im Jahr 2000 von rd. unter oder etwas über 5 % in Irland bzw. Großbritannien bis zu knapp 14 % in Italien. Verständlich, dass sich Finanzminister in Ländern mit einem hohen Prozentsatz (wozu auch Frankreich und Deutschland mit rd. 12 % gehören) eine Situation wie z.B. in Großbritannien wünschen. Aber es ist offenkundig, dass hiermit auch eine ganz andere Situation im Alter verbunden wäre. Außerdem weisen solche Bruttoausgaben (vor Steuer) eine zu hohe Belastung der öffentlichen Haushalte aus, da vielfach in nicht unbeträchtlichem Maße von den Rentnern Steuern gezahlt werden und somit Mit30 Näheres dazu in Schmähl (2003c). Auch in der deutschen Alterssicherungspolitik deuten sich solche Tendenzen an, zumindest für das öffentliche System der gesetzlichen Rentenversicherung.
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tel zurück an den Staatshaushalt fließen. Die Kommission versucht für die Zukunft, diesen Aspekt durch den Nachweis von Netto-Ausgaben zu berücksichtigen (Terwey 2005: 203). Verteilungs- und sozialpolitisch ist von zentraler Bedeutung, wie durch Alterssicherungssysteme die Situation im Alter gestaltet wird und in welchem Verhältnis die Vorsorgeaufwendungen zu den Leistungen im Alter stehen. Dies ist ein zentraler Aspekt auch für eine „politische Nachhaltigkeit“ der Systeme. Hier geht es um die Leistungen der Systeme, und nicht primär um den Input. Die Input-Orientierung im ersten Bericht (2002) wird auch dadurch unterstrichen, dass das schwedische Beispiel (jetzt würde man wohl auch Lettland und Polen nennen müssen) besonders positiv bewertet wird, da hier der Beitragssatz fixiert ist. Bei sich ändernden Bedingungen in Ökonomie und Demographie werden die Anpassungen bei den Leistungen erforderlich. Allerdings ist der Output der Alterssicherungssysteme, also was sie leisten, weitaus schwieriger zu messen als der Input. Zudem kommt dabei der Dimension „Zeit“ eine wichtige Rolle zu: Wenn heute Vorsorgeaufwendungen geleistet werden, wie wird dann die Situation der heutigen Beitragszahler sein, wenn sie später selbst im Rentenalter sind? Die damit verbundenen Probleme werden besonders deutlich, wenn tiefgreifende Systemumstellungen in der Alterssicherung erfolgen, von denen z.B. zunächst nur ein Teil der Erwerbstätigen erfasst wird, andere dagegen noch im „alten System“ bleiben. Reformen in verschiedenen Ländern Ost- und Mitteleuropas illustrieren dies eindrücklich, wenn z.B. bestimmte (Alters-)Gruppen obligatorisch in ein neues System einbezogen werden, für andere die Möglichkeit zum freiwilligen Beitritt besteht und wieder andere im alten System bleiben müssen oder wenn es zu einer Kombination von Leistungen aus dem früheren und dem neu eingeführten System kommt (Schmähl 2003b). Für welche Personengruppen werden dann Indikatoren über die Leistungen der Alterssicherungssysteme herangezogen und den Input-Indikatoren gegenüber gestellt? Ein weiterer die Zeitdimension betreffender Aspekt berührt die Entwicklung der Alterseinkünfte während der Altersphase, die ja auch angesichts steigender Lebenserwartung tendenziell immer länger geworden ist. Zumeist wird nur die Situation bei Rentenbeginn (also die Relation der Rente oder der Alterseinkünfte zum letzten Lohn oder Einkommen) berücksichtigt (Ersatzraten). Aber während der Altersphase können sich beträchtliche Veränderungen in der Einkommenslage ergeben, je nachdem, ob überhaupt – und falls ja in welcher Weise – Alterseinkünfte dynamisiert sind. So verliert eine nominal konstante Altersrente – wie vielfach bei privaten Renten – bereits bei einer Inflationsrate von jährlich 2 % innerhalb von 15 Jahren ein Viertel ihres Realwertes. Und diese Einkünfte bleiben hinter der aktuellen Einkommensentwicklung dann noch mehr zurück, wenn die Einkommen z.B. der Erwerbstätigen stärker als die
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Inflationsrate steigen. Wie sich die Einkommenslage während der Altersphase verändert, hängt somit auch ab vom Mischungsverhältnis z.B. zwischen öffentlichen und privaten Leistungen und der dort jeweils erfolgenden Dynamisierung der Leistungen. Insgesamt besteht bei der Auswahl der Indikatoren die Gefahr, dass ein Prozess des „benchmarking“ in Gang gesetzt wird mit einfachen, leicht messbaren und dabei vor allem den Input (bzw. die Kosten) berücksichtigenden Indikatoren, dagegen die Leistungen der Alterssicherungssysteme möglicherweise nur anhand z.B. ihres Beitrags zur Armutsvermeidung berücksichtigt werden.31 Damit kann aber den unterschiedlich strukturierten Alterssicherungssystemen nicht angemessen Rechnung getragen werden. Ein schleichender Prozess der Fokussierung der Alterssicherungsdiskussion auf bestimmte Indikatoren und Indikatorwerte (z.B. einen möglichst geringen Anteil öffentlicher Ausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt) kann – mit Hinweis auf andere Länder – dann mit zur Transformation nationaler Alterssicherungssysteme beitragen. Damit würde ein andersgearteter Prozess des „streamlining“ erfolgen, und zwar im Hinblick auf bestimmte Strukturen von Alterssicherungssystemen sowie der Fokussierung öffentlicher Systeme weitgehend auf das Ziel der Armutsvermeidung im Alter. Angesichts z.B. zum Teil gleichgerichteter Interessen im Bereich der Alterssicherung von Finanzministern einerseits, Finanzmarktakteuren (unterstützt auch vom „mainstream“ der derzeitigen Wirtschaftswissenschaft und durch Medien) andererseits lässt sich ein politisch relevanter Druck zur weiteren Verlagerung der Alterssicherung weg von öffentlichen und hin zu privaten kapitalfundierten Systemen erwarten. Dass mit einem solchen Prozess sowohl verteilungspolitische als auch gesamtwirtschaftliche Probleme verbunden sind, darüber wird derzeit im Hauptstrom der öffentlichen Erörterungen allerdings ebenso wenig gesprochen wie darüber, ob dies den Präferenzen und Erwartungen der Bürger in den betroffenen Ländern entspricht, zumal die Bürger vielfach über die Folgen solcher Systemveränderungen kaum oder nur fragmentarisch informiert werden.32 31 Die Kommission strebt neuerdings an, eine breite Diskussion über Systeme zur Sicherung eines Mindesteinkommens zu beginnen. Dies könnte die erwähnte Befürchtung untermauern. Vgl. dazu Terwey (2005: 201). In der Literatur wird auch als eine mögliche Nutzung der OMK vorgeschlagen, dass in diesem Prozess verbindlich Minimumstandards festgelegt werden, z.B. auch Mindesteinkommen. Dadurch würde auch das Element interpersoneller Einkommensumverteilung (wieder) gestärkt. In diesem Sinne Cantillon (2004). Cantillon erhofft sich auch vom „streamlining“ eine größere Wirksamkeit. Dies könnte den Weg zu bindenden Vereinbarungen eröffnen (2004: 16). 32 Am Beispiel der im Jahre 2001 in Deutschland vorgenommenen Strukturentscheidungen in der Alterssicherung wird auf vielfältige und oft sozialpolitisch äußerst problematische Verteilungseffekte hingewiesen in Schmähl (2003d), sowie Schmähl (2004c).
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Die oft erheblichen und nicht sehr transparenten Kosten bei der Anlage in privaten Vorsorgeprodukten sind aber die Einnahmen der Anbieter von Finanzdienstleistungen. Sie sind eindeutig die Gewinner der Entwicklung. Ob auch die heutigen Sparer zu den Gewinnern privater Altersvorsorge zählen werden, ist eine sehr offene Frage. Denn es geht dabei nicht allein oder primär um erreichbare (Netto-)Renditen von Anlagen, sondern gerade in der Alterssicherung um Sicherheit, eine einigermaßen abschätzbare Leistungshöhe im Alter, auch eine gewisse Stabilität des Einkommensstromes im Alter. Höhere Renditen sind aber mit mehr Risiko und Unsicherheit verbunden. Für die Situation im Alter kommt es nicht allein darauf an, wie die Alterssicherungssysteme gestaltet sind, welche Leistungen sie erbringen usw. Wichtig ist darüber hinaus z.B., wie die Leistungen steuerlich behandelt werden und vor allem auch, wie die Entwicklung der Absicherung im Falle von Krankheit und Pflegebedürftigkeit ist. Inwieweit werden dabei auftretende Kosten von öffentlichen Einrichtungen übernommen und was muss ggf. aus dem Einkommen des alten Menschen direkt finanziert werden? Nicht nur im Bereich der Alterssicherung ist in vielen Ländern ein Prozess im Gange, bei dem sich der Staat als Leistungserbringer und Finanzierender immer mehr zurückzieht, so auch bei den Gesundheitsleistungen. Da im Alter der Bedarf an Leistungen bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit steigt, sind folglich für eine umfassend konzipierte Alterssicherungspolitik auch die Entwicklungen in diesen Bereichen von großer Bedeutung. Eine solche integrierte Sicht bei der Vorbereitung von politischen Entscheidungen wird man wohl selten finden. Zurück zu den Alterssicherungssystemen: Durch die Erweiterung der EU und die dort inzwischen in verschiedenen Ländern erfolgten Strukturreformen verändert sich auch die „Alterssicherungs-Landschaft“ innerhalb der EU. Einige der Länder haben bereits einen Weg eingeschlagen, der im Prinzip dem Ansatz der Weltbank entspricht mit drei zentralen Elementen:
einer ersten obligatorischen Säule als umlagefinanziertes staatliches System mit niedrigen oder bedürftigkeitsgeprüften Leistungen; einer zweiten obligatorischen „Säule“, allerdings kapitalfundiert und schließlich drittens weiteren kapitalfundierten, jedoch freiwilligen Formen der Alterssicherung.
Durch die Erweiterung der EU und die in einigen Ländern realisierten Reformkonzepte verändert sich „... das bisherige Mischungsverhältnis aus staatlicher und privater, umlagefinanzierter und kapitalgedeckter Altersvorsorge in der Union.“ Die EU-Osterweiterung könnte damit „dazu beitragen, die politischen Mehrheitsverhältnisse weiter zugunsten der unionsinternen Befürworter einer
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Teilkapitaldeckung zu verschieben“ (Müller 2003: 561f.),33 was sowohl von Bedeutung für den politischen Koordinierungs- und Konvergenzprozess auf europäischer Ebene ist, als auch auf nationaler Ebene seine (Rück-)Wirkungen entfalten dürfte. Zudem möchte die Kommission ihre Rolle in diesem Prozess stärken. Welche Tendenzen in der Kommission derzeit dominieren, wird u.a. an einer Stellungnahme des deutschen sozialdemokratischen EU-Kommissars Günter Verheugen deutlich, der im Rahmen der Neuausrichtung der LissabonStrategie eine Konzentration auf das Wesentliche befürwortete, was hauptsächlich eine Reduzierung der Rolle des Staates bedeute (Terwey 2005: 201). Welche Auswirkungen beitragsdefinierte Systeme schließlich auf das erreichbare Absicherungsniveau im Alter haben werden – denn hier besteht ja kein Leistungsziel mehr –, und welche Auswirkungen die zunehmende Kapitalfundierung der Alterssicherung auf die Kapitalmärkte und von dort auf die Einkommenslage im Alter haben wird, bleibt abzuwarten. Der vielfach vertretene Optimismus – der abgeleitet wird aus der Auffassung, kapitalfundierte Verfahren seien der Umlagefinanzierung in vielfacher Hinsicht überlegen – kann allerdings in Zweifel gezogen werden. Man bedenke, dass in vielen Ländern ein ähnlicher Weg hin zu mehr Ansammlung von Finanzkapital eingeschlagen wird. Dieses Finanzkapital ist weltweit auf der Suche nach lukrativen Anlagemöglichkeiten mit z.T. dann gleichgerichteten Entscheidungen, was z.B. Auswirkungen auf nationale Kapitalmärkte haben kann.34 Je mehr weltweit auf Kapitalansammlung als Finanzierungsmethode gesetzt wird, umso stärker sind die makroökonomischen Rückwirkungen, z.B. auf den Wert der Vermögenstitel, 33 So wird von einem Vertreter der OECD die Auffassung vertreten, die neuen Mitgliedsländer hätten einen Vorsprung beim Aufbau kapitalfundierter Systeme (da die umlagefinanzierten Ansprüche kleiner seien). Daraus können sich Systeme ergeben, „that are more robust to ageing pressures than those in a number of EU15 countries.“ (Koromzay 2005: 64). Dabei wird aber – wie zumeist in der Diskussion über diese Finanzierungsverfahren – ausgeblendet, dass damit beträchtliche (und zunehmende) Einflüsse auf die Finanzmärkte verbunden sein werden, die dort auch zu Instabilität beitragen können. Vgl. Schmähl (1998: 193f.). Die Europäische Zentralbank (EZB) weist nun auch darauf hin, dass der wachsende Anteil von Versicherungen und Pensionskassen am Geldvermögen angesichts des im Vergleich zu Privathaushalten anderen Anlageverhaltens „erhebliche Auswirkungen auf die monetäre Entwicklung haben (kann)“, EZB (2005: 20). Und der Präsident der Deutschen Bundesbank verweist auf „die mögliche Gefahr von Ansteckungseffekten“ auf integrierten Finanzmärkten hin wie auch darauf, dass „(m)ehr Wettbewerb (…) unter Umständen zu einer höheren Risikobereitschaft führen (kann). Dies wiederum kann Rückwirkungen auf die Finanzstabilität haben“ (Weber 2005: 7). Zunehmende Integration von Finanzmärkten und steigende Bedeutung über Finanzmärkte abgewickelter Alterssicherung bergen – auch angesichts der demographischen Veränderungen – für die „Sicherheit“ der Absicherung im Alter Risiken in sich, die mehr Beachtung erfordern, als ihnen bislang in der Forschung und Diskussion zuteil wird. Zum Thema Finanzmarktintegration und Ausgestaltung der Alterssicherungssysteme in der EU s. auch Wehlau/Sommer (2004). 34 S. z.B. Atkinson (1999).
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was dann wiederum von Bedeutung für die Höhe der Leistungen im Alter ist. Diese Fragen können hier allerdings nicht diskutiert werden. Doch sollte man sich darüber klar sein, dass hinter der Strategie, die nun nahezu flächendeckend verfolgt wird, spezifische Interessen stehen. Das ist bei Aussagen z.B. von Finanzmarktakteuren (Banken, Pensionsfonds, Versicherungen) durchaus verständlich. Je größer der über kapitalmarktbasierte Altersvorsorgemarkt ist, um so besser. Dies betrifft aber auch die geradezu in der Form von Allwissenheit vorgetragenen Aussagen mancher Wissenschaftler. In der ökonomischen Wissenschaft gibt es einen „mainstream“, der sich vielfach auch in den Medien widerspiegelt und der schließlich die öffentliche Diskussion dominiert. Damit wurde z.B. in Deutschland der Boden bereitet für den erwähnten Paradigmenwechsel in der Alterssicherungspolitik, zu dem es angeblich keine Alternative gibt.35 Auf die in der EU-Kommission vertretenen Präferenzen über die Entwicklungsrichtung der Alterssicherungspolitik (Reduzierung öffentlicher Ausgaben, mehr Kapitalfundierung) wurde oben bereits hingewiesen. Durch die OMK werden faktisch Kompetenzen im Bereich sozialer Sicherung auf die europäische Ebene verlagert, auch wenn dort für diesen Bereich rechtlich keine Kompetenzen liegen.36 Nicht auszuschließen ist, dass die verschiedentlich als „weiche“ Form der Koordinierung37 bezeichnete „offene Methode“ in einem schleichenden Prozess zu einer Art von „Maastricht-Kriterien“ speziell für die Alterssicherung führt – wie ja von italienischer Seite schon einmal angeregt wurde.38 Nicht nur in manchen EU-Ländern, sondern auch auf EU-Ebene werden die öffentlichen Ausgaben für Ältere im Vergleich zu denen für die Jugend als zu niedrig bezeichnet. Auch von daher ist ein weiterer Druck auf öffentliche Alterssiche35 So wird auch von Journalisten die zunehmende Einseitigkeit in den Medien konstatiert. „Zwischentöne und andere Perspektiven gibt es nicht.“ So der Journalist Oliver Gehrs in einem Interview in „Das Parlament“ vom 18.04.2005 („Der Laden braucht wieder ein paar mutigere Leute“). 36 „(…) die zentralen Themen der Alterssicherungspolitik (…) werden zunehmend durch die europäischen Institutionen vorgegeben.“ Die Alterssicherungspolitik „entgleitet“ den Nationalstaaten „zunehmend als Gegenstand politischer Gestaltung“, so Eichenhofer (2005: 207). Eichenhofer bezeichnet die “Europäisierung der Alterssicherung“ als „die Antwort unserer Zeit auf die bereits weit fortgeschrittene Internationalisierung und Globalisierung unseres Lebens“ (ibid). 37 In diesem Sinne De la Porte (2001), Hodson/Maher (2001) und Schmid (2004). 38 Die Einschätzungen über die Wirkungen des durch die OMK in Gang gesetzten Prozesses differieren. So schreibt z.B. Atkinson mit Blick auf den Koordinierungsprozess zur „Armutsvermeidung“: „The freedom of choice allowed under subsidiarity may be largely illusory if policy is dictated by budgetary considerations. We will have to wait if this is true, (…), but there are certainly good reasons to suppose that Member States will take seriously the regular two yearly review of progress towards social inclusion, and their performance on the social indicators.” (Atkinson 2004: 16, zitiert bei Cantillon 2004: 16). Demgegenüber ist Cantillon skeptischer und schlägt deshalb bindende Mindeststandards vor (s. Fußnote 37).
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rungssysteme z.B. unter dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ zu erwarten. Eine stärkere Angleichung der Alterssicherungssysteme in Europa wird sicherlich unterschiedlich bewertet, je nachdem wohin sie letztlich führt. Erinnert sei an dieser Stelle an etwas, was der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck vor mehr als einhundert Jahren schrieb: Er „habe das Wort ‚Europa’ immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten.“ Derzeit gewinnt man verschiedentlich den Eindruck, „Europa“ wird auf der nationalen Ebene von manchen Akteuren als Argument verwendet, um schließlich etwas zu erreichen, was im nationalen Rahmen noch nicht oder nicht so schnell durchsetzbar war. Das betrifft natürlich nicht nur – oder nicht einmal in erster Linie – den Bereich der Alterssicherung. Ob, wie manchmal – so von offizieller deutscher Seite – erhofft, der neue Koordinierungsprozess die Möglichkeit eröffnet, dass neben finanzpolitischen Gesichtspunkten nun verstärkt sozialpolitische Aspekte in den Reformen zur Alterssicherung berücksichtigt werden,39 das erscheint mir angesichts der dominierenden Rolle von Wirtschafts- und Finanzministern (und auch des derzeit dominierenden „Zeitgeistes“ in Wissenschaft und Politik) sehr fraglich. Der in der EU begonnene Koordinierungsprozess dürfte nicht nur durch in jüngster Zeit realisierte Reformkonzepte, sondern auch durch größere Unterschiede in den ökonomischen Bedingungen in der erweiterten EU (man denke z.B. an die Unterschiede in den Lohnkosten) neue Dimensionen und Anstöße erhalten. Dies könnte in Zukunft noch weitere tiefgehende Spuren in der Gestaltung der Alterssicherung mancher Länder hinterlassen, insbesondere durch Gewichtsverlagerung zu mehr Beitragsorientierung und Kapitalfundierung. Die Bewertung dieser Entwicklungen wird von den Wirkungen und den Bewertungsmaßstäben (den Zielen und Interessen) abhängen. Erforderlich ist zunächst aber eine realitätsbezogene und vorurteilsfreie Analyse der Wirkungen, die mit Reformstrategien und Instrumenten verbunden sind, aber auch mit möglichen Alternativen. Hierauf sollten nicht zuletzt Wissenschaftler hinwirken im Interesse der heute Älteren, aber vor allem auch der heute noch Jüngeren, die später die Älteren sein werden.
39 In diesem Sinn die Antwort der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland in Abstimmung mit den Bundesländern und unter Berücksichtigung der Stellungnahmen gesellschaftlich relevanter Gruppen an die Europäische Kommission zum Fragebogen für die Bewertung der offenen Methode der Koordinierung (OMK) zur Vorbereitung des „Straffungsprozesses“ im Bereich Sozialschutz (Entwurf 08.06.2005, S. 2).
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Rentenversicherung, implizite Staatsschuld und nachhaltige Fiskalpolitik Klaus Beckmann Wenn ich nur nichts von Nachwelt hören sollte – Gesetzt, dass ich von Nachwelt reden wollte, Wer machte denn der Mitwelt Spaß? Den will sie doch und soll ihn haben. Drum seid nur brav und zeigt Euch musterhaft! Lasst Phantasie, mit allen ihren Chören, Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft doch – merkt Euch wohl – nicht ohne Narrheit hören! – Goethe, Faust, Vorspiel auf dem Theater
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Einleitung: das Umfeld der Haushaltskonsolidierung
Dass Staaten sparen müssen, erscheint als ein Gemeinplatz für Wissenschaftler, Praktiker und die Öffentlichkeit zugleich. Allein bei der Umsetzung in konkrete Kürzungen und an den Wahlurnen kommt es oft nicht zum Schwur, wird doch vom Sparzwang so manches lieb gewonnene Programm ebenfalls betroffen. Darunter vor allem große Teile des Systems der Sozialen Sicherung. Denn nur mit Kürzungen beim Militär oder anderen – beliebteren – „öffentlichen“ Gütern geht es nicht mehr, nicht zuletzt deshalb, weil dort bereits seit einiger Zeit geknausert wird und das Ende der Fahnenstange nunmehr nahezu erreicht scheint. Diese Lage lässt sich unter Rückgriff auf Daten aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen einfach illustrieren. Zunächst stellen wir in der Tabelle 1 für ausgewählte alte und neue Mitglieder der Europäischen Union einschlägige Kennzahlen zu den öffentlichen Haushalten dar: Die zweite und dritte Spalte zeigen Kerndaten zum gegenwärtigen Steuerniveau in den Ländern der Spalte 1: „Tax wedge“ bezieht sich auf die durchschnittliche Steuer- und Sozialabgabenbelastung der Lohnkosten eines allein stehenden Arbeiters in der gewerblichen Wirtschaft, welcher das 1,33-fache des Durchschnittslohnes bezieht, während in der Spalte „USt“ der Regelsatz der Umsatzsteuer für das jeweilige Land angegeben ist.
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Klaus Beckmann
Tab. 1:
D A GB F CZ PL SK HU
Zahlen zur Lage der Haushalte ausgewählter EU-Mitglieder1
Tax Wedge
USt
AbsQ
Defizit
EER
i (3mon)
SW
60,2 % 61,1 % 40,6 % 53,5 % 48,1 % 45,7 % 48,3 % 76,9 %
16,0 % 20,0 % 17,5 % 19,6 % 22,0 % 22,0 % 23,0 % 25,0 %
47,1 % 50,1 % 44,5 % 54,5 % 45,2 % 44,4 % 47,6 %
3,7 % 1,5 % 3,2 % 3,6 % 6,4 % 4,3 % 3,5 % 4,9 % **
111,6 105,5 100,8 109,0 117,0 92,7 108.0 110,4
1,8 * 1,8 * 4,8 1,8 * 2,3 6,1 2,5 7,6
13,5 % 7,0 % 12,5 % 14,5 % 14,5 % 13,9 % 10,2 % 28,4 %
Die beiden folgenden Spalten sollen ersten Aufschluss über die Dringlichkeit der Haushaltskonsolidierung geben, indem sie die staatliche Ausgabenquote (am Bruttonationalprodukt) und den Durchschnitt des Budgetdefizits für die Jahre 2003-2005, gleichfalls relativ zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, angeben. Die letzten drei Spalten schließlich veranschaulichen vermutete Konsequenzen einer starken Steuerbelastung und einer starken Inanspruchnahme der Kapitalmärkte durch die staatliche Kreditaufnahme: die Veränderung des effektiven Wechselkurses – eine rechnerische Aufwertungs- und Abwertungstendenz selbst für die Staaten innerhalb der Währungsunion verkörpernd (OECD 2005) – den Nominalzins für dreimonatige Staatsanleihen (auf Jahresbasis) und die Größe der Schattenwirtschaft (SW) relativ zum „offiziellen“ Sozialprodukt (Schneider/Enste 1997). Schon diese einfachen Daten scheinen die üblichen Vermutungen über die nachteiligen Wirkungen der Staatsverschuldung auf den Außenwert der Währung und die Zinsen zu stützen. Deutlich wird zudem, dass es auf der Einnahmenseite kaum noch Spielräume gibt. Ungarn beispielsweise weist nicht nur einen sehr hohen Steuerkeil auf, sondern hat auch bereits das Maximum für die innerhalb der EU zulässigen Mehrwertsteuersätze erreicht. Zwar mag eine deutliche Steuersenkung oder eine stärkere Verfolgung der Steuerhinterziehung à la longue zusätzliche Steuereinnahmen bringen – über die bekannten LafferEffekte –, doch bleibt es zumindest kurz- und mittelfristig bei der Notwendig1 Die Daten der Spalten 2–6 entstammen den Webseiten der OECD (http://www.oecd.org/) und beziehen sich auf die Jahre 2004 bzw. 2005. Die Daten der Spalte 6 sind Schneider und Enste (1999) entnommen und beziehen sich auf das Jahr 1995. (*) Länder der Eurozone haben einen einheitlichen kurzfristigen Zinssatz. (**) Das Budgetdefizit in Ungarn war in den Jahren 2001 und 2002 deutlich höher, als es der hier ausgewiesene Wert nahe legt.
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keit, sich an die Ausgabenseite des Budgets zu machen. Die nachfolgende Abbildung 1 für die Bundesrepublik Deutschland macht im Anschluss daran klar, dass dabei die Sozialaufwendungen nicht sakrosankt bleiben dürfen. Grundlage bilden die „langen Reihen“ des Statistischen Bundesamtes,2 wobei das Jahr 1970 als Basis für die Indexierung der realen Werte dient. Die oberste Kurve zeigt die Entwicklung der öffentlichen Sozialausgaben in Deutschland, die blaue Kurve mit den Verteidigungsausgaben ein klassisches öffentliches Gut, die magentafarbene Kurve (mit quadratischen Markern) die Entwicklung des Nettosozialeinkommens – also des zu verteilenden Kuchens nach Deckung der Abschreibungen – und die unterste Kurve die realen Bruttoinvestitionen. Insgesamt sind also die realen Sozialausgaben in 30 Jahren auf rund das Zweieinhalbfache gestiegen, während die realen Bruttoinvestitionen – welche die reinen Ersatzinvestitionen einschließen – um knapp 50% des Ausgangsniveaus gefallen sind. Solche Gegenüberstellungen scheinen auf den ersten Blick selbst für den Ökonomen frappierend.
2
Diese wurden den Webseiten des Statistischen Bundesamtes entnommen [http://www.destatis.de].
46 Abb. 1:
Klaus Beckmann
Ausgewählte Indizes, Bundesrepublik Deutschland, 1970-2002
Dabei haben wir bislang noch überhaupt nicht berücksichtigt, dass neben den expliziten Staatsausgaben und der expliziten Staatsverschuldung manche Größe gerade in den Sozialversicherungen implizit bleibt. Das bedeutendste Beispiel stellen sicherlich die Ansprüche der Versicherten in der umlagefinanzierten Rentenversicherung dar: Wenn der Staat im Gegenzug zu laufenden Beiträgen für gegenwärtige Rentner den Beitragszahlern künftige Zahlungen auslobt, entsteht damit schlicht eine weitere Schuld des Staates.3 Im Endeffekt besteht kein 3 Dass der Staat die Renten per fiat kürzen kann und daher junge Beitragszahler dem gegenwärtigen Rentensystem ebenso vertrauen sollten wie einem schäbigen Gebrauchtwagenhändler, spielt dabei keine Rolle. Ähnliches gilt nämlich auch für andere Staatsschulden: Moratorien und gar erzwungene Schuldenerlasse sind beileibe nicht unbekannt. Zur „implicit pension debt“ vgl. kritisch Schmähl in diesem Band.
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materieller Unterschied zu den explizit ausgewiesenen Schulden: für eine allfällige Repudiation käme es in jedem Fall auf eine politökonomische Analyse an. Vor diesem Hintergrund diskutiere ich im Folgenden die Alterssicherung als einen zentralen, aber fundamental reformbedürftigen Teil des Systems der Sozialen Sicherung. Im Zentrum steht dabei der ordnungstheoretische Aspekt: Was kann man für eine künftige europäische Sozialverfassung – sei sie ungeschrieben, sei sie als Teil eines Verfassungsvertrages formell vereinbart – aus dem nationalstaatlichen Status quo lernen? Daher wird sehr grundsätzlich im zweiten Abschnitt auf den Nachhaltigkeitsbegriff als solchen und seine Operationalisierung eingegangen, während im dritten und vierten Abschnitt theoretische Erkenntnisse zu einer Reform der Rentenversicherungssysteme im Mittelpunkt stehen. 2
Nachhaltigkeit in der Fiskalpolitik
„Nachhaltigkeit“ wurde zum einem beliebten und wirkmächtigen politischen Begriff. Mit einer solchen Entwicklung ist allerdings oft ein Verlust an Bedeutung verbunden, wie ihn schon Orwell (1981: 162) für andere politische Begriffe konstatiert hat: „The word Fascism has now no meaning except in so far as it signifies “something not desirable”. The words democracy, socialism, freedom, patriotic, realistic, justice, have each of them several different meanings which cannot be reconciled which each other. In the case of a word like democracy, not only is there no agreed definition, but the attempt to make one is resisted on all sides. It is almost universally felt that when we are calling a country democratic we are praising it: consequently the defenders of every kind of regime claim that it is a democracy, and fear that they might have to stop using the word if it were tied down to any one meaning. Words of this kind are often used in a consciously dishonest way. That is, the person who uses them has his own private definition, but allows his hearer to think he means something quite different.“
2.1 Der Begriff der Nachhaltigkeit In der Tat scheinen im gesellschaftlichen Diskurs unter „Nachhaltigkeit“ durchaus verschiedene Dinge verstanden zu werden, so dass die allseitige Forderung nach Nachhaltigkeit möglicherweise einen Konsens vorspiegelt, den es so gar nicht gibt. Und auch in den Sozialwissenschaften hat es eine längere Debatte über die Definition von Nachhaltigkeit gegeben, die vor allem zwei Dimensionen des Begriffs in den Mittelpunkt rückte:
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die Frage der Substituierbarkeit einer Kategorie von Kapital durch eine andere, insbesondere des Naturkapitals durch von Menschen geschaffenes Kapital („starke“ versus „schwache“ Formen der Nachhaltigkeit), sowie die Frage der Orientierung des Konzepts am Kapitalstock oder an einem Indikator für die menschliche Wohlfahrt.
Es erscheint müßig, diese Debatte hier nachzeichnen zu wollen (siehe dazu Beckmann 2003). Am Ende scheint sich eine schwache Variante der Nachhaltigkeit durchgesetzt zu haben, die an der menschlichen Lebensqualität anknüpft und deren Kern von Pearce (1993:) wie folgt beschrieben wird: „(…) ‘sustainability‘ therefore implies something about maintaining the level of human well-being so that it might improve but never declines. Interpreted this way, sustainable development becomes equivalent to some requirement that well-being does not decline through time.“
Was sich damit herauskristallisiert hat, ist letztlich eine Variante des Utilitarismus, jedoch ergänzt um eine zusätzliche Nebenbedingung, dass die Wohlfahrt nicht sinken dürfe. Diese allerdings ist beileibe nicht unproblematisch, wie die nachfolgende Abbildung 2 verdeutlicht. Abb. 2: Vergleich zweier hypothetischer Entwicklungspfade
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In dieser Abbildung ist ein Zeitpfad der Lebensqualität eingezeichnet, welcher die Nebenbedingung verletzt (obere Kurve, u2(t) ), und ein linearer Pfad, der die Bedingung ganz offensichtlich erfüllt, u1(t). Offensichtlich dominiert indes der erstgenannte Pfad den zweiten, so dass kein rationaler Entscheider diesen wählen darf, wenn jener verfügbar ist. Die Einführung der Nebenbedingung erweist sich, wie das Gegenbeispiel zeigt, möglicherweise als irrational. Verzichtet man aber auf die Nebenbedingung, so ist man letztlich wieder bei der herkömmlichen wohlfahrtsökonomischen Perspektive angelangt! Nachhaltigkeit bedeutet in diesem Rahmen insbesondere dreierlei:
einen unbeschränkten Planungshorizont, die grundsätzliche Gleichgewichtung von Lebensqualität zu verschiedenen Zeitpunkten,4 Zeitkonsistenz der Entscheidungen als eine formale Forderung nach der „inneren Nachhaltigkeit“ des gefassten Plans.5
Hätte man sich auf diesen Rahmen verständigt, so verbleiben noch eine ganze Reihe kniffliger Probleme, allen voran das Problem der Berücksichtigung potentieller Personen (Parfit 1986; Werding 1998). Da die Zahl und die Charakteristika der Angehörigen künftiger Generationen endogen determiniert werden, stellt sich die Frage, ob die Interessen dieser Bürger auch dann Berücksichtigung finden sollten, wenn sie überhaupt nicht gezeugt werden, und welche Präferenzen – die ja ihrerseits gestaltbar sind – man ihnen ggf. zu unterstellen hätte. Landsburg (1997) verdanken wir eine sehr plastische Formulierung:
4 Damit spricht man die Frage nach der Diskontierung an. Klar sollte sein, dass ein Verbot der Diskontierung von Wohlfahrt (Lebensqualität) – wie im Text angesprochen – keineswegs ein Verbot der Diskontierung von Gütern impliziert. Diese dürfte vielmehr wegen der Produktivität des Kapitals (der Böhm-Bawerkschen „Ergiebigkeit längerer Produktionsumwege“) schlicht unverzichtbar sein. Besteht die Möglichkeit eines zufälligen katastrophalen Untergangs der Menschheit, etwa durch Kollision mit Meteoriten, erscheint auch eine Diskontierung künftiger Nutzen mit dem Kehrwert der kollektiven Überlebenswahrscheinlichkeit geboten. 5 Zeitinkonsistenz liegt vor, wenn ein Entscheider, der einen bestimmten ex ante optimalen Plan gefasst hat, diesen Plan bei einer späteren Reoptimierung revidiert. Zur Abgrenzung von anderen Fällen, in denen sich “Nachkarten“ lohnt, wird dabei vollständige Rationalität, Unveränderlichkeit der individuellen Präferenzen und Sicherheit angenommen. Bei Zeitinkonsistenz schafft die Ausführung des ursprünglichen Plans die Voraussetzungen dafür, dass es sich später lohnt, vom Plan abzuweichen (aus Sicht des ursprünglichen Planungszeitpunktes: überraschend). Ein typisches Beispiel ist die Besteuerung von Kapitalerträgen: Anfangs mag es sich für den Staat lohnen, eine niedrige Kapitaleinkommensteuer festzulegen und den Verzicht auf Konfiskationen zu versprechen, um die Ersparnis anzuregen. Haben die Bürger indes einmal gespart, gibt es kein Zurück mehr, und die Konfiskation des Kapitals bietet eine erstbeste Form der Staatsfinanzierung. Siehe Beckmann (1998) und Huber (1996).
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„(…) the following question seems to me to be of both supreme importance and supreme difficulty: Do living people have any moral obligation to the trillions of potential people who will never have the opportunity to live unless we conceive them? The answer is surely either “yes” or “no,” but either answer leads to troubling conclusions. If the answer is “yes”, then it seems to follow that we are morally obliged to have more children than we really want. The unconceived are like prisoners being held in a sort of limbo, unable to break through into the world of the living. If they have rights, then surely we are required to help some of them escape. (…) But if the answer is “no” — if we have no obligations to those imprisoned souls — then it seems there can be no moral objection to our trashing Earth, to the point where there will be no future generations. (…) If we prevent future generations from being conceived in the first place, and if the unconceived don't count as moral entities, then our crimes have no victims, so they're not true crimes. So if the unconceived have rights, we should massively subsidize population growth; and if they don't have rights, we should feel free to destroy Earth. Either conclusion is disturbing, but what's most disturbing of all is that if we reject one, it seems we are forced to accept the other.“
Ein zweites fundamentales Problem betrifft den Vergleich von individueller Lebensqualität: Sind Personen kommensurabel, die Indizes der Lebensqualität kardinal vergleichbar, und lassen sich die Indizes unabhängig von den Identitäten der Individuen zusammenfassen?6 Je kritischer man diesen Grundlagen der Wohlfahrtstheorie gegenüber eingestellt ist, desto mehr dürfte man zu einem Regelparetianismus als Kern einer normativen Ordnungstheorie gelangen, die jedoch unverändert an den genannten drei Nachhaltigkeits-Charakteristika festhalten müsste. Die Elemente einer solchen normativen Grundlegung hier zu diskutieren, würde zu weit führen; wenden wir uns stattdessen der Operationalisierung von Nachhaltigkeit und damit der zentralen Rolle der kollektiven Erbschaften zu.
2.2 Relative kollektive Erbschaften als Schlüsselgröße Gemeinhin hört man bei der öffentlichen wie bei der wissenschaftlichen Debatte zu Haushaltsreformen den Ruf nach einem ausgeglichenen Budget (siehe etwa Buchanan et al. 1986). Auch wenn diese Forderung mit dem Nachhaltigkeitsgedanken begründet wird, greift sie doch zu kurz, denn selbst bei ausgeglichenem Budget kann der Staat – durch Staatsinvestitionen oder dadurch, dass er das Aufzehren von Naturkapital gestattet, per Saldo positive oder negative kollektive Erbschaften den nachfolgenden Generationen hinterlassen. Für die Erbschaf6
Vgl. die ausführliche Diskussion in Kolm (1996).
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ten, welche unsere Nachkommen insgesamt erhalten, kommt es daneben noch auf die privaten Erbschaften an: Selbst wenn der Staat insgesamt entspart, kann das Generationenkonto der Heutigen noch positiv sein. Und schließlich kann man durchaus vertreten, dass nicht die absoluten Größen der kollektiven oder gesamten Erbschaften im Vordergrund stehen sollten, sondern Pro-Kopf-Größen oder die Relation der jeweiligen Größe zum Sozialprodukt. Wenn solche Relationen keinen dauerhaft stabilen Wert erreichen können, kann der beschriebene Pfad nicht nachhaltig sein. Wir betrachten die letzten beiden Punkte etwas genauer und beginnen mit der Zusammensetzung der kollektiven Erbschaften: Abb. 3:
Zusammensetzung der kollektiven Erbschaften
In der ersten Zeile der Abbildung 3 beginnen wir mit der Zerlegung der kollektiven Hinterlassenschaft in natürliches und von Menschen geschaffenes Kapital, wobei wir bei letzterem unsaldiert zwischen staatlicher Kapitalbildung (Ersparnis) und Staatsverschuldung differenzieren. Letztere wird in der zweiten Zeile
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wiederum in drei Teile aufgespaltet: erstens explizite Staatsverschuldung – im Wesentlichen das laufende Budgetdefizit –, zweitens implizite Staatsverschuldung durch zusätzliche Ansprüche gegenüber Parafiski (z.B. in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung), drittens die konzeptionell als zusätzliche Schuldverschreibung der Zentralbank zu interpretierende Erhöhung der Geldmenge. Für die implizite und die explizite Staatsverschuldung sind weitere Differenzierungsmöglichkeiten angedeutet. Zur Darstellung dieser Kategorien bietet sich unverändert ein Ansatz nach Domar (1944) an. In seinem klassischen Beitrag betrachtete Domar das Verhältnis von expliziter Staatsschuld D einerseits und Sozialprodukt Y andererseits. In einem Steady state – anders gewendet: auf einem nachhaltigen Entwicklungspfad – darf das Verhältnis dieser beiden Größen sich nicht ad infinitum verändern.7 Differenziert man die Quote d nach der Zeit, so ergibt sich
d
D Y DY Y2
D D Y Y Y Y
(1)
In der Tradition von Domar nimmt man nun an, dass à la longue und dauerhaft ein Budgetdefizit im Umfang des Anteils z am Sozialprodukt zu finanzieren ist. Bei einem exogenen Wirtschaftswachstum von n bleibt dieses nachhaltig realisierbar, soweit im Steady state
d
z dn
0
(2) gilt. Dieses Domarsche Grundmodell wurde schon wiederholt einschlägig erweitert. Für unsere Zwecke bietet können wir folgendes zugrunde legen: 8
a.
Die explizite staatliche Budgetrestriktion beinhaltet buchhalterisch, dass die Summe der Steuereinnahmen und das Budgetdefizit den Staatsausga GR ben zuzüglich des Kapitaldienstes entsprechen: T D Daraus ergäbe sich zunächst einmal unter Einsetzen in (2) die Gleichung
d
(g t) d(i n) , bei welcher g der Anteil der öffentlichen Ausga-
7 Selbstverständlich existieren gute Dinge, die nicht ad infinitum wiederholbar sind und sich trotzdem lohnen, auch aus einer nachhaltigen wohlfahrtsökonomischen Perspektive heraus (Beckerman 1996). Im Aggregat jedoch kann über einen längeren Zeitraum hinweg kein Pfad als nachhaltig gelten, bei dem das Verhältnis der kollektiven Erbschaften insgesamt zum Sozialprodukt gegen plus oder minus Unendlich geht. 8 Es ist interessant, dass die Gleichung (2) zwei wesentliche Grenzen aus dem Vertrag von Maastricht mit dem Wirtschaftswachstum in Beziehung setzt. Die entsprechenden quantitativen Spielereien bleiben dem Leser überlassen.
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b. c. d.
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ben am Sozialprodukt, t der Steueranteil und i der Zins ist. Der zweite Term auf der rechten Seite dieser Gleichung beschreibt das Sekundärdefizit – welches aus dem Kapitaldienst für eine relativ zum Sozialprodukt steigende oder fallende Schuld erwächst, der erste Term das Primärdefizit, welches auf dem Überschuss der Ausgaben über die Steuereinnahmen beruht. Für den Anteil der staatlichen Nettoinvestitionen an den Staatsausgaben nach Kapitaldienst schreiben wir D . Unterstellen wir nun, dass ein Anteil I des Sozialproduktes dem Naturkapital hinzugefügt – oder daraus entnommen – wird. Gehen wir schließlich davon aus, dass der umlagefinanzierte Teil des Rentenversicherungssystems – beispielsweise dessen „erste Säule“ – einen Anteil b des Sozialprodukts als Beiträge B einhebt und dafür zusätzliche künf-
tige Rentenansprüche Z (im Barwert) in Höhe eines Anteils z des Sozialprodukts verspricht9, dann kommt durch das Rentensystem insgesamt eine implizite Staatsverschuldung Z - B zu Stande. Für die kollektiven Erbschaften E ergibt sich damit insgesamt
E
4 DG B D Z
als Veränderung in der Zeit. Unter Nutzung der Budgetgleichung aus Punkt (a) können wir dies alternativ schreiben als
E
4 (1 D )G R T B Z
Auf der Grundlage unserer vier Annahmen können wir nun einfache formalbuchhalterische Aussagen zu Formen der nachhaltigen Staatsfinanzierung machen. In einem ersten Schritt könnten wir die Folgerung erheben, dass die kollektiven Erbschaften E zu jedem Zeitpunkt gleich Null zu sein hätten. Damit wäre jede Entscheidung, die kommenden Generationen besser oder schlechter zu stellen, dem privaten Kalkül der individuellen Erblasser überlassen. In diesem Fall lautete die Forderung nach fiskalischer Nachhaltigkeit schlicht:
4 (1 D )G R T B Z
0
(3)
Folgt man dagegen dem Domarschen Gedanken, dass eine nachhaltige Entwicklung nur eine dauerhafte Veränderung des Anteils der kollektiven Erbschaften am Sozialprodukt ausschließt, so findet man in analoger Anwendung des Verfahrens von oben: 9
Zu der Mechanik von Rentenversicherungssystemen siehe Beckmann (2000).
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e
?
(1 n) ^t M di (1 D )g b z` 0
(4)
Die wenig überraschende komparative Dynamik des Systems lässt sich unmittelbar an der Gleichung (4) ablesen. Wirtschaftswachstum, Zins und Verschuldungsneigung, Ausgabenquote und Anspruchsquote senken unter sonst gleichen Bedingungen den Anteil der kollektiven Erbschaften am Sozialprodukt, Steuerquote sowie die beiden Investitionsquoten erhöhen ihn. Ihren wirklichen Wert zeigt die Gleichung (4) aber darin, dass sie die wesentlichen Politikparameter, auf die es bei einer nachhaltigen Fiskalpolitik ankäme, miteinander verknüpft.10 2.3 Anreize zu nicht-nachhaltiger Politik Hat man die gesellschaftlichen Ziele definiert und operationalisiert, so besteht der typische nächste Schritt einer ökonomischen Analyse darin zu untersuchen, warum diese Ziele in der Realität nicht bzw. nur unzureichend verwirklicht werden. Angesprochen ist damit die ökonomische Suche nach Gründen des Marktoder – in unserem Falle – des Staatsversagens. Allerdings bildet die politökonomische Theorie der expliziten und impliziten Staatsverschuldung nicht den eigentlichen Gegenstand dieses Aufsatzes. Eine ausführliche Erläuterung möglicher Ansätze erscheint daher nicht angezeigt. Gleichwohl wird es sich als hilfreich erweisen, eine kurze Strukturierung der Ansätze einzuführen: wie sie in der nachfolgenden Abbildung 4 dargestellt ist.
10
Für eine detaillierte Betrachtung von Reformen in diesem Rahmen siehe Frisch und Hof (1996).
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Abbildung 4: Eine „distinctio completa“ von Erklärungen der NichtNachhaltigkeit in der Fiskalpolitik
Übermäßige Staatsverschuldung lässt sich danach auf grundsätzlich drei Weisen erklären: erstens durch Einschränkungen der Rationalität der betroffenen Entscheider aufgrund von Wahrnehmungsverzerrungen oder vergleichbaren Phänomenen, zweitens durch intertemporale Konflikte zwischen den Angehörigen verschiedener Generationen bzw. zwischen Entscheidern zu unterschiedlichen Zeitpunkten, drittens durch intratemporale Konflikte zwischen den Entscheidern zu einem bestimmten Zeitpunkt. In der Abbildung 4 sind einige Beispiele aus der Literatur für die einzelnen Kategorien angegeben: Beispielsweise zählen Modelle, in denen die Bürger unter einer Schuldillusion leiden, ihr permanentes verfügbares Einkommen also bei der Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben unter sonst gleichen Umständen als höher einschätzen als bei Steuerfinanzierung (Buchanan 1967: chapter 10), zu den durch begrenzte Rationalität geprägten Ansätzen. Modelle dagegen, in denen sich die heutigen Wähler-Steuerzahler rational zu Lasten künftiger Generationen verschulden, beruhen auf intertemporalen Konflikten. In diese
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Gruppe gehört Sinns und Übelmessers (2003) Untersuchung, ab welchem Zeitpunkt in Deutschland Rentenreformen scheitern müssen, weil die Rentner in der Mehrheit sind, ebenso wie das Modell von Persson und Svensson (1989), bei dem eine konservative Regierung sich stärker als eigentlich gewünscht verschuldet, um den Ausgabespielraum einer nachfolgenden linken Regierung einzuschränken. Intratemporale Konflikte schließlich entstehen insbesondere dann, wenn es um die Verteilung der Lasten einer Reform geht. Modellen dieser Kategorie liegen oft Dilemmastrukturen zugrunde, bei denen Versuche einer Lastvermeidung (Freifahrerverhalten) verschiedener Gruppen zu einer paretoineffzienten Reformverschiebung führen (etwa Drazen 1997).
3
Wesentliches aus der Theorie der umlagefinanzierten Alterssicherung
Kommen wir nun zu den Spezifika der Alterssicherung, deren umlagefinanzierte Variante wir bislang als eine Erscheinungsform der (impliziten) Staatsverschuldung gemeinsam mit den anderen betrachtet haben. Drei Aspekte scheinen mir wert, hier herausgehoben zu werden: erstens die Frage der Rechtfertigung einer kollektiven Alterssicherung überhaupt, zweitens der implizite Steueranteil an den Rentenversicherungsbeiträgen im Umlageverfahren – mitsamt der damit verbundenen Anreizeffekte – sowie drittens die Frage nach der Möglichkeit einer pareto-superioren Reform.
3.1 Rechtfertigung der kollektiven Alterssicherung Soziale Sicherung wird meist mit Versicherungsargumenten einerseits und mit Risikoproduktivitätsargumenten andererseits gerechtfertigt. Jene Gruppe von Argumenten stellt darauf ab, dass sich die Lebensqualität risikoaverser Individuen erhöht, wenn die Streuung zufälliger Chancen bei gleichem Erwartungswert verringert wird, diese beruht darauf, dass risikoaverse Entscheider zusätzliche Risiken übernehmen, wenn man sie versichert, und dadurch der Erwartungswert der Chancen steigt (im einzelnen Beckmann 1998: Kapitel 5).11 Kollektive soziale Sicherung muss grundsätzlich auf der Erkenntnis beruhen, dass private Versicherungsverträge für bestimmte Risiken zu spät kommen: Für manche Risiken wie die Anfangsausstattung mit dem Erbe an genetischem, fi-
11 Die bekannten Grenzen solcher Versicherungsargumente sind in den Anreizen zur Schadenvermeidung in einem weiten Sinne zu sehen, also im moralischen Risiko.
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nanziellem und sozialem12 Kapital müsste man zum Zeitpunkt der Geburt kontrahieren, denn danach ist der Versicherungsfall im Wesentlichen bereits eingetreten (oder eben nicht). Ähnliche Argumente lassen sich nicht nur für die bislang angesprochene allgemeine Redistribution, sondern im besonderen auch für große Teile des Systems der sozialen Sicherung schneidern (Sinn 1996). Aber nicht für die Alterssicherung! Von der Warte der Geburt betrachtet sind ja gerade die Langlebigen die guten Risiken – anders gewendet: Risikoaverse Eltern würden für ihre Kinder gerne eine Versicherung dagegen abschließen, zu früh zu sterben. Denn der Gesamtnutzen eines Individuums fällt unter sonst gleichen Umständen um so größer aus, je länger es lebt. Einen solchen Versicherungsschutz bietet die Rentenversicherung gerade nicht, ja sie wirkt ihm sogar entgegen, indem sie Ressourcen aus dem schlechten Umweltzustand (kurzes Leben) in den guten Umweltzustand (langes Leben) verschiebt. Versichert wird hier vielmehr das Risiko unzureichender privater Ersparnis: Wer länger als erwartet lebt, findet sich womöglich ohne die notwendigen Mittel wieder, das gewohnte Leben fortzusetzen, oder muss weniger als geplant hinterlassen. Gegen dieses Risiko jedoch ist auch ein privates Kraut gewachsen: Zu jedem Zeitpunkt können Individuen ihre Ersparnisse – oder einen Teil davon – bei einer Lebensversicherungsgesellschaft in eine Leibrente umwandeln. Ein systematischer Grund, dass dies nicht zu aktuarischen Bedingungen geschehen könne oder der Markt für solche Versicherungsleistungen anderweitig versagen muss, ist schwer erkennbar. Bleiben zwei ganz anders gelagerte Gründe: Zum einen sind die Menschen möglicherweise kurzsichtig, also nicht vollständig rational – analog zu einer Kategorie von Modellen nicht-nachhaltiger Finanzpolitik, wie wir sie im Unterabschnitt 2.3 diskutiert haben, nur jetzt auf der privaten Ebene. Zum anderen kann es für den Fall, dass die Gesellschaft eine Sicherung des Existenzminimums garantieren möchte, zu einem Samariter-Dilemma (Buchanan 1975) kommen: In der Kenntnis, dass man sie bei fehlenden eigenen Mitteln schon nicht verhungern lassen (bzw. unter das soziokulturelle Existenzminimum fallen lassen) wird, könnten Individuen versucht sein, nicht ausreichend vorzusorgen. Beide Ansätze vermögen staatlichen Zwang sehr wohl zu rechtfertigen. Gleichwohl handelt es sich bei genauem Hinsehen um Rechtfertigungen anderer Art und mit anderer Reichweite. Sie haben zusätzliche Voraussetzungen, nämlich einen Bruch der Konsumentensouveränität und / oder einen vorangegangenen Staatseingriff, und tragen damit flankierenden Charakter, 12
Beziehungen der Familie, die leider oft genug keine große Rolle spielen, wenn von ererbtem sozialem Status die Rede ist. Nach alter Väter Sitte denkt man zu sehr an Kapitalisten- und weniger an Politikerkinder.
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erfordern nicht unbedingt eine kollektive Organisation und können ein Sicherungsniveau über das Existenzminimum hinaus, insbesondere eine Orientierung am bisherigen Lebensstandard, kaum begründen.
3.2 Implizite Staatsschuld und der Steueranteil an den Beiträgen Wenn die Rentenkassen laufende Beiträge von der wirtschaftlich aktiven Generation erheben und im Gegenzug künftige Rentenleistungen versprechen,13 werden die Ausgaben der Rentenkassen im Umfang des Barwerts dieser Versprechungen durch Kreditaufnahme finanziert. Von einer impliziten Staatsschuld kann man überhaupt nur in dem Sinne sprechen, dass diese Lasten nicht offen ausgewiesen werden. Eine geläufige Anschlussfrage lautet, welche Verzinsung denn diese Beiträge erbringen – verbunden mit der Vermutung, dass sich aus einer möglicherweise geringeren Verzinsung als der am Kapitalmarkt erhältlichen ein Nachteil der Beitragszahler ergibt und sich womöglich durch eine Reform des Rentenversicherungssystems eine Besserstellung aller erreichen ließe. Den ersten Problemkreis wollen wir nun behandeln, den zweiten im nächsten Unterabschnitt. In der Regel identifiziert man die Verzinsung im Umlageverfahren mit der Wachstumsrate der Bruttolohnsumme: Nehmen wir an, jeder Versicherte habe ein Zehntel seines Bruttoeinkommens von 100 Einheiten abzugeben und erhalte dafür einen gleichen Anteil der analog erhobenen Beiträge in seiner Rentenphase. Bei nur zwei Perioden gleicher Länge und einer Verdopplung der Bevölkerung wie auch der Einkommen pro Periode erhielte jeder Rentner von je zwei Erwerbstätigen jeweils den Zehent auf deren mittlerweile verdoppeltes Einkommen, also das Vierfache seines Einsatzes.14 Ebenso ist auch die Bruttolohnsumme um das Vierfache gestiegen. Während Variationen der Rentenformel geringfügige Abweichungen bringen mögen, muss es bei einer konstanten Lohnquote im Aggregat so bleiben, dass jeder im Umlageverfahren erhobene Beitrag auf das Sozialprodukt oder auf einen konstanten Teil davon sich mit der Wachstumsrate der Lohnsumme verzinst. Natürlich verzinst er sich dann ebenso mit der Wachstumsrate des Sozialprodukts oder der der Kapitaleinkommen!
13
Wir vernachlässigen für den Augenblick den Umstand, dass sich das Leistungsniveau endogen verändern kann. Hier ist im Wesentlichen die Frage der Sicherheit von Eigentumsrechten angesprochen. 14 Umfassen beide Perioden je 25 Jahre und wachsen Löhne wie die Bevölkerung jährlich mit etwa 3 %, ist das gar nicht aus der Luft gegriffen. Andrerseits erbrächten freilich andere Anlageformen dann ähnliche Relationen von undiskontierten Einzahlungen zu Auszahlungen.
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In einer dynamisch effizienten Wirtschaft liegt diese Wachstumsrate unterhalb dem Zinssatz (die bekannte Aaron-Bedingung, siehe Aaron 1966). Bliebe die Wirtschaft dauerhaft ineffizient, hätte man im Übrigen gar kein Problem mit überhöhter Staatsverschuldung – im Gegenteil, ein staatliches Ponzi-Spiel, bei dem Ausgaben kreditfinanziert werden und man die fälligen Zins- und Tilgungslasten ihrerseits durch zusätzliche Kredite bestreitet, wäre die ideale Form der Staatsfinanzierung. Denn dann wüchsen die nie zurückgeführten Kredite ja immer langsamer als das Sozialprodukt. Wir können uns hier also auf den relevanten (und realistischen) Fall der dynamischen Effizienz konzentrieren. Dann erzeugt die Zwangsersparnis im Rahmen des umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems, das heißt die gesetzliche Verpflichtung, dem Staat einen niedrig verzinslichen Kredit zu gewähren und von der Rückzahlung den Unterhalt im Alter zu bestreiten, auf dreierlei Weise eine Belastung der Versicherten:
erstens, soweit die Beitragszahler dazu zu einer höheren Ersparnis gezwungen werden, als sie ansonsten rational getätigt hätten, zweitens, weil sich die Beiträge in der Ansparphase niedriger verzinsen als marktüblich, so dass das implizite Guthaben weniger rasch akkumuliert, als es dies unter sonst gleichen Umständen am Kapitalmarkt täte, drittens, weil das implizite Guthaben beim Rentenantritt nicht ausgezahlt wird, sondern der Versicherte gezwungen wird, mit dem Guthaben eine niedrig verzinsliche Annuität zu erwerben.
Dieses Ergebnis ist konzeptionell völlig analog zu dem einer Finanzanlage am Kapitalmarkt, welche in geeigneter Weise besteuert wird. Die oben beschriebene Belastung kann also auch als eine implizite Besteuerung der Rentenversicherungsbeiträge interpretiert werden, welche die Arbeitsangebotsentscheidung verzerrt und daher mit einer weiteren Zusatzlast der Besteuerung verbunden ist. Eine erste Schätzung der Höhe des impliziten Steuersatzes lässt sich rasch vornehmen: Bezeichnen wir den Zinssatz als i, die Wachstumsrate der Löhne als m und die der Erwerbstätigen als n. Bezeichnet t1 das Jahr des Eintritts ins Erwerbsleben, t2 den Beginn des Rentenbezugs und t3 den Todeszeitpunkt, dann beträgt der Steueranteil S an den Gesamteinzahlungen
S
1
(1 m)t3 t1 (1 n)t3 t1 (1 i)t3 t1
(5)
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Für realistische Parameterwerte (reale Größen: n = 0%, m = 1,5% und i = 4%) gelangt man so zu einem gut hälftigen Steueranteil. Allerdings scheint für einen Finanzwissenschaftler der Steueranteil an den laufenden Beiträgen interessanter, da dieser es ist, der bei der jeweiligen Arbeitsangebotsentscheidung15 im Vordergrund steht. Bei unveränderter Symbolik finden wir (Beckmann 2000)
st
1
(1 r)(Z t2 Z t3 ) A(m r)(t 2 t1 )Z t
(6)
wobei
Z
1 m 1 r
den relativen Preis eines individuellen Rentenanspruchs zu zwei aufeinander folgenden Zeitpunkten und
A
(1 n)t2 t3 1 1 (1 n)t2 t1
den Alterslastkoeffizienten (das Verhältnis der Zahl der Rentenempfänger zur Zahl der Beitragszahler) bezeichnet. Man sieht leicht, dass st gemäß Gleichung (6) im Zeitablauf fällt, die Jüngeren mithin ceteris paribus stärker belastet werden als die Älteren. Allerdings wurde dieses Ergebnis unter der Annahme gegebener Erwerbsbiographien hergeleitet; sind diese ihrerseits von den Entscheidungen der Individuen abhängig – wie es etwa bei bestimmten Frühruhestandsregelungen zutrifft –, können die laufenden Belastungen für die älteren Erwerbstätigen auch wieder steigen.
3.3 Übergang vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren? Jede Einführung eines umlagefinanzierten Rentenversicherungssystems (oder jede Erhöhung des Anspruchsniveaus) schafft Einführungsgewinne für die ers15
Oft wohl realistischer: (a) der Angebotsentscheidung von Freiberuflern, (b) der Entscheidung über Schwarzarbeit und (c) der Entscheidung über die Anstrengungen, sich eine Beförderung zu verdienen (Sandmo 1994). Der typische abhängig Beschäftigte wird kaum eine Marginalentscheidung über seine laufende Arbeitszeit fällen können (wohl aber Totalentscheidungen).
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ten Rentenbezieher, weil diese in den Genuss neuer oder erhöhter Renten kommen, ohne auch nur zu den niedrigen Zinsen beigetragen zu haben. Offensichtlich führt dies auf der anderen Seite zu einer Erhöhung des impliziten Schuldenstandes im System der Sozialen Sicherung. Würde man nun den gegenwärtigen Beitragszahlern gestatten, aus dem System auszusteigen und ihre Altersvorsorge am Kapitalmarkt anzulegen, so hätten diese (aufgrund des Entfalls der impliziten Besteuerung) einen Vorteil. Doch ist dieser Vorteil groß genug, um ihnen andererseits die Ablösung der bislang (durch Einführungsgewinne) aufgelaufenen Staatsschuld aufbürden zu können, ohne dass sie dadurch schlechter gestellt werden? Die Antwort auf diese Frage hat erhebliche praktische Bedeutung: Fiele sie eindeutig positiv aus, dann existierte zumindest konzeptionell die Möglichkeit für einen Systemwechsel zum Vorteil aller, die sich wohl (mit geeigneten side-payments) auch in einen praktischen Ansatz ummünzen ließe. Leider fällt die Antwort nicht eindeutig positiv aus. Die nachfolgende Tabelle 2 zeigt den Hauptstrang dieser Literatur mit den Haupteigenschaften der verwendeten Modelle. Als zentrale Frage stellt sich heraus, ob man eine Quelle weiterer Effizienzgewinne finden kann, aus der sich die Ablösung der Einführungsgewinne (impliziten Staatsverschuldung) in endlicher Zeit speisen ließe. In den Beiträgen von Homburg (1990) sowie von Breyer und Straub (1993) spielen diese Rolle die steuerlichen Zusatzlasten, welche durch die implizite Besteuerung der Lohneinkommen entstehen. Allerdings hat Fenge (1995) nachgewiesen, dass diese Möglichkeit verschwindet, wenn die Rentenansprüche nicht – wie beispielsweise in den USA – unabhängig von den Einzahlungen sind, sondern sich wie im deutschen System nach den Beiträgen richten. Damit kann man einen paretosuperioren Übergang von der Umlagefinanzierung zur Kapitaldeckung letzten Endes nicht mehr aus dem Abbau von Verzerrungen ermöglichen, die das Rentenversicherungssystem im Standardmodell selbst verursacht.
62 Tab. 2:
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Ausgewählte Modelle zum pareto-superioren Übergang von Umlagefinanzierung zu Kapitaldeckung
Beitrag Möglich? Breyer (1989), nein Verbon (1989) Homburg (1990), Breyer und ja Straub (1993) Fenge (1995) Gyárfás und Marquardt (1999) Köthenbürger und Poutvaara (2002)
Beiträge
Rentenhöhe
lump sum
lump sum
abhängig vom Lohn
lump sum
nein
abhängig vom Lohn
abhängig von den Beiträgen
ja
abhängig vom Lohn
abhängig von den Beiträgen
abhängig vom Lohn
abhängig von den Beiträgen
Wachstum exogen exogen
ja
exogen endogen
exogen
Bleibt die Möglichkeit, das Standardmodell um weitere Elemente zu erweitern, die Raum für Effizienzgewinne schaffen. Bei Köthenbürger und Poutyaara (2002) spielen Investitionen in Humankapital diese Rolle: Weil die niedrige Verzinsung der Beiträge Investitionen in Humankapital – auf deren Rendite Beiträge zur Rentenversicherung anfallen – verzerrt, entsteht wiederum eine Zusatzlast, ähnlich wie die durch Verzerrungen der Arbeitsangebots bei Breyer und Straub (1993) erzeugte. Gyárfás und Marquardt (1999) legen ein Modell endogenen Wachstums zugrunde, bei dem auf gesellschaftlicher Ebene konstante Skalenerträge aus kapitalgebundenen externen Effekten resultieren. Da die umlagefinanzierte Rentenversicherung die private Ersparnis im Vergleich zur Kapitaldeckung reduziert und nur diese Ersparnis zur Kapitalbildung verfügbar ist, kommt es durch die Reform zu einer (positiven) höheren Wachstumsrate des (Pro-Kopf-)Sozialprodukts und damit (wie man leicht einsieht) auch zu einem Spielraum für die Reduktion der überkommenen impliziten Staatsschuld. Im Standardmodell funktioniert dies nicht, weil dort die Wachstumsrate exogen gegeben ist. Das Problem mit den „optimistischeren“ Modellen besteht allerdings darin, dass man durch geeignete ergänzende Annahmen leicht ausreichende Verzerrungen einführen kann, um die Möglichkeit einer pareto-superioren Reform zu eröffnen. Das trifft besonders auf Modelle endogenen Wachstums zu – sind die Externalitäten bei Kapital- oder Humankapitaleinsatz nur groß genug, wächst die Wirtschaft dauerhaft schnell genug, um alle Übergänge zu finanzieren. Was fehlt, sind vor allem Aussagen über kalibrierte (Simulations-) Modelle, mit de-
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ren Hilfe die quantitative Bedeutung der gezeigten Effekte beurteilt werden könnte.
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Zur Strukturierung der Debatte um Reformansätze
Im vorliegenden Beitrag unternehme ich nicht den Versuch, einen neuen Reformansatz für die Systeme der Sozialen Sicherung auszuarbeiten oder auch nur einen kommentierenden Überblick über die zahlreichen einschlägigen Entwürfe zu geben. Vielmehr ist es mir darum zu tun, das Terrain für derlei Diskussionen – wie sie im vorliegenden Band ja auch noch folgen werden – zu arrondieren. Der Bedarf für eine Konsolidierung im Bereich der Sozialen Sicherung liegt klar zu Tage. Wenn etwa die Bundesrepublik Deutschland knapp 80% ihrer Steuereinnahmen allein für das Rentensystem der Arbeiter, Angestellten und Landwirte16 (80,5 Mrd. €), den Schuldendienst (39 Mrd. €) und die aktive wie passive Arbeitsmarktpolitik (33 Mrd. €) aufwenden muss,17 wird deutlich, dass die wesentlichen Potentiale wie auch der wesentliche Korrekturbedarf für eine nachhaltigkeitsorientierte Staatsfinanzierung weniger bei den öffentlichen Gütern liegen. Für die Rentenversicherung im Besonderen treten die bekannten demographischen Probleme hinzu, die sich im Wesentlichen in einer Zunahme des Alterslastquotienten A (siehe Gleichung (5) oben) äußern. Durch den Rückgang des Bevölkerungswachstums einerseits und die Erhöhung der Lebenserwartung andererseits wird sich diese Kerngröße erheblich verschlechtern. Geht man beispielsweise von einer säkularen Schrumpfung der deutschen Bevölkerung um 1,5% jährlich aus und unterstellt einen Erwerbseintritt mit 25, einen Renteneintritt mit 65 sowie eine durchschnittliche Lebenserwartung von 85 Jahren, so kommt man auf ein A 57,5%. Mit höheren – beileibe nicht unrealistischen – Lebenserwartungen oder durch Frühverrentungen kommt man schon in diesem einfachen Rahmen rasch auf die 80%, welche üblicherweise für das Jahr 2030 erwartet werden. Die Auswirkungen auf die Rendite der Zwangsersparnis im umlagefinanzierten System lassen sich unmittelbar an unseren einfachen Formeln ablesen. Daneben entstehen eher mittelfristige Finanzprobleme der Rentenversicherung durch den 16
Ohne die Alterssicherung der Beamten. Quelle: Bundeshaushalt 2005 [http://www.bundesfinanzministerium.de/lang_de/DE/Service /Downloads/Downloads__5/27736__1,templateId=raw,property=publicationFile.pdf], Zugriff März 2006. Die Steuereinnahmen betragen danach im Jahr 2005 190,8 Mrd. €. Die genannten drei größten Ausgabekategorien umfassen insgesamt ein Volumen von 152,6 Mrd. €. Selbstverständlich ist dieses Bild insofern überzeichnet, als die Haushalte der untergeordneten Gebietskörperschaften nicht berücksichtigt sind, bei denen Rente und Arbeitsmarktpolitik kaum eine Rolle spielen. 17
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Ausfall von Beitragszahlungen infolge hoher Arbeitslosigkeit – Probleme, die aber vor allem damit zu tun haben, in welcher Form Transfers vollzogen werden.
4.1 Kapitalfundierung, Humankapitalfundierung und Mehrsäulenmodelle Auch heute noch wird der Reformbedarf im Rentensystem nur zu oft auf eine Erhöhung des Anteils der Kapitaldeckung verkürzt. Das greift zu kurz, hängt doch bei einer substitutionalen Produktionsfunktion die Rendite auf das Realkapital auch von der eingesetzten Arbeitsmenge ab; die demographische Krise erfasst die Kapitalrendite zunächst einmal auch. Hinweise auf Zuwanderung oder die Anlagemöglichkeiten im Ausland mit höheren Reproduktionsraten können ebenfalls nicht dauerhaft überzeugen, wenn die Kapitalakkumulation dort längerfristig ebenfalls in Gang kommt oder sich das Bevölkerungswachstum im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung verlangsamt. Letztlich käme es darauf an, aus der laufenden Ersparnis stets den Konsum der Rentner – genauer: den verzehrten Tilgungsanteil der Rente –, die gewünschten Investitionen und den staatlichen Finanzierungssaldo decken zu können, und zwar weltweit (einzelstaatlich träte zu den Senken noch der laufende Außenbeitrag hinzu). Hierbei handelt es sich um nichts anderes als eine Version der bekannten MackenrothThese.
4.2 Dimensionen von Politikalternativen Wenn nach Möglichkeiten einer Rentenreform gesucht wird, erscheint es hilfreich, die drei zentralen Dimensionen im Auge zu behalten, entlang derer sich Rentenversicherungssysteme unterscheiden (siehe die nachfolgende Abb. 5):18
Der Grad der versicherungsmathematischen Äquivalenz misst den Zusammenhang zwischen den Beiträgen und dem erwarteten Barwert der Rentenversicherungsansprüche, gegeben die individuelle Risikoklasse. Je stärker die Versicherungsleistungen von den Einzahlungen entkoppelt wird, um inter- oder intragenerative Umverteilung zu ermöglichen, desto geringer der Äquivalenzgrad. Als den Grad der Kapitaldeckung verstehen wir denjenigen Anteil der Rentenansprüche eines typischen Versicherten, der aus der Auflösung einer
18 Diese Übersicht verdanke ich Martin Werding (Gastvortrag an der Andrássy-Universität Budapest, Herbst 2002).
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für diesen Versicherten am Kapitalmarkt gebildeten Rücklage finanziert wird. Veränderungen der wirtschaftlichen und demographischen Rahmenbedingungen mögen zu einem Anpassungsbedarf der Rentenformel führen. Hält man die Beiträge unter Anpassung der Rentenansprüche konstant, so bürdet man die Anpassungslasten stärker den derzeitigen Rentenbeziehern (die keine Beiträge mehr leisten) auf, ansonsten tendenziell eher den Beitragszahlern. Diese Aufteilung ist mit der intergenerationellen Verteilung von (demographischen) Risiken angesprochen.
Abb. 5:
Politikdimensionen bei der Rentenversicherung
Die Alternativen für eine praktische Rentenreform lassen sich nun in dem durch diese Dimensionen aufgespannten Raum (Abbildung 5) leicht vergleichend darstellen: Eine häufige Eigenschaft von Reformvorschlägen ist es, den Grad der Kapitaldeckung zu erhöhen. Wenn die Renten unter Beibehaltung einkommensabhängiger Beiträge auf ein Grundsicherungsniveau nivelliert werden, reduziert dies den Grad der versicherungsmathematischen Äquivalenz. Und Änderungen wie die der deutschen Rentenformel, die von der Brutto- zur Nettolohnbasis geführt hat, verändern in erster Linie die intergenerationelle Risikoaufteilung.
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4.3 Finanzbeziehungen zwischen den Generationen Schon im ursprünglichen Schreiber-Modell des Generationenvertrags waren neben den Finanzbeziehungen zwischen der wirtschaftlich aktiven und der Rentnergeneration auch diejenigen mit der nachwachsenden Generation berücksichtigt; da diese Generation jenes Humankapital bildet, welches später die Grundlage für die Altersversorgung der jetzt Erwerbstätigen dienen muss, liegt dieser Schritt auch mehr als nur nahe. Abb. 6:
Finanzbeziehungen zwischen den Generationen (Lüdeke 2002: 165)
Geht man mit Lüdeke (1998) von einer Referenzsituation aus, die durch finanziell eigenverantwortliche Generationen – und damit intertemporale Äquivalenz bzw. das Pay as you use-Prinzip – gekennzeichnet ist, dann sollten kollektive Erbschaften ungleich Null unterbleiben. Angesichts überkommenen Naturkapitals und einer bestehenden Netto-Vermögensposition des Staates lässt sich diese Forderung als allgemeine (Daumen-) Regel sicherlich vor allem an der Grenze, also für die zusätzlichen kollektiven Hinterlassenschaften der derzeit aktiven und der kommenden Generationen rechtfertigen. Unsere Aufgliederung der kollektiven Erbschaften (Abb. 3), unsere Diskussion des Nachhaltigkeitsprinzips
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wie auch die Betrachtung des erweiterten Domar-Modells legen nahe, dabei saldierte marginale Erbschaften in den Mittelpunkt zu rücken. Das Vererben wird in diesem Rahmen zu einer Privatsache. In der Abb. 6 sind die entsprechenden Finanzströme unterhalb der Rechtecke für die drei Generationen angegeben: Eltern leisten Schenkungen an ihre Kinder, während Großeltern der Elterngeneration Erbschaften hinterlassen.19 Die obere Hälfte der Abb. 6 zeigt dagegen die Ströme von Leistungen zwischen den Generationen, welche als die Vergabe und Rückzahlung von Krediten begriffen werden können. Dabei finanziert die wirtschaftlich aktive Generation einerseits die Aufzucht (Quantität) und die Ausbildung (Qualität) der Kinder, andererseits die Rentenzahlungen an die Alten. Ersteres verstehen wir als Kreditgewährung an die Nachfolger-, letzteres als Kreditrückzahlung an die Vorgängergeneration. Biss erhält diese Konzeption durch unsere Entscheidung, vom Konzept finanziell eigenständiger Generationen auszugehen. Dies verlangt nämlich, dass sich die Barwerte der Finanzströme mit dem Lag einer Generation entsprechen. Anders gewendet zahlen die Erwerbstätigen in summa ihren Eltern just die Aufwendungen verzinst zurück, welche diese für Unterhalt, Erziehung und Ausbildung in der Kindheit und Jugend geleistet haben. Da auf die Gesamtbeiträge eine marktübliche Verzinsung gezahlt wird, haben diese grundsätzlich keinen impliziten Steuercharakter – allerdings können allokative Verzerrungen dann auftreten, wenn man intragenerativ vom strikten Äquivalenzprinzip abweicht. Wie private Ersparnis am Kapitalmarkt zur Bildung von Sachkapital führt, trägt die Erfüllung des Generationenvertrags zur Bildung von Humankapital bei. Freilich brächte eine Umsetzung dieses Gedankens in eine tatsächliche Reform zahlreiche praktische Probleme mit sich, beispielsweise solche, die die Bewertung von Sachleistungen der Eltern betreffen. Wesentlich scheinen mir indessen die folgenden theoretischen Überlegungen zu sein: 19
Weder das Vorliegen einer Beitragspflicht noch die Abhängigkeit dieser Beiträge vom Arbeitseinkommen müssen notwendig zu steuerlichen Zu-
Inter vivos Transfers in die umgekehrte Rechnung sind der Einfachheit halber zu saldieren, Schenkungen lebender Großeltern an Eltern bei den Erbschaften aufzunehmen. Ist das Motiv für vorgezogene Schenkungen ein altruistisches, so ist es plausibel, solche Schenkungen vor allem zwischen ökonomisch aktiven Eltern und ihren Kindern zu vermuten: Denn hier spielt der Grenznutzen des laufenden Einkommens eine wichtige Rolle: Eltern ersetzen fehlende Kreditmärkte, um im Interesse der Dynastie Ressourcen der Kinder aus Perioden mit niedrigem (Erwerbstätigkeit, Alter mit gebildetem Vermögen) in Perioden mit hohem (junge Erwachsene) Grenznutzen zu transferieren. Solche Schenkungen „rechnen auf das Erbe an“. Außer steuerlichen sind kaum sonstige Gründe vorstellbar, warum altruistisch verbundene Familien nicht bis zum Todesfall der Eltern auf den Transfer warten sollten. Bei anderen Erbschaftsmotiven dürften Schenkungen unter Lebenden ohnedies eine geringere Rolle spielen. Zu den Erbschaftsmotiven siehe Beckmann (2006) und die dort angegebene Literatur.
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satzlasten führen. Das wäre hier nur bei den Beitragszahlern der Fall, deren erzwungene Ersparnis über der freiwilligen liegt (oder bei denen die Struktur des Portfolios verzerrt wird). Wer keine eigenen Kinder aufzieht (oder aufziehen kann) müsste seine Beiträge in Form von Einzahlungen in einen Bildungsfonds leisten. Damit käme es zu einem Bildungskreditsystem, das die bekannten allokativen Probleme durch das Fehlen von Kreditmärkten für Humankapitalinvestitionen mildern hülfe. Es erscheint plausibel, in dieses System intergenerationeller Finanzbeziehungen intragenerative Versicherungselemente aufnehmen zu wollen. Beispielsweise würden sich Eltern gegen einen beruflichen Misserfolg ihrer Kinder versichern wollen und bei gleichem Erwartungswert lieber in das gesamte Humankapital investieren. Wie bei Bildungskrediten werden sich andererseits Individuen gegen das Scheitern ihrer Bildungspläne versichern wollen. Je stärker man aus diesem Grunde Versicherungselemente einführt, desto größer werden die üblichen Zusatzlasten durch moralisches Risiko (Beckmann 1998: Kapitel 5). Eine mögliche Daumenregel – wenn auch sicher keine zweitbeste Lösung – bestünde darin, bei der Umsetzung des Generationenvertrags strikt auf Äquivalenz zu setzen und auf die Versicherungswirkungen des daneben bestehenden Steuer-Transfer-Systems zu bauen.
Schluss
Der vorliegende Beitrag trägt weitgehend den Charakter eines Surveys. Seine Aufgabe bestand jedoch weniger in einem Überblick über die zahlreichen Reformvorschläge der Literatur noch in einem Vergleich der konkreten Reformvorhaben in den mitteleuropäischen Ländern – Aufgaben, welche anderen Beiträgen in diesem Band überlassen bleiben. Vielmehr war es mir um eine systematische Darstellung der konzeptionellen und theoretischen Grundlagen für diese Diskussion zu tun, welche alle Länder einen. Eine weitere Frage, die bei der Charakterisierung einer nachhaltigen Alterssicherung zunächst nicht im Mittelpunkt steht, ist die des Überganges. Während wir die grundsätzliche Möglichkeit einer pareto-superioren Reform ebenso kurz betrachtet haben wie die wesentlichen Dimensionen von Reformen, spielen in der Praxis politische und rechtliche Aspekte eine erhebliche Rolle. Solche Aspekte stehen auch der Umsetzung einer grundsätzlich sehr nahe liegenden Idee (Lüdeke 2002) entgegen, nämlich der, die bestehenden Rentenversicherungsansprüche von einer impliziten in eine explizite Staatsschuld umzuwandeln und
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sämtlichen künftigen Anspruchserwerb nach einem grundsätzlich neu gestalteten System abzuwickeln. Die intergenerative Verteilung der Altlasten könnte dann getrennt vom Systemdesign auf transparente Weise nach wohlfahrtsökonomischen Kriterien erfolgen. Vermutlich jedoch wird ein derartiger „Big Bang“ am Unwillen oder Unvermögen – beispielsweise aus dem Stabilitätspakt heraus zu begründen – der Politik scheitern müssen, die impliziten Schulden aus dem Rentensystem offen auszuweisen. Literaturverzeichnis Aaron, Henry J. (1966): The social insurance paradox. In: Canadian Journal of Economics and Political Science 32. 371-374 Beckerman, Wilfred (1996): Through Green-Colored Glasses. Washington: Cato Institute Beckmann, Klaus B. (1998): Analytische Grundlagen einer Finanzverfassung. Frankfurt a. M.: Peter Lang Beckmann, Klaus B. (2000): A note on the tax rate implicit in pay-as-you-go public pension contributions. In: Finanzarchiv 57. 63-76 Beckmann, Klaus B. (2003): Nachhaltigkeit – ein Wohlfahrtskriterium? In: Geiss et al. (2003): 143-67 Breyer, Friedrich (1989): On the intergenerational Pareto-efficiency of pay-as-you-go financed pension systems. In: Journal of Institutional and Theoretical Economics 145. 643-658 Breyer, Friedrich/Straub, Martin (1993): Welfare effects of unfunded pension systems when labor supply is endogenous. In: Journal of Public Economics 50. 77-91 Buchanan, James M. (1967): Public Finance in Democratic Process. Chapel Hill: NCP Buchanan, James M. (1975): The Samaritan’s Dilemma. In: Phelps (1975): 71-85. Buchanan, James M./Rowley, Charles K./Tollison, Robert D. (eds.) (1986): Deficits. Oxford: Basil Blackwell Bundesministerium der Finanzen (2005): Bundeshaushalt 2005. [http://www.bundesfinanzministerum.de/lang_de/DE/Service/Downloads/Downloads__5/27736__1,templateId=raw,property=publicationFile.pdf] Domar, Evsey D. (1944): The burden of the debt and the national income. In: American Economic Review 34. 798-827 Drazen, Allen (1997): Towards a political-economic theory of domestic debt. NBER working paper 5890 Fenge, Robert (1995): Pareto-efficiency of the pay-as-you-go pension system with intragenerational fairness. In: Finanzarchiv 52. 357-364 Frisch, Helmut/Hof, Franz X. (1996): The algebra of government debt. CESifo Working Paper 121 Geiss, Jan/Wortmann, David/Zuber, Fabian (Hg.) (2003): Nachhaltige Entwicklung – Strategie für das 21. Jahrhundert? Opladen: Leske + Budrich Gustafsson, Björn/Klevmarken, N. Anders (ed.) (1989): The Political Economy of Social Security. Amsterdam: North-Holland
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„Alterssicherungspolitik“ – Politikwissenschaftliche Erklärungsansätze für Reformen Andrej Stuchlik
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Einleitung
In der öffentlichen Debatte um die Gestaltung und Veränderung nationaler Alterssicherungssysteme spielt der Beitrag der Politikwissenschaft eine häufig untergeordnete Rolle. Es dominiert die ökonomische Sichtweise, die nach effizienten und tragfähigen Modellen forscht und insbesondere die Finanzierungsseite im Blick hat. Bei der Folgenabschätzung verschiedener Sozialreformen und Fragen der Leistungsfähigkeit angesichts staatlich festgelegter sozialpolitischer Ziele kommt daneben die Soziologie zum Zuge und schöpft ihre anerkannten methodischen Mittel zur Erfassung individueller und kollektiver Wohlfahrtsveränderungen aus. Beide Disziplinen erfassen zwar auch das „Wie und Warum“ von Rentenreformen, allerdings mit ihren jeweiligen normativen Prämissen monetärer Effizienz einerseits und wohlfahrtsstaatlicher Sicherungsleistung andererseits. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die Messbarkeit sowohl der Elemente der Einnahmeseite als auch (in geringerem Maße) hinsichtlich ihrer Leistungserbringung an sozialer Absicherung verhältnismäßig einfach zu quantifizieren und damit zu vergleichen sind. Der Vergleich politischer Reformbedingungen und -abläufe über Länder hinweg gestaltet sich weitaus schwieriger aufgrund divergierender ökonomischer Ausgangsbedingungen, heterogener wohlfahrtsstaatlicher Arrangements und unterschiedlicher Entscheidungsstrukturen. Genuin politikwissenschaftliche Ansätze untersuchen die Alterssicherungspolitik: also „die Veränderung der „rentenpolitischen Arena und Hinzunahme neuer Konfliktthemen“ (Hinrichs 2000: 293). Gefordert ist dabei die Entwicklung von Bewertungsmaßstäben zur Beurteilung von Rentenreformen. Von besonderem Interesse ist die Bedeutung politischer Einflussfaktoren für das Reformergebnis. Aufschlussreich ist der Verlauf in den Ländern Mittel- und Osteuropas aufgrund der mehrfachen Staatstransformation (vgl. Offe 1994), die eine größere
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Andrej Stuchlik
Reformbedürftigkeit der sozialen Sicherungssysteme mit sich brachte (Barr 2002) und insbesondere internationalen Finanzakteuren Zugang und Einfluss auf nationale Entscheidungen einräumte (Orenstein 2000, 2008a,b). Mehrere „puzzles“ stehen dabei im Mittelpunkt (Nelson 2001: 237): (i) Was bestimmt den Zeitpunkt von paradigmatischen Rentenreformen? (ii) Was erklärt die politische Durchführbarkeit? (iii) Worin bestehen substanzielle Unterschiede zu anderen Policy-Reformen, etwa Änderungen im Gesundheitssystem? Dieses Kapitel untersucht daher die Erklärungskraft konkurrierender politikwissenschaftlicher Theorieansätze und spiegelt diese an den Reformerfahrungen in Mittel- und Osteuropa.
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Eine Neue Politik des Wohlfahrtsstaates?
Forschungsrichtungen, sich dem Wandel von wohlfahrtsstaatlicher Politik zu nähern, gibt es viele, doch Akteure wie Institutionen erhalten darin sehr unterschiedliche Bedeutungen. Die Privatisierung der Alterssicherung wie sie in Mittel- und Osteuropa in den vergangenen rund zehn Jahren stattfand, ist daher eng verknüpft mit einer theoretischen Grundfrage politikwissenschaftlicher Theoriebildung: Können die bestehenden Theorieansätze, die Sozialpolitik und wohlfahrtsstaatliche Institutionen im engeren Sinn zum Untersuchungsgegenstand haben, sowohl ihre Entwicklung und ihren Ausbau erklären, als auch deren Abschmelzen und damit teilweisen Rückgang? „Sie können es nicht!“ lautete Mitte der 1990-er Jahre eine nachhaltig wirkende Analyse des amerikanischen Politikwissenschaftlers Paul Pierson (Pierson 1994, 2001), die sowohl Anleihen bei der Ökonomie als auch bei institutionalistischen Ansätzen nimmt (s.u.). Demnach geht es den Nationalstaaten nach der „goldenen Ära“ der drei Nachkriegsjahrzehnte nicht länger um die Weitung und den Ausbau sozialpolitischer Errungenschaften, sondern in erster Linie um die Einhegung explodierender Kosten angesichts zunehmend knapper öffentlicher Kassen („permanent austerity“). Ein solcher Rückzug des Staates („retrenchment“) sei jedoch unpopulär und daher schwierig durchzusetzen. Das führe aber zu neuen Anforderungen an die Theorieentwicklung. Wurden zuvor meist funktionalistische oder klassenorientierte Triebkräfte für die Einsetzung sozialpolitischer Maßnahmen ausgemacht, bedürfe der Wohlfahrtsabbau eines neuen Verständnisses, einer „New Politics of the Welfare State“. Piersons Idee speiste sich dabei aus der Beobachtung, dass zahlreiche Versuche des sozialpolitischen Rückbaus in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten in den 1980-er Jahren fehlschlugen. Dabei zählten doch gerade die an-
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gelsächsischen Wohlfahrtsstaaten zu den „most likely cases“ (Starke 2006: 105f.) in denen solche Reformen möglich sein sollten. Die Suche nach den Erklärungsfaktoren für den Widerstand gegenüber Wohlfahrtseinschnitten sieht Pierson in wesentlich zwei Elementen: (i) Zum Einen erschaffe sich jede einmal errichtete Unterstützungsleistung auch ihre jeweilige Unterstützergruppe, also jene Wählerschicht, die als betroffene „constituency“, als Sachwalter „ihrer Errungenschaft“ strategisch wählen wird und sich ganz im Olson’schen Sinne zu organisieren und partikular Einfluss zu nehmen versteht (Olson 1985[1968]). Anders formuliert, da Retrenchment die Umverteilungskriterien in einer Gesellschaft ändere, sei es schwierig, „to gain support, because opposition can easily rally“ (Bonoli 2000: 35). Das zweite (ii) Element sieht Pierson im institutionellen Beharrungsvermögen („inertia“) von Wohlfahrtsarrangements als solchen. Jenseits der Akteurperspektive seien die Politiken selbst schwierig von einmal eingeschlagenen Pfaden („Pfadabhängigkeit“, s.u.) abzubringen und könnten daher nur inkrementell verändert werden (vgl. Ebbinghaus 2006). Für reformwillige politische Unternehmer bedeuteten (i) und (ii) limitierende Faktoren, zumal Wähler auf erlittene Verluste (Sozialabbau) proportional stärker reagieren als auf zugedachte Gewinne (z.B. geringere Steuern) (Starke 2006: 106)1. Damit zählt Piersons Ansatz und insbesondere sein institutionalist turn (Aspinwall/Schneider 2000, kritisch dazu: Immergut 2006) zum so genannten Historischen Institutionalismus, der eng mit seiner ökonomischen Entsprechung, der Neuen Institutionenökonomik (Williamson 2000), verwandt ist und die prominenteste Variante der gegenwärtigen Neo-Institutionalistischen Theoriekonzepte darstellt (vgl. Schmitter 2009).
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Konkurrierende Erklärungsansätze
Bislang hat sich sowohl mit Blick auf Wohlfahrtsstaatlichkeit allgemein (bei Schmidt „Staatstätigkeit“, s. z.B. 2007), als auch speziell auf Rentenpolitik keine dominierende Sicht durchsetzen können (vgl. Bonoli 2000, Immergut/Anderson 2007, Siegel 2003). Zentral für die Bestimmungsgründe für den Wandel des Wohlfahrtsstaates ist zum Einen die Frage, ob von einem Akteurs- oder einem Strukturmodell (vgl. Schludi 2003) ausgegangen wird und zum Anderen, ob exogene oder en-
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Das als „prospect theory“ bekanntgewordene Schlüsselkonzept der Verhaltensökonomik (v.a. Kahneman/Tversky 1979) wird inzwischen auch politikwissenschaftlich untersucht, z.B. Mercer 2005, Weyland 2007.
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dogene Ursachen ausgemacht werden, wenngleich die Übergänge häufig fliessend sind. Eine andere Forschungsrichtung ist die der sozialstaatlichen Typologisierung in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung. Zentral sind darin die Suche nach gemeinsamen Strukturen und Klassifizierungen, seien es RegimeTypen (Esping-Andersen 1990, 1996), Staatenfamilien („Families of Nations“) (z.B. Castles/Mitchell 1993), oder „Varieties of Capitalism“ (Hall/Soskice 2001, 2003), sowie Veränderungen innerhalb einzelner Regimegruppen. Dabei wird typischerweise nach Annäherungen zwischen den Systemtypen bzw. fortdauernden Unterschieden geforscht. Anders als im Paradigma des „New Politics“ wird aber hier davon ausgegangen, dass Phasen des sozialstaatlichen Rückbaus, keine andere Theoriebildung bedingen. Vielmehr sollte demnach ein aussagekräftiges Analysemodell der Alterssicherung nicht allein aufzeigen, welche sozialen, ökonomischen und politischen Kräfte diese Systeme entstehen lassen, sondern auch, welche entscheidend sind, um ihren Fortbestand zu sichern und fortentwickeln (Mulligan/Sala-i-Martin 1999a: 2). Um einen provisorischen Überblick über die Vielzahl an konkurrierenden Theoriekonzepten zu erhalten, lohnt ein Vergleich zur Kriminalliteratur (Starke 2006: 112). Denn während einige Autoren nach den Motiven für den Wandel des Wohlfahrtsstaates forschen (und dabei z.B. Parteiideologien untersuchen), fokussieren andere auf die eingesetzten Mittel zur Durchsetzung von Veränderungen (etwa Strategien zur Schuldvermeidung/“Blame Avoidance“). Eine dritte Gruppe betrachtet schließlich institutionelle „windows of opportunity“ im politischen System und sucht damit metaphorisch nach Gelegenheiten. Motive, Mittel und Gelegenheiten bieten eine erste Richtschnur.
3.1 Sozioökonomische Ursachen und Globalisierungsprozesse Die Bestimmungsfaktoren für den Aus- und Umbau des Wohlfahrtsstaates lassen sich als Reaktionsleistung auf einen primär ökonomischen Problemdruck begreifen. Schließlich sei der Aufbau sozialer Sicherheit und die Ursache von Staatstätigkeit generell in erster Linie als Reaktion auf „strukturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen“ zu erklären (Schmidt/Ostheim 2007a: 22). So dienen etwa Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft und den grundlegenden Produktionsbedingungen (Tertiarisierung) als Determinanten wohlfahrtsstaatlicher Politik. In diesem Sinne lösen gesellschaftliche Modernisierungsprozesse die Nachfrage nach Staatstätigkeit als funktionale Reaktionen auf Problemlagen aus (ibid.).
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Hinzu kommen Problemlagen, die sich aus der Wettbewerbssituation von Nationalstaaten ergeben. Dabei fechten Vertreter dieser Theorieansätze zunächst um eine angemessene Sichtweise auf die mit Globalisierungsprozessen verknüpften Implikationen, bzw. ringen um die ökonomisch zutreffende Interpretation: An zwei Extrempositionen veranschaulicht, lassen sich Globalisierungswirkungen auf Wohlfahrtsstaatlichkeit einerseits als „trade-off“ zwischen sozialer Sicherheit und Einkommen begreifen, der unausweichlich zu einem „race to the bottom“ führen müsse, da das mobile Kapital die Nationalstaaten unter Druck setze und eine Dilemma-Situation hervorrufen könne (vgl. Scharpf 2000: 340). Die entgegengesetzte Sichtweise betrachtet hingegen ein Mindestmaß an sozialer Kohäsion als Voraussetzung für produktive Globalisierungsprozesse: „[…] in order for globalization to be ‚safe‘, it has o be based on the bedrock of social consent, as exemplified by safety net and public insurance programs“ (Kapstein/Milanovic 2002: 15).
Doch Vertreter beider Lesarten sehen in einem durch internationalen (System)Wettbewerb verursachten Problemdruck, die primäre Veränderungslogik für die Reform von Wohlfahrtsstaaten. Politische Faktoren spielen daher höchstens eine intervenierende Rolle. In diesem Bild erscheint „Retrenchment“ häufig als einzig verbliebene, reaktive Lösung. Analog dazu erklären zahlreiche finanzwissenschaftliche Analysen signifikante Rentenreformen mit ökonomischen „Sachzwängen“, die solche notwendig machten (vgl. z.B. Feldstein 2002, Feldstein/Samwick 2001, Holzmann 1994). Gleichwohl lässt sich gemünzt auf die neuen EU-Mitgliedstaaten kein allgemeiner Trend dahingehend feststellen, dass dort weitreichende Reformen umgesetzt worden wären, wo es die finanzielle Situation erforderte. In Mittel- und Osteuropa haben Slowenien und die Tschechische Republik bislang nur parametrische Rentenreformen durchgeführt und eine weitgehende Einbindung kapitalgedeckter Verfahren abgelehnt (Müller 2002a: 131ff.).2 Dabei gibt in beiden Fällen insbesondere die demografische Entwicklung durchaus Anlass zu Reforminitiativen. So werden beide Länder in den nächsten 20 Jahren die größten Steigerungsraten des Altenquotienten hinnehmen müssen. Offenbar kam hier die Reformorthodoxie der Weltbank mit ihrem Drei-Säulen-Konzept bislang nicht zum Tragen. Ein Problem sozio-ökonomischer Ansätze liegt in der schwierigen Messbarkeit von Globalisierungsprozessen, zumal die meisten Studien die Entwicklung von Ausgabenhöhen messen und somit nur indirekt den tatsächlichen Wandel erfassen können (Starke 2006: 107). Die implizite Annahme wohl2
Siehe Müller dieser Band.
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fahrtspolitischer Konvergenz aufgrund erodierender Staatsfinanzen und wettbewerblicher Einhegung nationaler Handlungsspielräume (Leibfried/Pierson 1998) konnte zumindest für OECD-Staaten bislang nicht nachgewiesen werden (vgl. Starke et. al. 2008).
3.2 Diffusion und der Einfluss transnationaler Akteure Theoretische Ansätze, die die Diffusion von Politikinhalten aufgrund einflussreicher epistemischer Gemeinschaften und zugleich die aktive Rolle etwa internationaler Organisationen untersuchen, bewegen sich auf einer Gratwanderung zwischen strukturellen Erklärungselementen und einer Akteursperspektive: So reiche etwa die Rolle der Weltbank im internationalen Kontext der Rentenprivatisierung, so die Grundüberlegung, über ihre unterstützende Funktion mittels geleisteter Kapitalströme und Projekthilfe hinaus. Auch Publikationen wie jene Weltbank-Studie, die 1994 erstmals eine Drei-Säulen-Strategie propagierte (World Bank 1994), trügen dazu bei, dass einzelne Reformideen (z.B. Kapitaldeckung) und Themen (z.B. Alterung als anerkannter Problemdruck) auf die Agenda politischer Akteure gelangen.3 Dem zugrunde liegt die Überlegung nahe, dass auf diese Weise Ideen, verstanden als „spezifische politische Alternativen“, mitsamt ihrer dazugehörigen Prinzipien und Kausalannahmen (Starke 2006) Verbreitung finden (v.a. Weyland 2007). Im Fall der Weltbank trügen etwa die Propagierung der Kapitalfundierung in den 1990-er Jahren zu einer „liberalen Orthodoxie“ (New Pension Orthodoxy) bei (vgl. Müller 2003). Neben dieser strukturellen Komponente, liegt es aber im Fall der mittel- und osteuropäischen Staaten nahe, den unmittelbaren Einfluss transnationaler Akteure auf die innenpolitische Willensbildung zu untersuchen. Mitchell A. Orenstein hat bereits früh (2000) die Aktivitäten der Weltbank in der Region untersucht. Im polnischen Reformbeispiel war einer der wesentlichen Reformtreiber ein Weltbank-Experte, der für kurze Zeit in die polnische Administration wechselte. Zudem unterstütze die Finanzorganisation die politische Führung durch konkrete Zuwendungen und Fortbildungen für die beteiligten Ministerien (vgl. Orenstein 2008a,b). Tatsächlich spricht für die Sichtweise, dass zahlreiche Staaten in Mittel- und Osteuropa Rentenreformen in Angriff nahmen, die Anleihen beim Drei-Säulen-Modell nahmen (Bucerius 2005). Unklar ist allerdings, unter welchen genauen Umständen transnationale Akteure, innenpolitisch Fuß fassen können. Orenstein führt als Akteurkategorie so ge3 Brooks zufolge war die Mittelverteilung für soziale Sicherheit innerhalb der Weltbank etwa hälftig zwischen direkter Finanzierung und Forschung, bzw. Publikationen verteilt (Brooks 2005: 278).
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nannte „proposal actors“ (2000) ins Feld, also Akteure, wie etwa Expertenkommissionen, die zwar über keine verankerte politische Machtbasis verfügen, aber ad hoc Einfluss erlangen können. Dennoch bleibt die Frage, inwiefern die innenpolitische Willensbildung den Einsatz externer Akteure bewusst herbeiführt, zulässt oder ausschließt. Die Vorstellung einer sich ausbreitenden Rentenprivatisierung, die angetrieben von den Chilenischen Reformerfahrungen zu Beginn der 1980-er Jahre, auch auf die osteuropäischen EU-Mitglieder gewissermaßen überschwappte, untersuchte Sarah Brooks (2002, 2005). Ihrer Einschätzung zufolge wirkten sich zwar Reformprozesse in Lateinamerika und Osteuropa als wechselseitiges Politiklernen (peer dynamics) aus, doch sei dies für die europäischen Staaten der OECD nicht der Fall. Vielmehr seien dort innenpolitische Konfliktlinien und ökonomische Restriktionen ausschlaggebend.
3.3 Konflikttheorien – Machtressourcen und Parteienwettbewerb Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgen hingegen so genannte Konflikttheorien: Wandel, aber ebenso die Errichtung des Wohlfahrtsstaates sind hier vielmehr Resultat der endogenen Auseinandersetzung politischer Akteure über Verteilungsentscheidungen (Starke 2006: 108). Dabei liefern die exogenen sozio-ökonomischen Faktoren nur den Referenzrahmen für politischen Wettbewerb um Umverteilung. Vertreter dieser Theorieansätze betonen insbesondere die Bedeutung organisierter Partikularinteressen, die durch kollektive Akteure (Olson 1985[1968]) vertreten werden, bzw. sehen Wohlfahrtsstaatlichkeit als Folge von „unterschiedlichen Kräfteverhältnissen zwischen gegensätzlichen politisch-gesellschaftlichen Strömungen“ (z.B. Liberalismus vs. Katholizismus) (Schmidt/Ostheim 2007a: 22). Als Auseinandersetzung um Machtressourcen verstandene gesellschaftliche Konflikte führen demnach zu unterschiedlichen Umverteilungspräferenzen und damit zu verschiedenen Wohlfahrtsregimen, zu „Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ (Esping-Andersen 1990, 1996)4. Eine engere Sicht auf durch Konflikte generierte Wohlfahrtsstaatlichkeit haben Ansätze des Parteienwettbewerbs (Parteiendifferenzhypothese)5. Sie vermuten strukturelle bzw. parteiideologische Faktoren am Werk und verknüpfen Regierungshandeln unmittelbar mit den Präferenzen ihrer Anhängerschaft („partisan public policy“). Somit erscheinen insbesondere Mitte-Links-Parteien sowie Gewerkschaften als Triebkräfte des Ausbaus sozialer Sicherung. 4 5
Speziell für Mittel- und Osteuropa siehe Götting 1998, McMenamin 2004. Für einen einführenden Überblick siehe Zohlnhöfer (2003) und Allan/Scruggs (2004).
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Erstens finde, anders als im New Politics-Paradigma dargestellt, Retrenchment tatsächlich statt. Zweitens würden analog konservativ-rechts-Regierungen stärkeren Wohlfahrtsabbau durchsetzen (so wie zuvor der Ausbau eher durch links orientierte Regierungen möglich gewesen war) (Allan/Scruggs 2004). Doch eben jener Logik widerspricht die Idee der New Politics. Die Bedeutung von Parteien wird zwar anerkannt, allerdings in einem anderen Sinn: So sei es insbesondere Mitte-Links-Parteien aufgrund ihres attestierten Glaubwürdigkeitsvorsprungs im Politikfeld Sozialpolitik eher möglich, weitreichendere Reformen im Sinne von Retrenchment durchzusetzen als ihre politischen Gegenspieler. Die überzeugende Kraft des „Sachzwangs“ kommt eher dann zum Tragen, wenn Reformen von potenziellen Befürwortern des Sozialstaatausbaus vorgebracht werden.6 Allerdings orientieren sich auch die meisten Studien dieser theoretischen Ausrichtung an der Ausgabenentwicklung der Sozialbudgets und messen damit nicht unmittelbar den Rückbau, bzw. das Maß an voranschreitender Privatisierung der Alterssicherung (Allan/Scruggs 2004: 497f., Starke 2006). Noch nicht hinreichend untersucht wurde zudem die Rolle von Interessengruppen, allen voran der Gewerkschaften und weiterer sozialer Bündnisstrukturen: inwieweit diese tatsächlich zu expansiveren Sozialausgaben beigetragen haben, bzw. Privatisierungstendenzen verhindern konnten (Starke 2006: 108). Der steuernde Einfluss aggregierter Interessengruppen spielte dabei beispielsweise in Slowenien eine große Rolle. Der ausgebaute Tripartismus des europäischen Neumitglieds verhinderte bislang eine Rentenreform nach Weltbankvorbild, da die slowenischen Gewerkschaften ihre Zustimmung zu diversen Reformanläufen versagten.7
3.4 Historischer Institutionalismus – die prägende Kraft des Politikerbes Institutionalistische Theoriekonzepte erfreuen sich in den vergangenen 15 Jahren (Olsen 2001) zunehmend großer Beliebtheit. Spätestens seit Gsta EspingAndersens Studien zur vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung, spielt die Frage nach der Bedeutung von sozialpolitischen „Regimen“ und institutionellen Gefügen eine gewichtige Rolle. Die zugrundeliegende Prämisse ist dabei, dass die Auswahl des Politikfeldes Auswirkungen auf den politischen Aushandlungsprozess hat, folglich die policy die politics prägt und nicht umgekehrt. 6
Bekannt als Nixon-goes-to-China-Phänomen. Siehe Müller dieser Band, S. 104. Die im Jahr 2000 dann beschlossene Reform ruht zwar ebenfalls auf einer Drei-Säulen-Strategie, allerdings ohne verpflichtende Kapitaldeckung, und damit ohne das zentrale Element des Weltbankmodells. 7
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Daraus folgt, dass Institutionen bei der Analyse politischer Handlungen je nach gewähltem Politikfeld berücksichtigt werden müssen. Zufälligerweise erschien Esping-Andersens prägende Studie gleichzeitig mit einem ähnlich gelagerten Versuch, gewachsene Institutionen für aktuelle Analysen fruchtbar zu machen, allerdings aus ökonomischer Perspektive: Douglass C. North nahm mit seiner Arbeit „Institutions, Institutional Change and Economic Performance“ (North 1990[1992]) entscheidenden Anteil am Aufbau der so genannten Neuen Institutionenökonomik (vgl. v.a. Williamson 2000). Die klassische Annahme der Neoklassik hinsichtlich der rationalen Wahlhandlung wird dabei in Frage gestellt, bzw. in ein Wechselverhältnis mit den sie umgebenden Institutionen gesetzt. Der Wirtschaftshistoriker North, der mit Studien zu interregionalen Handelsströmen in den USA begonnen hatte, erzielte damit großen Einfluss auf die Politikwissenschaft, zumal er zwischen formalen und informellen Institutionen unterschied und neben gesatzten Regeln jene Elemente setzte, die, obwohl sozial akzeptiert und üblicherweise ungeschrieben, dennoch handlungsleitend sein können (Sitten, Gebräuche, etc.). Norths eigenes Verständnis für die Funktionsweise von Institutionen ist die der „Strukturierung von Anreizen“: „Institutions are the rules of the game in a society or, more formally, are the humanly devised constraints that shape human interaction. In consequence they structure incentives in human exchange, whether political, social or economic” (North 1992[1990]: 3).
Die politikwissenschaftliche Theoriebildung, die Institutionen in den Mittelpunkt rückt, hat sich in einzelne Teilrichtungen weiter spezialisiert, und im Allgemeinen wird von drei wesentlichen Richtungen ausgegangen. Soziologischer und historischer Institutionalismus und eine an die Theorie rationaler Wahlhandlungen (Rational Choice Institutionalismus - RCI) angelegte Variante. Alle drei unterscheiden sich, obgleich verwandt, hinsichtlich ihrer Prämissen ebenfalls entlang der Achse einer struktur- versus einer akteurzentrierten Sicht (Aspinwall/Schneider 2000) und imitieren damit im Grunde die Theorienvielfalt auf der übergeordneten Ebene. Anders formuliert: Kommen Institutionen im Fall des RCI aggregativ zustande, so vollziehen sie sich in der soziologischen Variante als „integrative Strukturbildung durch die Befolgung von Normen“ (Schulze 1997: 8). Diese üblicherweise in der Politikwissenschaft angewandte Dreiteilung institutioneller Ansätze lässt sich aber insofern erweitern, als sich zwei historisch orientierte Lesarten finden lassen (Schulze 1997): historisch-ökonomisch (North u.a.) und historisch-soziologisch (v.a. Pierson).
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Doch zunächst zu den historisch angeleiteten Konzepten, den gegenwärtig prominentesten Theorieansätzen bei der Erfassung von Wohlfahrtstaatsreformen: Zwar wird der Historische Institutionalismus zumeist als strukturzentriertes Konzept begriffen, aber tatsächlich setzen seine Vertreter die Abgrenzung zu jenen akteurorientierten bewusst fließend (Thelen 1999) und betonen zugleich die Zeitdimension dieses Ansatzes. Anders als in der institutionalistischen Rational Choice Variante gehe es hier um: „Indeed, rather than searching for specific equilibrium and their consequences, Historical institutionalists see their inquiry as one of path analysis and /or process tracing.” (Steinmo 2001: 564, Hervorh. im Original.
Institutionen (und insbesondere informelle) sind in diesem Verständnis nicht vollständig von Akteuren eingesetzte und kontrollierbare Regelwerke, sondern prägen ihrerseits, einmal installiert, die Wahrnehmung und damit letztlich die Handlungen der Akteure. Zwei Elemente sind für den Historischen Institutionalismus kennzeichnend, das Element der Pfadabhängigkeit (Path Dependency) und das Konzept der Schuldvermeidung (Blame Avoidance).
3.4.1 Pfadabhängigkeit Während einerseits Akteure versuchen werden, angesichts von Sozialabbau erwartbare Wählersanktionen zu vermeiden, sind sie zugleich in ihren Handlungsoptionen institutionell beschränkt. Der Begriffszusatz „historisch“ meint damit, dass sich einmal beschlossene Politikmaßnahmen nicht nur aufgrund ihrer Nutznießer gewissermaßen endogene Lobbygruppen erschaffen, sondern, dass damit auch künftige Abweichungen vom Status quo bereits vorstrukturiert werden. Die Idee der Pfadabhängigkeit geht damit davon aus, dass sich Institutionen nur in Umbruchphasen (critical junctures) verändern lassen. Die darauffolgende Periode der Verfestigung neuer Strukturen vollziehe sich durch positive Rückkoppelungen (feedbacks), die erst jene soziale Akzeptanz ermöglichen, die eine allmähliche Institutionalisierung befördert. Pfadabhängigkeit ist damit zunächst nur eine Sequenz kontingenter Entscheidungen, die spätere Entscheidungssituationen strukturieren. Bernhard Ebbinghaus hat diesen Gedankengang ausgebaut und verfolgt institutionellen Wandel entlang dreier Etappen (Ebbinghaus 2006): (i) Path stability: Es findet nur marginale Anpassung an sich verändernde Umweltzustände statt. Teilweise beobachtbare „Lock-in“ Effekte, aber teils
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auch erfolgreiche Anpassung (gradual adaptation) „Plus ça change, plus c’est la même chose“, (ii) Path departure: Abweichungen werden wahrscheinlicher, wenn bei zunehmenden Umweltveränderungen die Selbsterhaltungskräfte eine allmähliche Anpassung ermöglichen. Dabei ist die Erfassung der tatsächlichen „departure“ schwierig, denn zum Einen können sich langwierige, allmähliche Veränderungen im Zeitverlauf und zusammengenommen zu wichtigen Neuorientierungen summieren. Andererseits sind funktionelle Veränderungen denkbar, wonach die gleiche Institution einen anderen Zweck erfüllt und schließlich lässt sich „institutional layering“ beobachten. Damit ist ein Überlappen verschiedener institutioneller Arrangements (mit teils zuwiderlaufenden Politikrichtungen) gemeint. Eine dritte und radikale Phase bezieht schließlich den Wechsel, das (iii) Path switching mit ein (Ebbinghaus 2006). Hier geht es um Umbruchsituationen, die einen Wechsel der „opportunity structure“ ermöglichen. Zentral ist dabei die Frage, weshalb die institutionellen Selbsterhaltungskräfte nun nicht mehr ausreichen (Jochem 2007). In der Schwerpunktsetzung auf den Faktor „Veränderung“ liegt allerdings ein grundsätzliches Problem: Veränderung finde kontinuierlich statt und selbst in Zuständen von Pfadabhängigkeit würden ständig Gleichgewichtssituationen erzielt, nur lägen ihnen Mikroprozesse zugrunde: „beneath the impression of continuity, constant movement and change are occuring“ (Immergut 2006). Ähnlich kritisch sieht sie den Aspekt des institutionellen Erbes, der legacies. Legacies könnten schließlich sowohl für institutionellen Wandel, als auch für Stabilität herangezogen werden und lieferten nur das „Rohmaterial“ der politischen Debatte, wobei damit noch nicht entschieden sei, ob sie tatsächlich politisch relevant würden (ibid.) Für die mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder lässt sich die Frage nach der prägenden Rolle des „Politikerbes“ nicht eindeutig fassen. Der überwiegende Teil der empirischen Tests wurde und wird für westliche OECDStaaten durchgeführt. Demokratische Transformationsprozesse (Merkel 1999) könnten ihrerseits oben beschriebene Zusammenhänge beeinflussen. Zwar hat die doppelte Staatstransformation in Osteuropa alte legacies aufgebrochen, die als Möglichkeiten zum path switching verstanden werden können (vgl. z.B. Grimmeisen 2004), andererseits gewannen vorkommunistische Politiken auch nach 1989 als zu erneuernde Referenzfolien an Bedeutung.
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3.4.2 Schuldvermeidung „Blame-Avoidance“ Die Idee der Schuldvermeidung umfasst drei Strategien im engeren Sinne: Kompensation, Teilung und Verklärung. Bezogen auf Rentenreformen kommen alle drei zum Einsatz. Doch um welche „Schuld“ für politische Reformer geht es dabei? In Aldous Huxleys „Neuer Welt“ wären paradigmatische Rentenreformen kein Problem (Barr 2000: 27), doch das „Geschenk“ an die erste Generation durch die Einführung eines Umlageverfahrens in der Vergangenheit schiebt besagten Verteilungskonflikt vor sich her (und ist gesamtgesellschaftlich betrachtet nur ein scheinbares). Die bei der Umwandlung eines Umlageverfahrens in ein kapitalfundiertes Rentensystem entstehenden Transitionskosten („double payment“ (Myles/Pierson 2001)) lassen sich entweder durch die Reduzierung bestehender oder künftiger Rentenanwartschaften decken, oder über die Ausweitung des öffentlichen Haushaltes8 bestreiten. Im ersten Fall wird die Rentnergeneration, im zweiten Fall der heutige sowie künftige aktive Bevölkerungsanteil schlechter gestellt. Beim dritten Fall trägt (langfristig) die Allgemeinheit die Last. Vom Standpunkt ökonomischer Effizienz (Pareto-Optimalität) aus darf keine Bevölkerungskohorte gegenüber anderen schlechter gestellt werden; bezeichnenderweise verursachen diese Reformoptionen aber unterschiedlich große politische Kosten (Myles/Pierson 2001, Sinn/Uebelmesser 2002). Falls sich Reformen überhaupt durchsetzen lassen sollten, dann ist es aus politökonomischer Sicht wahrscheinlich, dass ein Teil der Transitionskosten über Verschuldung gedeckt werden dürfte, da künftigen Generationen das geringste gegenwärtige politische Gewicht zukommt (Galasso/Profeta 2002). Da dies in Zeiten von Haushaltskonsolidierung keine einfache Option darstellt9, erhöhen sich für politische Akteure die Anforderungen an die Zustimmungsfähigkeit ihrer Politikvorschläge. Anders ausgedrückt, der Druck konsensuale Lösungen (Müller 2003: 14, Schludi 2001, 2002) zu erzielen, oder Reformmaßnahmen zu „verschleiern“10, wird erhöht. 8
Privatisierungserlöse zählen ebenfalls zu dieser Kategorie. Insbesondere angesichts der künftigen, verpflichtenden Übernahme der Gemeinschaftswährung durch die EU-Neumitglieder. (Die Slowakische Republik ist bereits seit dem 01.01.2009 Mitglied der Währungsunion.) 10 Besonders interessant ist in dieser Hinsicht die Einführung so genannter virtueller Konten (notional defined contribution), wie sie in Italien, Schweden oder Polen eingeführt wurden. Entscheidungsträger haben hierbei mehr Mittel, das Ausmaß an künftigem Wohlfahrtsstaatrückbau zu „verschleiern“ (Brooks/Weaver 2003, Overbye 2008: 77ff.) und zugleich erwartetem Reformwiderstand gegenüber einer offenen Kapitalisierung zu entgehen. Vgl. für Deutschland Willert dieser Band, S. 167. 9
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Dennoch lässt sich in den Staaten Mittel- und Osteuropas im Vergleich zu den Staaten der OECD ein erstaunliches Ausmaß an Reformen im Bereich der Rentenpolitik beobachten (Fultz 2003, 2004, Fultz/Ruck 2001).11 Ökonomische wie demographische Reformimpulse, die auf politische Entscheidungsträger einwirken, werden von diesen als Anreize zur „BlameAvoidance“ wahrgenommen. Im politischen Entscheidungsverlauf werden diese Anreize aus Sicht der Akteure durch institutionelle Rahmenbedingungen „mediatisiert“ (Brooks 2002, Brooks/Weaver 2003, Weaver 2003).
3.5 Rational Choice Institutionalismus – strategische Verteilungskämpfe Aus der politikwissenschaftlichen Anverwandlung einer ökonomisch geprägten Herangehensweise entwickelte sich der Rational Choice Institutionalismus (RCI). Dieser Ansatz ist an der Schnittmenge mit der ökonomischen Theorie der Politik angesiedelt, also jener Richtung der (positiven) politischen Ökonomie12, die Kenneth Shepsle als Madisonian beschrieben hat (Shepsle 1999)13. Nicht ein potenziell zynisches Menschenbild stehe dabei im Vordergrund, sondern die Verwendung rationaler Handlungslogiken (Braun 1999) auf andere, u.a. politische Fragestellungen: „Processes of preference formation, preference revelation and preference aggregation follow a rationality based economic logic though they need not be described in terms of economic substance.” (Shepsle 1999: 6).
Diese von Kenneth Arrow, Anthony Downs, Mancur Olson und vor allem James Buchanan und anderen begründete „ökonomische Theorie der Politik“ überträgt die ökonomische Vorstellung des rent-seeking individueller Akteure in die Sphäre politischen Wettbewerbs.14 11
Aus Sicht der Volkswirtschaft siehe v.a. Müller 1999, 2002b, Schmähl 2002a, 2002b und Schmähl/Horstmann 2002. 12 Für Dietmar Braun ist denn RCI auch gleichbedeutend mit Institutionenökonomik (Braun 1999: 237). 13 Shepsle verwendet Gegensätze der amerikanischen Verfassungsväter James Madison und Alexander Hamilton als idealtypische Dichotomie einer wertneutralen politischen Ökonomie einerseits und einer auf Effizienzsteuerung ausgerichteten normativen Finanzwissenschaft andererseits. 14 Wohingegen beispielsweise die Ökonomen Gary S. Becker und Bruno S. Frey die ökonomische Betrachtungsweise von Allokationsentscheidungen unter Knappheit auf andere Lebensbereiche übertragen haben: Familie, Kunst, Ehrungen, etc. Für die Politikwissenschaft bedeutet die Herausbildung der ökonomischen Theorie der Politik, „[…] dass nach einer langer Periode der Theoriebildung mittlerer Reichweite – wieder an die Tradition der ‚grand theories’ […] angeknüpft wird“ (Braun 1999: 170, Hervorh. im Original).
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Bezogen auf Reformen des Wohlfahrtsstaates suchen diese Madisonians etwa nach den Folgen eines alternden Median-Wählers für das staatliche Angebot an sozialer Sicherung (Galasso/Profeta 2004) bzw. der vorhandenen (und v.a. abnehmenden) Reformmöglichkeiten (Sinn/Uebelmesser 2002, Uebelmesser 2004) oder aber versuchen Wohlfahrtspräferenzen aus Umfragedaten zu ermitteln (Boeri et. al. 2001, Kemmerling 2007). So postulieren diese Studien etwa, dass ein steigender Rentnerquotient bei umlagefinanzierten Arrangements zwar einerseits deren interne Rendite senke, sodass Bürger verstärkt für einen Politikwechsel optieren sollten. Andererseits führe ein steigendes Medianalter dazu, dass Rentenausgaben an Bedeutung für Entscheidungsträger zunehmen, sich somit umlagefinanzierte Systeme eher ausweiten sollten (Galasso/Profeta 2004: 67f., Sinn/Uebelmesser 2002). Wohlfahrtsstaatliche Institutionen erhalten darin meist eine geringe Bedeutung. Tatsächlich lässt sich der RCI insofern als Unter-, bzw. Nebenkategorie der ökonomischen Theorie der Politik begreifen, als damit institutionelle Veränderungsprozesse im Vordergrund stehen. „Politikwissenschaftlich“ ist dieser Ansatz insofern, als sich damit der Einfluss von Institutionen auf Handlungsentscheidungen untersuchen lässt. An dieser Stelle besteht folglich noch kein Unterschied zur historischen Variante. Gleichwohl wird dabei an der neoklassischen Axiomatik individueller, rationaler Nutzenmaximierung festgehalten. Die Präferenzen der Akteure sind im RCI folglich exogen und erstere sind es, die Douglass Norths „rules of the game“ (s.o.) vollständig bestimmen und steuern. Insofern gibt es insbesondere diesen feinen Unterschied zwischen dem RCI und der historisch-ökonomischen Konzeption von North (vgl. Aspinwall/Schneider 2000). Folglich variiert auch das Institutionenverständnis: Während der RCI einen sehr engen Institutionenbegriff verwendet, schließlich sind sämtliche durch Akteure kontrollierte Institutionen in erster Linie dazu geschaffen worden, um Koordinationsprobleme zu lösen, weitet sich das Verständnis, was Institutionen sein können entlang dem oben beschriebenen Agent-Struktur-Verhältnis – von Regeln im Allgemeinen, zu Wahrnehmungsmustern bis hin zu Symbolen (vgl. Williamson 2000). Nun zeigt sich auch die (wenn auch zerklüftete) Bruchlinie zwischen dem wirtschaftshistorisch entwickelten Ansatz von Douglass North (historischökonomisch) und dem sehr ähnlichen Ansatz der Vertreter des New PoliticsParadigmas um Paul Pierson (meist historisch-soziologisch): Pfadabhängigkeit ist beiden Ansätzen eigen, doch letztlich bleiben in seinem Verständnis Präferenzen stets exogen, so wie es die ökonomische Theorie der Politik allgemein postuliert.
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Im Paradigma der New Politics hingegen und auch bei vielen Untersuchungen der vergleichenden Wohlfahrtsforschung, die typologisch argumentieren, geht die von North zugestandene Wechselwirkung von Akteur und Institution weiter und formt ihrerseits die Präferenzen der Akteure, die dadurch endogenisiert werden. Folglich wird in diesen Ansätzen die ökonomische Restriktion relativiert. Institutionen wirken nicht mehr nur als ein allgemeiner Interaktionsrahmen, innerhalb dessen Akteure sonst unabhängig ihren Interessen nachgehen, sondern sie wirken zudem „identitätsstiftend“. Noch klarer werden die Unterschiede bei den erwarteten Ursachen für institutionellen Wandel und damit wohlfahrtsstaatliche Reformen: aus Sicht der rationalen Wahlhandlung entspricht beobachteter Wandel den Präferenzänderungen einzelner Akteure und ist somit das aggregierte Resultat von Einzelentscheidungen. In der historisch-ökonomischen Sichtweise kommen Organisationen als zusätzliche Akteure hinzu und lenken (tendenziell inkrementale) Änderungsprozesse entlang zuvor eingeschlagener „Pfade“. Aus der dritten Blickrichtung ist Wandel hingegen insbesondere angesichts von Krisen möglich, da nur dann jene Nutznießer der zu reformierenden Institutionen (hinreichende) Anreize entwickeln, den Status quo, das „punctuated equilibrium“ zu verlassen. Eine spezifische Form des RCI, die Anleihen der volkswirtschaftlichen Modellierung entnimmt, frühe Arbeiten des strategischen Wählens aufgreift, Präferenzen entlang von Indifferenzkurven räumlich darstellt und als Verhandlungssituation begreift, ist die Vetospielertheorie von George Tsebelis (Tsebelis 1995, 2002). Dieser Ansatz, der aus der allgemeinen vergleichenden Politikwissenschaft (comparative politics15) entstammt, sieht vornehmlich im politischen System die jeweiligen Handlungsspielräume für einzelne Akteure kodifiziert. Denn die in erster Linie formalen Institutionen wie Bikameralismus, ein föderaler Staatsaubau oder beispielsweise Anhörungspflichten gegenüber Sozialpartnern strukturieren als „Rules of the game“ zwar gewissermaßen das Spielfeld. Doch über die Verhandlungsergebnisse sagt demnach nicht nur ihre Zahl etwas aus, sondern auch die Abstände ihrer Präferenzen. So genannte Veto player sind dabei jene Akteure, deren Zustimmung angesichts eines Politikvorschlags unverzichtbar ist, um diesen durchzusetzen. Dessen eigene Präferenz stellt somit die maximale Abweichung gegenüber dem Status quo dar. Bereits in einfachen, eindimensionalen Modellen wird deutlich, dass somit zwar formal viele Vetopositionen (bzw. „Vetopunkte“, siehe (Bonoli 2000, 2001, Weaver 2003) existieren können (parlamentarische Demokratie, starke Stellung der Judikative, starke Verankerung korporatistischer Elemente, 15 Die vielfältigen Verzweigungen im „Stammbaum“ der vergleichenden Politikwissenschaft und ihre Ursprünge beschreibt Schmitter (2009: 37).
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etc.) und dennoch könnten theoretisch die Idealpunkte jener Akteure identisch sein, so dass die relevante Akteurszahl sich auf 1 reduzierte. Gleichwohl gilt als wesentliche Annahme, dass ein politisches System mit zahlreichen Vetospielern für Reformen des Wohlfahrtsstaates höhere Hürden errichtet, als bei einer geringen Anzahl dieser. Beim Vergleich von Rentenreformen in Deutschland und Österreich hat Busemeyer (2005) Belege dafür gefunden, dass die zahlreicheren Vetospieler im deutschen Fallbeispiel reduzierend auf die Einschnitte auswirkten, also eine geringere Reformreichweite zustande kam.16 Reformen bzw. ein „Reformstau“ lassen sich gut über den Einfluss von formalen wie informellen Begrenzungen der Mehrheitsherrschaft erklären. Und auch für die Sozialstaatsveränderungen in Mittel- und Osteuropa haben sich solch auf rationalen Wahlhandlungen beruhenden Ansätze als fruchtbar erwiesen. Allerdings wirken institutionelle Faktoren nicht alleine, sondern Akteurrationalitäten werden durch die jeweiligen „existierenden Problemlagen und Ressourcen der Regierungspolitik mitbestimmt“ (Schmidt/Ostheim 2007b: 70).
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Ausblick
Eine sinnvolle Verknüpfung der verschiedenen Ansätze kann den Großteil der Varianz wohlfahrtsstaatlicher Arrangements in den westlichen OECD-Staaten erklären. Für die jungen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa lohnt einerseits ein genauer Blick auf die durch Transformationsprozesse veränderten (ökonomischen wie politischen) Rahmenbedingungen und andererseits auf die größere Bedeutung internationaler Einflussfaktoren. Die Integration der jungen offenen Volkswirtschaften in die internationalen Finanzmärkte vollzog sich noch vor der EU-Mitgliedschaft und eröffnete insbesondere internationalen Finanzakteuren Zugang zu innenpolitischen Aushandlungsprozessen (s. Müller dieser Band, Orenstein 2008a). Indes bleiben trotz der hier vorgestellten Theorien der sozialen Sicherung bislang einige Forschungsfragen offen: Zum Einen lässt sich ein fundamentales Messbarkeitsproblem nicht leugnen, jenes der tatsächlichen abhängigen Variablen („dependant variable problem“ (vgl. z.B. Jochem 2007, Immergut/Anderson 2007)): Soll nämlich institutioneller Wandel erfasst werden, ist der Bezug auf Ausgabengrößen wie in der Staatstätigkeitsforschung potenziell irreführend (vgl. v.a. Allan/Scruggs 2004, Schmidt et. al. 2007). Ein hohes Ausgabenniveau für den Sozialschutz kann etwa im Fall eines skandinavischen Wohlfahrtsstaates 16
In einer breit angelegten Studie konnten allerdings Immergut et. al. (2007) keine allgemein gültige Bestätigung für die Vetospielertheorie bei Rentenreformen nachweisen.
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zugleich an hohes Wirtschaftswachstum gekoppelt sein, während es in einem liberalen System ein Zeichen für Ineffizienz sein könnte. Der Fokus auf die Entwicklung von Haushaltsgrößen (und deren Bestimmungsfaktoren) kann folglich unterstellte Effekte verzerren. Zum Anderen steht speziell für Rentenreformen im Raum, ob „Wandel“ per se eine sinnvolle Untersuchungskategorie ist. Unter welchen Umständen findet tatsächlich ein „systemic change“ statt und wann „lediglich“ ein quantitatives „Retrenchment“? Im erwähnten Vergleich deutscher und österreichischer Reformerfahrungen stellt Busemeyer fest, dass die Einführung der Riester-Rente zwar nur einen geringen Wohlfahrtsabbau darstellt, aber als ein tatsächlicher Systemwechsel bezeichnet werden könne. Dagegen seien in Österreich tiefere Einschnitte17 innerhalb des bestehenden Systems vorgenommen worden (Busemeyer 2005, Hinrichs 2007).18 Daher müsse, schlussfolgern Immergut und Anderson, die übliche Dichotomie bei der Beurteilung von Rentenreformen in parametrisch versus paradigmatisch qualifiziert werden und stattdessen genauere Veränderungen und Umschichtungen innerhalb der jeweiligen Sicherungselemente abbilden (Immergut/Anderson 2007).19 Schließlich werde, so lautet ein abschließender Vorwurf an die Theoriebildung, bei der Bewertung von Rentenreformen selten die veränderte Risikoverteilung zwischen Solidargemeinschaft und Individuum berücksichtigt (vgl. Casey 2004, Arza 2008), die eine nichtmonetäre Kostenverteilung darstellt, daher schwierig zu quantifizieren ist, aber dennoch ihrerseits meist eine Lastenverteilung im Sinne wohlfahrtsstaatlichen Rückbaus darstellt (Hacker 2004). Somit vollzieht sich mal sichtbar, mal kaum wahrgenommen, ein kontinuierlicher Wandel von der Rentenversicherungs- zur Alterssicherungspolitik. Literaturverzeichnis Allan, James P./Scruggs, Lyle (2004): Political Partisanship and Welfare State Reform in Advanced Industrial Societies. In: American Journal of Political Science 48. 3. 496512 17 Allerdings postulierte der österreichische Reformkonsens, dass die Einschnitte nicht über 10 % hinausgehen dürften (Martin/Whitehouse 2008: 18). 18 Karl Hinrichs hingegen sieht für den deutschen Fall Beides zutreffend. Demnach wird die Einführung der (freiwilligen!) Riester-Rente in ihrer Wirkung unterschätzt, und kommt auch in ihrem Umfang im Grunde einem tatsächlichen Systemwechsel gleich, welcher zudem nicht als solcher deklariert, sondern verschleiert wurde. S. a. Willert dieser Band. 19 Statt der in englischen Publikationen üblichen, synonymen Verwendung von „pillar“ und „tier“ trennen sie Rentensysteme in einzelne Säulen „pillar“ (wer stellt die Sicherung bereit: öffentlich, betrieblich, etc.?) und in Schichten „tier“ (wie wird die Sicherung organisiert: Mindest-, Einkommenssicherung, etc.?) s. Immergut/Anderson (2007: 23).
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II. Rentenreformen – Stand und Entwicklung
Die Politische Ökonomie der Rentenprivatisierung Erfahrungen aus Mittel- und Südosteuropa Katharina Müller
1
Einleitung
Demographische Trends und die Aushöhlung der erwerbsarbeitszentrierten Beitragsgrundlage stellen die Finanzierbarkeit umlagefinanzierter Alterssicherungssysteme und die Tragfähigkeit des zugrunde liegenden Generationenvertrags vielerorts auf die Probe. Das Gros der volkswirtschaftlichen und politikwissenschaftlichen Literatur zur Politischen Ökonomie der Rentenreform betont indes – bedingt durch ihren Fokus auf westliche Industrieländer – bis heute die bemerkenswerte Stabilität rentenpolitischer Arrangements und die Unwahrscheinlichkeit eines fundamentalen Systemwechsels in der Alterssicherung.1 Demgegenüber zeigt die rentenpolitische Empirie in Osteuropa und Lateinamerika allerdings ein anderes Bild. In beiden Weltregionen ist seit Anfang der neunziger Jahre eine Welle radikaler Rentenreformen zu beobachten, die mit der (Teil)Privatisierung der Alterssicherung und dem Übergang vom Umlage- zum Kapitaldeckungssystem bis heute mehr als zwanzig Staaten erfasst hat (Müller 2004; Mesa-Lago 2004). Dabei fiel das jeweilige Mischungsverhältnis zwischen Staat und Markt, Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung, individualisierter und intergenerational organisierter Vorsorge durchaus unterschiedlich aus. In einigen Staaten, wie etwa beim Vorreiter Chile, wurde das umlagefinanzierte, staatliche Alterssicherungssystem geschlossen und durch private, kapitalgedeckte Pensionsfonds ersetzt (substitutives Modell). In einer weiteren Gruppe von Staaten wurde das staatliche Umlagesystem mit einer privaten Pensionsfondssäule auf obligatorischer Basis kombiniert (gemischtes Modell). Andernorts wurde den Versicherten eine Wahlmöglichkeit zwischen beiden obligatorischen Systemen eingeräumt (paralleles Modell). Während in Lateinamerika der substitutive Ansatz dominiert, ist in Osteuropa das gemischte Modell vorherrschend. Trat der rentenpolitische Paradig1
Vgl. Pierson (2001: 416), demzufolge Umlagesysteme „highly resistant to radical reform“ sind.
96
Katharina Müller
menwechsel in Ungarn, Polen, Lettland, Estland, Litauen, Bulgarien, Kroatien und der Slowakei bereits zwischen 1998 und 2005 in Kraft (siehe Tabelle 1), so befindet sich die Teilprivatisierung der Alterssicherung in Mazedonien, Russland und weiteren Transformationsländern in Vorbereitung. Dieser Aufsatz untersucht, unter welchen Bedingungen es zu den radikalen Rentenreformen und dem fundamentalen Paradigmenwechsel in der Alterssicherung Mittel- und Südosteuropas kommen konnte. Dieser Frage wird hier am Beispiel von vier Reformfällen aus der Region nachgegangen: Ungarn, Polen, Kroatien und Bulgarien. Diese Fälle wurden mit Hilfe einer Forschungsheuristik untersucht, die auf den bisherigen Forschungsergebnissen zur Politischen Ökonomie von Reformen im Allgemeinen und der Politischen Ökonomie der Rentenprivatisierung im Besonderen basiert.2 Mit den Möglichkeiten und Grenzen der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Reformen beschäftigen sich Wissenschaftler bereits seit Anfang der neunziger Jahre. Anfangs stand die politische Durchsetzbarkeit radikaler Strukturanpassungsprogramme und des sogenannte Washington Consensus (Williamson 1990) in Entwicklungsländern im Vordergrund der Analysen.3 Inzwischen ist unter dem Stichwort political economy of policy reform ein interdisziplinäres Forschungsfeld entstanden, das sich sehr unterschiedlicher Methoden bedient und seinen geographischen Fokus auch auf die Transformationsländer und OECD-Staaten ausgedehnt hat.4
2
Die hier vorgestellte Analyse präsentiert einen Ausschnitt eines durch die Volkswagen-Stiftung geförderten und am Frankfurter Institut für Transformationsstudien (FIT) der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) durchgeführten Forschungsprojektes. Für eine ausführliche Darstellung des Forschungsansatzes und der Ergebnisse vgl. Müller (2003a). Siehe auch Müller (1999). 3 Vgl. etwa Bery (1990), Whitehead (1990) und Krueger (1993). 4 Vgl. etwa Williamson (1994), Sturzenegger/Tommasi (1998), Drazen (2000) und Krueger (2000).
2001 Gemischt
Reformtyp
Mitgliedschaft in der privaten Säule
Reformstart
obligatorisch für alle ab Jg. 1960, einen Teil des Pflichtbeitrags in der Privatsäule zu investieren
obligatorisch für alle ab Jg. 1972, optional für die Jg. 19521971, einen Teil des Pflichtbeitrags in der Privatsäule zu investieren
Gemischt
2002
2% (später 5%)
Individuell Kapitalgedeckt
Individuell kapitalgedeckt
Ausgestaltung der privaten Säule
2% (später 10%)
Umlagesystem mit Rentenpunkten
Virtuelles Beitragsprimat (NDC)
Ausgestaltung der staatlichen Säule
Gemischt
2002
6%
obligatorisch für alle ab Jg. 1983, optional für alle anderen, einen Teil des Pflichtbeitrags in der Privatsäule zu investieren
Individuell kapitalgedeckt
Traditionelles Umlagesystem
Estland
Gemischt
2002
5%
obligatorisch für alle ab Jg. 1963, optional für die Jg. 1952-1962, einen Teil des Pflichtbeitrags in der Privatsäule zu investieren
Individuell kapitalgedeckt
Umlagesystem mit Rentenpunkten
Kroatien
Gemischt
2004/2005
2,5% (später 5,5%)
optional für alle Versicherten, einen Teil des Pflichtbeitrags in der Privatsäule zu investieren
Individuell kapitalgedeckt
Traditionelles Umlagesystem
Litauen
Gemischt
2005
9%
obligatorisch für alle Berufsanfänger, optional für alle anderen Versicherten, einen Teil des Pflichtbeitrags in der Privatsäule zu investieren
Individuell kapitalg.
Umlagesystem mit Rentenpunkten
Slowakei
Tab. 1:
An die private Säule abgeführter Beitragssatz
Bulgarien
Lettland
Die Politische Ökonomie der Rentenprivatisierung
97
Rentenprivatisierung in Osteuropa (Quelle Müller 2005b; ergänzt)
98
Katharina Müller
2
obligatorisch für alle Berufsanfänger, optional für alle anderen Versicherten, einen Teil des Pflichtbeitrags in der Privatsäule zu investieren
6% (später 8%)
1998
Gemischt
Mitgliedschaft in der privaten Säule
An die private Säule abgeführter Beitragssatz
Reformstart
Reformtyp
Gemischt
Individuell kapitalgedeckt Ausgestaltung der privaten Säule
1999
Virtuelles Beitragsprimat (NDC) Individuell kapitalgedeckt Traditionelles Umlagesystem Ausgestaltung der staatlichen Säule
7,3%
Polen
obligatorisch für alle ab Jg. 1970, optional für die Jg. 19491969, einen Teil des Pflichtbeitrags in der Privatsäule zu investieren
Rentenprivatisierung in Osteuropa – Fortsetzung
Ungarn
Tab. 1:
Neue Rentenreformmodelle und ihr supranationaler Transfer
Die Welle sehr ähnlicher Reformen, die sich im Bereich der Alterssicherung beobachten lässt, deutet auf eine gemeinsame Inspirationsquelle bzw. einen supranationalen Transfermechanismus hin. In der Tat lässt sich eine sog. „neue Rentenorthodoxie“ (Lo Vuolo 1996) identifizieren, die den Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren propagiert.5 Seit Mitte der neunziger Jahre hat sich diese Orthodoxie international als dominante epistemische Gemeinschaft konstituiert, d.h. als Expertennetzwerk, das einem gemeinsamen politischen Projekt verpflichtet ist, normative und kausale Anschauungen teilt, ähnliche Argumentationsmuster verwendet und dieselben diskursiven Praktiken einsetzt.6 Innerhalb dieser epistemischen Gemeinschaft spielt die Weltbank, die seit zehn Jahren dezidiert für eine (Teil-)Privatisierung der Alterssicherung eintritt, eine Schlüsselrolle. Dabei ist „Averting the Old Age Crisis“ (World Bank 1994) 5 Einen kritischen Überblick über den Diskurs der Wegbereiter der „neuen Rentenorthodoxie“ – konservative Sozialstaatskritiker wie Hayek, Friedman, Tullock und Feldstein – gibt Hirschman (1991). 6 Zur Rolle von epistemischen Gemeinschaften bei der transnationalen Übertragung von Politikmodellen vgl. Haas (1992) und Adler/Haas (1992).
Die Politische Ökonomie der Rentenprivatisierung
99
nach wie vor die wohl prominenteste rentenpolitische Studie der Bank.7 Ihre Politikempfehlungen haben insbesondere in hoch verschuldeten Entwicklungsund Transformationsländern ein erhebliches Gewicht. Im Bereich der Rentenprivatisierung bietet die Bank nicht nur Kredite und Konditionalitäten, sondern auch einen Transfer von Spezialwissen an. Darüber hinaus haben sich auch der Internationale Währungsfonds (IWF), die US Agency for International Development (USAID) und die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) in der rentenpolitischen Arena engagiert, allerdings weit weniger prominent als die Weltbank. Warum fiel die Reformagenda der neuen Rentenorthodoxie nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Osteuropa auf fruchtbaren Boden? Die Transformationsländer vollzogen in den neunziger Jahren den Übergang von einem staatsinterventionistischen zu einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftsmodell und waren dabei maßgeblich von den Politikempfehlungen des neoliberalen Washington Consensus geprägt. Ein Übergang vom Staat zum Markt ist auch den Vertretern der „neuen Rentenorthodoxie“ ein zentrales Anliegen. Also stieß die Rentenprivatisierung in der Region auf ein günstiges politisches Umfeld, da sie gegenüber der dominanten politischen Agenda „anschlussfähig“ war.8 Im Kontext der Transformationsländer war allerdings der direkte Transfermechanismus – das policy learning vom globalen Präzedenzfall Chile9 – eher schwach ausgeprägt. Mit Ausnahme Kroatiens und Kasachstans, wo sich die Rentenreformer in einem autoritären Kontext jeweils explizit auf das chilenische Vorbild bezogen, war Chile bei Sozialexperten und Bevölkerung der meisten anderen Transformationsländer infolge der Pinochet-Diktatur sehr negativ konnotiert (Orenstein 2000; Müller 2003a). Darüber hinaus galt Lateinamerika auch aufgrund seines Charakters als Entwicklungsregion vielen Osteuropäern nicht als geeignetes Vorbild – schließlich orientierte man sich in Osteuropa in Richtung EU- und OECD-Beitritt (Müller 2001). Den faktischen Modelltransfer vom Süden in den Osten in Form einer massiven Replikation der lateinamerikanischen Rentenreformmodelle in den Transformationsländern hätte es ohne die aktive Vermittlerrolle der Weltbank – der es gelang, die lateinamerikanischen Präzedenzfälle politisch aufzuwerten – also wohl kaum gegeben. Die Weltbank stellte sich jedoch nicht nur hinter die Vorbilder aus dem Süden (World Bank 1994; Vittas 1997), sondern förderte den 7 Zehn Jahre nach der Publikation dieser Studie hat die Weltbank ihre Position kürzlich neu formuliert, ist aber nach wie vor von den Vorzügen privater kapitalgedeckter Systeme überzeugt (Holzmann et al. 2005). 8 Die Privatisierung der Alterssicherung war ursprünglich kein Bestandteil des Washington Consensus, wurde jedoch im Verlauf der neunziger Jahre faktisch integriert. 9 Chile war 1981 weltweit das erste Land, das einen Übergang vom staatlichen Umlagesystem zu privater Kapitaldeckung in Gang setzte.
100
Katharina Müller
interregionalen Austausch auch durch die Einladung polnischer und bulgarischer Parlamentarier, Sozialexperten, Gewerkschafter und Journalisten nach Chile und Argentinien. Nichtsdestotrotz verzichteten die osteuropäischen Rentenreformer in der Regel auf den expliziten Bezug auf die lateinamerikanischen Vorbilder und gaben den radikalen Paradigmenwechsel gern als lokales Spezifikum aus (so etwa Rutkowski 1998).
3
Pfadabhängigkeiten und Reform begünstigende Krisen
Bei der Erklärung des Verlaufs von Sozialreformen wird häufig nach möglichen Pfadabhängigkeiten bzw. policy feedback gefragt: Inwiefern könnte das bestehende institutionelle Erbe und frühere politische Weichenstellungen die Reformentscheidungen und -ergebnisse beeinflusst haben? „Existing policies can set the agenda for change (…) by narrowing the range of feasible alternatives“ (Pierson/Weaver 1993: 146).10 Bei Reformen des Umlagesystems wird meist die sogenannte implicit pension debt (IPD) als relevante Größe angesehen. Die Höhe der IPD wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst, darunter dem Deckungsgrad des Rentensystems, der Dauer seines Bestehens, der Ausgestaltung der Rentenformel und der demographischen Situation (Mesa-Lago 2000). Das Ausmaß der IPD – d.h. die Summe der zum Zeitpunkt der Reform im Umlagesystem erworbenen Rentenansprüche – wird dann häufig dafür verantwortlich gemacht, wie weitgehend der rentenpolitische Paradigmenwechsel ist: Da diese impliziten Verbindlichkeiten beim Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren explizit gemacht werden, kann eine hohe IPD aufgrund der resultierenden fiskalischen Belastung die Entscheidung für einen besonders weitgehenden Paradigmenwechsel erschweren, wie ihn v.a. das substitutive Modell darstellt (Orenstein 2000; James/Brooks 2001). Die IPD-Hypothese liefert eine mögliche Erklärung für die bereits erwähnte Dominanz des gemischten Modells in den Transformationsländern, wo in der sozialistischen Zeit die gesamte Erwerbsbevölkerung rentenversichert und somit eine hohe IPD aufgelaufen war (siehe Tabelle 2). Bei dieser Argumentation darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Höhe der IPD alles andere als ein fixer Parameter ist: „The ability of governments to change the rules breaks the equivalence between implicit and explicit liabilities“ (Barr 2000: 15). So lässt sich die Höhe der IPD durch das Reformdesign reduzieren, indem die vor der Rentenprivatisierung gegenüber den Versicherten bereits aufgelaufenen Verbindlichkeiten nur teilweise anerkannt werden (Müller 2003a). Diese unvoll10
Siehe auch Pierson (1993, 2000).
101
Die Politische Ökonomie der Rentenprivatisierung
ständige Anerkennung der bestehenden Rentenansprüche – zu Lasten der künftigen Rentnergeneration – wird damit gerechtfertigt, dass sie dazu beitrage, die beachtlichen fiskalischen Kosten der Rentenprivatisierung zu minimieren (James 1998; Palacios/Rutkowski/Yu 1999). Ein Topos in der Literatur zur Politischen Ökonomie von Reformen ist der benefit of crises (Drazen/Grilli 1993: 598). Diese Hypothese postuliert, dass reformbegünstigende Krisen politische Kontrahenten dazu veranlassen können, sich auf unpopuläre Maßnahmen zu einigen. Im Bereich der Reform der Alterssicherung können solche Krisen unterschiedliche Formen annehmen – auch jenseits der konkreten Finanzlage des staatlichen Umlagesystems. Die zu beobachtenden Krisenszenarios können vorwiegend makroökonomischer und/oder fiskalischer Natur sein bzw. mit einer hohen Auslandsverschuldung einhergehen (siehe Tabelle 2 und 3). Tab. 2:
Der Reformkontext im Vergleich
Über 60jährige / 20-59jährige (%) a Beitragzahler (in % der Erwerbsbevölkerung) a Implizite Rentenschuld (IPD) (in % des BIP) Öffentliche Rentenausgaben (in % des BIP) a Staatliches Haushaltsdefizit (in % des BIP) b Auslandsverschuldung (in % des BIP) b Freedom House Country Rating c
Ungarn 35,1 77,0
Polen 29,4 68,0
Kroatien 37,6 66,0
Bulgarien 38,5 64,0
213
220
350
n.a.
9,7
14,4
11,6
7,3
-6,7
-2,8
-1,3
-4,3
66,3
43,8
32,1
88,7
1,2
1,2
4,4
2,3
a
Mitte der neunziger Jahre, b Vierjahresdurchschnitt vor Reform, cIm Reformjahr. Je niedriger der Wert, desto größer die politische Freiheit. Quellen: Müller (2003b; 2005a).
In den hier untersuchten Fällen lagen teilweise unterschiedliche Krisenmuster vor (vgl. Tabelle 2 und 3). In fast allen der betrachteten Staaten waren vor der Rentenprivatisierung die Haushaltsdefizite und die Rentenausgaben hoch. Auch die Auslandsverschuldung hatte in den meisten Fällen ein krisenhaftes Ausmaß erreicht. Zudem ging in Ungarn und Bulgarien der Rentenprivatisierung eine schwere Wirtschaftskrise voraus. In Bulgarien begünstigte darüber hinaus die Einführung eines rigiden Geld- und Wechselkursregimes (currency board) den Sozialabbau. In Kroatien waren zwar die Haushaltsdefizite niedrig und die Auslandsverschuldung gering, doch verzeichnete das Land hohe, steigende Renten-
102
Katharina Müller
ausgaben und wies nach Bulgarien den höchsten Altenkoeffizient und den niedrigsten Beitragzahleranteil der betrachteten Staaten auf. Tab. 3:
Reform begünstigende Krisen im Vergleich
Ungarn Polen Kroatien Defizit im Renja n.a. ja tensystem Staatliche Ren- hoch; fallend hoch; konstant hoch; steigend tenausgaben (in % des BIP) Staatliches hoch; konhoch; konstant niedrig; steiHaushaltsdefizit stant gend Wirtschaftskrise Ja nein nein moderat sehr hoch niedrig Auslandsverschuldung a sonstige releerste posterste postkom- Krieg und intervante Kontextkommunimunistische nationale Isolafaktoren stische Re- Regierung nach tion; Gerichtsgierung nach 1989; Gerichts- verfahren gegen 1989 verfahren gegen LeistungskürLeistungskürzungen zungen
Bulgarien ja hoch; konstant hoch; fallend ja sehr hoch currency board b
a
Weltbank-Klassifizierung zur Zeit der Reform Währungsregime, das die Geld- und Wechselkurspolitik faktisch außer Kraft setzt und eine Haushaltskonsolidierung zwingend erfordert. Quellen: Müller (2003b; 2005a).
b
Krisen können Akteurkonstellationen nachhaltig verändern. Im Falle der Rentenprivatisierung lässt sich beobachten, dass sie die Position der internen und externen Befürworter des radikalen Paradigmenwechsels stärken, wie im Folgenden näher ausgeführt wird.
4
Akteurkonstellationen, politischer Handlungsspielraum und Politikstile
Radikale Rentenreformen werden dann politisch durchsetzbar, wenn Weltbank und Finanzministerium Einfluss auf die rentenpolitische Paradigmenwahl nehmen können, so dass das Sozialministerium die Reformagenda nicht allein bestimmt (Müller 2003a). Ein besonders großer Handlungsspielraum für diese
Die Politische Ökonomie der Rentenprivatisierung
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prominenten externen und internen Vertreter einer Rentenprivatisierung geht i.d.R. mit einer Krisensituation einher. Die Einflussmöglichkeiten der Weltbank wachsen mit dem Ausmaß der Auslandsverschuldung eines Landes. Dabei ist das Gewicht der internationalen Finanzinstitutionen nicht ausschließlich an ihrem eigenen finanziellen Engagement zu messen. Vielmehr senden sie bedeutende Signale an die Finanzwelt, die die allgemeine Kreditwürdigkeit eines Landes verbessern oder verschlechtern können (Zecchini 1995; Stiglitz 1998). Zwei der vier Untersuchungsländer waren zum Zeitpunkt der Rentenprivatisierung von sehr hoher Auslandsschuld betroffen, in einem weiteren war sie moderat (vgl. Tabellen 2 und 3). In einem solchen Kontext kann die vollständige oder teilweise Privatisierung der Alterssicherung als politisches Signal für eine orthodoxe Wirtschafts- und Sozialpolitik gelten.11 Einzig in Kroatien war die Verschuldung niedrig; dort machte allerdings die politische Isolation des autoritären Tudjman-Regimes die internationalen Finanzinstitutionen zu wichtigen Bündnispartnern. In Kroatien und Polen wurden die Rentenreformteams sogar jeweils von einem Weltbankvertreter geleitet, so dass sich dieser internationalen Finanzinstitution besonders direkte Einflussmöglichkeiten auf die lokale Rentenreformagenda eröffneten. Doch kann die Initiative der Weltbank allein den radikalen Paradigmenwechsel nicht veranlassen – hierzu sind vielmehr lokale Bündnispartner vonnöten. Das Wirtschafts- und Finanzressort ist meist der wichtigste lokale Befürworter eines Übergangs zum Kapitaldeckungsverfahren, unterstützt von lokalen und internationalen Finanzmarktakteuren. Die spezifische Ressortlogik begünstigt eine direkte Anknüpfung an die inhärent makroökonomische Agenda der Rentenprivatisierer (Müller 1999). Der rentenpolitische Paradigmenwechsel wird jedoch nur dann unterstützt, wenn die fiskalischen Übergangskosten vom Umlage- zum Kapitaldeckungssystem als tolerabel angesehen werden bzw. sich hierfür interne oder externe Finanzierungsmöglichkeiten finden lassen (Müller 2002).12 Bestehende fiskalische Probleme bzw. finanzielle Ungleichgewichte im staatlichen Rentensystem, wie sie sich in den Untersuchungsländern fanden (vgl. Tabelle 3), stärken meist die Rolle des Finanzministers im Kabinett. In Polen, Ungarn und Kroatien spielte das Finanzministerium eine besonders wichtige Rolle bei der Durchsetzung der Rentenprivatisierung. 11
Bei internationalen Rating-Agenturen geht die Privatisierung der Alterssicherung als positiver Faktor in die Bewertung des Länderrisikos ein, trotz der damit verbundenen fiskalischen Belastung. Zum „signaling“ siehe auch Rodrik (1998). 12 Offenbar haben die internationalen Finanzinstitutionen ihre Position gegenüber Haushaltsdefiziten modifiziert, die aus einem Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren resultieren. So argumentierte die Weltbank im ungarischen Fall: „the transitional deficit is not a fiscal deficit in the usual sense“ (World Bank 1999: 44). Ähnlich positionierte sich der IWF im Fall Kroatiens (IMF 1998: 62).
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Das Sozial- bzw. Wohlfahrtsministerium mit seiner traditionellen Orientierung an den Bismarck- bzw. Beveridge-Modellen leistete häufig, aber durchaus nicht immer Widerstand gegen einen radikalen Paradigmenwechsel in der Alterssicherung. Die Fallstudien lösen diesen vermeintlichen Widerspruch auf, indem sie folgendes Politikmuster aufzeigen: Das Sozialressort in Ungarn, Polen und Bulgarien zählte zunächst zu den Reformgegnern, verlor dann jedoch den Machtkampf im Kabinett gegen das Finanzministerium. In den beiden letztgenannten Ländern wurden daraufhin neue Sozialminister eingesetzt, die bereits ex ante auf den Rentenprivatisierungskurs eingeschworen worden waren. Eine weitere Strategie zur Umgehung des Widerstands des Sozialressorts war die Bildung kleiner Reformteams, die nicht dem Sozialministerium, sondern dem Finanzministerium oder dem Premierminister unterstellt waren. Die Teams waren meist nicht mit den lokal etablierten Sozialrechtlern besetzt, sondern mit im Ausland (v.a. den USA) ausgebildeten Ökonomen. Auch diese personelle und disziplinäre Neukonstituierung der relevanten Expertenteams erleichterte den Paradigmenwechsel von der „alten“ zur „neuen“ Schule. Linken Parteien und Gewerkschaften – traditionellen Gegnern des Sozialabbaus – kam ebenfalls nicht automatisch eine Oppositionsrolle zu. So waren die ersten postkommunistischen Regierungen Polens und Ungarns nach 1989 in den hier untersuchten Fällen für die vollständige oder teilweise Rentenprivatisierung verantwortlich.13 Linke Regierungen waren einem besonders starken externen Druck ausgesetzt, sich auf marktwirtschaftliche Reformen einzulassen. In Polen und Ungarn konnten sie außerdem wichtige Teile der Gewerkschaftsbewegung kooptieren. Bisweilen wurde die Zustimmung der Gewerkschaften zur Privatisierung der Alterssicherung auch durch die Zuhilfenahme materieller Anreize befördert. So wurden Gewerkschaften etwa in Bulgarien durch die Verwaltung eigener Pensionsfonds als stakeholder in die Rentenprivatisierung eingebunden.14 In Polen beteiligte sich die Gewerkschaft Solidarnosc mit einem Vorschlag zur teilweisen Privatisierung der Alterssicherung bereits frühzeitig an der konzeptionellen Debatte. In zwei der untersuchten Länder – Polen und Kroatien – ist eine Konstellation unintendierter Effekte zu beobachten. Eine besonders erfolgreiche Opposition gegen geplante parametrische Rentenreformen unter Zuhilfenahme von Gerichtsverfahren bis hin zur verfassungsrechtlichen Ebene zementierte den 13
Das Phänomen der sog. „unlikely administrations“, wie es sich etwa bei der Durchführung neoliberaler Reformen durch linke Regierungen zeigt, wird in der Literatur als „Nixon-in-China syndrome“ bezeichnet (Cukierman/Tommasi 1998; Ross 2000). 14 Andernorts zogen Reformer und Gewerkschaften es jedoch vor, auf diese Option zu verzichten; erstere, da sie den Gewerkschaften kein effizientes Pensionsfondsmanagement zutrauten, und letztere, da sie ihre Rolle als Arbeitnehmervertreter, nicht als Unternehmer sahen (Müller 2003a).
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rentenpolitischen Status quo im Umlagesystem und verhinderte die rechtzeitige Nutzung der vorhandenen Stellschrauben (vgl. Tabelle 3). Was zunächst ein maßgeblicher politischer Erfolg von Rentnerverbänden und Gewerkschaften zu sein schien, wirkte mittelfristig extrem Kosten treibend, während gleichzeitig die verfügbaren Anpassungsmechanismen im Umlagesystem erheblich beschnitten wurden. Da die politischen Alternativen also blockiert waren, wurde durch diesen Widerstand gegen weniger radikale Rentenreformen letzten Endes der Paradigmenwechsel in der Alterssicherung befördert. Was den politischen Handlungsspielraum der Regierungen betrifft, so verfügten diese in Bulgarien und Ungarn bei der Verabschiedung der Rentenreform über eine komfortable parlamentarische Mehrheit. In Kroatien kontrollierte das autoritäre Tudjman-Regime mit seiner Hrvatska demokratska zajednica (HDZ) das Parlament. Wie eine Analyse der zu beobachtenden Politikstile15 zeigt, rekurrierte das Tudjman-Regime bei der Durchsetzung der Rentenprivatisierung auf den Mandatismus, eine wenig partizipative Spielart der Reformpolitik (Müller 2003a). In Ungarn war eine Kombination aus Mandatismus und Korporatismus zu beobachten. Lediglich in Bulgarien und Polen kamen dezidiert parlamentaristische bzw. korporatistische Politikstile zum Tragen. Eine unzureichende Konsensbildung kann im Verbund mit der Dominanz kleiner Technokratenteams im Reformprozess indes die politische Nachhaltigkeit der radikalen Rentenreformen gefährden.16 Überdies wurden einige der betrachteten Reformen äußerst übereilt verabschiedet und umgesetzt, um ein politisches window of opportunity zu nutzen. Die unzureichende Zeit zur Reformvorbereitung zog v.a. in Polen erhebliche Implementierungsprobleme nach sich, die bis heute – mehr als sieben Jahre nach dem Reformstart – nicht vollständig behoben sind (Müller 2003a). Die anhaltenden Schwierigkeiten waren nicht geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in das neue Rentensystem zu stärken.
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Schlussbemerkungen
Diese intraregional vergleichende Analyse des jüngsten rentenpolitischen Paradigmenwechsels in Osteuropa hat gezeigt, dass entgegen der gängigen Annah15 Bresser Pereira/Maravall/Przeworski (1993) unterscheiden bei der Durchsetzung von Reformpolitik vier verschiedene Politikstile: der Dekretismus beruht vorwiegend auf Präsidentialdekreten; der Mandatismus macht sich eine parlamentarische Mehrheit zunutze, um kontroverse Gesetze ohne Verhandlungen mit der Opposition durchzusetzen; während Parlamentarismus und Korporatismus intensive Verhandlungen mit der innerparlamentarischen Opposition bzw. sozialen Gruppen beinhalten. 16 Siehe hierzu auch Stiglitz (2000).
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men in der Wohlfahrtsstaatsliteratur eine Privatisierung der Alterssicherung durchaus politisch durchsetzbar sein kann – und zwar nicht nur unter Pinochet und Tudjman. Ein radikaler Paradigmenwechsel vom Umlage- zum Kapitaldeckungssystem erwies sich in der Region auch in einem demokratischen Kontext als möglich, wenn auch begleitet von teilweise wenig partizipativen Politikstilen. Dass mit dem neuen Rentenmodell allerdings auch eine adäquate Antwort auf die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen im Bereich der Alterssicherung gefunden worden ist, scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt mehr als fraglich.17
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Für eine kritische Zwischenbilanz siehe Fultz (2004) und Müller (2004).
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Katharina Müller
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Die polnische Altersrentenreform von 1999 Welche Lehren können andere Länder aus den polnischen Erfahrungen ziehen?
Joanna Ratajczak-Tucholka
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Einführung
Die Altersrentensysteme bilden insbesondere seit Anfang der 1990-er Jahre ein wichtiges Diskussionsthema sowohl auf der staatlichen, als auch auf der EUEbene. Ein wichtiger Grund dafür sind vor allem finanzielle Probleme der obligatorischen Systeme, die sich teilweise aus der demographischen Alterung der Gesellschaft ergeben. Obwohl dieser Aspekt von großer Bedeutung ist, sollte man die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und deren prägenden Einfluss auf die Anpassung der Altersrentensysteme nicht übersehen. Polen gehört zu jenen Staaten, die Ende der 1990-er Jahre eine paradigmatische Altersrentenreform durchgeführt haben. Es wurden zwei obligatorische Säulen des Systems gegründet (die sog. 1. und 2. Säule), aus denen beitragsorientierte Altersrenten geleistet werden, die aber unterschiedlich finanziert werden (Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren). Gleichzeitig wurden viele Elemente des sozialen Ausgleichs abgebaut, wobei man die Eigenverantwortung im Rahmen der freiwilligen Altersvorsorge (der sog. 3. Säule) als Antwort darauf erwecken wollte. Im Hinblick auf die Reformüberlegungen anderer Staaten (insbesondere der alten EU-Länder) drängt sich die Frage auf, was man aus den polnischen Erfahrungen bezüglich des Altersrentensystemwechsels1 lernen könnte. Im vorliegenden Aufsatz werden einige Hinweise dazu gegeben: Der Ausgangspunkt für die Beschreibung und Umsetzung der Altersrentenreform von 1999 ist ein kurzer Überblick über das alte polnische Rentensystem. Danach werden die ersten Erfahrungen aus der Zeit nach der Umsetzung der Reform dargestellt (siehe statistische Quellen). Daraus werden Schlussfolgerungen für eventuelle Nachahmer des polnischen Konzeptes gezogen. 1 Polens System der sozialen Sicherheit besteht aus dem Sozialversicherungs-, Gesundheits- und Arbeitslosenversicherungssystem und der Sozialhilfe. Alle sind organisatorisch und finanziell getrennt. Das Sozialversicherungssystem umfasst Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenrenten, Krankengeldversicherung (Krankengeld, Mutterschutz- und Rehabilitationsleistungen, Umschulungsrenten) und die Unfallversicherung. Der Beitrag betrifft ausschließlich die Altersrenten.
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Joanna Ratajczak-Tucholka
Das alte System und die Ursachen der Altersrentenreform
Das Altersrentensystem vor 1999 könnte man als Mischsystem bezeichnen. Es wurde aus Beiträgen finanziert, die ausschließlich von Arbeitgebern gezahlt wurden, wobei eventuelle Defizite durch Staatszuschüsse ausgeglichen wurden. Die Altersrenten wurden umlagefinanziert und nach einer leistungsorientierten Rentenformel berechnet. Die Höhe der Leistungen bezog sich auf die bisherigen erzielten Einkommen, wobei sowohl Beitrags- als auch beitragsfreie Jahre in die Berechnungsformel einbezogen wurden (jedoch anders bewertet wurden) und eine Sozialquote jedem Versicherten zugerechnet wurde. Solch eine stärker an dem Versicherungsprinzip orientierte Rentenformel wurde Anfang der 1990-er Jahre eingeführt. Da erst nach der Wende eine regelmäßige Anpassung garantiert wurde, entstand das Problem des „alten Rentenbestands“, das die (insbesondere in den 1980er Jahren) schnell abgewerteten Renten betraf. Das alte System stieß auf einen ziemlich großen Widerstand seitens der Gesellschaft, insbesondere der jungen Generation. Man hatte dem System hohen Umverteilungsgrad und Ungleichheit der Versicherten aufgrund vieler (meist politisch begründeter) Rentenprivilegien vorgeworfen. Mit der Liberalisierung der Wirtschaft wurde in den 90er Jahren auch die bisher politisch befürwortete und angestrebte Egalität aller Bürger sehr oft abgelehnt. Dazu gab es im alten System kaum Platz für eine freiwillige Altersvorsorge. Das erste Angebot bezüglich des Sparens fürs Alter entstand in Polen erst nach der Wende von 1989. Andererseits machte sich jedoch die Angst vor Veränderungen bemerkbar – insbesondere bei der älteren Generation und jenen Bürgern, die wegen anderer Reformen finanziell schlechter gestellt waren. Man wollte den bestehenden Status quo bewahren. Aufgrund der jungen Demokratie hatte die Gesellschaft wenig Vertrauen zum Staat und zu politischen Eliten, was man auf die in früheren, kommunistischen Zeiten gemachten Erfahrungen zurückführen kann. Das Altersrentensystem diente vor 1999 der Senkung der Arbeitslosigkeit. Die Anfang der 1990-er Jahre verabschiedeten Regelungen bezüglich der Frührenten hatten vielen Angestellten und Arbeitern aus umstrukturierten Betrieben und Branchen ermöglicht, den Arbeitsmarkt früher zu verlassen. Der Anstieg der Rentner- (sowohl Alters- als auch Invaliditätsrentner) und die gleichzeitige Senkung der Versichertenzahl (wegen hoher Arbeitslosigkeit), sowie die in vielen Staatsbetrieben (insbesondere in der Stahlindustrie und im Bergbau) und im Rahmen der steigenden Schattenwirtschaft fehlende Beitragszahlung, aber auch Anstieg der Rentenhöhe, haben zur erheblichen Erhöhung der Rentenkosten geführt. Es ist zu betonen, dass damals aufgrund der demographischen Bedingungen noch kein zwingender Handlungsbedarf bestand, da in den 1990-er Jahren die polnische Gesellschaft noch relativ jung war (erst ab 2015 ist eine
Die polnische Altersrentenreform von 1999
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deutliche Alterung zu erwarten). Die wachsenden Rentensystemausgaben mussten durch immer höhere Sozialversicherungsbeiträge und Staatszuschüsse aufgestockt werden. Der Beitragssatz stieg bis auf 45 Prozent im Jahre 1992 und die Staatszuschüsse auf 6,1 Prozent im Jahr 1994 (Hausner 1998). Da es aber 1990 und 1991 eine reale BIP-Senkung gab und Staatsrentenausgaben als Konkurrenzgut zu anderen Sozialausgaben und Staatszielen verstanden wurden, hat der Finanzdruck (insbesondere ab 1994) bei der Altersrentenreform eine große Rolle gespielt. Das Konzept der Reform war jedoch von Anfang an nicht klar. Es wurden viele Projekte vorbereitet, die in verschiedenem Maße die Änderung des Systems vorsahen: von der Beibehaltung oder sogar Ausbauung des alten Rentensystems bis zu dessen vollständiger Abschaffung und Einführung der kapitalgedeckten individuellen Rentenkonten nach chilenischem Vorbild (Golinowska 1998; Ratajczak 2005). Die Überlegungen zum Altersrentensystem wurden von politischer Instabilität begleitet. Um einen politischen Konsens auszuarbeiten, wurde der Regierungsbeauftragte für Fragen der Reform der Sozialen Sicherung ernannt, dessen Projekt „Sicherheit dank Vielfältigkeit“ letztendlich die Basis für die Altersrentenreform von 1999 darstellte (Office of the Government Plenipotentiary for Social Insurance Reform 1997). Um die Bereitschaft zu einer grundsätzlichen ökonomischen Reform den ausländischen Akteuren und Organisationen (bei denen Polen hoch verschuldet war) zu demonstrieren, hatte man sich für eine partielle Umstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren entschieden. Eine wichtige Rolle spielte dabei vor allem die Weltbank, deren polnischer Mitarbeiter (M. Rutkowski) an der Reformvorbereitung mitwirkte. Es ist aber zu betonen, dass das Konzept der Alterssicherungsreform, das von der Weltbank propagiert wurde, ins polnische Projekt nicht bloß übernommen, sondern den polnischen Bedingungen angepasst wurde. Außerdem wollte man auch die Vorteile des bisherigen Altersrentensystems – wie umfangreicher erfasster Personenkreis und Schutz vor der Rentenentwertung – im neuen System beibehalten. Es wurden also folgende Ziele der Reform gesetzt: (1) konstanter Beitragssatz in den nächsten Jahren und dessen Senkung in der Zukunft; (2) Selbstfinanzierung des Rentensystems; (3) Garantie eines sicheren Alterseinkommens für jetzige und künftige Generationen; (4) Übersichtlichkeit und Einfachheit des Altersrentensystems und der Rentenregelungen. Wie oben schon erwähnt, spielte das fiskalische und finanzielle Argument eine wichtige Rolle. Deshalb wurden dem neuen System auch zwei weitere Aufgaben zugemutet: Unterstützung des Wirtschaftswachstums (durch Kapitalbildung in den obligatorischen Pensionsfonds) und Entwicklung der zusätzlichen freiwilligen Vorsorge (die die potenzielle Leistungsniveauabsenkung aus den obligatorischen Schichten mildern sollte).
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Joanna Ratajczak-Tucholka
Altersrentenreform von 1999
Das neue Altersrentensystem besteht aus drei Säulen (Abbildung 1). Die ersten zwei sind obligatorische Schichten, wogegen die dritte alle Formen der freiwilligen, privaten, betrieblichen oder individuellen Altersvorsorge umfasst. In allen drei Säulen wird die Altersrente aufgrund einer beitragsdefinierten Rentenformel berechnet. Dafür werden einzelne Versichertenkonten in jeder Schicht eröffnet. Die obligatorischen Schichten unterscheiden sich im Hinblick auf die Finanzierungsverfahren und (deswegen auch) die Organisation. Die erste Säule ist umlagefinanziert, die zweite kapitalgedeckt. Man hat sich für solch ein Konzept entschieden, um die Nachteile und Vorteile dieser beiden Finanzierungsverfahren (insbesondere in Bezug auf die verschiedenen Risikoarten) gegenseitig auszugleichen.2 Die umlagefinanzierte 1. Säule wird von der Sozialversicherungsanstalt (Zakad Ubezpiecze Spoecznych, ZUS), die Anstalt des öffentlichen Rechts ist, geführt. ZUS verwaltet den Sozialversicherungsfonds (Fundusz Ubezpiecze Spoecznych, FUS), dessen Teil ein getrennter Alterssicherungsfonds ist. Dadurch werden auch die Altersrenten aus der 1. Säule direkt vom Staat garantiert. In der zweiten, kapitalgedeckten Säule wurden offene Alterssicherungsfonds (Otwarte Fundusze Emerytalne, OFE) gegründet, die von privaten Investmentgesellschaften (Powszechne Towarzystwa Emerytalne, PTE) gemanagt werden. Eine staatliche Garantie der Rentenhöhe findet zwar statt, wurde aber indirekt gegeben (auf die Einzelheiten wird noch später eingegangen). Die 3. Säule ist freiwillig, deshalb erhalten die Altersrenten keine staatliche Garantie.
2 Deshalb wurde das Projekt „Sicherheit dank Vielfältigkeit“ genannt (Office of the Government Plenipotentiary for Social Insurance Reform 1997). Die Diskussionen über den Zusammenhang zwischen (politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, demographischen) Risiken und den beiden Finanzierungsverfahren haben aber gezeigt, dass der in dem polnischen Konzept betonte Ausgleich sehr umstritten ist.
Die polnische Altersrentenreform von 1999
Abb. 1:
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Überblick über das Altersrentensystem von 1999 1. Säule
2. Säule 3. Säule obligatorisch freiwillig Umlagefinanziert Kapitalgedeckt individuelle Rentenkonten – beitragsdefinierte Altersrente von der Sozialversichevon privaten Investmentge- (private) betriebrungsanstalt (ZUS) gesellschaften (PTE) verwalte- liche und indiviführter Altersfonds te offene Alterssicherungs- duelle Altersvorfonds (OFE) sorge nicht vom Staat vom Staat garantiert garantiert Direkt Indirekt Quelle: Eigene Abbildung
Um solch eine paradigmenwechselnde Altersreform in Kraft zu setzen, war eine überlegte Umsetzungstaktik nötig. Erstens hatte man das Konzept auf einem breiten überparteilichen Konsens aufgebaut. Eine große Rolle spielte dabei der Regierungsbeauftragte für Fragen der Reform der Sozialen Sicherung (zuerst A. Bczkowski, dann J. Hausner), der direkt dem Premierminister unterstand und sowohl von dem Finanzminister, als auch von dem Minister für Arbeit und Sozialpolitik unabhängig war. Dieses war, in einer Zeit des häufigen Regierungswechsels, von großer Bedeutung. Am Konzept der Reform arbeiteten nicht Politiker, sondern (unabhängige aber auch parteiliche) Experten, die sich bezüglich des Sachverhaltes auch viel schneller einigen konnten (mehr dazu Hausner 1998). Für die Verabschiedung und Durchführung der Altersrentenreform brauchte man die Zustimmung der Bauernpartei, die damals (zusammen mit der linken Partei) regierte. Um dieses zu erreichen, wurden Bauern aus der Reform ausgeschlossen und in dem alten, getrennten, zu über 95 Prozent vom Staat finanzierten System gelassen. Die Akzeptanz der Gesellschaft wurde grundsätzlich dank zweier Schritte gewonnen: Erstens wurde die Gesellschaft in Altersgruppen geteilt und war in verschiedenem Maße von den neuen Regeln betroffen. Die ältesten Geburtsjahrgänge Jahrgänge wurden von der Reform nicht erfasst. Die vor dem 1. Januar 1949 Geborenen blieben im bisherigen System und werden Renten nach alten Regeln bekommen. Den Versicherten, die am Stichtag der Reform zwischen 30 und 50 waren, wird zwar eine Altersrente nach neuem Recht erteilt, sie können jedoch zwischen einer Rente aus der 1. Säule oder aus der 1. und 2. Säule wählen. Den jüngsten Versicherten, die am 1. Januar 1999 jünger als 30 waren, wird eine Altersrente nach neuen Regeln, sowohl aus der 1. als auch aus der 2. Säule gewährt. Die zweite Sache, die zur Billigung der Reform in der Gesellschaft
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Joanna Ratajczak-Tucholka
beigetragen hat, war die obligatorische, kapitalgedeckte Altersrente. Dadurch wurde jedem Zugang zu diesem (zu kommunistischen Zeiten kaum angebotenen) Luxusgut gesichert. Es wurde auch beschlossen, dass die Privatisierungserlöse als Finanzierungsquelle der Übergangskosten genutzt werden. Diese Lösung wurde von der rechten Partei stark befürwortet. Die Altersrentenreform wurde in zwei Stufen verabschiedet. Der erste Teil betraf die obligatorische 2. Säule und die betriebliche Altersvorsorge in der 3. Säule. Beide Gesetze wurden kurz vor den Wahlen im Herbst 1997 beschlossen, womit die damalige linke Regierung auch Stimmen gewinnen wollte. Der zweite Teil, der sich auf die Reform der 1. Säule bezog, wurde erst über ein Jahr später, nämlich zwei Wochen vor dem Stichtag der Reform, verabschiedet. Die Altersrentenreform wurde dann zusammen mit zwei anderen Schlüsselreformen (der Verwaltungsreform und der Gesundheitsreform) am 1. Januar 1999 in Kraft gesetzt.
3.1 Die 1. Säule Die 1. Saule erfasst alle berufstätigen Personen (auch Selbstständige), wobei auch die Möglichkeit besteht, sich freiwillig zu versichern. Ausgeschlossen aus dem System wurden Landwirte (für die ein getrenntes Altersrentensystem – Kasa Rolniczego Ubezpieczenia Spoecznego, KRUS funktioniert), Richter und Staatsanwälte (die zu einem separaten Steuer-Transfer-System gehören) sowie Uniformträger (die von einem separaten Steuer-Transfer-System erfasst sind). Die Leistungen werden aus den Beiträgen und Staatszuschüssen finanziert. Der Beitragssatz zur 1. Säule beträgt 12,22 Prozent des Bruttolohns (bis zur Beitragsbemessungsgrenze, die das 30fache des prognostizierten Durchschnittsbruttolohns ausmacht) und wird zur Hälfte vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer gezahlt. Der ganze Altersrentenbeitrag für die beiden obligatorischen Säulen wird vom Arbeitgeber an ZUS geleitet und dann von ZUS auf das entsprechende individuelle Konto beim Altersrentenfonds des FUS (1. Säule) und bei einem der offenen Alterssicherungsfonds (2. Säule) überwiesen (Abbildung 2). Zusammen mit dem Altersrentenbeitrag werden auch andere Versicherungs- und Arbeitsbeiträge abgeführt und von ZUS an den entsprechenden Fonds weitergeleitet.
115
Die polnische Altersrentenreform von 1999
Abb. 2:
Die Beitragszahlung in der 1. und 2. Säule 50% des Beitrags
50% des Beitrags Arbeitnehmer
Arbeitgeber
Selbständige
Altersrentenbeitrag 19,52% des Bruttolohns
ZUS (Sozialversicherungsanstalt) 12,22%
7,3%
1. Säule FDR
2. Säule
Individuelles Konto im Altersrentenfonds des FUS
Individuelles Konto in einem der offenen Alterssicherungsfonds
Quelle: Eigene Abbildung
Die Leistungen aus der 1. Säule werden nach einer beitragsdefinierten Rentenformel berechnet (Abbildung 3). Abb. 3:
die Rentenformel im neuen Altersrentensystem AR = K/L
AR – Altersrentenbetrag K – individuelles Kapital = Summe eingezahlter und angepasster Beiträge (plus evtl. das Anfangskapital, das eine hypothetische Altersrente aus dem alten System am 1. Januar 1999 beträgt) L – fernere durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr der Pensionierung, geschlechtsneutral
Quelle: Eigene Abbildung
Die Voraussetzung für den Bezug der Altersrente bezieht sich ausschließlich auf das Erreichen der Altersgrenze, die 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer beträgt. Die Summe der Versicherungsjahre spielt aber eine Rolle bei der Mindestrente. Um diese zu bekommen, muss man (außer dem Rentenalter) auch eine Wartezeit von 20 Versicherungsjahren (Beitragsjahren und beitragsfreien Jahren) für Frauen und 25 für Männer nachweisen können. Wenn man diese
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Voraussetzungen erfüllt, wird die aus der 1. und 2. Säule berechnete Altersrente bis auf das Mindestniveau aus den Steuereinnahmen aufgestockt. Um eventuelle Schwankungen im Rahmen der Einnahmen und Ausgaben abzumildern, wurde auch der Demographische Rücklagefonds (Fundusz Rezerwy Demograficznej, FDR) gegründet. Sowohl Beiträge als auch Leistungen werden regelmäßig angepasst. Das fiktive Kapital auf dem Versicherungskonto in der 1. Säule wird in Höhe von 100% der Lohnerhöhung und die Altersrenten der Inflationsrate nach angepasst. Die Altersrenten werden wie ein normales Einkommen besteuert, wobei die Beiträge (und die fiktive Anpassung) steuerfrei bleiben. Nach dem Erreichen der Altersgrenze hat das zusätzliche Einkommen einen positiven Einfluss auf die Rentenhöhe, was bedeutet, dass die Altersrentenansprüche durch eine weitere Erwerbstätigkeit erhöht werden können.3
3.2 Die 2. Säule Die zweite Säule ist in Bezug auf den erfassten Personenkreis (abgesehen von den Übergangsregelungen bezüglich der zum neuen System gehörenden Geburtsjahrgänge) der 1. Säule gleich. Ein Versicherter kann nur einen OFE wählen. Die Versicherten, die sich trotz der Verpflichtung für keinen OFE entscheiden, werden in der von ZUS organisierten Verlosung einem der OFE zugeteilt. Die Altersrenten werden aus den Beiträgen in Höhe von 7,3 Prozent des Bruttolohns (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) finanziert. Das gesammelte Kapital erhöht sich aufgrund der Kapitalgewinne und wird um die Gebühren (Beitrags-, Management-, Transfergebühr und Transaktionskosten) reduziert. Im Fall einer Scheidung wird das individuelle Kapital beider Ehegatten zur Hälfte geteilt (was auf das fiktive Kapital in der 1. Säule nicht zutrifft). Im Todesfall 3 Das gegebene Rentenalter von 60 Jahren für Frauen und 65 Jahren für Männer ist ein minimales Rentenalter. Das bedeutet, dass es möglich ist, nach dem Erreichen dieser Altersgrenze weiter zu arbeiten, ohne pensioniert zu werden. Man kann aber auch weiter arbeiten, nachdem man in Rente gegangen ist. In beiden Fällen wird das Einkommen sozialversicherungspflichtig. Die Sozialversicherungspflicht für Altersrentner war und ist jedoch umstritten. Es wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass das Altersrisiko (das als Mangel an Finanzmitteln aufgrund der Unerwerbstätigkeit wegen Alters definiert wurde) in solch einem Fall schon realisiert wurde und deswegen entfällt die Sozialversicherung gegen dieses Sozialrisiko (mehr z.B. Jdrasik-Jankowska 2003, Antonów 2003). Im Altersrentensystem vor 1999, aus dem die Altersrenten zur Zeit erteilt werden, gab es viele Möglichkeiten in die Frührente zu gehen. Wer aber vor dem Erreichen des Regelrentenalters mehr als 70% des Durchschnittsentgelts verdient, wird eine reduzierte Altersrente erhalten (die Höhe der Reduzierung bezieht sich auf die über die gegebene 70-prozentige Grenze, aber nicht mehr als vorgeschriebene Quote). Wenn das zusätzliche Einkommen mehr als130% des Durchschnittsgeldes beträgt, wird die Zahlungseinstellung erfolgen.
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werden 50 Prozent der angesparten Summe dem Ehegatten (der Ehegattin) und 50 Prozent den vom Verstorbenen benannten Begünstigten überwiesen. Der Altersrentenbetrag ergibt sich aus der Dividierung des ganzen Kapitals durch die fernere durchschnittliche Lebenserwartung. Es wurde noch nicht bestimmt, ob die Lebenserwartung geschlechtsabhängig oder geschlechtsneutral berechnet wird.4 OFE wird von der PTE verwaltet (eine PTE darf seit dem 01.01.2005 zwei OFE führen, A-riskanten und B-konservativen), die eine private Aktiengesellschaft ist. Die Daten der Versicherten können von einem Transferagenten gespeichert werden. Die Aktiva des OFE werden von einer Depotbank aufbewahrt (eine Depotbank darf Aktiva mehrerer OFE verwahren), die auch für die gesetzliche Investitionspolitik verantwortlich ist. Die Versicherungs- und Alterssicherungsfondsaufsichtskommission (Komisja Nadzoru Ubezpiecze i Funduszy Emerytalnych, KNUiFE) führt die Aufsicht über den ganzen OFE-Markt (Abbildung 4). Die Altersrenten selbst werden von Rentenauszahlern ausgezahlt, an die das gesammelte Kapital nach der Entscheidung für die Altersrente überwiesen wird. Es wurde noch nicht festgelegt, wer und unter welchen Bedingungen zur Rentenauszahlung berechtigt sein wird. Ursprünglich (im Projekt) wurde geplant, dass neue Subjekte – sog. Altersrentengesellschaften – diese Aufgaben übernehmen. Seit einiger Zeit wird aber die ZUS als Rentenauszahler vorgeschlagen. Abb. 4: Organisation der 2. Säule Depotbank bewahrt Aktiva der OFE auf Alterssicherungsgesellschaft (PTE) Manager de s OFE
Versicherungs - und Alterssicherungsfondsaufsichts kommission (KNUiFE ) Offener Alterssicherungsfonds (OFE) Individuelles Rentenkonto des Versicherten
Rentenauszahler
Transferagent – Zahlung der Beiträge Besch Beschäftigungsphase Beitr
Altersrentenphase
Quelle: Eigene Abbildung
Da die 2. Saule einerseits von privaten Gesellschaften (Rententrägern) verwaltet wird, anderseits aber eine obligatorische Schicht des Altersrentensystems darstellt, wird der OFE-Markt stark reguliert. Die Rechtsvorschriften beziehen sich 4 In der Diskussion, die nach dem Vorlegen dieses Gesetzentwurfes im Juni 1998 stattgefunden hat, haben sich jedoch alle Parteien für Unisex - Tarife ausgesprochen.
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insbesondere auf die Anlagepolitik und die Ertragsrate. Es wurde vor allem eine Mindestertragsrate (minimale Wertenentwicklung) bestimmt, die jeder OFE garantieren muss (mehr dazu Ratajczak 2005).
3.3 Die 3. Säule Es ist ziemlich problematisch, die dritte Säule eindeutig zu definieren. Allgemein gesagt umfasst sie jede Art der freiwilligen Altersvorsorge, wobei die betriebliche Altersvorsorge (Pracownicze Programy Emerytalne, Abkürzung: PPE) und die vom Staat geförderte individuelle Altersvorsorge (Indywidualne Konta Emerytalne, Abkürzung: IKE) als ausschließlich diesem Ziel gewidmete Formen zu unterscheiden sind. Die betriebliche Altersvorsorge kann auf vier Durchführungswegen verwirklicht werden: (a) Pensionsfonds, (b) Arbeitnehmerdepot bei einem Investmentfonds, (c) Direktversicherung bei einer Versicherungsaktiengesellschaft und (d) Auslandsmanagement.5 Die Leistungen werden aus den Stamm- und Zusatzbeiträgen finanziert. Die PPE werden dadurch gefördert, dass der Stammbeitrag in Höhe von bis zu sieben Prozent des individuellen Einkommens des Arbeitnehmers von Sozialversicherungsbeiträgen frei ist. Die Auszahlung des gesamten Kapitals wird erst ab dem Alter von 60 Jahren, aber automatisch im Alter von 70 Jahren erfolgen. Das IKE-Konto ist eine neue, erst im September 2004 eingeführte Lösung. Jeder, der über 16 Jahre alt ist, darf jährlich bis hin zum 1,5fachen des prognostizierten monatlichen Durchschnittslohns einzahlen und gleichzeitig eine staatliche Förderung, nämlich die Befreiung von der Besteuerung der Kapitalgewinne innerhalb der Ansparphase (19%), in Anspruch nehmen. Eine zusätzliche Voraussetzung besteht darin, dass man entweder mindestens fünf Jahre der Einzahlung belegen kann oder über 50 Prozent der Beiträge fünf Jahre vor der Kapitalauszahlung eingezahlt hat. Die Leistungen dürfen erst ab dem Alter von 60 Jahren gewährt werden.
4
Erste Erfahrungen – Statistiküberblick6
Im Jahre 2004 lag der Altersrentenquotient7 bei ca. 24 Prozent, wobei der Alterslastquotient8 über doppelt so viel (56%) betrug. Beide Quotienten stiegen 5
Diese Form wurde erst am 1. Juli 2005 eingeführt. Wenn keine Quelle angegeben wird, stammen die Daten: über die 1. Säule von ZUS; über die 2. und 3. Säule von KNUiFE. 7 Relation zwischen der Zahl der Personen im Alter über 65 (für Männer) und über 60 (für Frauen) und der Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (18-64 für Männer und 18-59 für Frauen). 6
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seit 1990, der erste um 7,5 und der zweite um fast 46 Prozent. Dieser erhebliche Anstieg – insbesondere in Bezug auf den Alterslastquotienten – fand vor allem in der ersten Hälfte der 1990-er Jahre statt und ist mit der Senkung der Versichertenzahl (um fast 9% seit 1990) und dem Anstieg der Rentnerzahl (um ca. 33% seit 1990) zu erklären. Die statistischen Daten über Rentner und deren Leistungen beziehen sich auf das alte System, weil die neuen Altersrenten erst seit 2009 ausgezahlt werden. 2004 lag die Ersatzrate9 bei ca. 65 Prozent, wobei die Mindestrente nur rund 29,5 Prozent des Durchschnittslohns betrug und seit 1997 deutlich gesunken ist (um fast 22%). Über 60 Prozent der Altersrentner hatten ein unter der Durchschnittsrente liegendes Alterseinkommen (1237 Zl).10 Sowohl das Durchschnittsrentenalter als auch die durchschnittlichen Beitragsjahre waren höher für Männer als für Frauen (entsprechend 58,7 und 56 sowie 37,3 und 33,9 Jahre). Seit 1996 ist ein stetiger Anstieg des Rentenalters der Frauen (um 1,1 Jahre) zu beobachten, der von der Erhöhung der Beitragsjahre begleitet wird (um 2,4 Jahre). Der Rentenalter der Männer blieb seit 1996 konstant, wobei die Beitragsjahre nur gering wuchsen (um 0,6 Jahre). Die Auswirkung der Altersrentenreform spiegelt sich in den Kosten des Systems wider. Insbesondere geht es um die Erhöhung der Ausgaben aufgrund der Übergangskosten. Es gibt keine statistischen Daten, die sich ausschließlich auf die Einnahmen und Ausgaben des Altersrentenfonds beziehen – die Statistiken umfassen alle Fonds des FUS (Altersrentenfonds, Rentenfonds, Krankenversicherungsfonds und Unfallversicherungsfonds). Die FUS-Ausgaben für die Leistungen bestehen zu 55% (2007: 63%) aus Altersrentenleistungen. Der Anteil der Altersrentenausgaben am BIP stieg jährlich und betrug 2004 6,6%. Die Einnahmen der FUS bestehen zu ca. 69% aus Beiträgen, zu ca. 21% aus Staatszuschüssen und zu ca. 10% aus sonstigen Einnahmen. Der Anteil jener Zuschüsse wuchs kontinuierlich seit 1999, insbesondere in Bezug auf den Ergänzenden Staatszuschuss, der vorwiegend für die Deckung der Übergangskosten vorgesehen ist. Er umfasst die Kompensation für die Beitragseinbrüche aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze sowie die Kompensation des FUS-Defizits. Wenn man dazu noch die Kompensation für die Beitragseinbrüche aufgrund der Überleitung von 7,3 Prozent der Beiträge in die 2. Säule, die erst seit 2004 als sonstige Einnahmen berücksichtigt wurde11, zurechnet, betrugt die staatliche Förde8
Relation zwischen der Zahl der Rentner und der Zahl der Versicherten. Relation zwischen der durchschnittlichen Bruttoaltersrente und dem Bruttodurchschnittslohn. Rund 321 Euro (Stand Januar 2006). 11 Früher war die Kompensation für die Beitragseinbrüche aufgrund der Überleitung von 7,3 Prozent der Beiträge in die 2. Säule ein Teil des Ergänzenden Staatszuschusses. 9
10
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rung wegen Übergangskosten im Jahre 2004 ca. 3,4 Prozent des BIP (in 1999 war es ca. 0,95% des BIP). 1999 gab es 21 Alterssicherungsfonds (OFE). Bis heute wurden sechs davon übernommen oder haben fusioniert. Die Aktiva aller OFE betrugen am 31.12.2005 ca. 86,1 Mrd. Zl (8,9% des BIP). Bis zum 31.12.2004 wurden in die OFE insgesamt ca. 64 Mrd. Zl (Beiträge und Zinsen) abgeführt. Der Durchschnittsbeitrag in der Zeit vom 19.05.1999 bis zum 30.09.2005 betrug ca. 93 Zl. Am 31.12.2005 gehörten insgesamt fast zwölf Millionen Versicherte (11,7 Mio.) zu den OFE, wobei durchschnittlich 6 von 100 Versicherungskonten sogenannte „stille Konten” waren (ohne jede Einzahlung. Der OFE–Markt ist durch eine starke Konzentration gekennzeichnet, wobei die ursprüngliche Aufteilung des Marktes von 1999 fast unverändert blieb. Die Schüsselfaktoren des großen Marktanteils waren: Marke, Werbung sowie aktiver und breiter Vertrieb. Damit lässt sich der große Erfolg der Versicherungsunternehmen, die OFE gegründet haben, erklären. Am 31.12.2005 gehörten 63,7 Prozent des Marktes (den Aktiva nach) und 56,3 Prozent (der Versichertenzahl nach) drei von fünfzehn OFE (Commercial Union OFE BPH CU WBK, ING Nationale-Nederlanden Polska OFE, OFE PZU „Zota Jesie"), die alle entweder von den größten Versicherungsunternehmen oder deren Aktionären gegründet wurden. Die gewichtete Bruttodurchschnittsertragsrate aller OFE betrug am 30.09.2005 für die letzten drei Jahre 52,5 Prozent (die Mindestertragsrate 26,2%). Seit 1999 hat nur ein OFE die Mindestertragsrate nicht erreicht (Bankowy OFE). Die Ertragsrate des besten OFE in den Jahren 1999 bis 2004 lag über den Renditen anderer Anlagen (Abbildung 5).
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Die polnische Altersrentenreform von 1999
Abb. 5: Die Bruttoertragsrate der OFE im Renditenvergleich 87,57
OFE m it höchster Ertragsrate 78,96
M ischfonds (die sicheren) M ischfonds (die riskanten)
76,54
D ie gewichtete Ertragsrate aller OFE
74,81
D ie arithm etische Ertragsrate aller OFE
72,6 63,69
O FE m it niedrigster Ertragsrate Benchm ark
58,9
Inflationsrate
24 0
20
40
60
80
100
Benchmark besteht zu 30% aus Börsenaktien (die bei der Berechnung des WIG/ Warschauer Börse Index/ berücksichtig werden) und zu 70% aus Schatzanweisungen, ist also der Anlagestruktur der OFE ähnlich Quelle: Rzeczpospolita vom 13.01.2005
Die KNUiFE verzichtet auf das Veröffentlichen der Nettoertragsraten einzelner OFE (was unter anderem mit der verschiedenen, den jeweiligen Versicherten individuell betreffenden, Höhe der Gebühren – selbst im Rahmen ein und desselben OFE – begründet wurde) und das Berechnen der Benchmark-Nettoertragsrate. Den Schätzungen aus anderen Quellen zufolge, variierte die Nettoertragsrate der OFE von September 1999 bis Dezember 2004 jährlich zwischen 8 und 11 Prozent.12 Die OFE legten zum 31.12.2004 über 60 Prozent aller Anlagen in Staatsanleihen und Obligationen13 an und fast 34 Prozent in Börsenaktien. Die 3. Säule ist wenig entwickelt. Am 31.12.2004 gab es 342 PPE-Programme, die ca. 130.000 Arbeitnehmer umfassten. Die Beiträge zur betrieblichen Altersvorsorge betrugen Ende 2004 lediglich 752 Mio. Zl (0,085% des BIP). 12 Gazeta Wyborcza vom 20.05.2005. Die Nettoertragsrate wurde für einen hypothetischen Versicherten berechnet, der in der Zeit vom 09.1999-12.2004 (64 Monate) einen monatlichen Beitrag von 100 Zl eingezahlt hat. 13 Für die Staatspapiere sind keine Anlagegrenzen vorgesehen. Dadurch werden mittelbar auch die Übergangskosten finanziert.
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Am häufigsten wurden Programme in Form einer Direktversicherung bei VersicherungsAGs gegründet (60%) und von den kleinsten Betrieben angeboten (ca. 44%). Als Antwort auf das geringe Interesse an der betrieblichen Altersvorsorge wurden im September 2004 IKE-Konten angeboten. Alles zeugt aber davon, dass auch diese wenig in Anspruch genommen werden. Bis Ende 2004 wurden lediglich 175,5 Tsd. IKE-Konten eröffnet (man hatte im ersten Jahr mit etwa zwei Millionen gerechnet), auf denen insgesamt ca. 200 Mio. Zoty deponiert wurden. Am liebsten wurden IKE-Konten bei Versicherungsunternehmen eröffnet (63% aller IKE).
5
Empfehlungen für andere Länder
Die Rentenreform von 1999 hat ein komplexes, kohärentes, übersichtliches Altersrentensystem eingeführt, das die Arbeitsanreize für Versicherte stärken sollte. Das neue Altersrentensystem brachte einen Paradigmenwechsel mit sich: eine sowohl umlage- als auch kapitalfinanzierte, beitragsdefinierte Altersrente (DC) und den Abbau der Elemente des sozialen Ausgleichs. Die Reform soll erheblich die Staatszuschüsse zu Altersrenten begrenzen und langfristig die Selbstfinanzierung des Altersrentensystems sichern. In Bezug darauf ist aber zu erwähnen, dass das neue Konzept nicht allen Herausforderungen gewachsen ist. DC ist eine gute Antwort auf die demographischen und finanziellen Probleme der Sozialversicherung.14 Man sollte aber betonen, dass man sich bei der Reform vor allem auf die Selbstfinanzierung des Systems und andere wirtschaftliche Ziele (wie z.B. Kapitalbildung) konzentriert hat. Die soziale Funktion des Systems wurde bei der Diskussion ausgeblendet. Im neuen System wurden die Risiken zum größten Teil dem Versicherten zugemutet. Dadurch kann die Hauptfunktion der gesetzlichen Alterssicherung geschwächt werden. In Polen wird eine Senkung der Ersatzrate vermutet (bis auf 35-50 Prozent für Frauen und 50-70 Prozent für Männer), insbesondere für Versicherte, die zu den unteren Einkommensschichten gehören. Dies wird trotz der Beibehaltung des gleichen Beitragssatzes geschehen15 (ukowski 2004). 14 Die neuen Regelungen tragen aber wenig zur Lösung der demographischen Probleme in der Zukunft bei. Sowohl Kindererziehung, als auch Pflege der Angehörigen führen in sehr geringem Maße zur Erwerbung eigener Altersrentenansprüche. 15 Der gesamte Beitragssatz zur Sozialversicherung blieb unverändert. Die Absenkung des gesamten Sozialversicherungsbeitrags von 45 % bis auf 35,94 % - 38,83 % (je nach dem Beitragssatz zur Unfallversicherung) ist eine rein rechnerische Sache. Nach den neuen Regeln beteiligt sich auch der Arbeitnehmer an der Beitragszahlung, deshalb fand eine Bruttoumwandlung der Gehälter statt. Der von dem Arbeitnehmer zu zahlende Beitrag wurde zu dem bisherigen Gehalt dazugerechnet und auf diese Weise wurde das Bruttogehalt erhöht.
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Bei solch einem Konzept ist es erforderlich, das Mindesteinkommen im Alter zu sichern. Im polnischen System wurde zwar eine Mindestrente garantiert, aber die Voraussetzungen dafür sind relativ schwierig zu erfüllen, was wiederum das Armutsrisiko für ältere Leute und insbesondere für Frauen erheblich steigert. Die eigenständige Altersvorsorge von Frauen wurde infolge der Reform nicht verbessert. Die einzige positive Entwicklung war die Einführung des Versorgungsausgleichs (aber nur) in der 2. Säule. Die niedrige Altersgrenze für Frauen (60 Jahre) wurde jedoch beibehalten, obwohl man ursprünglich deren Anstieg auf 62 Jahre plante. Die Mindesteinkommensgarantie im Alter ist je wichtiger, desto ungünstiger die ökonomischen Bedingungen sind und umso schwächer die betriebliche und individuelle Altersvorsorge entwickelt ist. Im ersten Fall wird die individuelle Fähigkeit zur Altersvorsorge begrenzt. Im zweiten Fall wird (infolgedessen) die Möglichkeit, die gesetzlichen Renten zu ergänzen und den Lebensstandard im Alter zu heben, wenig genutzt. Für Polen sind beide der oben erwähnten Fälle charakteristisch. Insbesondere tragen hohe Arbeitslosigkeit (19,1% im Jahre 2004) und ein großes Haushaltsdefizit (4,7% des BIP im Jahre 2004) dazu bei, dass in dem auf Beschäftigung basierenden System Arbeitslose nur zeitbegrenzt Rentenansprüche erwerben können und aufgrund hoher Arbeitskosten völlig oder auch teilweise in die Schattenwirtschaft rücken. Arbeitgeber haben auch kaum Interesse daran, eine zusätzliche Altersvorsorge anzubieten, umso mehr, als die Kosten der Begründung und Führung aufgrund der Bürokratie so hoch sind und von dem Staat auch nur wenige Anreize dazu gegeben werden. Selbst die staatliche Förderung der individuellen Vorsorge (IKE-Konten), die sehr begrenzt ist (nur Steuerbefreiung der Kapitalerträge), kann diese Lücke nicht füllen. Einer der Gründe dafür ist, dass der Wohlstand der Gesellschaft eher bescheiden ist und die Leute nicht imstande sind, noch zusätzlich für das Alter zu sparen. Aufgrund des großen Informationsdefizits bezüglich des neuen Systems und der fehlenden Tradition der Eigenverantwortung für den Lebensstandard im Alter, wird auch der Mangel an betrieblicher oder privater Altersvorsorge kaum als Verlust wahrgenommen. Die Reform der Alterssicherung sollte mit entsprechenden Anpassungen anderer Finanzleistungen verbunden werden. Es geht insbesondere um das Rentenrecht und die Sozialhilfe. In Polen wurden die Rentenvorschriften (vor allem in Bezug auf die Invaliditätsrenten) noch nicht novelliert. Es besteht die Gefahr, dass wegen der Absenkung der Altersrentenhöhe die Versicherten danach streben werden, die höheren Invaliditätsleistungen möglichst früh in Anspruch zu nehmen und diese dann in Altersrenten umzuwandeln. Die Sozialhilfe bietet auch keine gute Lösung an. Es gibt kein ausschließlich auf die Altersarmut ausgerichtetes Leistungssystem und Sozialhilfeempfänger werden als stigmatisiert
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angesehen. Es bestand bisher auch kein dringender Handlungsbedarf, das Armutsrisiko im Alter genauer zu analysieren und kritisch zu prüfen. Die Rentner waren (oder sind immer noch, solange die Leistungen auch weiterhin nach den alten Regeln erfolgen) im Vergleich zu anderen Gesellschaftsgruppen relativ selten davon betroffen. Die beitragsdefinierte Rentenformel sollte deshalb von entsprechenden Umfeldbedingungen begleitet werden. Es geht insbesondere um die Zugänglichkeit, Art und Qualität der nichtfinanziellen Leistungen im Rahmen der Gesundheitsversorgung, Altenpflege und des Wohnens. Wiederum ist Polen kein gutes Beispiel dafür. Der offene Zugang zu der kapitalgedeckten Altersvorsorge im Rahmen der 2. Säule wurde mit hohen Übergangskosten, starker Regulierung und Aufsicht, gesetzlicher Garantie der Mindestertragsrate und unveränderter Beitragsbelastung erkauft. In Bezug darauf ist für die vor der Altersrentenreform stehenden Länder die folgende Option zu erwägen: eine gründliche, mit der Beitragssenkung verbundene Reform der umlagefinanzierten Säule, die von der Einführung der freiwilligen und vom Staat stark geförderten Kapitalvorsorge begleitet wird. Heutzutage wird in Polen die obligatorische kapitalgedeckte 2. Saule nicht mehr für den Grundstein zur Reform gehalten. Vielmehr weist man eher auf die beitragsdefinierte Rentenformel hin (Góra 2003). Der Vorschlag, ZUS und nicht (wie ursprünglich geplant) private Altersrentengesellschaften mit der Auszahlung der kapitalgedeckten Altersrenten zu beauftragen, kann sogar davon zeugen, dass man sich aus dem public-private Mix zugunsten des „public“ zurückzieht. Das wichtigste Argument ist wieder jenes der Kostenersparnisse. Den polnischen Erfahrungen zufolge sollte die Regulierung (insbesondere) des obligatorischen Alterssicherungsfondsmarktes vor starker Konzentration, Unübersichtlichkeit (u.a. in Bezug auf die Gebührenhöhe und Berechnung der Ertragsrate) und hohen Akquisitionskosten schützen. Die polnischen Erfahrungen haben deutlich gezeigt, dass ein gutes Konzept und ein breiter Konsens noch immer keinen Erfolg der Reform garantieren. Der Schlüsselfaktor dafür ist eine überlegte und koordinierte Reformumsetzung. In Polen entstanden in Bezug darauf viele Probleme. Zu den wichtigsten gehörten: ZUS-Vorbereitung (vor allem Computerisierung der ZUS); Verzögerung in der Überweisung der Beiträge an die OFE, die eine ZUS-Verschuldung von 10 Mrd. Zoty verursachte und die Übergangskosten erhöhte16; Großes Informationsdefizit bei der Gesellschaft bezüglich der Altersrentenreform, deren Ziele und vor allem des Konzepts, das in den Jahren 1999 und 2000 von einer verfehlten und einseitigen OFE-Werbekampagne be16
Die ZUS-Verschuldung wurde vom Staat übernommen und wird bis 2006 mit 10-jährigen Staatsobligationen abgezahlt.
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gleitet wurde. Dieser Fehler wurde auch innerhalb der nächsten Jahre nicht berichtigt, was sich im unzureichenden Versicherungsbewusstsein vor allem jüngerer Versicherter widerspiegelt. In Polen gab es nach der Wende von 1989 spezifische Bedingungen, die die Umsetzung der paradigmatischen Altersrentenreform relativ schnell ermöglichten. Das polnische Konzept der gesetzlichen Altersvorsorge kann sehr erfolgreich sein, wenn die ökonomischen Bedingungen gut sind. Es muss aber – für den Fall einer ungünstigen wirtschaftlichen Lage – von der Einkommensgarantie im Alter sowie entsprechenden Umfeldbedingungen bezüglich anderer Finanz - und Sachleistungen, die für Ältere eine sehr große Rolle spielen, begleitet werden. Über den letzten Aspekt, der sich unter anderem auf die Beseitigung der Altersarmut bezieht, wird in vielen westlichen Ländern (wie z.B. Deutschland) schon lange diskutiert. Für diese Länder kann das polnische Konzept der Altersvorsorge einen guten Ausgangspunkt für die Reform eigener Systeme darstellen und zur Analyse der „best practice“ im Rahmen der offenen Koordinierung der Altersrentensysteme beitragen.
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The Hungarian old age pension reform (processes, relevant problems, future tasks)
Ádám Rézmovits1
Although the reorganisation of the Hungarian pension system has been and is being realised in several stages in the framework of a long process, the expression “pension reform” is connected to the transformation implemented since 1998, with good reason. The most important step – the outsourcing of a part (approximately one forth) of the compulsory old-age pension system from state financing – has been realised at that time. However, this was preceded by significant changes to the social insurance system at the beginning of the 1990s and in 1997. The present compilation intends to present the background of the implemented measures and the professional interrelations. We also touch upon the issues that have proven successful and where expected results fell behind. We also present the fields where further measures are required.
1
The old-age pension reorganisation process
1.1 The principles The two closely related objectives of the changes of the Hungarian pension system implemented in 1990 were to enforce the self-care and insurance approaches. In addition, the sustainability and financing ability of the pension system were also of great importance. All the measures realised can be attached to this three-fold system of objectives as we shall see it later on. The structure of the pension system prior to the transformation of the economic and political system was that of a single-pillar social insurance system operating along the principles of pay-as-you-go financing based on obligatory payments. There were no other organisations or an institutional system specifi-
1
Hereby, I thank Szikszainé dr. Bérces Anna (head of department, Ministry of Finance, Hungary) and Horváth András (Ministry of Finance) for their useful and diverse help during the development of the present compilation. Naturally, I am responsible should any errors occur.
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Ádám Rézmovits
cally for savings pensions. Old-age care was an exclusive task of the state in the national pension scheme. The insurance principle prevailed prior to the 1990s as well in the Hungarian pension scheme, although to a very limited extent. The basis for the benefits was the income of the insured and longer time in service meant higher amounts of pensions. Several elements of the regulatory system, however, turned the insurance principle nominal. Therefore:
the amount of the old-age pension did not reflect the whole career, but the income prior to retirement (only the income of the most favourable 3 years of the 5 years prior to retirement counted as the basis for the pension before 1992); higher income were considered only to a limited extent (so-called degression rule); the regulatory system did not appreciate long service terms appropriately. One year additional service after 25 years was only worth a decreasing extent of additional care, while any extra years in service after 42 years did not increase the amount of pension received at all; the value of pensions continuously decreased due to the low rate of pension increases falling behind the inflation rate.
The regulations listed resulted in levelled retirement benefits on the whole screening prior income differences from active years. The basic amount was rather high due to the characteristics of the assessment and indexation regulations, however, the value of pensions showed a continuous decrease. Resulting from the above, the most important objectives of the reforms realised in the 1990s were the following:
representation of individual demands and self-care, therefore, the opportunity to supplement the benefits provided by the obligatory system; establishing a closer relation between benefits and inpayments to obligatory pension schemes; and providing the maintenance of value of benefits.
1.2 Measures providing for the opportunity of self-care Self-care and providing the opportunity for individual accumulation in the Hungarian pension scheme was carried out by the appearance of new institutions.
The Hungarian old age pension reform
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The Hungarian Parliament passed Act XCVI of 1993 on Voluntary Mutual Insurance Funds at the end of 1993. The measure created the organised form of pre-savings with old-age pension purposes to supplement social insurance care. Due to its voluntary nature and pre-funded financing, the voluntary fund system was greatly different from the logics of the obligatory social insurance scheme, but from the products of insurance institutions applying risk selection as well. For that reason, the state supported fund accumulations with significant tax relief. The number of voluntary pension funds increased dynamically in the 1990s. This pace slowed down from the end of the 1990s – partly due to the depletion of growth reserves and the establishment of private pension funds. The Hungarian voluntary pension funds had 1 million 249 thousand members at the end of 2004, while the assets accumulated in the funds amounted to 512 billion HUF (app. 2.04 billion Euro). As a result of the pension reform of 1998, the obligatory pension scheme of a single-pillar social insurance system turned into a dual-pillar mixed system. The first pillar (hereinafter pillar I.) of the dual-pillar system consists of the transforming social insurance system. This system continues to realise a DB (defined benefit) care system based on the pay-as-you-go financing principle. The second pillar of the transforming obligatory system (hereinafter pillar II.) is the private pension system, which has partly overtaken the role of the earlier social insurance system. This system works on a pre-funded financing principle with a DC (defined contribution) principle benefit system. The institutions operating the private pension system are private pension funds outside the state finance system. The private pension system, therefore, is the part of the obligatory system as opposed to the voluntary pension fund system that provides supplemental services. Those who have switched to the private pension system pay a part of their retirement insurance contribution – 8 per cent of their income 2 from 2004 – to this system as a membership fee. Due to the above, the encouragement of the payment of contributions to the obligatory system played an important role during the establishment of the private pension system. The insured parties could join the private pension fund and the dual pillar system in two ways. People entering a profession and therefore having their first insurance legal relation were obliged to join one of the private pension funds after 30 June 1998. (This legal decree was temporarily annulled in 2002, but fresh employees have been obliged to join a fund from 2003 again.) The legal regulations provided opportunities for all insured parties to join the mixed system on a voluntary basis. The opportunity was primarily provided 2
Employees: per cent
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in the first stage of the pension reform between 1 January 1998 and 31 August 1999. (The opportunity to join a fund for people under 30 was provided for a single year in 2003.) Those choosing the mixed system, however, had to reckon with that they “lost” one forth of their social insurance retirement benefit regardless of whether they had executed all their earlier payments to the social insurance system. Therefore, the voluntary choice is efficient if the future fund benefit will compensate for this lost amount. There is naturally greater chance for that if fund members spend the majority of their active period in the mixed system after their switch. A vast majority of the insured availed themselves of the voluntary opportunity of joining a fund. Only 540.000 people joined the private pension fund on an obligatory basis from the 2.4 million members of the private pension funds until the end of 2004. 1.85 million Citizens joined a fund on a voluntary basis. This number exceeds 50 per cent of the total insured parties; therefore, the dual pillar system was quite successful from this point. (We shall present in detail why the situation cannot be considered so unequivocal.)
1.3 Reinforcement of the insurance principle in the social insurance pension scheme As mentioned above, the transformation of the social insurance pension scheme should not be attached to a single date, i.e. the launch of the pension reform in 1998. Modifications of measures reinforcing the relation of the payment of contributions and services in this benefit system as well were continuously passed during the 1990s. The following measures should be highlighted from those implemented:
the period of imputation – that is the period in which the income is to be considered for the calculation of the old-age pension – increases from 1992. All the income liable to contribution after 1 January 1988 from the specified year is to be considered when calculating the old-age pension (with the appropriate revaluation); the rules for the imputation of the years in service are modified, therefore, the inequity of the situation of people with more years in service has significantly decreased; the accrual rates will become completely “linear” from 2013, so every year at work will be worth the same when calculating the retirement benefit;
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the so-called degressive imputation, which has a disadvantageous effect on higher income will gradually disappear by the beginning of the 2010s; the earlier practice of increasing old-age pensions by individual decisions and without any value retention has been exchanged by an indexing rate related to salary increase and inflation (the starting point for the annual indexing rate had been the growth rate of the net average earnings before 2000, while it has been exchanged to the inflation rate and the mean of the net average earnings since then.); the degree of widows’ pensions is 30 per cent of the old-age pension of the deceased partner regardless of the own pension (In default of an own pension, this degree is 50 cent. Widow’s pension to pensioners in their own right applied only up to a defined amount prior to 1997.) the minimum years in service required for old-age pension from the year 2009 increases to 20 years (many debate the justness of this measure); according to the legal measures declared, the rule concerning the minimum amount of old-age benefit (i.e. the amount of the pension will not be complemented to that amount) will be applied only from the year 2009.
1.4 Financing the social insurance pension scheme Tensions emerged in the financing of the social insurance system – therefore in the social insurance pension scheme – in the 1990s. The pay-as-you-go pension scheme had become a mature system by that time, a growing and increasingly larger proportion of the population gained the right for it, so the number of provided people increased continuously. The modification of the pension increase rule led to the significant growth of continuously present expenditure burden and forecast expenditures. The legislative specification of the pension increase index did not allow for the enforcement of budgetary aspects during the execution of the increase from the 1990s. The transforming labour market in the 1990s had considerable influence on the income side of the social insurance system. The employment structure changed and the number of employed decreased. At the same time, the number of unemployed and those with entrepreneurial (contractor) relations significantly increased. The latter groups were also obliged to pay the social insurance contribution; however, the basis of their contribution was measurably less than that of wage-earner employees. The income of the social insurance system considerably diminished as a result of the above processes.
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Naturally, Hungary cannot avoid the effect of demographic processes jeopardising the financing of the pension scheme all around Europe, either. The demographic peak after the 2nd World War came later in Hungary – in the middle of the 1950s – than in Western European countries. The birth rate was the highest in 1954. Accordingly, the resulting financing tensions will reach the pension scheme in the 2010s. The impending demographical and labour market processes have made it clear that it is the strategic interest of the Hungarian pension scheme to have several sources. Therefore, the above processes also encouraged the establishment of institutions operating by a pre-funded principle. The gradual and flexible raise of the retiring age is to be highlighted among the measures supporting the safety of financing. The retiring age for women was 55, the same for men was 60 before 1997. After several years of preparation and preliminary codification, the decision on the initiation of the retiring age was made in 1996, while actual increase began in 1997. The process of the retiring age increase should have ended in 2009 but was postponed to 2013 when the standard retiring age will be unitary 62 years. At the same time, legislation provides for retirement before the retiring age in the case of more years in service. 38 years in service are required for retirement without reduction according to current regulations, which is at the age of 57 for women and 60 for men the earliest. From 2013, 40 years in service will be required and the earliest age for early retirement is now unitary 59. According to forecasts, the increase of the retirement age and that of the retirement age centre in relation to that can significantly diminish the financing tensions of the next decade.
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The debated issues of the new old-age pension scheme
2.1 The institutional issues of the private pension fund system The reform decision of 1997, being one of the most debated elements of the development of the construction was the private pension fund as a form of organisation. That decision has been the subject of professional debate until now and the opportunity to modify the construction arises from time to time. In addition, we are to note that the institutional form has not materially influenced operation until now. The focus of the debates was whether the institution of private pension funds should be established as a “pension fund” (Pensionsfonds, in German) as in the majority of European countries or as a mutual association (Pensionskas-
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sen or Rentenkassen, in German) declaring the management of local authorities and a non-profit management principle. The final decision was for the latter. The main reason for that may have been to compensate for the charge of “profit orientedness” concerning the institution of private pension funds. The basic differences between the two types of institutions are the decision-making structure and the display of decision responsibility. The proprietary structure and the decision responsibility in this context emphasise the collective nature in the case of mutual associations. In this construction, the owners of the institution are the fund members, and major decisions are brought by the assembly of fund members or the general assembly of delegates. In the case of pension “funds”, fund members practically play the role of clients, who confides the management of the pension-type accumulation account to the institution. The pension funds are usually managed by a financial organisation or a company established by the financial organisation with full responsibility and decision power. This way, the power for strategic decisions – and the related responsibility at the same time – belongs to the financial institution instead of the membership. Another difference between the two types of institutions is the non-profittype management of the mutual association as opposed to the natural profit orientedness of pension funds. This, however, is no sharp difference in our opinion. In addition to the success of investments, the costs arising in connection with operation determine the effectiveness of members’ accumulation for both types of organisations. The degree thereof is however not basically determined by profit orientedness or the declaration of the non-profit principle. A more important factor is the market price-level of the individual services. More than seven years of experience with private pension funds has not confirmed the large-scale influence of the organisational structure, the processes taken place seem to be independent of that. The vast majority of the currently operational 18 private pension funds were founded by a financial organisation, so they practically operate as a branch of these financial groups. (It can be said in general that the system of conditions for the establishment of funds are in favour of larger organisations.) Strategic decisions are made by the delegate general assemblies of the funds in compliance with regulations, however, their role usually is not decisive. It is the notion of the founding financial organisation that almost exclusively prevails at the delegate general assemblies. The present situation is, therefore, contradictory. The expected advantages of the institution of funds (like proprietary role and actual influence of members on decisions, actual “operative” control over the institution, etc.) do not prevail in practice. Operation as pension funds (as opposed to the present mutual asso-
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ciation type of operation) would certainly not bring any significant change of the situation. The question of the institutional structure may come to the foreground on the mid-term – during the annuity payment period – and in connection with the related special questions. A partial solution to that may be that insurance companies will carry out the probable majority of pension payment tasks. (Naturally, according to the legal regulations on private pension funds concerning the payment of pensions.)
2.2 Division of tasks between the social insurance and private pension systems 2.2.1 Rules of the division of resources and tasks It was the pronounced principle of the decision of 1997 on the old-age pension reform that pillar II (that is the private pension system) is to take over “¼ part” of the role of the uniform obligatory social insurance pension scheme. Therefore, according to the plans pillar II will provide almost one quarter of the pension of those choosing the mixed system. How is it realised in practice? With respect to the income side, the degree of pension insurance contribution in 1998 was 31 per cent from which 24 per cent was charged on the employer and 7 per cent on the gross income of the insured. The rate of private pension fund membership fee was established at 8 per cent proceeding from the 31 per cent contribution rate. This membership rate was to come into effect only in 2000 according to the original plans. The decision of 1997 established this rate at 6 per cent in 1998, 7 per cent in 1999 and 8 per cent after that. With respect to benefits, Act LXXXI of 1997 on social insurance retiring pension regulates the different rates for the members of the social insurance system and those choosing the mixed system. According to it, in the case of identical careers, the members of the mixed system (private pension fund members) receive 75 per cent of the pension of those exclusively paying to the social insurance system prior to 2013. The essence of this regulation will not change from 2013, either: the old-age pension of those paying to the social insurance system is 1.65 times of their average income per every year in service, while that of those with the mixed system is 1.22 times of their average income per every year in service. Therefore, the pension levels of the fund members will show no significant difference from ¾ of the pension of those drawing their allowance from pillar I exclusively in the future. Most problems in practice are caused by that the regulation does not differentiate between the social insurance (pillar I) retirement pension of career start-
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ers and those entering pillar II with an insurance history. Entering the fund decreases the rate of social insurance benefits by 25 per cent regardless of whether one has been a private pension fund member all through or in part of their active careers.
2.2.2 Debated elements of the task division rules The division of tasks between the two pillars were in the focus of debates as early as in the first years of the pension reform. A number of practical problems have also arisen in relation to the rules. We are to highlight the problems of the membership fee of private pension funds and those of the people who bear a loss due to choosing the mixed system. 2.2.2.1
Losers of switching to the mixed system
The majority of the large number of people joining the mixed system was not informed of the risks of the new system, but its expected advantages. People were not aware that the 25 per cent decrease of the social insurance benefit or that this loss can only be supplemented in the private pension fund system. A considerable number – about 10-15 per cent – of the fund members probably fare ill by joining the mixed system. (Only 4.5-5 per cent of the pension members took the chance to withdraw until the deadline of 31 December 2002.) Their loss may be feasible partly due to their age. They joined the system at the age of 35-40 or above, therefore, the relatively short-term accumulation may not complement for the decrease of the social insurance benefits. Joining the mixed system is also a loss for those whose social insurance benefits are determined with favourable conditions – e.g. with discount on age and/or at a higher amount. This is especially true to the professional members of armed forces and certain groups of workers, e.g. miners in Hungary. The private pension fund system operating with the pre-funded and DC principles cannot logically provide higher pensions to them even in the case of early retirement. The annuity due to them on the basis of the fund accumulation, however, cannot be in proportion with the relatively high social insurance benefits. Despite the above, quite many of the above mentioned employment groups chose private pension fund membership. The question arises on the basis of the above as to why have so many decided against their financial interests despite the obvious interrelations? Above all, this fact can be explained by the lack of information. Unfortunately, certain players of the funds did not place enough emphasis on the correct presentation
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of advantages-disadvantages when recruiting members. They rather emphasised the expected advantages (e.g. access to the saved, accumulated sum as opposed to the pay-as-you-go type social insurance system, possibility of inheritance, etc.). Even the state information system could not make up for this deficiency. The above-mentioned low number of those returning to the exclusively social insurance system can also be explained by the lack of information. The potential loss of those concerned has become obvious in the past years. As stated earlier, those making use of the opportunity of early social insurance retirement in the private pension system accumulate only small amounts. (Even if they switched to the mixed system as early as the beginning of 1998.) The opportunity of withdrawal was a solution to losses incurred before 2003, but this chance was gone later on. (Due to the lack of 15 years of accumulation, the system of rules concerning benefit guarantee, which was in effect until the end of 2001 would not have covered such cases.) The beginning of the problem was marked by the modification of legislation passed in the middle of 2004. In the case of the conditions specified therein:
retirement before 2013; maximum 10 years of fund membership; at least 6.25 per cent loss combined from social insurance and private pension fund benefits.
The fund members may return to the social insurance pension scheme at the point of retirement. This way they incur no loss as if they had not joined the mixed system at all. This modification retrospectively concerned those who retired – with a very short accumulation period – before it came into effect and withdrew their fund savings (in the form of a single-sum pension). This way, essentially identical solutions were provided to correct losses by the practice applied for disability and survivors’ pensions. There is an opportunity for retroactive correction if the entry to the private pension fund clearly turns out to provide disadvantageous pension due to disability, death or retirement. The member of the fund – or the designated widow as beneficiary in the case of death – can practically undo the entry to the fund. The solution applied is undoubtedly favourable to fund members and means an adequate solution to the risk of their losses. Their costs are charged on the social insurance system. Since, however, legislation permits withdrawal only for a definite period, the management of this problem requires further investigation. (Legislation does not stipulate a deadline for withdrawal in the case of widowhood or disability.)
The Hungarian old age pension reform
2.2.2.2
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Calculating the rate of private pension fund membership fee
According to the original concept, the rate of private pension fund membership fee was to increase to the originally planned 8 per cent by 2000. The rate of the membership fee created great debates. The fee was not raised from 6 to 7 per cent in 1999, on the contrary, it was frozen until 2003 at six per cent. The new Government in power from the middle of 2002 declared and realised the increase of the membership fee. This way, the rate of private pension fund membership fee grew to 7 per cent in 2003 and it reached the target of eight per cent in 2004 set earlier. The “freezing” of the membership fee decreased the future benefits of the fund members. Since the social insurance pension system operates by the principle of DB (defined benefit), the basis of the contribution determines the rate of pensions to be received in the future. The rate of contribution, therefore, does not influence that. In the case of the private pension system operating by the principle of DC (defined contribution), however, lower amounts of contribution diminish the future pension to be received. A heated debate on the rate of membership fee emerged around 2000 concerning professional and other fields. This debate touched upon a lot of elements of the mixed financing pension system. The issue whether the original concept can be applied under the conditions of the contribution decrease realised in the meantime was also challenged. The 31 per cent pension insurance contributions of 1998 (consisting of 24 per cent employers and 7 per cent own contribution of which 6 per cent is the membership fee) fell to 26.5 per cent by 2005 (consisting of 18 per cent employer’s and 8.5 per cent own contribution of which 8 per cent is the membership fee). It would be reasonable to determine the rate of membership fee at ¼ of the actual rate of contributions reduced by the cover of disability and survivors’ benefits. Therefore, “freezing” the 6 per cent rate is rightful and fair – said the arguments. A counter-argument to this approach is that the cover of the lost income due to the decrease of contributions reaches the Pension Insurance Fund as a state budget transfer. (The central budget pays this reimbursement beyond the supplement of the lost contribution income due to membership payment.) Since the private pension system receives logically no such transfer, it is reasonable to determine the rate of membership fees in relation to the rate set up at the beginning of the pension reform. All in all, we can say that the debate concerning the rate of membership fees basically originates in the unclear situation regarding the rates of contribution (contribution cover) assigned to individual risk elements. The pension insurance contribution at the rate mentioned above also stands for the cover of
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disability and relative pensions on the course of the financing of pensions. No different objective is specified in the case of the payment of private pension fund membership fees. As we could see, however, it is basically not the fund that pays the disability or relative pension in the case of disability or death. Members (or their widow) can retransfer their accumulated savings from their individual fund account to the social insurance system in order to receive the full amount of the social insurance benefit. The calculations carried out cannot serve as a basis to justify the assumption that the justified rate of private pension fund membership fee would show a significant difference from 8 per cent in the case of calculations considering disability and relative risk. The question, however, was in the focus of professional debates for years due to contradictory interpretations, and the argument was a professional confirmation to the decision regarding the rate of membership fee different from the original system of conditions.
2.3 Private pension fund guarantee system The establishment of the guarantee system and the related changes also faced ardent debates. Three types of guarantee were included in the legislation at the launch of the system in 1998. The regulation obliged the funds to join the Guarantee Fund of Pension Funds to ensure guarantee. The cover for operations is the guarantee fee paid by the private pension funds. The individual types of guarantee are as follows:
guarantee for insolvency. This practically means a guarantee related to the performance of obligations: the Guarantee Fund provides the missing resources should the pension fund not be able to comply with its payment obligation; benefit guarantee. According to the so-called standard benefit rule, if the fund benefit does not reach 25 per cent of the social insurance pension despite 15 years of accumulation, the Guarantee Fund makes up for the difference; (This rule in essence would have provided 75 per cent + 75 per cent * 0.25 = 93.75 per cent of the pension attainable in the purely social insurance system pension after 15 years of accumulation.) yield guarantee in the form of “yield equalization”. It means (would have meant) that the amount of the yield exceeding the upper limit of the centrally determined yield margin of the yields on investment is moved to the yield equalization reserves. On the other hand, any yield under the lower
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limit of the yield margin is complemented from the yield equalization reserves. Only the guarantee for insolvency is “in operation” of the above-mentioned three guarantee elements (although fortunately, it has not been applied, yet). The benefit guarantee was abolished in 2002, while the yield equalization system did not work, because the yield equalization reserves were quickly depleted due to the low yield of the initial years. (The calculation of losses applied in the benefit guarantee reappears in the withdrawal system of regulations accepted in 2004.) Experts generally greeted the abolishment or depletion of the performance related – that is benefit and yield – guarantees. These types of guarantee are difficult to fit within the general conditions of the private pension fund system providing market competition. These regulations remunerate lower performance and mean restructuring for funds with weaker performance. After the abolishment of the benefit guarantee, the legislation allowed the funds to use their own guarantee system. However, there has been no such initiative by the funds until now. There were no constitutional concerns of vested interests regarding the abolishment of the benefit guarantee. The abolishment came into effect on 1 January 2002, while the “actual” application of the system was scheduled for 2013. The effective legislative conditions at the beginning of 2002 allowed every fund member to return to the social insurance system on the course of 2002.
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State financing correlations of the pension reform
The consideration of financing effects – for obvious reasons according to the above explanation – played a very important role when establishing the construction of the pension reform. The short-, mid-, and long-term effects of the partial “outsourcing” from the state financing system showed significant differences. The determinant factors in the short-, and mid-term – that is the transition period of the pension reform – were excess costs due to the slump in the income of the social insurance system, while in the long-term were the spending-saving of the pay-as-you-go system providing a lower level of benefits. This way, the smaller scale pay-as-you-go system reduces the risks of demographical processes. The reason for the excess expenditure in the state finance system during the transition period of the pension reform is the temporary off-balance of pillar I. namely, a part of the contribution paid to the pay-as-you-go system is paid to
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pillar II as membership fee. Since the cover for the – not yet significantly decreasing – benefits of pillar I is to be provided, the state budget is to make up for the lost income. The transition period ends when the old-age pensions paid will be only “mixed” ones (that is financed not only from pillar I, but from both pillars I and II at the same time). With respect to that career starters were obliged to select the mixed system from 30 June 1998 (except for 2002); the transition period may last 5-6 decades. (There will probably be quite many pensioners in 2060 who receive their pension from the social insurance system.) The Government annually notifies the Parliament of the costs of the transition period – that is the balance of the lost income and the savings on the expenditure side. According to the calculations in 2004, the transition costs amount to 0.9 per cent of the GDP in 2005, the same figure is 1.2 per cent in 2010 and 1.4 per cent in 2020. There will be no extra costs for that reason in 2050, therefore, the cost saving of pillar I reaches the level of lost income in that period. The state finance settlement of the transition period has become an outstanding issue in Hungary and the EU countries establishing the dual-pillar pension system (e.g. Sweden, Poland and Slovakia). It is a question of debate whether this cost should be considered during the calculation of the state finance deficit. This cost has a different character than any other elements of the state finance deficit; it does not generate excess consumption, but becomes savings. In addition, the acknowledgement of this deficit is the basic condition to the structural reform of large pension systems based on the equilibrium between generations in the individual countries. (This can be an important factor not only in pension systems, but during the transformation of health care systems as well.) Naturally, the European Union cannot disregard the consideration of the transition period costs. Such a decision would have caused a dangerous situation concerning the pension schemes and the budgetary discipline. At last, a compromise solution was found at the decision-making bodies of the EU at the beginning of 2005. The transition period costs are to be considered in an increasing rate after 2005 when accounting for the state budget deficit. The transition costs need not be considered from the point of deficit criteria in 2005. 20, 40, 60 then 80 per cent of this cost is to be considered in the following years, then the whole amount from the beginning of 2010. This approach is to be applied when fulfilling the so-called Maastricht criteria, which is also relevant from the point of joining the Euro-zone. Although the transition period lasts a long time and has significant burdens, the duality of the diminished scale social insurance system and the private pension fund system operating by a pre-funded principle has very favourable effects
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on the long run. The burdens and risks can be divided between the two systems. The direct effect of the demographical and labour market risks (that is rearrangement between generations), which are crucial from the point of the operation of the pay-as-you-go system, can be significantly reduced.
4
Summary of the pension reform processes, further tasks
4.1 Evaluation of the process up to the present The first years of the pension reform were marked by a dynamic development. The 2.4 million members of pension funds amount to 63 per cent of all the insured. With respect to this rate, we are to consider that there are quite many among the fund members without insurance, therefore are not obliged to pay contributions. (If the insured status of the person insured is terminated, their fund membership – naturally – is retained in default of membership payment as well, but their savings do not grow.) There is notable concentration in the field of funds. The discontinuation of small funds without a financial institution background or their merging into larger funds is a general process. There are fewer funds then at the beginning – it has dropped to less than half of the original number. Only 18 funds have survived by 2005 from the 38 active funds at the end of 1998.3 In conformity with the growth, the amount of accumulated capital in the funds is significant. By now it exceeds 4.0 per cent of the GDP. So, we can say that the role of the funds in the capital market has increased and their importance as potential investors has been enhanced. At the same time, the period until now cannot be considered favourable from the point of investments. The unfavourable effect of the developing capital market processes in 1998, the global disadvantageous exchange market developments in 2000-2001, and the domestic government securities market processes in 2003 greatly decreased yields. Due to the results in 1999, 2002 and 2004, however, the funds realised a little real yield on the average during this period. Its rate, however, fell behind preliminary expectations. The disadvantageous capital market developments in most of the period may explain that the private pension fund portfolio can be qualified as conservative. At the end of 2004, 75 per cent of the private pension funds assets were state securities and 8.6 per cent were investment papers. 7.8 per cent of the assets were invested in stocks, the same amount in mortgage bonds and 0.8 per 3
It grew to 20 at the end of 2007.
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cent in other assets. The very favourable exchange market processes of 2004 and the lapsed period of 2005 (first half) will activate private pension funds to invest in stocks.
4.2 Tasks to be solved in the Hungarian pension scheme The measures implemented towards the modernisation of the social insurance pension scheme in the 1990s meant great steps for the vindication of the insurance principle, thus the more “righteous” nature of the system. The forthcoming period mostly calls for the implementation of regulations promoting the intelligibility of assessment rules in pillar I. The connection between the payment of contributions and the pension to be assessed is to be strengthened. It is required to give wider publicity to what forms and rates of pension is entitled to people against their payment of contributions. Any progress in this field can largely facilitate the insured to accept the social insurance pension scheme. As it has been mentioned with respect to the debate concerning the private pension fund membership fee, the appropriate calculation of contributions is the prerequisite to the “fair”, transparent relation of the two obligatory pension pillars. The rate of resources required for the financing of old-age, disability and relative pensions are to be clarified on the course of that. The distribution of tasks and the attributed resources between the two pillars are to be regulated unequivocally. Its realisation – being an important task for the near future – can also promote the comprehension and acceptance of the pension system as well as the realistic expectations regarding pensions due from pillars I and II. The fair calculation of contributions may promote the appropriate settlement of the situation of people, who entered the mixed system without the full survey of its advantages and drawbacks. The realisation of regulations in harmony with the basic elements of the dual-pillar pension system is required in this field. Most tasks within the regulation of private pension funds in Hungary are in the field of annuity provision. The present regulations can be characterised as basically skeleton measures including numerous open questions and uncertain rules. We should mention the issue of annuity provision obligations among them. In the case of strict conditions and preliminary approval, Hungarian legislation permits pension funds to provide annuities. At the same time, pension funds may provide annuities by purchasing them from an insurance company. However, this measure contains no obligation. Although, this issue will be acute after
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2012 and will probably be solved “automatically” by the market competition of insurance companies, it is a loophole in the legislation. Another issue to be solved is the uniform regulation of annuity parameters (technical interest rate, mortality). The possibility of having unrealistic promises in this field is to be avoided. The same applies to the indexing of the pension. The current regulation is that the private pension fund benefit – to be determined in the future – should be increased annually according to the mixed (mean of inflation and average income) indexation of the social insurance pension at least. However, it does not specify any mechanism that enables the observation of this principle or creates the resources thereof. The future cost level of the annuity is already in the focus of debates now, long before the beginning of the annuity payment delivery period. This question often recalls the debates concerning the establishment of the institution: it will not be the interest of insurance companies operating by the for-profit principle to keep the grant costs low. If market competition does not handle this problem appropriately, it is to be reconsidered whether the legislative stipulation of the cost level deemed fair is possible. The issue of costs in general is in the focus of debates. Another task to be solved is to overview how the costs of private pension funds can be decreased in Hungary. There are two options to reduce costs in the following years. On the one hand, a means for that can be the development of regulations intensifying the market competition of pension service providers. On the other hand, the tasks attended in parallel by more than one pension funds is are to be examined. Primarily, the field of private pension fund membership declaration, payment and collection should be examined to see which tasks are might be centralised in order to reduce administration costs.
Policy Transfer in Westeuropa? Soziale Inklusion und Privatisierungsprozesse im deutschen Rentensystem
Michaela Willert1
Unabhängig davon, wie ein Rentensystem ausgestaltet ist, geht es immer darum, einerseits ein angemessenes Einkommen für jene Phasen im Leben zu gewährleisten, in denen eine Erwerbstätigkeit nicht mehr möglich ist sowie andererseits die finanzielle Stabilität der dafür genutzten Sicherungssysteme zu wahren. Die Hierarchie dieser beiden Ziele, die Ausgestaltung der damit befassten Institutionen und die Zuschreibung von Kompetenzen der Alterssicherung unterscheiden sich zwischen den verschiedenen Wohlfahrtsstaaten. Esping-Andersen identifizierte dementsprechend drei Wohlfahrtsstaatsregime in „Three Worlds of Welfare Capitalism“ (1990), die sich u.a. in der Abhängigkeit der sozialstaatlichen Leistungen von Erwerbsarbeit und dem Public-Private-Mix der Leistungserbringung unterscheiden. Er unterscheidet sozialdemokratische, konservativ-korporatistische und liberale Wohlfahrtsstaaten2. In den letzten Jahren wurde das Design der Rentensysteme in zahlreichen Ländern aufgrund der demographischen Entwicklung und des internationalen Wettbewerbs der nationalstaatlichen Ökonomien problematisiert. Als Lösungen werden besonders häufig der Abbau staatlicher Alterssicherungssysteme und eine verstärkte Verlagerung der Vorsorge-Kompetenz auf die private bzw. betriebliche Ebene angesehen. Wie gut das gelingt, wird zumeist daran gemessen, 1 Der Beitrag basiert auf Ergebnissen des Forschungsprojektes „Private Pensions and Social Inclusion in Europe“ unter Leitung von Prof. Barbara Riedmüller und Dr. Traute Meyer (Europäische Kommission, 5. Rahmenprogramm (HPSE-CT-2002-00151)). Daran beteiligt waren die Freie Universität Berlin (D), University of Southampton (GB), Universiteit Twente (NL), Istituto di Ricerche sulla Popolazione e le Politiche Sociale (I), Akademia Economiczna Krakow (Pl), Université de Fribourg (CH). Ich danke Traute Meyer und Paul Bridgen (UK), Guliano Bonoli und Fabio Bertozzi (CH) sowie Bert de Vroom und Duco Bannink (NL) dafür, dass sie mir ihre Ergebnisse für diesen Beitrag zur Verfügung stellten. Die Projektergebnisse sind erschienen in Meyer/Bridgen/Riedmüller (2007) 2 Deren Prototypen sind Schweden, Deutschland und Großbritannien. Einen weiteren Versuch der Typologisierung unternehmen Vertreter des Ansatzes „Varieties of Capitalism“. Im Vergleich zu Esping-Andersen geht es dort um den Zusammenhang der sozialen Sicherungssysteme mit dem Produktionsregime einer Gesellschaft. Unterschieden wird zwischen koordinierten und liberalen Marktökonomien (vgl. Hall/Soskice 2001).
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wie stark die finanzielle Stabilität der staatlichen Altersvorsorgesysteme künftig gewahrt wird. Der Aspekt der angemessenen Höhe der erreichten Alterseinkünfte findet demgegenüber weniger Beachtung. Genau dies steht jedoch im Mittelpunkt dieses Beitrags. Welche Transferpotenziale im Hinblick auf das Ziel, ein angemessenes Rentenniveau3 zu gewährleisten, bieten jene Länder, die bereits seit mehreren Jahrzehnten Altersvorsorge stärker nicht-staatlich organisieren? Inwiefern griffen die Akteure der deutschen Rentenreformen 2001 bis 2004 auf diese Potenziale zurück? Folgt man Theorien des Wohlfahrtstaates und der wissenschaftlichen Literatur über die Nutzung ausländischer Erfahrungen bei Reformen, ließe sich erwarten, dass Transferpotenziale eher bei jenen Ländern erschlossen werden, die dem gleichen Wohlfahrtsstaatstypus angehören. Dem Kriterium, schon über einen längeren Zeitraum stärkeres Gewicht auf nichtstaatliche Formen der Altersvorsorge zu legen sowie zum gleichen konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaatstypus wie Deutschland zu gehören, erfüllen die Niederlande und die Schweiz, die ich deswegen für die Analyse ausgewählt habe. Zum anderen sollen die Erfahrungen Großbritanniens, das zu den liberalen Wohlfahrtsregimes zählt, berücksichtigt werden. Großbritannien gehört im europäischen Vergleich zu den Vorreitern eines stärker auf individueller Vorsorge bauenden Rentensystems. Die Analyse der deutschen Rentenpolitik ergibt, dass dort entgegen der Annahme nicht die Erfahrungen aus ähnlichen Wohlfahrtsstaaten genutzt wurden. Die für das Gesamtrentensystem maßgeblichen Institutionen, Grundprinzipien und Kompetenzzuschreibungen jener Länder unterscheiden sich derart von denen Deutschlands4, dass die deutschen Reformakteure eher auf die Instrumente des liberalen Wohlfahrtsstaates Großbritannien zurückgriffen. Um dies zu zeigen, verwende ich das Konzept des „Policy Transfers“ (vgl. Dolowitz/Marsh 2000). „Policy Transfer“ impliziert eine akteurszentrierte Betrachtung: Es geht um eine aktive Aneignung politikrelevanter Informationen und deren Übertragung auf das eigene Politikfeld durch politische Entscheidungsträger. Der Transfer-Begriff beinhaltet außer Lernprozessen5 die Adaption von Programmen und Institutionen sowie die Umsetzung externer Richtlinien in politischen Mehrebenensystemen als Methoden der Politik-Aneignung (Ja3 Das Rentenniveau ist dann angemessen, wenn es die soziale Inklusion der Rentnergeneration sicherstellt. Der Inklusionsbegriff wird anhand der finanziellen Ausstattung der Rentnerinnen und Rentner operationalisiert (für alternative Ansätze die auf soziale Netzwerke rekurrieren vgl. u.a. Ogg 2005) 4 Dies wirft die Frage auf, inwiefern sich Esping-Andersens Typologie lediglich auf Teilbereiche wohlfahrtsstaatlicher Politik anwenden lässt, insbesondere wenn man die Interaktion mit nichtstaatlichen Sicherungsformen in die Analyse einbezieht. 5 Als prominenteste Vertreter einer Theorie politischen Lernens sei hier auf Sabatier (1993) und Hall (1993) verwiesen.
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mes/Lodge 2003: 190). Im Folgenden werden drei Ebenen analytisch unterschieden, auf denen möglicherweise Transferprozesse stattfinden6: 1. 2.
3.
Paradigmatisch: übergeordnete Ideen und Politikziele Konkret: Problemwahrnehmungen, kausale Lösungsvorstellungen eines Problemfeldes sowie die Institutionen, die der Bewältigung dienen und schließlich Spezifisch: Politikinstrumente und Maßnahmen.
Diejenigen Elemente der Alterssicherungssysteme der untersuchten Staaten, die sich positiv auf die soziale Inklusionsfähigkeit auswirken, werden in diesem Beitrag als „Transferpotenziale“ verstanden7. Der Vergleich dieser „Transferpotenziale“ mit dem tatsächlichen politischen Diskussionsverlauf und den Reformergebnissen eröffnet Einblicke in die Zielhierarchien der Akteure sowie in die Logiken des politischen Reformprozesses. Zudem wird der Blick auf „verschüttete Alternativen“ im Reformprozess gelenkt und darauf, wie politische Diskurse geschlossen wurden (Bothfeld 2005: 112). Dies ist umso spannender in Politikfeldern, die durch starke Zielkonflikte strukturiert werden, wie es die Rentenpolitik zweifelsohne eines ist. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst werden die Institutionen der Alterssicherung in den ausgewählten Ländern kurz porträtiert. In einem weiteren Schritt werden deren Auswirkungen auf die soziale Inklusion der Rentnergeneration aufgezeigt, um Transferpotenziale für Deutschland zu ergründen. Diese Transferpotenziale stehen in Wechselwirkung mit generellen Entwicklungstrends privater Alterssicherungssysteme, wie sie in allen untersuchen Ländern zu finden sind. Jene Trends werden deshalb in einem weiteren Abschnitt kurz dargestellt. Abschließend werden die Ergebnisse der Rentenreformen der Jahre 2001 bis 20048 in Deutschland daraufhin geprüft, welche Transferpotenziale genutzt wurden. 6
Diese sind an Halls Stufenprozess des Lernens angelehnt (Hall 1993). Hall (und ebenso Sabatier) interessiert in erster Linie der Wandel auf der ersten, „paradigmatischen“ Ebene, der Veränderungen auf den folgenden Ebenen impliziert. Veränderungen auf der zweiten und dritten Ebene werden als Anpassung bzw. Vorstufen des paradigmatischen Wandels definiert (Bandelow 2003). Aus diesem Grund ist der Begriff des Policy-Transfers umfassender und außerdem weniger normativ (vgl. dazu und zu den Grenzen des Lernbegriffs Nullmeier 2003). 7 Die Analyse der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, ihrer Wirkungen und Reformen kann nicht erheben, über welches Wissen die Akteure während der Formulierung der Reformen tatsächlich verfügten. Dies bedarf einer detaillierteren Analyse der Diskurse und „Wissensmärkte“ (Nullmeier/Rüb 1993), als sie hier erfolgen kann. So ist auch eine Aussage über kognitive Lernprozesse bei den Akteuren nicht möglich. 8 Es handelt sich dabei um die Absenkung des Rentenniveaus im Altersvermögensgesetz (AVmG) und die Einführung geförderter privater Altersvorsorge im Altersvermögensergänzungsgesetz (AV-
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Institutionelle Ausgestaltung der Altersvorsorge
Die staatlichen Rentensysteme unterscheiden sich sowohl darin, welche Einkommensarten bzw. Personengruppen in ihnen erfasst sind als auch im Grad der Umverteilung. Betriebliche Systeme lassen sich nach dem Grad der Verbindlichkeit und den Regulierungsprinzipien differenzieren (vgl. Tabelle 1). Darüber hinaus muss der Anteil der einzelnen Vorsorgeelemente für die Alterseinkünfte berücksichtigt werden.
1.1 Bundesrepublik Deutschland Die wenigsten Personengruppen werden in der deutschen Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) abgesichert: dort sind abhängig Beschäftigte und ihnen Gleichgestellte (Arbeitslose, Erziehende, Pflegende) versichert. Die Leistungen der GRV sind an die eingezahlten Beiträge geknüpft, es wird nur in geringem Maße umverteilt. Der Anteil der gesetzlichen Rente an den gesamten Alterseinkünften ist sehr hoch. Vor den Reformen der Jahre 2001 bis 2004 sollte die GRV 70% der Nettoeinkünfte eines Durchschnittsverdieners ersetzen. Nach diesen Reformen sollen aus der staatlichen Rente und der geförderten privaten Altersvorsorge Alterseinkünfte in Höhe von mindestens 67% der Nettoeinkünfte erzielt werden. Zusätzliche Formen der Vorsorge sind freiwillig, werden jedoch staatlich gefördert. Betriebliche Alterssicherung wurde bislang ausschließlich vom Arbeitgeber initiiert. Seit der Rentenreform im Jahre 2001 existieren darüber hinaus tarifliche Vereinbarungen, die sowohl Beiträge der Arbeitgeber beinhalten, als auch die Anlage individueller Entgeltbestandteile in so genannte Branchenfonds regeln. Private Vorsorge wird bei der Anlage in bestimmte Produkte (Riester-Rente) staatlich durch direkte Zulagen oder durch steuerliche Abzugsmöglichkeiten gefördert.
1.2 Großbritannien Das staatliche Rentensystem Großbritanniens besteht aus zwei Teil-Systemen. In die Basic Pension (BP) zahlen alle Erwerbstätigen, also auch die Selbstständigen. Die Leistungen sind pauschaliert, der volle Rentenbetrag wird nach einer Mindestbeitragszeit gewährt. Die Leistungen der BP liegen unter dem britischen mEG) im Jahr 2001 sowie die Einführung eines Nachhaltigkeitsfaktors (RV-NachhaltigkeitsG) in der Rentenformel und die Reform der Besteuerung der Alterseinkünfte (Alterseinkünftegesetz (AltEinkG) im Jahr 2004.
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Sozialhilfesatz. Für den einkommensbezogenen Teil, die Second State Pension (SSP), gelten die gleichen Prinzipien wir für die deutsche GRV. Allerdings wird in stärkerem Maße zugunsten von Beziehern niedriger Einkommen umverteilt. Obgleich die SSP eine Pflichtversicherung ist, kann sie „abgewählt“ werden und die Beiträge dürfen stattdessen in spezielle betriebliche Rentenversicherungen eingezahlt werden. Diese betrieblichen Rentenversicherungen werden wie in Deutschland von Arbeitgebern angeboten. Es besteht außerdem die Möglichkeit, in „personal plans“ einzuzahlen und so die Beiträge zur SSP zu verringern (Bridgen/Meyer 2007). Insgesamt soll das staatliche System nur eine Mindestabsicherung leisten, während der Hauptteil der Alterseinkünfte aus betrieblichen und privaten Vorsorgeformen stammen soll. Das gesamte Alterssicherungssystem soll zwei Drittel des letzten Lohnes ersetzen.
150 Tab. 1:
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Charakteristika der Altersvorsorgesysteme D
erfasste Einkommen / Personen
Grad der Umverteilung Sicherungsziel
staatl. Rentenausgaben in % des BIP1 Verbindlichkeit Funktion
RegulierungsPrinzip Vermögensbestände in % des BIP 2
Lohn- und Gehaltsbezieher + Gleichgestellte niedrig
UK
CH
staatliches Rentensystem SSP*: Lohngesamte Erund Gehaltsbewerbsbevölkerung zieher BP**: + Selbstständige SSP: moderat hoch BP: hoch
NL Alle Bürger
Hoch
moderater Einkommensersatz
Basissicherung
Basissicherung
Basissicherung
11,4
6.6
k.A.
7,7
Freiwillig Human-Ressources Instrument Betriebl. Angebot/ Sektorale Aushandlung 13,0
betriebliche Vorsorge Freiwillig Pflicht Human-ResLohnfortzahsources Instrulung ment Betriebl. Ange- Staatliche bot Minimalvorgabe 77,1
122,1
Pflicht Lohnfortzahlung Sektorale Aushandlung 130,0
Gesamtsystem Lohnersatzziel in % 67 (netto) 66 60 70 Reale Lohnersatz45,8 / 71,8 37,1 / 47,6 58,2 / 67,3 68,3 / 84,1 rate in % (Brutto/Netto)3 *SSP = Second State Pension **BP= Basic Pension 1 Daten für 2004, ; (Quelle: Europäische Kommission 2006: Tabelle 6.1) 2 Daten für 2006; (Quelle: OECD 2007: Abbildungen 1 und 3, eigene Berechnungen) 3 Ersatzraten eines Durchschnittsverdieners in der Privatwirtschaft unter Berücksichtigung aller Pflichtsysteme; (Quelle: OECD 2005)
1.3 Schweiz Der Kreis der in die staatliche Alters- und Hinterlassenenversicherung der Schweiz (AHS/AHV) Einbezogenen ist wesentlich größer. Sämtliche Erwerbstätige sind erfasst, außerdem müssen von Einkünften aus Stipendien, Geldanlagen etc. Beiträge abgeführt werden. Nichterwerbstätige Ehefrauen sind durch die Beiträge der Partner rentenversichert. Die Leistungen sind beitragsbezogen,
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allerdings ist durch Mindest- und Höchstrenten der Grad der Umverteilung im System sehr hoch. Zudem wird durch das automatische Rentensplitting unter Ehegatten innerhalb eines Hauhaltes stark umverteilt. Die AHV soll eine Rente ohne Armut ermöglichen (Bertozzi/Bonoli 2007). Der Lebensstandard soll hingegen durch betriebliche Vorsorge gewährleistet sein. Diese ist ab einer bestimmten Einkommenshöhe obligatorisch. Zwar werden die Rentenpläne von den jeweiligen Arbeitgebern mit Finanzdienstleistern ausgehandelt, allerdings sind Mindestwerte für die Beitragshöhe, die Verzinsung und den Umwandlungswert in Annuitäten gesetzlich vorgeschrieben. Ziel des Gesamtsystems ist es, 60 Prozent des letzten Einkommens zu ersetzen. Die Bedeutung von Betriebsrenten für die Realisierung dieses Zieles ist umso höher, je höher die Erwerbseinkommen vor der Pensionierung waren, da bei niedrigeren Einkommen das Ziel schon durch die Mindestrente erreicht werden kann.
1.4 Die Niederlande Das niederländische staatliche Rentensystem umfasst einen ebenso großen Versichertenkreis wie das schweizerische. Es ist jedoch nicht beitragsbezogen, sondern garantiert allen Bürgern, die 50 Jahre in den Niederlanden leben, eine pauschalierte Rente (Algemene Ouderdomswet- AOW). Ihre Höhe hängt vom Familienstand ab. Das Ziel dieser Rente ist wie in der Schweiz ein armutsfreies Alter. Die den Lebensstandard sichernde betriebliche Altersvorsorge ist aufgrund von tariflichen Vereinbarungen in den meisten Branchen verpflichtend (Bannink/de Vroom 2007). Als Leistungsziel ist eine Lohnersatzquote von 70 Prozent definiert, für deren Erreichen auch die individuelle Vorsorge steuerlich gefördert wird. Insgesamt ist aber die betriebliche Vorsorge maßgeblich.
1.5 Vergleich der Alterssicherungssysteme Im Vergleich kommt in der Bundesrepublik der nicht-staatlichen Altersvorsorge im Gesamtsystem der Alterssicherung die geringste Funktion zu, da die GRV bereits einen wesentlichen Teil des Erwerbseinkommens ersetzen soll. In den anderen drei Ländern sollen die staatlichen Systeme nur die Funktion einer Basissicherung erfüllen. Der Zielkonflikt zwischen Lebensstandardsicherung und Finanzierung der Altersvorsorgesysteme ist in den Niederlanden, der Schweiz und Großbritannien so ausbalanciert, dass die Finanzierung in geringerem Maße durch staatliche Systeme erfolgen und das Ziel der Lebensstandardsicherung durch ergänzende Vorsorgesysteme erreicht werden soll. Allerdings ist der
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staatliche Einfluss darauf sehr unterschiedlich: In der Schweiz wurden durch legale Vorgaben und in den Niederlanden in einem tripartistischen Aushandlungssystem obligatorische Betriebsrenten geschaffen; in Großbritannien liegt die Verantwortung dafür hingegen bei den Arbeitgebern und den Individuen. Das deutsche System unterscheidet sich davon durch das Ziel eines hohen, wenngleich sinkenden Anteils des staatlichen Systems an der Lebensstandardsicherung. Dies geht mit einer hohen staatlichen finanziellen Verantwortung einher. Zugleich sind die Zusatzvorsorgesysteme freiwillig, wenn auch durch staatliche Regulierung und Förderung flankiert. Ähnliche normative Grundlagen der Systeme der erfahrenen Länder sollen nicht über deren sehr unterschiedliche Ausgestaltung hinwegtäuschen. Dies wird am Beispiel der „Basissicherung“ deutlich, deren Höhe in den Beispielländern höchst unterschiedlich interpretiert wird, wie die folgende Abb. 1 zeigt. Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, wurde eine relative gesellschaftliche Inklusionsgrenze definiert, die in Relation zum gesamtgesellschaftlichen Durchschnittseinkommen steht (40% des durchschnittlichen Brutto-Einkommens). Zu dieser Inklusionsgrenze wurden die Leistungen aus der Basissicherung (also die Basic Pension für Großbritannien, die Mindestrente für die Schweiz und AOW in den Niederlanden) ins Verhältnis gesetzt. Die Lücke bis 100 Prozent spiegelt wider, welche Rolle die einzelnen Bestandteile des Alterssicherungssystems für die soziale Inklusion spielen.
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Abb. 1:
Relation der Basissicherung zur Inklusionsgrenze 2050 (40% des Durchschnittseinkommens)
Single Verheiratet
70%
60%
48% 45%
19%
0%
19%
0% D
UK
CH
NL
Quelle: Projekt Private Pensions and Social Inclusion in Europe, eigene Berechnungen.
In Deutschland gibt es keine Mindestabsicherung innerhalb des Rentensystems. Stattdessen existiert die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung im Alter. Um soziale Inklusion sicherzustellen, müssen genügend Anwartschaften in der GRV und den Zusatzsystemen erworben werden. In Großbritannien beträgt die Lücke zur Inklusionsgrenze ausgehend vom Niveau der Basic Pension etwa 80 Prozent. Sie muss durch die State Second Pension bzw. Betriebsrenten geschlossen werden. In den Niederlanden und der Schweiz ist die zu schließende Lücke geringer, die Niveaus der Basissicherung wesentlich höher. Singles müssen Renten-Anwartschaften in Höhe von 40 (Schweiz) bzw. 30 Prozent (Niederlande) der Inklusionsgrenze erwirtschaften, für Verheiratete sind es jeweils mehr als 50 Prozent. Die Ausgestaltung der Grundsicherung jener drei Länder, die dem gleichen konservativen Wohlfahrtsstaatstypus angehören, verdeutlicht die Differenzen innerhalb dieses Regimetypus. Der Universalismus im schweizerischen und im niederländischen System und die recht hohe Mindestsicherung kennzeichnen eher sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatsregimes. Das deutsche System ist hingegen in seiner Konzentration auf abhängig Erwerbstätige und deren Ein-
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kommensersatz sowie die Sicherung eines Existenzminimums nur im Bedarfsfall prototypisch für den konservativen Typus. Der nächste Abschnitt zeigt, wie die verschiedenen Arrangements aus staatlicher- und nicht-staatlicher Alterssicherung auf die soziale Inklusion wirken, d.h. wie die in Abb. 1. dargestellte Lücke zur Inklusionsgrenze bei verschiedenen Erwerbverläufen und Einkommen geschlossen werden kann.
2
Soziale Inklusion in unterschiedlichen Alterssicherungssystemen
Um die Auswirkungen der Rentensysteme auf die soziale Inklusion künftiger Rentner zu ermitteln, werden in den Untersuchungsländern Rentenzahlungen bestimmter Beispielbiographien im Jahr 2050 simuliert9. Dabei werden nicht nur staatliche Rentensysteme berücksichtigt, sondern ebenfalls betriebliche Altersvorsorgeangebote, so sie denn für Arbeitnehmer verpflichtend sind. Auf der Basis von Institutionenanalysen und Experten-Interviews mit Entscheidungsträgern in den nationalen Rentenpolitiken wurden hypothetische Biographien entwickelt, die typische Risiken im Lebensverlauf widerspiegeln, welche zu niedrigen Alterseinkommen führen können. Dazu zählen besonders Erwerbsunterbrechungen durch Betreuungsaufgaben, Teilzeit-Erwerbstätigkeit, Selbstständigkeit sowie der Bezug unterdurchschnittlicher Einkommen (Details im Anhang). Die künftigen Renteneinkünfte dieser Biographien wurden unter ceteris-paribus-Annahmen für die untersuchten Länder10 simuliert. Die so ermittelten Brutto-Alterseinkünfte werden zu der oben beschriebenen Inklusionsgrenze (40 Prozent des durchschnittlichen Bruttoeinkommens) ins Verhältnis gesetzt. In Anlehnung an etablierte Armutsmaße, auf die wegen einer fehlenden vergleichbaren Datenbasis für alle beteiligten Länder nicht zurückgegriffen werden konnte, wird angenommen, dass ein Einkommen in dieser Höhe zu einer adäquaten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigt. Wie leistungsfähig sind die Sicherungssysteme für die verschiedenen Biographien? Zunächst zeigt Abbildung 2 die Ergebnisse für die Bundesrepublik. In Deutschland erreichen nur sehr wenige der Beispielbiographien die Inklusionsgrenze. Das sind zum einen die überdurchschnittlich vergüteten Angestellten in der Chemieindustrie und der Finanzbranche. Sie haben Anwartschaften in der GRV erworben, die allein schon zum Erreichen der Inklusionsgrenze genügen. 9 Diese Methode ist den im Rahmen der EU durchgeführten langfristigen Vorausschätzungen zur finanziellen Nachhaltigkeit der staatlichen Systeme (Europäische Kommission 2003: 61f.) und zu künftigen Lohnersatzraten (Social Protection Committee (SPC) - Indicators Subgroup 2003) ähnlich. 10 Reales Lohnwachstum von 2,0 % p.a., Real-Verzinsung von Anlagen in der privaten Alterssicherung, so keine anderen Regelungen existieren 4,0% p.a., Inflation 1,9% p.a.
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Zusätzlich verfügen beide über relativ großzügige Betriebsrenten. Die Leistungen aus einer Betriebsrente führen auch bei der Angestellten im öffentlichen Dienst dazu, dass sie ein adäquates Alterseinkommen bezieht. Bei den anderen Biographien reichen aufgrund der künftigen Niveausenkungen weder die Leistungen aus der GRV, noch werden diese durch betriebliche Vorsorgeangebote hinreichend ergänzt, um die Inklusionsgrenze zu erreichen. Die Teilzeitbeschäftigte im Einzelhandel verfügt über ein zu geringes Erwerbseinkommen, und bezieht infolge des Versicherungsprinzips der GRV eine Rente unterhalb der Inklusionsgrenze. Die Hausfrau und die beiden Selbstständigen sind hingegen den größten Teil ihres Lebens weder durch die GRV noch durch Betriebsrenten abgesichert. Während erstere durch das Einkommen und die spätere Rente ihres Partners abgesichert werden soll, wird Selbstständigen eine hohe Eigenverantwortung in Bezug auf ihre Alterssicherung zugeschrieben11. Auch die Biographie des Migranten ist durch die verkürzte Aufenthaltsdauer in den Systemen der Alterssicherung von sozialer Exklusion im Alter bedroht. Abb. 2:
Relation der Alterseinkünfte zur Inklusionslinie 2050 in Deutschland
260% Gesamtrente davon betr.Altersv.
240% 220% 200% 180% 160% 140% 120% 100% 80% 60% 40% 20% 0% 1
2
3b
3a
Legende: 1) Einzelhandel, Teilzeit 2) Öff. Dienst, Teilzeit 3a) Hausfrau 3b) Hausfrau, Scheidung 4a) Autoindustrie, geringe Qualif. 4b) Autoindustrie mit Langzeit-Alo
5) 6) 7) 8) 9)
4a
4b
5
6
7
8
9
Bau, Selbstständiger Familienunternehmer Chemieindustrie Finanzdienstl. Elektroindustrie, Migrant
Quelle: Projekt Private Pensions and Social inclusion in Europe, eigene Berechnungen.
11 Über das Vorsorgeverhalten Selbstständiger liegen nur sehr unzureichende empirische Studien vor. (Für Deutschland vgl. Fachinger/Oelschläger 2000; Fachinger 2002)
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Sehr ähnlich sind die Ergebnisse für Großbritannien (Abb. 3). Hier sind es die gleichen Biographien, die Alterseinkünfte oberhalb der Inklusionslinie erzielen. Dies wird in erster Linie durch sehr großzügige Betriebsrentensysteme erreicht. Besondern in der chemischen Industrie und bei Finanzdienstleistern sind die Rentenzahlungen im Vergleich zu anderen Branchen wie auch zu den deutschen Kollegen sehr viel höher. Die staatlichen Rentenleistungen machen durch die Pauschale der Basic Pension12 meist einen geringen Anteil an den simulierten Alterseinkünften aus. Die Gestaltung der betrieblichen Vorsorge spielt hier folglich die bedeutendste Rolle für die soziale Inklusionsfähigkeit des Gesamtsystems. Aus diesem Grund sind die Alterseinkommen aus der betrieblichen oder staatlichen Vorsorge für die Hausfrau und für die Biographien mit langen Phasen selbstständiger Tätigkeit sowie für den Migranten in Großbritannien am niedrigsten, da sie von relevanten betrieblichen Sicherungssysteme nur kurze Zeit ihres Lebensverlaufs erfasst werden. Abb. 3:
Relation der Alterseinkünfte zur Inklusionslinie 2050 in Großbritannien
260% Gesamtrente davon betr.Altersv.
240% 220% 200% 180% 160% 140% 120% 100% 80% 60% 40% 20% 0% 1
2
3b
3a
Legende: 1) Einzelhandel, Teilzeit 2) Öff. Dienst, Teilzeit 3a) Hausfrau 3b) Hausfrau, Scheidung 4a) Autoindustrie, geringe Qualif. 4b) Autoindustrie mit Langzeit-Alo
5) 6) 7) 8) 9)
4a
4b
5
6
7
8
9
Bau, Selbstständiger Familienunternehmer Chemieindustrie Finanzdienstl. Elektroindustrie, Migrant
Quelle: Projekt Private Pensions and Social Inclusion in Europe, eigene Darstellung nach Berechnungen von Paul Bridgen und Traute Meyer (Bridgen/Meyer 2007). 12 Für die meisten Biographien wurde angenommen, dass sie die SSP abwählen und in Betriebsrentensysteme investieren (vgl. Bridgen/Meyer 2005).
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Das Ziel, eine Rente in der Höhe zu beziehen, die die Lücke zwischen der Mindestsicherung und der Inklusionsgrenze schließt, wird in beiden Ländern in vielen Fällen nicht erreicht. Die Ähnlichkeit der Ergebnisse beider Länder erstaunt angesichts der unterschiedlichen Ausgestaltung ihrer Rentensysteme. Doch offensichtlich resultiert dies zum einen daraus, dass die gleichen Personengruppen aus dem System ausgeschlossen und auf andere Sicherungsarten verwiesen werden. Zum anderen ist in beiden Ländern gleichermaßen das Versichersicherungsprinzip wirksam. Dieses stellt sowohl in der Sozialversicherung Deutschlands als auch in den britischen betrieblichen Systemen einen engen Zusammenhang zwischen Einkommen und Rentenzahlungen her. Niedrige Einkünfte durch Teilzeit-Erwerbtätigkeit führen so in jedem Fall auch zu niedrigen Renten. In der Schweiz und in den Niederlanden bewirken die Rentensysteme einen höheren Grad der sozialen Inklusion (Abbildungen 4 und 5). Die Simulationsergebnisse für die Beispiel-Biographien verdeutlichen die stark umverteilende Wirkung des Schweizer Rentensystems. Die Ergebnisse sind trotz der Unterschiede zwischen den Lebensverläufen sehr homogen. Dabei bezieht keine der Biographien eine Rente so weit unterhalb der Inklusionsgrenze wie in Deutschland und Großbritannien. Der Einbezug der gesamten Erwerbsbevölkerung in die Rentenversicherungspflicht führt zu vergleichsweise hohen Leistungen bei der Hausfrau und den Selbstständigen. In Verbindung mit der staatlich regulierten Betriebsrente kann außer den beiden Biographien mit überdurchschnittlichen Einkommen (Chemie, Finanzdienstleistungen) und der Beschäftigten im öffentlichen Dienst auch der Geringqualifizierte in der Metallindustrie und der Migrant eine die soziale Inklusion sicherstellende Rente beziehen. Es wurde für die Simulationen angenommen, dass keine der Betriebsrenten wesentlich höhere Leistungen bietet, als sie staatlich vorgegeben sind. Die Rentenhöhe differiert, wenn Betriebe freiwillig mehr für die Alterssicherung ihrer Angestellten tun oder bei individueller Vorsorge.
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Abb. 4:
Relation der Alterseinkünfte zur Inklusionslinie 2050 in der Schweiz
260% Gesamtrente davon betr.Altersv.
240% 220% 200% 180% 160% 140% 120% 100% 80% 60% 40% 20% 0% 1
2
3b
3a
Legende: 1) Einzelhandel, Teilzeit 2) Öff. Dienst, Teilzeit 3a) Hausfrau 3b) Hausfrau, Scheidung 4a) Autoindustrie, geringe Qualif. 4b) Autoindustrie mit Langzeit-Alo
5) 6) 7) 8) 9)
4a
4b
5
6
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8
9
Bau, Selbstständiger Familienunternehmer Chemieindustrie Finanzdienstl. Elektroindustrie, Migrant
Quelle: Projekt Private Pensions and Social Inclusion in Europe, eigene Darstellung nach Berechnungen von Fabio Bertozzi und Giuliano Bonoli (Bertozzi/Bonoli 2007).
Die Ergebnisse in den Niederlanden unterscheiden sich von den schweizerischen durch eine wesentlich stärkere Differenzierung der Alterseinkünfte. Ursache dafür sind die größeren Unterschiede in der Ausgestaltung der Betriebsrenten. Auch hier sind die Leistungen der Chemischen Industrie, der Finanzdienstleister und des öffentlichen Dienstes am höchsten. Zudem führt die gute Absicherung in der Metallindustrie zu Alterseinkünften des gering Qualifizierten weit oberhalb der Inklusionsgrenze. Eine Besonderheit zeigt sich bei dem Selbstständigen in der Baubranche: er ist ebenfalls berechtigt, an betrieblicher Altersvorsorge zu partizipieren. In den Niederlanden liegt das Alterseinkommen dieser Biographie dementsprechend über der Inklusionsgrenze. Im Ländervergleich weisen die Niederlande die höchsten Alterseinkommen in Relation zur Inklusionsgrenze auf. Dies resultiert aus der Kombination einer hohen Basissicherung mit tariflich ausgehandelten Betriebsrenten.
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Abb. 5:
Relation der Alterseinkünfte zur Inklusionslinie 2050 in den Niederlanden
260% Gesamtrente davon betr.Altersv.
240% 220% 200% 180% 160% 140% 120% 100% 80% 60% 40% 20% 0% 1 Legende: 1) 2) 3a) 3b) 4a) 4b)
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Einzelhandel, Teilzeit Öff. Dienst, Teilzeit Hausfrau Hausfrau, Scheidung Autoindustrie, geringe Qualif. Autoindustrie mit Langzeit-Alo
3b 5) 6) 7) 8) 9)
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Bau, Selbstständiger Familienunternehmer Chemieindustrie Finanzdienstl. Elektroindustrie, Migrant
Quelle: Projekt Private Pensions and Social Inclusion in Europe, eigene Darstellung nach Berechnungen von Duco Bannink und Bert de Vroom (Bannink/de Vroom 2007).
Welche Implikationen bzw. „Lehren“ ergeben sich daraus für die Bundesrepublik? Erstens, dass das deutsche System langfristig hinsichtlich seiner sozialen Inklusionsfähigkeit noch nicht optimal austariert ist. Die reduzierten Leistungen der GRV werden in zu geringem Maße durch weitere Vorsorgesysteme ergänzt. Bereits bei Einkommen, die niedriger als 80 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens sind, reicht die maximal geförderte Summe für individuelle Vorsorge (4 Prozent des Bruttoeinkommens) in der Regel nicht mehr aus, um ein Alterseinkommen in Höhe der Inklusionsgrenze zu erzielen. Personen mit Einkommen in dieser Höhe können nur in Ausnahmefällen die Inklusionsgrenze erreichen. Hier zeigt der Vergleich zu den anderen Ländern, dass besonders für Personen mit langen Phasen der Teilzeiterwerbstätigkeit angemessen hohe Mindestrenten wesentlich zu ihrer Absicherung im Alter beitragen können. Dies ist auch insofern erforderlich, als entweder in den entsprechenden Beschäftigungsbranchen mit hohen Anteilen an Teilzeitbeschäftigten die zusätzlichen Sicherungssysteme weniger großzügig ausgestaltet sind als in anderen Bereichen (Einzelhandel) oder gesetzlich definierte Lohngrenzen, die zur Partizipation in
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einem Betriebsrentensystem berechtigen niedrige Einkommen ausschließen (Schweiz, Niederlande). Deutschland kann zweitens lernen, dass die freiwillige Aushandlung zusätzlicher Sicherungssysteme sehr gut funktionieren kann, wie die Beispiele Großbritanniens und der Niederlande zeigen. Im Vergleich dazu orientieren sich die Systeme in der Schweiz zunehmend an den gesetzlichen Minimalvorgaben (Bertozzi/Bonoli 2007), großzügigere Betriebsrentensysteme gibt es nur in Ausnahmefällen. Der Erfolg der ausgehandelten Zusatzrenten hängt in hohem Maße von der Branchenzugehörigkeit des Betriebes ab. Besonders Branchen mit hoher Frauenbeschäftigung bzw. Teilzeiterwerbstätigkeit sowie kleine und mittlere Unternehmen verfügen über weniger großzügige oder gar keine Rentensysteme13. Dies erhöht unter Umständen die Staatsausgaben für die Armutsvermeidung und bedeutet in jedem Fall eine größere soziale Ungleichheit unter Rentnern, selbst bei analogen Erwerbsverläufen und -einkommen. Die dargestellten Simulationsergebnisse beruhen, wie oben beschrieben, auf ceteris-paribus-Annahmen. Um die begrenzte Reichweite dieser Annahmen zu erhöhen, sollen im nächsten Abschnitt zentrale Entwicklungen in den Systemen der betrieblichen Sicherung dargestellt werden, die künftig Auswirkungen auf die soziale Inklusionswirkung der Rentensysteme haben werden.
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Aktuelle Trends in der betrieblichen Altersvorsorge
3.1 Erhöhung der Partizipationsraten In Systemen, deren Alterssicherung zu einem erheblichen Teil durch betriebliche Quellen gewährleistet werden soll, stellt die Erhöhung der Partizipationsraten an diesen Rentensystemen eine besondere Herausforderung dar. Tabelle 2 zeigt, dass vor allem in Deutschland und Großbritannien Handlungsbedarf besteht. Berücksichtigt man in Deutschland nur die Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft, sind die Partizipationsraten noch niedriger. Ende 2004 hatten nur 42% der Frauen und 47% der Männer in der Privatwirtschaft eine Betriebsrente (tns Infratest 2005: Tabelle 2-3a). Die regulatorischen Bestrebungen blieben dabei in der jeweiligen institutionellen Logik des Systems. Die Akteure in Deutschland und Großbritannien mit ihren freiwillig organisierten Betriebsrenten versuchten, die Rahmenbedingun13 Frauen sind zusätzlich betroffen, da sie auch häufiger in KMU Beschäftigung finden. Gründe für das geringere Engagement der deutschen KMU bei Betriebsrenten sind u.a. deren geringere Erfassung durch Tarifverträge und das Fehlen von Betriebsräten, die hinsichtlich dieser Frage als Informationsbroker dienen (ausführlicher dazu vgl. Riedmüller/Willert 2005: 31f.).
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gen zu verbessern und zusätzliche Anreize zu bieten. So wurden z.B. in Deutschland die Fristen verkürzt, ab denen arbeitgeberfinanzierte Renten unverfallbar werden, da eine Mindest-Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren besonders Frauen benachteiligte14. In Großbritannien und in Deutschland wurden zudem Ansprüche auf rein arbeitnehmerfinanzierte, steuerlich geförderte Rentensysteme eingeführt15. Tab. 2:
Partizipationsraten an betrieblichen Altersversorgungseinrichtungen
D UK CH NL 3 3 54% Männer > 90% 65% Männer, > 90% 54% Frauen; 65% Frauen; Große Betriebe Große Betriebe 1 2 mit höherer P. mit höherer P. 1 Daten für 2006; inkl. Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst (Quelle: tns infratest 2007: Tabelle Z-1) 2 Daten für 2006; inkl. ; öffentlicher Dienst (Quelle: Office for National Statistics 2008: Tabelle 2,1a) 3 Daten o.J.; (OECD 2007: Tabelle II.2.1) Partizipation
Die Partizipationsraten in den obligatorischen Betriebsrentensystemen der Schweiz und der Niederlande sind wesentlich höher. Deckungslücken entstehen dort vor allem, weil die Versicherungspflicht erst ab einem bestimmten Mindesteinkommen greift. Durch die Reformen in Bezug auf diese Mindesteinkommen sollen Niedrigverdiener und Teilzeiterwerbstätige stärker einbezogen werden. Die niederländische Regierung nutzte zudem ihre Rolle in der Tarifpolitik, um Druck auf jene Branchen auszuüben, die bislang noch keinen Tarifvertrag zur Alterssicherung haben. Der Rahmen für betriebliche Altersvorsorge bleibt in beiden Ländern dirigistischer Natur. Auf die soziale Inklusion wirken sich diese Regelungen positiv aus. Für die bislang freiwilligen Systeme in Großbritannien und Deutschland bedeutet eine Erhöhung der Partizipationsraten aber zugleich einen Funktionswandel der betrieblichen Sicherungssysteme. Waren sie ursprünglich Instrumente zur Gewinnung und Gratifizierung besonderer Arbeitskräfte, geht dieser Charakter durch die Bestrebungen einer umfassenden Abdeckung verloren. Die Etablierung rein arbeitnehmerfinanzierter Betriebsrenten trägt ebenfalls dazu bei. Es ist anzunehmen, dass dies zu einer Differenzierung der Betriebsrentensysteme führen wird: einerseits zu niedrigeren „Standardlösungen“ für alle Beschäftigten und andererseits zu zusätzlichen,
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Sie wurde 2001 auf fünf Jahre verkürzt. 1999 die Stakeholder Pension in Großbritannien, 2001 der Anspruch auf Entgeltumwandlung in Deutschland 15
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großzügigeren Angeboten im Rahmen von Human-Resources-Instrumenten für besondere Gruppen von Betriebsangehörigen.
3.2 Individualisierung der Leistungen In den untersuchten Ländern wurden Betriebsrenten sehr häufig nach dem letzten Gehalt vor dem Ruhestand berechnet (defined-benefit System - DB). Dies verursacht einen hohen Grad an Umverteilung, von dem besonders Erwerbstätige mit unterbrochenen Erwerbsverläufen profitieren (zumeist Frauen) aber auch jene, die vor der Rente überproportionale Einkommenszuwächse aufwiesen. In den Simulationen der Beispielbiographien führte diese Ausgestaltung der Betriebsrente bei dem Arbeiter aus der Chemieindustrie sowie bei der Angestellten im öffentlichen Dienst in allen Ländern zu hohen Renteneinkünften, in den Niederlanden und Großbritannien außerdem noch bei den Metall-Arbeitern. Doch immer weniger Betriebsangehörige profitieren von reinen DB-Systemen. Für die Niederlande stellen Bannink und de Vroom fest, dass zunehmend das gesamte Lebenseinkommen zur Basis der Rentenberechnung wird (2007: 83). In der Schweiz sank der Anteil der durch DB-Systeme abgesicherten Erwerbstätigen zwischen 1994 und 2000 von 33 auf 23 Prozent (Bertozzi/Bonoli 2007: 113). Stattdessen gewinnen solche Betriebsrenten an Bedeutung, die die Zahlung bestimmter Beiträge versprechen (defined contributions - DC), nicht aber eine bestimmte Rentenhöhe. Dies führt zu einer Verlagerung des Anlagerisikos von den Unternehmen als Finanziers der Rentensysteme hin zu den Beschäftigten (vgl. Schmähl in diesem Band). Das Beispiel der Schweiz zeigt jedoch, dass sich dieses Risiko durch eine gesetzlich geregelte Minimalverzinsung der Anlagen begrenzen lässt. Auf die soziale Inklusion der betroffenen Erwerbstätigen wirkt dieser Trend ambivalent. Zunächst verringern sich die ausgezahlten Rentenleistungen. Dies führt insgesamt zu einer Verringerung der Bedeutung betrieblicher Rentensysteme für die soziale Inklusion. Als Ausgleich werden in verstärktem Maße private Anlageformen staatlich gefördert, in denen der Arbeitgeber private Investitionen nur noch „kanalisiert“, wie bei der deutschen ‚Entgeltumwandlung’ bzw. den britischen ‚stakeholder-schemes’. In den auf freiwillige Vorsorge bauenden Ländern Deutschland und Großbritannien können Instrumente, die auf die stärkere Individualisierung der Leistungen aus der betrieblichen Altersvorsorge hinwirken, zur stärkeren Verbreitung der Renten und damit zu höherer sozialer Inklusion beitragen. Individualisierung und stärkere Beitragsbezogenheit ermöglichen einen geringeren administrativen Aufwand und sind für die Unternehmen mit geringerer kalkulatorischer Unsicherheit verbunden. Dies ist besonders für
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kleine und mittlere Unternehmen eine Erleichterung, die bislang seltener Zusatzrentensysteme für ihre Angestellten anboten. Zudem wird die Portabilität der Anwartschaften für Beschäftigte einfacher.
3.3 Neue Akteure Betriebliche Zusatzrentensysteme sind in ihrer ursprünglichsten Form Vereinbarungen zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber. In immer stärkerem Maße wird diese Beziehung durch neue Akteure beeinflusst. Zum einen spielen Gewerkschaften, zum anderen Europäische Institutionen eine wichtigere Rolle. Der Einfluss der EU ist vielfältig, da die komplexen Interessenlagen und Organisationsformen der Zusatzrentensysteme vom Sozialschutz bis zur Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit viele Regelungsbereiche berühren. Dementsprechend reichen die verwendeten Instrumente von Richtlinien bis zu Koordinierungsversuchen und Absichtserklärungen. In die Kategorie „Sozialschutz“ fällt die Richtlinie zum Schutz vor sexueller Diskriminierung. Es gilt der Grundsatz, dass Männern und Frauen die gleichen Leistungen in betrieblichen Sozialsystemen gewährt werden und insbesondere Teilzeitbeschäftigte nicht aus diesen Systemen ausgeschlossen werden dürfen (Richtlinie 96/97/EG). Zum Sozialschutz gehört auch die Richtlinie zum Insolvenzschutz von Arbeitgebern, in die Betriebsrentensysteme eingeschlossen sind (Arbeitgeber-Insolvenzrichtlinie 80/987/EWG). Ein Element sowohl des Sozialschutzes als auch der Gewährleistung der Freizügigkeit von Dienstleistungen ist die Regulierung der staatlichen Aufsicht und Kontrolle kapitalgedeckter Einrichtungen zur Altersvorsorge (Pensionsfondrichtlinie 2003/41/EG). Durch diese Richtlinie soll ein europäischer Aufsichtsrahmen hergestellt werden, so dass Anbieter von Produkten der betrieblichen Altersvorsorge grenzüberschreitend tätig und nach einheitlichen Kriterien kontrolliert werden können. Weitere Maßnahmen der Europäischen Kommission haben das Ziel, die Arbeitnehmermobilität zu fördern. Dazu zählt die Harmonisierung der unterschiedlichen Besteuerung16 und der Übertragungsregeln von Vorsorgevermögen in den einzelnen Mitgliedstaaten, der Portabilität17. 16 Die ersten Schritte wurden mit der Mitteilung der Kommission "Beseitigung der steuerlichen Hemmnisse für die grenzüberschreitende betriebliche Altersversorgung" bereits eingeleitet (KOM/2001/0214endg.). Nachdem der Rat sich nicht auf eine positive Stellungnahme zu dieser Mitteilung einigen konnte, leitete die Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen die steuerliche Diskriminierung ausländischer Pensionsfonds in sechs Mitgliedstaaten ein (vgl. Pressemitteilung der Kommission IP/03/179). 17 Im Jahr 2002 begann die Kommission mit der Anhörung der Sozialpartner. Im Jahr 2005 legte die Kommission einen ersten Richtlinienentwurf vor (KOM(2005) 507), der im Dezember 2007 trotz
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Eher als „Absichtserklärung“ ist die Berücksichtigung der Betriebsrenten in der „Offenen Methode der Koordinierung (OMK)“ der Rentenpolitik zu werten.18 Hier legen die Regierungen der Mitgliedstaaten dar, wie sie die künftigen Herausforderungen in der Rentenpolitik bewältigen wollen. Dazu haben sie sich verschiedene, teilweise konfligierende Ziele gesetzt. Inwieweit diese Ziele bereits erfüllt werden und wie adäquat die eingeschlagenen Wege sind, bewertete die Europäische Kommission in einem gemeinsamen Bericht mit dem Rat (Europäische Kommission 2003, 2006). In diesem Rahmen betonte die Kommission die Vorteile der betrieblichen Altersvorsorge gegenüber individuellen Sparplänen (2003: 33). Zudem forderte sie die Mitgliedstaaten auf, die betrieblichen Zusatzsysteme aktiv zu fördern, denn: „Eine unzureichende staatliche Versorgung reicht nicht aus als Auslöser für die Entwicklung privater Systeme“ (2003: 80). Im Synthesebericht der Kommission und des Rates aus dem Jahr 2006 wird die Arbeit zu „entscheidende[n] Elemente[n] in der Entwicklung privater Rentensysteme“, unter anderem zum Rechtrahmen, ausgewogener Abdeckung und Sicherheit als vorrangiges Thema definiert (2006: 46). Aus der Perspektive der sozialen Inklusionsfähigkeit betrieblicher Altersvorsorge ist der sowohl in der Pensionsfondrichtlinie als auch in der Arbeitgeber-Insolvenzrichtlinie verankerte Schutz vor Verlust der Rentenansprüche bei Konkurs des Arbeitgebers oder des Pensionsfonds positiv hervorzuheben. Zudem könnte sich durch die Pensionsfond-Richtlinie die Alterssicherung für die zunehmende Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Unternehmen mit ausländischem Hauptsitz verbessern, da diese Unternehmen jetzt einfacher betriebliche Vorsorge anbieten können. Sie dürfen durch die gesamteuropäischen Aufsichtsregeln auf ihre „heimatlichen“ Vorsorgedienstleister zurückgreifen. In welchem Umfang dies Auswirkungen hat, wäre jedoch zu untersuchen. Bestrebungen zur Erhöhung der Portabilität der Renten können ambivalente Folgen für die soziale Inklusion haben. Positiv ist, dass bestehende Rentenansprüche besser auf neue Arbeitgeber bzw. deren Versorgungswerke übertragen werden können und ihr Wert bis zum Ruhestand erhalten wird. Andererseits setzt dies eine stärkere Individualisierung der Leistungen voraus. Dies kann bei unterbrochenen Erwerbsbiographien oder Phasen der Teilzeiterwerbstätigkeit zu niedrigeren Rentenansprüchen führen (s.o.). Wie die bereits vorhandenen europäischen Richtlinien zeigen, ist die regulative Kompetenz der EU durchaus vorhanden. Ob sie aber ausreicht, neben der Gewährleistung der Dienstleisoftmaliger Überarbeitung (KOM(2007) 603 endg.) unter anderem von Deutschland im Europäischen Rat abgelehnt wurde. Zu Beginn des Jahres 2008 gab es zwar einen neuen Vorschlag, dessen Umsetzung dürfte jedoch weiter auf sich warten lassen (Bazzazi 2008). 18 Vgl. die Beiträge von Okruch und Kollmer/Seifert in diesem Band.
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tungs- und Arbeitnehmerfreizügigkeit auch sozialpolitische Ziele zu verfolgen19, darf bezweifelt werden. Zu überprüfen bleibt, welche Rolle der Prozess der OMK selbst für die soziale Inklusion der Rentner in den Mitgliedstaaten spielen wird. Immerhin werden dadurch erstmals europaweit vergleichbare Indikatoren für soziale Inklusion gebildet und überprüft. Auf diese Weise werden Transferpotenziale in einem institutionell definierten Rahmen sichtbar gemacht. Dies kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn die Ermittlung der Indikatoren nicht nur als eine nationale Berichtspflicht von vielen betrachtet wird20, sondern daraus politische Schlüsse gezogen werden. Zudem ist eine vergleichende Bewertung der Indikatoren erforderlich. Neue Akteure im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge sind ebenfalls die Gewerkschaften. Dies gilt insbesondere für jene Länder, in denen die staatlichen Rentensysteme reformiert werden und Alterseinkommen künftig in stärkerem Maße auf freiwilliger Basis aus betrieblichen und privaten Vorsorgesystemen stammen sollen als bisher (neben Deutschland auch Italien). Die Art des gewerkschaftlichen Engagements für Betriebsrenten unterscheidet sich jedoch stark, je nach der jeweiligen Konfiguration von Wohlfahrtsstaatstypus und Art der Arbeitsbeziehungen (Ebbinghaus 2000: 4f.). Selbst auf nationaler Ebene unterscheiden sich die Strategien der Gewerkschaften hinsichtlich der betrieblichen Sozialpolitik (Trampusch 2004). Sehr häufig werden Gewerkschaften von reformwilligen Regierungen in den Reformprozess einbezogen, um Massenproteste und soziale Unruhen zu vermeiden. Doch warum sollten Gewerkschaften einer Privatisierung des Rentensystems überhaupt zustimmen? Brugiavini u.a. (2000) nehmen an, dass Gewerkschaften dazu neigen, den wohlfahrtsstaatlichen Status quo zu verteidigen. Sie argumentieren, dass Gewerkschaften allerdings dann zu Zugeständnissen in der Reformpolitik bereit sind, wenn sich auf diesem Wege schwerer wiegende Eingriffe in die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder vermeiden lassen (ebd.: 72). Zudem erlangen solche Reformmaßnahmen gewerkschaftliche Zustimmung, mit denen eventuelle Verluste an Einfluss kompensiert werden können. In diesem Zusammenhang sind einerseits das um die Betriebsrenten erweiterte Spektrum der Tarifpolitik zu sehen, andererseits die Etablierung branchenweiter Betriebsrentensysteme, an deren Management Gewerkschaftsvertreter beteiligt sind. Ein Beispiel dafür findet sich auch im Vorfeld der deutschen Rentenreform 19 Dieses Ziel wird zumindest in der Mitteilung der Kommission zur Modernisierung und Verbesserung des Sozialschutzes in der Europäischen Union vom 12.3.1997 angedeutet: „Daher müssen die Regierungen sichere Rahmenbedingungen für die ergänzenden Alterssicherungssysteme schaffen, ohne daß das Prinzip der Solidarität zusammenbricht oder die atypisch bzw. in ungesicherten Arbeitsverhältnissen Beschäftigten benachteiligt werden“ (KOM/97/0102 endg. Ziffer 15). 20 Darauf deuten einige Ergebnisse zur Offenen Methode im Bereich der sozialen Inklusion hin (vgl. Zeitlin/Pochet u.a. 2005)
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2001. Hier rückten die Arbeitnehmervertreter erst von ihrer Vetoposition ab, als die Förderung der tariflichen und betrieblichen Altersvorsorge in das Reformpaket aufgenommen wurde (Trampusch 2005). Im Jahr 2001 schlossen die Tarifparteien der Chemie- und der Metallindustrie entsprechende Tarifverträge ab und gründeten gemeinsam verwaltete branchenweite Fonds. Die Folgen dieser Entwicklung für die soziale Inklusion der Rentner hängen von der Stärke der Gewerkschaften ab. Bei starken Gewerkschaften, die die neuen betrieblichen Systeme zur Ausweitung des Schutzes ihrer Mitglieder zu nutzen wissen, können die Einkommenseinbußen aus den reformierten staatlichen Systemen ausgeglichen, bei positiver Kapitalmarktentwicklung sogar überkompensiert werden und die soziale Inklusion der Rentner ist weiterhin gewährleistet21. Die Errichtung von Branchenfonds könnte darüber hinaus auch den Zugang von Beschäftigten aus KMU zu Betriebsrenten erleichtern. Bei schwachen Gewerkschaften hingegen bleiben die betrieblichen Systeme wahrscheinlich selektiv, wie das Beispiel Großbritanniens belegt (Brugiavini/Ebbinghaus u.a. 2000: 54). Die soziale Inklusion ist dann für große Bevölkerungsschichten weitaus ungesicherter. Insgesamt zeigen die aktuellen Trends in der betrieblichen Altersvorsorge, dass es überall Bestrebungen gibt, die Partizipationsraten zu erhöhen, während zugleich die Leistungshöhe tendenziell sinken wird. Das Engagement der Gewerkschaften wird eine entscheidende Rolle in diesem Zusammenhang spielen. Für die bislang freiwillig organisierten Systeme der betrieblichen Vorsorge deutet sich ein Funktionswandel an (vgl. Brugiavini/Ebbinghaus u.a. 2000; Eichenhofer 2004): von einer patriarchalen Absicherung mit kollektivem22 Risikoausgleich zum individualisierten Sparplan mit Arbeitgeberbeteiligung23.
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Schlussfolgerungen
Die Rentenreformen der Bundesrepublik in den Jahren 2001 bis 2004 führten dazu, dass im gesamten Altersvorsorgesystem die Gesetzliche Rentenversicherung ihre Rolle als Garant des im Erwerbsleben erreichten Lebensstandards einbüßte. Stattdessen fand ein paradigmatischer Wandel statt, der aus der FiskalPerspektive das Primat der ausgabenorientierten Einnahmepolitik (Leistungssta21 Dies gilt allerdings nur, wenn der Anteil atypischer Beschäftigungsformen an der Gesamtbeschäftigung begrenzt bleibt bzw. wenn Gewerkschaften es verstehen, sich für diese Klientel zu öffnen. 22 Sowohl innerhalb einer Beschäftigtengeneration in DB-Systemen, als auch zwischen den Beschäftigtengenerationen, da die jüngeren Beschäftigten die Leistungsfähigkeit des Unternehmens erhalten müssen. 23 Diese kann dann von der Kanalisierung der Beitragszahlungen der Beschäftigten durch das Unternehmen bis zur finanziellen Beteiligung reichen.
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bilität) zugunsten einer einnahmeorientierten Ausgabepolitik (Beitragssatzstabilität) ersetzte. In der Folge wird das Brutto-Leistungsniveau der GRV bei einem Standardrentner24 von ca. 47% im Jahr 2005 auf 39% im Jahr 2030 absinken (Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) 2003: 30). Aus der funktionalen Perspektive wandelte sich die bislang ergänzende Privatvorsorge zu einem die staatlichen Rentenleistungen zum Teil substituierenden Bestandteil des deutschen Rentensystems (Schmähl 2002, 2003; Trampusch 2005). Der Lebensstandard der künftigen Rentner soll trotz der Leistungssenkungen der staatlichen Rente durch eine steuerliche geförderte Privatvorsorge (die so genannte Riester-Rente) aufrecht erhalten werden25. Der Weg dorthin war durch intensive Diskussionen innerhalb des bundesdeutschen Rentennetzwerkes26 gekennzeichnet, die mit dem Vorschlag einer obligatorischen Privatvorsorge27 und einer steuerfinanzierten Grundsicherung im Rentensystem seitens des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung begannen und die steuerlich geförderte Privatvorsorge sowie (durch den Druck der Gewerkschaften) die Förderung betrieblicher Alterssicherung zum Ergebnis hatten28. Damit erhielt die betriebliche Alterssicherung im reformierten Rentensystem nicht die gleiche große Bedeutung, die sie in den hier vorgestellten Vergleichsländern hat. Vielmehr präferierten die Akteure zunächst individuelle Vorsorgeformen. Wie die Ergebnisse der Simulationen zeigen, verringert dies jedoch die Fähigkeit des Rentensystems, soziale Inklusion zu gewährleisten. Doch welche „Transferpotenziale“ bieten die Ergebnisse im Einzelnen im Hinblick auf eine angemessene Alterssicherung? Welche Transferebenen werden dabei berührt? Zunächst einmal wird deutlich, dass eine in das Rentensystem integrierte Mindestabsicherung die Gefahr von sozialer Exklusion im Alter für Teilzeiter24
Eine Standardrente beruht auf einer 45 Jahre dauernden Erwerbstätigkeit mit dem Durchschnittsverdienst. Sie stellt eine hypothetische, in der deutschen Rentenpolitik jedoch maßgebliche Rechengröße dar. 25 Dies ist nicht nur erklärtes Ziel der amtierenden Bundesregierung gewesen (Bundesregierung 2001: 51), sondern der enge Zusammenhang zwischen GRV und „Riester-Rente“ wurde zudem in der Formel zur jährlichen Rentenanpassung verankert. Als pauschaler „Altersvorsorgeanteil - AVA“ reduziert er hier die durchschnittlichen Netto-Löhne der Beschäftigten, deren jährliche Veränderung die Basis der Rentenanpassung ist. 26 Vgl. dazu Lamping und Rüb (2004). Sie weisen zwar darauf hin, dass im Reformprozess 2001 das „exklusive korporatistische Entscheidungsnetzwerk“ um neue Akteure, wie z.B. das Bundesministerium für Finanzen und Lobbygruppen aus der Finanz- und Versicherungswirtschaft erweitert wurde (ebd.: 180f.); den die früheren Rentenreformen prägenden außerparlamentarischen und geschlossenen Charakter der Gespräche änderte dies jedoch nicht. 27 Diese sollte für Geringverdiener durch Zuschüsse erleichtert werden. 28 Für eine detaillierte Beschreibung und Interpretation des Diskussionsverlaufes vgl. (Trampusch 2005)
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werbstätige und Personen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien verringert. In den ersten Entwürfen war das Instrument einer Mindestrente noch enthalten. Auf der Ebene der Institutionen wurde dann jedoch das Versicherungs- bzw. Äquivalenzprinzip sowohl in der GRV als auch durch das größere Gewicht privater, versicherungsförmiger Vorsorgeformen gestärkt, umverteilende Elemente hingegen abgebaut. Laut Börsch-Supan (2004) ist die GRV seit den Reformen 2004 als Notional Defined Contribution (NDC) System zu betrachten; als ein umlagefinanziertes System, dessen Leistungen nach dem Prinzip von DC-Systemen gezahlt werden29. Das Äquivalenzprinzip wird dabei durch die Akteure so interpretiert, dass für alle Berechtigten ein fixes Verhältnis ihrer Einzahlungen zu den Leistungen gewährleistet sein muss. Ganz explizit wurde diese Auffassung bei den Diskussionen um die „Generationengerechtigkeit“ und „Nachhaltigkeit“ des Rentensystems (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) 2003; kritisch dazu: Schmähl 2005). Ein Beispiel dafür, dass die Leistungen eines Rentensystems auch anders definiert werden können, findet sich in der Schweiz. Dort wurde 2002 im Rahmen der 1. Revision der Betriebsvorsorge konstatiert, dass für Geringverdiener das Gesamtrentensystem eine höhere Lohnersatzrate bieten müsse, als die in der Verfassung verankerten 60 Prozent (Schweizer Nationalrat 2002: 7). Die soziale Inklusionsfähigkeit der Rentensysteme, so zeigen die Simulationen weiter, ist umso höher, je umfassender der abgesicherte Personenkreis ist. Besonders für Niedrigstverdiener (wie z.B. geringfügig Beschäftigte in Deutschland) und Selbstständige ergeben sich in Verbindung mit einer Mindestsicherung höhere Chancen, als Pensionäre sozial inkludiert zu werden. Auf der Ebene der Institutionen entspräche dies einem ausgeprägten Universalismus des Systems. Bei den deutschen Rentenreformen setzte sich die für den konservativen Wohlfahrtstypus typische Stratifizierung entlang des beruflichen Status30 nach der Rentenreform fort. Dies zeigt sich besonders bei dem dann umgesetzten Instrument der Privatvorsorge: deren Förderung blieb auf die abhängig Beschäftigten beschränkt31. Die Absicherung Selbstständiger wurde erst 2004 im Rahmen der Reform der Rentenbesteuerung durch die Einführung einer weite-
29 „NDC systems are accounting devices that treat a PAYG system like a defined contribution (DC) systems“ (Ebd.: 8). 30 Selbst die dadurch garantierte Absicherung nicht erwerbstätiger Ehefrauen durch den Partner wurde in der Riester-Rente mit der Zulagenförderung für Ehegatten, selbst wenn diese keine eigenen Beiträge in private Vorsorgeverträge leisten, nachvollzogen. 31 Etwas später wurden die Beamten in die Förderung einbezogen, da sie durch Reformen der Beamtenversorgung ebenfalls geringere Pensionen haben werden. Dass die meisten Selbstständigen vor ihrer Selbstständigkeit Anwartschaften in der GRV erworben haben, die durch die Rentenreform ebenfalls in niedrigeren Renten resultieren, blieb in den Diskussionen hingegen ausgeblendet.
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ren staatlich regulierten privaten Vorsorgeform mit steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten (die s.g. Rürup- oder Basis-Rente) verbessert. Weiteres Transferpotenzial bieten die Projektergebnisse dahin gehend, dass die Selbstregulierungskräfte der Tarifpartner in Bezug auf die Etablierung betrieblicher Vorsorgeprogramme gut funktionieren können. Allerdings braucht dies Zeit und ggf. staatlichen Druck. In Deutschland wurden die Kompetenzen der Sozialpartner für die Wahrung der Inklusionsfähigkeit der Rentensysteme erst in letzter Sekunde berücksichtigt (Trampusch 2005). Der Gesetzesentwurf sah zunächst nur die freiwillige individuelle Vorsorge vor. Im Politikergebnis wurden die Rahmenbedingungen für die freiwilligen Betriebsrenten verbessert sowie die finanziellen Anreize dafür verstärkt. Trotz der Verpflichtung der Arbeitgeber, den Beschäftigten die Entgeltumwandlung zu ermöglichen32, blieb das institutionalisierte Prinzip der Tarifautonomie unangetastet. Der in den Niederlanden praktizierte Tripartismus sowie das „Obligatorium“ in der Schweiz waren keine Optionen für die deutsche Reformpolitik, obwohl dort die Partizipationsraten und Rentenhöhen das Risiko sozialer Exklusion verringern. Die Freiheitsgrade bei der Etablierung und Ausgestaltung betrieblicher Vorsorge ähneln vielmehr denen Großbritanniens. Neben diesen Konstanten im System der deutschen Alterssicherung findet jedoch auch ein Wandel statt. So verschob sich die Zuschreibung der Verantwortung bezüglich der Sicherung des Lebensstandards im Alter vom Staat auf individuelle bzw. kollektive Akteure. Durch die Akteure der Rentenpolitik wird nur die Verpflichtung des Staates betont, die Rahmenbedingungen für die freiwillige Vorsorge zu schaffen. Aus diesem institutionellen Wandel ergibt sich ein neuer Public-Private-Mix in der Alterssicherung mit neuen Instrumenten. Dazu gehören insbesondere die neu eingeführten steuerlichen Anreize und die direkten Zuschüsse zu privaten Vorsorgeplänen. Letztere stellen eine instrumentelle Innovation dar, die aber in Anbetracht des allgemeinen Trends zur Individualisierung der Vorsorge (vgl. 3.2) folgerichtig ist. In der betrieblichen Altersvorsorge ähnelt das Politikergebnis des Rechtsanspruches auf eine freiwillige Entgeltumwandlung den britischen „stakeholderpensions“. Beide Rentenarten dienen dazu, einen kostengünstigen Weg und einen organisatorischen Rahmen für privates Sparen zu fördern. Auf der instrumentellen Ebene könnte also bei der deutschen Rentenreform ein PolicyTransfer stattgefunden haben. Im Unterschied zu Großbritannien ist in Deutschland die Beteiligung der Gewerkschaften institutionalisiert, da in Tarifverhandlungen festgelegt wird, welche Entgeltbestandteile für diese Vorsorge genutzt werden dürfen. Hierin zeigt sich die größere Bedeutung der Gewerkschaften im 32
Die Beschäftigten müssen diesen Anspruch jedoch beim Arbeitgeber geltend machen.
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politischen System der Bundesrepublik im Vergleich zum Vereinigten Königreich. Zudem sind in der Bundesrepublik keine reinen DC-Systeme gestattet und die Sicherungsmechanismen stärker ausgebaut. Hier wurden anscheinend die britischen Erfahrungen des „Maxwell-Skandals“ zu Beginn der 90-er Jahre berücksichtigt. Wenn dem so wäre, handelte es sich um „worst-practice“-Lernen bzw. um einen Policy Transfer, der „negative lessons“ (Dolowitz/Marsh 2000) berücksichtigt. Insgesamt wurden trotz des vollzogenen Wandels im Rentensystem die bestehenden Institutionen des deutschen Wohlfahrtsstaates beibehalten, zum Teil sogar gestärkt. Der Vergleich möglicher „Transferpotenziale“ aus der Analyse der Rentensysteme Großbritanniens, der Niederlande und der Schweiz mit den deutschen Reformergebnissen ergab, dass die Potenziale hinsichtlich der sozialen Inklusionsfähigkeit von Rentensystemen nicht genutzt wurden. Die Ursache dafür liegt meines Erachtens in der starken Fokussierung der Reformdiskussion auf die Frage der hohen Lohnnebenkosten als internationalem Wettbewerbsnachteil, der durch den demografischen Wandel rapide zunähme33. Der Zielkonflikt zwischen der Finanzierung des Rentensystems und der angemessenen Höhe der Renten wurde zugunsten der Finanzierung34 gelöst. Diese Zielhierarchie war eng mit bestimmten Problemlösungsansätzen verknüpft, die bestehende „epistemic communities“ förderten (vgl. Müller in diesem Band). Zu diesen Lösungsansätzen passten wiederum die bereits bestehenden Institutionen. Ein Transfer neuer Institutionen war daher nicht erforderlich. Anders hingegen bei dem untergeordneten Ziel der angemessenen Renten: dies soll durch das neue Paradigma der „Eigenvorsorge“ (Lamping/Rüb 2004: 185) erreicht werden. Hier stellt sich die Frage, ob dies als Policy-Transfer - im engeren Sinne sogar als „Lernen“ - zu verstehen ist oder ob auch in diesem Fall auf bestehende Institutionen des deutschen Wohlfahrtsstaates, insbesondere auf das Subsidiaritätsprinzip, zurückgegriffen wurde. Die Erfahrungen der dem gleichen Wohlfahrtsregime angehörenden Niederlande bzw. der Schweiz mit ihren universalistischen und dirigistischen Elementen in den Alterssicherungssystemen entsprachen den gewählten Lösungsansätzen zur Reduzierung der Lohnnebenkosten und dem neuen Paradigma der „Eigenvorsorge“ weniger. Entsprechend scheiterte der deutsche Versuch, eine obligatorische private Rentenversicherung als neues, dirigistisches Instrument einzuführen. Stattdessen orientier33 Diese Schließung des Diskurses kumulierte in der vorgesehenen Abschaffung eines MindestSicherungsniveaus für den Standardrentner im Entwurf zum Alterseinkünftegesetz 2004, das nur unter Protest der Gewerkschaften und des linken Flügels der SPD weiter in der GRV verankert blieb. 34 Diese Zielhierarchie wurde durch die aktuell gute ökonomische Situation der deutschen Rentnerinnen und Rentner bestärkt, die die Gefahr der sozialen Exklusion von Rentnern aus der Wahrnehmung verdrängte.
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ten sich die Akteure an jenen Instrumenten, die im liberalen Wohlfahrtsstaat Großbritannien der Umsetzung der Eigenvorsorge dienen: an den institutionell ähnlichen britischen Betriebsrenten und deren „worst practices“ während der Rentenskandale. Dass dieses System zur gegenwärtigen prekären ökonomischen Lage der britischen Rentnerinnen und Rentner führte, wurde dabei ausgeblendet; wahrscheinlich zugunsten der Tatsache, dass das britische Rentensystem als finanziell nachhaltig gilt. Schließlich erwiesen sich die deutschen Akteure dennoch als fähig, innovative Instrumente hervorzubringen. Fraglich ist, ob der neue Public-Private-Mix die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt, damit künftig die Altersarmut in Deutschland nicht so hoch ausfällt, wie es die Simulationen erwarten lassen. Insgesamt zeigte die Analyse, dass politische Reformen nicht immer mit Hilfe eines Politiktransfers erfolgen. In Deutschland wurden in großem Umfang die bestehenden Institutionen für die Problemlösung in Anspruch genommen und eigene Innovationen entwickelt. Wenn Policy Transfer dennoch stattfindet, muss dies nicht in erster Linie von jenen Ländern erfolgen, die dem gleichen Wohlfahrtsstaatsregime angehören. Vielmehr erwiesen sich jene Institutionen Großbritanniens, die zu den in Deutschland gewählten Reformzielen passten, als geeignetere Quellen für die Einführung neuer Policy-Instrumente. Ob dies auch für andere Länder der Fall ist, bleibt eine spannende Forschungsfrage.
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174
Michaela Willert
Anhang:
Risikobiographien Branche
Durchschnittliche LebensEinkommen*
1
Gering qualifizierte Teilzeiterwerbstätige
Einzelhandel
38%
2
Mittel qualifizierte Teilzeiterwerbstätige
Öff. Dienst
62%
3a
20% Hausfrau
3b 4a
Nahrungsmittel
32%
Besonderheiten
Wechsel zu Vollzeiterwerb Drei Kinder, Pflegephase, kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis + Scheidung und anschließende sozialversicherte Erwerbstätigkeit
81%
Gering qualifizierter Arbeiter
Automobil
60%
Langzeit – Arbeitslosigkeit im Alter
5
Mittel qualifiziert mit Erwerbsunterbrechung und Selbstständigkeit
Bau
104%
Arbeitslosigkeit, Training und Selbstständigkeit ab Alter 34
6
Familien-Unternehmer
-
89%
7
Mittel qualifizierter Arbeiter
Chemie
121%
4b
8
Mittlerer Manager
9
Migrant
Finanzdienstleistung Elektro
Nach kurzer Zeit Selbstständigkeit Zwei Scheidungen nach Versorger-Ehe
137% 64%
Migration im Alter von 36
* In Relation zum Durchschnittsverdienst eines Vollzeiterwerbstätigen in der Privatwirtschaft
175
Policy Transfer in Westeuropa?
Abb, 6:
Gesamtes Lebenseinkommen in Relation zum Durchschnittsverdienst eines Vollzeiterwerbstätigen in der Privatwirtschaft
160%
140%
*
* Bei Renteneintritt verheiratet
120%
*
100%
*
80%
*
60%
40%
*
*
*
20%
0% 1
2
3a
3b
4a
Legende: 1) 2) 3a) 3b) 4a) 4b) 5) 6) 7) 8) 9)
Einzelhandel, Teilzeit Öffentlicher Dienst, Teilzeit Hausfrau Hausfrau, Scheidung Autoindustrie, geringe Qualifizierung Autoindustrie mit Langzeit-Arbeitslosigkeit Bau, Selbstständiger Familienunternehmer Chemieindustrie Finanzdienstleistungen Elektroindustrie, Migrant
4b
5
6
7
8
9
III. Alterssicherungspolitik in der Europäischen Union
Rentenpolitik und Sozialschutz in der EU Norbert Kollmer / Christiane Seifert
Die Rentenpolitik und der Sozialschutz in der EU sind nicht Ausfluss der klassischen europäischen Kernkompetenzen wie zum Beispiel der EU-Binnenmarkt oder das Wettbewerbsrecht. Allerdings ist dieses Thema von solch politischer Brisanz, dass seit fast zehn Jahren eine verstärkte Koordinierung stattfindet, um Reformen zu ermutigen, aber auch um einseitige Nachteile für diejenigen Mitgliedstaaten zu verhindern, die sich im Alleingang einer Modernisierung der Rentensysteme widmen.
1
Rentenpolitik der EU
Eine der größten Leistungen der Europäischen Sozialpolitiken in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts besteht darin, dass Alt zu sein nicht mehr Armut oder wirtschaftliche Abhängigkeit von den Kindern bedeutet. Dies wurde hauptsächlich durch die staatliche Altersvorsorge erreicht (Europäische Kommission 2006: 3), welche ein Teil der hoch entwickelten einzelstaatlichen Systeme des sozialen Schutzes in der Europäischen Union ist. Für die Organisation und die Finanzierung der Systeme des sozialen Schutzes sind die Mitgliedstaaten verantwortlich. Der Europäischen Union kommt jedoch die besondere Rolle zu, sicher zu stellen, dass Personen, die sich über die Landesgrenzen hinweg bewegen und somit in den Geltungsbereich anderer Sozialschutzsysteme eintreten, hinreichend geschützt sind. Die Sozialschutzsysteme bergen immense Ausgaben für die Haushalte der europäischen Staaten; ein wichtiger Kostenpunkt stellen die Rentenausgaben dar (siehe Abb. 1).
180 Abb. 1:
Norbert Kollmer / Christiane Seifert
Rentenausgaben zu jeweiligen Preisen (in % des BIP)
16
12
8
4 EU 25
CZ
D
DK 2002
F
LT
2006
Werte für 2006 vorläufiger Wert. Quelle: Eurostat/ESSOSS1
1.1 Die offene Koordinierungsmethode Der Europäische Rat hatte auf seiner Tagung in Laeken im Dezember 2001 erklärt, dass die Verstärkung des Dialogs und der Zusammenarbeit in der Reform der Rentensysteme erheblichen Nutzen bringen könnte. Der Rat sprach sich für gemeinsame Zielvorgaben sowie für ein Arbeitsverfahren auf Basis der sogenannten Offenen Methode der Koordinierung (OMK) aus (Europäische Kommission 2006: 5; Europäischer Rat 2001).2 Aus diesem Grund fördert die Europäische Union eine engere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Modernisierung dieser Systeme, die überall in der EU ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen. Die Zusammenarbeit erfolgt haupt3 sächlich innerhalb des Ausschusses für Sozialschutz (SPC) , innerhalb dessen diese offene Methode entwickelt wurde. Sie stellt eine Art integrierten Rahmen für den Informationsaustausch über nationale Strategien dar, ohne die Zuständigkeiten der Entscheidungsträger auf europäischer und nationaler Ebene zu verschieben oder Kompetenzgrenzen zu überschreiten. 1 ESSOSS – Europäisches System integrierter Sozialschutzstatistiken. s. Verordnung Nr. 458/2007/ EG, Amtsblatt Nr. L 113 vom 30.04.2007 [http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de&pcode=tps00103&plugin=1]. 2 Zu einer ökonomischen Betrachtung der OMK siehe Okruch, dieser Band. 3 [http://europa.eu.int/comm/employment_social/social_protection_commitee/index_de.htm].
Rentenpolitik und Sozialschutz in der EU
181
So hat etwa der Bundesrat (z.B. Bundesrat 2001, 2002) eine bedeutsame Rolle eingenommen, indem er darauf hingewirkt hat, dass sich die Bundesregierung für eine Demokratisierung und für eine Straffung des Koordinierungs-Prozesses stark gemacht hat. Im Rahmen dieser Methode werden gemeinsame Ziele festgelegt, in nationale Politiken umgesetzt und schließlich in einem gemeinsamen Lernprozess unter anderem auf der Grundlage gemeinsam vereinbarter und definierter Indikatoren regelmäßig überwacht.
1.1.1 Entwicklung von Indikatoren Die erzielten Fortschritte und deren voraussichtliche Auswirkungen durch die Modernisierung der Rentensysteme sollen analysiert werden unter Verwendung von Indikatoren, welche vergleichbare Angaben, die für die langfristige Tragfähigkeit der Renten ausschlaggebend sind, zu den wichtigsten Trends aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Demografie liefern. Um die jeweils aktuellen Daten in Betracht ziehen zu können, sollten derartige Prognosen regelmäßig alle zwei bis drei Jahre erstellt werden. Dabei werden verschiedene Arten von Indikatoren erarbeitet:
Leistungsindikatoren, welche aus Daten von Eurostat oder von internationalen Organisationen entnommen werden; Politik-Indikatoren, die auf administrativen oder institutionellen Informationen beruhen; außerdem auch noch retrospektive Indikatoren und Projektionen.
Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, ihre Strategien für die Sicherstellung der Nachhaltigkeit einer angemessenen Rentenversorgung und die Modernisierung ihrer Rentensysteme in nationalen Strategieberichten (NSB) darzulegen.4
1.2 Reform der Rentensysteme Durch die Abhängigkeit der Zukunft der Rentensysteme von politischen Maßnahmen in den Bereichen Beschäftigung, öffentliche Finanzen und Sozialschutz, wurde aus Sicht der EU-Kommission ein integriertes Konzept erforderlich. Wie die Kommission in einer Mitteilung vom 11. Oktober 2000 (KOM 2000, vgl. KOM 2001b) hervorgehoben hat, stellt die zu erwartende Alterung der Bevölke4 Erstmals wurden diese im September 2002 vorgelegt [http://ec.europa.eu/employment_social/spsi/adequacy_sustainability_de.htm].
182
Norbert Kollmer / Christiane Seifert
rung sowie der Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter die Rentensysteme der Mitgliedstaaten mit ihren verschiedenen Kombinationen der drei Säulen (gesetzliches Rentensystem, betriebliche und private Altersvorsorge) vor große Herausforderungen. Abb. 2:
Lebenserwartung mit 60 (Männer)
21 19
17 15 EU 25
CZ
D
DK 2002
F
LT
2007
Zweite Werte für Frankreich und EU-25 von 2006. Quelle: Eurostat/ESSOSS5
Die Alterung der Bevölkerung werde ein solches Ausmaß annehmen, dass die Gefahr einer Aushöhlung des europäischen Sozialmodells besteht, sofern keine geeigneten Reformmaßnahmen ergriffen werden (KOM 2000). Denn „[es] ist (...) festzustellen, dass die Abnahme der Rentenbeitragsjahre in Verbindung mit der Zunahme der Rentenbezugsjahre Druck auf die Rentenfinanzierung ausübt. Reformen werden [also] unerlässlich.“ (KOM 2006: 4)
Aktuellen demografischen Projektionen zufolge wird sich der Altenquotient, d.h. die Anzahl der Menschen im Rentenalter im Verhältnis zu denen im erwerbsfähigen Alter, bis 2050 mehr als verdoppeln (KOM 2001a: 39). Die Einführung von Maßnahmen, mit denen die Rentensysteme zukunftssicher gemacht werden, braucht Zeit, denn oft muss ein Sinneswandel stattfinden, um in langwierigen Prozessen einen Konsens herbeizuführen, der auch die legitimen Erwartungen der Bürger hinsichtlich ihrer Rentenansprüche berücksichtigt. Deshalb müssen jetzt die erforderlichen Strategien entwickelt und Reform5 [http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de&pcode=tps00026&plugin=1].
Rentenpolitik und Sozialschutz in der EU
183
prozesse eingeleitet werden. Es wurde eine ausführliche Debatte zu dieser Frage geführt, bis schließlich der Europäische Rat von Göteborg im Juni 2001 die Notwendigkeit eines umfassenden Konzepts betonte, um den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft zu begegnen. Schließlich schlug die Kommission die folgenden gemeinsamen Ziele für die Unterstützung integrierter nationaler Strategien vor (KOM 2001b: 5ff.):
1.2.1 Angemessenheit des Rentenniveaus Grundsätzlich sollen Rentensysteme Armut und soziale Ausgrenzung von älteren Menschen verhindern, indem sie einen angemessenen Lebensstandard im Ruhestand gewährleisten. Darüber hinaus sollen sie älteren Menschen ermöglichen, am Wohlstand ihres Landes teilzuhaben und aktiv am öffentlichen, sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen. Durch die Kombination der verschiedenen Säulen soll jedem Einzelnen die Möglichkeit geboten werden, zusätzliche Rentenansprüche zu erwerben, was eine Bereitstellung von Rentenleistungen über unterschiedliche Vorsorgeformen und Säulen in durchgängiger und komplementärer Weise voraussetzt (KOM 2001a).
1.2.2 Finanzielle Tragfähigkeit von öffentlichen und privaten Altersvorsorgeinstrumenten Die Sicherung der Finanzierbarkeit von Renten ist äußerst bedeutsam für die sozioökonomische Entwicklung der EU. Aus diesem Grund sollte sie – nach der Konzeption – als ein zentrales Element der Strategie von Lissabon angesehen werden, welche als Ziele ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und einen verbesserten sozialen Zusammenhalt definiert. Durch die Alterung der Gesellschaft und der damit einhergehenden Minimierung der Beitragszahler, gestaltet sich die Bereitstellung entsprechender Finanzmittel allerdings immer schwieriger. Ohne die notwendigen Reformen müssen weniger Erwerbstätige eine größere Zahl von Menschen im Ruhestand unterstützen. Die Mitgliedstaaten sollten hierfür ihre im Rahmen der europäischen Beschäftigungsstrategie ergriffenen Bemühungen fortsetzen, und die Erwerbsquoten bis zum Jahr 2010 insgesamt auf 70 Prozent, für Frauen auf mehr als 60 Prozent und für Personen im Alter zwischen 55 und 64 auf 50 Prozent anheben.
184 Abb. 3:
Norbert Kollmer / Christiane Seifert
Beschäftigungsquote insgesamt (in Prozent)
80
70
60
50 EU 25
CZ
D
DK 2004
F
LT
2008
Quelle: Eurostat/ESSOSS6
Dringend erforderlich erschien es daher, die Inanspruchnahme von Vorruhestandsregelungen zu begrenzen, um so eine längere Arbeitsmarktbeteiligung zu erreichen. Abb. 4
Durchschnittliches Erwerbsaustrittsalter insgesamt
64
62
60
58 EU 25
CZ
DK
D
F
LT
2003 2007
Werte für Litauen 2001 und 2006. Quelle: Eurostat/ESSOSS7 6 [http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=1&language=de&pcode=tsiem010].
Rentenpolitik und Sozialschutz in der EU
185
Ein wesentlicher Anteil der Gesamtrentenausgaben wird über die öffentlichen Haushalte finanziert, die den Erfordernissen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes unterliegen. Dabei können die notwendige solide Verwaltung der öffentlichen Haushalte und der Abbau der Staatsschulden helfen, mit den Auswirkungen der Alterung fertig zu werden. Ziel sollte dabei sein, die Ausgaben für Renten als Anteil am BIP auf einem vernünftigen Niveau zu fixieren. Ein weiterer Ansatz könnte darin bestehen, besondere Reservefonds für Renten einzurichten, was mehrere Mitgliedstaaten planen bzw. von einigen bereits umgesetzt wurde. Derartige Maßnahmen reichen in vielen Mitgliedstaaten jedoch im Hinblick auf den steigenden Altersquotienten nicht aus. Vielmehr sind Maßnahmen, wie Anpassungen der Höhe der ausgezahlten Rentenbeträge und der Beiträge und Steuern, die hauptsächlich der Erwerbsbevölkerung auferlegt werden, erforderlich, um so eine gerechte Verteilung dieser finanziellen Belastungen sowohl innerhalb als auch zwischen den Generationen sicherzustellen. Eine Minderung der niedrigsten Renten sollte im Sinne der Fairness innerhalb der Generation aber vermieden werden. Vorrangiges Ziel ist es daher, den Anteil der privaten Altersvorsorge bis zu einer Höhe zu steigern, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, die Belastung der öffentlichen Haushalte in Grenzen zu halten. Allerdings sollten Maßnahmen ergriffen werden, um sicherzustellen, dass die private Altersvorsorge auch die Rentenansprüche erbringt, die durch die Beiträge erworben wurden.
1.2.3 Modernisierung der Rentensysteme als Reaktion auf die sich verändernden Bedürfnisse der Gesellschaft und des Einzelnen Problematisch ist, dass viele Rentensysteme auf veralteten Annahmen über Familien- und Beschäftigungsstrukturen und über die Rolle von Mann und Frau im Haushalt und in der Arbeitswelt beruhen. Daher müssen die Rentensysteme weiterentwickelt werden, um den Veränderungen in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt Rechnung zu tragen und um sicherzustellen, dass sie den Bedürfnissen einer flexibleren und mobileren Erwerbsbevölkerung und weniger stabilen Familien gerecht werden (KOM 2001a).
7 [http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=1&language=de&pcode=tsiem030].
186
Norbert Kollmer / Christiane Seifert
1.2.4 Sicherung der Koordinierung zwischen den relevanten Akteuren dieses Prozesses Es ist dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Politikbereiche, die die langfristige Tragfähigkeit der Renten berühren – Beschäftigung, Soziales und Wirtschaft –, kohärent gestaltet werden und sich gegenseitig ergänzen. Dadurch können positive Synergien zwischen den Reformen dieser drei Bereiche entstehen. Bei einer Reform der Rentensysteme sollte daher in jedem Fall das Augenmerk darauf gelegt werden, dass diese vier genannten Grundsätze – Angemessenheit des Rentenniveaus, finanzielle Tragfähigkeit der Strukturen, Anpassung an eine sich verändernde Gesellschaft, Abstimmung der politischen Akteure untereinander – respektiert werden.
2
Grünbuch Demografie
Die Renten stehen – wie bereits dargelegt – unmittelbar vor einer unausweichlichen Modernisierung, um den veränderten Anforderungen der Gesellschaft noch gerecht werden zu können. Ein großes Problem, auf welches diese Reformen der Rentensysteme eine nachhaltige Antwort finden müssen, ist der demografische Wandel in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diesen Wandel hat die Kommission in ihrem Grünbuch (KOM 2005a) thematisiert. Im Rahmen dieses Diskussionspapiers geht sie auf alle demografischen Veränderungen ein, wie beispielsweise die gestiegene Lebenserwartung oder die sinkenden Geburtenraten. Durch eine Verbesserung des Gesundheitswesens verlängerte sich die Lebenserwartung, was eine unmittelbare Auswirkung auf die Finanzierung der Renten hat. Denn „bis 2030 wird die Zahl der ’älteren Arbeitnehmer’ (zwischen 55 und 64 Jahren) um 24 Millionen steigen, da die Babyboomer-Generation das Vorruhestandsalter erreicht, und die EU 34,7 Millionen Menschen über 80 Jahre zählen wird (gegenüber 18,8 Millionen heute)“ (KOM 2005b). Die damit verbundenen Probleme für die Finanzierung der Renten sind bereits in einem früheren Teil dieses Berichtes angesprochen worden (siehe Kap. 1.2). Außerdem liegt die Geburtenrate in der Europäischen Union (EU 27) auf konstant niedrigem Niveau von 1,53 Kindern pro Frau (in 2006, siehe Abb. 5). Für eine Reproduktion der Bevölkerung müsste diese allerdings mindestens bei 2,1 liegen (KOM 2005b). Ingesamt geht die Europäische Kommission von einer in etwa zweigeteilten Entwicklung in den Mitgliedstaaten aus: einerseits Fertilitätsraten zwischen 1,6 und 1,9 und eine zweite Ländergruppe mit Werten von 1,5 Kindern pro Frau und darunter (KOM 2007: 5):
187
Rentenpolitik und Sozialschutz in der EU
„Die Bevölkerungsprojektionen Eurostat bis zum Jahr 2050 gehen von ansteigenden Fertilitätsraten aus, vor allem für die Länder, die derzeitig die niedrigsten Raten aufweisen. Für die EU-25 wird eine leichte Erholung von 1,5 auf 1,6 Geburten je Frau prognostiziert. Laut einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2006 haben die Bürger- und Bürgerinnen in der EU grundsätzlich eine bejahende Haltung zu Kindern. Sie hätten gerne mehr Kinder als sie tatsächlich haben und sie würden sie gerne etwas später bekommen.“
Abb. 5:
Gesamtfruchtbarkeitsrate
2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 EU 27
CZ
D
DK 2002
F
LT
2007
Werte für EU-27 von 2002 und 2006. Quelle: Eurostat/ESSOSS8
Aufgrund der alternden Gesellschaften und einer nicht ausreichenden Geburtenziffern wird die europäische Bevölkerung bis 2050 zurückgehen. Im Jahre 2005 lebten noch 458 Millionen Menschen in der EU, im Jahre 2025 wird die Bevölkerung noch auf 469,5 Millionen zunehmen, um dann bis 2030 auf 468,7 zu fallen (KOM 2005c).
8 [http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=de&pcode=tsdde220&plugin=1].
188
Norbert Kollmer / Christiane Seifert
Tab. 1:
Bevölkerungsentwicklung in der EU 25
EU 25 (Angaben in Mio.) Gesamtbevölkerung Kinder (0 – 14 Jahre) Jugendliche (15 – 24) Junge Erwachsene (25 – 39) Erwachsene (40 – 54) „Ältere Arbeitnehmer“ (55 – 64) „Senioren“ (65 – 79) Sehr alte Menschen (> 80) Quelle: KOM (2005a: 5).
2005 – 2050
2005 – 2010
2010 – 2030
2030 – 2050
- 2,1 % (- 9642) - 19,4 % (- 14415) - 25,0 % (- 14441) - 25,8 % (- 25683) - 19,5 % (- 19125) + 8,7 % (+ 4538) + 44,1 % (+ 25458) + 180,5 % (+ 34026)
+ 1,2 % (+ 5444) - 3,2 % (- 2391) - 4,3 % (-2488) - 4,1 % (- 4037) + 4,2 % (+ 4170) + 9,6 % (+5024) + 3,4 % (+1938) + 17,1 % (+ 3229)
+ 1,1 % (+ 4980) - 8,9 % (- 6411) - 12,3 % (- 6815) - 16,0 % (- 15271) - 10,0 % (- 10267) + 15,5 % (+8832) + 37,4 % (+ 22301) + 57,1 % (+ 12610)
- 4,3 % (- 20066) - 8,6 % (- 5612) - 10,6 % (- 5139) - 8,0 % (- 6375) - 14,1 % (- 13027) - 14,1 % (- 9318) +1,5 % (+ 1219) + 52,4 % (18187)
Im Prinzip kann Zuwanderung zwar erheblich zur Stabilisierung der Bevölkerungszahl und des Beschäftigungsniveaus beitragen. Die Zahl älterer Menschen wird aber in einem solchen Maß wachsen, dass der Anstieg des Altenquotienten weder durch einen plötzlichen Anstieg der Geburten noch durch Zuwanderungsströme in realistischer Höhe zum Stillstand gebracht werden kann. Zudem müsste im Fall einer gesteigerten Zuwanderung der Anspruch gestellt werden, für eine gute Integration und gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen. Dadurch könnte der Altenquotient zugunsten der Erwerbstätigen verschoben werden. Doch die Zuwanderung alleine kann keine Reform der Renten ersetzen (KOM 2005a: 7). Die Auswirkungen dieser Veränderungen in der Demografie „werden sich massiv auf unseren Wohlstand, den Lebensstandard und die Beziehungen zwischen den Generationen auswirken. Im modernen Europa hat es niemals wirtschaftliches Wachstum ohne Geburten gegeben“ (KOM 2005b) Alle diese Veränderungen sind auf vielfache Zwänge zurückzuführen wie beispielsweise der „späte[r] Zugang zu einer Beschäftigung, unsichere Arbeitsplätze, teurer Wohnraum und fehlende Anreize (Familienbeihilfen, Elternurlaub, Kinderbetreuung, gleiche Entlohnung). Anreize dieser Art können sich positiv auf die Geburtenrate
Rentenpolitik und Sozialschutz in der EU
189
auswirken und zu mehr Beschäftigung insbesondere von Frauen führen, wie sich in einigen Ländern gezeigt hat“ (Ibid.).
Die Europäische Kommission ist der Ansicht, dass dieses Problem nur politisch gelöst werden könne. Aus diesem Grund möchte sie mit dem Grünbuch „Der demographische Wandel“ eine Debatte darüber anstoßen, wie man den Herausforderungen begegnen kann und welche Rolle die Union dabei haben sollte (Ibid.).
3
Sozialversicherungskoordination und Mobilität
3.1 Ansprüche auf Leistungen der Sozialversicherung im europäischen Ausland Die Gemeinschaftsvorschriften über die soziale Sicherheit sind eine unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit. Die Notwendigkeit eines Rahmens zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten für die Herstellung der Freizügigkeit wurde schon im ursprünglichen Vertrag von Rom anerkannt (KOM 2002: 11). Die Rechte auf eine Sozialversicherung in einem anderen Mitgliedstaat müssen folglich gestärkt werden, um echte Freizügigkeit gewährleisten zu können. Die Verordnung 1408/719 (demnächst reformiert als VO 883/04) und die Durchführungsverordnung 574/7210 bieten Lösungen für die meisten der grenzüberschreitenden Probleme. Es ist nicht Aufgabe dieser Verordnung die nationalen Systeme des Sozialschutzes zu harmonisieren, sie hat nur eine Koordinierung zum Ziel. Daher kann jeder Mitgliedstaat selbst über die Einzelheiten seines Sozialversicherungssystems entscheiden, solange er dabei das Grundprinzip der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung beachtet. Um allen Anforderungen gerecht werden zu können, sind dabei einige Grundsätze festgelegt worden:
9
Einheimische und Staatsangehörige anderer EU-Staaten sollen keine Diskriminierung auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit erfahren (KOM 2002: 11). Versicherungszeiten werden zusammengerechnet, um Anspruch auf bestimmte Leistungen erwerben zu können, selbst wenn sie in unterschiedlichen Mitgliedstaaten erworben wurden (Ibid.: 11f.).
Amtsblatt Nr. L 149 vom 05.07.1971 S. 0002-0050. Amtsblatt Nr. L 074 vom 27.03.1972 S. 0001-0083.
10
190
Norbert Kollmer / Christiane Seifert
Leistungen sollen auch an Personen gezahlt werden können, welche sich zu diesem Zeitpunkt in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten (Ibid.: 12). Grundsätzlich soll definiert werden, welches Recht welchen Mitgliedstaates zur Anwendung kommen soll. Dieses gilt zur Vermeidung von doppelten oder gegebenenfalls Anspruchsverlusten des Versicherungsnehmers (Ibid.). Generell soll die Person ihren Anspruch im Wohnland geltend machen können.
Alle diese Vorschriften zur sozialen Sicherheit gelten für die Bürger der Mitgliedstaaten der EU, des europäischen Wirtschaftsraumes (Liechtenstein, Norwegen, Island) und der Schweiz. Für weitere Drittstaaten bestehen Sonderregelungen.11 Ausgenommen von diesen allgemeinen Bestimmungen sind die sogenannten „beitragsunabhängigen Sonderleistungen“ (KOM 2002: 14). Dies sind Leistungen, die zwischen die traditionellen Kategorien der Sozialhilfe und der sozialen Sicherheit fallen und auf spezielle Probleme wie etwa die Versorgung von Behinderten oder die Armutsverhütung abzielen (Ibid.). Diese Leistungen können nicht exportiert werden. Somit verliert eine Person diese Ansprüche in ihrem Heimatstaat. Allerdings ist sie in dem jeweils anderen Mitgliedstaat wiederum anspruchsberechtigt für dortige beitragsunabhängige Sonderleistungen (Ibid.).
3.2 Portabilität von Zusatzrentenansprüchen Um die Mobilität der Arbeitnehmer weiter zu vereinfachen, möchte die Europäische Kommission die Mitnahmefähigkeit, also die Portabilität von Ansprüchen auf Zusatzrenten, wie beispielsweise Betriebsrenten, weiter verbessern. In diesem Zusammenhang ist derzeit ein Richtlinien-Vorschlag im EURechtsetzungsverfahren. Der Richtlinienentwurf12 sieht vor (vgl. Bundesrat 2006): Künftig soll es Bürgern der Europäischen Union ermöglicht werden, ihre Ansprüche, welche sie in einem Land erworben haben, selbst dann wahren zu können, wenn sie zeitweise in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten. Dafür müsste der Markt für ergänzende Altersversorgung, welcher momentan noch stark national geprägt ist, geöffnet werden. Um die verstärkte Flexibilität und Mobilität der Arbeitnehmer zu erreichen, sind im Einzelnen folgende Maßnahmen im Richtlinienentwurf angestrebt:
11
[http://ec.europa.eu/employment_social/social_security_schemes/relations_de.htm] Siehe Ratsdokument. 9100/1/06 REV1 (18.05.2006), Ratsdokument 13686/05 REV1 (24.10.2005). Vgl. auch Willert, dieser Band, Fn 17. 12
Rentenpolitik und Sozialschutz in der EU
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Durch Artikel 4 sollen die Unverfallbarkeitsfristen für den Erwerb von Ansprüchen auf Zusatzrenten auf zwei Jahre verkürzt werden. Des Weiteren soll diese Unverfallbarkeit bereits für Arbeitnehmer ab 21 Jahren13 gelten. Ein weiterer wichtiger Punkt wird im Artikel 5 angesprochen: Denn die Anwartschaften von Arbeitnehmern, welche aus dem Betrieb ausscheiden, sollen nach Wunsch der Kommission dynamisiert werden. In diesem Sinne sollen die ruhenden Ansprüche an die Entwicklung beispielsweise des Lohnniveaus angepasst werden. Um einen Arbeitsplatzwechsel auch über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg ermöglichen zu können, soll durch Artikel 6 die Übertragbarkeit dieser Ansprüche verbessert werden, was bis hin zu einem sofortigen und unbegrenzten Mitnahmeanspruch führen könnte. Schließlich werden die Informationsrechte der Arbeitnehmer gestärkt (Artikel 7).
Das Rechtsetzungsvorhaben ging im Herbst 2006 im Europaparlament in die erste Lesung, doch scheiterte vorerst im Dezember 2007 wegen Uneinigkeit einiger Mitgliedstaaten hinsichtlich der Unverfallbarkeitsfristen.
3.3 Europäische Krankenversicherungskarte Auch im Krankenversicherungsschutz ist die europäische Einigung vorangekommen. Europäische Bürger können seit dem 1. Juni 2004 über die europäische elektronische Krankenversicherungskarte (EHIC) innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes und der Schweiz ihren Krankenversicherungsschutz praktikabler anwenden: Die Versicherungskarte ersetzt sämtliche bisher gültigen Vordrucke sowohl für Touristen als auch für Berufstätige. Für ihre Herstellung und Ausgabe sind jeweils die Mitgliedstaaten zuständig, allerdings existiert ein Muster mit einheitlichen Merkmalen, damit die Karte von den Leistungserbringern im Gesundheitswesen sofort erkannt werden kann.14
4
Ausblick: Sozialpolitische Agenda 2005 – 2010
Um den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen im Bereich Soziales begegnen zu können, hat die Kommission am 9. Februar 2005 die Sozialpolitische 13 14
Später geändert auf Vollendung des 23. Lebensjahres. [http://ec.europa.eu/employment_social/healthcard/situation_de.htm].
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Agenda 2005-201015 verabschiedet. In diesem Papier setzt sie Orientierungspunkte, welche in den nächsten Jahren erreicht werden sollen. Diese Agenda muss im Zusammenhang mit der Strategie von Lissabon für mehr Wachstum und Arbeitsplätze gesehen werden. Sie soll sich vor allem auf „die Schaffung von Arbeitsplätzen und gleicher Chancen für alle“ (KOM 2005d) konzentrieren. Dadurch dürfte sichergestellt werden, dass alle Bürger der EU-Mitgliedstaaten von der Initiative für Wachstum und Arbeitsplätze profitieren und dass „die Menschen Chancen nutzen können, die sich ihnen im Zuge des internationalen Wettbewerbs, des technologischen Fortschritts und der gewandelten Bevölkerungsstruktur bieten“ (Ibid.). Nach Ansicht des zuständigen EU-Kommissars Vladimír Špidla werden die Menschen durch diese Agenda in den Genuss menschenwürdiger Arbeit und sozialer Gerechtigkeit kommen. Schließlich sollen dadurch alle in die Lage versetzt werden, die Herausforderungen der heutigen Gesellschaft meistern zu können. Ganz besonders richtet diese Agenda ihr Augenmerk auf zwei Bereiche, nämlich die Beschäftigung und die Bekämpfung der Armut mit der Erhöhung der Chancengleichheit. Folgende Maßnahmen werden als zielführend angesehen:
Die Kommission strebt die Schaffung eines europäischen Arbeitsmarktes an, in Zuge dessen müssen Möglichkeiten gefunden werden, Renten- und Sozialversicherungsansprüche von einem Mitgliedstaat in einen anderen mitnehmen zu können, sodass den Menschen keine Nachteile durch die Ausübung ihrer Freizügigkeit mehr entstehen. Außerdem hat die Kommission sich vorgenommen, die Übergangszeiten für Arbeitnehmer aus den neuen EU-15-Staaten zu überprüfen. Es sollen zusätzliche und bessere Arbeitsplätze, besonders für Jugendliche und Frauen, entstehen. Das Arbeitsrecht ist an die neuen Bedürfnisse der Arbeitswelt anzupassen. Durch den sozialen Dialog soll die Umstrukturierung erleichtert werden.
Um die Armut zu bekämpfen und die Chancengleichheit zu fördern, hat die Kommission fünf weitere Maßnahmen als vorrangig bezeichnet: 1.
15
Mittels des Grünbuchs zur Demografie sollen die Folgen der alternden Bevölkerung analysiert und die zukünftigen Beziehungen zwischen den Generationen geklärt werden.
[http://ec.europa.eu/employment_social/social_policy_agenda/spa_de.pdf].
Rentenpolitik und Sozialschutz in der EU
2.
3.
4. 5.
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Außerdem möchte die Kommission die Mitgliedstaaten bei der Reform ihrer Renten- und Sozialsysteme sowie bei der Bekämpfung der Armut unterstützen. Die Diskriminierung und Ungleichheit müssen bekämpft werden, insbesondere im Hinblick auf ethische Minderheiten und Mindesteinkommensregelungen. Ein Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen wird damit beauftragt, die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen zu fördern16. Letztendlich soll die Rolle der Sozialdienstleistungen für das allgemeine Interesse klargestellt werden. (Ibid.)
Mit all diesen Punkten hofft die Kommission, die wichtigsten Probleme, welche sich in naher Zukunft stellen werden, bereits angesprochen und in die Diskussion eingeführt zu haben. Dadurch würde das weitere Vorgehen erleichtert werden und jeder Mitgliedstaat kann bereits auf nationaler Ebene nach geeigneten Lösungen suchen, um diese dann in die europäische Diskussion einzubringen. Die sozialpolitische Ausrichtung der Kommissions-Tätigkeit ist 2008 mittels der „erneuerten Sozialagenda“ weiter gestärkt worden (KOM 2008).
5
Fazit und vorläufige Bilanz zur Lissabon-Strategie
Im Laufe dieses Beitrages wurde thematisiert, welchen Veränderungen die Sozialpolitik unterworfen sein wird. Vor allem die Umstrukturierung der Arbeitsmärkte mit einer Absenkung der Arbeitslosigkeit wird in den „Nationalen Aktionsplänen“ (NAP) als der Schlüssel zum Erfolg der Sozialreformen gehandelt. Diese Reformen werden – wie bereits angesprochen – hauptsächlich durch die „Offene Koordinierungsmethode“ aufeinander abgestimmt. Grundsätzlich befürwortet Deutschland diese informelle Art des Erfahrungsaustauschs mit den anderen 26 Mitgliedstaaten. Allerdings besteht unter anderem aus deutscher Sicht die Gefahr, dass die EU ihre Kompetenzgrenzen überschreitet und die Handlungsspielräume der Einzelstaaten infolgedessen eingeschränkt werden. Diese verstärkte Koordinierung ist Teil der Lissabon-Strategie von 2000 und ihrer revidierten Fassung (2002 und 2005), deren Ziel es ist, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt17 zu machen. Durch diese Strategie sollen europäische Antworten auf die Globalisierung und die zunehmende weltweite Vernetzung durch eine verbes16 17
Siehe VO 1922/2006/EG, Amtsblatt L 403 vom 30.12.2006. [http://www.bmas.bund.de/BMAS/Navigation/Europa-International/Europa/EuropaeischeBeschaeftigungspolitik/lissabon-strategie.html; http://europa.eu/scadplus/leg/de/cha/c11325.htm].
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serte Informations- und Kommunikationstechnologie erarbeitet werden. Die Zukunft wird zeigen, ob die Pläne von Lissabon mit Hilfe einer koordinierten europäischen Zusammenarbeit umgesetzt werden können und die europäische Wirtschaft nachhaltig gestärkt werden kann.
Literaturverzeichnis
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Wirtschaftspolitisches Lernen und die OMK Eine evolutionsökonomische Analyse
Stefan Okruch
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Einleitung
Europa ist ein Transformationskontinent. Seit der ersten Verkündung der ehrgeizigen Lissabon-Strategie ist auch für den westlichen Teil Europas klar, dass durchgreifende und strukturelle Reformen auf der Tagesordnung stehen (sollten). Dies betrifft auch die sozialen Sicherungssysteme in den alten Mitgliedsstaaten und insbesondere die Alterssicherungssysteme, bei denen der lange aufgestaute Transformationsbedarf nun eine Angelegenheit von europäischer Dimension geworden ist. Angesichts der Tatsache, dass damit auch die etablierten Wohlfahrtsstaaten zu Transformationsländern geworden sind, ist die Frage reizvoll, ob bei dieser Transformation die ‚alten’ Mitglieder und ‚neuen’ Transformationskandidaten von den EU-Beitrittsländern und ihren noch frischen Transformationserfahrungen lernen können. Die Frage wird dadurch noch spannender, dass für die Bewältigung der Transformationsaufgaben und für das Erreichen der Lissabon-Ziele ein Verfahren vorgesehen ist, das auf politisches Lernen im Kreis der EU-Staaten angelegt ist: die Offene Methode der Koordinierung. Mit ihr wird einerseits die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von politischen Problemlösungen in den Mitgliedsstaaten transparent gemacht, andererseits können Mitgliedsstaaten aber auch von den Erfahrungen anderer Länder profitieren. ‚Profitieren’ bedeutet dabei zum einen, die Verfügbarkeit des Wissens über andere und erfolgreichere Politikgestaltungen, zum anderen die Möglichkeit, Reformen durch Verweis auf den praktischen Erfolg in einem anderen EU-Staat begründen und leichter durchsetzen zu können. Freilich steht dieser wohlwollenden Interpretation der OMK als eines Lernens untereinander und voneinander eine weniger freundliche Deutung gegenüber. Dass sich nämlich hinter der schönen Worthülse die imperialistische Absicht der supranationalen Ebene verbirgt, eine möglichst weitgehende Harmonisierung zu erreichen. Stillschweigend voraussetzend, dass sie schon genug gelernt hat, würde ‚die EU’ bei dieser Interpretation also den Mitgliedsstaaten eine Einheitslösung aufzwingen – und jedes weitere Politiklernen auf dezentraler
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Stefan Okruch
Ebene unmöglich machen. Hinter dem Richtungsstreit stehen somit zwei grundlegende Fragestellungen:
Einerseits jene nach den Wissensgrundlagen wirtschaftspolitischer Steuerung: Was kann ‚die Politik’ angesichts der Komplexität des wirtschaftlichen Geschehens, das gesteuert werden soll, über die Wirkungen von Lenkungsversuchen ex ante wissen? Welches Lenkungs- und Steuerungswissen kann nur ex post und aus praktischen Erfahrungen gewonnen werden? Und schließlich: wie kann sichergestellt werden, dass das einmal gewonnene Wissen diffundiert, also ‚gelernt’ wird? Die Kritik an der Einheitslösung qua OMK spitzt sich in dieser Perspektive darauf zu, dass das Falsche gelernt werden könnte, weil auf zentraler Ebene das ‚richtige’ Wissen nicht verfügbar wäre. Diese Fragen berühren andererseits auch die Legitimation wirtschaftspolitischer Maßnahmen, denn in dieser Hinsicht fehlt der erzwungenen Einheitslösung die demokratische Grundlage. Allerdings wird hier bereits die Spannung zur ersten Kritik deutlich: Wäre der oktroi eines bewährten Verfahrens legitimiert, wenn sich feststellen ließe, dass dieses tatsächlich effektiv und effizient ist? Kann die Effektivität und Effizienz von wirtschaftspolitischen Maßnahmen besser dezentral oder zentral bewertet werden? Und schließlich: selbst wenn man den Ort der Bewertung primär beim Individuum sieht, welche kollektiven Entscheidungen sind nötig, um die individuellen Präferenzen zur Geltung kommen zu lassen?
Nach einer kurzen Rekapitulierung der wesentlichen Merkmale und der bisherigen Entwicklung der OMK sind zuerst einige grundsätzliche Bemerkung zur Rolle des Lernens in der ökonomischen Theorie und in der Theorie der Wirtschaftspolitik erforderlich, denn erst nach der Klärung möglicher grundlegender Missverständnisse ist eine Bewertung des neuartigen Instrumentariums möglich. Anschließend muss vor diesem Hintergrund gefragt werden, welches Alternativmodell des politischen Lernens in der EU zur Verfügung steht, welches die vermutete Gefahr der schleichenden Harmonisierung vermeidet. Nach der Darstellung der wettbewerblichen Koordination im Systemwettbewerb kann entschieden werden, welchem Modell der Vorzug zu geben ist. Zu prüfen bleibt in diesem Zusammenhang, ob die strikte Gegenüberstellung von Koordination und Wettbewerb überzeugt.
Wirtschaftspolitisches Lernen und die OMK
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Die OMK im Überblick
Die Offene Methode der Koordinierung ist das zentrale neue Integrationsinstrument der Lissabon-Strategie, mit der das ehrgeizige Ziel verfolgt wird, „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“ (Europäischer Rat 2000: Ziff. 5). Unter der Fülle von Politikfeldern, welche die Lissabon-Strategie in ihrer ursprünglichen Form besetzte, war demnach auch die Sozialpolitik (in einem weiten Sinn). Das Schlagwort lautete „Modernisierung des europäischen Gesellschaftsmodells“, d.h. durch entsprechende Reformen müsse erreicht werden, dass dieses Gesellschaftsmodell „mit seinen entwickelten Sozialschutzsystemen (…) die Umstellung auf die wissensbasierte Wirtschaft unterstützen“ könne (Europäischer Rat 2000: Ziff. 31). In der im Hinblick auf die Lissabon-Ziele formulierten Sozialpolitischen Agenda (Europäische Kommission 2000: 6) ist die Rede von der „Sozialpolitik als produktive(m) Faktor“ und es wird eine innere Verbindung hergestellt zwischen den gewünschten wirtschaftlichen Innovationen und den dazu erforderlichen politischen Innovationen. Es müsse „(…) das europäische Sozialmodell modernisiert und verbessert werden, damit es als Grundlage für wirtschaftliche Dynamik dienen (…) kann“ (Europäische Kommission 2000: 7. eig. Hervorh.). Das Ziel, Innovationen auf politischer Ebene zu fördern, soll an erster Stelle durch die Offene Methode der Koordinierung erreicht werden. Mit der OMK soll geradezu ein europäisches „Innovationssystem“ für wirtschafts- und sozialpolitische Neuerungen in den Mitgliedsstaaten eingerichtet werden (Hodson/Maher 2001: 739). Mit dem Stichwort Innovationssystem ist auch klar, dass es bei der OMK nicht um Innovationen an sich geht, sondern um die Auswahl solcher politischen Neuerungen, die im Hinblick auf das Lissabon-Ziel Erfolg versprechen. Die nationalen sozialpolitischen Reformen sollen deshalb von den Erfahrungen anderer Mitgliedsstaaten angeleitet werden, so dass schlechte Erfahrungen mit Politikinnovationen nicht mehrfach gemacht werden müssen. Die Auswahl der Erfolg versprechenden Reformmaßnahmen für die Mitgliedsstaaten soll erleichtert werden, indem die supranationale Ebene ein europäisches Forum organisiert, das sowohl dem Leistungsvergleich dient („competitive platform“, Rodrigues 2003: 14) als auch Erfahrungsaustausch und schließlich politisches Lernen ermöglicht.
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Operativ beinhaltet die OMK vier Kernelemente (Europäischer Rat 2000: Ziff. 37):
Die Formulierung europäischer Leitlinien für die kurze, mittlere und lange Frist samt spezifischer Zeitpläne für die Umsetzung, die Festlegung quantitativer und qualitativer Leistungsindikatoren und benchmarks, die so auf die einzelnen Sektoren und Mitgliedstaaten zugeschnitten sind, dass sie einen Politikvergleich und die Identifikation „bewährter Verfahren“ (best practice) zulassen, die Umsetzung der europäischen Leitlinien in nationale und regionale Politik und die regelmäßige Überwachung, Bewertung und gegenseitige Prüfung (peer review), bei denen der Prozess des wechselseitigen Lernens im Vordergrund stehen soll.
Die Anwendung der OMK bedeutet, dass der bislang rein nationale wirtschaftspolitische Entscheidungsprozess erweitert wird – um neue Foren und neue Beteiligte: Zuerst um den EU-Ministerrat, der für das betroffene Politikfeld allgemeine Zielsetzungen verabschiedet und damit verbindlich festlegt. Am Entwurf des Zielkatalogs sowie an der Operationalisierung der Ziele zu Prinzipien und Indikatoren sind bereits die einschlägigen Generaldirektionen der Kommission mit den zuständigen Ausschüssen beteiligt, das Europäische Parlament hat zumindest ein Informationsrecht. Die verbindlichen europäischen Leitlinien bilden nun die Grundlage für die nationale Wirtschaftspolitik, die gegenüber der Kommission dargestellt werden muss. In einem (ursprünglich jährlichen) nationalen Aktionsplan bzw. nationalen Strategieplan werden die Ausgangslage, der Grad der Zielerreichung sowie die laufenden und geplanten Maßnahmen zur verbesserten Zielerreichung geschildert. Die Kommission hat im nächsten Schritt die Aufgabe, aus allen nationalen Aktionsplänen einen Gemeinsamen Bericht zu erstellen, in dem die politischen Leistungen der Mitgliedsstaaten verglichen und bewertet werden. Aus dieser Synthese sollen benchmarks ermittelt und best practices erkennbar werden, die den weniger erfolgreichen Staaten als konkrete Empfehlung gegeben werden können. Der Gemeinsame Bericht der Kommission wird anschließend unter den Vertretern der nationalen Regierungen diskutiert und ggf. modifiziert, bevor die endgültige Fassung wiederum vom EU-Ministerrat verabschiedet und dem Europäischen Parlament vorgelegt wird. Neben den genannten Organen der EU sollen bei der OMK auch die Betroffenen selbst gehört werden, die deshalb auf verschiedenen Stufen des Verfahrens mitwirken. Je nach Politikfeld sind dies die Tarifpartner, ‚soziale Akteure’ und
Wirtschaftspolitisches Lernen und die OMK
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NGOs, Unternehmen einer bestimmten Branche, inklusive deren stakeholder (Radaelli 2003; Rodrigues 2003). Im Bereich der Alterssicherung, wo die OMK seit 2001 angewendet wird, gelang es zwar sich auf Prinzipien zu einigen, namentlich Angemessenheit der Renten, finanzielle Nachhaltigkeit und Modernisierung der Rentensysteme. Auch insgesamt 11 Ziele zu diesen Prinzipien wurden formuliert. Das weitere Vorgehen zeigte jedoch die erheblichen politischen Schwierigkeiten, die dem benchmarking und der Formulierung bewährter Verfahren entgegenstehen (Eckardt 2005; Radaelli 2004). Die Taktik des Hinhaltens in unbequemen Fragen fiel umso leichter, als die verschiedenen Politikbereiche innerhalb der LissabonStrategie relativ unverbunden behandelt wurden. Gerade im Bereich des Sozialschutzes zeichnete sich der Bedarf an einer Neugestaltung der OMK besonders rasch und deutlich ab (Europäische Kommission 2003). Mit dem ‚Relaunch’ der OMK (Europäischer Rat 2005) wurde die Fülle der Politikbereiche und Ziele ‚geglättet’ („streamlining“), es wurden Politikbereiche zu Nationalen Reformprogrammen zusammengefasst und der Zyklus der Berichte und Pläne erheblich verlängert. Die angestrebten Wirkungen der OMK auf die Politik der Mitgliedsstaaten nach der Neuausrichtung beschreibt die Europäische Kommission (2005: 5. Eigene Hervorhebung) nun wie folgt: „In some policy areas, the open method of coordination can be a powerful instrument to assist Member States in their efforts to adopt a more strategic and integrated approach and to deliver more efficient policies, as well as involve and mobilize stakeholders and to promote exchange of good practice“.
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Lernen und Politiklernen aus ökonomischer Perspektive
Die OMK ist auf vielfältige Kritik gestoßen.1 Detailfragen sollen hier nicht diskutiert werden, zumal sich einige Kritikpunkte bereits mit dem Relaunch der OMK erledigt haben. Auch spezifisch juristische Fragen (OMK als „soft law“) oder die politikwissenschaftliche Analyse des Verhältnisses zu anderen Methoden der ‚Europäisierung’ bleiben unberücksichtigt. Nach dem Gesagten soll es hier um die Dimensionen ‚Wissen’ und ‚Legitimation’ bei der Kritik an der OMK gehen. Notorisch ist das Argument, die Methode könne zu einer schleichenden Harmonisierung führen, indem das ermittelte „bewährte Verfahren“ allen Mitgliedsstaaten oktroyiert würde. In Wahrheit, so das Argument, sei die OMK ein Verfahren des „Zwanglernens“, das auf nationale Besonderheiten keine Rück1
Vgl. zum Überblick Eckardt/Kerber (2005), Okruch (2005), Radaelli (2003; 2004).
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sicht nehmen könne und demnach die Erbsünde konstruktivistischer (sensu Hayek) Wirtschaftspolitik wiederhole: die „Anmaßung von Wissen“2. Diese Argumentation provoziert zwei Reaktionen:
Einerseits muss geklärt werden, was das positiv bewertete Gegenbild zur schleichenden Harmonisierung ist, um die dortigen Möglichkeiten und Grenzen politischen Lernens zu erörtern. Dies geschieht weiter unten mit der Untersuchung des Systemwettbewerbs. Ein Vergleich von OMK und Systemwettbewerb muss als vergleichende Institutionenanalyse ausgestaltet sein, um nicht dem „Nirwana-Fehlschluss“ (Demsetz 1969) zu unterliegen. Es ist, mit anderen Worten, sinnlos einen idealen Systemwettbewerb mit den praktischen Niederungen der europäischen Politikkoordination zu vergleichen, um dann festzustellen, dass im Wettbewerbsideal alle Probleme politischen Lernens bereits ex definitione gelöst sind. Andererseits muss somit grundsätzlich gefragt werden, ob die Ablehnung der OMK nicht auch darauf zurückzuführen ist, dass die ökonomische Theorie (der Politik) Schwierigkeiten hat, mit dem Konzept des Lernens angemessen umzugehen. Da Politiklernen das zentrale Konzept ist, nach dem die OMK bewertet werden kann, lohnt es sich, bei dieser Frage etwas weiter auszuholen.
3.1 Lernt der homo oeconomicus? Die Theorie der Rationalwahl wird inzwischen als harter Kern der ökonomischen Wissenschaft angesehen (Sugden 1991: 751).3 Dieser theoretische Ansatz sei die passende Ausfüllung des methodologischen Individualismus, der für die Ökonomik konstitutiv ist. Repräsentativer Akteur ist jener homo oeconomicus, der durch seine absichtsvollen Handlungen seine Zwecke zielgerichtet erreichen kann, weil er definitorisch mit der Kapazität ‚Rationalität’ ausgestattet ist. Was den Rationalwahlansatz intuitiv plausibel macht, ist die Intentionalität des Handelns einerseits, die ‚Vernünftigkeit’ des Handlungsergebnisses andererseits. Während es bei ersterem um die subjektiven Gründe des Handelns geht, beleuchtet letzteres die objektive Angepasstheit an die Umwelt, die durch rationales Handeln ermöglicht werde. Wenn jedoch Rationalwahl zum exklusiven Handlungsmodell erhoben wird, so darf nicht übersehen werden, dass dieses Modell keineswegs logisch zwingend aus der Intentionalität und Angepasstheit des Handelns resultiert und außerdem, dass dieses Modell Schwierigkeiten hat, 2 3
Vgl. pointiert Clapham (2003); dazu eingehend Okruch (2005). Zur Karriere des Rationalitätsbegriffs vgl. die kurze Schilderung bei Dennis (1998).
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203
augenscheinlich nicht-intentionales Verhalten zu erklären sowie offensichtlich nicht-angepasste Handlungsergebnisse zu berücksichtigen (Vanberg 2000: 4 f.). Während intentionales, aber nicht angepasstes Handeln in den Bereich der Anomalie verwiesen wird, kann im Fall nicht-intentionalen, angepassten Verhaltens nur die Ansicht vertreten werden, dieses lasse sich erklären, „als ob“ Intentionalität vorgelegen habe. Diese Schwierigkeiten verweisen auf das zentrale Problem der rationaltheoretischen Situationslogik, also der Erklärung des Handelns als optimale Anpassung an die Situation und ihre Restriktionen, gegeben die stabilen Präferenzen. Dieses Problem besteht in der Rekonstruktion der Situationswahrnehmung zum Zwecke der Erklärung. Die Hypothese rationalen Handelns kann einen Standard objektiver Rationalität enthalten, dem gegenüber getestet wird und der eine Falsifikation erlaubt. Rationalität in diesem Sinne bedeutet die Angemessenheit oder Zweckmäßigkeit des Handelns gegenüber einer objektiv gegebenen Situation, die unverzerrt wahrgenommen und vollständig bekannt ist. Diese Version substantieller (Simon 1978) und perfekter Rationalität hat den theoretischen Vorteil, das Problem der subjektiven Situationswahrnehmung zu umgehen, ihr Erklärungsgehalt ist jedoch empirisch überaus begrenzt, wie eine Fülle von Befunden aus der Experimentellen Ökonomik eindrucksvoll belegt. Objektive Rationalität kann angesichts des empirischen Versagens nur als (häufig verfehlter) normativer Standard aufrechterhalten werden (Rabin 1998). Subjektive Rationalität anerkennt zwar die Notwendigkeit, die objektiv gegebene Situation subjektiv zu verarbeiten – oder zu lernen –, betrachtet allerdings die rationale Kapazität des homo oeconomicus weiter für gegeben: Rationalität in diesem Sinne bedeutet die Angemessenheit oder Zweckmäßigkeit des Handelns gegenüber der Situation, wie sie vom Handelnden wahrgenommen wird. Da allerdings ein unabhängiger Zugang zur Situationswahrnehmung fehlt bzw. auch nicht für möglich gehalten wird, ist eine solche Aussage wenig informativ. Es kann schlechterdings keine Gegenhypothese irrationalen Handelns formuliert werden, und es überrascht nicht, dass mit diesem Ansatz letztlich jedes Verhalten als rational ausgewiesen bzw. ökonomisch ‚erklärt’ werden kann. Rationalität wird dabei zum formalen, nicht falsifizierbaren Brückenprinzip. Gegen diese – nicht eben neue – Kritik wird Rationalität funktional verteidigt: Zwar sei das Rationalitätsprinzip falsch bzw. nicht falsifizierbar, es erfülle jedoch eine Funktion als unverzichtbares universales Bewegungsgesetz. Rationalität sei das Prinzip, das für die sozialwissenschaftliche Erklärung jene Rolle übernimmt, die „Newton’s universal laws of motion“ (Popper 1994: 168) für ein Modell der Planetenbewegungen spielen. Angesichts dieser Analogie ist es dann folgerichtig, dass den Akteuren im sozialen Kosmos ihr Bewegungsgesetz –
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Rationalität – ebenso ‚eingepflanzt’ ist wie die Gravitation den Massen im Weltraum vorgegeben. Diese nicht hinterfragbare ‚Anfangsausstattung’ mit Rationalität ist allerdings nicht zwangsläufig, soweit man von lernfähigen Akteuren ausgeht. Außerdem müssen Akteure einem Bewegungsgesetz nicht blind und unbewusst folgen. Vielmehr sind sie kreativ, können also ‚neue Bahnen’ ausprobieren, ohne dass ‚veränderte Kräfte’ wirken. Im Schnittpunkt von Kreativität und Lernfähigkeit können dann Effekte auftreten, die die Analogie endgültig sprengen. Denn im Gegensatz zum Astronom, bei dem jede (relevante) Wechselwirkung zwischen Beobachter und Akteur ausgeschlossen ist, kann die subjektive Weltsicht der Handelnden auch Beobachterwissen enthalten. Der Akteur hat also eine Handlungserklärung gelernt und macht diese zur neuen Grundlage seiner Handlung. Wenn Handlungsprognosen des Beobachters als real interpretiert werden, so können sie reale Folgen haben, die als Selbsterfüllung oder Selbstzerstörung der Prognose erscheinen (Merton 1968: 475 ff.). Das mechanistische „Maschinenmodell“ (Hesse 1990: 51 ff.) ermöglicht außerdem keine Erklärung für Phänomene, die für moderne Volkswirtschaften kennzeichnend sind: Innovationen und Wachstum als Phänomene endogenen Wandels. In einem Ansatz, in welchem unveränderliche Bewegungsgesetze gelten sollen, muss die Quelle von Neuerungen stets exogen bleiben, also z.B. wie der technische Fortschritt in der Wachstumstheorie als ‚Manna vom Himmel regnen’.4 Die Kritik an den Tautologien eines Maschinenmodells ist somit zugleich Programmsatz der evolutorischen Ökonomik, mit der endogener Wandel analysiert werden soll: „(…) die Tautologien, aus denen die formale Wirtschaftsanalyse im wesentlichen besteht, (können) nur insoweit in Aussagen verwandelt werden (…,) die uns irgend etwas über die Kausalzusammenhänge in der realen Welt sagen, als wir imstande sind, in diese formalen Sätze bestimmte Behauptungen darüber einzusetzen, wie Wissen erworben und vermittelt wird“ (Hayek 1976: 49).
Um gehaltvollere Handlungserklärung zu ermöglichen, müssen also jene Prozesse analysiert werden, die zwischen Situation und Handlung liegen und in denen das dem Handeln zugrunde liegende Wissen verarbeitet wird. Dem Ein4
Die 'neue' Wachstumstheorie bietet nur eine Scheinlösung dieses Problems, indem sie zwar die Produktion von technologischem Wissen thematisiert, jedoch die dazugehörige Produktionsfunktion bzw. die dabei auftretenden Externalitäten weiter als gegeben betrachtet (vgl. ausführlich Dunn 2002). Die 'endogene' Wachstumstheorie ist also mitnichten eine Theorie endogenen Wandels, schafft aber den Übergang vom Modell einer "trivialen" zu dem einer "nicht-trivialen Maschine"; vgl. dazu Foerster (1985).
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geständnis, dass auch der homo oeconomicus lernen muss, darf allerdings nicht die erneute definitorische Beseitigung des Problems folgen. Es ist, mit anderen Worten, nicht überzeugend, im Sinne einer objektiv-rationalen Erwartungsbildung zu unterstellen, alle Akteure verfügten über den Kenntnisstand, den ein allwissender, objektiver Beobachter von der Entscheidungssituation gewinnen könnte (Muth 1961). Sobald Situationen von ausreichender kognitiver Komplexität betrachtet werden, reicht das Konzept substantieller Rationalität nicht hin, und es muss die prozedurale Rationalität bzw. müssen die rationalen Entscheidungsprozesse analysiert werden (Simon 1978). Dies ist eine Aufgabe, die im Austausch mit der Kognitionswissenschaft zu bearbeiten ist, die die bereits angesprochene, zwischen Situation und Handlung liegende ‚Repräsentationsebene’ untersucht. Mit dem Konzept prozeduraler und zugleich beschränkter Rationalität ist auch die Betrachtung von Lernprozessen verbunden. Beschränkte Rationalität, stellt einerseits auf das Fehlen vollständigen Wissens ab, andererseits auf die begrenzte Informationsverarbeitungskapazität5 und lässt damit verschiedene Deutungen zu, inwieweit das Rationalitätskonzept insgesamt verändert wird. Wird ausschließlich die begrenzte Informationsverarbeitungskapazität betrachtet, so liegt die Beschränkung der „Rationalität“ einzig darin, aus der vollständig und zutreffend perzipierten Situation die optimale Handlungsreaktion zu berechnen. Angesichts dieser rein ‚rechnerischen’ Schwierigkeiten versuchen Akteure, Anspruchsniveaus zu erreichen, statt nach dem Optimum zu suchen (satisficing). Diese Interpretation verleitet dazu, die Rationalität von Entscheidungen als Erklärungsstandard aufrechtzuerhalten und beschränkte Rationalität als second-best-Lösung zu betrachten. Selbst der Hinweis, die Suche nach den befriedigenden Entscheidungen erfolge nach Regeln oder Heuristiken wird dann zur Rationalität von Regeln umgedeutet. Damit könnte dann der homo oeconomicus auf der Metaebene rational entscheiden, von der Rationalität im Einzelfall abzuweichen und nach Regeln zu entscheiden. Sofern diese Regeln als explizierbare und fixe Programme gedeutet werden, mit denen der homo sapiens ausgestattet ist, so würde damit ein „Nachbau“ des Entscheidungsapparates ermöglicht. In der Auseinandersetzung mit der Vision künstlicher Intelligenz wird hervorgehoben, welche Voraussetzungen intelligenter Entscheidungen nicht als kontextfreie Regeln abzubilden sind und was folglich „Computer nicht können“ (Dreyfus 1979: 3):
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„The term ‚bounded rationality’ is used to designate rational choice that takes into account the cognitive limitations of the decision maker – limitations of both knowledge and computational capacity”; Simon (1997: 291).
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„(…) intelligence requires understanding, and understanding requires giving a computer the background of common sense that adult humans beings have by virtue of having bodies, interacting skillfully with the material world, and being trained into a culture“.
Demnach liegt die eigentliche Beschränkung der Rationalität in der Unmöglichkeit, die Entscheidungssituation vollständig und fehlerfrei zu erfassen. Es besteht tatsächlich ein Wissensmangel, der nicht als Mangel an Informationen gedeutet und anschließend nach-rationalisiert werden kann. In Begriffen der Unsicherheit: Es herrscht nicht allein parametrische Unsicherheit im Hinblick auf bestimmte Parameterwerte in einer ansonsten wohlstrukturierten Situation, sondern „echte“, „fundamentale“ und strukturelle Unsicherheit bezüglich der Situation selbst. Statt von der Annahme ‚der’ Rationalität bei vollständiger Kenntnis auszugehen, kann nun untersucht werden, wie trotz dieser Unsicherheit und des Unwissens die Angepasstheit von Handlungen zustande kommen kann, wie also Rationalität des Handelns gelernt wird. Somit ist nicht mehr die angenommene Transparenz und Sicherheit, sondern vielmehr die tatsächliche Unsicherheit der Ausgangspunkt für verlässliche Handlungsprognosen (Heiner 1994). Damit wird der Rationalitätsbegriff nicht aufgegeben, sondern inhaltlich ausgefüllt. Ein allgemeines Kennzeichen von Erklärungsansätzen, mit denen die vorgetragene Kritik berücksichtigt wird, ist der Übergang vom Akt-Individualismus zum Regel-Individualismus, d.h. statt den homo oeconomicus mit der Aufgabe zu befrachten, jeden einzelnen Handlungsakt nach seinen Kausalfolgen rational zu kalkulieren, wird davon ausgegangen, dass der Akteur Handlungsprogrammen bzw. -regeln folgt, deren Angepasstheit an die sich wandelnde Umwelt in Lernprozessen erworben, bestätigt oder eben auch verworfen wird. Im Gegensatz zu einer rationaltheoretischen Erklärung des Handelns, die Rationalität als essentielles Attribut für ‚gegeben’ halten muss, um die Angepasstheit des Handelns zu gewährleisten, hat ein solcher regelindividualistischer Ansatz den Vorteil, das Zustandekommen angepasster Verhaltensregeln wenigstens prinzipiell untersuchen zu können. Sobald somit Regeln als Elementareinheiten der Handlungstheorie betrachtet werden, ergibt sich ein zwangloser Anschluss an die Institutionenökonomik. Denn Institutionen – seien es rechtliche Regelungen, seien es soziale Normen – müssen ihrerseits nicht mehr als Elemente der objektiven Situation betrachtet werden, womit abermals das Wahrnehmungsproblem auftritt (Okruch 1999). Institutionen müssen nicht länger als objektive Restriktionen aufgefasst werden, ihre Wirksamkeit wird daher in einem regelindividualistischen Ansatz gerade durch die Verankerung in der Wahrnehmung begründet. Gerade in der Instituti-
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onenökonomik hat sich, angesichts dieser theoretischen Vorteile, ein cognitive turn vollzogen. (Denzau/North 1994; North 2005).
3.2 Lernen in der theoretischen Wirtschaftspolitik? Die Rationalitätsnorm für die Wirtschaftspolitik fordert „eine Politik, die planmäßig auf die Verwirklichung eines umfassenden, wohldurchdachten und in sich ausgewogenen Zielsystems gerichtet ist und dabei den höchsten Erfolgsgrad erreicht, der unter den jeweiligen Umständen möglich ist“ (Giersch 1960: 22). Rationalität fordert also – ganz analog zur Handlungstheorie – die Intentionalität und Adaptivität der Politik. Hintergrundannahme ist auch hier, dass (1) die Angepasstheit der Politik nur durch vorausschauende politische Vernunft zu gewährleisten und (2) die intentionale Steuerung grundsätzlich möglich ist. In diesem Zusammenhang ist abermals nach dem Status von „Rationalität“ zu fragen, weiterhin nach den Steuerungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zur Handlungstheorie fungiert Rationalität in der Politik offen als Norm. Diese normative Fassung ist folglich mit der Vorstellung von objektiver Rationalität verbunden, also der Angepasstheit an die tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten. Hier wie dort wird das tatsächliche Verhalten der Norm notorisch nicht gerecht. Dieser Befund, zumal wenn er mit dem Anspruch an die Ökonomie verbunden wird, die Rationalität politikberatend sicherzustellen, führt dann zur immer wieder aufs Neue ausgerufenen Krise der theoretischen Wirtschaftspolitik (vgl. Frey 2000; Riese 1988; Gäfgen 1986). Die Zwangläufigkeit der Frustration wird deutlich, wenn man sich fragt, welche Voraussetzungen idealerweise vorliegen müssten, damit eine derartige Konzeption von Politik und ihrer Beratung erfolgreich umgesetzt werden könnte, Rationalität also auch als Erklärungsprinzip für politisches Handeln plausibel wäre. Der Adressat der Norm ist dann ‚die’ Politik, die als stets handlungsfähiges und wohlwollendes Handlungssubjekt erscheint. Ausgehend von der Vorstellung eines Wunschzustandes, der in Form eines gegebenen, geschlossenen Zielsystems beschreibbar ist, werden dann die Mittel abgleitet, die im Hinblick auf die Zielerreichung den „höchsten Erfolgsgrad“ versprechen. Rational ist Wirtschaftspolitik, wenn die Wirkungen eines Mitteleinsatzes auf die Zielerreichung sicher abschätzbar sind; das Wissen um die erreichbaren Zustände des Steuerungsobjekts (‚die’ Wirtschaft) muss ausreichend sicher sein. Sofern in einer solchen Vorstellungswelt überhaupt noch Bedarf für eine Politikberatung besteht, so in der Aufklärung des wohlmeinenden Diktators (als Personalisierung ‚der’ Politik) über die objektiven Wirkungszusammenhänge, die Zielbeziehungen und die geeigneten Instrumente zur Zielerreichung. Die Aufgabe des aufge-
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klärten Diktators besteht dann nur in der raschen und vollständigen Umsetzung der theoretisch gefundenen Lösung in die Praxis sowie in der Durchsetzung der Regeln und Regulierungen. Lernen, verstanden als Lernprozess, ist in diesem Modell schwer abzubilden. Während die Politikberatung offenbar alle Ursache-Wirkungsbeziehungen bereits ‚gelernt’ hat und problemlos technologisch umformulieren kann, ‚lernt’ die Politik innerhalb einer logischen Sekunde. Die Problemlosigkeit der Implementation zeigt an, dass außerdem davon ausgegangen wird, die Wirtschaft sei mit dem erlernten Wissen unproblematisch zu steuern. Vor dem Hintergrund der geschilderten Kritik an Maschinenmodellen überrascht es nicht, dass ein daraus resultierendes technomorphes Steuerungsverständnis häufig versagt: „Ökonomische Theorie ist statisch; indes führt in der Welt dynamischen Wandels, in der wir leben, ein statisches Theoriekonzept andauernd zu falschen Rezepten für die Politik“ (North 1999: 58).
Während die geschilderte naive – und optimistische – Steuerungstheorie die Notwendigkeit zu lernen ingeniös wegdefiniert, besteht eine andere Strategie darin, das Lernen ad absurdum zu führen. Die Grundhaltung ist dieselbe, dass nämlich eigentlich keine Notwendigkeit besteht, wirklich Neues zu lernen. Die Argumentation nimmt dann allerdings eine gänzlich entgegen gesetzte Wendung und mündet in einem tiefen Steuerungsskeptizismus. Wenn zwar die Möglichkeit besteht, Neues auszuprobieren, solche Versuche aber mit Sicherheit entweder gefährlich, von vornherein vergeblich oder im Nachhinein vergeblich sind, so sollte man solche innovativen politischen Maßnahmen unterlassen. In der Tat operieren prominente Steuerungsskeptizisten mit den drei rhetorischen Figuren der Gefährdung, der Vergeblichkeit und der Sinnverkehrung (Hirschman 1991), um ihre Position zu begründen. Ohne hier ins Detail gehen zu können, trifft dies etwa auf die systemtheoretische Steuerungstheorie à la Luhmann zu (1989a, 1989b), in der die Unmöglichkeit – oder Vergeblichkeit – der Steuerung mit den fehlenden Kommunikations-Schnittstellen zwischen den geschlossenen Systemen ‚Politik’ und ‚Wirtschaft’ begründet wird. Während Luhmanns Position vergleichsweise spät in der (evolutorischen) Theorie der Wirtschaftspolitik rezipiert wurde (Wegner 1996; Ebert 1999), konnte sich die wirtschaftliche Steuerungsskepsis schon lange auf Hayek berufen. Hayeks Argumentation fokussiert die unintendierten bzw. perversen Effekte zweckgerichteter Steuerung und dramatisiert dieses Argument der Sinnverkehrung mit dem zusätzlichen Argument der Gefährdung einer ‚spontanen’ wirtschaftlichen Ordnung. So berechtigt einzelne seiner Einwände gegen spezifische wirtschaftspolitische Maßnahmen sein mögen, als grundlegendes Schema ist seine Argumenta-
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tion irritierend. Denn während Hayek unter der Überschrift „Wirtschaftstheorie und Wissen“ die deterministischen Tautologien der „formalen Wirtschaftsanalyse“ kritisiert und die theoretische Betrachtung der offenen Prozesse der Wissensgewinnung und -nutzung fordert, muss er beim Thema ‚Wirtschaftspolitik und Wissen’ offenbar davon ausgehen, die Reaktionen der Steuerungsadressaten gingen nur in eine Richtung, nämlich diejenige der fortschreitenden Gefährdung des Wirtschaftssystems. Damit wird den Akteuren, soweit sie Adressaten der Wirtschaftspolitik sind, eigenartig wenig Kreativität zugebilligt und ihre Lernfähigkeit kann sich seltsamerweise nur in die besagte Richtung der der Vergeblichkeit bzw. Zielinkonformität der Wirtschaftspolitik entfalten (Wegner 1996).
3.3 Jenseits von Steuerungseuphorie und -skeptizismus Unter den geschilderten extremen Blickwinkeln changiert die theoretische Wirtschaftspolitik zwischen den Vorstellungen der (Notwendigkeit und) Machbarkeit von Wirtschaftspolitik einerseits, ihrer Vergeblichkeit andererseits: „Die ökonomische Theorie hat sich im ständigen Wechselspiel der Strömungen einmal mit mehr der Frage der Unmöglichkeit, dann wieder mehr der mit der Frage der Notwendigkeit so mancher Wirtschaftspolitik beschäftigt. (…) [Dabei] folgt aus der besonderen Notwendigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen (…) noch keineswegs deren erhöhte Möglichkeit“ (Streißler 1993: 29).
Die Frage nach den Möglichkeiten der Wirtschaftspolitik kann offenbar nur beantwortet werden, wenn von der Fiktion ‚der’ Politik und der sicheren Steuerbarkeit ‚der’ Wirtschaft abgerückt wird.
Zuerst ist also der bekannte Einwand zu wiederholen, dass es nicht ‚die’ Politik gibt, die als wohlmeinender Diktator aufträte, sondern nur politische Akteure, deren Handeln nicht ohne weiteres nur auf das Verfolgen vorgegebener Ziele mit geeigneten Mitteln gerichtet ist. Die Endogenisierung der politischen Akteure in die Analyse richtet sich einerseits gegen das naive Ziel-Mittel-Schema, in dem eine handlungstheoretische Ausfüllung für überflüssig gehalten wird. Andererseits gegen die Systemtheorie, die solches für unmöglich hält. Neben die Endogenisierung der Politiker tritt allerdings auch die notwendige Endogenisierung der (Wirkungen der) Politik in einem nicht-mechanistischen Steuerungsmodell. Wirtschaftspolitik übt nicht „Kräfte“ auf nur mechanisch reagierende Körper aus, sondern richtet sich an kreative und lernfähige Adressaten. Damit wird ein Steuerungserfolg unsicher, und die
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faktischen Möglichkeiten wirtschaftspolitischer Steuerung müssen erst erlernt werden. Schließlich bliebe zu fragen, ob angesichts der Unsicherheit des verfügbaren Lenkungswissens die Figur des wissenschaftlichen Politikberaters noch einen übergeordneten, externen Standpunkt einnehmen kann. Diese Frage kann im Folgenden allerdings nur gestreift werden.
3.3.1 Endogenisierung der politischen Akteure Die Endogenisierung der politischen Akteure in die theoretische Wirtschaftspolitik scheint weitgehend erfolgt zu sein. Tatsächlich war der Ausweg, den man aus der Krise der präskriptiven Theorie suchte, die Schwerpunktverlagerung in die positive Theorie. Die Hauptrichtungen der Public Choice/Neuen Politischen Ökonomie betrachten je eigene Gruppen von Akteuren (Regierung, Bürokratie, Interessengruppen) und versuchen, deren Verhalten als individuelle Nutzenmaximierung zu verstehen. Damit wird zwar das motivationale Vakuum, das die politisch Handelnden in der traditionellen Theorie umgeben hat, gefüllt. Jedoch wird mit der Engführung auf eine Rational Choice-Entscheidungslogik letztlich nur ein erweitertes ‚Maschinenmodell’ der Politik präsentiert. Die Public Choice-Konzeption des wirtschaftspolitischen Prozesses als (optimales) Verhalten politischer Akteure angesichts exogener (institutioneller) Restriktionen belastet die daraus abgeleitete Reformempfehlungen, also Vorschläge zur Veränderung der Institutionen. Es nämlich unklar, welche Anreize die selbstinteressierten politischen Akteure haben sollten, das einmal realisierte Gleichgewicht zu verlassen. In letzter Überspitzung wird Politikberatung sinnlos, denn in einem polit-ökonomischen ‚Totalmodell’ bestehen keine Freiheitsgrade mehr für eine Variation der Politik. Da politisches Handeln und seine Wirkungen in dieser Betrachtungsweise vollständig determiniert sind, wird auch die Frage nach den Wohlfahrtswirkungen unterschiedlicher Politikoptionen sinnlos: „(…) if what governments do is he result somehow of equilibrium behavior of selfinterested actors, then advising governments is as senseless an activity as advising monopolists to lower prices or advising the San Andreas fault to be quiet. (…) This is the ‘determinacy paradox’. The grand conditions of political-economic equilibrium (whatever they may be) have already determined what will happen” (O’Flaherty/Bhagwati 1997: 207 f.).
Um dieses Paradox der Determiniertheit zu vermeiden, muss offensichtlich auch für die politischen Akteure eine veränderte Handlungstheorie zugrunde gelegt
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werden.6 Den „cognitive turn“ haben für die positive Theorie der Wirtschaftspolitik Alfred Meier und verschiedene Ko-Autoren vollzogen (vgl. Meier/Mettler 1998, Meier/Slembeck 1998). Ihr Ansatz stellt die zentrale Bedeutung von „Ordnungsvorstellungen“ für den wirtschaftspolitischen Prozess heraus. Diese werden gebildet aus den „Vorstellungen über die Wünschbarkeit wirtschaftspolitischer Institutionen, Prozesse und Zustände (Präferenzen), welche der Bildung wirtschaftspolitischer Ziele dienen“ (Meier/Slembeck 1998: 29) sowie dem „Vermutungswissen über Kausalzusammenhänge und Restriktionen“ (ebenda). Ordnungsvorstellungen enthalten mithin eine normative und eine theoretische Komponente und sind die auf wirtschaftspolitisches Handeln bezogenen „kognitiven Strukturen des Individuums“. Da die individuellen Ordnungsvorstellungen in Abhängigkeit von der „Mehrdeutigkeit“ des Problems mehr oder weniger stark differieren, besteht eine Funktion des wirtschaftspolitischen Prozesses darin, eine gemeinsame Weltsicht zu etablieren. Dies bedeutet, dass dem politischen Tausch, den die Neue Politische Ökonomie fokussiert, ein kollektiver Prozess der Sinngebung vorgeschaltet ist, der um so wichtiger wird, je neuartiger und damit weniger wohlstrukturiert das zu behandelnde wirtschaftspolitische Problem ist (Meier/Slembeck 1998: 72 f.). Mit dieser Erweiterung des Blickfeldes kann der politische Problemlösungsprozess „nicht auf kollektive Entscheidungen im Rahmen objektivierbarer Ziel-Mittel-Beziehungen reduziert werden“ (Meier/Slembeck 1998: 41).
3.3.2 Endogenisierung der Wirkungen der Politik Die Fragwürdigkeit eines „Maschinenmodells“ der Wirtschaft wird besonders deutlich, wenn die mechanischen Gesetzmäßigkeiten zu Steuerungszwecken auf das komplexe Wirtschaftssystem angewendet werden sollen. Die Interdependenz zwischen Handlungsgrundlage und -ergebnis die dadurch ermöglicht wird, dass die Handelnden eine Handlungserklärung kennen und nutzen können, äußert sich in der Wirtschaftspolitik in der Unmöglichkeit, bekannte statistische Zusammenhänge steuerungstechnisch auszunutzen („Goodhart’s Law“)7 oder in 6 Dies betrifft letztlich auch die wissenschaftlichen Politikberater. In den Modellen der Public Choice tritt, unabhängig vom determinacy paradox, die Paradoxie auf, dass alle politischen Akteure als rationale Nutzenmaximierer modelliert werden, wogegen ‚die’ wissenschaftliche (ökonomische) Beratung einzig der Wohlfahrt und Effizienz verpflichtet zu sein scheint. Die Analyse widmet sich dann im Folgenden der Frage, warum die guten Ratschläge der gemeinsinnigen Berater von den eigennützigen ‚Anderen’ nicht gehört werden. 7 Vgl. Goodhart (1989: 100, FN 1): “(…) any observed statistical regularity will tend to collapse once pressure is placed upon it for control purposes”.
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der Ineffektivität einer Makropolitik, wenn angenommen wird, die Wirtschaftssubjekte antizipieren diese vollständig und zutreffend (Lucas 1981). Wenn die Struktur eines Modells, dass rationale Politik anleiten soll, nicht unabhängig von der jeweiligen Wirtschaftspolitik ist, – Politik also in diesem Sinne endogen wird – so ist das technomorphe Steuerungsmodell nur noch begrenzt anwendbar, weil es die unintendierten Nebenfolgen isolierter Steuerungsversuche unzulässigerweise ausblendet. Erforderlich ist demnach eine Steuerungstheorie, welche die Untersuchung von Nebenfolgen zulässt. Allerdings werden in einer solchen Steuerungstheorie – das Auftreten nicht-antizipierbarer Neuerungen im Marktsystem vorausgesetzt – niemals alle Nebenwirkungen vollständig beschreibbar sein. Damit entfällt das hierarchische Steuerungsmodell, das eine zuverlässige Fremdsteuerung „der“ Wirtschaft durch „die“ Politik unterstellt: „Wer in ein System interveniert und über die Nebenfolgen (auch) spekulieren muss, weil er sie – anders als im Falle eines transparenten Geschehens – nicht vollständig kennen kann, kontrolliert dieses System nicht mehr. Jede Steuerung gerät zu einem Experiment, über dessen Gelingen erst der kontingente Output an Nebenfolgen Gewissheit verschafft“ (Wegner 1996: 69).
Lenkungswissen lässt sich unter diesem Blickwinkel also nur experimentell gewinnen. Dabei gehen Wissen und Durchsetzbarkeit wiederum Hand in Hand. Denn so, wie manches Steuerungswissen nur durch praktische Erprobung zu gewinnen ist, genauso kann die Zustimmungsfähigkeit von Reformen nach der Erfahrung der praktischen Wirkungen größer sein. Angesichts von empirisch und experimentell nachweisbaren ‚theoretischen’ Reformblockaden (Rodrik 1996, Fernandez/Rodrik 1991, Alesina/Drazen 1991), die als Fortsetzung individueller Verhaltensanomalien in den Bereich politischen Handelns gedeutet werden können, kann allgemein vorgeschlagen werden, „Reform-Testphasen“ vorzusehen, soweit dies bei Reformen möglich ist (Heinemann 2000). Eine weitere allgemeine Folgerung aus einer nicht-mechanischen Steuerungstheorie besteht darin, den Steuerungsanspruch herunterzuschrauben. Angesichts der Komplexität und Dynamik des Steuerungsgegenstandes kann die Wirtschaftspolitik kein als Ziel vorgegebenes Optimum „punktgenau“ ansteuern. Dies ist schon eine Position der traditionellen Ordnungsökonomik angesichts des wirtschaftlichen Wandels. Dass ein Maschinenmodell allokativer Effizienz der Dynamik des Wirtschaftssystems nicht gerecht wird, ist aber auch in der neueren institutionalistischen Ökonomie ein wichtiges Argument. Als alternativen Maßstab zur Beurteilung von institutionellen Arrangements schlägt North (1992: 96) „Anpassungseffizienz“ vor. Dabei gehe es:
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„(…) um die Arten von Regeln, die den Entwicklungspfad einer Wirtschaft über die Zeit bestimmen. Außerdem geht es dabei um die Bereitschaft einer Gesellschaft, Wissen und Bildung zu erwerben, Innovationen zu bewirken, Risiko zu übernehmen und in verschiedenster Hinsicht kreativ tätig zu werden“.
Der Übergang zu diesem Effizienzmaß ist allerdings höchst voraussetzungsvoll, und leider wird man Douglass North nach wie vor zustimmen müssen, wenn er in direktem Anschluss ausführt: „Wir sind weit davon entfernt, alle Faktoren zu kennen, die die Anpassungseffizienz begünstigen, aber offensichtlich spielt die Gesamtordnung der Institutionen insoweit die Hauptrolle, als Gesellschaft und Wirtschaft versuchen, solche Experimente und Innovationen zu fördern, die wir als anpassungseffizient bezeichnen können“
Auch wenn somit noch viele Details einer adaptiv effizienten Wirtschaftspolitik erarbeitet werden müssen8, erscheint jedenfalls der Ansatz der LissabonStrategie zu diesem theoretischen Hintergrund passend und viel versprechend: Es ist an den Nexus wirtschaftlicher und politischer Innovationen zu erinnern (…„Gesellschaft und Wirtschaft“…) oder an die Verbindung von Wissen, Bildung, Innovationsdynamik und dem „Entwicklungspfad [der] Wirtschaft über die Zeit“.
3.4 Verfahren politischen Lernens: Systemwettbewerb und / oder Politikkoordinierung Nachdem klar ist, wie eine Handlungstheorie, welche Lernprozesse berücksichtigen kann, und auch für die Theorie der Wirtschaftspolitik fruchtbar gemacht werden kann, geht es im folgenden um die Methoden des Lernens. Systemwettbewerb ist dabei das Alternativmodell politischen Lernens, wenn der OMK vorgeworfen wird, sie führe zur ‚Wettbewerbsbeschränkung’. Soweit die Theorie des Systemwettbewerbs diesen als „Entdeckungsverfahren“ (Hayek) auffasst, nimmt sie zugleich wesentliche Elemente einer evolutorischen Ökonomik auf. Nach dem oben herausgestellten Widerspruch zwischen dem Evolutoriker Hayek und dem theoretischen Wirtschaftspolitiker gleichen Namens bleibt aller-
8 In neueren Veröffentlichungen wird „adaptive Effizienz“ endgültig zum Kriterium einer evolutorischen Theorie der Institutionen, also zu „evolutionary efficiency“ (Pelikan 2003). North (2005) beschreibt noch einmal die Komplexität der Aufgabe, adaptive Effizienz zu gewährleisten, indem er die Wechselwirkung von Institutionen und ihrem kognitiven Substrat eingehend erörtert.
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dings fraglich, ob sich bei der Übertragung des wettbewerblichen Entdeckungsverfahrens auf die Politik vergleichbare Ungereimtheiten ergeben.
3.4.1 Eine allgemeine Theorie des Systemwettbewerbs Ohne auf die ausgeuferte Literatur zum Systemwettbewerb eingehen zu können9, soll an dieser Stelle bloß seine grundsätzliche Modellierung betrachtet werden. Im Grunde beruht diese auf der Analogie zum Wettbewerb auf Märkten und betrachtet Regierungen als das ‚Management’ von Volkswirtschaften, die miteinander konkurrieren. Das ‚Regierungs-Management’ trifft Produktionsentscheidungen über ein Angebot, das aus den allgemeinen Regeln der Wirtschaftsverfassung, aus speziellen Regulierungen und Privilegien sowie aus öffentlichen Leistungen samt deren Finanzierung (Steuer-Leistungs-Pakete) besteht (Vanberg 1997). Für die Erörterung der möglichen Wettbewerbsmechanismen sowie der Wettbewerbsintensität ist es sinnvoll, „Mobilitätsstufen“ (Kerber 2000) zu unterscheiden:
Die erste Mobilitätsstufe (Kerber 2000: 75) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Staaten völlig voneinander getrennt sind. Das bedeutet, dass weder Güter noch Faktoren wandern können und nur das Wissen über die relative Leistungsfähigkeit des institutionellen Arrangements ausgetauscht werden kann. Nur das Wissen ist also mobil, und zwar in dem Sinn, dass ein Land andere Staaten und ihre Wirtschaftspolitik beobachten und ggf. imitieren kann. Der wissenschaffende Wettbewerb, der auf dieser Stufe möglich ist, ist demnach yardstick competition. Mit der lapidaren Feststellung „nichts ist so überzeugend wie ein erfolgreiches Vorbild“ spricht Kerber (2000: 75) schon auf dieser Stufe der Mobilität die Bedeutung des praktischen Wissens und einen Lernprozess durch Vorbild und Imitation an. Durch die OMK wird ganz offensichtlich diese Form des Systemwettbewerbs gefördert, teilweise geradezu erst geschaffen. Auf Mobilitätsstufe II wird die Mobilität von Gütern zwischen den Ländern zugelassen. Unter diesen, die Annahmen der traditionellen Außenhandelstheorie repräsentierenden Bedingungen wird ein indirekter Wettbewerb zwischen den nationalen Institutionenpolitiken wirksam. Da die nationalen Unternehmen auf den internationalen Gütermärkten im Wettbewerb stehen und das institutionelle Arrangement als „Vorprodukt“ kostenwirksam wird, „gibt es einen weit über die Stufe I hinausgehenden Anreiz für die einzel-
9 Vgl. für die ordnungsökonomische Diskussion grundlegend Vihanto (1992); Vanberg/Kerber (1994); Daumann (1995); Mussler/Wohlgemuth (1995); Kerber (1998, 2000).
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nen Länder, ihre kollektiven Problemlösungen (…) innovativ zu verbessern“ (Kerber 2000: 76). Mit der Zulassung von Mobilität der „Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren“ wird eine dritte Stufe erreicht, auf der sich der mittelbare zum unmittelbaren Wettbewerb zwischen den „kollektiven Problemlösungen“ (im Sinne von „Paketen von Steuern und Leistungen“) wandelt. Damit verlieren die Staaten ihre Monopolstellung als Anbieter institutioneller Arrangements bzw. rechtlicher Problemlösungen. Statt der „Monopolregulierung“ durch konstitutionelle Bindungen der Politik, deren Verbesserung überwiegend nur durch politischen Widerspruch möglich ist, eröffnet die Abwanderungs-Option die Möglichkeit von Substitutionskonkurrenz (Kerber 2000: 77 ff.). Klarerweise wird diese Mobilitätsstufe in der EU durch die wirtschaftlichen Grundfreiheiten inklusive der extensiven Auslegung des Verbots nationaler Schutzvorschriften verwirklicht. Der Übergang zur Mobilitätsstufe IV wird durch die Entflechtung der Steuer-Leistungs-Bündel markiert. Allgemein bedeutet dies die Auflösung der Territorialität des Rechts, indem die „Freiheit der Rechtswahl“ Bestandteil der Vertragsfreiheit wird. Damit wird die Abwanderungs-Option gleichsam ‚virtualisiert’, womit Translokationskosten im Zusammenhang mit der Wahl einer überlegenen Rechtsordnung entfallen und die Wettbewerbsintensität auf einer „Vielzahl von einzelnen Märkten mit je eigenen rechtlichen Lösungen für unterschiedliche Probleme“ zunimmt (Kerber 2000: 79 f.). Eine derartige Mobilität ist innerhalb der EU beispielsweise beim Gesellschaftsrecht weitgehend realisiert.
Das allgemein charakterisierte Mehr-Staaten-Modell stellt einen Analyserahmen bereit, der sowohl für das Verhältnis sub-nationaler Einheiten in föderalen Systemen wie für supranationale Gemeinschaften geeignet ist. Auf allen Ebenen hat sich eine solch allgemeine Theorie mit der Frage zu beschäftigen, „in welcher Weise ein funktionsfähiges wettbewerbliches System von Staaten mit ihren Rechtsordnungen gestaltet werden müsste“ (Kerber 2000: 83). Diese Frage einer „Metarechtsordnung“ muss allerdings, wie Kerber fortfährt, „als noch offen angesehen werden“. Auf die Problematik einer „Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb“ (Kerber 1998) wird noch zurückzukommen sein.
3.4.2 Systemwettbewerb als Entdeckungsverfahren Gemeinsam ist den Varianten wettbewerblicher Mehr-Ebenen-Systeme, dass sie im Gegensatz zu einem Einzelstaats-Modell wirtschaftspolitische Experimente
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nicht nur über die Zeit zulassen („sequentielle Experimentierungsprozesse“, Kerber 2000: 72), sondern zeitgleich und/oder an einem Ort einen „parallelen Experimentierungsprozess“ ermöglichen. Entscheidend ist also das Verständnis des Wettbewerbs als wissenschaffenden Wettbewerbs. Für föderale Systeme hat Oates (1999) in neuerer Zeit vom „laboratory federalism“ gesprochen, dessen Bedeutung klar wird, sobald die Unvollständigkeit und Fehlbarkeit des wirtschaftspolitischen Lenkungswissens, das nur pragmatisch („learning-by-doing“) zu gewinnen und zu erweitern ist, zugestanden wird: “In a setting of imperfect information with learning-by-doing, there are potential gains from experimentation with a variety of policies for addressing social and economic problems [..., from making, S.O.] use of the states as ‘laboratories’ to try to find out what sorts of programs can work” (Oates 1999: 1132).
Freilich bestehen (zumindest) empirische Grenzen der Funktionsfähigkeit des Systemwettbewerbs, die die Lernpotenziale aus dem als Entdeckungsverfahren interpretierten Wettbewerb begrenzen. Mag man diese Grenzen noch für verrückbar halten, indem weitere Mobilitätsstufen erreicht werden, so bleibt immer noch die empirische Beobachtung, dass das gewonnene Wissen zwischen föderalen Einheiten nur sehr schwer diffundiert.10 Mit anderen Worten: Hält man das Problem unzureichender Wissensgenerierung für prinzipiell lösbar, so wird das Problem unzureichender Wissensnutzung in Mehr-Ebenen-Systemen umso dringlicher. Da die Nutzung von Wissen den Kern der Hayekschen Kritik an einer tautologischen Wettbewerbstheorie bildet, erwartet man dazu nähere Erläuterungen. Tatsächlich führt Hayek (1976: 70) in seiner programmatischen Darlegung aus: „Es gibt hier entschieden ein Problem der ‚Wissensteilung’, das ganz analog und mindestens ebenso wichtig ist wie das Problem der Arbeitsteilung. Während aber das letztere seit den Anfängen unserer Wissenschaft eines ihrer Hauptuntersuchungsobjekte war, wurde das erstere völlig vernachlässigt. Obwohl es mir als das zentrale Problem der Volkswirtschaftslehre als einer Sozialwissenschaft zu sein scheint“.
So wie aus der Arbeitsteilung der Tausch von Gütern und Faktoren resultiert, sollte aus der Wissensteilung (als der Tatsache ‚zerstreuten’ Wissens) eine Theorie des Wissenstauschs bzw. der Wissensteilhabe folgen, zumal mit zunehmender Aufgabenspezialisierung auch das jeweilige Wissen immer spezifischer und immer weiter ‚zerteilt’ wird. Programmatisch ist Hayeks Ansatz plausibel und 10
Vgl. eingehend und mit weiteren Nachweisen Oates (1999: 1133 f.).
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intuitiv zugänglich, es fragt sich aber, ob die Frage der Wissensteilung erschöpfend damit zu beantworten ist, dass einerseits in der wettbewerblichen Koordination von Einzelhandlungen (spontane „Handelnsordnung“) Wissen genutzt werde und andererseits die Rahmenordnung rechtlicher Regeln als Speicher von Erfahrungen diene. Was eine genauere Behandlung der wissensteiligen Prozesse im Markt und folglich auch die politische Wissensteilung im Systemwettbewerb verhindert ist m. E. genau jene strikte Dichotomie von Rechtsordnung und Handelnsordnung, von allgemeinen Regeln und isolierten Einzelhandlungen. Dieses Analyseraster ist deutlich zu grob, um Prozesse des Wettbewerbs und der Wissensteilung adäquat abzubilden. Pointiert: Zwischen „system of rules“ (Rechtsordnung) und „order of actions“ (Handelnsordnung) fehlt bei Hayek eine „order of actors“. Bezeichnenderweise hat Hayek wenig bis nichts zur Theorie der Firma, und damit auch zu zwischenbetrieblichen Kooperationen oder anderen Organisationsformen im Wettbewerb zu sagen (Foss 1998: 152 f.). Mit diesem Manko kann dann auch für den Systemwettbewerb nicht entscheiden werden, welche Kooperations- und Organisationsnotwendigkeiten bestehen, damit die Wissensteilung gewährleistet werden kann. Mag die politische ‚Arbeitsteilung’ mit elaborierten Modellen des Systemwettbewerbs immer besser beschrieben worden sein, so mangelt es an einer Theorie der Wissensteilung für den Bereich kollektiver Problemlösungen. Angesichts dieses Defizits ist es unzulässig, Methoden, die offensichtlich (zumindest auch) der Wissensnutzung dienen, als dem Wettbewerb fremd und als mit Sicherheit dem Wettbewerb schädlich zu betrachten. Dies gilt auch und insbesondere für die OMK. Mein Argument geht auch über die wohlwollenden Interpretatoren der OMK hinaus, die die Methode bestenfalls als unverdächtige Ergänzung des Systemwettbewerbs betrachten wollen (Eckardt/Kerber 2005) und zielt darauf, die OMK als einen möglichen Beitrag zur notwendigen wettbewerbsinternen Organisation der Wissensteilung zu analysieren. Dieses Argument gewinnt noch zusätzliches Gewicht durch die Zielsetzung der OMK, politische Innovationen anzuregen: Denn auch beim „kollektiven Innovationsprozess“ auf Märkten (Pyka 1999) wird die Frage der Organisation besonders bedeutsam, weil sich über die Produktion des noch Unbekannten kein einfacher Marktkontrakt schließen lässt – und genauso wenig eine hierarchische Anweisung gegeben werden kann. Wenn aber für marktliche Innovationen offensichtlich eigene Organisationsformen erforderlich sind, mit denen jenseits der Koordinationsformen ‚Markt’ und ‚Staat’ operiert – und kooperiert – werden kann, so ist ein Verfahren der hybriden Koordination auch für die Förderung politischer Innovationen angebracht. Die OMK mit ihrer Mischung aus gemeinsamer Zielsetzung, eigenständiger und kompetitiver Umsetzung und kooperativer Evaluation er-
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scheint vor diesem Hintergrund nicht länger als Fremdkörper in einem Wettbewerbsprozess, sondern ähnelt Forschungskooperationen zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmensteilen in verblüffender Weise (Silverberg 1990; eingehend Okruch 2005).
3.4.3 Systemwettbewerb als Mittel der Legitimation Mit dem Verfahren der laufenden wettbewerblichen Kontrolle und innovativen Anpassung von Wirtschaftsordnungen im Systemwettbewerb wird Wissen gewonnen über die Problemlösungskapazität von Institutionen. Diese praktisch erprobte Problemlösungsfähigkeit vermittelt zugleich Legitimation für diese Institutionen, nämlich Output-orientierte Legitimation. Diese ist Ausdruck der Herrschaft für das Volk, denn dieses profitiert von den überlegenen Institutionen. Wohlgemerkt: für das Volk, also die Gesamtheit der in einer Wirtschaftsordnung lebenden Bürger. Und es ist keineswegs trivial, im Systemwettbewerb wünschenswerte Ergebnisse für alle Bürger zu gewährleisten, denn „das Volk“ ist für den Systemwettbewerb nur eine Chiffre für die – mehr oder weniger mobilen – Produktionsfaktoren, die das Ergebnis des Wettbewerbs bestimmen. Es muss also verhindert werden, dass im Systemwettbewerb dadurch Vorsprünge erreicht werden, dass Regelungen einseitig zugunsten eines (mobilen) Faktors geschaffen werden. Systemwettbewerb soll, anders gewendet, unverzerrter Leistungswettbewerb sein, was nur durch eine geeignete „Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb“ (Kerber 1998) gelingt. Diese bereits angesprochene Forderung ist zwar konsequent, doch kann die Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb nicht selbst Ergebnis eines Wettbewerbs sein kann. An dieser Stelle ist offenbar Input-orientierte Legitimation erforderlich, also Herrschaft durch das Volk. Die Alternative zur Legitimation von Ordnungen stellt zwar ebenfalls auf ein Verfahren ab, betrachtet jedoch nur die „sequentiellen Experimentierungsprozesse“. Es wird also untersucht, welche Verfahren bei der Implementation einer Wirtschaftsordnung eingehalten werden müssen, um eine wünschenswerte Ordnung zu garantieren. Dabei ist die entscheidende Verfahrensnorm die vollständige Berücksichtung der individuellen konstitutionellen Präferenzen der Verfassungsbürger (normativer Individualismus). Die Konstitutionenökonomik benutzt folglich den (faktischen!) Konsens der (aller!) Verfassungsbürger als Legitimationskriterium, wodurch sie gewisse Probleme mit der Praktikabilität hat. Hält man an der Forderung nach dem faktischen Konsens fest und fragt nach der adäquaten Beratung und Aufklärung der Verfassungsbürger, damit diese im ‚konstitutionellen Augenblick’ eine informierte Wahl treffen können, so ist an die oben angesprochene Bedeutung von Ordnungsvor-
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stellungen zu erinnern. Diese enthalten eine normative und eine evaluative Komponente. Während die Vorstellung über die wünschenswerte Verfassung (hier: die Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb) als gegeben betrachtet werden, besteht eine Funktion wissenschaftlicher ‚Verfassungsberatung’ in der Aufdeckung der Funktionseigenschaften verschiedener Regelungen. Somit ist auch zur Verabschiedung der Rahmenordnung Wissen über die relative Problemlösungskapazität verschiedenere institutioneller Arrangements erforderlich. Da aber die Funktion einer Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb gerade darin besteht, diesen für bestimmte Bereiche auszuschließen, wird mit der Rahmenordnung jener wissenschaffende Prozess unterbunden, der erforderlich ist, um auch die Wissensgrundlagen für die Wettbewerbsordnung zu erweitern. Die vorgeblich so elegante Lösung der analytischen Trennung von Rahmenordnung und Wettbewerbsprozess ist somit – gerade was das erforderliche Lenkungs- und Steuerungswissen anbelangt – keineswegs so voraussetzungslos, wie es bei erster Betrachtung den Anschein hat. Auch unter dem Blickwinkel ‚Wissen und Legitimation’ gelangt man zu dem Ergebnis, dass die strikte Gegenüberstellung von Rahmen und Wettbewerbsprozess nicht überzeugt. In dieser Perspektive lässt sich dieses Ergebnis aber noch anders nuancieren: Es reicht offenbar nicht hin, in einem seltenen konstitutionellen Augenblick eine Rahmenordnung zu setzen, um die laufenden Wettbewerbsprozesse in die gewünschten Richtung zu kanalisieren. Die Notwendigkeit intermediärer Organisation und hybrider Koordination erscheint dann als das Erfordernis, ein Verfahren zu finden, mit dem zwischen den seltenen konstitutionellen Momenten ein Rahmen von politischen Zielen für den Systemwettbewerb gesetzt – und im Lichte der Wettbewerbsergebnisse auch revidiert werden kann. Ein solches Verfahren aber wird mit der OMK versucht. Mag für die endlose Dauer der Zielfindung auch das Kalkül politischen Taktierens mit verantwortlich sein, verstanden als Suche nach Teil-Wettbewerbsordnungen für den durch die OMK zugleich intensivierten Systemwettbewerb ist dieses Phänomen nicht verwunderlich. Dass nach dem Relaunch der OMK verstärkt die stakeholder einbezogen und die Unionsbürger ‚mitgenommen’ werden sollen, wird vermutlich das Verfahren – entgegen der politischen Absicht – nicht beschleunigen. Diese verstärkte Input-Legitimation bei der Suche nach zustimmungsfähigen Zielen für einzelne Politikfelder (bei gleichzeitig weiter bestehender wettbewerblichen Output-Legitimation für die eingesetzten Mittel) ist der ‚neuen’ OMK jedoch nicht vorzuwerfen.
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Stefan Okruch
Fazit
Systemwettbewerb in der EU ist Realität. Bei allen Überlegungen zu den empirischen und theoretischen Grenzen dieses Wettbewerbs darf nicht übersehen werden, dass sich die Alternative ‚Systemwettbewerb oder Politikkoordinierung’ in dieser gegenseitig ausschließenden Form ohnehin nicht stellt. Systemwettbewerb in seinen verschiedenen Formen bleibt wirksam – außer mit dem Vorwurf der schleichenden Harmonisierung wird stillschweigend unterstellt, die EU wolle auf eine ‚Mobilitätsstufe 0’ zurücksinken. Dies ist schon deshalb nicht plausibel, weil nicht nur der Systemwettbewerb in der EU, sondern auch der Systemwettbewerb der EU mit anderen besteht. Das Zurückbleiben Europas gegenüber anderen Industrienationen bildete bekanntlich einen Ausgangspunkt der Lissabon-Strategie. Außerdem wird der Maßstabs-Wettbewerb auf Mobilitätsstufe I durch die OMK gerade intensiviert. Die Frage nach der ‚Wettbewerbspolitik für den Systemwettbewerb’ umfasst eine solche politische Intensivierung des Wettbewerbs, also der Wissensgewinnung und -nutzung ebenso wie die Frage der Wettbewerbsordnung für bestimmte Politikfelder. Dass auf beiden Ebenen konzeptionelle Verkürzungen und theoretische Scheinlösungen drohen, sollte deutlich geworden sein. Ebenso, dass die OMK konzeptionell für diese Dimension der Wettbewerbspolitik eine bedeutende Rolle spielen kann.
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Sustainable Convergence and Pension Reform in Central and Eastern Europe Michael Bolle / Oliver Pamp
1
Introduction: A Daunting Reform Challenge*
Discussions on pension reforms in Europe usually start with the now commonsense observation that adverse demographic developments put the financial viability of publicly run pay-as-you-go (PAYG) systems under increased fiscal strain, even threatening their long-run sustainability. In particular, increasing life expectancy, falling fertility rates and rising dependency ratios add up to rather bleak future projections. Furthermore, labour market distortions caused by rising social security contributions are cited as another rationale for reform. While we do not dispute these reasons for reform, we contend that there is a third dimension to this issue which seems to have been forgotten in the discussion so far: the impact of aging on economic growth and the effects pension reforms have on domestic savings and capital markets. In particular, to what extent the conversion of a PAYG scheme (or parts of it) into a fully funded system affects private savings, and thus investment and therefore growth, is an issue that deserves more than casual attention. While discussed to some extent with regard to developing countries, we claim that this aspect is also of great importance in the European context, especially with respect to the recent accession of the considerably poorer Central and Eastern European countries (CEEC).1 Indeed, for the CEEC the reform challenges are even more daunting than for the mature economies of Western Europe. The reason is that they not only have to reform their social security systems against the backdrop of an aging society, but also need to organize an economic catch-up process. This calls for policy measures that help increase savings and investments. At the same time however, the populace yearns for fast increases in current consumption that
*
We would like to thank Tim Schröder-Klings and Alexander Salhi for invaluable research assistance. 1 As the accession of Romania and Bulgaria is approaching fast, we did not restrict ourselves to the new eight EU member states but also include these two countries in our analyses.
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matches Western European levels, which makes this endeavour politically even more delicate. Our argument in a nutshell: private savings rates in transition countries are insufficient to finance the investments necessary to create the economic growth rates needed for a rapid catching-up process. This gap is reflected in sizeable current account deficits that all CEEC (except Slovenia) are currently running. At the same time, these countries also have to cope with the effects of aging populations, which threaten economic growth and thus the catch-up process. Hence, we argue in this chapter that raising domestic savings, and thereby increasing investment and productivity, is paramount for sustainable convergence. Reforming pension systems, defined in this paper as a full or partial transition from a PAYG to a prefunded system, is a key step to achieve this goal. In addition, transition to such a prefunded pension scheme and increases in private savings would also boost the development of capital markets in the CEEC. This further increases their attractiveness for foreign capital, improves the allocation of resources, raises productivity and strengthens corporate governance practices in these economies, which all should contribute to a faster real convergence. We therefore maintain that profound pension reforms in the CEEC are desirable not only from a financial sustainability or social policy perspective, but also in the framework of a broader growth strategy, designed to facilitate a sustainable economic convergence process while at the same time alleviating the adverse effects of rising dependency ratios. This chapter is structured as follows: in the next section we lay the foundation by developing the basic argument about the link between aging, domestic savings, investments and economic growth. Section 3 applies this reasoning to the transition countries. Some casual back-of-the-envelope projections are presented to bring our point back home. The fourth section then briefly discusses the impact of a full or partial transition from a PAYG to a prefunded system on domestic savings and capital markets. Finally, the last section draws the threads together and offers some conclusions.
2
A Simple Framework
The macroeconomic logic of an aging society is easy to understand. An aging society suffers from a process of an increasingly reduced number of people in the working age. The labour force will shrink slowly or fast, depending on the speed of this process. This may be due to different reasons, but whatever the reasons are the process can be expressed by
Sustainable Convergence and Pension Reform in Central and Eastern Europe
a=
A B
227 (1)
where a defines the proportion of the labour force A to population B. The development of the labour force A will be determined by the growth rate of the population gB as well as the speed by which the society is aging, expressed by the growth rate of a:
gA
gB ga
(2)
ga will be negative in an aging society and may outweigh gB, which may be zero, positive or negative. We will deal with the case of a shrinking number of the active labour force, a negative gA and will look into the macroeconomic logic of this process. If because of aging the labour force is becoming scarce, the wealth per head will become lower as compared to a non-aging society. This holds true unless working time will not be increased or more resources are devoted to capital accumulation. If, because of aging, a larger number of people consume and do not actively contribute to production, output will fall and the wealth of nation as measured by GNP per head (or national income per head) will inevitably decrease. If a society does not want to work longer or to accept lower income, it has to find a way out of this dilemma. It has to speed up the growth rate of labour productivity to compensate for the loss of numbers in the active labour force in order to avoid a dramatic loss of income per head and a lower growth rate which would inevitably lead to a comparably (compared to the old golden age) lower income per head now and in the future. This is described by
gY
B
g Y ga
(3)
A
in which g denotes the growth rates with suffix Y/B as income per head and Y/A as labour productivity. Comparing different growth paths, it is easy to see in (3) that once the society starts aging and ga becomes negative, an unchanged growth rate of the productivity of labour will lead to a lower income per head as compared to the former growth path where the relation of the active labour force to the overall population was stable (which would be described by a growth rate of zero). Only if the growth rate of labour productivity will be increased, society is able to keep the same growth rate of income per head as before aging began. If society does not find ways to implement a new growth path which is characterized by a higher growth rate of labour productivity to compensate for the aging factor, it will inevitably become poorer as compared to a non-aging sce-
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Michael Bolle / Oliver Pamp
nario. This may, depending on the speed of the aging process, happen in the very short run, in the medium term and inevitably in the long run. There are only few ways to get a higher labour productivity, which, of course, will not come out of the blue. An increase in labour productivity requires investment. Nothing comes without costs, especially not economic goods. A higher quality of the labour force, better education and more efficient ways of production, better and more efficient machinery, more technical progress – we will not get them for free. Investment is needed; investment quotas have to be increased. This is what the macrologic of economics tells us. At any given moment of time, the wealth of an economy Y as measured by the gross national product (GNP) can be produced by combining resources (factors of production). A production function Y = Y[A, K, T]
(4)
catches the efficient process in which Y denotes GNP (output) with factors of production A (active labour force), measured by the number of employed people on the basis of a given working time, K measured by the value of the technical equipment (capital stock) and T denoting the available set of blueprints (technology). Output will be produced either as consumption goods (C) or investment goods (I) assuming a closed economy for the moment being. A standard stability condition for macroeconomic equilibrium states that overall supply equals overall demand which can be expressed by noting that in macroeconomic equilibrium investment equals saving. This condition is well-known in economic textbooks and is a well-defined condition for equilibrium expressing the nice coincidence that the financial value actors (people, companies, governments) want to save (S) out of their earnings to increase their wealth equals the financial value of what companies want to produce as capital goods (yes, always including investment for services). All actors within a society decide according to their preferences and budget restrictions to consume, to save and to invest. If decisions are compatible because of efficient markets (goods and services, capital markets) and other institutions (government regulation) prices may be stable and employment is, hopefully, high. Investment (which, to remind you, needs appropriate saving if society does not want to end up with either inflation or high unemployment, or worst, with both problems simultaneously) is needed for technical progress, a higher qualified labour force and a more modern and more efficient stock of technical equipment K. If society does not save enough of its value of production GNP, only low investment will add to the real capital stock, improvement of technology T and a more efficient labour force A. Thus, capital as an impor-
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tant factor of production may become scarce and this will inevitably influence the process of building wealth described by the growth rate of income per head. According to well-known theories of economic growth gy
k u YI
(5)
defines the simple link between the growth rate of GNP and the growth rate of capital with k as productivity of investment and I/Y as the investment ratio, i.e. the proportion of investment to overall production. The fundamentals of the growth process have been developed by simple Harrod-Domar-models or, a little bit more advanced, Solow-type models which both point to the importance of the investment ratio I/Y and the efficiency of the investment k, embodying technical progress. Contrary to Harrod-Domar-type models, Solow-type models stress the link between the investment ratio and the efficiency of investment via the production function and markets. Based on a more Keynesian view and restricting ourselves to a medium time period and not the very long run of 50 years or more, one can refer to the simple but not simplistic view that growth depends on investment in real capital and human capital, embodying technical progress. Some kind of autonomous technical progress plays a role given the importance of the Solow-residuum which we will not deal with here. There is a lesson to be learned for growth-men by looking at (5). A growth oriented economic policy requires a high investment ratio to GNI, whether it is foreign direct investment or home-produced investment goods or improvement of human capital by investment in schools, universities, vocational training or other forms of education. We are now in the position to roughly calculate the necessary increase in investment quotas to compensate for the aging factor ga. The link between aging and growth rates of GNP (and, given (5), investment) is given in
gY =k u ( YI ) g A
(6)
which allows for the computation of the necessary rise in investments to prevent a possible loss on overall welfare, given unchanged working time. This again corresponds easily to our common knowledge: if labour becomes scarce, society has to put more efforts in a higher quality of the labour force and a more capital intensive and more productive way of production, which both will require investments. To avoid a severe struggle over scarce resources in the future and to secure intergenerational equity and future wealth, an aging society has to find ways to deal with the looming welfare losses. Selection of the best way to cope
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Michael Bolle / Oliver Pamp
with this problem depends on people’s preferences. Suppose a situation, in which the process is rather dramatic because of a high aging factor. Within a few years, society has to cut expenses because of lower income per head. This may affect private consumption, may be linked to private investment, or may also have an impact on government expenditures for transfers, public goods and public investment. There are certainly different ways to respond to the challenge in a democratic society. Most probably, there is one common feature to all of them: nobody wants to be part of the losers who will suffer from reduced income per head and lower governmental spending implied by cut back transfer rights like pensions for the elderly or free education for the young. Nobody wants to suffer from a downsized health care system or an deterioration of the infrastructure. Preferences of people are different. Some may prefer a reduction of a pension system’s scope (probably more the young ones), some may prefer reductions for high speed railways or highway systems, perhaps even kindergartens (probably the older ones). Firms may be scared to suffer from reduction in subsidies, employees may be afraid of losing their job because of the loss of subsidies or transfers. But there is one inevitable truth: the system of equilibrium prices which had prevailed in the days before society started to become increasingly older will not work any longer. Adjustments of society’s spending to the value of what is produced and what will be available for consumption, whether privately or publicly, have to be made. Due to the preferences of people, and with the help of a hopefully benign government, society may be able to adjust equilibrium prices to the new needs. These needs are expressed by higher labour productivity which does not fall like manna from heaven but again takes lots of resources to be implemented – it needs investment in real and human capital which in turn, as was shown above, requires higher savings. The macroeconomic logic of aging societies holds for advanced transition and developed economies. But investment is even more needed in developing economies wanting to run a fast catch-up process towards advanced and wealthy economies. Even worse: developing and transition economies face a double dilemma. Because of the lack of a sound industrial basis, investment goods cannot be produced easily but have to be imported, paid for either by the financial means of the country or by the inflow of foreign capital. If a country intents to ground economic growth on its own economic power, not wanting to depend on the helping hands of friends, neighbours, or - perhaps - more selfish countries of the outside world, the country has to increase national savings. Transition and developing countries are, however, low income countries which cannot increase savings to a level necessary to finance high investment without risking monetary equilibrium, or, even worse, political instability. Economic – perhaps even political – stability depends on a monetary equilibrium between overall supply of
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goods and services and the demand for goods and services. Otherwise, demand driven inflation places monetary stability at risk and may prove to be a burden for political stability, too. The growth-trap in which developing and transition economies find themselves in is given by the need for higher investment on the one hand and low domestic savings because of low incomes on the other. However, there is a way out. A country may import foreign resources via importing more than exporting, that is running a current account deficit. The gap between necessary high investments (necessary for high growth rates) and income restricted low savings may be closed by a steady flow of foreign resources financed by the steady inflow of foreign capital into the country. From the point of view of welfare economics, the current account deficit can indeed be interpreted as an import of foreign resources which are built in capital goods imported and financed by the steady inflow of foreign capital into the country. Thus, the domestic saving ratio may still be low. If because of scarcity of domestic resources, restrictions for economic growth are eased by running a current account deficit, the corresponding domestic saving-gap has to be filled by an inflow of foreign capital, thus guaranteeing internal macroeconomic stability as well as external stability expressed by an equilibrium in the balance of payments. These links are expressed in S Y
I Y
EX YIMP
(7)
in which S denotes home savings, EX exports, and IMP imports. It is easy to see, that if S/Y < I/Y, then the current account deficit Ex - Imp must be negative, pointing to higher imports than exports and a current account deficit. This is exactly the situation in most developing and transition economies. For them, a current account deficit is a “must” for higher growth and a catch-up process which may take a generation or two. Some calculations are given in the next section. It goes without saying that running a current account deficit for small countries with fragile and not well developed capital markets involves plenty of risks. Only countries with deep and wide capital markets can afford running a current account deficit over the years like the United States. It illustrates that an internationally important currency such as the dollar does not come as a burden but as a virtue to a country, because it allows to import foreign resources for a considerable period of time. But dealing with small and poor countries like developing and transition economies, high current account deficits can easily prove to be unsustainable. It does not seem advisable to run an overt policy of increasing the current account deficit to a level too high to be trusted by markets or by giving up financial or
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monetary discipline. External equilibrium is rather unstable and foreign exchange rates may turn out to be more volatile than expected (Bolle/Meyer 2005). There is always a possibility of a currency crisis with its well-known characteristics like depreciation, banking crisis, and contagion. Thus, to ensure a self-sustained catch-up process, policies must facilitate higher domestic savings (which also means an only slow increase in consumption) to finance investment ratios without putting economic stability at risk. The growth strategy sketched here has to be linked to an increase of the export base and to a reduction of imports, thereby diminishing the current account deficit. This process must be gradual, but determined. Risks are around the corner. There is only a small line between overshooting and economic crisis, the conflict characterized by short run needs and long run goals. Given the macrologic of the catch-up process for developing and transition economies, their growth dilemma becomes even more expressed if they are also aging societies. For transition and developing economies the growth-trap is not only characterized by the need for higher saving ratios to fuel sustainable growth but in addition to find ways for an even higher savings ratio to cope with the challenge of aging. Transition and developing countries, if they are aging, will thus face a triple challenge: the dilemma of a volatile external position because of the necessary current account deficit, the need for higher growthlinked saving ratios and at the same time even additional efforts for saving and investment to compensate a greying society’s loss of income. Given this triple challenge, we now turn to some empirical illustrations.
3
CEEC - Savings, Aging and Sustainable Convergence
Having explicated our basic framework, it is time to examine the situation of the CEEC after accession to the EU. In these countries, saving and investment is the key for growth, since capital stocks depreciated rapidly because of the profound structural changes that were necessitated by the transition from a planned to a market economy.
3.1 Saving and Investment in the CEEC After having experienced a pronounced slump in gross domestic savings from the artificially high levels of the socialist era, averaging 34% of GDP in 1989 and going down to 19% in 1993 (Schrooten/Stephan 2003: 8), CEEC’ saving rates have recovered somewhat in the second half of the 1990s. Yet despite this
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recovery, domestic savings still fall way short of what would be necessary given the desired investment rates. As figure 1 points out, except for Slovenia all CEEC exhibit a clear savings gap, with Bulgaria leading the pack with a wobbling 7,6% difference between investment and savings rates in 2003 (WDI 2005). Figure 1:
Saving and Investment Rates in CEEC, 2003 Gross domestic savings (% of GDP)
Gross fixed capital formation (% of GDP)
30
25
% of GDP
20
15
10
5
0 BGR
ROM
EST
LTU
POL
LVA
SVK
CZE
HUN*
SVN
EMU
Source: World Development Indicators 2005; CEEC are ordered according to the size of their saving-gaps (i.e. difference between investment and savings); * Data for 2002
This imbalance is also reflected in sizeable Current Account deficits that the CEEC are currently running (Figure 2), being as high as 13% in the case of Estonia. Put differently, this means nothing else but that CEEC import foreign capital in order to finance the investments necessary for a sustained catching-up process.
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Figure 2: Current Account Deficits in CEEC, 2003 -9 -8 -7 % of GD
-6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1
BGR
LVA
LTU
CZE
ROM
POL
SVK
SVN
EMU
Source: World Development Indicators 2005
In a world of perfect capital mobility, domestic saving and investment would not have to match; hence the level of national saving would not be an issue of concern. Yet, international capital markets are far from being perfectly integrated (Feldstein and Horioka 1980) and empirical studies have shown that foreign capital only acts as a partial substitute for domestic savings (Loyaza et.al. 1998; Rodrik 2000; Schrooten and Stephan 2003). Also, recent experiences in Asia and Latin America give testimony to the havoc wreaked when investor sentiments turn sour. Hence, although some authors have argued that from a theoretical perspective there should be no reason to be concerned about current account deficits (Sachs 1981), recent lessons of other emerging markets should provide a warning that in the medium- to long-run CEEC’s external imbalances pose a considerable threat to macroeconomic stability and the economic convergence process as a whole. Indeed, history tells us that only very few countries were able to run persistent current account deficits (CA) deficits. More often than not, current account reversals caused by sudden stops in capital inflows corrected the imbalance, with usually very adverse consequences for growth and investment (Edwards 2004).
235
Sustainable Convergence and Pension Reform in Central and Eastern Europe
3.2 Aging and Labour Force Developments in the CEEC The labour force in proportion to the overall population (a) is shrinking constantly in the EU. While this ratio is still higher in the CEEC2, 0,70 in 2005 as compared to 0,67 for the EU-15 average (Eurostat 2005), it is also falling faster as compared to the old member states (see Figure 3). Indeed, the average annual change of the labour force in relation to the population will be -0,4% in the EU15 and -0,7% in the CEEC. Given these trends, we can expect a convergence to take place after 2050. Figure 3:
Projected Development of the Labour Force in Relation to the Overall Population (2004-2051) EU-15
CEEC
0,80
0,70
0,60
0,50 2005
2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
Source: Eurostat 2005. Own calculations.
As a result, the triple challenge suggested in section 2 is clearly borne out by the data: for one, CEEC policymakers have to gradually bring down their CA deficits by increasing domestic savings, while at the same time satisfying the populace’s desire for a fast increase in current consumption. Secondly, European integration has even further increased the expectation of the public that a convergence to the standard of living of the old member states will be swift and 2 Note that the variation within the CEEC is quite small and ranged in 2005 from 0,68 for Lithuania to 0,71 for Slovakia.
236
Michael Bolle / Oliver Pamp
quick. But projecting current convergence trajectories into the future shows that there is still quite some way to go. Yet, speeding up the convergence process would necessitate more investment and thus even higher savings. Finally, the shrinking labour force will call for even higher savings and investments to compensate for the income loss by creating a higher per worker productivity. Some simple back-of-the-envelope calculations will illustrate the magnitude of the challenges that policy-makers in the CEEC confront.
3.3 Real Convergence to EU Countries Expectations in the CEEC about a fast convergence are high. However, if we extrapolate the rather favourable average real per capita growth rates of the years 1999-2003 into the future and assume that the countries of the Eurozone (EMU)3 will grow by an average of 1,5% a year4, we find that even for the most advanced CEEC, convergence to only 80% of the EMU standard of living will still take another generation. Note that in Romania it would even take more than century to catch-up, while in the other countries the range is between 24 for Slovenia and 87 years for the Czech Republic (see table 1). As a comparison, if we assumed growth rates in line with the projections made by Fischer et.al. (1998)5, then convergence times would be reduced in most countries but would still be considerable6. Only increasing growth to 6% or even 9% will enable a quick convergence. In case of 9%, most CEEC would need less than 20 years to catch up to 80% of the EMU average. Slovenia would even need only six years.
3 Note that the average GDP per capita of the EMU is lower than that of the EU-15. For data reasons and since all CEEC are obliged to approach the Eurozone, we decided to use EMU figures as our reference. Using EU-15 figures would only reinforce our argument. 4 Note that this is a rather conservative assumption. EMU’s actual annual average change in real GDP between 1990 and 2004 was 1,9 per cent. 5 Fischer et.al (1998) estimated future growth rates by using the well known regression equations of Barro (1991) and Levine and Renelt (1992). In table 1, we chose to display their results for the Levine/Renelt equation, since its emphasis on investment is more in line with our approach than Barro’s focus on government consumption. 6 Note that in some cases these growth rates are smaller than the average of 1999-2003, hence convergence periods are longer in this case.
Sustainable Convergence and Pension Reform in Central and Eastern Europe
237
Table 1: Time for Convergence to 80% of EMU-GDP per capita
Country
Average growth 19992003 continued
Levine-Renelt growth projection (Fischer et.al. 1998)
6 % growth rate
9 % growth rate
Slovenia
24 years (3,4%)
13 years (4,99%)
10 years
6 years
Czech Republic
87 years (2,7%)
37 years (4,34%)
24 years
14 years
Hungary
50 years (3,9%)
40 years (4,49%)
27 years
16 years
Estonia
29 years (5,8%)
40 years (4,62%)
28 years
17 years
Poland
80 years (3,1%)
38 years (4,95%)
29 years
18 years
Slovak Republic
81 years (3,2%)
36 years (5,34%)
31 years
19 years
Lithuania
36 years (5,5%)
30 years (6,27%)
32 years
19 years
Latvia
25 years (7,2%)
38 years (5,26%)
32 years
19 years
Romania
108 years (3,5%)
51 years (5,84%)
49 years
30 years
Bulgaria
59 years (5,3%)
71 years (4,65%)
50 years
31 years
Note: Base year is 2003. EMU’s GDP p.c. is assumed to grow by 1,5% per year. Countries are ranked according to the level of real convergence achieved in 2003. Source: Own calculations based on World Development Indicators 2005
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Michael Bolle / Oliver Pamp
While a sustained growth rate between 6 and 9 per cent is hard to achieve, it is nevertheless possible as the example of Ireland in the mid-90s demonstrates. However, at the current saving trajectories this would imply unsustainable CA deficits. We have made some very rough back-of-the-envelope calculations to obtain the implied CA deficits for different growth scenarios, accounting for a shrinking labour force relative to the population. Again we assumed an annual growth rate of the Eurozone countries of 1,5 per cent. Also, the base year is again 2003 and we assumed a constant domestic saving rate at the level of the 2000-2003 average for each country. Moreover we presumed a constant productivity of capital7 at the country-specific 2000-2003 average and we took the average annual change of the labour force ratio (gA) for the period 2004 – 2051 into account. Using the simple framework developed in section 2 for the relationship between aging, growth and investment in real and human capital, we derived the implied CA deficits, as explicated for selected countries in table 2. As is clearly visible, even an extrapolation of the average growth rates for 19992003 would imply CA deficits of up to 10%, which would be hardly sustainable. However, assuming growth rates between 6% and 9% lets the CA deficits in the CEEC explode. Note that in comparing these numbers with the case of no aging, we find that the decline of the labour force ratio adds annually between -0,6% and -1,5% to the CA balances. The above framework can also be utilized to consider, hypothetically of course, the price of aging in terms of extra years needed for convergence. If we take the averages of the years 2000-2003 for domestic saving rates, current account deficits and marginal productivities of capital as given, we can roughly calculate the catch-up scenarios with and without aging. For instance, in the case of Bulgaria the aging factor prolongs the catch-up process (to 80% of EMU) by another 6 years, in Slovenia (which is much closer to EMU) by one year.8 It needs to be pointed out that we do not claim these numbers to be exact predictions9. Rather, they are simply supposed to convey a general idea about the magnitudes involved.
7 Of course, this is a very simplifying assumption, yet estimations of the changes in k as I/Y is increased are beyond the scope of this chapter. From a neoclassical perspective one would expect diminishing returns. Yet we are dealing with transition economies here that may still be on the steep part of the curve for some time to come. For the period until 2003 the data does not show any signs of a decreasing productivity of capital. 8 Of course always assuming for sake of illustration that saving rates and CA deficits remain at their 2000-2003 average! 9 More exact projections would need to explicitly deal with technological progress and pay more thorough attention to the development of k and labour productivity.
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Sustainable Convergence and Pension Reform in Central and Eastern Europe
Table 2:
Required Current Account Balance for desired growth rate given desired investment levels and declining labour force ratio, selected CEEC
Country
CA Balance if average growth 1999-2003 continued
CA Balance for 3 % growth rate
CA Balance for 6 % growth rate
CA Balance for 9 % growth rate
Bulgaria
-7,01%
1,22%
-9,51%
-20,24%
Hungary
-10,12%
-2,82%
-27,14%
-51,47%
Lithuania
-6,28%
3,31%
-8,20%
-19,71%
Poland
-7,87%
-7,20%
-27,21%
-47,21%
Romania
-6,60%
-3,60%
-21,59%
-39,59
Slovakia
-6,49%
-4,65%
-32,33%
-60,01%
Note: Base year is 2003. EMU’s GDP p.c. is assumed to grow by 1,5% per year. Gross domestic savings rate and marginal productivity of capital are kept constant at 2000-2003 average level. Labour force growth in relation to the population (gA) is the 2004-2050 average. Source: Own calculations based on World Development Indicators 2005
Given the size of the huge implied CA deficits brought about by the investment needs for the catch-up and the aging process, it is evident that the CEEC need to increase domestic savings. Table 3 provides a rough approximation of how much saving rates need to rise given the above scenarios. If we aimed at gradually decreasing the high CA deficits to around -2% GDP at the end of the convergence period in each country, then domestic savings would need on average to increase annually by between 0,21% and 0,68% for the average growth scenario. In case of growth rates between 6% and 9%, increases in domestic savings would have to be significantly higher. Of course, some of the implied increases in domestic savings for the 9% growth scenario are unrealistic. Increases in total factor productivity would substitute needed savings to some extent. However, productivity increases alone cannot do the trick and necessitate substantial investments in the first place. What the prior discussions made crystal clear is that all CEEC (with some qualifications for Slovenia) need to increase their domestic savings not only to speed up the convergence process but also to
240
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reduce the extraordinarily high CA deficits and to compensate for the declining labour force ratio. Table 3:
Needed annual increase in domestic savings in order to reduce CA deficit to around 2% GDP at the end of the convergence period, selected CEEC
Country
Annual increase in domestic savings: average growth 1999-2003 continued
Annual increase in domestic savings: 6 % growth rate
Annual increase in domestic savings: 9 % growth rate
Bulgaria
0,54%
0,89%
2,85%
Hungary
0,63%
2,88%
7,48%
Lithuania
0,68%
1,06%
4,0%
Poland
0,45%
3,70%
8,70%
Romania
0,24%
1,70%
4,27%
Slovakia
0,21%
2,69%
6,76%
Note: Base year is 2003. EMU’s GDP p.c. is assumed to grow by 1,5% per year. Source: Own calculations based on World Development Indicators 2005
In the next section we will turn to the question of how a fundamental pension reform may contribute to domestic savings and help confronting the triple challenge.
4
The Impact of Pension Reforms
4.1 Pension Reform and Saving Behaviour Domestic savings are driven by a number of factors such as income levels, income growth, fiscal policy, financial market development, demography and also the size and design of the pension system. There are only few empirical studies
Sustainable Convergence and Pension Reform in Central and Eastern Europe
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on savings in the CEEC. However, the ones that do exist show that broadly the same forces are at work there as in the old EU member states (Schrooten/Stephan 2003). When discussing the impact of old age provision on savings, one has to distinguish the effects of the existing system itself and the effects brought about by a transition to a new pension system. In general, PAYG schemes are associated ceteris paribus with lower domestic savings than prefunded systems. PAYG based pension income reduces the motive for households to save for old age and disability. Accordingly, the more generous the system, that is, the less need there is for other sources of income in old age, the lower are private savings. As a result, the classical textbook life cycle savings pattern, in which people save when they are young and dissave when they are retired, is absent in countries with generous public PAYG schemes such as France and Germany (Börsch-Supan/Winter 2001). These theoretical predicitons are borne out in a number of empirical studies. Edwards (1995), employing panel and cross-sectional analyses, finds that large government-run social security systems depress national saving. More to the point, Samwick (2000) examines the effects of PAYG systems in a large cross-section of countries and finds that they have significantly lower saving rates as compared to funded systems. This effect becomes even more pronounced as the coverage of the pension system increases (Samwick 2000: 271). Looking at Asian and Latin American countries, DayalGulati and Thimann (1997) find especially for the latter group of countries a strong positive impact of funded pensions systems on private savings. When looking at the effect of a (partial) transition from a PAYG to a prefunded scheme, things get a little bit more complicated, however. The wellknown transition burden implies that the generation of current workers would have to continue to finance the obligations of the existing PAYG system while at the same time having to start contributing to the new prefunded system. The treatment of this transition problem determines the impact a pension reform has on domestic savings (see Holzmann 1997). Debt-financing of the transition would merely make the implicit pension debt10 explicit. The government would have to issue new debt in order to cover the existing claims on the old PAYG system, which in turn would completely offset the savings accumulated through the funded scheme. As a result, domestic savings would by and large remain unaffected. Therefore, other means of financing the transition are needed to increase savings. One option would be to liquidate government assets and to use the revenues thereof. This has been done in a number of Latin American countries and should also be feasible in the CEEC which are still in the process of 10
The implicit pension debt is the present value of all pension rights accrued until today by current workers and retirees. Note that there are also alternative definitions that also look at the present value of the future cash flow deficit.
242
Michael Bolle / Oliver Pamp
privatization. Yet another possibility would be to reduce the generosity of the existing PAYG scheme, thereby decreasing the implicit pension debt and resulting future obligations. This could be done by lowering benefits (which may be undesirable from a social policy perspective however) or by raising the retirement age. Also, the government could cut expenditure in other areas or increase taxes/contributions.11 In general, every contractionary fiscal measure that reduces or compensates for the transition deficit should contribute to domestic savings.12 Besides these effects, a reform could also make households aware of the importance of saving for old-age, thereby increasing their propensity to save. This is the so-called “recognition effect” (Samwick 2000: 266). Even more important, a prefunded scheme may spur the development of the domestic capital market, which in turn may lead to higher savings. The empirical evidence on the impact of a switch from a PAYG to a prefunded system is not clear-cut, however. For one, dis-entangling the effects of a pension reform from other factors, taking also the treatment of the transition burden into account, is quite difficult. Secondly, since most countries reformed there systems only very recently, there is only limited data available so far to analyse medium-term developments of domestic savings. Whereas Samwick (2000) could not find a significant effect looking at a panel of 25 countries, Dayal-Gulati and Thimann (1997) find a strong positive impact of pension reforms. Also, a number of prominent cases point into the direction that pension reforms indeed may contribute to increased domestic savings. The most prominent case is Chile (see Diamond 1993), whose spectacular saving and investment growth has been widely attributed to its fundamental switch to a prefunded system. Also, the provident funds of Southeast Asian countries like Singapore and Malaysia seem to have contributed to their very high saving rates. In sum, (partially) transforming a PAYG system into a prefunded scheme holds the promise of increasing domestic savings, which are needed to organize a sustainable catching-up process. However, the treatment of the transition problem is a crucial element in this process. Also, we need to point out that our argument does not necessarily imply a privatization of the pension system and a creation of individual retirement accounts. As Orszag and Stiglitz (1999) have emphasized, prefunding and privatization are distinct concepts, the latter being by no means a necessary condition for the former (1999: 10). While a private system of individual accounts may be a feasible solution, there is no reason why a state-administered trust fund could not do the same trick. It needs to be en11 Note that the impact of raising taxes on domestic saving is ambiguous, however (Samwick 2000: 265). 12 Note that these measures, in contrast to pure debt financing, place the burden of adjustment mainly on the transition generation.
Sustainable Convergence and Pension Reform in Central and Eastern Europe
243
sured that contributions to either system are not offset by reductions in other savings though.
4.2 Pension Reform and Capital Markets Pension reform may also contribute to a rapid catching-up process via the capital market channel. While the effect of financial sector development on savings is ambiguous, there are other ways in which it may boost economic growth, namely by reducing the cost of capital for firms, through better resource allocation and improved corporate governance. Indeed, in a comprehensive crosssectional study Levine and Zervos (1998) find that development of the banking sector and stock market liquidity are reliable predictors for economic growth and productivity increases. In particular, they identify productivity growth (as opposed to pure capital accumulation) as the main channel through which capital market development translates into economic growth (1998: 548). The rationale behind this finding is that more liquid stock markets increase investors’ incentives to invest in long-duration, higher-return projects that lead in turn to greater productivity because investors are able to sell their stakes more easily in deep markets before the project matures (ibid.: 538). That pension reform may significantly boost capital market development is corroborated empirically by Walker and Lefort (2002). Using time-series and panel analyses as well as anecdotal evidence from Latin America, the authors conclude that pension reform which leads to the creation and development of pension funds, reduces the cost of capital for firms, increases the liquidity of stock markets and improves the institutional quality of capital markets. Prefunding will therefore significantly boost the development of capital markets in the CEEC, increasing their depth and breadth. These effects would also be visible in mature market economies. Börsch-Supan and Winter (2001) simulate the effects that a fundamental pension reform would have in Germany, France and Italy and find that the resulting deepening and strengthening of capital markets could lead ceteris paribus to higher total factor productivity, better corporate governance and thus higher economic growth. Since in CEEC financial markets are still comparably thin and corporate governance is still weakly developed, we expect these beneficial effects to be quite sizeable there. Table 4 displays two synthetic indicators that combine a host of qualitative and quantitative measures in order to convey an impression about the overall level of development of capital markets in CEEC (The Berlin Group 2004: 19). Higher values indicate bigger size and/or higher quality of a country’s capital market. On both measures the Czech Republic and Estonia score best, whereas, unsurprisingly,
244
Michael Bolle / Oliver Pamp
Bulgaria and Romania lack behind considerably in terms of quantity and quality of their financial sectors. As a comparison, the high growth countries of Southeast Asia had far higher quantity scores (though partly lower quality scores) before the Asian Crisis struck in 1997. Indonesia had a quantity score of 8, whereas Malaysia and Thailand boasted values of 68,5 and 17,3 respectively (The Berlin Group 2004: 29). Table 4: Ezoneplus-composite indic. (ECI) on relative financial development13 Country
Quantity
Quality
Bulgaria
-5.2
-3.1
Czech Republic
5.6
4.7
Estonia
3.6
3.6
Hungary
3.7
0.8
Latvia
-0.4
-1.3
Lithuania
-4.5
0.9
Poland
-2.6
-1.9
Romania
-6.2
-3.9
Slovakia
2.2
2.0
Slovenia
1.0
-1.8
Source: The Berlin Group (2004: 19) 13
The Ezoneplus-composite indicator (ECI) is the sum of the Z-standardised values for each country (i.e. higher scores mean higher quantity/quality). The average is zero. “Quantity” consists of seven indicators: (i) Market capitalisation of listed companies (% GDP); (ii) stock market turnover (% GDP); (iii) domestic credit provided by the banking sector (% GDP); (iv) M2 (% GDP); (v) capitalaccount surplus (% GDP); (vi) gross capital formation (% GDP); and (vii) GDP per capita (at constant 1995 US$). These indicators are casually used to proxy the size of a financial sector. The quality measure includes (i) net FDI inflows (% GDP); (ii) interest-rate spread in the banking sector; (iii) bank liquid reserves to asset ratio; (iv) the share of majority foreign-owned banks in total assets (%); (v) inflation (CPI); and (vi) the International Country Risk Guide (ICRG) indicator on institutional quality. The ECI uses generally 2002 data where available, otherwise data of 2001. There were no comparable data available for a Romanian interest-rate spreads, thus we left it aside. Slovakia’s current-account deficit is taken from 2000. The ICRG is generally from 2003. Bulgaria’s share of foreign ownership in banking dates back to 1998.
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245
While it is beyond the scope of this paper to attempt any estimation of the growth effects of capital market development brought about by pension reform, we are convinced that the capital market effects in the CEEC would be quite sizeable. As we argued above, more liquid stock markets are associated with stronger economic growth mainly via enhancing productivity. Thus, fundamental pension reform needs to contribute to stock market liquidity, if it was to boost economic growth through capital market development. One way to test this proposition is by looking at how the size of pension funds in a country affects stock market liquidity as measured by the total value of traded stocks in per cent of GDP. Pension fund assets as a percentage of GDP serves thereby as a proxy for the level of prefunding in a country’s pension system. We examine a cross-section of 44 countries from the industrialized as well as from the developing world for which data on both indicators were available. As the simple scatter plot in figure 4 points out, there is a clearly positive and significant relationship (the correlation coefficient is 0,71) between the size of a country’s pension fund assets and its stock market liquidity.14 Hence, pension reform that entails a significant amount of prefunding holds the promise of boosting capital market development and thus productivity and growth.
14
Of course, a bivariate correlation is not a conclusive empirical test. To establish causation, a multivariate time-series and/or panel analysis would be necessary. However, the result is theoretically plausible.
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Figure 4: Stocks traded, total value (% of GDP)
350
Pension fund assets and stock market liquidity (2000) y = 1,7072x + 15,858 2 R = 0,4844 r=0,7070
300 250 200 150 100 50 0 0
20
40
60
80
100
120
140
Pension Fund Assets (% GDP)
Source: Data on stocks traded are taken from WDI online database (2005); Pension Fund assets data from Tausch (2004).
Given that even those CEEC that have gone farthest in terms of prefunding (such as Poland and Hungary) still have accumulated only a comparably low amount of pension fund assets15, there is still plenty of scope for pension fund asset accumulation and thus a lot of room for capital market induced productivity increases. This holds all the more for those CEEC, such as the Czech Republic, Slovakia16 and Slovenia, which have not yet gone very far in terms of introducing a prefunded component into their pension system.
5
Conclusions: Meeting the Challenges
Policymakers in the CEEC are confronted with an intricate dilemma. The populace craves for rapid increases in consumption to match the standards of Western European countries. Yet, increasing per capita income levels necessitates 15 In 2002, pension fund assets in Poland and Hungary amounted to 3 per cent and 5 per cent of GDP respectively. For a more detailed analysis see Ratajczak-Tucholka in this volume. As a comparison, the UK and the Netherlands, which have funded pension pillars for quite a while now, had pension assets to GDP ratios of 83 and 113 respectively in 2002 (Holzmann 2003). 16 However, Slovakia has initiated a pre-funded element in its old-age-security system in 2005.
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higher investments which needs higher savings. Given the lack of sufficient domestic savings, this naturally leads to high current account deficits. Since CA deficits in the CEEC are extremely high already, they cannot be increased any further without endangering external macroeconomic stability. Rather they need to be reduced. To make matters worse, the aging process in these countries results in ever fewer workers available for sustaining a greying society. Note that the reduction of the labour force is much bigger than the fall in the overall population. This calls for even higher savings, which are necessary to both support the elderly and to provide the investment funds necessary to compensate the drop in the labour force by boosting labour productivity. We claim that a fundamental pension reform, i.e. a partial or full transition from a PAYG to a prefunded system, may help solving these dilemmas. Pension reform, if properly implemented, may boost private savings and contribute to higher economic growth by furthering the development of capital markets. Prefunding a pension system thus has general macroeconomic implications for a transition economy engaging in a catch-up process, that go beyond matters of financial sustainability and notions of social justice. Furthermore, prefunding should not be equated with privatisation. Societies wary of private accounts can still introduce funded pillars into the pension system and reap the benefits outlined above. All in all, while the recommendations are clear-cut, implementation is not. Pension reform has proved to be a cumbersome enterprise, especially in democracies where vested interests have the political means to fend off any change in the system. This is entirely understandable, since hardly any reform is a pure Pareto-improving move; there are always losers. However, because of the weakness of pre-existing pension systems and with the help of international organisations such as the World Bank some CEEC such as Hungary, Poland and Estonia successfully engaged in partial transformations of their old-age security systems. Of course, it is way too early for any serious assessment of their impact but given the fact that geographical proximity is a key factor in explaining diffusion of reform ideas and practices across countries (James/Brooks 2001), more can be expected in the near future.
References Barro, Robert J. (1991): Economic Growth in a Cross-Section of Countries. In: Quarterly Journal of Economics. 106. 407-443 Börsch-Supan, Axel/Winter, Joachim (2001): Population Aging, Savings Behavior and Capital Markets. NBER Working Paper 8561
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Michael Bolle / Oliver Pamp
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Sustainable Convergence and Pension Reform in Central and Eastern Europe
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Transformation und Sozialreformen in Mittel- und Osteuropa Die Bedeutung für die Europäische Union als Ganze
Eberhard Eichenhofer
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Fragestellung
Seit dem 1. Mai 2004 gehören der zu diesem Termin erweiterten Europäischen Union (EU) acht mittel- und osteuropäische Staaten als Mitgliedstaaten an. Sie befanden sich bis zu Beginn der 1990er Jahre jenseits des Eisernen Vorhangs, deren politisches System als „Volksdemokratie“ und deren Wirtschaftssystem als „Sozialismus“ beschrieben war. Der Beitritt dieser Staaten zur EU stand am Ende eines tiefergreifenden politischen und wirtschaftlichen Reformprozesses, der maßgeblich von der EU beeinflusst – um nicht zu sagen: gesteuert – wurde. In der dem Beitritt vorangehenden Periode von einem Jahrzehnt war den Beitrittsstaaten auferlegt, den in der alten EU inzwischen erreichten Stand an rechtstaatlichen, demokratischen und vor allem marktwirtschaftlichen Institutionen zu entwickeln. Der Acquis communautaire west- und mitteleuropäischer Politik und Wirtschaft wurde so zur Richtgröße der mittel- und osteuropäischen Entwicklung. Die genannten Länder erschienen in dem Prozess der Heranführung an die EU als die Nehmenden und jene als die Gebenden. Deshalb wurde aber schon vor dem Beitritt und noch ausgeprägter seither immer wieder die Frage aufgeworfen: War und ist der Prozess der Annäherung der MOE-Staaten an die EU wirklich ein derart einseitiger Vorgang? Verfügen die neuen Mitgliedstaaten nicht inzwischen über eine Modernität, die sie auch zu Modellen für die „alten“ Mitgliedstaaten werden lassen? Die Bezeichnung „alt“ hätte dann einen anderen als EU-geschichtlichen Sinn. Estland wird für die umfassende Einbeziehung elektronischer Medien in Wirtschaft, Verwaltung und Alltag gerühmt. Das konzeptionell einfache und umfänglich bescheidene Steuersystem der Slowakei erscheint vielen als Vorbild für die restlichen EU-Staaten. Ungarn und Polen haben einschneidende Rentenreformen vollzogen. In ihnen kommt der privaten Altersvorsorge – namentlich für die jüngere Generation – eine tragende Rolle zu. Diese Rolle ist jedenfalls ausgeprägter als in den Alterssicherungssystemen der allermeisten Mitgliedstaaten der west- und mitteleuropäischen EU-Staaten – mit Ausnahme des Vereinigten Königreiches. Sind die
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neuen also für die alten Beitrittsstaaten ein sozialpolitisches Vorbild? Dieser Frage sei im Folgenden nachgegangen.
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Hoffnung
Auf den ersten Blick erscheint die Frage eher fernliegend, Zweifel erscheinen durchaus angebracht. Denn die ungarische und polnische Rentenreform waren die Reaktion auf die schwere Krise, in die das aus der sozialistischen Epoche überkommene Rentensystem geraten war. Denn dieses sah zwar bescheidende Renten vor, gewährte diese jedoch für eine große und stark im Anwachsen begriffene Zahl von Menschen. Ein solches aus Unternehmenserträgen finanziertes System war außerstande, Erwartungen auf eine gehobene Sicherung im Alter für eine wachsende Zahl jüngerer und westlich orientierter Erwerbstätiger zu befriedigen. Und selbst wenn dies gelingen würde, so wäre dafür ein hoher Preis in Gestalt steigender Beitrags- und Steuerlasten zu entrichten. Dies aber würde den Standortvorteil der MOE-Staaten alsbald zunichte machen. Die dringenden und drängenden wirtschaftlichen und sozialen Belebungen der Volkswirtschaften der Beitrittsstaaten würden so gefährdet. Eine privat finanzierte Alterssicherung, die in Ergänzung zu einer öffentlichen Mindestsicherung tritt, scheint diese Gefahren zu vermeiden. Denn diese kommt ohne öffentliche Transfers aus. Da sie auf dem Prinzip der Kapitaldeckung beruht, verspricht sie einen Zufluss an Kapital, welcher der Wirtschaft der Mitgliedstaaten dauerhaft Investitionsgelegenheiten schafft. Eine starke privatisierte, auf Kapitaldeckung beruhende Alterssicherung erscheint als eine bessere Alternative gegenüber den von politischen Risiken und Abgabenwiderständen geprägten öffentlichen Alterssicherung. So ist schon heute da und dort im Kreise international orientierter Sozial- und Wirtschaftspolitiker der Aus- oder gar Aufruf zu vernehmen: Lasst es uns den Ungarn und Polen nachmachen! Gebt einem möglichst umfassenden privaten Sektor der Alterssicherung genügend Raum, sich zu entfalten, um seine sozialpolitische Leistungsfähigkeit zu erweisen. 3
Einwände
Zunächst ist freilich zu bedenken, dass weder Ungarn noch Polen bisher nachweisen mussten, dass die mit der Neuregelung verknüpften Erwartungen auch tatsächlich eintreffen werden. Die Einführung der privaten Alterssicherung fiel in die Mitte der 1990er Jahre. Sie wurde wesentlich durch die damals günstige Entwicklung auf dem Kapitalmarkt befördert. Diese hat im Jahr 2000 ein jähes
Transformation und Sozialreformen in Mittel- und Osteuropa
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Ende gefunden und ein Verfall der Kurse setzte ein, von denen sich die Börse erst wieder in jüngerer Zeit zu erholen scheint. Das Zinsniveau der letzten fünf Jahre blieb jedenfalls deutlich unter den gewohnten Größenordnungen. Der Kapitalmarkt ist voller Risiken. Gewinne setzen das Eingehen von Wagnissen voraus. Es sind aber Zweifel angebracht, ob eine verlässliche Alterssicherung für weite Kreise der Bevölkerung von kurzfristigen Schwankungen geprägten Kapitalmärkte gegründet werden kann. Es kommt hinzu, dass ein beträchtlicher Teil der von privaten Anlegern gehaltenen Vermögenswerte aus öffentlichen Anleihen bestehen. Die öffentlichen Vermögensanlagevorschriften der Staaten sehen sogar zwingend vor, dass ein erheblicher Teil des Kapitals von Altersvorsorgeeinrichtungen in öffentlichen Anleihen des sie organisierenden Staates gehalten werden müssen. Denn nur unter dieser Voraussetzung kommt das Kapitaldeckungsverfahren der privaten Alterssicherung auch der mit dessen Einführung mitverfolgten Absicht der Entwicklung der öffentlichen Infrastruktur zugute. Daher haftet im Ergebnis für einen beträchtlichen Teil des von privaten Vorsorgeträgern gehaltenen Vermögenswerte in letzter Konsequenz ebenfalls der Steuerzahler. Schließlich setzt ein funktionierendes Kapitaldeckungsverfahren eine leistungsfähige und unabhängige Finanzdienstleistungsaufsicht voraus, die frei von jeglicher politischer und wirtschaftlicher Einflussnahme für eine versichertenfreundliche und sichere Vermögensanlage eintritt und diese verbürgt. Diese Aufsicht ist zwar in den neuen Beitrittsstaaten inzwischen eingerichtet. Deren Banken und Versicherten sind jedoch regelmäßig eng mit den Kapitalinvestoren der Kreditinstitute aus den „alten“ Mitgliedstaaten verbunden. Diese Investoren unterliegen der Kapitalmarktaufsicht der angestammten Mitgliedstaaten.
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Chancen
Der erhobenen Einwände zum Trotz eröffnete die Rentenreformen in den mittelund osteuropäischen Staaten die Chance auf Entwicklung und Entfaltung eines lokalen Kapitalmarktes, sowie des Aufbaus eines Banken- und Versicherungswesens im gesamteuropäischen Zuschnitt. Die Rentenreformen Polens und Ungarns trugen damit zur Entwicklung einer Wirtschaft bei, in der Finanzdienstleistungen und Kapitalinvestitionen – vor dem kaum vorhanden – einen wachsenden Anteil an der Prosperität und Aktivität einer Volkswirtschaft erlangen. Verbunden mit dem traditionell liberalen Motiv, sozialer Verelendung breiter Schichten der Bevölkerung durch die Möglichkeit der Vermögensbildung zu begegnen, kann die Reform auch heute als Beitrag zu einer ausgeglichenen Vermögensverteilung gerechtfertigt werden. Sie ist jedenfalls gegenüber einer
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Politik zu befürworten, welche Vorsorge ausschließlich öffentlich organisiert. Denn diese kann unter den Bedingungen einer im Werden und Wachsen begriffenen wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft nur eine Grundsicherung bereitstellen. Die durch Wirtschaftswachstum erzielten Gewinne kämen dann einseitig den Kapitalinvestoren zugute oder flössen als höhere Löhne vorwiegend in den Konsum der Arbeitnehmerschaft. Eine wachsende Wirtschaft ermöglicht, ja fordert, die Errichtung oder den Ausbau von Einrichtungen betrieblicher Altersvorsorge. In dieser Hinsicht erweist sich die polnische und ungarische Reform der Alterssicherung als hilfreich, weil das allen Arbeitnehmer auferlegte Versicherungs-Obligatorium die Entstehung betrieblicher Altersvorsorge erleichtert. Unter den Gegebenheiten eines kontinuierlich starken Wirtschaftswachstums werden also nicht nur die Bedingungen für die Entwicklung privater und betrieblicher Altersvorsorge heranreifen. Sogleich wird die Notwendigkeit der Anpassung der öffentlichen Sozialleistungen entstehen. Um zu verhindern, dass ältere, erwerbsgeminderte, kranke oder arbeitslose Menschen an dem Einkommens- und Wohlstandsniveau der aktiven Bevölkerung nicht teilhaben, wird der Auf- und Ausbau privater Altersvorsorge die öffentlichen Sozialleistungen deshalb nicht an den Rand drängen, sondern vielmehr die Notwendigkeit zu deren Anpassung an das Einkommensniveau der gesamten Bevölkerung nach sich ziehen.
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Fazit
Die jüngeren Sozialreformen Polens und Ungarns setzen für die älteren Mitgliedstaaten der EU ein Zeichen, dass ein aus öffentlichen, betrieblichen und privaten Elementen bestehendes System der Altersvorsorge möglich und sinnvoll ist. Sie geben damit den „alten“ Mitgliedstaaten ein Beispiel, dass anspruchsvolle Strukturreformen der Alterssicherung nicht nur auf der Basis einer hohen Prosperität der Volkswirtschaft angegangen werden können, sondern im Gegenteil die auf eine Mischung mehrerer Elemente von Alterssicherung setzende Reform ihrerseits einen Impuls für Wachstum und damit Wohlstandmehrung geben kann. Die Rentenreformen Polens und Ungarns sind aber nicht nur als Beispiel für die „alten“ EU-Mitgliedstaaten wichtig. Sie führen vielmehr die genannten Mitgliedstaaten noch schneller als andere an den Entwicklungsstand der Alterssicherung in der EU heran. Denn gestützt auf das Prinzip der offenen Methode der Koordinierung in der Alterssicherung sind alle Mitgliedstaaten derzeit im Begriff, ihre Alterssicherungssysteme im Interesse von deren langfristiger Stabilität umzubauen. In weitgehender Abstimmung mit anderen EUStaaten stellt sich allmählich ein Konzept von Alterssicherungen europaweit
Transformation und Sozialreformen in Mittel- und Osteuropa
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heraus, in welchem eine öffentliche Alterssicherung zur Abfindung von Armut mit einer betrieblichen und privaten Altersvorsorge kombiniert wird und eine zureichende Sicherung im Alter nur aus dem Zusammenwirken aller Elemente dieses Modells möglich erscheint. Die Rentenreformen Polens und Ungarns führten beide Staaten an diese Struktur bereits vor deren Beitritt zur EU heran. Dieser Umstand befähigt sie, mehr als andere Beitrittsstaaten, eine aktive Rolle in der gesamteuropäischen Fortentwicklung von Alterssicherung zu übernehmen. Die Reformen machten die beiden Staaten daher schon vor der Zeit auch sozialpolitisch wettbewerbsfähiger in der EU als andere Mitgliedstaaten.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Klaus B. BECKMANN Professur für Volkswirtschaftslehre, insb. Finanzwissenschaft, Helmut-SchmidtUniversität/Universität der Bundeswehr, Hamburg Prof. Dr. Michael BOLLE Professur für Internationale Politische Ökonomie, Direktor des Jean Monnet Centre of Excellence for European Integration, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard EICHENHOFER Lehrstuhl für Sozialrecht und Bürgerliches Recht, Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Norbert F. KOLLMER Ministerialrat, Referat für Arbeit und Sozialordnung, Vertretung des Freistaates Bayern bei der Europäischen Union, Brüssel (inzwischen Vizepräsident des Zentrums Bayern Familie und Soziales – ZBFS) Prof. Dr. Katharina MÜLLER Fakultät für Sozialwesen, Hochschule Mannheim Prof. Dr. Stefan OKRUCH Professur für Wirtschaftspolitik, Andrássy Gyula Deutschsprachige Universität Budapest Oliver PAMP Dipl. Pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc), Zentrum für Sozialpolitik, Institutionen und Geschichte des Wohlfahrtsstaates, Universität Bremen Dr. Joanna RATAJCZAK-TUCHOLKA Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abt. Versicherungsökonomie, Wirtschaftsuniversität Posen (Pozna), Polen
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ádám RÉZMOVITS Stellv. Abteilungsleiter, Abt. für Öffentliche Finanzen und Sozialausgaben, Ungarisches Finanzministerium, Budapest Christiane SEIFERT Ass. iur., Referat für Arbeit und Sozialordnung, Vertretung des Freistaates Bayern bei der Europäischen Union, Brüssel Prof. Dr. Winfried SCHMÄHL Professor für Wirtschaftswissenschaft em. mit Schwerpunkt Sozialpolitik, Direktor der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung, Zentrum für Sozialpolitik (ZeS), Universität Bremen Andrej STUCHLIK Dipl. Pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer (zuvor: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Andrássy Gyula Deutschsprachigen Universität Budapest) Michaela WILLERT Dipl. Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsprojekt Private Pensions and Social Inclusion (European Commission, 5th Framework Programme), Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin