Stephan Hensell Die Willkür des Staates
Stephan Hensell
Die Willkür des Staates Herrschaft und Verwaltung in Osteuro...
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Stephan Hensell Die Willkür des Staates
Stephan Hensell
Die Willkür des Staates Herrschaft und Verwaltung in Osteuropa
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2008
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Tilmann Ziegenhain VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16510-3
Meinen Eltern
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................... 9 Tabellenverzeichnis .......................................................................................... 10 Vorwort ............................................................................................................. 11
Einleitung ........................................................................................................ 13 I
Kritik der Transformationsforschung .................................................. 23
II 1 2 3 4
Zur Theorie des Staates ......................................................................... Anstaltsstaat und Patrimonialismus bei Weber ........................................ Soziale Praxis bei Bourdieu ..................................................................... Der Staat als Handlungsfeld und die Logik patrimonialer Praktiken ....... Staatliche Herrschaft in Osteuropa ...........................................................
43 49 54 58 70
III Methodische Umsetzung ........................................................................ 73 IV 1 2
3 4 V 1
Die Formierung des Staates in Osteuropa ............................................ 89 Die traditionalen Voraussetzungen ........................................................... 90 Widersprüche des sozialistischen Staates ................................................. 97 2.1 Charismatische Weltanschauungsparteien ....................................... 97 2.2 Der patrimoniale Sozialismus ........................................................ 105 Transformation als pfadabhängige Patrimonialisierung ......................... 116 Der bürokratisch-patrimoniale Staat ....................................................... 122 Der Staat in Albanien und Georgien .................................................. Herrschaft und Verwaltung in Albanien ................................................. 1.1 Das Regime der großen Patronageparteien .................................... 1.2 Der bürokratische Apparat der Polizei ........................................... 1.2.1 „Der Minister kann alles“ ................................................ 1.2.2 Die permanente Rotation ................................................. 1.2.3 Das Problem der Ausbildung ........................................... 1.2.4 Die Schmuggelökonomie ................................................. 1.2.5 Reform und Internationalisierung ....................................
125 128 129 137 139 144 150 153 159
8 2
Inhalt
3
Herrschaft und Verwaltung in Georgien ................................................ 2.1 Das Schewardnadse-Regime .......................................................... 2.2 Der bürokratische Apparat der Polizei ........................................... 2.2.1 Die Macht des Ministers .................................................. 2.2.2 Der Markt der Polizeiämter ............................................. 2.2.3 Der Gendarm als Räuber .................................................. 2.2.4 Die Kommerzialisierung des Ministeriums ..................... 2.2.5 Die Reform nach der Rosenrevolution ............................. Ergebnisse der Falluntersuchung im Vergleich ......................................
163 164 171 173 177 182 192 196 199
VI
Resümee und Schlussfolgerungen ....................................................... 207
Verzeichnis der Interviewpartner .................................................................... 225 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 229
Abkürzungsverzeichnis ADN AIIS BIRN BSEC CIPDD CRCA CSD CSEES EIU FATF FBI GCRT GEL GEPLAC GFSIS GORBI GUS ICG ICITAP ICMC IDEA IMF IOM IPLS IWPR MAPE OSZE PAMECA PD PS RFE/RL SECI SELDI SHKB SMK TraCCC UNDP UNHCR UNICEF UNODC USAID USD
Albanian Daily News Albanian Institute for International Studies Balkan Investigative Reporting Network Black Sea Economic Cooperation Caucasian Institute for Peace, Democracy and Development Childrens’s Human Rights Centre of Albania Center for the Study of Democracy The Centre for SouthEast European Studies The Economist Intelligence Unit Financial Action Task Force on Money Laundering Federal Bureau of Investigation Georgian Centre for Rehabilitation of Torture Victims Georgische Lari Georgian-European Policy and Legal Advice Centre Georgian Foundation for Strategic and International Studies Georgian Opinion Research Business International Gemeinschaft Unabhängiger Staaten International Crisis Group International Criminal Investigative Training Assistance Program International Catholic Migration Commission International Institute for Democracy and Electoral Assistance International Monetary Fund International Organization for Migration Institute for Policy and Legal Studies Institute for War and Peace Reporting Multinational Advisory Police Element Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Police Assistance Mission of the European Community to Albania Partia Demokratike e Shqipërisë (Demokratische Partei Albaniens) Partia Socialiste e Shqipërisë (Sozialistische Partei Albaniens) Radio Free Europe/Radio Liberty South-East Cooperation Initiative Southeast European Legal Development Initiative Shërbimit të Kontrollit të Brendshëm (Kontrollbüro alb. Innenministerium) Sakartvelos Mokalaketa K’avshiri (Bürgerunion Georgiens) Transnational Crime and Corruption Center, Georgia Office, Tbilisi United Nations Development Program United Nations High Commissoner for Refugees United Nations Children’s Fund United Nations Office on Drugs and Crime US Agency for International Development US Dollar
Tabellenverzeichnis
Tab. 1:
Regionale Verteilung von Fallanalysen (1993-2006) in World Politics, Comparative Political Studies, Communist and Post-Communist Studies ... 31
Tab. 2:
Regierungszeiten Erster Sekretäre in Volksrepubliken Südosteuropas ...... 107
Tab. 3:
Regierungszeiten Erster Sekretäre in Republiken der Sowjetunion ........... 108
Tab. 4:
Albanische Regierungen unter Führung der PS 1997-2005 ....................... 132
Tab. 5:
Innenminister Albaniens seit 1997 ............................................................. 147
Tab. 6:
Generaldirektoren der albanischen Polizei seit 1997 ................................. 147
Tab. 7:
Distriktpolizeidirektoren von Tirana seit 1997 .......................................... 148
Tab. 8:
Konfisziertes Heroin der albanischen und italienischen Polizei ................ 155
Tab. 9:
Konfisziertes Marihuana der albanischen und italienischen Polizei .......... 155
Tab. 10:
Georgische Steuereinnahmen in Prozent des BIP ...................................... 168
Tab. 11:
Georgisches Budget für Öffentliche Ordnung und Sicherheit ................... 182
Tab. 12:
Georgische Einnahmen durch die Besteuerung von Tabakprodukten ........ 191
Vorwort
Dieses Buch ist aus einem Projekt am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) hervorgegangen, das von 2003 bis 2006 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie der Wissenschaftsförderung der Universität Hamburg finanziell unterstützt wurde. Es ist zugleich eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Januar 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht habe. Der DFG, der Universität Hamburg und meinen Kolleginnen und Kollegen vom IFSH gilt mein Dank für die wohlwollende Förderung des Projektes. Danken möchte ich auch meinen Freunden, Mitarbeitern und Gesprächspartnern in Albanien und Georgien, die mich bei nicht leichten Feldforschungen vor Ort unterstützt haben. Mein Dank gilt ferner dem längst nicht mehr auf Hamburg beschränkten Mitgliederkreis der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg für die ebenso produktive wie freundschaftliche Zusammenarbeit der letzten Jahre. Nicht zuletzt danke ich aufrichtig meiner Familie, vor allem meinem „desperate workingwife“, für die Unterstützung und große Geduld während der Arbeit an diesem Buch.
Hamburg, im Oktober 2008
Einleitung Einleitung
Seit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs durchlaufen die ehemals sozialistischen Länder Osteuropas einen Wandel, der gemeinhin als „Transformation“ bezeichnet wird. Dieser Prozess umfasst eine Vielzahl von gesellschaftlichen Bereichen und er betrifft zugleich die zahlreichen Länder, die aus der Konkursmasse des Sozialismus hervorgegangen sind, sehr unterschiedlich. Was bis Ende der 1980er Jahre noch pauschal als „Ostblock“ oder „Zweite Welt“ bezeichnet werden konnte, ist heute einer enormen Vielfalt von Staaten und politischen Figurationen gewichen. Die so genannte Transformationsforschung, die sich schwerpunktmäßig mit den Umbrüchen in Osteuropa auseinandersetzt, hat den dortigen politischen Strukturwandel bislang jedoch nur ausschnitthaft zur Kenntnis genommen. Der Diskurs über die Transformation zeichnet sich durch eine Reihe von Einseitigkeiten aus. Die bisherigen Diskussionen zu den Entwicklungen in Osteuropa werden seit Jahrzehnten von dem alles überragenden Demokratiethema beherrscht. Die Chancen und Hindernisse der Demokratisierung stehen im Mittelpunkt des Interesses. Wahlen, Gewaltenteilung, Zivilgesellschaft, Parteien und Verfassung sind die Stichworte, um die sich seit bald zwei Jahrzehnten die Debatte dreht. War es zunächst der Übergang zur Demokratie und ihre Konsolidierung, so bewegen jetzt die Mängel etablierter demokratischer Ordnungen die Gemüter. Im Vordergrund stehen nunmehr Formen der „defekten“ oder „gelenkten“ Demokratie. An der Grundorientierung auf das Paradigma der Demokratie, sei es als erreichtes oder verfehltes Ziel, hat das nichts geändert. Dieser Fokus hat dazu geführt, den politischen Wandel in Osteuropa überhaupt in erster Linie als Demokratisierung zu verstehen. Die Umbrüche des Regierens in den post-sozialistischen Ländern sind jedoch nicht auf die Ebene demokratischer Herrschaft beschränkt, sondern sie betreffen auch deren Voraussetzung: den bürokratischen Staat. Nur selten ist der Staat jedoch Thema der Diskussion. Der Staat als kontinuierlicher Anstaltsbetrieb mit Verwaltung und Beamtentum spielt in der Forschung in der Regel keine Rolle. Dementsprechend wenig ist über die Rolle staatlicher Kernbereiche wie den Fiskus, die Justiz oder die Polizei in Osteuropa bekannt. Mit diesem Mangel ist ein weiteres zentrales Defizit verbunden, nämlich ein erhebliches Ungleichgewicht der Repräsentation von Fällen in der Diskussion. Nach fast zwei Jahrzehnten politischen Umbaus in Osteuropa wird heute nur
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Einleitung
wenigen Staaten ein gelungener Systemwechsel bescheinigt. Zu ihnen zählen vor allem mittelosteuropäische Länder. Dagegen scheint in vielen anderen Staaten eine Festigung westlicher Modelle des Regierens ausgeblieben zu sein. Namentlich auf die ehemaligen sowjetischen Republiken Eurasiens sowie auf die Mehrzahl der Länder Südosteuropas trifft das zu. Weil sich demokratische, rechtsstaatliche oder bürgerliche Verhältnisse dort nicht wirklich etabliert haben, wird ihre Transformation als unvollständig oder „gescheitert“ wahrgenommen. Diese Auffassung hat auch zu einer vergleichsweise geringeren wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geführt, die den dortigen politischen Ordnungen bislang zuteil geworden ist. Bereits ein kursorischer Blick auf die regionale Fallauswahl in Sammelbänden und Standardmonographien, die zu den post-sozialistischen Entwicklungen seit Beginn der 1990er Jahre erschienen sind, bestätigt diese markante Schieflage. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens existieren heute 29 Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Ostblocks. Die Transformationsforschung hat sich jedoch, abgesehen von Russland, vor allem auf die acht Staaten Mittelosteuropas konzentriert. Dazu zählen Polen, Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei sowie ferner die drei Baltischen Republiken und Slowenien. Vergleichsweise wenig Beachtung haben demgegenüber die verbleibenden 20 Staaten Südosteuropas und Eurasiens erhalten, obwohl dort mehr als zweieinhalb Mal so viele Menschen leben. Die Kerndiskussion des Faches dreht sich vor allem um Mittelosteuropa. Ein drittes Defizit der Transformationsforschung liegt schließlich in der mangelnden Historizität vieler ihrer Arbeiten. Die Mehrzahl der Erklärungsansätze zu den Umbrüchen in Osteuropa bezieht sich ausschließlich auf die Entwicklungen nach dem Kollaps des Sozialismus. Die Bedeutung der so genannten Gründungswahlen, der Konsens zwischen den Eliten über die neue institutionelle Ordnung, die Ausgestaltung der Verfassung oder die Entwicklung von Wahlund Parteisystemen stehen im Mittelpunkt der meisten Arbeiten. Die Eigentümlichkeit der post-sozialistischen Staaten wird allein aus der Phase der Transformation jedoch nicht verständlich. Denn staatliche Herrschaft ist immer das Ergebnis langfristiger Wandlungsprozesse. Zwar sind in der Diskussion verschiedentlich die unmittelbaren Hinterlassenschaften des Sozialismus thematisiert worden. Nur selten wird jedoch die Langzeitdynamik osteuropäischer Gesellschaften explizit zum Gegenstand der Analyse gemacht. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie die Transformation des post-sozialistischen Staates von seinem Vorläufer, dem sozialistischen Staat, mitbestimmt ist und worin eigentlich dessen institutionelle Spezifik bestand, sondern auch um die Frage, wie die sozialistischen Staaten ihrerseits von vorsozialistischen Bedingungen geprägt waren. Es macht diesbezüglich vor allem einen Unterschied, ob die heutigen Staaten auf eine Tradition der rationalen Staatsbildung zurückblicken können oder nicht. In
Einleitung
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vielen Arbeiten werden die longue durée des Staates und mögliche kausale Mechanismen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden, nicht thematisiert. Der Transformationsforschung mangelt es an einer ausreichenden historischen Tiefenschärfe in der Diskussion ihres Gegenstandes. Von diesen Schwächen der Forschung ausgehend stellt das Buch den Staat in Osteuropa ins Zentrum der Betrachtung. Seine Historizität und heutige Organisationswirklichkeit ist das zentrale Thema dieser Arbeit. Ein Beitrag mit diesem Ansinnen muss vor allem Eines leisten, nämlich die Entwicklungen auch jenseits Mittelosteuropas zur Kenntnis nehmen. In der Transformationsforschung werden vor allem die Länder dieser Region als exemplarische Fälle des Systemwechsels diskutiert. Eine Analyse, die beansprucht etwas über die post-sozialistischen Staaten zu schreiben, kann aber ihre empirische Anschauung nicht allein anhand einer Minderheit von Ländern gewinnen, die sich bereits durch ein Entwicklungsprofil der OECD-Welt auszeichnen. Sie muss eine erweiterte Perspektive einnehmen und vor allem von der Mehrzahl der Länder ausgehen, die ein solches Profil gerade nicht aufweisen. Denn die meisten Gesellschaften der ehemaligen Sowjetunion und Südosteuropas zeichnen sich dadurch aus, dass sich in ihnen rationale Staatlichkeit und bürgerlich-kapitalistische Verhältnisse nicht durchgängig entfaltet haben. In dieser Arbeit wird daher wie folgt argumentiert: die typischen Fälle des Systemwechsels finden sich nicht in erster Linie in Mittelosteuropa, sondern anderswo. Um zu verallgemeinerbaren Aussagen über post-sozialistische Staaten zu kommen reicht es nicht aus, die Politik in Warschau oder Budapest zu beobachten. Stattdessen kommt es auch darauf an zu fragen, wie denn in Taschkent, Baku, Tiflis oder Tirana regiert wird. Schon diese Namen klingen jedoch befremdlich. Die „peripheren“ Staaten Osteuropas, die in der Transformationsforschung nur am Rande eine Rolle spielen, sollen in diesem Buch eine stärkere Beachtung finden. Es nimmt im Wesentlichen auf die Länder Südosteuropas und Eurasiens Bezug. Dagegen ist das bereits gut erforschte Mittelosteuropa vom Erklärungsanspruch dieser Arbeit ausgenommen. Sie will also nicht für alle, aber für die Mehrzahl der post-sozialistischen Länder gelten. Dies macht es nun notwendig, die im weiteren Verlauf verwendete regionale Begrifflichkeit zu erläutern. Der Begriff „Osteuropa“ ist ebenso diffus wie problematisch. Er hat eine Tradition, die weiter als die Teilung des europäischen Kontinents im Kalten Krieg zurückreicht. Denn „Osteuropa“ ist als Idee vor allem eine kulturelle Konstruktion und intellektuelle Erfindung des 18. Jahrhunderts (Wolff 1994). Die Epoche der Aufklärung hat sich den Begriff der Zivilisation angeeignet und in einem Prozess der Selbstvergewisserung zugleich die komplementäre andere Hälfte „entdeckt“, nämlich die rückständigen, sich noch „zwischen Zivilisation und Barbarei“ befindlichen Länder Osteuropas. Westeuropa hat Osteuropa im
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Einleitung
Verlauf der eigenen Identitätsbildung bereits im 18. Jahrhundert als ideellen Gegenentwurf erfunden und zugleich als das Andere subordiniert (ebd.). In diesem Zusammenhang kann auch der Begriff „Balkan“, der als Synonym für Rückständigkeit, nationale Zersplitterung, Hinterhalt und Tücke steht, auf eine lange Geschichte kultureller Zuschreibungen zurückblicken (Todorova 1997). Ähnlich problematische Assoziationen können sich mit dem Begriff „Eurasien“ verbinden. Diesbezügliche Stereotype und Wahrnehmungsmuster haben bis in die Gegenwart Bestand. So rückte nach dem Ende des Sozialismus unter der Chiffre „Rückkehr nach Europa“ nicht nur das Projekt der Demokratisierung als notwendige „Anpassung“ an europäische Standards in den Vordergrund (Herrschel 2007: 81-85), sondern auch die erneute Bedrohung Westeuropas, diesmal jedoch nicht durch russische Raketen, sondern durch die russische Mafia. Damit haben sich neue Muster der Inklusion und Exklusion und der Generierung von Identitäten dessen was Osteuropäisch ist etabliert (Sampson 1998). Mit den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien hat insbesondere die symbolische Konstruktion des Balkans als Inbegriff von Friedlosigkeit und Barbarei erneuten Auftrieb erhalten (Todorova 1997). In diesem Zusammenhang ist auch die Einführung regionaler Begrifflichkeiten wie „Mitteleuropa“ oder „Mittelosteuropa“ (Szücs 1990) in erster Linie als Versuch zu verstehen, die Existenz eines zwischen West- und Osteuropa gelegenen Raumes zu begründen, der vom eigentlichen „Osteuropa“ und den damit verbundenen negativen Zuschreibungen abgegrenzt ist (Fowkes 1999: 1; Herrschel 2007: 34f). Sowohl der Begriff Osteuropa als auch die Bezeichnungen für weitere Subregionen haben problematische Konnotationen, denn Regionen existieren nicht aus sich selbst heraus, sondern sind immer auch politische und kulturelle Konstruktionen. Unabhängig von dieser Einsicht kann jedoch auch die vorliegende Arbeit aus pragmatischen Gründen nicht auf fest etablierte Begrifflichkeiten verzichten. Dabei steht sie vor dem Problem, dass hier eine vergleichende, regionalübergreifende Perspektive eingenommen wird. Damit ergibt sich das Erfordernis für eine enorme Vielfalt von Staaten eine übergreifende geographische Bezeichnung zu finden, ohne immer gleich alle jeweiligen Einzelregionen mit aufführen zu müssen. Daher wird in dieser Arbeit ein weiter Osteuropabegriff verwendet, der unter Osteuropa eine Großregion der Weltgesellschaft als übergreifende Sammelbezeichnung versteht. Wenn hier von Osteuropa die Rede ist, so sind damit im Prinzip alle post-sozialistischen Staaten der ehemaligen Zweiten Welt gemeint. In diesem umfassenden Sinne gehören also zu Osteuropa nicht nur alle geographisch auf der östlichen Hälfte des europäischen Kontinents gelegenen Länder, sondern darüber hinaus auch alle Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen
Einleitung
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Sowjetunion.1 Innerhalb dieser Großregion lassen sich mit Mittelosteuropa, Südosteuropa und Eurasien drei Subregionen unterscheiden. Die Aufmerksamkeit dieses Buches gilt nun den letzten beiden. Zu Südosteuropa oder dem Balkan werden hier grob die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens sowie Bulgarien, Rumänien und Albanien gezählt. Zu Eurasien zählen die ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus und Zentralasien sowie Weißrussland, Moldawien, die Ukraine und Russland. Es sind also im Wesentlichen die Länder Südosteuropas und Eurasiens, auf die sich die Arbeit bezieht und die gemeint sind, wenn von „Osteuropa“ oder vom „post-sozialistischen Staat“ die Rede ist. Wo immer es nötig ist, werden aber die genaueren regionalen Einzelbezeichnungen verwendet. Diese Arbeit ist sich der regionalen Vielfalt und der enormen Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten auf dem Gebiet der ehemaligen Zweiten Welt bewusst, sie kann jedoch aus pragmatischen Gründen auf eine etwas grob vereinfachende Begrifflichkeit nicht verzichten. Ziel des Buches ist ein theoretischer und empirischer Beitrag zum Staat in Osteuropa. Die vorliegende Arbeit will dabei zu einer politischen Soziologie des Staates beitragen. Eine politische Soziologie soll hier vor allem zweierlei bedeuten: erstens den Staat als Ergebnis historischer Prozesse zu begreifen und zweitens ihn von den Praktiken der Akteure her zu denken. Beides steht hier im Mittelpunkt. Das Ziel der Arbeit ist es, Elemente dieser politischen Soziologie zu entwickeln und sie am empirischen Material zu entfalten. Dabei liegt ihr folgende Leitfrage zugrunde: Worin liegt die Spezifik des Staates in Osteuropa? Von dieser Leitfrage leiten sich weitere Fragestellungen ab: Auf welchen historischen Voraussetzungen beruhte der sozialistische Staat und worin bestand seine institutionelle Besonderheit? Welche dort ausgebildeten Elemente haben den Kollaps des Sozialismus überdauert und prägen auch den post-sozialistischen Staat? Was kennzeichnet die heutige Herrschafts- und Verwaltungspraxis des Staates? Die Arbeit basiert auf modernisierungstheoretischen Grundannahmen. Die Staaten Osteuropas, so die These, weisen patrimoniale Züge auf. Max Weber zufolge ist der Patrimonialismus eine Form traditionaler Herrschaft, die keine getrennten öffentlichen und privaten Sphären aufweist und die sich durch die überragende Bedeutung personaler Beziehungen auszeichnet (Weber 1980: 130-140, 580ff). Dabei ist die „Willkür“, die aus dem Handeln von Personen entspringt, das Grundprinzip des Patrimonialismus. In der Politikwissenschaft wird Willkür in der Regel mit der unumschränkten Herrschaft von Diktatoren und autoritären
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Dieser umfassende Osteuropabegriff ist im Kalten Krieg gängig gewesen (vgl. z.B. Hartmann 1983). Er wurde aber auch nach dem Ende des Sozialismus weiter verwendet (vgl. etwa Beyme 1994; Merkel 1999: 375ff).
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Einleitung
Führern in Verbindung gebracht. Die Willkür, verstanden als Entscheidungsfreiheit des Handelns und das Hinwegsetzen über gesatzte Normen, lässt sich jedoch auch in den Alltagspraktiken staatlicher Akteure und im Kleinen des Staates beobachten: in der Gesetzgebung von Regierungsparteien, in dem Handeln von einzelnen Ministern und Behördenchefs oder in der Verselbständigung von bürokratischen Apparaten. Es sind die hier existierenden kleinen Formen der Willkür, die aus der Missachtung, Obstruktion und Umgehung legaler Regeln folgen, auf die sich der Titel des Buches bezieht. Dabei gilt das Augenmerk vor allem drei Elementen, die in einem funktionalen und logischen Zusammenhang stehen: der Politik der Big Men, dem Klientelismus und der privaten ökonomischen Verfügung über öffentliche Ämter. Aus dem Zusammenspiel dieser Elemente resultiert die patrimoniale Logik und die „Willkür des Staates“. Der Grund dafür, dass die Staaten in Osteuropa patrimoniale Züge entwickelt haben, liegt in historischen Bedingungen. In Südosteuropa und Eurasien hatte sich der sozialistische Staat überwiegend in Gesellschaften etabliert, die zuvor keine Phase der Modernisierung durchlaufen hatten. Der Sozialismus forcierte dann zwar einen gesellschaftlichen Wandel, jedoch gelang es ihm nicht, überall traditionale Formen vollständig umzuwälzen. Zugleich begünstigte er eine Reihe von nicht-intendierten Praktiken, die der Logik vormoderner Gemeinschaften entsprachen. Aufbauend auf teils persistenten, teils neu hervorgebrachten traditionalen Elementen bekam der Staat damit patrimonialen Charakter. In seinen Institutionen verbreiteten sich flexible, informelle Praktiken, welche die Rigidität der Bürokratie ausglichen. Diese Praktiken haben sich unter veränderten Bedingungen und in neuer Form auch nach dem Ende des Sozialismus fortgesetzt. Sie sind Bestandteil der Herrschaft im post-sozialistischen Staat geworden. Die heutigen Staaten Osteuropas weisen daher keine eigengesetzlichen öffentlichen und privaten Sphären auf. Patrimoniale Praktiken der Machtsicherung spielen in der Organisationswirklichkeit des Staates eine wesentliche Rolle. Sie sind jedoch nicht das dominierende Element. Denn der post-sozialistische Staat hat von seinem Vorgänger zugleich ein ausgeprägtes bürokratisches Moment geerbt. Er besitzt ein hohes institutionelles Eigengewicht sowie eine starke gesellschaftliche Präsenz. Diese Eigentümlichkeit soll hier mit dem Typus des bürokratisch-patrimonialen Staates auf den Begriff gebracht werden. Diesem Buch liegt eine dreiteilige Grundstruktur zugrunde: In einem ersten Schritt soll ein soziologisches Verständnis des Staates entwickelt werden, das den Staat als ein von den Praktiken der Akteure bestimmtes Handlungsfeld versteht. Dieses Verständnis soll in einem zweiten Schritt zu einer Strukturgeschichte der Formierung des Staates in Osteuropa erweitert werden, um auf dieser Basis wesentliche Kernmerkmale post-sozialistischer Staatlichkeit im Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staates zusammenzufassen. Beide Elemente – die
Einleitung
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soziologische Konzeption des Staates und der strukturgeschichtlich hergeleitete Realtypus – stellen den theoretischen Rahmen dieser Arbeit dar. Dieser theoretische Rahmen soll in einem dritten Schritt in empirischen Fallstudien umgesetzt werden. In zwei Länderfallstudien wird die Herrschafts- und Verwaltungspraxis post-sozialistischer Staaten mit Hilfe der entwickelten theoretischen Begrifflichkeiten analysiert und interpretiert. In der Verknüpfung dieser drei Teile folgt die Arbeit der Logik qualitativer Forschung. Sie ist das Ergebnis eines gleichzeitig theoriegeleiteten und explorativen Forschungsprozesses, bei dem sich Theorie und Empirie gegenseitig ausrichten und informieren.2 Das Ziel ist dabei eine empirisch begründete und am empirischen Material entfaltete, gegenstandsadäquate Theoriebildung. Die theoretischen Begrifflichkeiten und Hypothesen sind also in Auseinandersetzung mit der Empirie entstanden, wobei Deduktion und Induktion in einem Wechselspiel stehen. Sie werden als sich ergänzende Verfahren aufgefasst, die sich gegenseitig kontrollieren und korrigieren. Die theoretischen Konstruktionen sind das Ergebnis einer steten Vermittlung von Begriff und Erfahrung. Der Gang der Darstellung spiegelt hier daher nicht den Gang der Untersuchung wieder. Die skizzierte dreigliedrige Grundstruktur dieser Arbeit wird in sechs einzelnen Teilen umgesetzt. Teil I widmet sich dem Stand der Transformationsforschung, in deren Rahmen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Entwicklungen in Osteuropa vornehmlich stattfindet. Die bereits umrissenen Defizite – der regionale Fokus auf Mittelosteuropa, die Vernachlässigung des Staates und die ungenügende historische Tiefenschärfe – stellen zentrale Schwächen der Diskussion dar. Aus dem in Teil I skizzierten Forschungsstand und seinen Lücken ergeben sich Anforderungen an einen theoretischen und empirischen Beitrag zur Forschung, der in den folgenden Teilen erbracht werden soll. Weil in der Transformationsforschung der Staat bislang kaum thematisiert wurde, findet sich dort auch kein brauchbarer Ansatz, der als Ausgangspunkt des hier beabsichtigten Vorhabens dienen könnte. Das Ziel von Teil II ist es daher, einen solchen Ansatz selbst zu entwickeln. Zu diesem Zweck werden zunächst allgemeine modernisierungstheoretische Grundannahmen dargelegt, woraus dann theoretische Anforderungen für den hier angestrebten Beitrag zu einer politischen Soziologie des Staates in Osteuropa abgeleitet werden. Hiervon ausgehend sollen Elemente eines soziologischen Verständnisses des Staates entwickelt werden, wofür die Arbeiten Max Webers und Pierre Bourdieus geeignete Ausgangspunkte darstellen. Webers Idealtypen des rationalen Anstaltstaates und des
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Zur Debatte um eine Neubestimmung des Verhältnisses von sozialwissenschaftlicher Theorie und Empirie vgl. die Beiträge in Kalthoff et al. (2008).
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Einleitung
Patrimonialismus und Pierre Bourdieus Theorie der Praxis mit den analytischen Kategorien „Feld“, „Kapital“ und „Habitus“ bilden die zentralen Bausteine dieses Verständnisses. Zunächst sollen diese Theoreme in II.1 und II.2 skizziert werden, um sie dann in II.3 aufeinander zu beziehen und zu verbinden. Der Staat lässt sich danach als ein Handlungsfeld konzipieren, das von den habitualisierten Praktiken der Akteure bestimmt wird. Patrimoniale Praktiken lassen sich dabei als eine spezifische Praxisform im staatlichen Feld auffassen. Die Logik dieser patrimonialen Praktiken soll in Kapitel II.3 ebenfalls näher bestimmt werden. Das Ergebnis dieser Konstruktionen ist ein theoretisch konsistenter Ansatz, der es erlaubt staatliche Herrschaft anhand konkreter Akteurspraktiken zu erschließen und diese in einer einheitlichen Theorie- und Beobachtungssprache begrifflich und analytisch differenziert zu fassen. Das hiermit gewonnene soziologische Verständnis soll alsdann in Rückbindung an die allgemeine modernisierungstheoretische Ausgangsposition in einem ersten Schritt um eine empirische Anschauung erweitert werden, indem es auf den Staat in Osteuropa zugespitzt wird. Kapitel II.4 erweitert auf der Basis des entwickelten theoretischen Verständnisses die Grundannahmen dieser Arbeit zu einer knappen theoretischen Erklärungsskizze über den Wandel und die institutionelle Besonderheit des Staates in Osteuropa. Aufgabe der verbleibenden Teile dieser Arbeit ist es, diese Erklärungsskizze in Form einer Strukturgeschichte weiter auszuformulieren und damit den theoretischen Rahmen zu vervollständigen, um ihn dann in empirischen Fallstudien umzusetzen. Bevor dies geschehen kann sind jedoch Überlegungen zur weiteren methodischen Umsetzung vonnöten. Diese beziehen sich sowohl auf die noch zu leistende theoretische als auch empirische Arbeit. Daher wird in Teil III die Methode expliziert, die den folgenden Teilen zugrunde liegt. Zu diesem Zweck werden zunächst mit Blick auf den Gegenstand dieses Buches methodologische Probleme sozialwissenschaftlicher Erklärungen erörtert, um daraufhin den für diese Arbeit leitenden Erklärungsanspruch darzulegen. Dem folgen dann, anhand der unterschiedlichen Struktur und Logik der Teile IV und V, die Erläuterung der weiteren Vorgehensweise und die damit verbundenen Einzelschritte sowie die Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen der gewählten Methode. Teil IV hat die Aufgabe eine Strukturgeschichte des Staates in Osteuropa auszuformulieren. Dieser Teil hat historisch-systematischen Charakter und stellt eine prozesssoziologische Analyse dar. Er verbindet die Elemente des zuvor entwickelten theoretischen Staatsverständnisses mit historischen Differenzierungen, um so eine größere Tiefenschärfe in Bezug auf den Staat zu erhalten. In diesem Teil stehen daher wesentliche Entwicklungslinien des Staates in Osteuropa im Mittelpunkt. Dabei wird hier unter der Formierung des Staates die Genese eines staatlichen Feldes mit spezifischen Praxisformen verstanden. Ziel ist es, Per-
Einleitung
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sistenzen und Brüche in der Formierung dieses Handlungsfeldes herauszuarbeiten und dabei die Kontinuität von patrimonialen Praktiken zu plausibilisieren. Dies geschieht überwiegend auf der Grundlage ausgewählter regional- und fallspezifischer Sekundärliteratur zu Südosteuropa und Eurasien. Teil IV unterscheidet mit der vorsozialistischen Phase, dem sozialistischen Staat und seiner postsozialistischen Transformation drei Prozessstufen, denen drei Unterkapitel entsprechen. In IV.1 werden zuerst die vorsozialistischen Bedingungen des Staates umrissen. Dieses Kapitel ist ein stark verdichteter historischer Abriss und skizziert in vergleichender Perspektive Modernisierungsprozesse in Südosteuropa und Eurasien. Darauf folgt in IV.2 die Darstellung von Eigentümlichkeiten des sozialistischen Staates, die sich als Herrschaft „charismatischer Weltanschauungsparteien“ und „patrimonialer Sozialismus“ bezeichnen lassen. Kapitel IV.3 behandelt alsdann die Umbrüche nach dem Ende des Sozialismus und rekonstruiert die Transformation der post-sozialistischen Staaten als eine pfadabhängige Patrimonialisierung. Vor diesem Hintergrund fasst Kapitel IV.4 Kernmerkmale der zeitgenössischen Staaten Osteuropas zusammen und versucht ihre Spezifik mit dem Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staates auf den Begriff zu bringen. In Teil V stehen interpretative Länderfallstudien zu Albanien und Georgien im Mittelpunkt. Ihr Ziel ist es, den Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staates zu exemplifizieren und empirisch zu plausibilisieren. Die theoriegeleiteten Fallstudien haben qualitativen und explorativen Charakter. Sie sollen die Existenz patrimonialer Praktiken in der Organisationswirklichkeit des Staates am empirischen Material nachweisen und zugleich genauer bestimmen. Im Vergleich zum vorherigen Teil wird hier in mehreren Punkten eine andere Perspektive auf den Staat eingenommen. Ging es im vorherigen Teil in einer historischen Längsschnittanalyse um die Formierung des Staates, so geht es nun in einer Querschnittsanalyse um die innere Funktionsweise zeitgenössischer Staaten. Die Arbeit verlässt damit die zuvor eingenommene makropolitische Perspektive und wechselt zu einer mikropolitischen Perspektive, um eine Feinbestimmung der Praktiken im post-sozialistischen Staat zu ermöglichen. Albanien und Georgien sind in der Transformationsforschung bislang selten Gegenstand der Diskussion gewesen. Weil die Literatur zu diesen zwei Ländern, wie zu vielen anderen peripheren Staaten Osteuropas, ausgesprochen dürftig ist, basieren diese Fallstudien neben länderspezifischer Sekundärliteratur in erster Linie auf eigenen mehrmonatigen Feldforschungen und etwa 120 Interviews, die zwischen 2003 und 2006 vor Ort durchgeführt wurden. In den Fallstudien steht die Alltagsform politischer Herrschaft, die öffentliche Verwaltung, im Mittelpunkt. Sie soll exemplarisch anhand der Polizeiapparate in beiden Ländern analysiert werden. Wie für viele andere bürokratische Bereiche des Staates in Osteuropa ist auch über die innere
22
Einleitung
Ordnung der Polizei so gut wie nichts bekannt. Daher versuchen die Fallstudien etwas mehr Licht auf diesen Bereich zu werfen. Neben Aspekten der institutionellen Struktur und formalen Ordnung stehen dabei vor allem die tatsächlichen Praktiken der Akteure im Mittelpunkt. Am Schluss dieses Teils werden die Ergebnisse der Fallstudien in vergleichender Perspektive diskutiert und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Fällen herausgearbeitet. Der letzte Teil VI resümiert noch einmal die zentralen Argumente dieser Arbeit sowie ihre Ergebnisse und Desiderate. Er schließt mit einem Ausblick auf offene Fragen und Probleme der Forschung und nimmt dabei auch Bezug auf aktuelle Debatten um die Zukunft des Staates als Herrschaftsmodell. Diese Arbeit versteht sich als theoretischer und empirischer Beitrag zu den Disziplinen der Vergleichenden Politikwissenschaft und der Internationalen Beziehungen. Ihr Ziel ist es, zentrale Desiderata der Transformationsforschung aufzugreifen und zum besseren Verständnis des politischen Wandels in Osteuropa beizutragen. Damit versteht sich dieses Buch auch als Beitrag zur vergleichenden Analyse staatlicher Herrschaft jenseits der OECD-Welt und zur politischen Soziologie des Staates in der Weltgesellschaft.
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Kritik der Transformationsforschung
Kritik der Transformationsforschung
Die Umbrüche nach dem Ende des Sozialismus werden in der Regel als „Systemwechsel“, „Regimewechsel“, „Transition“ oder „Transformation“ bezeichnet und für die politikwissenschaftliche Erforschung dieser Umbrüche ist vor allem die Transformationsforschung zuständig.1 Die gegenwärtige Diskussion um die Transformation in Osteuropa ist jedoch von drei wesentlichen Schwächen gekennzeichnet: erstens einem Fokus auf die Demokratie und damit einer Vernachlässigung des Staates, zweitens der einseitigen Konzentration auf wenige erfolgreiche Fälle des Systemwechsels in Mittelosteuropa und drittens einer ungenügende Berücksichtigung der Historizität der zeitgenössischen politischen Figurationen. Diese Defizite sollen im Folgenden skizziert werden. Hieraus werden dann Anforderungen an einen Beitrag zur Forschung abgeleitet, der in den folgenden Teilen zu leisten sein wird.
Der Fokus auf die Demokratie Der Ursprung der Transformationsforschung liegt in der Neuorientierung der wissenschaftlichen Diskussion nach dem Ende des Kalten Krieges. Der völlig unerwartete Kollaps des Sozialismus hatte Anfang der 1990er Jahre zunächst eine verbreitete wissenschaftliche Desorientierung zur Folge (von Beyme 1994: 16-51). Dem Zerfall des Ostblocks konnte jedoch alsbald ein historischer Sinn abgewonnen werden, indem man ihn einer „Welle“ der Demokratisierung zuordnete.2 Dieser Sichtweise zufolge gehorchten die Umwälzungen in Osteuropa einer übergreifenden globalen Bewegung der Demokratisierung, die seit dem 19. Jahrhundert in mehreren Wellen erfolgt und gegenwärtig in einer „Dritte Welle“ dahinzieht (Huntington 1991). Letztere hatte ihren Ausgang in Südeuropa genommen, wo in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mehrere autoritäre Regime
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Die Transformationsforschung hat keinen ausschließlichen Fokus auf Osteuropa, sondern behandelt auch die Entwicklungen in anderen Weltregionen (vgl. Merkel 1999). In dieser Arbeit soll jedoch von der Transformationsforschung nur in Bezug auf Osteuropa die Rede sein. Di Palma (1990: 1ff); Przeworski (1991: 1-9); Beyme (1994: 11-15); Merkel (1999: 375ff).
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gestürzt worden waren. Alsdann erfasste die Welle in den 1980er Jahren Lateinamerika und Ostasien, um dann schließlich Anfang der 1990er Jahre nach Osteuropa zu branden und dort ihren bisherigen Höhepunkt zu finden. Der Niedergang der kommunistischen Systeme in Osteuropa stellte demnach kein isoliertes einmaliges Ereignis dar, sondern war Bestandteil eines globalen Siegeszuges der Demokratie. In der Erwartung, dass in den post-sozialistischen Ländern die Institutionen westlicher Systeme nachgebildet würden, besann sich die politikwissenschaftliche Disziplin folglich auf Theorieansätze, mit deren Hilfe schon der Wandel in Südeuropa und Lateinamerika in den 1970er und 1980er Jahren analysiert worden war. Diese so genannte Transitologie hatte sich auf den Übergang von autoritären zu demokratischen Herrschaftsformen konzentriert (O’Donnell et al. 1986). Transition meinte dabei eine Sequenz, in welcher sich die Demokratie vom Zusammenbruch autoritärer Regime über den Aufbau demokratischer Institutionen bis zu ihrer Konsolidierung entfaltet. Die Transitionsforschung verlieh nun auch der Erforschung des politischen Wandels in Osteuropa zentrale Impulse (Schmitter/Karl 1994; Gans-Morse 2004: 327ff). Die in der Folge entstandenen Arbeiten zu den Umbrüchen in Osteuropa haben die Grundidee der Transition als zentrale Leitvorstellung übernommen und zugleich der Transformationsforschung entscheidenden Auftrieb gegeben, deren zentrales Thema die Analyse der Ursachen, Verläufe und Ergebnisse des Übergangs vom Autoritarismus zur Demokratie ist (Merkel 1999: 15f). In der Erklärung des politischen Strukturwandels in Osteuropa hat die Transformationsforschung eine beherrschende Stellung inne. Die Kategorie der Transformation steht nicht nur begrifflich in einem engen Verhältnis zu anderen Termini wie Modernisierung und Entwicklung (vgl. Schelkle et al. 2000). Auch inhaltlich besteht ein verdeckter Konsens zwischen der Transformationsforschung und der Entwicklungsforschung, der neben einer einheitsstiftenden normativen Orientierung auf das Ziel der Demokratie auch eine implizite Theorie sozialen Wandels umfasst (Schlichte 1998: 526ff; Kollmorgen 2004). Wie in der Dritten Welt wurde in Osteuropa der Aufbau von Demokratie, Zivilgesellschaft und Marktwirtschaft auf der Grundlage uneingestandener modernisierungstheoretischer Annahmen interpretiert und war zugleich neoliberale Programmatik und politisches Projekt einer nachholenden Entwicklung (Müller 1995, 2001: 209ff; Hopfmann/Wolf 1998: 18ff). Dabei rückte vor allem das hehre Ziel der Demokratie ins Zentrum wissenschaftlicher und politischer Diskussionen. Der Kollaps des Sozialismus trug zu der verbreiteten Wahrnehmung und Hoffnung bei, dass die Demokratie nunmehr konkurrenzlos dastehe und sich global ins Werk setze (Fukuyama 1992). Der Glaube an die ethische Überlegenheit und legitimierende Kraft der demokratischen Herrschaft verlieh dem Paradigma der Demokratisierung entscheidenden
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Auftrieb. Dazu trug auch die Nähe der Transformationsforschung und ihrer Begrifflichkeiten zum politischen Feld bei (Carothers 2004, 2002: 5ff; Pickel 2002). Die Demokratie war nicht nur analytische Kategorie, sondern ebenso eine normative Erwartungshaltung. In diesen impliziten normativen Vorstellungen liegt auch die Ursache, dass die politologische Diskussion mit Bezug auf Osteuropa seit nunmehr bald zwanzig Jahren um das Paradigma der Demokratisierung kreist. Die Auseinandersetzung mit den Chancen und Hindernissen der Demokratisierung steht im Mittelpunkt der Diskussion. Die Voraussetzungen demokratischer Herrschaft, die Modalitäten und Verläufe des Übergangs zur Demokratie und die Bedingungen ihrer Konsolidierung – es sind vor allem diese Fragen, die seit geraumer Zeit die überwiegende Mehrheit der Politikwissenschaft beschäftigt. Wahlsysteme und Wählerverhalten, Verfassungsfragen, die Entwicklung von Parteien und Zivilgesellschaft, die Rolle freier Medien, die Bedeutung der so genannten Gründungswahlen, das Verhältnis von Legislative und Exekutive und andere demokratierelevante Aspekte sind das Thema unzähliger Arbeiten. Der Fokus auf das Thema der Demokratie hat dazu geführt, den politischen Wandel in Osteuropa überhaupt in erster Linie als Demokratisierung zu verstehen. In der letzten Zeit ist jedoch der anfängliche Demokratieoptimismus der 1990er Jahre einer vermehrten Skepsis gewichen. Vielerorts in Osteuropa, vor allem im Süden der ehemaligen Sowjetunion und auf dem Balkan aber auch in Russland, ist der Prozess der Demokratisierung ins Stocken geraten oder gänzlich ausgeblieben. Stattdessen haben sich dort Formen autoritärer Herrschaft etabliert. Seit einiger Zeit wird diesen Entwicklungen verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser „neue Pessimismus“ (Rüb 2002) kommt in erster Linie darin zum Ausdruck, dass nun die Deformierung und Blockierung der Demokratie in den Vordergrund rückt. Von verschiedenen verminderten Typen wie „illiberaler“, „oligarchischer“, „gelenkter“ oder „defekter“ Demokratie ist jetzt die Rede.3 An der thematischen Fokussierung auf die Demokratie hat das allerdings nichts geändert. Denn auch die verminderten Typen sind immer noch am Idealtyp der Demokratie und an der Grundannahme eines Demokratisierungspfades orientiert, nur mit dem Unterschied, dass jetzt auch Abweichungen zugestanden werden (Carothers 2002: 7). Zuletzt haben sich indes die Zweifel vermehrt, ob so manches politische Regime angesichts gravierender demokratischer Defizite mit dem Vokabular der Demokratie überhaupt noch sinnvoll beschrieben werden kann (ebd. 10; Maüków 2000). Einen Schritt weiter sind daher solche Analysen gegangen, die versuchen den Eigenheiten autoritärer Regime stärker Rechnung zu
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Vgl. Collier/Levitsky (1997); Diamond (2002); Bendel et al. (2002); Merkel u.a. (2003/2006).
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tragen und sie nicht nur unter dem Blickwinkel der verhinderten Demokratisierung oder als „Residualkategorie“ (Alvarez et al. 1996: 6) zu verstehen. Jedoch ist auch diese Debatte vielfach immer noch der Leitvorstellung der Demokratie verhaftet. Denn die autoritären Regime werden in der Regel durch das definiert, was ihnen mit Blick auf zentrale demokratische Merkmale wie Wahlen, Gewaltenteilung, Zivilgesellschaft oder Verfassungsmäßigkeit fehlt (Conrad 2004: 154). Einer klassischen Definition von Juan J. Linz zufolge sind autoritäre Regime durch einen eingeschränkten politischen Pluralismus definiert, was Linz als zentrales Abgrenzungsmerkmal gegenüber demokratischen und totalitären Systemen verstanden wissen wollte (Linz 1975: 264). Auf diese Bestimmung bauen implizit oder explizit fast alle Arbeiten auf, die sich gegenwärtig mit den Besonderheiten autoritärer Regime auseinandersetzen. So wird beispielsweise Friedbert Rüb zufolge der autoritäre Charakter „hybrider Regime“ durch einen beschränkten Pluralismus und die Dominanz der Exekutive deutlich, der alle anderen demokratisch legitimierten Institutionen untergeordnet seien und die das Volk als wichtigsten Machtträger unterworfen habe (Rüb 2002: 104). Für Marina Ottaway (2003: 14-19) dagegen zeichnen sich „semi-autoritäre“ Regime dadurch aus, dass geregelte Machtwechsel durch Wahlen eingeschränkt seien und die Zivilgesellschaft Restriktionen unterliege. Steven Lewitsky und Lucan Wye wiederum gehen von einem „kompetetiven Autoritarismus“ aus, der sich durch die Einschränkung freier und fairer Wahlen und bürgerlicher Rechte sowie die Unterdrückung politischer Opposition und Wahlmanipulationen auszeichne (Lewitsky/Wye 2002: 52-54). Ähnlich versteht Philip Roeder unter autoritären Regimen „Nicht-Demokratien“, in denen sich die Herrschenden nicht der ganzen Bevölkerung gegenüber formal verantworten müssen (Roeder 1994: 63). Ausgehend von der Abwandlung des Begriffs „electorate“ in „selectorate“ fokussiert sich Roeder in seiner Analyse unterschiedlicher autoritärer Regime dementsprechend auf Wahlen, legislative Strategien und parlamentarische Zusammensetzungen von Institutionen. Jerzy Maüków, der explizit das Konzept des Autoritarismus rehabilitieren will, verfällt ebenfalls auf die einst von Linz eingeführte Abgrenzung und versteht unter Autoritarismus einen Herrschaftstypus, in dem der politische Pluralismus eingeschränkt wird (Maüków 2000: 1483 und passim). Auch Margarete Wiest sieht in der Beschränkung von Pluralismus, die u.a. durch rechtliche Einschränkungen und staatliche Medienkontrolle zustande komme, ein zentrales Kennzeichen autoritärer Systeme (Wiest 2006). Wolfgang Merkel wiederum sieht autokratische Systeme dadurch definiert, dass sich politische Herrschaft nicht auf das Prinzip der Volkssouveränität gründe, das aktive oder passive Wahlrecht eingeschränkt sei, das staatliche Herrschaftsmonopol von nicht demokratisch legitimierten Akteuren beansprucht werde, keine Gewaltenteilung existiere, Grundrechte verletzt würden und die
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Herrschaftsweise nicht verfassungsmäßig erfolge (Merkel 1999: 34f). In all diesen Konzeptionen werden autoritäre oder autokratische Regime mehr oder weniger explizit in negativer Abgrenzung zur Demokratie verstanden. Sowohl die Diskussion über defekte oder unvollständige Demokratien als auch über Varianten autoritärer Regime belegen die Grundorientierung auf das Paradigma der Demokratie. Kritiker sehen darin die Tendenz zu einer impliziten Teleologie (Verdery 1996: 227; Carothers 2002: 6f). Zwar ist es zutreffend, dass viele Arbeiten einen demokratischen Endpunkt der Transformation keinesfalls behaupten oder ein idealtypisches Verständnis von Demokratie zugrunde legen, welches dann mit der empirischen Wirklichkeit konfrontiert wird (Gans-Morse 2004: 338f). Aber die verbreitete Rede vom „Übergang zur Demokratie“ und der starke Fokus auf die Demokratie als Untersuchungsgegenstand, so die Kritik, deuten darauf hin, dass eben doch die Demokratie als das wahrscheinlichste Ergebnis der Transformation angesehen wird (ebd. 336, 339). Die Debatten zu den post-sozialistischen Entwicklungen, so das Fazit von Kenneth Jowitt, basieren auf einer impliziten ideologischen Grenze, einer liberal-demokratischen „korrekten Linie“ (Jowitt 1996: 7), die nicht überschritten wird. Die Transformationsforschung tendiert dazu, den politischen Strukturwandel in Osteuropa auf die Demokratisierung zu reduzieren. Sie hat damit eine inhaltliche Engführung entwickelt, die Jowitt treffend als „dizzy with democracy“ (ders. 1996) beschrieben hat. Die thematische Vereinseitigung auf das Paradigma der Demokratie ist in den letzten Jahren immer wieder kritisiert worden.4 Denn mit der Dominanz dieses Paradigmas ist die Betrachtung anderer Dimensionen, die den Prozess der Transformation wesentlich mitbestimmen, vernachlässigt worden. Dazu zählt erstens das Problem der politischen Ökonomie. Sowohl die Arbeiten über demokratische als auch über autoritäre Regime klammern diese Dimension häufig aus (Kubicek 2000: 305f). Wesentliche Handbücher zur Transformationsforschung vertreten einen Begriff politischer Herrschaft, in dem die politische Ökonomie keine Rolle spielt.5 Aspekte wie die Kontrolle und Umverteilung von materiellen Ressourcen, die ökonomische Bedeutung von öffentlichen Ämtern, Formen der Aneignung und die damit generierte politische Unterstützung, käufliche Institutionen oder Fiskalität finden kaum systematische Berücksichtigung. Der Grund dafür ist einmal mehr in der Dominanz des Demokratiediskurses zu suchen, der
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Bunce (1995: 124); Hartmann (1998: 13f; 16ff); Kubicek (2000: 297); Clark (2002: 3f). Vgl. etwa die Konzeption in dem Einführungs- und Lehrbuch von Merkel (1999: 25-28), die wiederum Petri et al. (2006) für ihr Handbuch übernommen haben.
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dazu tendiert die Autonomie rein politischer Prozesse hervorzuheben (Haggard/ Kaufman 1995: 4). Ein weiteres zentrales und damit zusammenhängendes Problem ist die Vernachlässigung des Staates bzw. des bürokratischen Staates. Die Transformationsforschung unterscheidet mit „Regime“ und „Staat“ unterschiedliche Herrschaftsorganisationen nach ihrer Dauerhaftigkeit. Regime definieren die Regeln des Machterwerbs, der Entscheidungsfindung und die Art des politischen Widerspruchs sowie die Beziehungen zwischen den Herrschaftseliten und das Verhältnis zwischen diesen und den Regierten. Dagegen gilt der Staat als Voraussetzung und Herrschaftsinstrument von Regimen. Er stellt im Vergleich zu letzteren die dauerhaftere institutionelle Form dar und umfasst den Komplex der Behörden und Verwaltungen mit Gewalt- und Steuermonopol. Der Staatsapparat überdauert in der Regel wechselnde Regime, seien sie dynastischer, kommunistischer oder demokratischer Art (Lawson 1993). Es ist unumstritten und überdies keine ganz neue Einsicht, dass demokratische Regime auf bürokratischer Herrschaft beruhen (vgl. bereits Schumpeter 1976: 206).6 So unbestritten die bürokratische bzw. staatliche Voraussetzung moderner Demokratie ist, so wenig hat sich diese Erkenntnis in den Arbeiten der Forschung niedergeschlagen. Zwar haben Juan Linz und Alfred Stepan in einem viel zitierten Werk bereits vor einiger Zeit gefordert, einen systematischen Ansatz zum Staat in die Theorien der Transformation zu integrieren (Linz/Stepan 1996: 17, 366). Dieser Appell verhallte indes weitgehend ungehört. Nur wenige Arbeiten haben explizit die bürokratisch-staatliche Dimension der Transformation thematisiert.7 Manche sprechen daher in Bezug auf den Staat schon von der „ignorierten Transition“ (Grzymala-Busse/Luong 2002). Zentrale Aspekte staatlicher Herrschaft werden nur selten problematisiert geschweige denn zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse gemacht.8 Ein funktionierender Justizapparat, eine Polizei, regelhafte Besteuerung, Fachbeamtentum, formal-rationale Verfahren – all diese Aspekte, die bereits Max Weber als Kernelemente moderner Staatlichkeit benannt hat, werden in der Transformationsforschung in der Regel vorausgesetzt (Carothers 2002: 8). Der Staat wird als gegebene Institution behandelt. Die Umbrüche des Regierens in Osteuropa sind jedoch nicht auf das
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Vgl. zur Transformationsforschung Przeworski et al. (1995: 11f; 110-112); Linz/Stepan (1996: 16-37, 366-400); Merkel (1999: 378-383); Rüb (2002: 111-114). Dazu zählen Cirtautas (1995); Bunce (1999); Grzymała-Busse/Luong (2002); Baker (2002); Bendel et al. (2003); Ganev (2005); Lehmbruch (2005); O’Dwyer (2006); Fritz (2007) und Grzymała-Busse (2007). Kritisch Cirtautas (1995: 380); Linz/Stepan (1996: 366); Suleiman (1999); Clarke (2002: 50f); Jerre (2002: 52); Dimitrov et al. (2006).
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Feld der Demokratie beschränkt, sondern sie betreffen auch den Staat, der mit seinen bürokratischen Apparaten und Verwaltungsroutinen ebenfalls einer Transformation unterliegt. Allerdings hat sich die staatliche Verwaltung, im Gegensatz zu den politischen Institutionen, in vielen Ländern nach dem Ende des Sozialismus nur langsam gewandelt.9 Über diesen Prozess ist bislang wenig bekannt. Rationale, bürokratische Staatlichkeit ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, sondern muss auf ihre Ausprägung und Funktionsweise hin untersucht und problematisiert werden. Das nicht ganz so alte Diktum „bringing the state back in“ (Evans et al. 1985) stellt für den post-sozialistischen Kontext seine Aktualität unter Beweis und ist auch für die vorliegende Arbeit das zentrale Motiv.
Die regionale Selektivität Zu der Beschränkung auf die demokratische Dimension des politischen Wandels kommt eine weitere hinzu, nämlich eine einseitige regionale Fokussierung. Mit dem Ende der von der Sowjetunion hegemonial initiierten Gemeinsamkeiten sind auch die Unterschiede zwischen den Staaten der früheren Zweiten Welt deutlich zu Tage getreten. Der ehemalige Ostblock ist einer enormen Vielfalt von Staaten und politischen Figurationen gewichen. Dabei zeichnete sich spätestens in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine zunehmende Kluft zwischen den ehemaligen Ostblockländern ab (Rupnik 1999). Die Länder Mittelosteuropas, also Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei sowie Slowenien und die drei Baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen galten schnell als Reformvorreiter und Beispiele für einen erfolgreichen gesellschaftlichen Umbau. In allen übrigen post-sozialistischen Staaten schien dagegen die Aussicht auf einen gelungenen Systemwechsel eher schlecht. Die Mehrzahl der post-sowjetischen Republiken und der Balkanländer galten als Staaten, die in Formen autoritärer Herrschaft verharrten oder zurückfielen. Länder wie Ungarn und Turkmenistan verband damit nur noch wenig. Diese Disparitäten haben Charles King dazu veranlasst, die Rede von dem „Postkommunismus“ als „genuinely useless“ (King 2000: 154) zu bezeichnen. Denn die wachsende Heterogenität der post-sozialistischen Staaten ließ es immer weniger sinnvoll erscheinen, sie alle einer einheitlichen Formation zuzuordnen. Die offensichtliche Vielfalt der post-sozialistischen Staaten hat sich jedoch nicht in einer entsprechenden Vielfalt von Fallanalysen und empirischen Gegenständen niedergeschlagen. Denn die Transformationsforschung hat ihre empiri-
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Nunberg (1999); Verheijen (1999, 2007); Dimitrov et al. (2006: 225-229).
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sche Anschauung bislang überwiegend an den acht Staaten Mittelosteuropas und an Russland gewonnen. Andere Regionen Osteuropas, namentlich die Republiken des Kaukasus und Zentralasiens sowie die Mehrheit der Länder Südosteuropas haben dagegen vergleichsweise wenig systematische Aufmerksamkeit erfahren. Das verdeutlicht bereits ein kursorischer Blick in gängige Sammelbände und etablierte Fachzeitschriften, die sich mit den post-sozialistischen Entwicklungen befassen. Das Gewicht und die Repräsentation von Fällen in der Diskussion soll hier einmal kurz etwas näher betrachtet werden. Zu diesem Zweck wurden drei international führende politikwissenschaftliche Fachzeitschriften, nämlich World Politics, Comparative Political Studies und die Communist and Post-Communist Studies mit Blick auf die dortige Fallauswahl und Falldiskussion miteinander verglichen. Dabei wurden alle Aufsätze in diesen drei Zeitschriften über den Zeitraum von 1993 bis 2006 hinsichtlich der Häufigkeit und regionalen Verteilung von Fallanalysen ausgewertet.10 Das Ergebnis findet sich in Tabelle 1. Dort finden sich auf der linken Seite die Staaten Mittelosteuropas, denen in Bezug auf ihre Bevölkerungsgröße ungefähr gleich große oder größere Staaten Südosteuropas und der GUS gegenübergestellt wurden. In Klammern sind jeweils die Bevölkerungsgröße in Millionen und dahinter die Zahl der Fallanalysen angegeben, die insgesamt für das entsprechende Land angefallen sind.
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Dabei wurde nach folgender Methode vorgegangen: Berücksichtigt wurden solche Aufsätze, die sich ganz oder schwerpunktmäßig mit einzelnen Fällen auseinandersetzen und dabei nicht mehr als 6 Länderbeispiele behandeln. Fallstudien zu sezessionistischen, nicht anerkannten Republiken wurden dem jeweiligen Staat zugerechnet, von dem die Abspaltung erfolgt ist. Die Auswahl bezieht sich mit Ausnahme der Tschechoslowakei und des titoistischen Jugoslawiens (Tabelle 1, erste Zeile) auf die post-sozialistischen Staaten. Ausgelassen wurde der Sonderfall Russland, dem allein schon wegen seiner schieren Größe und Ausdehnung über mehrere Kontinente mehr Aufmerksamkeit als allen anderen Ländern zukommt. Ebenfalls ausgelassen wurde der Sonderfall Ostdeutschland.
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Tabelle 1: Regionale Verteilung von Fallanalysen (1993-2006) in World Politics, Comparative Political Studies, Communist and PostCommunist Studies ȱ
Mittelosteuropa
Land
Südosteuropa/Eurasien Bevölk.
Fallzahl
Land
Bevölk.
Fallzahl
Tschechoslowakei
(15,5)
13
Jugoslawien
(23,2)
4
Polen
(38,6)
85
Ukraine
(49,8)
29
Ungarn
(10,0)
40
Weißrussland
(10,1)
5
Tschechien
(10,2)
29
Kasachstan
(15,3)
6
Slowakei
(5,3)
16
Georgien
(5,4)
5
Litauen
(3,6)
6
Armenien
(3,8)
1
Slowenien
(1,9)
7
Mazedonien
(2,0)
1
Lettland
(2,4)
5
Albanien
(3,3)
1
Estland
(1,4)
13
Moldawien
(4,3)
5
Bosnien
(3,8)
1
Kroatien
(4,6)
0
Bulgarien
(8,2)
17
Rumänien
(22,4)
17
(7,9)
4
Usbekistan
(24,4)
4
Aserbaidschan
Turkmenistan
(4,7)
2
Tadschikistan
(6,5)
1
Kirgistan
(4,7)
6
(10,7)
4
R.-Jugoslawien¹
(73,4)² 214 (191,9)³ 113 ______________________________________________________________ 1 = Rest-Jugoslawien inkl. Serbien, Kosovo und Montenegro 2 = abzüglich Tschechoslowakei 3 = abzüglich Jugoslawien
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Das Ergebnis dieses Vergleichs ist eindeutig. 214 Fallstudien zu den acht Ländern Mittelosteuropas stehen 113 Fallstudien zu den übrigen 18 Ländern Südosteuropas und der GUS gegenüber. Auf Mittelosteuropa entfallen damit fast zweimal so viele Fallstudien wie auf die anderen Regionen, obwohl es dort mehr als doppelt so viele Staaten gibt und mehr als zweieinhalb Mal so viele Menschen leben.11 Exemplarisch belegen mag diese Diskrepanz in der Fallauswahl auch ein Blick auf die 45 politikwissenschaftlichen Aufsätze aus dem Zeitraum 1992 bis 2000, die in dem zweibändigen Sammelband „The Politics of the Postcommunist World“ (White/Nelson 2001) zusammengestellt sind. Bei denjenigen Aufsätzen, die sich eingehender mit empirischen Fällen auseinandersetzen, entfallen 94 Fallanalysen auf Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei bzw. ihre beiden Nachfolgestaaten und die Baltischen Republiken. Auf die kaukasischen Republiken entfallen dagegen null, auf die zentralasiatischen Staaten eine und auf den westlichen Balkan (Albanien und die 4 Nachfolgestaaten Jugoslawiens mit Ausnahme Sloweniens) ebenfalls null Fallanalysen. Dieser Verteilung von 94 zu einer Fallanalyse steht eine Länderverteilung von sieben mittelosteuropäischen zu dreizehn kaukasischen, zentralasiatischen und südosteuropäischen Staaten gegenüber. Die Länder Eurasiens und Südosteuropas sind in der Forschungsdiskussion deutlich unterrepräsentiert, obwohl sie die Masse der post-sozialistischen Regime stellen. Die überwiegende Mehrzahl der Arbeiten befasst sich nicht mit der Peripherie der ehemaligen Zweiten Welt.12 Der Grund dafür dürfte u.a. wiederum in dem Paradigma der Demokratisierung zu suchen sein, denn der Fokus der Transformationsforschung auf die Demokratie hat dazu geführt, eben all diejenigen Fälle zu vernachlässigen, bei denen sich die Verwirklichung der demokratischen Ordnung nicht ausreichend beobachten ließ. Aber auch die Integration Mittelosteuropas in die OECD-Welt, die Nähe zu den euro-atlantischen Strukturen sowie zu den politischen Prioritäten und Reformprojekten westlicher Akteure trug dazu bei, den wissenschaftlichen Diskurs auf die Staaten dieser Region zu begrenzen. In der Transformationsforschung werden vor allem die als erfolgreich geltenden Systemwechsel erforscht (King 2000: 152).13 Alle anderen Fälle werden dagegen tendenziell als Gegenstand der Entwicklungsländerforschung be-
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12 13
Eine interessante Abweichung stellen in dieser Tabelle Rumänien und vor allem das gemessen an seiner Bevölkerungsgröße relativ häufig thematisierte Bulgarien dar. Diese erhöhte Aufmerksamkeit dürfte sich u.a. der EU-Integration dieser Länder verdankt haben. Zu den wenigen Stimmen, die diesen Umstand überhaupt problematisieren, gehören Hartmann (1998: 17, 21); King (2000: 152); Saxonberg/Linde (2003: 11f) und Herrschel (2007: 99f). Zur bedeutenden Ausnahme von dieser Regel zählt u.a. das vierbändige Werk von Dawisha/ Parrott (1997).
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handelt (Kollmorgen 2004: 28f). Diese Fokussierung auf die wenigen erfolgreichen und gut dokumentierten Fälle bezeichnen Herbert Kalthoff und Gert Pickel zu Recht als „den blinden Fleck der Transformationsforschung“ (Kalthoff/Pickel 2000: 16f). Denn das gebräuchlichste Sample der Fälle ist weder notwendig das repräsentativste noch das analytisch nützlichste (Gerring 2001: 30). Es bleibt damit im Wesentlichen den einzelnen Regionalwissenschaften überlassen, empirische Befunde zur Peripherie der ehemaligen Zweiten Welt zu produzieren. Auch für die politologische Transformationsforschung gilt das gleiche wie für die Politikwissenschaft insgesamt, dass sie nämlich in ihrer Themenstellung vornehmlich durch die Probleme der OECD-Welt geprägt und damit tendenziell betriebsblind für jenseits davon stattfindende Entwicklungen ist (Seibel 2003: 218; Schlichte 2005: 10f). In dieser Vernachlässigung kommt indes eine altbekannte Problematik in neuer Form zum Vorschein. Denn die Vielfalt und Entwicklungsunterschiede zwischen den Staaten Osteuropas – ebenso wie ihre Ignorierung – hat ihre Vorläufer in der Kommunismusforschung oder Sowjetologie. Um diesen Zusammenhang zu erläutern, ist ein Blick auf bereits etwas ältere Diskussionen notwendig. Bereits zu Zeiten des real existierenden Sozialismus stand der großen Ähnlichkeit der sozialistischen Institutionen in den Ländern der Zweiten Welt eine enorme Vielfalt lokaler sozialer Formen und unterschiedlicher historischer Voraussetzungen gegenüber. Trotz seines uniformen Charakters war der Sozialismus keine einheitliche Formation, sondern er ist in seiner weltweiten Diffusion durchaus sehr unterschiedliche Verbindungen mit lokalen und nationalen Traditionen eingegangen (Dreyfus et al. 2000). In der Kommunismusforschung hatten sich diese Erkenntnis und damit ein Perspektivwechsel, von Osteuropa als einheitlichem Block hin zur Diversität kommunistischer Staaten, jedoch nur allmählich durchgesetzt (Meyer 1967; White et al. 1982: 4). Die Entdeckung verschiedener nationaler „Kommunismen“ ging dann zwar mit der verstärkten Anwendung von Methoden und Konzepten der vergleichenden Politikwissenschaft einher (Glaeßner 1997: 227). Jedoch blieb insbesondere die Forschung zur Sowjetunion im Wesentlichen durch einen metrozentrischen Blickwinkel geprägt, der auf den russischen Kern der Sowjetunion fokussiert war und die Nationen und Territorien an ihren Rändern ausblendete. Die Sowjetunion wurde in der Regel als Einzelfall behandelt und auf intra-regionale Analysen verzichtet (Chandler 1994: 7ff; Parrott 1997: 3). Das Bild von der Sowjetunion als Einheitsstaat und damit die Vernachlässigung seiner Ränder hatte sein konzeptionelles Pendant in der lange Zeit dominierenden Theorie des Totalitarismus. Ihr zufolge zeichnete sich der Sozialismus durch eine zentralisierte Kontrolle der Bevölkerung, eine allumfassende Ideologie und einen einheitlichen, monolithisch geschlossenen Partei- und Staatsappa-
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rat aus. Trotz zunehmender Kritik an der Totalitarismustheorie, die weder die Dynamik noch die inneren Konflikte der Einparteienregime analytisch zu fassen oder auch nur zu benennen in der Lage war, und dem Rückgriff auf andere Erklärungsansätze seit den 1970er Jahren (Almond/Roselle 1989: 177ff), beeinflusste diese Theorie bis zu den 1980er Jahren die Diskurse über den Sozialismus (Cohen 1985: 27ff; von Beyme 1994: 28). Die Langlebigkeit des totalitären Paradigmas lag indes weniger an seiner inhaltlichen Plausibilität, als in der damaligen Politisierung des wissenschaftlichen Feldes. Der Kalte Krieg, der ebenso eine politisch-militärische Konfrontation wie eine Form des Wissens und der kognitiven Organisation der Welt darstellte (Verdery 1996: 4), verlieh den Annahmen von der totalitären Herrschaft in Osteuropa Evidenz und schuf einen Forschungskonsens, wonach die sozialistischen Systeme eben als totalitär zu interpretieren waren (Cohen 1985: 3-37). Mit der Globaltheorie des Totalitarismus wurden jedoch andere Ansätze verdrängt, darunter vor allem empirische Arbeiten historischer, ethnologischer oder anthropologischer Art, die sich mit den konkreten Sozialformen und historischen Eigentümlichkeiten in einzelnen sozialistischen Staaten auseinandersetzen (ebd. 24, 32; Verdery 1996: 5). Die mangelnde historische Tiefenschärfe und raum-zeitliche Differenzierung der Totalitarismustheorie lief darauf hinaus, die Varianz zwischen den sozialistischen Staaten zu bagatellisieren. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die sowohl politische als auch wissenschaftliche Unterteilung des internationalen Systems in eine kapitalistische Erste Welt, eine sozialistische Zweite Welt und eine nicht-alliierte Dritte Welt (Pletsch 1981: 567ff). Der pauschalen wissenschaftlichen Dreiteilung zufolge galt die Dritte Welt als traditional, unterentwickelt und politisch instabil, die Zweite Welt dagegen als modern und technologisch entwickelt, aber totalitär, ideologisiert und ineffizient. Die Erste Welt schließlich galt als modern, rational, demokratisch und frei (ebd. 574ff). Der Zweiten Welt wurde unterstellt, sie sei der Ersten ähnlicher als der Dritten Welt (ebd. 584f). Industrialisierung, wissenschaftlichtechnologische Entwicklung, hohe ökonomische Wachstumsraten über lange Zeiträume, Urbanisierung, gestiegene Lebenserwartung und Alphabetisierung haben eine Wahrnehmung bestärkt, wonach der Sozialismus und die westliche Welt letztlich den gleichen Entwicklungsimperativen moderner Industriegesellschaften unterlägen (Glaeßner 1997: 233-235). Diese Lesart fand ihren Ausdruck darin, dass verschiedene, ursprünglich anhand der OECD-Welt entwickelte politikwissenschaftliche Modelle auf die Sowjetunion angewandt wurden (Almond/ Roselle 1989: 177ff). Die sozialistischen Systeme galten als besondere Ausprägung industriell produzierender Gesellschaften, die es von postkolonialen Gesellschaften der Dritten Welt zu unterscheiden galt (Kößler/Schiel 1996: 34ff).
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Die enormen Entwicklungsunterschiede in der Zweiten Welt und die in vielen Teilen auch dort existierenden traditionalen gesellschaftlichen Formen gerieten damit aus dem Blick. Der eiserne Vorhang hatte den Blick auf die unterschiedliche Modernisierung sozialistischer Staaten und damit auf die verschiedenen Typen des Staatssozialismus verstellt, die sich mit Blick auf ihre soziale Differenzierung durchaus voneinander unterscheiden lassen (Brie 1996). Vor diesem Hintergrund prognostizierten Frederic Fleron und Erik Hoffmann bereits Anfang der 1990er Jahre, dass es auf der Grundlage der früheren Kommunismusforschung nicht leicht sein werde, post-kommunistische Studien zu betreiben (Fleron/Hoffmann 1993: 371, 374). Es sind letztlich aus dem Kalten Krieg herrührende wissenschaftliche Einteilungen, die die Themenauswahl der Transformationsforschung mitbestimmten. Die ehemals mangelnde Berücksichtigung der Diversität und Modernisierungsunterschiede sozialistischer Staaten findet in anderer Form ihre Fortsetzung in der heutigen Transformationsforschung, die sich auf wenige erfolgreiche Fälle des Systemwechsels und entwickelter bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung konzentriert (vgl. Cohen 1999: 39). Der Fokus auf eine kleine Fallauswahl kann aber die Vielfalt von Herrschaftsformen der post-sozialistischen Staaten nicht abbilden. Diese Vielfalt in vergleichender interregionaler Perspektive zu erschließen hat die Transformationsforschung bislang versäumt. Möglichkeiten dazu gibt es aber. Denn die Varianz der sozialistischen und post-sozialistischen Staaten kann wiederum nicht bedeuten, dass übergeordnete Vergleiche unmöglich wären oder dass alle Regionen getrennt voneinander zu behandeln seien. So vielfältig die Unterschiede einerseits waren und sind, so können doch andererseits auch übergreifende Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Diese bestehen jedoch eben nicht in erster Linie darin, dass alle Staaten Bestandteil eines einheitlichen homogenen Blocks waren. Stattdessen lassen sich, Jürgen Hartmann zufolge, in einer Perspektive sozialen Wandels interregionale Gemeinsamkeiten in den politischen Formen plausibilisieren (Hartmann 1998). Betrachtet aus der Perspektive der Modernisierung weisen beispielsweise Regionen wie der Balkan, der Kaukasus und Zentralasien durchaus strukturelle Gemeinsamkeiten auf (ebd.). Aus einer modernisierungstheoretischen Perspektive ergeben sich aber auch Vergleichsmöglichkeiten, die über die Zweite Welt hinausweisen. So liefert der Vergleich von Regionen wie Eurasien mit anderen Weltgegenden wie beispielsweise Afrika interessante komparative Einsichten. Die Entstehung neuer Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen südlichen Sowjetunion weist historische Parallelen zu der Dekolonisation afrikanischer Staaten auf (Beissinger/Young 2002; Barrington 2006). Konzepte und Begrifflichkeiten der Politikwissenschaft, die bislang Anwendung in der Analyse post-kolonialer Staaten der Dritten Welt gefunden haben, lassen sich sinnvoll auch auf die Staaten in Südosteuropa und
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Eurasien anwenden (Hartmann 1998: 24ff). Die Transformationsforschung hat die diesbezüglichen Erkenntnischancen in der Bemühung um disziplinäre Eigenständigkeit jedoch bislang weitgehend verschenkt (Kollmorgen 2004, 2003: 40, Anm. 11). Das gilt vor allem für das Konzept des Patrimonialismus. Der Patrimonialismus ist ein ursprünglich von Max Weber entwickelter Typus. Weber versteht darunter eine Form traditionaler Herrschaft, die durch eine hohe Personalisierung und mangelnde Trennung von privaten und öffentlichen Sphären gekennzeichnet ist.14 Von der Forschung wurde dieser Typus verschiedentlich aufgegriffen und als „Neo-Patrimonialismus“ (Eisenstadt 1973; Clapham 1985: 44ff) reformuliert. Dahinter steht die Annahme einer Verbindung oder Kombination patrimonialer mit modernen, rational-legalen Elementen. Der Typus der patrimonialen Herrschaft bzw. dessen Variante, der Sultanismus, hat in den verschiedenen Disziplinen der Politikwissenschaft, die sich vergleichend mit den Entwicklungen außereuropäischer Regionen auseinandersetzen, eine lange Rezeptionsgeschichte (vgl. Erdmann/Engel 2007).15 Dabei hat sich in der Literatur ein relativ einheitliches Verständnis herausgebildet. Als typisch neo-patrimoniale Systeme gelten autoritäre Präsidialregime, in denen alles auf die Person des Präsidenten ausgerichtet ist. Er ist der oberste, willkürlich regierende Herrscher und daher auch der Schlüssel zum Verständnis neo-patrimonialer Regime. Der Präsident eignet sich die materiellen Güter und Ressourcen des Staates an und steuert über ihre Verteilung klientelistische Netzwerke, um damit politische Unterstützung zu generieren. Diese Konzeption entspricht weitgehend dem ursprünglich von Weber entwickelten Idealtypus der reinen patrimonialen Herrschaft und findet vor allem in den Staaten Afrikas reichlich Anschauungsmaterial.16 In den Debatten um die Transformation in Osteuropa ist er jedoch kaum rezipiert worden. Explizit haben vor allem Linz/Stepan (1996: 51-65, 344-365) den Typus des Sultanismus aufgegriffen, indem sie ihn auf Ceauúescus Rumänien bezogen und zur Erklärung der dortigen Transformation fruchtbar gemacht haben. Obwohl die Arbeit von Linz und Stepan viel zitiert wurde und der Typus des Sultanismus Eingang in den Kanon der Transformationsforschung gefunden hat (Merkel 1999: 43), ist er
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Vgl. Weber (1980: 130-140, 580ff) und dazu auch Breuer (1991: 54-59, 76-123). Eine kritische Diskussion dieses Typus, die sich hier als Stand der Forschung rekapitulieren ließe, ist gleichwohl bislang weitgehend ausgeblieben (Erdmann/Engel 2007: 96). Médard (1991); Bratton/van de Walle (1997: 61ff); Schlichte (2005: 124). Neo-patrimoniale Herrschaftsformen haben sich auch unter Marcos auf den Philippinen oder unter den Duvaliers auf Haiti entwickelt. Vgl. hierzu und zu weiteren Beispielen Chehabi/Linz (1998).
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darüber hinaus nicht Gegenstand der Diskussion geworden.17 Es ist ein Ziel dieser Arbeit, den Typus des Patrimonialismus aufzugreifen und ihn zur Erklärung der politischen Herrschaft in den Staaten Osteuropas nutzbar zu machen.
Das Problem der Historizität Neben der mangelnden Bezugnahme auf den Staat und der einseitigen regionalen Orientierung auf die entwickelten Teile Osteuropas besteht ein drittes Problem der Transformationsforschung in der ungenügenden Berücksichtigung der Historizität der post-sozialistischen Entwicklungen. Erklärungen der Umbrüche in Osteuropa, die sich allein auf die Phase der Transformation beziehen, sind in der Diskussion keine Seltenheit (Kitschelt 2003: 72). Zweifellos stellte der Kollaps des Sozialismus eine Zäsur dar. Der Prozess der Transformation fand jedoch nicht auf der Grundlage einer Tabula rasa statt, sondern basierte auf den vorgängigen politischen und sozialen Formen, die der Sozialismus hinterlassen hatte. Die Konzentration auf den Zusammenbruch der alten Ordnung und die Annahme eines institutionellen Vakuums, in welchem der Systemwechsel vonstatten gehe, wurde bereits früh als zu kurz gegriffen kritisiert. Stattdessen seien die Kontinuitäten im Wandel zu berücksichtigen.18 Nachdem sich vielerorts eine demokratische Ordnung nach westlichem Vorbild nicht ins Werk gesetzt hatte und der Glaube an die Macht marktwirtschaftlicher und liberaler Imperative einem zunehmenden Skeptizismus gewichen war, richtete sich die Aufmerksamkeit auch auf historische Strukturen. Fragen nach der Langzeitdynamik osteuropäischer Gesellschaften und des institutionellen Erbes sozialistischer und vorsozialistischer Traditionen rückten in den Vordergrund. Die diesbezüglichen Arbeiten variieren stark in ihren Herangehensweisen. Sie unterscheiden sich ebenso nach untersuchtem Zeithorizont, wie nach den jeweils analysierten Aspekten der Vergangenheit und ihrer Gewichtung. Diverse soziale, kulturelle, ökonomische oder politische Faktoren werden als bestimmende Größen der Vergangenheit angeführt. Diese werden außerdem nicht nur unterschiedlich weit in die sozialistische und vorsozialistische Geschichte zurückverfolgt, sondern ihnen wird auch unterschiedlich viel kausales Gewicht bei-
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Außer systematisch bei Kitschelt et al. (1999: 23-41) und Hensell (2004a) zählen hierzu einzelne regional- und länderbezogene Arbeiten (vgl. Zimmer 2005; Heinemann-Grüder/Haberstock 2007; Hensell 2004b). Linz hat sein Konzept sultanistischer Regime später in einem Sammelband weiter entwickelt, jedoch nur auf die Dritte Welt bezogen (Chehabi/Linz 1998). David Stark hat bereits 1991 den einseitigen Fokus auf die Schaffung neuer Institutionen zurückgewiesen. Vgl. seine wieder abgedruckten Arbeiten in Stark/Bruszt (1998).
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gemessen. So haben einige Arbeiten die heutigen Verläufe der Transformation auf vorsozialistische despotische, demokratische und tribale Traditionen sowie historische Erfahrungen der Staatsbildung und ökonomischen Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert zurückgeführt.19 Weitaus häufiger noch wurden indes die unmittelbaren Hinterlassenschaften des Sozialismus thematisiert. Dabei sind eine Reihe diverser Faktoren als erklärende Variable analysiert worden, von den Auswirkungen der sozialistischen Nationalitätenpolitik über Erblasten der Planwirtschaft und Elitenkontinuitäten bis zur Überdauerung informeller Netzwerke, Regionalismus oder Korruption.20 Zu den Problemen historisch argumentierender Arbeiten gehört, dass einer praktisch unbegrenzten Menge von Faktoren der kommunistischen und vorkommunistischen Vergangenheit Einfluss auf die Gegenwart zugeschrieben werden kann (Ekiert/Hanson 2003a: 24). Jedoch wird in vielen Arbeiten nicht klar, unter welchen Bedingungen und in welcher Form historische Traditionen in der Gegenwart wirksam werden. Dabei stellt die Spezifizierung und theoretische Explizierung von kausalen Mechanismen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden, eine zentrale Schwierigkeit dar (Kitschelt 2003). Ein weiteres Problem historisch argumentierender Arbeiten besteht darin, in dem Verweis auf geschichtliche Strukturen auch existierende Freiheitsgrade sozialen Handelns zu berücksichtigen, also institutionelle Innovationen und Lernprozesse zu erklären (ebd.; Crawford/Lijphart 1995: 179-194). Dieses Problem betrifft insbesondere diejenigen Ansätze, die auf das Konzept der „Pfadabhängigkeit“ rekurrieren, das aus der Wirtschaftswissenschaft Eingang in die Transformationsforschung gefunden hat (Wetzel 2005; Beyer 2006: 145-243). In die Diskussion gebracht hatte das David Stark. Ihm zufolge ist die Transformation als Einführung neuer Elemente zu verstehen, die an vorher existierende Formen angepasst bzw. mit ihnen kombiniert und so neu arrangiert würden. Transformation sei als ein Prozess der Rekonfiguration und Restrukturierung bereits etablierter Routinen zu verstehen und verlaufe daher „pfadabhängig“ (Stark/Bruszt 1998: 7, 82ff). Stark hatte damit nicht nur die Bedeutung historischer Strukturen für die Transformationen hervorgehoben, sondern auch versucht, diese durch eine griffige Formel auf den Punkt zu bringen. Dabei hatte Stark den Begriff der Pfadabhängigkeit aus der ökonomischen Theorie entlehnt, wo er für sich selbst verstärkende Prozesse steht (North 1990). Jeder Schritt auf einem bestimmten Pfad produziert Effekte, die die relative Attraktivität des Pfa-
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Goehrke (2000); Diamandouros/Larrabee (2000: 29ff); Hartmann (1998: 53-84); Segert (2002: 29-68); Collins (2006); Berglund/Aarebrot (1997) und Juchler (2001). Vgl. beispielsweise Luong (2002); Barany/Volgyes (1995); Ekiert/Hanson (2003b); Grancelli (1995); Lane (2002); Stark/Bruszt (1998); Stefes (2006).
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des steigern und mit der Akkumulierung dieser Effekte wird ein Zyklus von sich selbst verstärkenden Handlungen generiert. Dabei ist es vor allem die Entstehung von Interessen an „steigenden Erträgen“, die die Fortsetzung des Pfades bestimmen. So steigert jeder Schritt in eine bestimmte Richtung die Wahrscheinlichkeit des Pfades und erschwert ein Umkehren (vgl. Beyer 2006). David Stark hatte sich jedoch nicht explizit auf dieses Verständnis bezogen, sondern den Begriff der Pfadabhängigkeit eher in dem metaphorischen Sinne gebraucht, dass es eine Kontinuität im sozialen Wandel gebe und alle gesellschaftlichen Entwicklungen immer auch historisch bestimmt seien. Das Argument Starks, so seine Kritiker, beschränke sich daher auf die Feststellung: „history matters“ (Beyer/Wielgohs 2001: 387; Wetzel 2005: 22f). Die Erklärung der postsozialistischen Entwicklungen durch Pfadabhängigkeit erschöpfe sich damit letztlich in einem ordinären Historismus, oder schlimmer noch, in der Postulierung historischer Gesetzmäßigkeiten, wonach die Gegenwart historisch determiniert sei und Kontingenz keine Rolle mehr spiele (Dobry 2000: 52, 67). Eine Kompromissformel hierzu lautet, dass die post-sozialistischen Transformationen zwar pfadabhängig verlaufen würden, zugleich aber auch das Moment der Pfadgestaltung und Innovation zu berücksichtigen sei (Nielsen et al. 1995: 4ff). Der Zerfall des Staatssozialismus schuf danach einen Wendepunkt, an dem strategische freie Entscheidungen getroffen werden konnten, die jedoch im Kontext der Pfadabhängigkeit standen. Die vorhandenen Optionen für Entscheidungen ebenso wie die Effekte der freien Wahl waren somit durch die Strukturen der Vergangenheit begrenzt (ebd.). In vielen Arbeiten, die eine Pfadabhängigkeit unterstellen, bleibt jedoch unklar, wie der soziale Mechanismus der Reproduktion von Handlungsmustern aussieht, der die Fortsetzung des Pfades bestimmt. In den meisten Arbeiten, so die Kritik, gibt es kein systematisches Bemühen, einen solchen Mechanismus zu identifizieren (Dobry 2000: 61f; Wetzel 2005: 22ff). Ein Teil des Problems, den Einfluss historischer Strukturen auf die Gegenwart zu bestimmen, liegt nicht zuletzt in der Frage, von welchen institutionellen Kernmerkmalen des Sozialismus auszugehen ist. Worin lag die Spezifik der sozialistischen Regime und wodurch zeichnete sich ihre Herrschaft aus (Ekiert/ Hanson 2003a: 24)? In der Transformationsforschung ist diese Frage kaum diskutiert worden. Nur wenige Arbeiten haben noch einmal die sozialistischen Regime als Ganzes thematisiert und dabei ihre Funktionslogik explizit zum Gegenstand der Analyse gemacht. So hat beispielsweise Michael Brie (1996) versucht ein Modell unterschiedlicher Typen sozialistischer Modernisierungs- und Herrschaftsstrategien zu entwickeln, das eine Vielzahl von Dimensionen berücksichtigt. Dazu gehören unterschiedliche Niveaus der Modernisierung, das Verhältnis sozialer Kräfte vor dem Sozialismus und in der nach-stalinistischen Phase, Formen der Loyalitätssicherung, der Interessenartikulation und Öffentlichkeit sowie
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der Opposition. Diesen Dimensionen ordnet Brie unterschiedliche etatistische, klientelistische, plurale und bürokratische Strategien der Staatsparteien zu, woraus sich eine Typologie ergibt, welche schließlich die Einordnung von einzelnen Fällen sozialistischer Staaten erlauben soll (ebd. 98). Das Modell von Brie kann zwar einige Plausibilität für sich beanspruchen, ist jedoch letztendlich nicht trennscharf und bildet vor allem die reale Vielfalt der Geschichte ab, ohne ihre Komplexität reduzieren zu können. Eine andere Herangehensweise wählen Juan Linz und Alfred Stepan, die in ihrer Arbeit eine Berücksichtigung der Geschichtlichkeit des politischen Wandels in Osteuropa mit Aussagen über die Spezifik der sozialistischen Regime verbinden (Linz/Stepan 1996). Die heutige regionale Varianz der post-sozialistischen Staaten, so ihre Argumentation, lasse sich wesentlich auf historische Besonderheiten der sozialistischen Zeit zurückführen. Dabei sei der unterschiedliche Charakter der sozialistischen Regime zu berücksichtigen (ebd. 55-65, 235ff). Bezüglich letzterem haben Linz und Stepan u.a. den Typus der „Sultanismus“ in die Diskussion gebracht (s.o.). Der Sultanismus stellt Max Weber zufolge eine Variante des Patrimonialismus und damit eine Form traditionaler Herrschaft dar. Neben personalisierten Beziehungsmustern und der mangelnden Trennung zwischen öffentlichen und privaten Sphären ist eine ausgeprägte Willkürherrschaft kennzeichnend für den Sultanismus. Linz und Stepan haben dieses Typus auf Rumänien unter Ceauúescu bezogen und damit auf wichtige Struktureigentümlichkeiten sozialistischer Regime hingewiesen. Zugleich haben sie eine Verbindung zwischen diesem Regime und dem Verlauf des rumänischen Transformationsprozesses hergestellt (Linz/Stepan 1996: 51-65, 344-365). Sowohl hier als auch in der Arbeit von Brie bleibt allerdings unklar, ob und wenn ja in welcher Form Elemente der sozialistischen Vergangenheit auch in der Gegenwart Bestand haben.
Fazit Die Transformationsforschung ist insgesamt von drei zentralen Defiziten gekennzeichnet. Erstens haben die bisherigen Diskussionen den Prozess der Transformation zu einseitig als Demokratisierung thematisiert. Es mangelt den aktuellen Debatten an einer expliziten Thematisierung des Staates und seiner bürokratischen Dimension. Zweitens zeichnet sich die Transformationsforschung durch einen einseitigen regionalen Fokus aus. Sie hat ihre empirische Anschauung bislang überwiegend an den Ländern Mittelosteuropas gewonnen und dagegen den post-sowjetischen Republiken sowie den Ländern Südosteuropas vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Drittens gibt es in der Transformationsforschung keine klare Vorstellung von der Historizität des Staates in Osteuropa.
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Die Frage nach der Spezifik sozialistischer Regime und ihrem Erbe für die gegenwärtigen Staatsbildungsprozesse ist nur selten Gegenstand der Diskussion. Aus diesen Defiziten lassen sich drei Aufgaben der Forschung ableiten: Erstens gilt es den Staat in seiner bürokratischen Dimension zurück in die Diskussion zu bringen. Denn die Bürokratie ist das Kernmerkmal staatlicher Herrschaft. Dieses Ansinnen darf jedoch nicht zu neuen Einseitigkeiten führen, denn die Logik staatlicher Herrschaft erschöpft sich wiederum nicht im Verwaltungshandeln. Die politischen Institutionen sind auch Bestandteil des Staates. Das Feld der politischen Institutionen ist in der bisherigen Diskussion vor allem in Bezug auf die demokratischen Regeln des Machterwerbs und der Entscheidungsfindung thematisiert worden. Das Paradigma der Demokratie ließe sich daher auch als Bestandteil einer Theorie des Staates ansehen (Alford/Friedland 1985). Für die vergleichende Analyse von staatlichen Dynamiken ist ein solches normatives Verständnis jedoch nicht sinnvoll, denn die demokratische Verfasstheit des Staates lässt sich nicht voraussetzen. Ziel muss es also sein, ein Verständnis des Staates als politische und bürokratische Ordnung zu entwickeln, ohne dabei über die konkrete Form des Politischen normativ zu präjudizieren. Zweitens kommt es darauf an, den post-sozialistischen Staat auch jenseits der Ausnahme Mittelosteuropa zum Gegenstand der Analyse zu machen. Eine Theorie des post-sozialistischen Staates kann ihre Anschauung nicht anhand einer Minderheit von Ländern gewinnen, die sich durch ein Entwicklungsprofil der OECD-Welt auszeichnen. Stattdessen muss sich ein Entwurf an der überwiegenden Mehrzahl der Staaten orientieren und die Struktureigentümlichkeit politischer Herrschaft berücksichtigen, wie sie sich in Südosteuropa und Eurasien etabliert hat. Wenn der Balkan oder Zentralasien als Region thematisiert werden, darf sich jedoch der Fokus nicht auf das richten, was den dortigen Gesellschaften mit Blick auf eine gelungene Transformation fehlt oder was sie nicht sind (Stojanov 2003: 67). Begriffe wie „defekte Demokratie“, „schwache Staatlichkeit“ oder „Korruption“ können nur Defizite zum Ausdruck bringen und haben immer Bezug auf die Norm der entwickelten westlichen Ordnung. Es ist daher wichtig, adäquate an den empirischen Gegenstand angepasste Begriffe zu finden, die es erlauben Formen staatlicher Herrschaft ohne einen direkten Bezug zum Ideal des modernen Staates zu beschreiben. Drittens ist es entscheidend, die Historizität der post-sozialistischen Staaten zu berücksichtigen. Denn staatliche Herrschaft beruht immer auf langfristigen Wandlungsprozessen. Ein Verständnis post-sozialistischer Staatlichkeit kann sich nicht auf die Phase der Transformation beschränken, sondern es muss auch die vorangegangene sozialistische Phase und die Spezifik des sozialistischen Staates berücksichtigen. Weil aber der sozialistische Staat wiederum nicht ohne Rekurs auf seine Grundlagen verständlich wird, ist es wichtig, auch die histori-
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schen Voraussetzungen der sozialistischen Staaten mit in die Betrachtung einzubeziehen. Diese historische Dimension kann jedoch nicht in Form einer langen chronologischen Erzählung Bestandteil der Analyse werden, sondern es kommt darauf an, in strukturgeschichtlicher Perspektive wesentliche Prozessstufen, Kontinuitäten und Brüche im Formwandel des Staates zu verfolgen und dabei kausale Mechanismen zu identifizieren, wie sich historische Strukturen in das heutige Handeln von Akteuren verlängern. Die vorliegende Arbeit, deren Ziel es ist die Historizität und Organisationswirklichkeit des post-sozialistischen Staates zu erklären, versucht diesen drei Anforderungen gerecht zu werden. Für dieses Ansinnen lassen sich zwar diverse Anknüpfungspunkte in einzelnen Arbeiten der Transformationsforschung finden. Keine bietet indes einen konzeptionellen Rahmen, der die drei oben genannten Punkte hinreichend berücksichtigt und es erlaubt, Formen staatlicher Herrschaft begrifflich und analytisch differenziert zu fassen. Es ist daher das Ziel dieser Arbeit, einen solchen Rahmen selbst zu entwickeln. Dies soll in den folgenden Teilen geschehen. Der theoretische Rahmen setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: einem soziologischen Staatsverständnis und einem historisch hergeleiteten Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staates. Die beiden Komponenten werden hier getrennt in Teil II und Teil IV entwickelt, die durch einen methodischen Zwischenschritt in Teil III miteinander verbunden sind. Der folgende Teil II stellt also nur den ersten Schritt der theoretischen Konstruktion dar. Dabei stehen Theoreme Max Webers und Pierre Bourdieus im Mittelpunkt.21 Diese Arbeit folgt einer qualitativen Forschungslogik und strebt eine empirisch begründete, gegenstandsangemessene Theoriebildung an (vgl. Kalthoff et al. 2008). Die im Folgenden entwickelten theoretischen Konstruktionen und Hypothesen sind in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material dieser Arbeit entstanden. Sie sind das Ergebnis von sich ergänzenden deduktiven und induktiven Schritten und einer kontinuierlichen Vermittlung von theoretischen Begrifflichkeiten mit konkreten empirischen Gegenständen. Der Gang der eigentlichen Untersuchung, die dieser Arbeit zugrunde liegt und der Gang der folgenden Darstellung sind also nicht identisch.
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Die Kategorien und Typen Max Webers sind immer wieder in fruchtbarer Weise auf die Erklärung des Sozialismus angewandt worden. Vgl. Bauman (1974: 136ff); Jowitt (1978, 1983); Roth (1987: 58ff); Gill (1990: 325ff); Breuer (1994: 84-109, 1998: 239-250) und Hanson (1997). An diese Arbeiten wird auch hier angeknüpft (vgl. Teil IV.2). In die Analyse postsozialistischer Entwicklungen sind Webers Konzepte bislang kaum eingeflossen. Zu den Ausnahmen zählen u.a. Linz/Stepan (1996: 51-65, 344-365) und Kitschelt et al. (1999: 23-41). Auch Bourdieus Arbeiten sind bislang kaum für die Transformationsforschung fruchtbar gemacht worden. Vgl. aber Eyal et al. (1998) und Derluguian (2005).
II Zur Theorie des Staates Zur Theorie des Staates
In diesem Kapitel sollen Elemente einer soziologischen Auffassung des Staates entwickelt werden. Dies soll in mehreren Schritten geschehen. Zunächst gilt es die für diese Arbeit leitenden modernisierungstheoretischen Grundannahmen darzulegen. Alsdann soll unter Rückgriff auf Theoreme Max Webers (Kapitel 1) und Pierre Bourdieus (Kapitel 2) eine Konzeption entwickelt werden, die den Staat als ein von Akteurspraktiken bestimmtes Handlungsfeld begreift (Kapitel 3). Dieses allgemeine Verständnis soll am Ende in einer ersten empirischen Konkretion wieder auf den Staat in Osteuropa rückbezogen werden. Zu diesem Zweck werden auf der Basis der entwickelten theoretischen Begrifflichkeiten die Grundannahmen dieser Arbeit zu einer knappen Erklärungsskizze über die Spezifik des Staates in Osteuropa erweitert (Kapitel 4). Die allgemeine Ausgangsposition für dieses Vorhaben ist die Theorie der Modernisierung. Das Paradigma sozialen Wandels, das der Transformationsforschung zugrunde liegt, ist insofern auch der Ausgangspunkt für diese Arbeit. Gegenüber der teilweise impliziten Teleologie der Transformationsforschung muss hier jedoch die prinzipielle Offenheit von historischen Prozessen hervorgehoben werden. Denn es gibt keine Entwicklungslogik hin zur modernen politischen Herrschaft. Daher kann es hier auch nicht darum gehen, sich auf ältere systemtheoretisch-evolutionistische Grundannahmen der Modernisierungstheorie zu besinnen, die bereits vor über 30 Jahren eingehend kritisiert wurden (Wehler 1975). Dessen ungeachtet haben die theoretische Unterscheidung moderner und traditionaler Sozialformen und die Analyse ihrer Ausprägung in der empirischen Wirklichkeit ihren Sinn behalten. Ein modernisierungstheoretischer Ausgangspunkt soll hier die Zugrundelegung eines historisch differenzierten Verständnisses von Wandlungsprozessen bedeuten, verbunden mit einem Sinn für die Kombination und Mischung traditionaler und moderner Elemente und die dadurch produzierten Verformungen und Hybridisierungen, die sich im Zuge aller historischen Modernisierungsprozesse ergeben. Denn der Gegensatz von Tradition und Moderne manifestiert sich nicht als unüberbrückbarer Antagonismus, sondern als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Koselleck 1977: 281), als Verschränkung gleichzeitig geltender moderner und traditionaler Prinzipien. In Bezug auf den Gegenstand dieser Arbeit ist die Zugrundelegung einer modernisierungstheoretischen Perspektive mit der Auffassung verbunden, dass die Beson-
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derheit des Staates in Osteuropa allein aus der Phase der Transformation nicht verständlich wird. Stattdessen kommt es darauf an, den post-sozialistischen Staat als Ergebnis langfristiger Wandlungsprozesse zu sehen. Die Frage nach den historischen Grundlagen der sozialistischen Staaten und der Modernität des Sozialismus ist daher hier noch einmal zu stellen (vgl. Srubar 1991, Zapf 1996). Dieser modernisierungstheoretische Ausgangspunkt knüpft an verschiedene Arbeiten an, die in den vergangenen Jahren in der Disziplin der Internationalen Beziehungen zu einer „politischen Soziologie der Weltgesellschaft“ entstanden sind.1 Kern dieser Soziologie ist ein Verständnis von Modernisierung als Prozess globaler Vergesellschaftung, als globale Ausbreitung von politischen, ökonomischen und symbolischen Reproduktionsformen (Jung 2001). Rationalisierung, Bürokratisierung, Monetarisierung und Individualisierung sind die Prozessbegriffe, die die globale Expansion der bürgerlich-kapitalistischen Moderne beschreiben. Sie umfasst auch die Globalisierung des westlichen Modells des Staates (Siegelberg 2000, Schlichte 2005). Im Zuge der „Verstaatlichung der Welt“ (Reinhard 1999) hat sich auch das Ideal des modernen Staates verallgemeinert. Es ist jedoch vor allem die Form des modernen Staates, die sich in der außereuropäischen Welt etabliert hat. Dem „importierten Staat“ (Badie 1992) steht nicht eine gleichermaßen moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft gegenüber. In der überwiegenden Mehrzahl der Staaten jenseits der OECD-Welt wurde daher das Projekt der „‚nachholenden Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit‘“ (Siegelberg 2000: 36) zur zentralen Herausforderung politischer Herrschaft. Durchweg bewirkte diese nachholende Konsolidierung eine Hybridisierung der politischen Form. Die Kombination und Verschränkung traditionaler und moderner Elemente kennzeichnen die Mehrzahl der Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika (Schlichte 2005). In unterschiedlichsten Ausformungen und Konstellationen gilt dort die gleichzeitige Existenz traditionaler und moderner Elemente: formales Recht und personale Loyalität, Zweckrationalität und Vergemeinschaftung, legale Sachlichkeit und persönliche Abhängigkeit sind als widersprüchliche Logiken gleichzeitig wirksam. Die Auflösung und Transformation traditionaler sozialer Formen ist in der Mehrzahl der Staaten jenseits der OECD-Welt ein unabgeschlossener Prozess. Dieses Verständnis ist in Bezug auf den Staat in der Dritten Welt zuletzt von Klaus Schlichte (ebd.) zu einem zusammenhängenden theoretischen Erklärungsrahmen für die Dynamik staatlicher Herrschaft weiterentwickelt worden. Weil an diese Konzeption im Folgenden verschiedentlich angeknüpft wird, ist es nötig zunächst die Position Schlichtes etwas genauer darzulegen. Sie lässt sich
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Vgl. hierzu Jung (2001); Schlichte (2005); Schlichte/Wilke (2000) und Siegelberg (2000).
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wie folgt umreißen: Moderne Staatlichkeit, so lassen sich die Grundannahmen klassischer sozialwissenschaftlicher Ansätze resümieren, basiert auf einer Matrix von fünf zusammenhängenden Variablen (ebd. 66ff). Erstens ist die Verregelung der Gewaltausübung durch ihre Monopolisierung und die Ausbildung von Zwangsapparaten entscheidend für den modernen Staat. Zweitens ist die Entwicklung moderner Staatlichkeit in langfristige strukturelle Wandlungsprozesse wie Rationalisierung, Bürokratisierung und Individualisierung eingebettet, die wiederum Teil der Entstehung des modernen Kapitalismus sind. Bestandteil dieser Wandlungsprozesse sind drittens die Differenzierung und das Auseinandertreten von Handlungsfeldern wie Politik und Ökonomie, öffentlicher und privater Sphären, die sich als eigengesetzliche Bereiche mit unterschiedlichen Reproduktionsmodi etablieren. Der moderne Staat basiert viertens auf verschiedenen Apparaten, die durch einen professionellen Habitus und berufsständischen Ethos ihrer Mitglieder über organisationsspezifische Eigenlogiken verfügen. Nicht zuletzt basiert moderne Staatlichkeit auch auf der Ausbildung einer eigenen Symbolik, wozu Typen der Legitimität, des Rechts und spezifische Semantiken gehören, die den Staat in die Alltagspraktiken der Menschen einsickern lassen (ebd. 80-83). Diese fünf Variablen bilden die Grundelemente für ein soziologisches Verständnis und eine Analyse des Staates. Um die zeitgenössische Dynamik des Staates zu verstehen, müssen jedoch auch global verallgemeinerte, idealisierte Vorstellungen vom Staat in den Blick genommen werden, wie sie in den Köpfen und Handlungen von Akteuren präsent sind (ebd. 84). Dieses Ideal staatlicher Herrschaft, abgeleitet vor allem aus der Selbstbeschreibung des Staates, lässt sich als politisch wirksames Leitbild fassen. Der Staat soll danach Gewaltmonopolist, überlegene, souveräne Instanz, räumliche politische Einheit und Apparat sein (ebd. 94ff). Mit diesem global anerkannten Ideal des modernen Staates verbinden sich darüber hinaus ideale Vorstellungen von stabilen sozialen Grenzen. Der Staat beruht danach auf der klaren Trennung öffentlicher und privater, ökonomischer und politischer, legaler und illegaler Sphären und verfügt als eine kohärente, gegliederte Organisation über eine relative Autonomie, mit der er sich von gesellschaftlichen Einzelinteressen abgrenzt (ebd. 109f). Von diesem Ideal weicht die faktische Staatspraxis jedoch immer ab. Praktiken lassen sich als beobachtbares Handeln und Verhalten von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, als soziale Interaktion von Individuen und Kollektiven verstehen. Hierzu zählen Praktiken des Widerstandes, der Vermeidung, der Umgehung, der Aneignung oder Instrumentalisierung (ebd. 107-111). Diese Praktiken können sich dem Ideal moderner Staatlichkeit annähern und das Ausgreifen des Staates befördern, sie können aber auch seinen Herrschaftsanspruch unterminieren. Der Staat lässt sich demnach als ein Machtfeld definieren, „um-
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grenzt von unzähligen Praktiken und sich langfristig verschiebenden Idealen“ (ebd. 108). Um also den Wandel des Staates zu erklären, kommt es darauf an, das Bild des Staates und die Realität seiner Praxis zusammen zu denken (ebd. 110f). In vielen Regionen der Weltgesellschaft steht nun das Ideal des modernen Staates in deutlichem Kontrast zu seiner praktizierten Wirklichkeit. In den Staaten jenseits der entwickelten OECD-Welt hat sich der Staat nicht als eine eigengesetzliche Institution etabliert.2 Stattdessen haben sich dort Praktiken verallgemeinert, die durch die widersprüchliche Vermischung traditionaler und moderner Elemente gekennzeichnet sind. Die globalisierte Form des Staates hat sich in vielen Weltregionen als kolonialer Import mit dortigen lokalen Traditionen verschränkt. Die überwiegende Mehrzahl der Staaten jenseits der OECD hat daher hybriden Charakter. Diese Hybridität prägt sich jedoch nicht überall gleich aus, sondern kommt in unterschiedlichen Staatstypen zum Ausdruck, wozu Schlichte u.a. den „peripheren sozialistischen Staat“ zählt (ebd. 125, 167-170). An diesen theoretischen Entwurf soll im Folgenden angeknüpft werden. Dabei soll die vor allem von Schlichte skizzierte politische Soziologie des Staates in der Weltgesellschaft aufgegriffen und zugleich ausdifferenziert und mit Blick auf die Zweite Welt weiterentwickelt werden. Dieses Vorhaben muss zwei wesentlichen Anforderungen genügen, die sich als Schlussfolgerungen aus dem Vorangegangenen ziehen lassen (vgl. ebd. 102-111). Aufgabe einer politischen Soziologie des Staates in Osteuropa muss es zunächst sein, die Historizität des Staates zu berücksichtigen. Langfristige Wandlungsprozesse aber auch mittelfristige Konjunkturen prägen die Wirklichkeit zeitgenössischer Staatlichkeit mit. Diese Prozesshaftigkeit lässt sich nicht als lineare Abfolge von traditionalen zu modernen Verhältnissen begreifen, sondern nur als widersprüchliche Verbindung und Verschränkung traditionaler und moderner Elemente. Eine politische Soziologie des Staates darf darüber hinaus den Staat nicht als abgegrenzte, autonome und kohärente Institution begrifflich schon voraussetzen, wie dies die meisten staatstheoretischen Ansätze tun. Stattdessen gilt es den Staat zu soziologisieren, ihn also im Handeln der Menschen nachzuweisen. Das „wirkliche menschliche Zusammenleben“ (Heller 1983: 58) ist danach Ausgangspunkt einer Erklärung staatlicher Herrschaft. Es kommt darauf an, den Staat über die Praktiken staatlicher und nicht-staatlicher Akteure zu definieren (Schlichte 2005: 107-111).3
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Auch die Organisationswirklichkeit der OECD-Staaten entspricht in mancherlei Hinsicht nicht dem Ideal des modernen Staates. Jedoch besteht hier eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sich die Selbstbeschreibung des Staates mit den tatsächlichen Praktiken der Akteure deckt. Den Staat von den handelnden Individuen her zu denken ist eine Konzeption, die sich mindestens bis zu Max Weber zurückverfolgen lässt. Vgl. auch Foucault (2004) und Migdal (2001) sowie die Beiträge in Sharma/Gupta (2006).
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Unter Praktiken lässt sich das ganze Spektrum politischer und bürokratischer Alltagspraktiken, Routinen und Regelmäßigkeiten des Handelns einschließlich des Unterlassens und Duldens verstehen (ebd.).4 Ausgehend von diesen beiden analytischen Perspektiven und auf der Grundlage der vorangegangenen Bestimmungen lassen sich nun auch die Grundthesen dieser Arbeit in Bezug auf den Staat in Osteuropa konkretisieren. Sie lauten wie folgt: Der Sozialismus lässt sich als eine alternative Form der Modernisierung verstehen, die zwar zentrale Merkmale der Moderne aufwies, gleichzeitig aber auch eine Reihe von nicht-intendierten Praktiken begünstigte, die der Logik traditionaler Gemeinschaften entsprachen.5 Diese de-modernisierenden Effekte ließen sich in allen sozialistischen Staaten des Ostblocks beobachten. Sie waren jedoch dort besonders ausgeprägt, wo bereits vor der Etablierung des Sozialismus nur in Ansätzen eine Umwälzung traditionaler Formen stattgefunden hatte. Das ist vor allem in Regionen wie dem Balkan, dem Kaukaus und Zentralasien aber auch in Russland der Fall gewesen. Teils aufbauend auf Kontinuitäten traditionaler Strukturen, teils neo-traditionale Funktionslogiken neu hervorbringend, haben sich hier traditionale und moderne Elemente zu einer spezifischen Form politischer Herrschaft verschränkt: dem patrimonialen Sozialismus.6 Der patrimoniale Sozialismus hat eine Reihe informeller und personalisierter Praktiken hervorgebracht, die das Ende des Sozialismus überdauert haben. Sie wurden im Zuge der Transformation unter veränderten institutionellen Rahmenbedingungen reaktualisiert und sind auch für die Funktionsweise der postsozialistischen Staaten strukturbildend geworden. Die Mehrzahl der heutigen Staaten Südosteuropas und Eurasiens sind daher durch die gleichzeitige Geltung moderner und traditionaler Logiken gekennzeichnet. Sie haben von ihren Vorgängern zwar ein ausgeprägtes bürokratisches Element geerbt. Die formale Rationalisierung der bürokratischen Herrschaft ist jedoch unvollständig geblieben und patrimoniale Praktiken der Machtbildung spielen eine wesentliche Rolle. Die Mehrzahl der zeitgenössischen Staaten Osteuropas lässt sich daher als bürokratisch-patrimonial charakterisieren. Sie haben sich nur bedingt als ein Handlungsfeld mit getrennten öffentlichen und privaten Sphären ausdifferenziert. Auf der Grundlage der skizzierten modernisierungstheoretischen Annahmen und der daraus abgeleiteten Anforderung, den Staat als Ergebnis von historischen Prozessen und Praktiken zu verstehen, soll nun im Folgenden eine Konzeption entwickelt werden, die es erlaubt, den Staat in diesem Sinne theoretisch konsis-
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Vgl. Reckwitz (2002); de Certeau (1988); Turner (1994). Vgl. Jowitt (1983); Roth (1987: 58ff) und Srubar (1991). Vgl. zum Patrimonialismus Weber (1980: 130-140, 580ff) und Breuer (1991: 54-59, 76-123) sowie unten Kapitel II.1.
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tent zu fassen. Dabei spielen die Arbeiten von Max Weber und Pierre Bourdieu eine zentrale Rolle.7 Mit Blick auf die hier skizzierten Hypothesen und analytischen Perspektiven ist zunächst die Herrschaftssoziologie Max Webers zentral, denn sie ermöglicht es, moderne und traditionale Formen politischer Herrschaft präzise zu fassen und zu unterscheiden. Weber bringt diese Formen mit dem Idealtypus des Anstaltsstaates und des Patrimonialismus auf den Begriff. Für das hier zugrunde gelegte modernisierungstheoretische Verständnis sind beide Typen relevant. Mit Webers Konzeption des modernen rationalen Anstaltsstaates liegt zugleich ein Verständnis vor, das es erlaubt, den Staat als politische und bürokratische Ordnung differenziert und dennoch einheitlich zu fassen. Webers Herrschaftstypen zeichnen sich durch begriffliche Strenge und eine hohe analytische Trennschärfe aus und stellen damit für diese Arbeit grundlegende konzeptionelle Ausgangspunkte dar. Zwar gründet Webers Soziologie auch auf einem handlungstheoretischen Verständnis des methodologischen Individualismus. Seine Methode der Konstruktion von Idealtypen bietet jedoch keine Anknüpfungspunkte für ein genaueres analytisches Verständnis der Logiken, der Kontinuität und des Wandels von sozialen Praktiken. Eine Ergänzung bietet hier die Sozialtheorie Pierre Bourdieus an. Im Zentrum der Arbeiten Bourdieus steht die Theorie der Praxis und deren zentrale Komponenten: Feld, Kapital und Habitus. Diese theoretisch aufeinander bezogenen Kategorien verwendet Bourdieu zur Analyse unterschiedlicher gesellschaftlicher Praxisformen. Dabei stellt insbesondere der Habitus als ein System von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmustern einen theoretisch präzis gefassten Mechanismus dar, der es zu erklären erlaubt, wie sich bestimmte soziale Praktiken etablieren und wie sie sich fortsetzten. Bourdieus Sozialtheorie ermöglicht es die Eigenlogik, generativen Mechanismen und Kontinuitäten konkreter Praktiken aufzuschlüsseln. Bourdieu hat seine theoretische Konzeption in einigen Schriften auch auf die historische Genese und Funktionsweise des modernen Staates bezogen. Seine Konzeption stellt daher insgesamt einen geeigneten Ausgangspunkt für das hier beabsichtigte Vorhaben dar und erweist sich zugleich als theoretisch anschlussfähig an die Arbeiten Webers. Die Theoreme und Begrifflichkeiten der Soziologie Webers und Bourdieus sollen hier zueinander in Beziehung gesetzt und verbunden werden. Das folgende Unterkapitel widmet sich zunächst der Herrschaftssoziologie Max Webers, indem die Typen des rationalen Anstaltsstaates und des Patrimonialismus umris-
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Erste Überlegungen zum Ertrag der Arbeiten von Weber und Bourdieu für eine Theorie staatlicher Herrschaft finden sich wiederum bei Schlichte (2005: 65-76).
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sen werden. Daran anschließend werden zentrale Komponenten der Theorie der Praxis Pierre Bourdieus skizziert. Die anspruchsvollen Konzeptionen von Weber und Bourdieu können hier nur ausschnitthaft und damit notwendig verkürzt wiedergegeben werden. Beide Kapitel müssen sich auf Kernelemente ihrer Soziologie beschränken. In einem dritten Schritt sollen die theoretischen Gehalte von Weber und Bourdieu zu einem eigenen soziologischen Verständnis des Staates zusammengeführt werden. Dieses begreift den Staat als ein von den Praktiken der Akteure bestimmtes Handlungsfeld, in dem patrimoniale Praktiken sich als eine mögliche Praxisform auffassen lassen.
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Anstaltsstaat und Patrimonialismus bei Weber
Moderne politische Herrschaft prägt sich für Max Weber im rationalen Anstaltsstaat aus. Weber nennt sie auch die rationale oder legale Herrschaft. Sie zeichnet sich durch das Prinzip formaler Rationalität aus, wonach durch formale Satzung Recht absichtsvoll geschaffen werden kann. Die Herrschaft beruht auf bewusst geschaffenen und jederzeit änderbaren Regeln (Weber 1980: 125). Die Legitimation zu befehlen ruht auf formal-rational gesatzten Regeln und die Legitimation zur Satzung dieser Regeln wiederum auf formal-rational gesatzter Verfassung. In der Summe aller Satzungen, dem beliebigen positiven Recht, artikuliert sich die legale Herrschaft (Breuer 1991: 191ff). Institutionell verwirklicht ist diese legale Ordnung nur im modernen Staat, der sich als berechenbare, unpersönliche Anstalt mit kontinuierlichem Betriebscharakter, als „Anstaltsstaat“ konstituiert. Dieser Anstaltsstaat zeichnet sich durch Kompetenz- und Behördenprinzip, Ämterhierarchie, Schriftlichkeit der Verwaltung sowie technische und rechtliche Verfahrensregeln aus. Herrschaft wird hier ohne Ansehen der Person ausgeübt. Ferner existiert ein nach Fachkompetenz ausgewähltes, mit festen Gehältern bezahltes und frei absetzbares Beamtentum, das weder ein Eigenrecht an den Verwaltungsmitteln hat noch über diese als Eigenbesitz verfügt. Die Trennung des Verwaltungsstabes von den Verwaltungsmitteln und damit die Scheidung von Amtsund Privatsphäre ist das fundamentale Gesetz der legalen Herrschaft (Weber 1980: 124-130, 551-579). Die spezifische Strukturform des modernen Staates ist für Weber die Bürokratie. Sie steht daher auch im Mittelpunkt seiner Staatslehre (Anter 1995: 172f). Der Anstaltsstaat ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der öffentlichen Verwaltung. Denn die politische Sphäre ist auch Teil des Anstaltsstaates. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden. Weber unterscheidet in seinen Schriften eine bürokratische und eine politische Sphäre. Dem liegt eine differenzierungstheoretische Annahme zugrunde, die Weber aus dem universalen Prozess der Rationa-
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lisierung ableitet. Danach geht die Rationalisierung von Wertorientierungen einher mit der Freisetzung sozialer Handlungen aus religiös bestimmten Rahmensetzungen (Schimank/Volkmann 1999: 17f). Mit dieser Ausdifferenzierung von Wertsphären und einer sinnhaften Spezialisierung entwickeln sich in einem historischen Prozess unterschiedliche gesellschaftliche Teilordnungen, die sich durch spezielle Orientierungsstandards und institutionelle Eigenheiten auszeichnen. Sie verfügen damit über jeweils innere Eigengesetzlichkeiten. Staat, Recht, Religion, Wirtschaft, Kunst und andere soziale Sphären haben sich in diesem Zusammenhang gegeneinander abgegrenzt (vgl. Tyrell 1994; Schwinn 2001: 47f, 151ff). In dieser sozialen Differenzierungslogik verordnet Weber auch die Trennung zwischen zwei Bereichen des modernen Staates, nämlich zwischen Politik und Verwaltung. Die Eigenlogik der politischen Sphäre verbindet Weber mit den Begrifflichkeiten von Kampf, physischer Gewaltsamkeit, Machtstreben, Gesinnungspolitik und verantwortungsethischem Dienst an der Sache. Dagegen fasst er die Verwaltung als einen abgegrenzten Bereich. Ihre Eigenlogik besteht in Fachspezialisierung, Bewältigung organisatorischer Probleme und fest umschriebener fachlicher Aufgaben sowie Disziplin, technischem Gehorsam und Unparteilichkeit.8 Diese gegensätzlichen Logiken fließen bei Weber in die Dichotomie von politischer Führung und rationaler Verwaltung ein. Parteien und charismatische Anführer stehen als politische Akteure außerhalb des bürokratischen Apparates und streben die Leitung der Staatsanstalt an (Anter 1995: 51). Im modernen demokratisch verfassten Staat sind Parlament und Regierung die zentralen Instanzen politischer Steuerung. Sie sind die verantwortliche politische Führung, die die Zielsetzung der Verwaltung bestimmt und ihre Tätigkeit kontrolliert. Zwischen politischer Führung und Verwaltung besteht dabei ein grundlegendes Spannungsverhältnis, das einerseits in der Gefahr der Verselbständigung der Bürokratie und andererseits in der zunehmenden Bürokratisierung der Politik zum Ausdruck kommt (Fitzi 2004: 257ff). Der Unterschied zwischen Politik und Verwaltung kommt für Weber ferner darin zum Ausdruck, dass die Verwaltung die dominierende Alltagsform der Politik ist. „Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung“ (Weber 1980: 126). Auswirken tut sich Herrschaft im modernen Staat „weder in parlamentarischen Reden, noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung im Alltagsleben“ (ebd. 825). Jedoch sind sowohl die politische als auch die bürokratische Sphäre Teil des Anstaltsstaates. Nach Webers Definition ist der Staat ein „politischer Anstaltsbetrieb“ (Weber 1980: 29; vgl. Treiber 2007: 125). Weber definiert die moderne
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Schwinn (2001: 174-185); Palonen (1998: 57-216). Vgl. auch Fitzi (2004).
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Staatsanstalt dabei in Anlehnung an den Begriff der politischen Gemeinschaft, deren Besonderheit einerseits auf der Monopolisierung der Gewalt innerhalb eines abgegrenzten Territoriums und andererseits in der Legitimation dieses Gewaltmonopols durch die Legalität der rationalen Rechtsordnung beruht (Fitzi 2004: 188f, 256). Dieser rationalen Rechtsordnung sind sämtliche Verbandsmitglieder, auch die Leiter des Verbandes, unterworfen (ebd. 137f). Das gilt auch für die modernen politischen Parteien, die für Weber per definitionem nur innerhalb eines Verbandes möglich sind, dessen Leitung sie anstreben. Die Parteien sind Bestandteil der legalen Herrschaft (ebd. 242ff). Daher besteht für Weber auch ein Hauptproblem des Anstaltsstaates in der zunehmenden Bürokratisierung der Politik und der Parteien (Fitzi 2004: 257ff). Politik ist für Weber ein kontinuierlicher, regelgebundener Betrieb von Amtsgeschäften, den er als politischen Betrieb oder „Interessentenbetrieb“ bezeichnet (Weber 1980: 167). Die Funktion des Anstaltsstaates erschöpft sich daher nicht in der Exekutive, sondern sie besteht auch in der Legislative oder Satzung des Rechts (ebd. 516). Politik und Verwaltung sind in diesem Sinn zwar getrennte und funktional zu unterscheidende, aber benachbarte Sphären. Von der politischen ist daher die bürokratische Organisationsform des Staates zu unterscheiden. Der Begriff des Anstaltsstaates verweist auf den bürokratischen Kern des Staates, auf die Dimension der staatlichen Kontinuität und Ordnung, ohne dass der Anstaltsstaat in der Sphäre der Verwaltung aufgeht. Die rationale, legal gesatzte Rechtsordnung des Anstaltsstaates umfasst also beides: politische Herrschaft und Verwaltung. Sie sind beide Teil des Anstaltsstaates (vgl. Breuer 1994: 5-32). Scharf abgegrenzt zur sachlichen Ordnung des Anstaltsstaates konzipiert Weber den Typus der traditionalen Herrschaft, den er als Patrimonialismus bezeichnet (Weber 1980: 130-140, 580ff). Hier sind all die Elemente moderner Staatlichkeit nicht vorhanden. Weder existiert ein nach fachlichen Qualitäten ausgelesenes Beamtentum noch eine auf legalen Verfahren beruhende unpersönliche Anstalt mit berechenbarem Betriebscharakter. Der Patrimonialismus zeichnet sich durch die überragende Bedeutung personaler Herrschaft aus, die keine Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre kennt. Er liegt vor allem immer dann vor, wenn staatliche Ämter als privat nutzbare ökonomische Chancen behandelt werden. Diesen Fall der eigentumsartigen Verfügung über öffentliche Ämter bezeichnet Weber als Aneignung oder „Appropriation“ (ebd. 136f). Sie unterläuft die Trennung des Verwaltungsstabes von den Verwaltungsmitteln. Damit fehlt der patrimonialen Herrschaft eine entscheidende Differenzierung, die den modernen Anstaltstaat kennzeichnet. Die Beziehung von Herr und Verwaltungsstab, im modernen Staat als Verhältnis von politischer Führung und Fachverwaltung gefasst, ist im Patrimonialismus eine personalisierte Beziehung. Hier ist die Verwaltung eine persönliche
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Zur Theorie des Staates
Angelegenheit des Herrn und die Art der Machtausübung ist Gegenstand freier persönlicher Willkür. In der patrimonialen Herrschaft, die Weber in Analogie zur patriarchalen Hausherrschaft konzipiert, besteht der Verwaltungsstab aus persönlichen Dienern, die nicht nach sachlicher Qualifikation, sondern nach Vertrauen und Gunst ausgewählt werden. Der Patrimonialismus weist keine Trennung zwischen politischer und bürokratischer Sphäre auf. Er kennt nur die „politische Verwaltung“ durch Diener, die dem Hausherren persönlich nahe stehen (ebd. 594ff). Nicht sachliche Amtspflicht, sondern persönliche Loyalität und pietätspflichtmäßiger Gehorsam sind das Prinzip, welches die Beziehung des Verwaltungsstabes zum Herrn regelt. Das Verhältnis zwischen beiden beruht dabei auf Gegenseitigkeit. Der patrimoniale Beamte tauscht gutwillige Pflichterfüllung gegen die materielle Versorgung mit einer Pfründe. Der Patrimonialismus ist daher „der spezifische Ort der Entwicklung des ‚Günstlings‘-Wesens“ (ebd. 638). Ausgehend vom Konflikttheorem der Appropriation entwickelt Weber zwei Grenzfälle der patrimonialen Herrschaft. Im „Sultanismus“ besitzen die Mitglieder des Verwaltungsstabes kein Eigenrecht an den Verwaltungsmitteln und befinden sich in völliger persönlicher Abhängigkeit vom Herrn, der daher gänzlich willkürlich regiert. Der entgegengesetzte Fall ist die Verselbständigung des Verwaltungsstabes, die bis zur völligen Enteignung des Herrschers zugunsten intermediärer Machtträger gehen kann, was Weber als „Feudalismus“ bezeichnet (ebd. 625ff). Dem Patrimonialismus liegt also eine Spannung zu Grunde, die die Beziehung zwischen dem Träger herrschaftlicher Macht und denjenigen kennzeichnet, auf die er für seine Herrschaftsausübung angewiesen ist. Der Herrscher versucht stets darauf zu achten, dass die Verwaltungsmittel in seinem Besitz bleiben, während der Verwaltungsstab versucht, sich selbst diese Mittel anzueignen. Kurz: „Er versucht: sie, sie: ihn zu expropriieren“ (Weber 1989: 123). Weber versteht seine Typen der rationalen und patrimonialen Herrschaft explizit als Idealtypen. Nach Webers Methode sollen Idealtypen von der konkreten empirischen Realität bewusst abstrahieren und einen logischen Zusammenhang rein konstruieren, um so eine gesteigerte sachliche Eindeutigkeit begrifflich zur Geltung zu bringen (vgl. Weber 1968: 190ff, 1980: 9ff). Idealtypen haben daher die Funktion eines heuristischen Prinzips. In der historischen Wirklichkeit prägen sich jedoch immer nur abgewandelte und umgebildete Herrschaftsformen aus, die sich dem einen oder anderen idealen Typus mehr oder weniger annähern. Empirische Herrschaftsgebilde stellen dabei zumeist eine Zusammensetzung und Kombination von Elementen verschiedener idealer Typen dar (Weber 1980: 550). So prägen sich auch die rationale und patrimoniale Herrschaft häufig in
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Übergangsformen aus, in denen sich Struktureigentümlichkeiten beider Idealtypen verschränken und überlagern.9 Webers Forschungsprogramm der verstehenden Soziologie basiert mit dem Prinzip des methodologischen Individualismus auf einer Handlungstheorie, die komplexere soziale Gebilde auf der Grundlage des sozialen Handelns der Individuen entwickeln und erklären will. Die Idealtypen der Herrschaft sind somit auch ideale Handlungstypen, welche die markanten Merkmale von Handlungen hervorheben. Dementsprechend hat Weber auch eine handlungstheoretische Staatsauffassung, die auf der Forderung basiert, den Staat auf das Handeln der beteiligten einzelnen Menschen zurückzuführen (Anter 1995: 93-101; Treiber 2007: 143f). Wirkliche Staatlichkeit, so lässt sich mit Weber festhalten, basiert immer auf Handlungen, die entweder dem Idealtypus der bürokratischen oder der patrimonialen Herrschaft zugeordnet werden können. Diese Handlungen lassen sich jedoch in der historischen Realität nicht leicht trennen. „Wenn wir fragen, was in der empirischen Wirklichkeit dem Gedanken ‚Staat‘ entspricht, so finden wir eine Unendlichkeit diffuser und diskreter menschlicher Handlungen und Duldungen, faktischer und rechtlich geordneter Beziehungen, teils einmaligen, teils regelmäßig wiederkehrenden Charakters, zusammengehalten durch eine Idee, den Glauben an tatsächlich geltende oder gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen. Dieser Glaube ist teils gedanklich entwickelter geistiger Besitz, teils dunkel empfunden, teils passiv hingenommen und auf das mannigfaltigste abschattiert in den Köpfen der Einzelnen vorhanden“ (Weber 1968: 200). Webers idealtypische Bestimmungen erlauben es zwar, die charakteristischen Handlungen in politischen Figurationen diesem oder jenem Typus zuzuordnen. Anstaltsstaat und Patrimonialismus bleiben aber typologische Strukturbegriffe, die lediglich eine klassifizierende Zuweisung eines empirischen Merkmals zu einem Typus ermöglichen. Die Methode Webers erlaubt es letztlich nur den Abstand der empirischen Realität vom konstruierten Ideal zu messen. Die Prozesshaftigkeit und Kontinuität von konkreten Akteurspraktiken sowie die gleichzeitige Geltung unterschiedlicher traditionaler und moderner Logiken in sozialen Praktiken vermag sie theoretisch nicht adäquat zu fassen. Die Konzeption Webers, so soll im Folgenden argumentiert werden, lässt sich jedoch mit der Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu erweitern.
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Siehe Webers Ausführungen zur „Patrimonialbürokratie“ am Beispiel Chinas (Zingerle 1972).
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Zur Theorie des Staates Soziale Praxis bei Bourdieu
Im Zentrum der Soziologie Bourdieus stehen die drei analytischen Kategorien Feld, Kapital und Habitus. Sie werden bei Bourdieu in einer Theorie der Praxis zusammengedacht und in der empirischen Analyse aufeinander bezogen. Darüber hinaus findet sich in den Arbeiten von Bourdieu eine, wenn auch nicht ausgearbeitete, Konzeption staatlicher Herrschaft. Sie nimmt jedoch, anders als bei Weber, keinen zentralen Stellenwert in seinem Werk ein. Bevor hierauf näher eingegangen wird, soll zunächst ein Blick auf die Theorie der Praxis geworfen werden. Der Theorie Bourdieus zufolge ist der soziale Raum durch unterschiedliche Handlungsfelder mit spezifischen Praxisformen strukturiert. Jeder soziale Gegenstandsbereich – Religion, Wissenschaft, Kunst, Bürokratie usw. – lässt sich als ein Handlungsfeld auffassen (Bourdieu 1998: 13-27). Alle Akteure bemühen sich, eine günstige Stellung im Feld zu erlangen und ihre Position gegen die Widerstände anderer zu verteidigen. Inwiefern das gelingt, hängt von der Ausstattung mit spezifischen Machtmitteln oder Ressourcen ab, die Bourdieu als unterschiedliche Sorten von „Kapital“ versteht. Neben dem klassischen ökonomischen Kapital in Form von Geld- oder Produktionsmitteln spielt das soziale Kapital in Form von Verbindungen, Kontakten und persönlichen Beziehungen sowie das kulturelle Kapital in Form von schulischer Bildung und Bildungstiteln eine entscheidende Rolle. Alle Akteure innerhalb eines Feldes sind mit unterschiedlichen Sorten und Umfang an Kapital ausgestattet.10 Die Dynamik des Feldgeschehens besteht darin, dass Felder zugleich Orte individueller und kollektiver Auseinandersetzungen und Konkurrenzkämpfe um den Erhalt bzw. die Veränderung der bestehenden Kapitalverteilung sind (Schwingel 1993: 81ff). Durch Akkumulation oder Verlust von Kapital verändert ein Akteur seine Position im Feld und damit auch die relative Position aller anderen, weil alle Akteure zueinander in Beziehung stehen. Dabei spielt das Verhältnis der verschiedenen Kapitalsorten zueinander eine Rolle, denn die verschiedenen Formen des Kapitals sind sowohl untereinander abhängig als auch wechselseitig transferierbar. Bourdieu versteht dabei das jeweilige Feld als einen „SpielRaum“ oder „Spielfeld“, wobei die verschiedenen Sorten von Kapital Einsätze darstellen, die in dem Feld „auf dem Spiel stehen“ und um deren Verteilung und Aneignung in „sozialen Spielen“ konkurriert wird. Dabei ist jedes Feld durch „Spielregeln“ definiert (ders. 2003: 83ff).11 Diese feldspezifischen Regeln geben
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Schwingel (1993: 34ff). Vgl. auch Janning (1991: 42ff) und Ebrecht/Hillebrandt (2002). Vgl. zur Metapher des Spiels Bourdieu (1998: 140ff) und Bourdieu/Wacquant (2006: 127-130).
Soziale Praxis bei Bourdieu
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an, was im Rahmen des Spiels erlaubt ist, welches Handeln als feldlegitim gilt und welches nicht. Die jeweilige Kapitalverteilung und die gültigen feldspezifischen Regeln bestimmten die objektiven Strukturen des Feldes. Zugleich gehört zu jedem Feld ein spezifischer Habitus der Akteure. Der Habitus ist ein System von erworbenen dauerhaften Dispositionen. Dazu zählen erstens Schemata zur alltäglichen Wahrnehmung der sozialen Welt, zweitens Deutungsschemata, mit denen die soziale Welt geordnet und interpretiert wird sowie drittens Handlungsschemata, welche individuelle und kollektive Praktiken letztendlich hervorbringen (Bourdieu 1987: 101; Schwingel 2003: 62f). Der Habitus ist damit Bewertungs- und zugleich Erzeugungsprinzip von Praktiken. Der Habitus ist zunächst ein praktischer Sinn für die Einsätze, Strategien und Spielregeln innerhalb eines Feldes. Dieser Sinn für die Praxis erlaubt eine Orientierung innerhalb der sozialen Welt und garantiert die Anpassung des Habitus an die objektiven Strukturen des Feldes (Bohn 1991: 31ff; Schwingel 1993: 66f). Damit kann der Habitus aber auch angemessene, mit einem sozialen Sinn ausgestattete Praktiken ausführen. Die im Habitus gründenden Praktiken sind die grundlegenden Formen sozialer Praxis. Der Habitus legt jedoch nicht die soziale Praxis an sich fest, sondern nur die Grenzen möglicher und unmöglicher Praktiken, was Handelnde überhaupt wollen können und zu welchen Handlungen sie befähigt sind (Bourdieu 1987: 102f). Das vom Habitus generierte Handeln unterliegt zwar Regelmäßigkeiten, folgt jedoch keiner bewussten normativen Regel. Denn dem Habitus entspricht die Logik des Unscharfen, des Ungefähren (ebd. 99; Bourdieu/Wacquant 2006: 40-49). Er ist eine präreflexive, unterbewusste Beherrschung der sozialen Welt. Der Habitus wird im Laufe von Sozialisationsprozessen erworben (Schwingel 1993: 65). Er ist das Ergebnis vorausgegangener Lebensbedingungen und Erfahrungen. Die Wahrnehmungs- und Handlungsschemata des Habitus sind im Verlauf einer kollektiven Geschichte ausgebildet worden und werden von den Akteuren in ihrer je eigenen Geschichte, im Laufe ihres individuellen Lebensweges und der dort gewonnenen Erfahrung erworben. Im Habitus sedimentieren sich kollektive historische Erfahrungen und die sozialen Akteure sind insofern das Produkt der Geschichte des sozialen Feldes (Bourdieu 1987: 101f; ders./ Wacquant 2006: 170, 173). Habitus und Feld stehen jedoch in einem komplementären Verhältnis zueinander. Die Schemata des Habitus bilden sich im Zuge einer Inkorporierung von äußeren sozialen Strukturen des Feldes aus, die sich ihrerseits wiederum im Vollzug gesellschaftlicher Praxis konstituieren. Der Habitus generiert angepasste Praxisformen, die wiederum zur Reproduktion objektiver Strukturen des Feldes beitragen. Der Habitus tendiert dazu die Strukturen zu reproduzieren, die ihn hervorgebracht haben. Das Verhältnis von Habitus und
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Zur Theorie des Staates
Feld ist daher dialektisch. Es ist als wechselseitige Bedingung und Ermöglichung zu begreifen (Schwingel 1993: 63ff, 74ff). Soziale Praxis bedeutet demnach die Produktion von Handlungen durch die komplementären Komponenten Habitus und Feld. In der zeitlichen Sequenz stellt sich dieses Verhältnis als eine zirkuläre Reproduktion dar. Der Habitus hat sich im Kontext bestimmter historischer Praxisformen ausgebildet und tendiert zugleich dazu diese Praxisformen zu reproduzieren. Er ist Produkt der Geschichte des sozialen Feldes und antizipiert in der Reproduktion von Strukturen gleichzeitig Tendenzen und Regularitäten des Feldes. Er ist insofern ein verzeitlichter Mechanismus. Er transzendiert die Gegenwart durch die „praktische Mobilisierung der Vergangenheit und die praktische Antizipation der in der Gegenwart … angelegten Zukunft“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 172). Die zirkuläre Reproduktion von Habitus und Feld ist jedoch nicht garantiert (Bourdieu 1987: 116ff). Die vollkommene Übereinstimmung zwischen Erwerbsund Realisierungsverhältnissen des Habitus liegt vor allem im Zuge beschleunigten sozialen Wandels eher selten vor (Schwingel 2003: 76ff). Dann treten Habitus und Feld auseinander. Jede Veränderung der Distribution und des relativen Gewichts der Kapitalsorten läuft auf eine Veränderung der Struktur des Feldes hinaus, das dadurch eine eigene historische Formbarkeit hat. Der Habitus verändert sich jedoch nicht notwendig in gleicher Weise. Denn der Habitus zeichnet sich durch eine Trägheit und Resistenz aus, auf Veränderungen in der sozialen Welt zu reagieren. Er ist tendenziell unfähig neue Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zu entwickeln. Der Habitus kann damit die sozialen Bedingungen seiner eigenen Produktion überleben. Diesen Effekt des Überdauerns nennt Bourdieu „Hysteresis“ (Bourdieu 1987: 116; ders./Wacquant 2006: 164). Bourdieu hatte mit dieser Theorie vor allem die Analyse sozialer Ungleichheit im Blick, sie jedoch auch zur Erklärung staatlicher Herrschaft verwandt (Bourdieu 1997; ders. 1998: 91-125). Dabei verfolgt Bourdieu die historische Entwicklung des modernen Staates als Ausdifferenzierung eines eigengesetzlichen staatlichen Feldes. Dahinter steht ein differenzierungstheoretisches Verständnis, das in verschiedener Hinsicht an Max Weber anknüpft. Bourdieu zufolge hat jedes Feld, vergleichbar Webers ökonomischen und religiösen Lebensordnungen, eigene Werte und Regulierungsprinzipien (Bourdieu/Wacquant 2006: 37). Soziale Felder verfügen über innere Eigengesetzlichkeiten, feldspezifische Logiken und eine relative Autonomie. Sie zeichnen sich damit auch durch jeweils besondere Kapitalverteilungen, Institutionen und Habitusformen aus.12
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Vgl. zu den differenzierungstheoretischen Implikationen der Feldtheorie Bourdieus Schwingel (2003: 100-102); Schimank/Volkmann (1999: 23-30) und Kneer (2004).
Soziale Praxis bei Bourdieu
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Dabei unterscheidet Bourdieu, ebenfalls analog zu Weber, zwischen einer politischen und administrativen Sphäre, die er als das bürokratische und das politische Feld bezeichnet (Bourdieu 1997: 66). Diese Unterscheidung hat Bourdieu allerdings nicht systematisch expliziert. Im Zentrum des politischen Feldes stehen u.a. die Parteien, Formen der Mobilisierung und Repräsentation, das politische Mandat, personales Charisma und der Kampf um Ideen (vgl. ders. 2000). Im Mittelpunkt von Bourdieus Analysen zum Staat steht jedoch das bürokratische Feld, das er in seinen Schriften häufig auch als das staatliche Feld bezeichnet. Bourdieu thematisiert das bürokratische Feld im Zusammenhang mit einer Untersuchung der historischen Genese des modernen Staates. Diesen Prozess analysiert er als Übergang vom dynastischen Fürstenstaat hin zum eigengesetzlichen bürokratischen Feld. Dabei unterscheidet Bourdieu im Anschluss an Max Weber die personale Herrschaft des traditional-patrimonialen Fürstenstaates von der unpersönlichen Logik des modernen Staates, der auf der Trennung von Amt und Inhaber, privaten und öffentlichen Sphären basiert (ders. 1997: 63). Bourdieu stellt diese Formen jedoch nicht idealtypisch gegenüber, sondern widmet sich einer theoretischen Konstruktion der Logik historischer Prozesse. Danach lässt sich die Ausdifferenzierung des autonomen bürokratischen Feldes als Etablierung eines neuen Reproduktionsmodus verstehen. Der patrimoniale Reproduktionsmodus des dynastischen Fürstenstaates, der auf Verwandtschaft und Abstammung, also sozialem Kapital beruht, wird durch einen bürokratischen Reproduktionsmodus des staatlichen Feldes abgelöst, der auf Kompetenz und Leistung basiert (ebd. 58, 61). Juristisches Fachwissen als eine Form kulturellen Kapitals wird zur spezifischen Ressource im bürokratischen Feld (ders. 1998: 122). Eng damit verbunden ist der Aufstieg der Beamten, die ihre Position im bürokratischen Feld qualifizierter Ausbildung und Fachschulung verdanken. Der Bedeutung der juristischen fachlichen Qualifikation für den Reproduktionsmodus im bürokratischen Feld entspricht für Bourdieu eine historisch überragende Rolle der Juristen. Sie schaffen den Staat zunächst als Theorie und zwar durch einen performativen Diskurs über den Staat und die öffentliche Sache, womit sie eine spezifische Vorstellung vom öffentlichen Dienst verbreiten (ebd. 109ff, 121-124; ders. 1997: 64ff).13 Dies zielt auf die Erfindung und Durchsetzung einer offiziellen Darstellung des Staates als Ort des Rechts und der Allgemeinheit, in dem interessenfrei handelnde Akteure dem Dienst an der Öffentlichkeit verpflichtet sind (ders. 1998: 149f). Mit der Konzentration juristisch-kulturellen
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Ähnlich identifiziert auch Weber die Juristen als die entscheidenden Protagonisten des modernen Staates, die zusammen mit den regierenden Fürsten und ihren Beamten ein gemeinsames Interesse an einer Vereinheitlichung und Kodifizierung des Rechts entwickelten. Vgl. Anter (1995: 197-199).
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Kapitals im staatlichen Feld ist die Einführung von allen möglichen offiziellen Ernennungen, Beglaubigungen und Bescheinigungen als einer Klasse öffentlicher und allgemein anerkannter Handlungen verbunden. Das juristisch-kulturelle Kapital gewinnt dadurch eine symbolische Eigenwirkung und fungiert insofern auch als symbolisches Kapital (ebd. 108ff).14 Das Ergebnis ist eine symbolische Konstruktion des Staates als Ort des Rechts und des allgemeinen Interesses. Erzeugt wird diese Konstruktion jedoch im staatlichen Feld selbst, durch Strategien der Verallgemeinerung ursprünglich partikularer Interessen. Die Genese des Staates ist historisch nicht zu trennen von dem Aufstieg sozialer Gruppen, die ein Interesse an der Wirklichkeit des Staates haben.
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Der Staat als Handlungsfeld und die Logik patrimonialer Praktiken
Von unterschiedlichen theoretischen Positionen ausgehend haben sowohl Max Weber als auch Pierre Bourdieu in ihren Arbeiten den Staat thematisiert und dabei ein theoretisches Verständnis staatlicher Herrschaft entwickelt. Bei Weber steht der Idealtypus des modernen rationalen Anstaltsstaates im Mittelpunkt, dessen Besonderheit vor allem in Abgrenzung zum Idealtypus der traditionalen patrimonialen Herrschaft hervortritt. Dagegen hat Bourdieu, ausgehend von seiner Theorie der Praxis, den Staat im Zusammenhang mit der historischen Genese und Ausdifferenzierung des bürokratischen Feldes thematisiert. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden eine Konzeption zu entwickeln, die Elemente beider Theorien verbindet. Diese Zusammenführung der theoretischen Gehalte von Webers und Bourdieus Arbeiten kann auf keine systematische Integration ihrer Ansätze oder eine ausformulierte, theoretische Synthese hinauslaufen. Auch kann es hier nicht um eine bruchlose Fortführung der Theorie von Weber oder Bourdieu gehen. Stattdessen soll im Folgenden ein theoretischer Rahmen skizziert werden, der auf den analytischen Kategorien Webers und Bourdieus aufbaut, indem er ihre Theoreme aufeinander bezieht und zugleich reformuliert, um sie dadurch in einen theoretischen Zusammenhang zu bringen. Auf dieser Grundlage soll ein eigenes theoretisch konsistentes und empirisch plausibilisierbares Staatsverständnis entwickelt werden (vgl. zum Folgenden auch Schlichte 2005: 102-111).
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Symbolisches Kapital hat einen legitimierenden Effekt und bezeichnet bei Bourdieu die kollektive Anerkennung der anderen Kapitalformen. Jede Gruppe oder Person, die auf Dauer ihre Position im Feld verteidigen will, ist auch auf symbolisches Kapital angewiesen, um ihre Macht mittels symbolischer Strategien zu verschleiern und in anerkannte, legitime Herrschaft zu transformieren. Vgl. Schwingel (1993: 81ff).
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Danach lässt sich der Staat soziologisch als ein Handlungsfeld begreifen, dessen Funktionsweise von Praktiken der Akteure bestimmt wird. Dieses historisch geformte staatliche Feld, wie es sich im modernen Staat ausprägt, unterliegt dem Reproduktionsmodus formal-legal gesatzter Normen. Der Habitus der Akteure im staatlichen Feld orientiert sich jedoch immer nur ungefähr an den dort geltenden legalen Regeln und alle Akteure verfügen bei ihrer Auslegung über einen Handlungsspielraum. Die Befolgung, aber auch die Umgehung der Regeln ist daher fester Bestandteil der Praxis im staatlichen Feld. Je mehr sich aber Missachtung und Obstruktion verallgemeinern, desto größer die Tendenz zu Praktiken mit patrimonialem Charakter. Diese Konzeption soll im Folgenden in zwei Schritten weiter ausformuliert werden. Zuerst soll die Binnendifferenzierung und Funktionsweise des staatlichen Feldes skizziert werden, um dann auf dieser Grundlage die Logik patrimonialer Praktiken als eine mögliche Praxisform im staatlichen Feld zu erläutern.
Das staatliche Feld Der moderne Staat, so lässt sich im Anschluss an Weber und Bourdieu sagen, basiert auf ausdifferenzierten Sphären. Dazu zählt zunächst die Trennung von öffentlichen und privaten Bereichen. Diese fundamentale Differenz kommt in weiteren idealen Dichotomien wie Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie oder in dem Ideal der staatlichen Autonomie zum Ausdruck (ebd. 82, 109f). Der moderne Staat lässt sich danach als ein ausdifferenziertes Handlungsfeld konzipieren, das zugleich auch intern auf Abgrenzungen basiert. Das staatliche Feld gliedert sich intern in ein politisches und ein bürokratisches Feld, das jeweils über spezifische Eigenlogiken verfügt. Beide Felder lassen sich analytisch gegeneinander abgrenzen. Das politische Feld lässt sich als Ort der Parteien und ihrer Koalitionen, der Regierung und des Staats- bzw. Regierungschefs verstehen. Im politischen Feld werden die Formen des politischen Widerspruchs, der Opposition, Mobilisierung und Repräsentation sowie die Regeln des Machterwerbs und der Entscheidungsfindung definiert. Das bürokratische Feld umschreibt dagegen den administrativen Sektor und die öffentliche Verwaltung. Im bürokratischen Feld werden Regeln durchgesetzt und ihre Einhaltung kontrolliert. Der für die Extraktion von Ressourcen verantwortliche Fiskus oder die für die Gewährleistung von Recht und Sicherheit zuständige Justiz und Polizei sind typische Bereiche des bürokratischen Feldes. Der Binnendifferenzierung des staatlichen Feldes entspricht auch ein unterschiedlicher politischer und bürokratischer Habitus der Akteure, also eine Pluralisierung von Habitusformen. Der Staat ist jedoch immer beides: eine politische und bürokratische Ordnung. Nur
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das politische und bürokratische Feld zusammen erlauben es, Aussagen über den Staat als Ganzes zu treffen. Das staatliche Feld zeichnet sich dabei wie andere Felder durch bestimmte Einsätze, Spielregeln und feldspezifischen Profitmöglichkeiten aus, allerdings mit dem Unterschied, dass der Staat verschiedene Kapitalsorten konzentriert (Bourdieu 1998: 99ff). Die Dynamik des Feldes besteht darin, dass alle Akteure um die Verteilung von Kapitalsorten konkurrieren und gute Positionen anstreben, sei es durch die Verfolgung von Laufbahnen oder die Schaffung von Unterstützung und Gefolgschaft. Welche Kapitalsorten hierfür entscheidend sind und in welcher Form, Kombination und Gewichtung sie im staatlichen Feld zum Einsatz kommen, variiert.15 Ebenso unterliegen die Akkumulation, der Tausch und die Reproduktion der verschiedenen Kapitalsorten unterschiedlichen Bedingungen. Kulturelles Kapital der sachlichen Qualifikation ermöglicht vor allem den Akteuren im bürokratischen Feld Laufbahnen zu verfolgen. Es existiert dabei einerseits als technisches, durch Schulung erworbenes Fachwissen und andererseits als organisationsspezifisches, betriebliches Dienstwissen, gewonnen durch Kenntnis betrieblicher Abläufe (Sofsky/Paris 1994: 53ff). Daneben ist kulturelles Kapital aber auch in Form politischer Ideologie, Charisma und Heilswissen denkbar, das es vor allem im politischen Feld erlaubt, zu avancieren und dort Führung zu beanspruchen. Soziales Kapital dagegen spielt als Summe von Beziehungen und Verbindungen eine Rolle, formalisiert in Parteimitgliedschaften oder informell durch persönliche Kontakte und Netzwerke. Kulturelles und soziales Kapital erlauben es offizielle Ämter und damit gute Positionen einzunehmen, auf denen dann wiederum ökonomisches Kapital akkumuliert werden kann, sei es durch Gehälter, durch den Zugriff auf Ressourcen des öffentlichen Sektors oder durch illegale Aneignung. Ökonomisches Kapital fungiert wiederum als Ressource im staatlichen Feld, um Anhänger materiell zu versorgen und Gefolgschaft zu belohnen sowie als universell einsetzbares Mittel der Bestechung. Alle Formen des Kapitals sind Machtmittel und Teil von Prozessen der Machtbildung und Verstetigung von Machtbeziehungen, die sich unter unterschiedlichen Bedingungen im staatlichen Feld zu Herrschaft institutionalisieren (vgl. Schlichte 2005: 65ff). Das staatliche Feld unterliegt dem anstaltsstaatlichen Modus formal-legal gesatzter Normen und ist in einem idealtypischen Sinn der Ort der Öffentlichkeit, an dem die Akteure zu interessenfreiem Handeln verpflichtet sind (Bour-
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Bei Bourdieu steht aus dem Forschungsinteresse an sozialer Ungleichheit vor allem die „Verteilung“ von Kapitalsorten im Mittelpunkt. Dagegen soll hier ein etwas anderer Akzent gesetzt werden und die Aufmerksamkeit auf die „Bedeutung“ und das „Gewicht“ einzelner Kapitalsorten für das Fortkommen und die Einnahme von Positionen im staatlichen Feld gelenkt werden.
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dieu 1990: 87, 1998: 149f, 156). Der Habitus der Akteure folgt jedoch nicht explizit einem Regelwissen, sondern er orientiert sich in seinen Strategien immer nur ungefähr an den Regeln. Im staatlichen Feld verfügen alle Akteure, wie bindend die formalen Regeln auch sein mögen, immer über einen objektiven, mehr oder weniger geduldeten Handlungsspielraum bei der Interpretation, Auslegung und Anwendung der formal gesatzten Regeln, den sie entsprechend ihrer subjektiven Dispositionen nutzen können oder nicht. Die Anwendung der Regeln ebenso wie die Abweichung von ihnen hängt von dem je konkreten Habitus der Akteure ab (Bourdieu 1990: 88f). Das Recht und damit die staatliche Ordnung zeichnet sich durch eine grundsätzliche Ambiguität aus, denn „le jeu avec la règle fait partie de la règle du jeu“ (ebd. 89). Das Spiel mit der Regel ist Bestandteil der Spielregel im staatlichen Feld, das sich damit, trotz aller formalen Regelhaftigkeiten und Regularitäten, durch ein gewisses Maß an Ungewissheit auszeichnet. Das staatliche Feld ist durch eine implizite Unbestimmtheit, Nuancen des Möglichen und einen mehr oder weniger beträchtlichen Spielraum für strategische Interaktion gekennzeichnet (Bourdieu/Wacquant 2006: 38f). Die Befolgung oder Missachtung der Regeln ist Bestandteil der staatlichen Praxis und die staatliche Ordnung beruht damit auf einer subtilen Kasuistik von Recht und Umgehung des Rechts (Bourdieu 1990: 89, 91). Die Produktion staatlichen Rechts und die Umgehung dieses Rechts durch staatliche und nicht-staatliche Akteure gehören daher notwendig zusammen (vgl. Heyman 1999). Das staatliche Feld lässt sich damit als „Spiel-Raum“, als eine Struktur von Möglichkeiten, Gewinnen und Sanktionen beschreiben (Bourdieu/Wacquant 2006: 38f). Bei der Entscheidung über eine Ausnahme von der Regel geht es darum, Belohnungen und Profite aus der Nichtanwendung oder Übertretung des Rechts zu ziehen, um unterschiedliche Sorten von Kapital zu akkumulieren. Aus den Spielräumen im staatlichen Feld ergeben sich Kontingenzen und damit Chancen auf Fügsamkeit oder Erwerb, die mit- und gegeneinander abzuwägen sind und unterschiedlich ausgenutzt werden. Die fundamentale Differenz zwischen öffentlichen und privaten Sphären, auf denen das Feld des modernen Anstaltsstaates beruht, ist daher nur eine graduelle.16 Denn die Frage nach den Grenzen des Feldes wird immer im Feld selbst gestellt und jedes Feld bildet einen potentiell offenen Spiel-Raum mit beweglichen, dynamischen Grenzlinien (Bourdieu/Wacquant 2006: 130, 135). Über die wirklichen Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Sphären entscheiden die konkreten Praktiken staatlicher und nicht-staatlicher Akteure (Mitchell 1999; Schlichte 2005: 109f). Das
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Vgl. zum Begriff der Chance bei Weber als Kategorie für die Wahrscheinlichkeit der Geltung einer Ordnung Anter (1995: 101-108) und Palonen (1998: 132-137).
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Ideal der Öffentlichkeit kontrastiert dabei immer mit der konkreten Praxis der Akteure. Im Widerspruch zur Präsentation und Selbstbeschreibung des Staates als universalistisch und nicht-interessengeleitet steht die Realität der staatlichen Praxis mit allen Abweichungen, Ausnahmeregelungen, Sondergenehmigungen, Ermessensspielräumen und Umgehungen des Rechts (Bourdieu 1990, 1998: 124). Das politische und bürokratische Feld, so lässt sich resümieren, verweisen auf jeweils besondere institutionelle Arrangements, organisatorische Infrastrukturen, Konstellationen, Interessen und Strategien von Akteuren sowie feldspezifische Konfliktlinien. Politische und bürokratische Praxisformen ergeben sich aus den Spielregeln des Feldes, der unterschiedlichen Bedeutung und Gewichtung einzelner Kapitalsorten und dem Habitus der Akteure. Das Spiel in der Auslegung formaler Regeln ist die „Spielregel“ des staatlichen Feldes, die den Akteuren einen strategischen Spielraum eröffnet. Zugleich setzen diese soziales, kulturelles oder ökonomisches Kapital ein, um Positionen im Feld einzunehmen, Laufbahnen zu verfolgen und Gefolgschaft zu erringen. Die Regelmäßigkeiten und Routinen des Feldes haben die Akteure wiederum durch individuelle und kollektive Erfahrungen über den Habitus verinnerlicht. Der Habitus der Akteure entwickelt durch Wahrnehmungs- und Deutungsschemata einen praktischen Sinn für die Spielregeln und die Bedeutung der einzelnen Kapitalsorten innerhalb des Feldes. Dieser Sinn für die Praxis erlaubt es zugleich angemessene, an das Feld angepasste Praktiken auszuführen. Der Habitus der Akteure trachtet danach, die objektiven Strukturen des Feldes zu aktualisieren. Einmal etabliert wandeln sich Praktiken daher nur langsam. Denn der Habitus ist ein verzeitlichter Mechanismus, ein „System der Dispositionen als Vergangenheit, die im Gegenwärtigen überdauert und sich in die Zukunft fortzupflanzen trachtet“ (Bourdieu 1987: 101f). Er orientiert das Handeln „am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer“ (Weber 1980: 11). Der Habitus tendiert daher dazu Praktiken zu reproduzieren. Hinter dem Wandel des Staates als historisch geformtes Handlungsfeld steht auch der Wandel von habitualisierten Praktiken (Schlichte 2005: 108). Die durch den Habitus reproduzierten Praktiken können sehr unterschiedliche Formen annehmen. Bourdieu unterscheidet in seinen Arbeiten zur Genealogie des modernen Staates zwischen zwei unterschiedlichen Reproduktionsmodi des staatlichen Feldes: Der bürokratische Reproduktionsmodus basiert auf einem legal-rationalen Habitus der Akteure und der relativen Bedeutung kulturellen Kapitals der juristischen Qualifikation. Dagegen basiert der patrimoniale Reproduktionsmodus vor allem auf dem sozialen Kapital der Beziehungen, der Verwandtschaft und Abstammung (Bourdieu 1997: 58; s.o. II.2). Ausgehend von dem skizzierten Verständnis des Staates lassen sich patrimoniale Praktiken als
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eine besondere Praxisform im staatlichen Feld verstehen. Ihre Logik soll im Folgenden etwas genauer betrachtet werden.
Die Logik patrimonialer Praktiken Patrimoniale Praktiken können als eine mögliche Form der Praxis im staatlichen Feld gelten, die sich aus der inhärenten Ambiguität dieses Feldes ergibt. Dem staatlichen Feld ist ein Unbestimmtheitsmoment zu Eigen und der sich daraus ergebende strategische Spielraum kann von den Individuen ausgenutzt werden. Das Ideal des Staates als öffentliche Sphäre steht immer im Widerspruch zu Abweichungen und Ausnahmen von den formal gesatzten Regeln. Je mehr aber Missachtung und Obstruktion der formalen Regeln zur akzeptierten Spielregel im Feld werden, die Abweichung zur Norm wird, desto mehr gewinnt die staatliche Praxis patrimonialen Charakter.17 Im staatlichen Feld werden Strategien der Subversion, des Ausweichens, der Vermeidung, Aneignung und Instrumentalisierung für partikulare Zwecke zur Routine; sie werden zu „regelmäßigen Unregelmäßigkeiten“ (Bourdieu 1997: 62). Je weniger diese Unregelmäßigkeiten auf Widerstände stoßen und risikolos verfolgt werden, desto größer die Tendenz zur Patrimonialisierung des staatlichen Feldes. Die Verallgemeinerung von Ausweich- und Umgehungsstrategien im Feld hat dann auch die Ausbildung eines entsprechenden Habitus zur Folge. Der Habitus der Akteure zeichnet sich durch die Nichtbeachtung der Grenzen zwischen formalen und informalen, legalen und illegalen Sphären aus. Positionen im staatlichen Feld werden in erster Linie als Chance auf Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung wahrgenommen.
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In der politikwissenschaftlichen Diskussion wird dieser Umstand zumeist als „Korruption“ bezeichnet. Dieser Begriff ist allerdings unscharf und normativ aufgeladen, denn er impliziert immer einen verwerflichen Regelverstoß mit Blick auf einen natürlichen Standard für politisches Verhalten und angemessene Zwecke öffentlicher Ämter. Zugleich setzt er die mehrheitliche Akzeptanz einer geltenden Rechtsordnung voraus, aus deren Perspektive der Regelverstoß dann als Korruption erscheint. Normabweichung und informelle Praktiken gehören jedoch bis zu einem gewissen Grad zur Systemrationalität jeglicher formalen Organisation. Sie sind Bestandteil ihrer Funktionalität, wie Luhmann mit dem Begriff der „brauchbaren Illegalität“ (Luhmann 1976: 304-314) auf den Punkt gebracht hat. Auch Korruption ist in diesem Sinne ein regulärer, integraler Bestandteil der Operation zahlreicher politischer Systeme (Scott 1972: viii). Ob sich von Korruption als „abweichendem“ Verhalten wirklich reden lässt, hängt letztlich vom Grad ihrer Verbreitung und Alltäglichkeit ab (Höffling 2002: 75). Je allgemeiner und selbstverständlicher Korruption ist, desto weniger lässt sie sich als „Regelverstoß“ fassen. Wo die alltäglichen Skandale keine mehr sind, eben weil sie eine etablierte soziale Praxis reflektieren, stellt der Patrimonialismus eine begrifflich und analytisch präzisere Fassung dar, denn sein Kernmerkmal ist gerade die schwache Differenz zwischen öffentlichen und privaten Sphären.
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Patrimoniale Praktiken entwickeln sich in einem Geflecht asymmetrischer und wechselseitiger Beziehungen, in dem Personen und Gruppen in einer Figuration miteinander vernetzt sind (Sofsky/Paris 1994: 13f; Elias 1970). Um die Logik patrimonialer Praktiken zu bestimmen, kommt es darauf an Muster der Inklusion und Exklusion, Formen der Bewirtschaftung und Reproduktion unterschiedlicher Kapitalsorten, Habitusformen und die damit verbundenen Mechanismen der Machtbildung in den Blick zu nehmen. Diesbezüglich lassen sich drei konstitutive Elemente patrimonialer Praktiken unterscheiden, die in einem logischen und funktionalen Zusammenhang stehen: die Figur des Big Man, der Klientelismus und die ökonomische Aneignung. Diese Elemente lassen sich nur analytisch unterscheiden, empirisch aber nicht klar trennen. Der Big Man ist ein Persönlichkeitstypus, der die Personalisierung von Herrschaft zum Ausdruck bringt.18 Der Big Man verfügt über Macht, die sowohl auf formaler Befehlsgewalt als auch einer personengebundenen Autorität beruht (van Bakel et al. 1986). Er verfügt einerseits über die offiziellen Befugnisse einer Position im politischen oder bürokratischen Feld, also über eine Amtsautorität, die auf der Macht beruht, mit der ein Amt laut formaler Satzung ausgestattet ist (Popitz 1986: 61ff; Sofsky/Paris 1994: 43ff). Darüber hinaus verdankt sich die Position des Big Man aber auch dem Ansehen seiner Person und personalen Loyalitäts- und Gefolgschaftsbeziehungen (Sofsky/Paris 1994: 90ff). Typischerweise entwickelt sich der Staatspräsident allein durch seine Stellung an der Spitze des Staates zu einem Big Man. Aber auch der Regierungschef, einzelne Minister, Generaldirektoren und Behördenchefs können in die Rolle eines Big Man hineinwachsen. Die Figur des Big Man ist nicht auf die Spitze der staatlichen Hierarchie beschränkt. Die Machtstellung der Big Men kommt darin zum Ausdruck, dass sie über mehrere Sorten von Kapital verfügen. Sie besitzen kulturelles Kapital, sei es in Form von technischem Fach- und betrieblichem Dienstwissen, objektiviert in Dienstgraden oder Rängen, oder sei es durch ideologische Kompetenz und persönliches Charisma. Zugleich verfügen sie über gute Beziehungen und Möglichkeiten Ressourcen zu kontrollieren und zu verteilen, also auch über soziales und ökonomisches Kapital. Big Men zeichnen sich dadurch aus, dass sie als politische oder bürokratische Unternehmer alle sich bietenden Opportunitäten im staatlichen Feld ausnutzen, um verschiedene Formen von Kapital zu akkumulieren. Dahinter steht das Bestreben die eigene Position zu erhalten bzw. auszubauen, Gefolgschaft zu
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Die Figur des Big Man stammt ursprünglich aus der anthropologischen und ethnologischen Forschung. Im Gegensatz zum ererbten und damit stabilen Status eines traditional legitimierten Chefs hat der Big Man einen instabilen Status inne, den er durch persönliche Anstrengungen und Fähigkeiten erlangt oder errungenen hat (vgl. Lindstrom 1981).
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generieren und neue Machtbalancen durch die Zuteilung von Pfründen herzustellen. Dabei sind alle Mittel der formal bekleideten Position im staatlichen Feld disponible Ressource des Big Man. Er tendiert daher dazu die Trennung von Amt und Person einzuebnen. Es ist vor allem den Big Men möglich, sich teilweise oder gänzlich über die formalen Regeln im staatlichen Feld hinwegzusetzen. Denn die personale Herrschaft „schreitet unbekümmert über das konkrete Wollen der Rechtsinteressenten ebenso wie über den Formalismus des geschulten juristischen Denkens hinweg“ (Weber 1980: 493). Die Willkür ist typisch für das Handeln der Big Men. Willkür bedeutet die Entscheidung nach freier Gnade und Ungnade, persönlicher Zu- und Abneigung und Gunst (ebd. 130). Die Ausnahme von der Regel ist dabei eine Gefälligkeit, die im Wesentlichen persönlicher Natur ist (Bourdieu 1990: 91) und auf personalisierten Mustern, dem Ansehen der Person beruht: Beziehungen, Gnadenerweisen, Versprechungen, Privilegien (Weber 1980: 604f). Daher akkumulieren die Big Men auch symbolisches Kapital der Anerkennung in Form sozialer Ehre und Prestige, das sie dadurch erlangen, indem sie sich über die Regeln hinwegsetzen (Bourdieu 1990: 89; Schwingel 1993: 112ff). Die Willkür ist allerdings nicht auf die Big Men beschränkt, sondern wird auch von anderen Akteuren im staatlichen Feld praktiziert. Sie ist das Grundprinzip aller patrimonialen Praktiken. Jeder Big Man wächst, abhängig von seiner formalen Position im staatlichen Feld, auch in die Rolle eines Patron oder Intermediär hinein, auf den klientelistische Beziehungsmuster ausgerichtet sind. Denn zu seinem patriarchalisch-autoritären Habitus gehört es auch, Obhut und Förderung zu gewährleisten (Sofsky/Paris 1994: 32). Der Big Man steht daher typischerweise als Patron an der Spitze klientelistischer Netzwerke. Ein weiteres Element patrimonialer Praktiken ist der Klientelismus. Klientelismus oder Patronage kennzeichnen eine Form personaler Austauschbeziehung. Sie beruht auf vertikalen Bindungen zwischen einem Patron und einem Klienten, die sich durch ungleichen Status, Machtausstattung oder Ressourcen auszeichnen (Landé 1977: xx).19 Zwischen ihnen werden Vergünstigungen, Gefälligkeiten und materielle Vorteile getauscht. Den Klientelismus kennzeichnet die direkte personale „face-to-face“ Beziehung zwischen Individuen (ebd. xiv). Der diffuse, partikularistische Charakter dieser auf Reziprozität und Vertrauen beruhenden Verbindung erinnert an die askriptive Solidarität von Verwandtschaftsbeziehungen (Eisenstadt/Roniger 1984: 29ff). Anders als diese zeichnen sich Klientelbeziehungen aber durch Ungleichheit und die Kalkulation gegenseitiger Vorteile
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Vgl. zum Folgenden auch die Beiträge in Schmidt et al. (1977); Eisenstadt/Lemarchand (1981); Eisenstadt/Roniger (1984) und aus der neueren Literatur Piattoni (2001); Kitschelt/Wilkinson (2007).
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aus. Über die dyadischen Bindungen zwischen Klient und Patron hinaus spielen Intermediäre oder broker in Klientelsystemen eine wichtige Rolle. Sie knüpfen Verbindungen zu anderen potentiellen Klienten oder Patronen, zu denen kein direkter personaler Kontakt besteht (Landé 1977: xx). Aus diesen Netzwerken entwickeln sich in hierarchischen Ordnungen vertikal strukturierte Klientelketten oder Pyramiden, in denen der Patron selbst zum Klienten höher stehender Patrone wird. Insbesondere in den Apparaten und Organisationen des Staates können sich so verzweigte komplexe Netzwerke bilden (Clapham 1982; Eisenstadt/ Roniger 1984: 220ff). Nähe, Vertrauen und Komplizenschaft kennzeichnen den Klientelismus. Dabei wird durch gegenseitige Gefälligkeiten vor allem soziales Kapital reproduziert, welches der Schaffung und dem Erhalt von Sozialbeziehungen dient, die früher oder später einen unmittelbaren Nutzen versprechen. Alle Praktiken der Patronage fungieren als Austausch von Gefallen und unterliegen damit der Reziprozität, die als soziale Norm im Habitus der Akteure verankert ist. Der Tausch ist jedoch ungleich. Der Patron ist per definitionem immer der Akteur mit höherem Status und besserer Ressourcenausstattung (Landé 1977: xx). Die ausgetauschten Ressourcen in klientelistischen Beziehungen können sehr vielfältig sein. Der Patron vermittelt einen Zugang zur Verwaltung und öffentlichen Gütern, verteilt öffentliche Ämter oder beeinflusst ihre Besetzung und ermöglicht Genehmigungen, amtliche Entscheidungen, Beförderungen, Bankdarlehen und Lizenzen. Aber auch die Protektion von Unternehmen, Firmen oder kriminellen Aktivitäten der Klienten stellt eine Form der Patronage dar. Der Patron verschafft dem Klienten Vorteile, der dafür seinen Patron mit politischer Gefolgschaft, Wählerstimmen oder persönlichen Diensten aller Art unterstützt. Die relative Wertsteigerung sozialen Kapitals in Klientelnetzwerken ergibt sich daher nicht in erster Linie aus der Zahl der Verbindungen und der Reichweite des Netzes potentiell mobilisierbarer Beziehungen. Vor allem die Beziehung zu gut ausgestatteten Akteuren, die ihrerseits über unterschiedliche Sorten und einen großen Umfang von Kapital verfügen, stellt einen Stock an sozialem Kapital dar. Ein Patron mit vielen aktiven Verbindungen zu einflussreichen Klienten verfügt ebenso über soziales Kapital wie ein Klient mit Beziehungen zu ökonomisch mächtigen Big Men. Je mehr Beziehungen zu gut ausgestatteten Akteuren bestehen, desto größer die Profitchancen bei der Reproduktion anderer Kapitalsorten. Soziales Kapital hat in patrimonialen Kontexten einen hohen Tauschwert. Es lässt sich in der Regel in kulturelles Kapital der Fachschulung tauschen, wenn Beziehungen den Zugang zu staatlichen Ausbildungsstätten verschaffen und bei ihrem erfolgreichen Abschluss helfen. Soziales Kapital unterstützt Laufbahnen und hilft Positionen zu erlangen, auf denen dann wiederum ökonomisches Kapital akkumuliert werden kann. Je geringer die Bedeutung kulturellen Kapitals in
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Form fachlicher Qualifikationen für das Fortkommen im bürokratischen Feld, desto höher der Wert sozialen Kapitals. Das kann soweit gehen, dass eine meritokratische Rekrutierung keine Rolle mehr spielt. In diesem Fall entscheidet allein das soziale Kapital über die Besetzung von Positionen im Feld. Soziales Kapital lässt sich aber auch dann in ökonomisches tauschen, wenn vornehmlich Beziehungen über den Zugang zu Darlehen, Lizenzen und sonstigen Ressourcen des öffentlichen Sektors entscheiden. Je mehr soziales Kapital über die Chancen der Akkumulation ökonomischen Kapitals entscheidet, desto stärker ist die klientelistische Strukturierung des staatlichen Feldes. Klientelbeziehungen unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Institutionalisierung und Rationalisierung. Der Umfang des Austausches und seine Beständigkeit variieren ebenso wie der Grad der persönlichen Verpflichtung, gemessen an dem Verhältnis affektiver und emotionaler gegenüber instrumentellen und kalkulierten Bindungen (Eisenstadt/Roniger 1984: 41). Mit der Ausdifferenzierung ökonomischer und politischer Sphären spezialisiert sich auch die Ressourcenbasis der Akteure, so dass sich die Tauschbeziehungen auf spezifische Hilfen verengen. Klientelbeziehungen haben ferner instabilen und konfliktiven Charakter, wobei das Ausmaß der wechselseitigen Abhängigkeit und persönlichen Loyalität über die konkreten Machtbalancen zwischen Patron und Klient entscheiden. Je schwächer symbolische Bezüge religiöser, lokaler oder ethnischer Art sind, die den klientelistischen Tausch verkleiden, desto größer die Instrumentalisierbarkeit von Bündnissen und die Flexibilität von Allianzen. Verschiedene Patrone konkurrieren dann um ökonomische Ressourcen und Klienten, während die Klienten um denjenigen Patron konkurrieren, der am meisten zu bieten hat (Landé 1977: xxviii). Die Willkür der Big Men, welche Patronage praktizieren, ist daher auch funktional zur Steuerung von Klientelketten und um einzelne zu mächtig werdende Klienten gegeneinander auszuspielen. Darüber hinaus ist die ökonomische Aneignung ein zentrales Kennzeichen patrimonialer Praktiken. Sie liegen vor allem immer dann vor, wenn öffentliche Ämter als privat nutzbare ökonomische Chancen behandelt werden (Weber 1980: 137). Dieser Tatbestand ist für Weber gleichbedeutend mit einer Aneignung des Amtes, was er als „Appropriation“ (ebd. 598) bezeichnet. Hinter dem Begriff der Appropriation verbergen sich verschiedene Formen privater ökonomischer Verfügung. Sie lassen sich auf das ganze Spektrum der Erschließung und Ausbeutung von Einkommensquellen beziehen, von dem spontanen individuellen Erwerb über die kollektive Akkumulation bis zur organisierten Redistribution ökonomischen Kapitals. Das staatliche Feld bietet allen Akteuren Chancen zur Akkumulation ökonomischen Kapitals und die Amtsinhaber ziehen aus ihren Positionen alle Arten von Gewinn (Bourdieu 1997: 62f).
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Das betrifft zunächst die Behandlung öffentlicher Haushalte als privat nutzbaren Bestandteil des eigenen Vermögens und dementsprechende Praktiken der Unterschlagung und des illegalen Zugriffs auf staatliche Budgets. Denn der Staat konzentriert ökonomisches Kapital und die zur Durchführung seiner Aufgaben notwendigen sachlichen Betriebsmittel (Weber 1980: 823f; Bourdieu 1998: 100). Die Strategien materieller Reproduktion lassen sich ferner nach unterschiedlichen Positionen und formalen Kompetenzen im staatlichen Feld differenzieren. Die Akteure können je nach ihrer Position sowohl bei der legislativen Ausgestaltung und Verabschiedung von gesetzlichen Regeln im politischen Feld als auch bei ihrer Umsetzung und Geltendmachung im bürokratischen Feld profitieren (Scott 1972: 23). Das betrifft zunächst den Umstand, dass die Akteure selektiv private wirtschaftliche Aktivitäten begünstigen und eigene Firmen oder die ihrer Klienten fördern. Aber auch indem sich die Akteure ihre Amtshandlungen als Produkt freien Beliebens bezahlen lassen, erweist sich die Ausübung öffentlicher Funktionen als Quelle der Bereicherung. Die Möglichkeit politische Entscheidungen durchzusetzen oder zu verschleppen, Verwaltungsvorgänge zu beschleunigen oder zu verzögern, ist das Einfallstor für ein breites Spektrum informeller Abgaben und Gebühren. Um Vorteile zu erlangen oder Kosten zu umgehen werden behördliche Genehmigungen, Gerichtsurteile oder politische Entscheidungen gekauft. Dies kann bis zur allgemeinen Kommodifizierung öffentlicher Güter reichen, bei der sämtliche staatlichen Leistungen zur käuflich erwerbbaren Ware werden. Die diesbezüglichen Praktiken zum Erwerb ökonomischen Kapitals reichen von der Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung über Unterschlagung, Veruntreuung und Hinterziehung bis zur verschleierten oder offenen Erpressung.20 Die Verallgemeinerung dieser Praktiken durch die Etablierung standardisierter Tarife für Bestechungsgelder und faktisch garantierter Chancen auf Aneignung wirkt sich auch auf den Wert einer Position im Feld aus. Die zu erwartenden Bestechungssummen und Möglichkeiten der Bereicherung auf einer Position im staatlichen Feld bestimmen den Wert dieser Position. Die Investition ökonomischen Kapitals in den Kauf lukrativer Ämter ist die Folge, die dann systematisch ausgebeutet werden, um weiteres ökonomisches Kapital zu akkumulieren. Der Ämterkauf stellt ein fortgeschrittenes Stadium der Appropriation dar.21 Mit dieser
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Zu einer Phänomenologie dieser gemeinhin unter dem Stichwort „Korruption“ diskutieren Aneignungsweisen vgl. Scott (1972); Rose-Ackerman (1999); Della Porta/Vannucci (1999) und Höffling (2002). Nach Weber (1980: 135, 580ff) ist der Ämterkauf das spezifische Merkmal der klassisch patrimonialen Herrschaft und historisch die Vorstufe zur Erblichkeit von Ämtern und damit zum Feudalismus.
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Institutionalisierung geht dann in der Regel die Etablierung von Klientelnetzwerken einher, in denen über die systematische Zu- und Verteilung von Ressourcen ökonomisches und soziales Kapital reproduziert wird und wo die Patrone die Aneignungspraktiken ihrer Klienten nicht nur tolerieren, sondern auch fördern (Scott 1972: 64). Big Men an der Spitze protektionieren und überwachen distributive Netzwerke, in denen neue Teilnehmer sozialisiert, Abweichler sanktioniert und Ressourcen über verschiedene Ebenen bis zur Spitze kanalisiert werden. Das Ergebnis ist die generalisierte Korruption. Im Habitus der Akteure werden die Positionen des staatlichen Feldes vor allem als Chance auf Erwerb wahrgenommen. Die politisch Herrschenden sind typischerweise auch die wirtschaftlich Mächtigen, die sich überall dort als strategische Gruppen formieren, wo sich Chancen auf Aneignung eröffnen (Evers/Schiel 1988).
Fazit Der Staat, so lässt sich resümieren, kann soziologisch als ein Handlungsfeld aufgefasst werden, dessen Funktionsweise und Wandel von den habitualisierten Praktiken der Akteure bestimmt wird. Dabei gelten im Feld des modernen Staates legale, formal gesatzte Regeln. Der Habitus der Akteure in diesem Feld orientiert sich jedoch immer nur ungefähr an den formalen Regeln und alle Akteure verfügen bei ihrer Auslegung über einen Handlungsspielraum. Das staatliche Feld zeichnet sich durch eine implizite Unbestimmtheit und einen strategischen Spielraum für die Akteure aus. Ausnahmen und Abweichungen von den formalen Regeln sind daher fester Bestandteil der Praxis im staatlichen Feld. Die dortigen Praktiken lassen sich aus der Bedeutung und dem relativen Gewicht einzelner Kapitalsorten, den Spielregeln des Feldes und Habitusformen erschließen. Einmal etablierte Praktiken neigen aufgrund des Habitus der Akteure zur Kontinuität. Als eine mögliche Form der Praxis lassen sich patrimoniale Praktiken bestimmen. Je mehr die formalen Regeln im Feld umgangen und obstruiert werden und sich ihre Missachtung verallgemeinert, desto größer die Tendenz zu patrimonialen Praktiken der Machtbildung. Diese Praktiken lassen sich anhand der Figur des Big Man, dem Klientelismus und den Formen ökonomischer Aneignung weiter analytisch und begrifflich differenzieren. Das Vokabular dieses soziologischen Verständnisses lässt sich auch auf konkrete Formen des Staates beziehen und erlaubt es, Funktionsweise und Wandel von Staaten in einer einheitlichen Theoriesprache zu beschreiben und zu erklären. Das folgende Kapitel leitet von den allgemeinen theoretischen Erörterungen zu einer solchen konkreteren Bestimmung staatlicher Herrschaft über und hat die Aufgabe, die vorangegangenen Konstruktionen um eine empirische An-
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schauung zu erweitern. Zu diesem Zweck muss wieder der Bogen zu den eingangs skizzierten Annahmen geschlagen werden. Am Anfang dieses Teils wurden die modernisierungstheoretischen Ausgangspunkte dieser Arbeit und zentrale Annahmen über den Staat in der Weltgesellschaft dargelegt. Diese Annahmen wurden auf die These der Hybridität des Staates in Osteuropa zugespitzt. Diese These soll im folgenden Kapitel, auf der Grundlage des entwickelten soziologischen Staatsverständnisses, zu einer Erklärungsskizze über die Struktureigentümlichkeit des Staates in Osteuropa erweitert werden. Diese Skizze versteht sich als ein knapper theoretischer Entwurf, in dem die Formierung und Besonderheit des Staates in Umrissen dargelegt wird. Er stellt eine komprimierte Zusammenfassung der theoretischen Kernargumentation dieser Arbeit dar und hat zugleich den Charakter einer Hypothese.
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Staatliche Herrschaft in Osteuropa
Die Staaten Südosteuropas und Eurasiens, so die Grundthese, zeichnen sich durch die widersprüchliche gleichzeitige Geltung traditionaler und moderner Handlungslogiken aus. Ihre Spezifik erschließt sich dabei aus der vorsozialistischen und sozialistischen Geschichte. Für die historische Entwicklung staatlicher Herrschaft in Osteuropa gilt dasselbe wie in anderen Regionen der Weltgesellschaft, nämlich der untrennbare Zusammenhang von globalen Prozessen und lokalen Traditionen. Es ist das Kennzeichen der Staatsbildung in Südosteuropa und Eurasien, dass sie von Anfang an durch die Entwicklung des internationalen Systems mitbestimmt wurde. Von den Dynamiken der Reiche, namentlich der Kontraktion des Osmanischen und der Expansion des Russischen Reiches, über die Formierung der Sowjetunion und ihres hegemonialen Einflusses in Südosteuropa bis zum Niedergang der sozialistischen Zweiten Welt und der Dekolonisation auf dem Gebiet der Sowjetunion haben sich globale und lokale Prozesse miteinander verschränkt und in staatlichem Strukturwandel ausgeprägt. Die politische Geschichte der Staatsbildung in Südosteuropa und Eurasien ist daher auch die Geschichte staatlicher Außenabhängigkeit (Berend 1996; Janos 2000). In der Mehrzahl der sozialistischen Staaten wurde das Projekt der „‚nachholenden Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit‘“ (Siegelberg 2000: 36) zur zentralen politischen Herausforderung. Denn der sozialistische Staat hatte sich vornehmlich in traditionalen Kontexten etabliert. Regionen wie der Balkan, der Kaukasus oder Zentralasien aber auch Russland hatten vor dem Sozialismus keine Phase der bürgerlich-kapitalistischen Modernisierung und rationalen Staatsbildung durchlaufen. Daher brachte hier erst der Sozialismus den entscheidenden Modernisierungsschub. Er führte in vielen Regionen zum ersten Mal zu
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einer Umwälzung traditionaler Gemeinschaften. Jedoch gelang es ihm dabei nicht, traditionale Formen überall vollständig zu zerschlagen. Zugleich hatte die politische und wirtschaftliche Ordnung des Sozialismus, die sich als Herrschaft „charismatischer Weltanschauungsparteien“ beschreiben lässt, selbst de-modernisierende Effekte. Zwar forcierten die kommunistischen Parteien einen breiten sozialen Wandel. Im Parteistaat kam es jedoch zu keiner Ausdifferenzierung eines eigengesetzlichen politischen, bürokratischen und ökonomischen Feldes. Mit den mangelnden autonomen Sphären blieb auch eine formale Rationalisierung des Staates unvollständig. Dies begünstigte eine Reihe nicht-intendierter patrimonialer Praktiken, die der Logik traditionaler Gemeinschaften entsprachen. Diese Praktiken waren in nahezu allen Staaten des Ostblocks zu beobachten. Sie haben sich jedoch, so die These, vor allem dort ausgeprägt, wo bereits vor der Etablierung des Sozialismus nur in Ansätzen eine Umwälzung traditionaler Gemeinschaften stattgefunden hatte. Dies ist vor allem in Südosteuropa und Eurasien der Fall gewesen. Einerseits wurden hier im Zuge des erstmalig angestoßenen sozialen Wandels traditionale Strukturen zum Teil nur unvollständig aufgehoben, andererseits etablierten sich neue Traditionalismen, um die Umbrüche und Verwerfungen der autoritären Modernisierung abzufedern. Teils als Kontinuität lokal-traditionaler Formen, teils als Erfindung von Neo-Traditionalismen, haben sich hier traditionale und moderne Elemente zu einem „patrimonialen Sozialismus“ verschränkt. Die Personalisierung durch die obersten Parteisekretäre, Patronage und die Bedeutung sozialen Kapitals in der Partei sowie die Verflechtung der Bürokratie mit der informellen Wirtschaft und die illegale Aneignung ökonomischen Kapitals waren zentrale Kennzeichen des patrimonialen Sozialismus. Die patrimonialen Praktiken wurden jedoch nicht vorherrschend und stießen in der Parteiherrschaft auf unterschiedliche Widerstände. Mit dem Zerfall des Sozialismus haben die Staaten einen Prozess der Transformation durchlaufen, der gesellschaftlichen Differenzierungslogiken folgt. Die Ausdifferenzierung von Politik, Ökonomie und Verwaltung als autonome soziale Sphären mit unterschiedlichen Reproduktionsmodi ist das zentrale Projekt des Systemwechsels. In vielen Staaten Südosteuropas und Eurasiens ist dieser Differenzierungsprozess jedoch unvollständig geblieben. Zwar verschwanden die offiziellen Institutionen der alten Regime, die flexiblen patrimonialen Praktiken haben jedoch vielerorts das Ende des Sozialismus überdauert. Denn der nichtrevolutionäre Charakter der Transformation hatte Kontinuitäten in den politischen Eliten und im bürokratischen Personal und damit auch Kontinuitäten in den Habitusdispositionen und Praktiken der Akteure zur Folge. Zugleich wandelten sich die objektiven Bedingungen des staatlichen Feldes. Der Prozess der Transformation lässt sich als Zerfall von Herrschaft und massive
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De-Institutionalisierung von Machtbeziehungen verstehen. Der Kollaps der alten Ordnung eröffnete den politischen Akteuren daher überall neue Opportunitäten im Kampf um Positionen im staatlichen Feld. Die Redistribution und Aneignung ökonomischen Kapitals im Zuge der Privatisierung der Staatswirtschaft ging einher mit der Aufwertung sozialen Beziehungskapitals und hatte zugleich die Entwertung kulturellen Kapitals zur Folge, das im Sozialismus einen hohen Tauschwert besessen hatte. Die Transformation lässt sich als eine Restrukturierung des staatlichen Feldes interpretieren, um neue Kapitalverteilungen und Machtbalancen durchzusetzen. Das Ergebnis ist die Fortsetzung und zugleich Verallgemeinerung patrimonialer Praktiken. Sie sind Bestandteil des Aufbaus neuer Machtbeziehungen und ihrer Institutionalisierung zu Herrschaft geworden und präfigurieren damit die groben Verläufe der post-sozialistischen Transformationspfade. Anhand von drei Tendenzen lässt sich diese pfadabhängige Patrimonialisierung beobachten: Der Personalisierung der staatlichen Führung, der Expansion klientelistischer Netzwerke sowie der Kriminalisierung des Staates. In den Staaten Südosteuropas und Eurasiens prägen sich diese Tendenzen jedoch unterschiedlich stark und in divergierenden institutionellen Kontexten aus. Sie stellen weder eine gleichmäßige Bewegung dar noch mündeten sie in eine einheitliche politische Form. Die post-sozialistischen Staaten haben mehrheitlich hybriden Charakter. Sie haben einerseits im Sozialismus eine relativ weitreichende Modernisierung erfahren. Daher besitzen sie ein ausgeprägtes bürokratisches Moment und verfügen mit weit reichenden Verwaltungsapparaten über eine hohe gesellschaftliche Präsenz. Andererseits haben sich im Feld vieler Staaten patrimoniale Praktiken verallgemeinert. Sie prägen die politische Herrschaft ebenso wie die Verwaltung, so dass sich dort eigengesetzliche öffentliche und private Sphären nur bedingt ausdifferenziert haben. Die Staaten Osteuropas lassen sich daher als bürokratischpatrimonial bezeichnen. Mit den in diesem Teil entwickelten theoretischen Begrifflichkeiten und den ebenfalls skizzierten Grundannahmen zum Staat in Osteuropa liegen wesentliche Elemente des theoretischen Rahmens vor. Um ihn zu vervollständigen sind jedoch noch weitere Schritte vonnöten. Aufgabe der noch verbleibenden Teile ist es, die obige Skizze zu einer Strukturgeschichte des Staates auszuformulieren, um auf dieser Grundlage die Spezifik politischer Herrschaft in Osteuropa in Form eines Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staates zusammenzufassen. Schließlich soll dieser Typus in empirischen Fallstudien plausibilisiert werden. Bevor dies geschehen kann, sind jedoch einige methodische Überlegungen vonnöten, die sich auf die weitere Vorgehensweise beziehen. Sie sind Gegenstand des folgenden Teils.
III Methodische Umsetzung Methodische Umsetzung
Gegenstand dieses Kapitels sind methodische Ausführungen zu den verbleibenden theoretischen und empirischen Teilen der Arbeit. Die methodische Umsetzung bezieht sich also hier sowohl auf weitere theoretische Konstruktionen als auch auf empirische Operationalisierungen. Dabei werden verschiedene Aspekte behandelt. Zunächst gilt es auf einige methodologische Probleme einzugehen, die sich auf grundlegende wissenschaftstheoretische Ausgangspunkte beziehen. Das betrifft mit Blick auf den Gegenstand dieser Arbeit Möglichkeiten und Grenzen von Erklärungen, wie sie im Rahmen des deduktiv-nomologischen Paradigmas angestrebt werden. Alsdann soll der eigene Erklärungsanspruch expliziert werden, um dann den weiteren Aufbau zu erläutern und zu begründen. Dies soll anhand der unterschiedlichen Struktur und Logik der verbleibenden Teile IV und V geschehen, in denen die strukturgeschichtliche Weiterentwicklung des theoretischen Rahmens sowie empirischen Fallstudien im Mittelpunkt stehen. Die Vorgehensweise in diesen Teilen und die damit verbundenen Schritte, das zugrunde liegende empirische Material und die jeweils angewandte Methode werden im Einzelnen dargelegt. Dem deduktiv-nomologischen Wissenschaftsideal zufolge besteht das Ziel sozialwissenschaftlicher Forschung darin, gesellschaftliche und politische Phänomene erstens zu beschreiben und zweitens zu erklären. Alle sozialwissenschaftlichen Erklärungen von Phänomenen setzten zunächst notwendig ihre korrekte und gute Beschreibung voraus (King et al. 1994: 34-74; Gerring 2001: 122ff). Erklärungen sind jedoch das eigentliche Ziel der Forschung. Erklärung bedeutet „Zurückführen“, also das zu erklärende Phänomen als die Folge bestimmter Ursachen zu erkennen (Wienold 2000: 33f, 56ff). Erklärungen basieren nach dem herrschenden Wissenschaftsverständnis immer auf kausalen Schlussfolgerungen (King et al. 1994: 75, Anm. 1). Dabei erschließen sich Kausalitäten durch die Überprüfung vermuteter Merkmalszusammenhänge zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen (ebd. 75-114; Gerring 2001: 128ff). Fundierte Erklärungen kommen demzufolge nur durch systematische empirische Tests von theoretisch begründeten Hypothesen zustande (vgl. King et al. 1994: 75ff; Diekmann 2007: 100ff). Dieses voraussetzungsreiche Programm lässt sich in der wissenschaftlichen Forschungspraxis und auch in dieser Arbeit nicht leicht umsetzen.
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Methodische Umsetzung
Zunächst einmal ergibt sich hier sowohl aus der Reichweite des theoretischen Entwurfs als auch aus dem mangelhaften empirischen Material eine Reihe von Einschränkungen. Die in Umrissen bereits angedeutete Erklärung zur Entwicklung und Besonderheit des post-sozialistischen Staates umfasst nicht nur einen großen historischen Zeitraum, sondern sie bezieht sich mit Südosteuropa und Eurasien auch auf mehrere Regionen. Zugleich ist das empirische Material für diesen Gegenstandsbereich ungenügend und lückenhaft. Die Transformationsforschung hat sich bislang auf wenige empirische Fälle in Mittelosteuropa konzentriert (s.o. Teil I und Tabelle 1). Mangelnde Sprachkenntnisse, kulturelle Barrieren, die Schwierigkeit Daten zu erlangen und persönliche Interessen mögen u.a. hierfür ausschlaggebend gewesen sein. Solche praktischen Zweckmäßigkeitserwägungen sind vertretbar, nur sind sie keine Kriterien für die Entwicklung guter Theorien und Forschungsdesigns (Gerring 2001: 29f). Die Orientierung von Frage- und Problemstellungen an den zur Verfügung stehenden Daten gleicht dem, was Abraham Kaplan als den Spaziergänger in der Nacht bezeichnet, der seinen verlorenen Hausschlüssel fortwährend unter der erstbesten Straßenlaterne sucht, weil es dort am hellsten ist (Kaplan 1964: 11). Das hat zur Folge, dass für die Politik der zeitgenössischen peripheren Staaten in Osteuropa in der Regel wenig Datensätze verfügbar sind, auf die sich diese Arbeit in Form von Sekundärliteratur stützen könnte. Das gleiche Problem stellt sich jedoch auch für die Geschichte der sozialistischen Staaten, allerdings aus einem anderen Grund, nämlich weil der Kalte Krieg und die Blockkonfrontation empirische Recherchen in Osteuropa grundsätzlich erschwert oder unmöglich gemacht haben. So existieren zwar diverse Arbeiten über „den“ Sozialismus. Über die Geschichte einzelner sozialistischer Balkanstaaten oder Sowjetrepubliken ist jedoch wenig bekannt. Auch hier kann also kaum auf bereits bestehende Datensätze zurückgegriffen werden. Sowohl für die Geschichte als auch die Gegenwart der Staaten Südosteuropas und Eurasiens liegt wenig empirisches Material vor. Eine wesentliche Aufgabe dieser Arbeit bestand somit darin, verstreutes Material zusammenzutragen, um die Dinge überhaupt erstmal zu beschreiben. Dafür musste ein Großteil von empirischen Datensätzen vorab in Feldforschungen produziert werden. Nun kommt auch diese Arbeit nicht ohne praktische Zweckmäßigkeitserwägungen aus, was sich vor allem auf zwei knappe Ressourcen bezieht, nämlich Zeit und Geld. Insbesondere die Feldforschungen zur Produktion von Datensätzen erwiesen sich inklusive Vorbereitung und Auswertung als zeitaufwendig und kostenintensiv. Die hier erbrachten Ergebnisse sind daher notwendig lückenhaft. Sie können das bestehende Wissensdefizit zu den Staaten Südosteuropas und Eurasiens nicht ausgleichen. Diese Einschränkungen in Bezug auf das empirische
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Material unterwerfen systematische Tests von Hypothesen von vornherein Restriktionen. Neben diesem Aspekt, der sich aus dem Gegenstand der vorliegenden Arbeit ergibt, sind jedoch auch die methodologischen Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die aus dem deduktiv-nomologischen Paradigma folgen. Das bezieht sich auf den Anspruch, die Dinge nicht nur beschreiben, sondern vor allem auch ursächlich erklären zu wollen. Das erklärte Ziel der deduktiv-nomologischen Wissenschaft ist es, durch die systematische empirische Überprüfung von Hypothesen zu kausalen Erklärungen zu kommen. Der eindeutigen Identifizierung von kausalen Zusammenhängen sind jedoch aufgrund des nicht-experimentellen Charakters der meisten sozialwissenschaftlichen Arbeiten in vielerlei Hinsicht Grenzen gesetzt (Lieberson 1985). Das hat Folgen für ihren Erklärungsanspruch. Lieberson zufolge kommt es darauf an, die Frage nach der Existenz bestimmter Phänomene von der Frage nach ihren Ursachen zu entkoppeln (ebd. 152f, 161f, 219f). Wenn eine Theorie das Auftreten bestimmter Ereignisse unter bestimmten Bedingungen behauptet, besteht ein legitimes Ziel darin zu prüfen, ob dies tatsächlich stimmt. Die Ursache dieses Auftretens ist dann noch eine andere Frage (ebd. 220): „Empirical data can tell us what is happening far more readily than they can tell us why it is happening (ebd. 219, Hervorh. i.O.)“. Die Grenzen kausaler Erklärungen werden auch bei der Frage nach den Ursachen der unterschiedlichen post-sozialistischen Transformationspfade in Osteuropa deutlich (vgl. Kitschelt 2003: 51ff). Ein weiteres Problem deduktiv-nomologischer Forschung besteht in der Vorgehensweise, Beobachtungsgegenstände als Variablen aufzufassen, um auf diese Weise eine präzise empirische Referenz zu gewinnen. Denn variablenorientierte Ansätze vernachlässigen Ereignisse, Zufälle und Spontanität, die aus dem Handeln von Akteuren resultieren (vgl. Abbott 1992). Für den hier vertretenen theoretischen Ansatz, der die Praktiken von Akteuren zentral setzt, kann die Beobachtungssprache der Variablen daher kein geeigneter Ausgangspunkt sein. Das Problem variablenorientierter Ansätze besteht jedoch auch darin, dass sie beobachtete Variablen in der Regel von ihrem historischen Kontext entkleiden und die Zusammenhänge zwischen ihnen als fixiertes Gefüge auffassen (Pierson 2004: 1f). Die diesbezüglichen Arbeiten sind typischerweise eine Momentaufnahme politischer Systeme und haben nur einen kurzen Zeithorizont (ebd. 96102). Diese Vorgehensweise kann jedoch nicht soziale Prozesse und Dynamiken fassen. Das gilt auch für alle Analysen staatlicher Herrschaft, denn die Wirklichkeit des Staates erschließt sich nicht aus dem Zusammenhang zwischen statischen Variablen, sondern aus der Prozesshaftigkeit von Institutionen (vgl. Migdal 2001: 23f; Schlichte 2005: 47ff).
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Eingedenk der skizzierten Probleme kommt in dieser Arbeit eine gegenstandsadäquate Methode zur Anwendung, die in ihrer Verknüpfung von theoretischen Konstruktionen und empirischen Fallanalysen der Logik qualitativer Forschung folgt (vgl. Kalthoff et al. 2008).1 Dabei soll wie folgt vorgegangen werden: zunächst gilt es vor dem Hintergrund der bereits erbrachten theoretischen Konstruktionen und skizzierten Grundannahmen den theoretischen Bezugsrahmen weiterzuentwickeln. Dies soll in Form einer Strukturgeschichte passieren, die es am Ende erlaubt, die Besonderheit des post-sozialistischen Staates in einem Realtypus zusammenzufassen. Dieser historisch hergeleitete Realtypus soll dann in einem zweiten Schritt in Fallstudien zu zeitgenössischen, post-sozialistischen Staaten exemplifiziert und empirisch plausibilisiert werden. Dabei werden auf der Grundlage des begrifflich ausdifferenzierten theoretischen Rahmens schlüssige Interpretationen von Fällen angestrebt, die bestimmte Erklärungen nahe legen und andere ausschließen. Dieser Herangehensweise entspricht die weitere Gliederung der Arbeit in einen historisch-systematischen und einen empirischen Teil, die sich in ihrer Struktur und Funktion unterscheiden. Wie in diesen beiden Teilen genau vorgegangen wird, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.
Vorgehensweise und Methode in Teil IV Eine Theorie des post-sozialistischen Staates kann nur eine historisch differenzierte sein. Teil IV versteht sich als eine Strukturgeschichte des Staates in Osteuropa. Die Aufgabe dieses Teils ist es, die historische Genese und den Wandel des Staates im Wege einer prozesssoziologischen Analyse herauszuarbeiten.2 Ziel ist es, über unterschiedliche historische Prozessstufen hinweg Entwicklungssequenzen zu rekonstruieren und dabei Kontinuitäten und Brüche deutlich zu machen. Dies soll auf der Grundlage des bereits entwickelten soziologischen Verständnisses geschehen. Unter Staatsbildung wird hier also die Formierung eines staatlichen Feldes sowie die Ausbildung und Transformation spezifischer Praxisformen verstanden. Als grobe Strukturierung des Teils IV dient die Konzeption unterschiedlicher Temporalitäten von Fernand Braudel, der drei verschiedene Zeitläufe von langer, mittlerer und kurzer Dauer unterscheidet (Braudel 1972: 191ff). Die Vor-
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Zur Notwendigkeit Methoden an den Forschungsgegenstand anzupassen siehe schon Adorno (1969: 130). Vgl. zur prozesssoziologischen Methode Elias (1977); George/Bennett (2004: 205-232) und Schlichte (2005: 48-58).
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gänge langer Dauer, die „longue durée“ (ebd. 194) oder die Zeit der Strukturen hebt auf Kontinuitäten und Gleichförmigkeiten ab, die sich über mehrere Generationen und Jahrhunderte erstrecken. Dagegen umfassen die Vorgänge mittlerer Dauer oder die Zeit der Konjunkturen nur mehrere Jahrzehnte. Schließlich gibt es die Vorgänge kurzer Dauer oder die „histoire événementielle“, die von dem „Drama der ‚großen Ereignisse‘“ (ebd. 192) gekennzeichnet sind. Nach diesem Verständnis lässt sich auch die Formierung des Staates in Osteuropa in drei analytisch zu unterscheidende Zeitlichkeiten zerlegen, nämlich in die Prägung der vorsozialistischen Traditionen und ihren langfristigen sozialen Wandel, in eine mittlere Dauer des Sozialismus und der dort entwickelten Institutionen sowie in den Kollaps des Sozialismus und die kurzfristigen Effekte, die sich aus den Umbrüchen der Transformationsphase ergeben. Erst aus der Zusammenschau dieser mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten verlaufenden und sich überlagernden Temporalitäten langer, mittlerer und kurzer Dauer werden der Wandel und die Historizität des Staates in Osteuropa wirklich erkennbar.3 Dieses Schema liegt auch der Gliederung des Teils IV zugrunde. Dabei werden drei Prozessstufen oder historische Formationen unterschieden, nämlich die historischen Bedingungen vor dem Sozialismus im 19. und 20. Jahrhundert, die Phase des Sozialismus und die gegenwärtige Transformation. Das Modell der verschiedenen Differenzialzeiten erlaubt es jedoch nicht die einzelnen Temporalitäten kausal zu gewichten und ihre Relevanz abzuschätzen. Es sind daher weitere Schritte vonnöten, um den historischen Zusammenhang zwischen der vorsozialistischen und der sozialistischen Phase, sowie zwischen letzterer und der Gegenwart deutlich zu machen. Aufgabe des Teils IV ist es, strukturelle Besonderheiten der jeweiligen Prozessstufen herauszuarbeiten und dabei kausale Verknüpfungen zu plausibilisieren. Im ersten Kapitel geht es um die Voraussetzungen des Sozialismus (IV.1). Denn für die Beurteilung der Spezifik sozialistischer Staaten ist ihre politische Geschichte vor dem Sozialismus zentral. Wenn man sich für das Funktionieren des Staatssozialismus interessiert, muss man zu seinen Anfängen zurückkehren (Segert 2002: 70). Es ist die These dieser Arbeit, dass sich der sozialistische Staat in überwiegend traditionalen Kontexten etabliert hat. In vielen peripheren Regionen Osteuropas ist eine vorsozialistische Modernisierung weitgehend ausgeblieben oder nur in Ansätzen erfolgt. Aufgabe von Kapitel IV.1 ist es, diese historischen Bedingungen zu umreißen. Dies soll hier in Bezug auf die Regionen
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Diese Konstellation kann wiederum selbst nur als Momentaufnahme gelten, denn die mit der Transformation produzierten kurzfristigen Effekte werden mit der Zeit selbst Bestandteil von längerfristigen Prozessen und damit zur historischen Voraussetzung weiterer Entwicklungen (Kollmorgen 2003: 39).
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Südosteuropa und Eurasien geschehen. Dabei werden die groben Verläufe und Ergebnisse der vorsozialistischen Modernisierung in diesen drei Regionen in vergleichender Perspektive skizziert. Dies kann hier nur in sehr verkürzter, knapper Form geschehen. Es geht darum zu zeigen, dass sich trotz regionaler Unterschiede Strukturähnlichkeiten der traditionalen Grundlagen in den Peripherien Osteuropas identifizieren lassen. Basis dieses Arbeitsschrittes sind ausgewählte regionalspezifische Sekundärliteratur und zusammenfassende historische Darstellungen, die es erlauben, sich einen groben Überblick über die Geschichte dieser Regionen im 19. und 20. Jahrhundert zu verschaffen. Im anschließenden zweiten Kapitel steht der sozialistische Staat im Mittelpunkt (IV.2). Hier geht es darum, die Besonderheiten des sozialistischen Staates unter Rückgriff auf die entwickelten theoretischen Begrifflichkeiten und weitere theoretische Aspekte der politischen Soziologie Max Webers herauszuarbeiten. Im sozialistischen Staat, so das Kernargument dieses Kapitels, haben sich diverse patrimoniale Praktiken ausgebildet, die sich als patrimonialer Sozialismus bezeichnen lassen. Dieser patrimoniale Sozialismus hat sich, so die These dieser Arbeit, vor allem dort ausgeprägt, wo sich der sozialistische Staat zuvor in traditionalen Kontexten etabliert hat. Es gibt daher einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den traditionalen Voraussetzungen der sozialistischen Staaten und ihrer späteren Patrimonialisierung.4 Die Lückenhaftigkeit der Daten zur Geschichte des Sozialismus erlaubt es jedoch nicht, diesen Zusammenhang systematisch zu belegen. Er lässt sich hier jedoch ein Stück weit plausibilisieren. Zu diesem Zweck werden die Ausführungen zum patrimonialen Sozialismus mit Hinweisen auf Ausprägungen in einzelnen Regionen und Ländern versehen. Das diesem Unterkapitel zugrunde liegende Material ist aus diversen Quellen zusammengetragen worden. Länderstudien zu einzelnen Sowjetrepubliken, regionalbezogene Arbeiten zum Kaukasus, Balkan und Zentralasien sowie verstreute Beobachtungen aus Arbeiten über die sozialistischen Regime stellen die empirische Grundlage dieses Kapitels dar. Das dritte Kapitel widmet sich den Umbrüchen und Dynamiken, die sich aus der post-sozialistischen Transformation ergeben (IV.3). Dabei ist die Annahme leitend, dass die bereits im sozialistischen Staat ausgebildeten informellen
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Die einzelnen Republiken der Sowjetunion werden insofern hier als eigenständige sozialistische Staaten behandelt, obwohl sie im föderalen Sowjetsystem nur über eine formale, jedoch keine faktische Unabhängigkeit verfügten. Dennoch entwickelten die Sowjetrepubliken in der nach-stalinistischen Zeit ein zunehmendes Eigenleben mit lokalen Bürokratien, Interessen und kulturellen Identitäten. Diese staatliche Konsolidierung präfigurierte dann auch den Zerfall der Sowjetunion entlang ihrer inneren Republikgrenzen. Alle international anerkannten heutigen Staaten Eurasiens waren zuvor sowjetische Republiken.
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Praktiken das Ende seiner formalen Institutionen überdauert haben. Sie setzen sich in veränderter Form im heutigen, post-sozialistischen Staat fort und präfigurieren damit die Pfade der staatlichen Transformation. Die Transformation des Staates in Osteuropa, so die These, lässt sich daher als ein pfadabhängiger Prozess der Patrimonialisierung fassen. Diese Erklärung gründet auf Theorien der Pfadabhängigkeit, wie sie zuletzt in neueren Arbeiten des historischen Institutionalismus entwickelt worden sind.5 Bei diesen Theorien steht die Dynamik sich selbst verstärkender Prozesse im Mittelpunkt. Pfadabhängigkeit bezieht sich auf Sequenzen, die ein bestimmtes institutionelles Muster reproduzieren (vgl. Pierson 2004: 17f, 21; Mahoney 2000: 511). Jeder Schritt in eine bestimmte Richtung hat Effekte zur Folge, welche die relative Attraktivität des eingeschlagenen Pfades steigern. Aus der Akkumulation dieser Effekte ergeben sich die Pfadabhängigkeit von Prozessen und die Persistenz von Sozialformen. Einmal etabliert, tendieren bestimmte soziale Arrangements zur langfristigen Reproduktion institutioneller Muster, die sich nur noch schwer umkehren lassen (Pierson 2004: 10ff). Diese setzen sich auch dann weiter fort, wenn die Bedingungen, die sie ursprünglich hervorgebracht haben, nicht mehr existent sind (ebd. 11; Mahoney 2000: 515). Nach Pierson sind es vier Aspekte der politischen Arena, die zur Pfadabhängigkeit neigen: Kollektives Handeln, die Entwicklung von Institutionen, die Ausübung politischer Macht zur Verstärkung von bestehenden Machtungleichgewichten sowie soziale Interpretationen (Pierson 2004: 30-40). Unter dem letzten Aspekt versteht Pierson Verständnisse der politischen Welt, ideative Konstrukte und mentale Karten, durch die auf der individuellen und kollektiven Ebene Informationen gefiltert werden (ebd. 38ff). Auf dieses Verständnis von Pfadabhängigkeit soll in Kapitel IV.3 aufgebaut werden. Um Pfadabhängigkeit zu plausibilisieren kommt es jedoch darauf an den sozialen Mechanismus zu benennen, der einen bestimmten Pfad verstärkt und ein Muster reproduziert (ebd. 49; Beyer 2006: 13). Solche Mechanismen sind als kausale Mechanismen zu begreifen, die sich auf Ursachen und Konsequenzen von Handlungen beziehen. Kausale Mechanismen müssen durch das Handeln von Akteuren laufen (Hedström/Swedberg 1998: 24).6 Gemäß der oben entwickelten theoretischen Konzeption soll im Folgenden der soziale Habitus der Akteure als solch ein kausaler Mechanismus verstanden werden. Der Habitus als ein System von erworbenen dauerhaften Dispositionen umfasst Wahrnehmungs-,
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Vgl. Mahoney (2000) und Pierson (2004) und die dort zitierte weitere Literatur. Zum Prinzip kausaler Mechanismen vgl. auch Gerring (2001: 195-197) und George/Bennett (2004: 135-149).
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Bewertungs- und Handlungsmuster, die eine bestimmte Praxis hervorbringen (s.o. II.2). Der Habitus ist zugleich das Produkt gesellschaftlich-historischer Bedingungen. Er wird im Verlauf einer kollektiven Geschichte ausgebildet und im Laufe von individuellen Sozialisationsprozessen erworben. Im Habitus sedimentieren sich kollektiv geteilte Erfahrungen und Wissensformen. Über den praktischen Sinn des Habitus sind den Akteuren etablierte Routinen und Spielregeln eines jeweiligen Handlungsfeldes verinnerlicht. Der soziale Habitus bildet sich in Auseinandersetzung mit der Praxis des Feldes und trachtet zugleich danach, diese Praxis zu reproduzieren. Er ist dabei per definitionem durch Trägheit gekennzeichnet. Neue Wahrnehmungs- und Handlungsmuster des Habitus entwickeln sich nur langsam, so dass der Habitus auch die Bedingungen seiner eigenen sozialen Produktion überleben kann. Er ist zwar nicht unveränderlich, aber dauerhaft und tendiert dazu, etablierte Praktiken zu reaktualisieren. Habitualisierte Praxisformen neigen daher zur Pfadabhängigkeit. Das Habituskonzept kann somit die Persistenz und Reproduktion von sozialen Praktiken und damit auch die Entwicklung von Pfadabhängigkeiten erklären. In der Kontinuität von Habitusformen, so die These dieser Arbeit, liegt ein Schlüssel zur Erklärung der post-sozialistischen Transformation. Wo sich bereits im sozialistischen Staat patrimoniale Praktiken ausgebildet haben, da ist auch ihre Kontinuität in der Gegenwart wahrscheinlich. Denn der Habitus der Akteure reaktualisiert eine etablierte Praxis und verbindet damit als kausaler Mechanismus die sozialistische Vergangenheit mit der post-sozialistischen Gegenwart (vgl. Kitschelt 2003: 59ff). Eingeschliffene Handlungsmuster wurden daher mit dem Systemwechsel zwar transformiert, aber nicht wirklich überwunden. Die Persistenz einer habitualisierten Praxis ist die Folge. Die etablierten patrimonialen Praktiken präfigurieren die groben Verläufe der Transformation der postsozialistischen Staaten. Ihr Transformationsprozess lässt sich daher als eine pfadabhängige Patrimonialisierung rekonstruieren. Es kann nicht die Aufgabe dieses Kapitels sein, Pfadabhängigkeiten für einzelne Regionen, Länder oder institutionelle Bereiche zu rekonstruieren. Auch hier können nur grobe Linien nachgezeichnet werden. Das Kapitel zeigt exemplarisch Zusammenhänge zwischen einzelnen beobachtbaren Prozessmustern und Verläufen der staatlichen Transformation auf und versucht sie in den theoretischen Begrifflichkeiten dieser Arbeit zu interpretieren. Dabei sollen Kontinuitäten in den Praktiken der Macht- und Herrschaftsbildung angedeutet und dadurch Pfadabhängigkeiten plausibilisiert werden. Hierzu wird wiederum exemplarisch auf regional- und fallspezifische Literatur zu Südosteuropa und Eurasien zurückgegriffen. Vor diesem Hintergrund fasst das vierte Kapitel wesentliche strukturelle Merkmale der post-sozialistischen Staaten zusammen. Dabei soll der Realtypus
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des bürokratisch-patrimonialen Staates die Spezifik staatlicher Herrschaft in Südosteuropa und Eurasien auf den Begriff bringen. Dieser aus historischen Konkretionen gewonnene Realtypus bildet neben der bereits entwickelten soziologischen Staatsauffassung das zweite wesentliche Element des theoretischen Bezugsrahmens. Der historisch-systematische Teil IV hat also den Charakter einer strukturund akteursbezogen Erklärung. Er rekonstruiert die Formierung des Staates in Osteuropa als einen strukturgeschichtlichen, langfristigen Prozess in Verbindung mit akteursbezogenen, kausalen Mechanismen (vgl. Kitschelt 2003: 59ff, 80).
Vorgehensweise und Methode in Teil V Teil V basiert auf theoriegeleiteten empirischen Fallstudien mit einem Fokus auf einzelne Fälle (vgl. hierzu auch George/Bennett 2004). Albanien und Georgien stehen dabei als Beispiele zweier zeitgenössischer, post-sozialistischer Staaten im Mittelpunkt. Die Fallstudien sollen die Plausibilität der theoretischen Annahmen über den bürokratisch-patrimonialen Staat erweisen und die Besonderheit dieses Typus anhand konkreten Materials exemplifizieren. Ihr Ziel ist es, die Existenz patrimonialer Praktiken in der Organisationswirklichkeit des post-sozialistischen Staates am empirischen Material nachzuweisen und zugleich genauer zu bestimmen. Die Fallstudien nehmen im Vergleich zum vorherigen Teil in mehreren Punkten eine andere Perspektive auf den Staat in Osteuropa ein. Während zuvor seine historische Formierung in einer Längsschnittanalyse rekonstruiert wurde, wird nun in einer Querschnittsanalyse die Gegenwart zeitgenössischer Staatlichkeit thematisiert, wie sie sich nach dem Ende des Sozialismus entwickelt hat. Statt der Genese von Strukturen stehen nun kurze Kausalketten im Blickpunkt, die sich aus strukturell vorgeprägten Kontexten entwickeln. Zugleich verlässt die Arbeit an dieser Stelle die zuvor eingenommene makropolitische Perspektive und behandelt den Staat jetzt in einer mikropolitischen Perspektive. Die Fallstudien haben qualitativen und explorativen Charakter. Sie beanspruchen nicht eine im strengen Sinn systematische Erklärung der beobachteten Phänomene zu sein, sondern sollen lediglich erweisen, dass sich bestimmte Ereignisse unter bestimmten Bedingungen beobachten lassen (Lieberson 1985: 152f, 161f, 219f). Ihr Ziel ist es, die Logik und Varianz beobachtbarer Praktiken auf der Grundlage des entwickelten theoretischen Verständnisses zu interpretieren und zu plausibilisieren. In der Terminologie von Harry Eckstein sind die Fallstudien „diszipliniert-konfigurative“ Plausibilitätsproben (Eckstein 1975: 99104, 108-113). Darunter versteht Eckstein Fallinterpretationen und Erklärungen
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auf der Grundlage eines explizierten theoretischen Rahmens und seiner Hypothesen. Sie sollen zeigen „that valid theory compells a particular case interpretation and rules out others“ (ebd. 103). Die Erklärungen sind hier auf bestimmte Fälle zugeschnitten, folgen aber für alle Vergleichsgegenstände denselben Schnittmustern (von Beyme 1992: 110f). Die Fallstudien stellen insofern aus dem theoretischen Bezugsrahmen heraus Erklärungen in Bezug auf den jeweiligen Einzelfall dar (vgl. George/Bennett 2004). Zugleich dienen die Fallstudien dazu, die theoretischen Gehalte zu exemplifizieren. Als Plausibilitätsproben sollen sie die Plausibilität der Theorie erweisen und stellen angesichts einer schwierigen empirischen Materiallage eine Vorstufe rigoroserer und aufwendigerer Tests von Hypothesen dar (Eckstein 1975: 108-110). Albanien und Georgien haben in der Transformationsforschung bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden und bilden eine lohnenswerte Ergänzung der dort üblichen Fallauswahl. Beide Länder sind zugleich typische periphere Staaten und stellen insofern mit Blick auf die theoretischen Annahmen dieser Arbeit repräsentative Fälle dar (Gerring 2001: 218f). In der Transformations- und insbesondere der spezialisierten Osteuropaforschung ist eine nach Regionen getrennte Betrachtungsweise gängig. Dies lässt sich zwar durch die jeweiligen regionalen Besonderheiten rechtfertigen. Mögliche interregionale Parallelen und Gemeinsamkeiten bleiben dadurch jedoch verdeckt. Denn nicht allein aus der regionalen Nähe, sondern auch aus der Strukturähnlichkeit politischer Formen ergeben sich sinnvolle vergleichende Perspektiven. Um zu zeigen, dass die These der Patrimonialisierung für verschiedene Subregionen Osteuropas Geltung beanspruchen kann, wurde hier ein regional übergreifendes Sample gewählt. Der Staat in Albanien und Georgien wird in den Fallanalysen gemäß dem oben entwickelten Verständnis als eine politische und bürokratische Ordnung verstanden. Die zentralen Dimensionen der politischen Herrschaft und Verwaltung werden in den Fallstudien zugleich als unterschiedliche Analysefelder gegeneinander abgegrenzt. Von dem Regime oder politischen Feld wird die öffentliche Verwaltung oder das bürokratische Feld unterschieden. Diese Unterscheidung erlaubt es zwei zentrale aber mit unterschiedlichen Eigenlogiken ausgestattete Bereiche des Staates in den Blick zu nehmen. Sie erlaubt es darüber hinaus institutionelle Ungleichzeitigkeiten zu berücksichtigen. Denn im Gegensatz zu den politischen Institutionen haben sich die bürokratischen Apparate und Verwaltungsroutinen in vielen Ländern nach dem Ende des Sozialismus nur langsam gewandelt. In den Fallstudien liegt der analytische Schwerpunkt auf dem bürokratischen Feld. Denn in der Transformationsforschung wurde die staatliche Verwaltung bislang kaum thematisiert. Sie soll daher eingehender und differenziert untersucht werden. Dies kann hier jedoch wiederum nur ausschnitthaft
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passieren. In dieser Arbeit soll dies am Beispiel der Polizei in Albanien und Georgien geschehen. Die Polizei kann grundsätzlich als ein zentraler Bereich des Staates und typischer Teil der öffentlichen Verwaltung angesehen werden. Sie sichert das Gewaltmonopol nach innen, überwacht die Einhaltung staatlicher Rechtsnormen, setzt ihre Geltung durch und verfolgt ihre Verletzung. Die Polizei ist für die öffentliche Ordnung und Sicherheit zuständig und damit Kernmerkmal des Anstalts- und Betriebscharakters des Staates. In Osteuropa hat die Polizei nach dem Ende des Sozialismus eine Phase der institutionellen Neuordnung und Anpassung an westliche Polizeimodelle durchlaufen (vgl. King 1998). Dazu gehörte u.a. die personelle Säuberung, Depolitisierung und Entmilitarisierung der Polizei, die Reform der zuständigen Ministerien, die Schaffung neuer gesetzlicher Grundlagen sowie die Verpflichtung der Polizei auf Rechtsstaatlichkeit. Vor allem in Mittelosteuropa ist dieser Prozess weit vorangeschritten, in vielen Staaten Südosteuropas und Eurasiens dagegen weniger oder gar nicht. Neben der Notwendigkeit der Reform war die Polizei aber auch noch mit anderen Problemen konfrontiert, die aus dem Systemwechsel resultierten. Finanzierungsprobleme, veraltete Ausrüstungen, mangelnde Legitimität und die Kriminalisierung der post-sozialistischen Ökonomien haben vielerorts die Polizei in ihrer Alltagsarbeit vor neue Herausforderungen gestellt.7 Über die Entwicklung und innere Funktionsweise der Polizeidienste nach dem Sozialismus ist wenig bekannt. In der Transformationsforschung hat der Wandel der Polizei bislang so gut wie keine Beachtung gefunden (Favarel-Garrigues 2003b: 18-20).8 Die Arbeit will daher etwas mehr Licht auf die Entwicklung der Polizeikräfte in Osteuropa nach 1991 werfen. Für das Ansinnen, patrimoniale Praktiken in der Verwaltungswirklichkeit des post-sozialistischen Staates nachzuweisen, ist die Polizei aus mehreren Gründen ein geeignetes Untersuchungsfeld. Zunächst einmal kann davon ausgegangen werden, dass sich patrimoniale Praktiken auch in der Arbeit der Gesetzeshüter beobachten lassen müssen, ohne das die Polizei im Vergleich zu anderen Verwaltungsgereichen, wie z.B. den Zoll- und Steuerbehörden, als besonders anfällig für diese Praktiken gelten kann. Daher erlaubt es eine Analyse der Polizei ein repräsentatives Bild der Verbreitung patrimonialer Praktiken in der staatlichen Bürokratie zu zeichnen. Durch ihre unmittelbare öffentliche Präsenz und
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Vgl. Handelman (1995: 281-293); Shelley (1999: 78ff); Kádár (2001); ICG (2002); Uildriks/ van Reenen (2003); Caparini/Marenin (2004). Bislang wurden vor allem die Chancen und Hindernisse von Polizeireformen diskutiert. Vgl. die in der vorherigen Fußnote genannten Arbeiten. Eine Ausnahme stellt Favarel-Garrigues (2003a) dar.
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Sichtbarkeit ist die Polizei ferner grundsätzlich leichter beobachtbar als beispielsweise das kasernierte Militär oder die Finanzverwaltung. Die Polizei steht durch ihre Tätigkeit in direktem und stetigem Kontakt zur lokalen Bevölkerung. Über das Verhalten der Polizei können daher auch externe Beobachter Auskunft geben, die der Polizei nicht selbst angehören, wie z.B. Betroffene von Polizeiwillkür, Kleinkriminelle, Journalisten oder Vertreter von Organisationen, die mit Reformprojekten in der Polizei befasst sind. Darüber hinaus basiert die Polizei in den post-sozialistischen Ländern auf einem ursprünglich einheitlichen sozialistischen Polizeimodell (vgl. Shelley 1996: xvii), so dass hier eine gute Vergleichbarkeit gegeben ist. Zum Aufbau der Fallstudien: Die Untersuchung des Staates in Albanien und Georgien erfolgt auf der Grundlage der entwickelten theoretischen und begrifflichen Differenzierungen. Die Grundelemente patrimonialer Praktiken – Formen der Big-Men-Herrschaft, des Klientelismus und der ökonomischen Aneignung – sollen im politischen und bürokratischen Feld jeweils anhand von drei analytischen Bereichen beobachtet werden: der Rolle von hochrangigen Amtsträgern, Formen der Einbindung und Rekrutierung von Akteuren sowie Mustern der materiellen Reproduktion und Distribution von Ressourcen. In den Fallstudien gilt dabei das Augenmerk Figurationen, die sich durch bestimmte Konstellationen, Interessen und Strategien von Akteuren auszeichnen. Hier gilt es Muster der Inklusion und Exklusion, das Gewicht und die Reproduktion einzelner Kapitalsorten, Habitusformen sowie die damit verbundenen Mechanismen der Machtbildung näher zu bestimmen. Die Länderfallstudien sind analog aufgebaut. Zunächst soll das politische Feld in beiden Ländern näher betrachtet werden (V.1.1. und V.2.1). Dabei stehen die Rolle der Staats- und Regierungschefs, zentrale Konstellationen zwischen den politischen Parteien und Formen der Elitenakkommodation sowie das Verhältnis politischer und ökonomischer Machtchancen im Mittelpunkt. Beide Unterkapitel stützen sich weitgehend auf Sekundärliteratur. Sie sollen die Besonderheiten der Regime in Albanien und Georgien herausarbeiten und haben zugleich die Funktion zusammenfassender Betrachtungen. Sie umreißen den politischen Kontext, der für eine anschließende detaillierte Untersuchung der öffentlichen Verwaltung zu berücksichtigen ist. Der Schwerpunkt der Analyse liegt jedoch auf dem bürokratischen Feld der Polizei (V.1.2 und V.2.2). Neben Aspekten der institutionellen Struktur und formalen Ordnung stehen dabei vor allem die tatsächlichen Praktiken der Akteure im Mittelpunkt. Erstens soll die Rolle des Innenministers untersucht werden, der als Mitglied der Regierung und oberster Leiter der Polizeibehörde sowohl auf dem politischem als auch dem bürokratischem Feld bzw. an der Schnittstelle zwischen beiden agiert. Die Analyse erlaubt es das Verhältnis der Polizei zur
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politischen Führung und die Autonomie des Apparates abzuschätzen sowie mögliche Formen der Personalisierung und Willkür durch den Minister zu betrachten. Zweitens werden die Muster der Rekrutierung und Laufbahnen des Personals, verstanden in einem allgemeinen Sinne als Art und Weise, wie bestimmte Positionen im bürokratischen Feld eingenommen werden, analysiert. Dieser Bereich erlaubt es das Vorhandensein und Ausmaß klientelistischer Praktiken zu eruieren und soll daher genauer unter die Lupe genommen werden. Zu diesem Zweck werden die Praktiken der Anstellung, Ausbildung, Beförderung, Versetzung und Entlassung einer Analyse unterzogen. Drittens wird die Ökonomie der Polizei untersucht, wozu alle Aspekte der Finanzierung der Polizeiorganisation zählen. Die Kontrolle von Ressourcen sowie Formen des Erwerbs, der Akkumulation und Redistribution ökonomischen Kapitals stehen dabei im Mittelpunkt, um das Ausmaß illegaler Aneignung in der Polizei abzuschätzen. Die Welt der Verwaltung peripherer Staaten wie Albanien und Georgien lässt sich mit einigem Recht als Terra incognita bezeichnen, über die wenig oder nichts bekannt ist. Das gilt insbesondere auch für die Polizei in beiden Ländern. Die Fallstudien haben insofern explorativen Charakter und müssen eine an den Gegenstand und die Bedingungen des empirischen Feldes angepasste Methode verwenden. Die Arbeit basiert auf der Sichtung umfangreicher schriftlicher Quellen und der Durchführung von Interviews im Verlauf mehrmonatiger Feldforschungen in Albanien und Georgien im Zeitraum 2003-2006. Zu den Schriftquellen zählen Pressemitteilungen der Polizei, Veröffentlichungen der Polizeiakademie, Jahresberichte und Statistiken des Innenministeriums, Berichte internationaler Organisationen, Agenturmeldungen internationaler Nachrichtendienste sowie mehrere Jahrgänge verschiedener lokaler Zeitungen, die mit Blick auf Berichte über die Polizei ausgewertet wurden. Darüber hinaus basiert die Untersuchung auf etwa 120 qualitativen Interviews (vgl. die Liste der Gesprächspartner im Anhang). Zu den Gesprächspartnern zählten amtierende wie ehemalige Polizeibeamte aller Ränge, Studierende der Polizeiakademie sowie Mitarbeiter des Innenministeriums einschließlich ehemaliger Innenminister. Gespräche wurden ferner mit Journalisten und Mitarbeitern internationaler Organisationen sowie lokaler Nicht-Regierungsorganisationen geführt, die an Reformen in der Polizei mitwirkten und über gute Einblicke in die Organisation verfügten. Darüber hinaus wurden Personen befragt, die im regelmäßigen Kontakt mit der Polizei standen wie z.B. Taxi- und Busfahrer. Über die Polizei in beiden Fällen bestand zu Beginn der Untersuchung relativ wenig Vorwissen. Das betraf nicht nur die hier interessierenden informellen Praktiken, sondern auch die formale Organisation der Apparate. Zuverlässige Statistiken oder Angaben über Prozeduren waren in der Regel schwer zugänglich oder nicht existent. Die prekäre formale Rationalisierung der post-sozialistischen
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Staaten kommt auch in mangelnder Schriftlichkeit und bürokratischem Wissen zum Ausdruck mit entsprechenden Folgen für die Selbstbeschreibung der Polizeiorganisationen. Zum Teil wurde die Organisationsstruktur der Polizei anhand mündlicher Aussagen von Einzelpersonen rekonstruiert. Zugleich war durch den sensitiven Bereich der polizeilichen Sicherheit und die Fragen zu informellen Praktiken eine vorbehaltlose Offenheit der Befragten wenig wahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund wurde mit dem „fokussierten Interview“ eine qualitative Methode der Befragung gewählt (vgl. Diekmann 2007: 446-449).9 Für die Untersuchung wurden halbstrukturierte Interviews mit einem Leitfaden verwendet, der eine Reihe thematischer Gesichtspunkte enthielt, die im Verlauf des Interviews der Reihe nach angesprochen wurden. Dies erlaubte es den Leitfaden an den oben genannten Analysefeldern auszurichten und alle relevanten Aspekte anzusprechen, um damit eine Vergleichbarkeit der Antwortreaktionen zu erreichen. Die Reihenfolge war jedoch nur grob festgelegt, um offen für unerwartete Antwortreaktionen und neue Aspekte zu sein, die außerhalb des Fragerasters lagen. Die Dauer der Interviews belief sich im Schnitt auf eine Stunde. Während des Gesprächs wurden Notizen angefertigt, die dann im Anschluss verschriftlicht wurden. Pro Länderbeispiel wurden etwa um die 60 Interviews geführt. Wie alle Formen der Datenerhebung haben auch Interviews diverse Fehlerquellen, die sich durch die Art der Befragung, unscharfe Erinnerungen der Befragten, die konkrete Interviewsituation sowie durch den thematischen Gegenstand und die soziale Erwünschtheit von bestimmten Antworten ergeben. All diese Fehlerquellen beinträchtigen potentiell die Objektivität und Validität der Daten (ebd. 375ff, 451-455; Wienold 2000: 109ff). Im Fall der Polizei kam hinzu, dass entsprechend der zum Teil heiklen Fragen zum Untersuchungsgegenstand mit Antwortverzerrungen gerechnet werden musste. Ferner mussten die Gespräche zum Teil mit Hilfe von Dolmetschern durchgeführt werden, wobei Informationsverluste und Übersetzungsfehler einzukalkulieren waren. Um diesen Problemen zu begegnen, wurde eine Reihe von Schritten ergriffen. In den Gesprächen wurde durch Kontrollfragen der Wissensstand der Personen geprüft. Die Aussagen der Interviewpartner wurden später miteinander abgeglichen. Bei widersprechenden Angaben wurden im Zweifelsfall in der Regel die Aussagen von langjährigen und hochrangigen Polizeibeamten oder lange vor Ort tätigen Mitarbeitern internationaler Organisationen stärker gewichtet. Verlässliche und aufgrund ihrer Position gut informierte Akteure wurden zum Teil mehrmals befragt. Dabei wurden zu Kontrollzwecken in späteren Gesprächen Wiederholungsfragen gestellt und die Antworten auf Konsistenz über-
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Vgl. zur Methode der Feldforschung in schwerer zugänglichen Milieus Girtler (2001).
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prüft. Alle Informationen aus Interviews wurden durch Schriftquellen zu verifizieren versucht und umgekehrt. Zugleich wurden die Angaben der Schriftquellen untereinander abgeglichen. Die erlangten Befunde gehen daher in keinem Fall auf nur einmalige Beobachtungen zurück, sondern sind immer im Verlauf mehrerer Gespräche bestätigt oder mit dem Schriftmaterial abgeglichen worden. Zusammengenommen ergibt sich hieraus eine breite und valide Datenbasis, die es trotz des nicht leicht zugänglichen empirischen Feldes erlaubt, ein ausgewogenes Bild zu zeichnen und dabei die Defizite der einzelnen Methoden auszugleichen. Die aus den Einzelfallstudien zur Polizei gewonnenen Ergebnisse werden am Schluss mit den zuvor erbrachten Befunden zum politischen Regimekontext in beiden Ländern zusammengeführt. Damit soll eine zusammenfassende Betrachtung des Staates in Albanien und Georgien möglich werden. Dabei sollen die Befunde zum politischen und bürokratischen Feld beider Länder in vergleichender Perspektive in Form eines fallorientierten Vergleichs diskutiert werden.10 Ziel dieses Vergleichs ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Entwicklungen zu benennen und verallgemeinernde Aussagen über den Staat in Albanien und Georgien zu ziehen.
Zusammenfassung Nachdem im Vorangegangenen die verschiedenen Einzelschritte in den noch folgenden theoretischen und empirischen Teilen dargelegt und begründet wurden, soll an dieser Stelle die Gliederung der weiteren Arbeit noch einmal im Überblick zusammengefasst werden: Teil IV hat die Funktion, die bereits skizzierten Grundannahmen zum Staat in Osteuropa in Form einer Strukturgeschichte weiter auszuformulieren. Dabei soll die Formierung des Staates und die Genese patrimonialer Praxisformen im Wege einer prozesssoziologischen Analyse rekonstruiert werden. Hier geht es in Perspektive eines historischen Längsschnitts um Prozessstufen im Strukturwandel des Staates. Vor diesem Hintergrund soll die Spezifik der politischen Herrschaft in Osteuropa nach dem Ende des Sozialismus in einem Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staates zusammengefasst werden. In Teil V stehen empirische Fallstudien zu Albanien und Georgien im Mittelpunkt. Wurde zuvor die Entwicklung des Staates in einer zusammenfassenden Betrachtung über eine große Zeitspanne behandelt, so sollen jetzt interpretative
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Vgl. hierzu methodisch Ragin (1987: 54f) und Katznelson (1997: 94ff).
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Einzelfallstudien eine Feinbestimmung der Praxislogik des post-sozialistischen Staates erlauben. Dieser empirische Teil hat die Aufgabe, die theoretischen Annahmen zum bürokratisch-patrimonialen Staat zu exemplifizieren und empirisch zu erhärten. Kurzen Analysen zum politischen Regimekontext in Albanien und Georgien folgen detaillierte Analysen zur öffentlichen Verwaltung, die am Beispiel der Polizei in beiden Ländern untersucht wird.
IV Die Formierung des Staates in Osteuropa Die Formierung des Staates in Osteuropa
Was ist die Besonderheit des post-sozialistischen Staates? Worin liegen seine Struktureigentümlichkeiten, und wie lässt sich seine Funktionslogik näher charakterisieren? Eine Beantwortung dieser Fragen ist ohne die Berücksichtigung der Historizität des Staates nicht möglich. Denn staatliche Herrschaft ist immer eingebettet in langfristige Wandlungsprozesse. Für ein Verständnis des postsozialistischen Staates folgt daraus die Notwendigkeit, verschiedene historische Prozesse unterschiedlicher Dauer in die Analyse einzubeziehen. Neben den zeitgenössischen Entwicklungen, die aus den Umbrüchen der Transformation nach dem Zerfall des Ostblocks resultieren, erweisen sich auch weiter zurückreichende Strukturen als prägend. Dabei sind nicht nur Eigenheiten des vorangegangenen sozialistischen Staates zu berücksichtigen, sondern auch dessen historische Voraussetzungen, die ihrerseits die Entwicklung im Sozialismus mitgeprägt haben. Der folgende Teil versucht dieser Historizität gerecht zu werden und rekonstruiert wesentliche Entwicklungslinien des Staates in Osteuropa. Zu diesem Zweck wird zwischen Entwicklungen vor, während und nach dem Sozialismus unterschieden. Dabei geht es nicht um eine erschöpfende Erfassung der gesamten realhistorischen Entwicklung, sondern um die Konzentration auf einzelne Momente und ausgewähltes Material, das es erlaubt, den theoretischen Zusammenhang zwischen einzelnen Aspekten herzustellen. Das dieser historischen Rekonstruktion zugrunde gelegte empirische Material ist notwendig begrenzt und in unterschiedlicher Weise in die Darstellung eingeflossen. Historische Arbeiten zur vorsozialistischen Phase werden nur sehr selektiv berücksichtigt. Dagegen wird der Abschnitt zur sozialistischen Phase auf eine breitere empirische Grundlage gestellt. Der anschließende Teil zur post-sozialistischen Phase hat wiederum überwiegend hypothetischen Charakter. Die Gliederung folgt also einer chronologischen Ordnung, die Darstellung hat jedoch systematischen Charakter. Sie behandelt in makropolitischer Perspektive einzelne Prozessstufen und die jeweiligen Besonderheiten einzelner historischer Formationen. Kapitel 1 behandelt in einem stark verkürzten Abriss historische Voraussetzungen des sozialistischen Staates und konzentriert sich dabei auf Südosteuropa und Eurasien. Es skizziert in groben Umrissen Modernisierungsprozesse und gesellschaftliche Ausgangsbedingungen in diesen Regionen vor der Etablierung
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Die Formierung des Staates in Osteuropa
des Sozialismus. Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem sozialistischen Staat. Seine Spezifik, so die Argumentation, lässt sich als die Aufstieg charismatischer Weltanschauungsparteien und ihre Veralltäglichung durch Bürokratisierung und Patrimonialisierung fassen. Patrimoniale Handlungsmuster sind in vielen sozialistischen Regimen zur verbreiteten Praktik geworden, was sich als „patrimonialer Sozialismus“ auf den Begriff bringen lässt. Das anschließende Kapitel 3 widmet sich der post-sozialistischen Transformation des Staates. Es umreißt wesentliche Momente dieses Prozesses und versucht Zusammenhänge zwischen einzelnen Mustern aufzuzeigen. Die Transformation des Staates in Osteuropa lässt sich als Reaktualisierung von bereits vorher existenten Praktiken und damit als eine pfadabhängige Patrimonialisierung interpretieren. Vor diesem Hintergrund fasst Kapitel 4 die Spezifik politischer Herrschaft in Osteuropa im Typus des bürokratisch-patrimonialen Staates zusammen.
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Die traditionalen Voraussetzungen
Die vorsozialistische Geschichte Südosteuropas und Eurasiens zeichnet sich durch eine beträchtliche Varianz aus. Dennoch lassen sich in der Geschichte dieser Regionen einige übergreifende Gemeinsamkeiten festhalten. Bei allen Besonderheiten ist ihnen gemeinsam, dass dort eine Modernisierung vor dem Sozialismus nur in Ansätzen erfolgt ist.1 Dies soll in den folgenden Abschnitten anhand von historischen Kurzabrissen zu einzelnen Subregionen verdeutlicht werden. Während Südosteuropa dabei als eine Region behandelt werden kann, ist das für die Geschichte des vom Russischen Zarenreich geprägten Eurasiens nur schwer möglich. Denn das Russische Reich hat mit seiner territorialen Expansion im Verlauf von Jahrhunderten eine enorme ethnische, soziale, wirtschaftliche und administrative Heterogenität entwickelt, die sich nicht auf einen Nenner bringen lässt. Daher wird im Folgenden das eigentliche „Russland“ als Kern des Zarenreiches getrennt von seinen Peripherien im südwestlichen Eurasien, im Kaukasus und in Zentralasien behandelt. Die vorsozialistische Geschichte in Südosteuropa ist wesentlich durch das Osmanische Reich bestimmt worden, das weite Gebiete dieser Region für mehrere Jahrhunderte beherrscht hat. Die osmanische Landpolitik hatte Ansätze zur ständischen Schichtung auf dem Balkan beseitigt und stattdessen zur Verbreitung akephaler Vergemeinschaftungen mit familialem oder tribalem Charakter geführt (Sundhaussen 1998: 8ff). Dabei stellte der patriarchalische Mehrfamilienhaushalt
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Zum Verständnis von Modernisierung vgl. die Ausführungen in Teil II.
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die vorherrschende Form der materiellen Reproduktion dar (Byrnes 1976; Stahl 1986). Die Umwälzung dieser segmentären traditionalen Gesellschaft setzte in Südosteuropa zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. In Anlehnung an westeuropäische Vorbilder initiierte die Hohe Pforte seit Beginn des 19. Jahrhunderts bürgerliche Reformen, die auf die Modernisierung des Militärs, der Fiskalordnung sowie des Bildungs- und Rechtssystems zielten (Matuz 1985: 209ff). Dennoch wurde das Osmanische Reich im Zuge der europäischen Mächtekonkurrenz zunehmend zum Objekt der Großmachtpolitik, während gleichzeitig nationale Autonomiebestrebungen in den Balkanprovinzen den Zerfall des Reiches beschleunigten. Diese Entwicklungen mündeten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einen von den europäischen Mächten dominierten territorialen Arrondierungs- und Staatsbildungsprozess (Hösch 1999: 140ff; Jelavich/Jelavich 1977). Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden mit dem endgültigen Zerfall des Osmanischen und des Habsburgischen Reiches die Staaten Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und Albanien, die sich in ihrer äußeren Form an dem Modell westlicher Staatlichkeit orientierten. Alle importierten Verfassungen nach westlichem Vorbild mit zentralstaatlicher Organisation, konstitutionell-parlamentarischer Monarchie, Bürokratie, stehendem Heer und säkularisiertem Bildungswesen. Als einheitliches Muster politischer Organisation setzten sich dabei die so genannten Königsdiktaturen durch (Sundhaussen 2001; Fischer 2007). Sie stellten eine autoritär-monarchische und personalisierte Herrschaftsform dar, in welcher der Staat zur zentralen Quelle ökonomischer Macht wurde und mit einem hohen bürokratischen Wachstum eine in ihrer sozialen Reproduktion gänzlich vom Staat abhängige Schicht schuf (Sundhaussen 1998: 14ff; Janos 2000: 86ff). Gestützt wurden die Königsdiktaturen durch Beamte, Vertreter des Militärs und des Unternehmertums, das sich aus einer schmalen Schicht freier Berufe rekrutierte. Die sich hieraus bildenden Oligarchien konkurrierten mit den Fürsten um Machtchancen, ohne sich dabei als bürgerliche Führungsschichten zu formieren (Hösch 1999: 209-214; Sundhaussen 1998: 16ff). Eine gesellschaftliche Modernisierung und nationale Vereinheitlichung zählte zwar zu den zentralen politischen Zielen der Königsdiktaturen, die Umwälzung der agrarisch geprägten Balkangesellschaften gelang jedoch nur ansatzweise. Sie setzten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterhin aus einer überwiegend bäuerlichen Bevölkerung mit segmentärer Struktur und vorkapitalistischer Landwirtschaft zusammen (Lampe/Jackson 1982; Sundhaussen 2001: 340ff). Die Einbeziehung Südosteuropas in das sozialistische Weltsystem erfolgte zum Ende des Zweiten Weltkrieges, als es lokalen kommunistischen Parteien gelang, teils durch den Sieg eigener Partisanenarmeen, teils durch Intervention der Sowjetunion, eigene Regime zu errichten (Rothschild 1989: 44ff).
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In Russland war die vorsozialistische Geschichte entscheidend durch das Zarenreich geprägt worden. Russland hatte sich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts als ein patrimoniales Reich formiert, in welchem der Zar als unumschränkter und göttlich legitimierter Selbstherrscher an der Spitze stand und das ganze Land als sein Eigentum betrachtete. Die politische Herrschaft hatte den Charakter eines autokratischen, auf dynastischen und ständischen Prinzipen basierenden Absolutismus, der durch keinerlei intermediäre Gewalten begrenzt wurde. Das Zarenreich stellte eine rein personale Form der Herrschaft dar, die zentralistisch und zugleich schwach bürokratisiert war (Pipes 1977; Eich 1984). Bauern und Adelige waren die wichtigsten sozialen Gruppen im Russischen Reich. Die vorherrschende traditionale Sozialform war die patriarchalische Großfamilie und die selbstverwaltete Dorfgemeinschaft, die als Zusammenschluss mehrerer Haushalte über das Land als Gemeinbesitz verfügte. Die Bauern waren jedoch überwiegend als Staatsbauern an den Boden gebunden oder Leibeigene des Adels (Hosking 1997: 198ff; Pipes 1977: 26ff, 150ff). Diesem stand das Land zur privaten Nutzung zur Verfügung, jedoch blieb er bis ins 18. Jahrhundert in seinem sozialen und ökonomischen Status abhängig von zugewiesenen Gütern durch die Krone, die das gesamte Staatsgebiet als ihr Eigentum betrachtete. Der Adel erlangte daher keine autonome Herrschaftsstellung und lokale Machtbasis (Pipes 1977: 176-196; Eich 1984: 153ff). Eine beschleunigte Modernisierung des Reiches begann erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den so genannten „Großen Reformen“, die u.a. zur Aufhebung der Leibeigenschaft führten und mit umfassenden Agrar-, Bildungs-, Verwaltungs- und Justizreformen sowie der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht einhergingen (Hosking 1997: 315-344). Im Zuge dieses Wandels setzte auch eine Kommerzialisierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung des Russischen Reiches ein und damit auch die Mobilisierung neuer sozialer Schichten und ethnischer Gruppen. Die mit Unterstützung ausländischen Kapitals forcierten Prozesse ökonomischer Inwertsetzung erfassten das Russische Reich allerdings sektoral und regional ungleichmäßig. Neben den Entwicklungen an der westlichen und südlichen Peripherie des Reiches (s.u.) betraf dies im russischen Kernland vornehmlich den Ural sowie die Städte St. Petersburg und Moskau und ihr Umland, die zu den wichtigsten Industriezentren des Reiches aufstiegen (Seton-Watson 1967: 506ff, 649ff; Kappeler 1992: 250ff). Jedoch blieb das politische System mit seiner dynastischständisch legitimierten Ordnung und seiner überwiegend vormodernen Verwaltung im Kern ebenso unverändert, wie seine sozioökonomische Basis (Eich 1984: 152). Am Vorabend der Revolution war Russland ein gering urbanisiertes und agrarisch geprägtes Reich mit einer traditionalen Wirtschaftsweise, einem schmalen Industrieproletariat und einer unbedeutenden bürgerlichen Mittel-
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schicht. Mit der Machtergreifung der Bolschewiki wurde Russland 1922 als Föderative Sowjetrepublik zum Kern der neu geschaffenen Sowjetunion. Als Vielvölkerreich zeichnete sich Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine große Vielfalt der Wirtschaftsweisen, Sozialordnungen und Kulturen aus, die sich der territorialen Ausdehnung des Zarenreiches im Verlauf von Jahrhunderten verdankte. Die sowohl militärstrategisch als auch von einer „mission civilisatrice“ (Sahni 1997; Baberowski 1999) motivierte Expansion vollzog sich durch ein kontinuierliches Vorschieben in die an den russischen Herrschaftsbereich angrenzenden Gebiete, wobei die neuen Territorien zunächst erobert, dann inkorporiert und die dort lebenden Völker schließlich assimiliert wurden (Raeff 1994: 126-140; Baberowski 1999: 487ff). Diese Ausdehnung des Russischen Reiches erfolgte jedoch phasenverschoben und uneinheitlich. Die vorsozialistische Geschichte der diversen Randgebiete des Zarenreiches ist durch sie entscheidend geprägt worden. Das westliche Eurasien mit den späteren Staaten Ukraine, Weißrussland und Moldawien gelangte im Zuge der West- und Südwestexpansion des Zarenreiches und den diversen polnischen Teilungen seit dem 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts sukzessive unter Russische Herrschaft (Kappeler 1992: 57ff; Hosking 1997: 23ff). Dabei wurden vornehmlich Gebiete in das Zarenreich eingegliedert, die zuvor Bestandteil anderer Reiche waren, namentlich der Adelsrepublik Polen-Litauen sowie des Osmanischen Reiches. Eine zuvor unabhängige Stellung hatte der militär-demokratische Herrschaftsverband des ukrainischen Kosakenhetmanats inne. Bei seiner Expansion traf das Zarenreich überwiegend auf grundbesitzende, zum Teil sozial stark differenzierte Oberschichten, ständisch-korporative Organisation und eine leibeigene Bevölkerung. Die Privilegien und Besitzungen der polonisierten Adelsschichten, der ukrainischen Kosaken und der rumänischen Bojaren Bessarabiens wurden zunächst bestätigt. Diese Adelsschichten wuchsen jedoch nach und nach in den russischen Reichsadel hinein, womit die betroffenen Regionen russifiziert wurden (Kappeler 1992: 57ff). Eine Modernisierung setzte hier, wie im restlichen Zarenreich, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Neben der partiellen Kommerzialisierung der Landwirtschaft durch sich modernisierende Gutswirtschaften war es dabei vor allem die südliche Ukraine, die seit den 1870er Jahren Schwerpunkt einer schnell wachsenden Schwerindustrie wurde. Die einseitige Rohstoffausbeutung durch das russische Zentrum unter Beteiligung ausländischer Unternehmer hatte dabei zum Teil koloniale Züge (ebd. 265). Abgesehen von dem hier entstehenden Industrieproletariat blieben die Regionen des westlichen Eurasiens bis zum Ende des Zarenreichs jedoch agrarisch geprägt. Sie wiesen eine geringe Urbanisierung auf und verfügten über keine nennenswerten bürgerlichen Gruppen (ebd. 238, 253; Suny 1993: 30-35, 43-51). Auf den Zerfall des Zarenreiches
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folgte eine zeitweilige Loslösung von Russland, bei der sich die Ukraine, Weißrussland und Bessarabien für unabhängig erklärten (vgl. Motyl 1990: 103-118). Die Ukraine und Weißrussland gerieten jedoch rasch unter bolschewistische Herrschaft und wurden bereits 1922 als Sowjetrepubliken zum Bestandteil der sich formierenden Sowjetunion. Bessarabien fiel 1918 an Rumänien und wurde erst im Zweiten Weltkrieg wieder als Moldauische Sowjetrepublik an die Sowjetunion angegliedert. Der Kaukasus zeichnete sich vor der russischen Eroberung durch eine große Heterogenität politischer Formen mit sowohl segmentären als auch stratifizierten Sozialordnungen aus. Kleinräumigen Fürstentümern, Khanaten und Sultanaten mit adeligen Oberschichten und abhängigen Bauern standen weniger differenzierte tribale und patriarchale Gemeinschaften gegenüber (King 2008: 32-39; Kappeler 1992: 144, 150). Der gesamte Kaukasus wurde in mehreren Eroberungskriegen im Verlauf des 19. Jahrhunderts in das Russische Reich eingegliedert. Die Aristokratie der Georgier und Armenier wurde in der Folge sozial und kulturell russifiziert, in den Reichsadel integriert und konnte über Bildungsinstitutionen in Militär und Verwaltung Russlands Karriere machen (Kappeler 1992: 147ff). Im Zuge der „Großen Reformen“ in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr auch die zaristische Verwaltung im Kaukasus eine Modernisierung. Zugleich setzte mit dem Aufbau der Baumwollindustrie sowie insbesondere mit der Erschließung des Erdöls am Kaspischen Meer ein Prozess kapitalistischer Inwertsetzung ein (Stadelbauer 1994: 23-29; Auch 2004: 188226). Die agrarkolonisatorische Plantagenwirtschaft und die Erdölindustrie behielten jedoch enklavenartigen Charakter. Dasselbe gilt für die Entwicklung bürgerlicher Vergesellschaftungsmuster. Nur in den wenigen rasch wachsenden städtischen Zentren wie Baku und Tiflis formierten sich bürgerliche Eliten und neue soziale Gruppen, die als Träger der Modernisierung auftraten und eine sowohl sozialistische als auch nationalistische Programmatik vertraten (Suny 1993: 28ff; Auch 2004: 187ff). Der überwiegende Teil der kaukasischen Gesellschaften blieb von diesen Umwälzungen jedoch ausgeschlossen. Im Zuge der Russischen Revolution und des Kollaps des Zarenreiches erlangten die kaukasischen Gebiete schließlich für einen kurzen Zeitraum, von 1918-1921, politische Selbständigkeit und erklärten sich zu den unabhängigen Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan (Motyl 1990: 103-118). Der Machtübernahme der Bolschewiki in Russland folgte jedoch die Reintegration des Kaukasus in die Sowjetunion, wobei diese drei Staaten zunächst zerschlagen und dann als sozialistische Sowjetrepubliken wiedererrichtet wurden (Jones 1988; King 2008: 142ff). In Zentralasien stellten vor der zaristischen Eroberung die Nomaden der Steppe mit tribaler Struktur und die sesshaften Bevölkerungsgruppen der Oasen mit der patriarchalischen Großfamilie die dominierenden traditionalen Sozial-
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formen dar (Bacon 1980: 29-72). Größere feudale Herrschaftsverbände wurden durch das Emirat von Buchara sowie die Khanate von Chiwa und Kokand gebildet, die über eine Verwaltung, geregelte Abgabensysteme und Militär verfügten (Kappeler 1992: 161). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden im Zuge der russischen Expansion große Teile der Kasachischen Steppe Bestandteil des Zarenreichs. Die weitere Ausdehnung nach Süden erfolgte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ohne jedoch die dann unterworfenen Gebiete noch ins zaristische Imperium einzugliedern. Das Emirat von Buchara und das Khanat von Chiwa wurden zu Protektoraten, die nach innen ihre traditionale Herrschaftsstruktur beibehielten (Pierce 1960: 75ff; Becker 1988: 237f). Anders als im Kaukasus verzichtete die zaristische Kolonialmacht dabei auch auf eine Assimilierung der lokalen Eliten an die russische Nobilität und ihre Integration in die russischen Institutionen (Kappeler 1992: 166f). Eine Umwälzung traditionaler Formen erfolgte in Zentralasien vor allem durch die koloniale Inwertsetzung. In der nördlichen Steppenregion schränkte der Zustrom von russischen Siedlern im Zuge der Agrarkolonisation den Landbesitz der Nomaden ein und zwang sie zur Sesshaftwerdung, während die Förderung der Baumwollproduktion die lokale Ökonomie auf eine weltmarktabhängige Produktion ausrichtete (Pierce 1960: 107ff, 167ff; Brower 2003: 126-151). Jedoch blieben durch die indirekte koloniale Herrschaft und durch die auf wenige Städte begrenzte russische Präsenz traditionale Institutionen weitgehend oder gänzlich unberührt. Sie dominierten nicht nur auf dem Land, sondern auch in den wenigen urbanen Zentren. Wie im westlichen Eurasien und im Kaukasus gaben auch in Zentralasien die Russische Revolution und der Zerfall des Zarenreiches Autonomiebewegungen Auftrieb, die jedoch von den Bolschewiki in den 1920er Jahren gewaltsam wieder unterdrückt wurden (Motyl 1990: 103-118). Der Integration der Region in die Sowjetunion folgte 1936 die Bildung der sozialistischen Sowjetrepubliken Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan Turkmenistan und Kirgistan (Kappeler 1992: 287ff). In vergleichender Perspektive wird die beträchtliche Varianz der historischen Konstellationen deutlich, welche die vorsozialistische Geschichte Südosteuropas und Eurasiens kennzeichnet. Traditionale Sozialformen und Herrschaftsgebilde zeichneten sich nicht nur durch eine enorme Vielfalt aus, sondern sie haben Prozesse der Modernisierung auch verschiedenartig durchlaufen. Die betreffenden Gesellschaften haben eine unterschiedlich lang anhaltende und weitreichende Umwälzung ihrer Strukturen erfahren. Hierzu zählen auch unterschiedliche Erfahrungen mit unabhängiger Staatlichkeit sowie damit zusammenhängend, die phasenverschobene Etablierung des Sozialismus. So gingen in Südosteuropa aus dem Zerfall des Osmanischen Reiches zahlreiche neue Staaten hervor. Dabei hatte die europäische Großmächtepolitik seit Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge der krisenhaften Entwicklung der „Orientalischen Frage“, die
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Auflösung des Osmanischen Reiches beschleunigt und entscheidenden Anstoß für die Konsolidierung der Balkanstaaten gegeben (vgl. Hösch 1999: 113-139). Die weitere Modernisierung vollzog sich nunmehr im Rahmen unabhängiger Staaten, in denen sich sozialistische Regime erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzten. Auch der Zerfall des Zarenreiches setzte an seinen Rändern nationale und antikoloniale Bewegungen frei und ließ unabhängige Republiken und Proto-Staaten entstehen. Diese Dynamiken der Staatsbildung sind ebenfalls auf globale Prozesse zurückzuführen, nämlich auf das Ineinandergreifen des Ersten Weltkrieges und der Politik externer Mächte mit der russischen Revolution und dem Kollaps des Zarenreiches (Motyl 1990: 103-118; Kappeler 1992: 284ff). Allerdings war den hier entstehenden politischen Figurationen nur ein kurzes Intermezzo der Unabhängigkeit beschieden. Bereits Anfang der 1920er Jahre entstand auf den Trümmern des Russischen Reiches und seiner Peripherien die Sowjetunion. Bei allen Unterschieden in den Voraussetzungen und Verläufen des sozialen Wandels sowie den daraus hervorgegangenen Formen lassen sich jedoch auch Gemeinsamkeiten in der Geschichte der Modernisierung Südosteuropas und Eurasiens festhalten. Beide Regionen sind vor dem Sozialismus überwiegend Bestandteil des Osmanischen bzw. Russischen Reiches gewesen. Zwar waren beide Reiche einem äußeren Modernisierungsdruck ausgesetzt und hatten im Verlauf des 19. Jahrhunderts bürgerliche Reformen eingeleitet. Jedoch blieben sie bis zu ihrer Auflösung am Ende des Ersten Weltkrieges im Kern traditionale Imperien (Berglund/Aarebrot 1997: 10f).2 Daher haben auch die hier im Einzelnen betrachteten Regionen im Rahmen dieser Reiche nur in Ansätzen eine Modernisierung erfahren. Zwar hat sich der Sozialismus dann zuerst in der Sowjetunion und erst später in Südosteuropa durchgesetzt. Ungeachtet dieser phasenverschobenen Entwicklung lässt sich jedoch festhalten, dass es in den hier betrachteten Regionen vor dem Sozialismus zu keiner wirklichen Umwälzung traditionaler Strukturen gekommen ist. Eine vorsozialistische gesellschaftliche Modernisierung ist dort weitgehend ausgeblieben. Bürgerlich-kapitalistische Elemente sind vor allem ein Phänomen ökonomischer Enklaven und städtischer Zentren geblieben, wo sich kleine proletarische und bürgerliche Gruppierungen konzentrierten. Die Bevölkerungen besaßen überwiegend agrarischen, gering urbanisierten und sozial segmentären Charakter. Die Spezifik des Sozialismus, der sich in Südosteuropa und Eurasien etablierte, liegt darin begründet, dass ihm nicht eine Phase bürgerlich-kapitalistischer Modernisierung voranging, sondern er den sozialen Wandel schlechthin darstell-
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Vgl. zum System traditionaler Reiche Eisenstadt (1963).
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te. Erst das sozialistische Programm der Entwicklung stellte den entscheidenden Modernisierungsschub dar. Es sind diese historischen Bedingungen, die die Besonderheit des sozialistischen Staates ausmachen. Seine Eigentümlichkeit erschließt sich indes nicht aus diesen historischen Voraussetzungen allein, sondern auch aus der Logik und Dynamik der politischen Herrschaft im Sozialismus. Sie zu skizzieren ist das Ziel des nächsten Abschnitts.
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Widersprüche des sozialistischen Staates „Wir haben ... Russland erobert. Wir müssen jetzt Russland verwalten“ (Lenin 1918: 8). „… stets ist die Existenzform des Charismas nun den Bedingungen des Alltags und den ihn beherrschenden Mächten, vor allem: den ökonomischen Interessen ausgeliefert. Stets ist dies der Wendepunkt, mit welchem aus charismatischen Gefolgsleuten ... Staatsbeamte, Parteibeamte, Offiziere, Sekretäre ... oder andere berufsmäßige Interessenten, Pfründenbesitzer, Inhaber patrimonialer Ämter oder dergleichen werden“ (Weber 1980: 661f).
2.1
Charismatische Weltanschauungsparteien
Mit der Etablierung des Sozialismus im sich formierenden Ostblock vollzogen die kommunistischen Parteien eine beispiellose politische, ökonomische und soziale Mobilisierung. Sie postulierten den radikalen Bruch mit den bis dahin geltenden Verhältnissen und brachten neue, alle herkömmliche Erfahrung sprengende Ideen vor. Sie traten für die Überwindung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse und Klassenprivilegien zugunsten von Egalität und gesellschaftlicher Emanzipation ein und stürzten damit die bisherige Rangordnung der Werte und Traditionen um. Die sozialistische Herrschaft hatte revolutionären, schöpferischen Charakter und stellte eine massive Zäsur dar (Eisenstadt 1977: 1f; Plaggenborg 2006: 23-45). Unter diesen Bedingungen entwickelten die Institutionen des Sozialismus eine Struktureigentümlichkeit, die Max Weber in seiner politischen Soziologie als „Charisma“ bezeichnet (Weber 1980: 140ff). Weber versteht unter Charisma eine als heldenhaft oder heilig geltende Eigenschaft eines herausragenden oder vorbildlichen Anführers. Die Spezifik des Charismas liegt in seinem außeralltäglichen Charakter. Es existiert frei von allen traditionalen und legalen Bindungen. Die charismatische Herrschaft basiert dementsprechend auf der Hingabe an die magischen Qualitäten oder kriegerische Begnadung einer Person und der durch sie offenbarten Ordnung. Sie ist eine
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Form der emotionalen Vergemeinschaftung von Propheten und Jüngern und aufgrund ihrer Außeralltäglichkeit das gerade Gegenteil von traditionaler oder legal gesatzter Herrschaft (ebd.). Obgleich Weber die charismatische Herrschaft vornehmlich an Personen gebunden sah, hielt er auch eine Entpersonalisierung des Charismas für möglich, nämlich eine im Zuge der Rationalisierung und Entzauberung der Welt erfolgende „charismatische Verklärung der ‚Vernunft‘“ (ebd. 726). Weber bezog sich hierbei auf die naturrechtliche Legitimierung der Menschenrechte im Zeitalter der Aufklärung (Schluchter 1979: 81). Die leidenschaftliche Verfechtung der Naturrechte und die Propagierung der Vernunft des Einzelnen bedeuten demzufolge den Aufstieg eines Charismas natürlicher Rechte und letzter Werte (Roth 1987: 147). Das Charisma löst sich von den Qualitäten einzelner Persönlichkeiten und heftete sich stattdessen an Ideen und Prinzipien und wird so zu einem abstrakten „Charisma der Vernunft“ (ebd.; vgl. Breuer 1994: 59ff). Auch der Sozialismus lässt sich als eine solche rationalisierte Form charismatischer Herrschaft fassen.3 Denn die sozialistischen Regime versuchen nicht nur eine noch nie da gewesene Ordnung durchzusetzen, sondern sie verklärten auch die ihr zugrunde liegenden Prinzipien. Sie verherrlichten die Revolution, die siegreiche Arbeiterklasse, die heroische Partei und die unfehlbare sozialistische Lehre. Der Sozialismus bekam damit Züge einer charismatischen Bewegung. Seine Institutionen und Ideen erlangten ein überpersönliches, versachlichtes Charisma. Dieses charismatische Moment prägte sich sowohl in symbolischen als auch ökonomischen und politischen Sphären aus. Zum Ausdruck kam das zunächst in einer starken Zukunftsausrichtung. Im Selbstverständnis der beteiligten Akteure stellte der Sozialismus nicht nur den Beginn einer neuen Zeitrechnung dar, sondern er hatte mit dem zu erreichenden kommunistischen Endstadium auch eine vorgegebene Zukunft (Plaggenborg 2006: 86). Dabei galt es, den normalen, ordinären Zeithergang durch außeralltägliche Anstrengungen gleichsam zu überwinden, den Verlauf der „rationalen Zeit“ durch eine „charismatische Zeit“ zu transzendieren (Hanson 1997: 11ff). Die im Zuge der forcierten Industrialisierung in der Sowjetunion herausgegebene Maxime, den Fünfjahresplan in vier Jahren zu erfüllen, also die Zukunft gewissermaßen ein- und überzuholen, steht beispielhaft für dieses Bestreben (ebd. 149153; Plaggenborg 2006: 97). Zu dieser Form der Herrschaft gehörte auch die Schaffung von „combat environments“ (Jowitt 1983: 277), die in Anknüpfung an revolutionäre und kriegerische Entstehungskontexte darauf abzielte, die mobilisierende Kraft des Cha-
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Jowitt (1978: 36f); Breuer (1994: 97ff, 1998: 239ff); Hanson (1997).
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rismas aufrechtzuerhalten. Das kam unter anderem in der verbreiteten Verwendung eines militärischen Vokabulars zum Ausdruck. Insbesondere auf dem ökonomischen Feld, das mit den radikalen Wachstumszielen und der allgemeinen Mobilisierung unter staatlicher Kontrolle Züge einer Kriegsökonomie aufwies (Sapir 1992), wurde die Produktion auch sprachlich als Krieg aufgefasst. „Arbeiterarmeen“ fochten mit „Brigaden“, „Bataillonen“ und „Sturmarbeit“ Kämpfe an der „Arbeitsfront“ aus (Fainsod 1963: 103; Kenez 1985: 255ff). Ebenso kämpfte die „siegreiche Partei“ an der „kulturellen Front“, wo sie „die Bastion des Analphabetentums“ stürmte (Fehér et al. 1983: 197; Kenez 1985: 255ff). Das charismatische Moment wurde auch im quasi-religiösen Charakter des Sozialismus deutlich. Das geschlossene symbolische System des MarxismusLeninismus, der Glaube an die unumstößliche Wahrheit und verpflichtende Kraft der sozialistischen Prinzipien, die Dogmatisierung der sozialistischen Lehre und der missionarische Anspruch führten dazu, dass der Sozialismus zentrale Merkmale einer säkularen Religion mit eschatologischen Bezügen entwickelte (Eisenstadt 1977: 9, 13). Theologische Elemente zeigten sich ebenso in dem gleichsam liturgischen Ablauf der Parteitage (Jòzsa 1981: 78). Auch die Idee der Inkarnation, bei der die historische Vernunft der Arbeiterklasse ihre Verkörperung in der Partei fand, während das Zentralkomitee wiederum die höhere Weisheit der Partei verkörperte, entsprach einer theologischen Denkfigur (Stölting 1997a: 190f). Auf innerparteiliche Kämpfe folgten daher häufig Konfessionsrituale der Reinigung und Läuterung in Form von politischen „Säuberungen“ oder Schauprozessen, die mit eingeübten Schuldbekenntnissen der Logik einer öffentlich vollzogenen Exkommunikation von Häretikern folgten (Riegel 1985; Lewin 2005: 3238). Als hypostasiertes Subjekt, das die Fähigkeit besaß zu denken, zu entscheiden und moralisch zu empfinden (Stölting 1997a: 191), wurde die Partei zum Träger eines an die sozialistische Programmatik gebundenen transpersonalen Charismas. Sie wurde eine „charismatische Weltanschauungspartei“ (Breuer 1998: 239ff; Jowitt 1978: 36f). In dieser Verbrüderungsgemeinschaft „ideologischer Virtuosen“ (Roth 1987: 142) dominierte die Auseinandersetzung um Grundsatzfragen, die korrekte Auslegung der marxistischen Lehre und die Deutungshoheit über den richtigen Weg. Hier konnte vor allem kulturelles Kapital in Form ideologischer Kompetenz und Schulung Positionsgewinne im politischen Feld verschaffen. Die Institutionalisierung der sozialistischen Regime und der Aufbau von Organisationen veränderten jedoch die Bedeutung von weltanschaulichen Fragen und damit auch den Charakter der charismatischen Partei. Wie andere Modernisierungsprojekte zeichnete sich auch der Sozialismus durch den festen Glauben aus, eine Rekonstruktion der Gesellschaft durch rationale Organisation, Bürokratie, zentrale Planung und damit letztendlich durch den Staat herbeizuführen. Der
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technische und wissenschaftliche Fortschritt, die Ausweitung der Produktion, die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse – all dies galt es vor allem vermittels staatlicher Intervention zu erreichen (Scott 1998: 88-102; 147ff). Der Aufbau des Sozialismus ging dementsprechend mit einem schnellen Wachstum des Staates einher. Im Zuge der Industrialisierung und Kollektivierung etablierte sich eine zentrale Wirtschaftsbürokratie mit den Funktionen der ökonomischen Planung, Entwicklung, Extraktion und Distribution. Die Verstaatlichung der Ökonomie durch die Kontrolle aller wichtigen ökonomischen Bereiche und die Monopolisierung des Außenhandels gab dem Wachstum des Staates entscheidenden Auftrieb. Hinzu kam der Ausbau des Sicherheitssektors durch die Monopolisierung und Kontrolle der Gewalt nach innen und außen. In der Sowjetunion gab die Russische Revolution und der damit verbundene innerstaatliche Krieg den Ausschlag für einen raschen Aufbau von Armee und Polizei (Plaggenborg 2006: 184-197). Einen Wachstumsschub des militärischen Sektors löste auch der Zweite Weltkrieg und der Widerstand gegen die faschistischen Besatzungsmächte aus, die in der Sowjetunion und in Osteuropa durch die Rote Armee und kommunistische Partisanenarmeen bekämpft wurden. Dem folgten dann die weitere massive Aufrüstung im Kalten Krieg und der Ausbau von militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Apparaten. Daneben wuchs der Staat aber auch auf anderen Feldern wie Bildung, Gesundheit und Wohnungsbau (ebd. 221ff). Das Ausgreifen des Staates ließ den Bedarf an Verwaltungsfachleuten und technischen Spezialisten rasch anwachsen. Damit differenzierte sich auch das kulturelle Kapital im staatlichen Feld aus. Neben dem ideologischen Heilswissen erlangte als weitere Sorte kulturellen Kapitals bürokratisches Fachwissen und technokratische Qualifizierung eine zunehmende Bedeutung.4 Dieser Prozess der Bürokratisierung erfasste auch die Partei. Der marxistisch-leninistischen Theorie zufolge besaß die Partei die politische Führung und traf Grundsatzentscheidungen, die von der staatlichen Bürokratie umzusetzen waren. Die Kontrolle der Durchführung war wiederum Aufgabe der Partei. Der sozialistische Staat war demnach ein „Parteistaat“. Er ruhte auf der Partei einerseits und der staatlichen Bürokratie andererseits.5 Die idealtypische Trennung zwischen Partei und Verwaltung ließ sich jedoch nicht aufrechterhalten. Denn in der Ausübung ihrer Kontrollfunktionen war die Partei auf eigene Exekutivkörperschaften angewiesen, die sich als ständige Parteibehörden
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Vgl. Hough (1969: 274-280); Ahlberg (1988); Rowney (1989). Vgl. zu diesem Verhältnis von Partei und Staat Kornai (1995: 35ff); Brunner (1988: 174ff); Lane (1985: 141-237) sowie die Beiträge in Meissner et al. (1979).
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mit hauptamtlichen Mitarbeitern etablierten (Kornai 1995: 37f). Um ihre politische Linie durchzusetzen, schuf die Partei eine eigene Hierarchie, mit der sie über ein System horizontaler Verflechtungen die verschiedenen Ebenen der staatlichen Verwaltung kontrollierte. So koordinierte die Partei den Staatsapparat sowohl über zentrale Parteiinstanzen als auch über Organe, die parallel zu jeder Ebene der staatlichen Hierarchie geschaltet wurden. Durch ein Netz von Parteizellen und Parteibeauftragten innerhalb der staatlichen Verwaltung wirkte sie unmittelbar auf die Staatsbürokratie ein. Ferner bekleideten Inhaber von Parteiämtern durch das Prinzip der Personalunion gleichzeitig Staatsämter (ebd. 39-41; Lane 1985: 220-228). Darüber hinaus entschied die Partei in wichtigen, ihr vorbehaltenen Bereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik oder Kulturpolitik auch Einzelfragen und führte ihre Anordnungen selbst durch eigene Verwaltungsstäbe durch (Brunner 1988: 174f). Überdies verwaltete die Partei die gesellschaftlichen Sport-, Jugend-, Kultur- und Gewerkschaftsorganisationen. Sie regulierten private Bereiche wie Freizeitgestaltung, Berufswahl oder Familienleben und funktionierten aufgrund ihres Organisationsmonopols wiederum wie Behörden, die staatliche Haushaltsmittel auch faktisch verwalteten (Kornai 1995: 42f). Parallel zum Staatsapparat wuchs damit auch der Parteiapparat, in welchem die Kader zunehmend mit Verwaltungsaufgaben befasst waren und der Logik administrativer Prozesse unterlagen. Die Partei entwickelte sich zu einer Massenorganisation und erlag damit dem typischen Schicksal aller großen Verbände, die an der rationalen Erfüllung von Aufgaben orientiert sind, nämlich einer Bürokratisierung (Weber 1971: 328ff; vgl. Schluchter 1972: 107ff). Der sozialistische Parteistaat hatte ein erhebliches institutionelles Eigengewicht. Mit seiner flächendeckenden Verwaltung besaß er nicht nur eine breite gesellschaftliche Präsenz, sondern auch eine hohe „infrastrukturelle Macht“ (vgl. Mann 1984: 189ff) und Penetrationsfähigkeit, die es ihm erlaubte praktisch das gesamte soziale Alltagsleben zu kontrollieren. Der Parteistaat stellte jedoch zugleich eine entdifferenzierte Ordnung dar, in welcher die Trennung zwischen unterschiedlichen Sphären aufgehoben wurde. Nicht nur das ökonomische, sondern auch das politische Feld durchlief einen Prozess der Bürokratisierung. Die Durchsetzung zentraler Planwirtschaft wurde begleitet von der Verschränkung der überwachenden Parteibürokratie mit der ausführenden Staatsbürokratie zu einem Ensemble von Apparaten, einer politischen Verwaltung.6 Dabei wurde die Partei durch die unmittelbare Beteiligung an der Ausübung staatlicher Funktionen selbst zum institutionellen Bestandteil des Staates. Die Verstaatlichung der Ökonomie und der Partei war die Konsequenz. Damit unterblieb eine Ausdiffe-
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Meissner (1979); Breuer (1994: 105ff); Lewin (2005: 342-360).
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renzierung von autonomen Teilbereichen. Der Sozialismus konsolidierte sich ohne ein eigengesetzliches ökonomisches, politisches und bürokratisches Feld. Mit der bürokratischen Konsolidierung setzte ein für die Entwicklung charismatischer Herrschaftsformen typischer Prozess ein: das Zurückfluten der charismatischen Bewegung in die Bahnen des Alltags und die Veralltäglichung des ursprünglich außeralltäglichen Charismas (Weber 1980: 661f). Auch die sozialistischen Weltanschauungsparteien wurden diesem unvermeidlichen Prozess unterworfen. Je stärker sich das sozialistische Projekt in bürokratischer Form umsetzte, desto mehr drohte das charismatische Moment seine transzendierende Qualität einzubüßen. Als Reaktion hierauf artikulierte sich bereits früh Kritik an der unkontrollierten Vermehrung der Bürokratie, gefolgt von Versuchen, diese zu begrenzen (Nienhaus 1980; Meissner 1979: 79-81). Kennzeichnend für die sozialistischen Regime waren darüber hinaus immer wieder Gegenbewegungen, die darauf abzielten, das Charisma und seine revolutionierende Kraft zu reaktivieren (Breuer 1998: 243ff; Hanson 1997: 20, 203). Periodische Massenmobilisierungen und Kampagnen zu mehr Mitbestimmung, Kadererneuerung und ideologischer Erziehung zielten darauf ab, das Primat des Politischen wiederherzustellen (von Beyme 1975: 310-317; Kenez 1985). Insbesondere kulturrevolutionäre Bewegungen wie in China, der Sowjetunion oder Albanien folgten im Kern der Logik einer charismatischen Mobilisierung (vgl. Roth 1987: 87-136; Fitzpatrick 1978). Auch die stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion lassen sich in ihrer ursprünglichen Zielsetzung auf das Bestreben zurückführen, durch eine Kampagne mit populistischer und antibürokratischer Stoßrichtung agitatorische Funktionen der Partei wiederzubeleben (Getty 1985: 105, 195, 206). In der Dialektik von Veralltäglichung und Reaktivierung des revolutionären Charismas liegt eine wesentliche Ursache der Dynamik sozialistischer Regime. Als Teil des bürokratischen Feldes und zunehmend seiner Logik unterworfen, gelang es der Partei jedoch immer weniger, den Impuls für eine charismatische Erneuerung zu geben und die allmähliche Erstarrung des Sozialismus in Ritualen zu verhindern (Breuer 1994: 105ff). Die weitere Entwicklung des Sozialismus vollzog sich daher in erster Linie als Expansion des bürokratischen Feldes. Der sozialistische Staat konsolidierte sich als ein kontinuierlicher und regelgebundener Anstaltsbetrieb, der mit Kompetenz- und Hierarchieprinzip, ministerialer Struktur, schriftlicher Verwaltung, Fachbeamtentum und Verfahrensregelungen typische Elemente des rationalen Anstaltsstaates aufwies (ebd. 104f). Jedoch blieb ein wichtiges Elemente aus, das Weber zufolge die Spezifik des rationalen Staates ausmacht, nämlich eine durchgehende formale Rationalisierung der politischen Herrschaft. Weber unterscheidet in seinen Arbeiten zwischen unterschiedlichen Modi der Rationalität, nämlich zwischen „formaler“ und „materialer“ Rationalität (vgl.
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Weber 1980: 44f, 396f, 468ff). Erstere zeichnet sich durch berechenbare Verfahren, stetig und kalkulierbar angewandte Regeln sowie eine juristisch präzise Systematik aus, die auf Formalismus und logischer Abstraktion ruht. Letztere dagegen zeichnet sich durch das Bestreben aus, objektive Ergebnisse und vorgegebene Ziele zu erreichen und verfolgt ethische Imperative, egalitäre Gebote oder andere wertende Postulate (Schluchter 1979: 170-176; Zängle 1988: 94ff). Formale Rationalität steht für die systematische Durchstrukturierung gleichförmiger Verfahren, materiale Rationalität dagegen für inhaltlich bestimmte Normen und Maximen. Nur in der Logik formaler Rationalität, die es erlaubt, Regeln bewusst zu etablieren, jederzeit zu ändern und damit beliebiges positives Recht zu schaffen, konstituiert sich der Anstaltsstaat (vgl. Breuer 1991: 191ff). Weber bezeichnet den Anstaltsstaat auch als Idealtypus der legalen Herrschaft.7 Weber zufolge entwickelt sich die formale Rationalität aber nicht aus der Eigengesetzlichkeit der bürokratischen Sphäre. Vielmehr bedarf es externer Bedingungen, die eine formale Rationalisierung der Herrschaft erzwingen. Historisch gesehen entwickelten im Okzident mächtige bürgerliche Gruppen und ein fachlich geschulter Juristenstand ein starkes Interesse an dem formal-rationalen Charakter des Rechts. Sie wurden zu treibenden Kräften der Rechtsrationalisierung (Weber 1980: 468, 487, vgl. Schluchter 1979: 158ff). Die einmal durchgesetzte formale Rationalität erhält sich jedoch nicht von selbst, sondern bedarf auch im modernen Staat externer Impulse zu ihrer Aufrechterhaltung. Damit der formal-rationale Charakter der Verwaltung bestehen bleibt, muss es eine verantwortliche und erneuerbare politische Führung geben, die sich außerhalb des bürokratischen Apparates befindet. Sie muss seine Zielsetzung bestimmen, ihn kontrollieren und gegebenenfalls zur Rechenschaft zwingen – eine Aufgabe, die Weber in seinen politischen Schriften vor allem dem Parlament in einem demokratischen System zuschreibt (Fitzi 2004: 257ff). Entfällt diese externe politische Leitung, so droht die Verselbständigung der Bürokratie durch den Mangel an Kontrollinstanzen (Weber 1971: 352). Dabei ist die Entwicklung einer monopolistischen Garantie auf Erwerbschancen und die verhängnisvolle Wahlverwandtschaft und Interessenhomogenität zwischen Herr und Verwaltungsstab das Hauptproblem (Schluchter 1972: 75ff). Je absoluter die bürokratische Herrschaft, desto geringer ihr formal-rationaler Charakter (Breuer 1991: 214). Alle sozialistischen Staaten besaßen nicht nur ein ausgeprägtes bürokratisches Moment, sondern basierten in ihrer Herrschaft auch wesentlich auf dem Prinzip formal-rationaler Satzung. Es ist jedoch das Kennzeichen der sozialisti-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 7
Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel II.1.
104
Die Formierung des Staates in Osteuropa
schen Staaten, dass sie eine durchgehende formale Rationalisierung nicht erreicht haben und auch über keinen Mechanismus verfügten, um sie zu erzwingen. Erstens bedeuteten die charismatische Mobilisierung des Staates und seine Ausrichtung auf das übergeordnete Endziel des Kommunismus, dass der Staat trotz vorhandener formal-rationaler Satzungen letztendlich eine materiale Zielorientierung aufwies.8 Die Maximen der politischen Ordnung waren festgelegt. Sie basierten in dem Charisma der Vernunft und damit letztlich unverrückbaren marxistisch-leninistischen Glaubenssätzen. So zeichnete sich der sozialistische Staat zwar durch rational gesatzte Regeln aus, jedoch basierte er nicht auf einer rational gesatzten Verfassung. Die legitimierenden Grundlagen der Normsetzung selbst waren nicht verfügbar. Damit fehlte ein entscheidendes Merkmal, was Weber zufolge rationale Herrschaft auszeichnet, nämlich die Ausdehnung des Prinzips der Satzung positiven Rechts auch auf die Grundlagen der Herrschaft, die der Ordnung als Ganzes gesatzten Charakter verleiht (Breuer 1991: 195-202). Weil der sozialistische Staat seine Legitimation wesentlich aus dem Telos der Revolution und gesellschaftlichen Umgestaltung bezog, folgte auch die Arbeit seiner Apparate keiner rein formal-rationalen Logik. Material-rationale Erwägungen bestimmten vielmehr grundsätzlich die gesamte Alltagsverwaltung, wo sie in Form politischer und ideologischer Prioritäten in Konflikt mit formalen Verfahren gerieten oder diese überlagerten (Pakulski 1986; Hoffer 1992: 90ff). Daher blieb auch das sozialistische Fachbeamtentum immer auf beide Sorten des kulturellen Kapitals angewiesen, nämlich ideologische und fachliche Einschulung. Weder die Kaderverwaltung mit ihrer ursprünglich bewussten Abkehr von Expertenwissen, Laufbahn und Hauptamtlichkeit (Balla 1972) noch die politisierte Justiz (Sharlet 1979; Solomon, Jr. 1992), die mobilisierte Ökonomie (Sapir 1992; Gregory 1990: 54ff), das ideologisch streng geschulte Militär (Kolkowicz 1985) oder die Arbeit der Polizei (Shelley 1996) folgten einer von Ideologie und Parteiinteresse losgelösten autonomen Funktionslogik. Zweitens mangelte es an einem Mechanismus, den erreichten Stand formaler Rationalisierung aufrecht zu erhalten. Denn der Sozialismus verhinderte das Aufkommen von Akteuren, die seine politischen Maximen hätten in Frage stellen und Interesse an einer versachlichten Form politischer Herrschaft hätten entwickeln können. Weder von konkurrierenden Parteien noch von unabhängigen Gerichten oder einer freien Öffentlichkeit gingen Gegenbewegungen zur Herrschaft der Partei oder strukturelle Zwänge zum Legalitätsprinzip aus (Hoffer 1992: 88f). Die Partei stellte die einzig legitime politische Instanz dar. Ihre ursprüngliche politische Kontrollfunktion konnte sie jedoch immer weniger wahr-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 8
Rigby (1980: 17-21); Pakulski (1986: 13ff); Hoffer (1992: 90ff).
Widersprüche des sozialistischen Staates
105
nehmen. Denn je mehr sich die Partei mit der ausführenden Staatsbürokratie verzahnte und mit ihren eigenen Apparaten selbst Teil der Verwaltung wurde, desto weniger vermochte sie diese effektiv zu kontrollieren und eine rationale Rechtsordnung zu erzwingen. Die Entwicklung einer verselbständigten und politischer Steuerung entzogenen Bürokratie war die Folge. Die Partei büßte ihren Anspruch auf politische Führung ein und der Sozialismus nahm Züge einer reinen Beamtenherrschaft an (Breuer 1994: 105; Lewin 2005: 373ff). In dem Zusammentreffen der materialen Zielorientierung mit den mangelnden Gegengewichten zur Herrschaft der Apparate liegt der Grund, dass die formale Rationalisierung des sozialistischen Staates unvollständig blieb. Hierin lag zugleich die Bedingung der Möglichkeit, dass der Staat schließlich Züge traditionaler Herrschaft annahm. Zum Ausdruck kam das in einer Patrimonialisierung des staatlichen Feldes.9
2.2
Der patrimoniale Sozialismus
Der Patrimonialismus zeichnet sich Max Weber zufolge durch die mangelnde Trennung zwischen öffentlichen und privaten Sphären und die überragende Bedeutung personaler Herrschaft aus (Weber 1980: 130ff, 580ff).10 Als eine rationalisierte Variante dieses Typus lässt sich der „patrimoniale Sozialismus“ bezeichnen, der wesentliche Merkmale patrimonialer Herrschaft aufwies. Patrimoniale Elemente glichen in den Apparaten durch die Personalisierung von Beziehungen bürokratische Rigiditäten und den Mangel an legaler Erwartungssicherheit aus. Der Patrimonialismus stellte darüber hinaus eine Form der ökonomischen Appropriation knapper Mittel dar. Er stand dabei jedoch immer in Konkurrenz zu den vorhandenen Elementen charismatischer und formal-rationaler Herrschaft. Die patrimonialen Strukturen blieben durch das Charisma der Partei und versachlichte Verfahren begrenzt. Es ist diese Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Herrschaftslogiken, die den patrimonialen Sozialismus auszeichnet. Wesentliche Kennzeichen dieses patrimonialen Sozialismus waren eine Tendenz zur Personalisierung und Willkürherrschaft durch die obersten Parteisekretäre, der Klientelismus der Partei sowie die Aneignung von materiellen Gütern in der informellen Wirtschaft.
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 9 10
Zur Charakterisierung des Sozialismus als neotraditional oder patrimonial vgl. Jowitt (1983) und Roth (1987: 58ff). Vgl. die Ausführungen in Kapitel II.1.
106
Die Formierung des Staates in Osteuropa
Obgleich sich diese Elemente in allen Ländern des Ostblocks beobachten ließen, so haben sie sich doch, so die These, vor allem in Südosteuropa und Eurasien ausgeprägt. Regionen wie der Balkan, der Kaukasus, Zentralasien aber auch Russland zeichneten sich vor der Etablierung des Sozialismus durch geringe Ansätze zur gesellschaftlichen Differenzierung und ausgeprägte traditionale Formen aus (s.o. IV.1). Erst die sozialistische Modernisierung brachte den entscheidenden Modernisierungsschub. Zwar hatten auch hier die sozialistischen Regime einen sozialen Wandel forciert, der mit der Enteignung feudaler Eliten, der Zerschlagung der traditionalen Familie, der Unterdrückung religiöser Institutionen sowie der Kollektivierung und Industrialisierung eine massive Zäsur darstellte. Die späte Umwälzung traditionaler Gemeinschaften in Südosteuropa und Eurasien hatte jedoch eine besondere Modernisierungskonstellation zur Folge. Einerseits wurden im Zuge des erstmalig angestoßenen sozialen Wandels lokaltraditionale Sozialformen zum Teil nur unvollständig aufgehoben. Andererseits mussten neue Traditionalismen geschaffen werden, um die enormen Verwerfungen und Umbrüche der forcierten, autoritären Modernisierung abzufedern. Teils als Transformation unvollständig aufgelöster traditionaler Zusammenhänge, teils als Reaktualisierung oder Neuerfindung von Traditionen, ergab sich hieraus eine Vermischung moderner mit traditionalen Elementen.11 Partikulare Netzwerke, personale Beziehungen, vergemeinschaftete Gruppen und die im Habitus verankerten Normen der Reziprozität und sozialen Verpflichtung hielten Einzug in den Staat und traten in Konkurrenz zur bürokratischen Logik. Eine Patrimonialisierung des staatlichen Feldes war die Folge. Die nachstehende Skizze will dies etwas ausführen und orientiert sich dabei in der Darstellung vor allem anhand der Entwicklungen in Südosteuropa und der Sowjetunion. Die Balkanstaaten hatten im Sozialismus formell den Status eigenständiger Republiken, jedoch waren sie vor allem in den ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg Teil des informellen sowjetischen Imperiums in Osteuropa und standen in einem klientelistischen Abhängigkeitsverhältnis zu Moskau (Berend 1996; Janos 2000: 218ff). Die Sowjetunion selbst hatte sich als eine Förderation konstituiert, die jedoch in ihrem Verhältnis zwischen dem Russischen Zentrum und den peripheren Republiken im Kaukasus, in Zentralasien und im südwestlichen Eurasien in mancherlei Hinsicht an das Zarenreich erinnerte.12
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 11
12
Vgl. zu Südosteuropa Allcock (2000) und Sterbling (1993), zu Zentralasien Poliakov (1992) und Roy (2000), zum Kaukasus Suny (1983) und King (2008: 200ff) sowie zu Russland Lewin (1985, 2005). Nove/Newth (1967: 116ff); Eisenstadt (1992); Baberowski (1998, 1999) und Motyl (2001).
Widersprüche des sozialistischen Staates
107
Die Macht der Parteisekretäre und Kader Die Personalisierung der sozialistischen Regime kam grundsätzlich in den diversen Kulten um herausragende Führerpersönlichkeiten zum Ausdruck. Die Persönlichkeitskulte um Lenin und Stalin stehen beispielhaft hierfür.13 Aber auch andere nationale Führer und oberste Parteisekretäre erlangten im Verlauf langjähriger Amtszeiten ein persönliches Charisma und etablierten dabei Formen der Willkürherrschaft, die das Prinzip der kollektiven Führung unterminierten. In Südosteuropa betrug die Regierungszeit der Parteiführer in Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien und Albanien durchschnittlich 34 Jahre (vgl. Tabelle 2). Insbesondere in den letzten drei Ländern sind Nicolae Ceauúescu, Josip Broz Tito und Enver Hoxha zum Inbegriff der von ihnen regierten Staaten geworden. Ihre Herrschaft zeichnete sich durch patriarchal-autoritäre Praktiken des Regierens sowie eine hohe Repressionsneigung aus. Zugleich war sie von ausgeprägten Personenkulten begleitet, bei denen alle drei Sekretäre als nationale Führer, siegreiche Partisanenhelden oder eigene ideologische Quelle des MarxismusLeninismus verehrt wurden.14 Tabelle 2: Regierungszeiten Erster Sekretäre in Volksrepubliken Südosteuropas Albanien:
Enver Hoxha
1943 - 1985
= 42 Jahre
Bulgarien:
Todor Schiwkow
1954 - 1989
= 35 Jahre
Rumänien:
Nicolae Ceauúescu
1965 - 1989
= 24 Jahre
Jugoslawien:
Josip Broz Tito
1945 - 1980
= 35 Jahreȱ
Die verschiedenen Sowjetrepubliken in Eurasien besaßen im Gegensatz zu den Balkanstaaten nur formal eigenstaatlichen Charakter und waren faktisch Bestandteil des sowjetischen Imperiums. Dennoch entwickelten sie im Rahmen der sowjetischen Nationalitätenpolitik ein zunehmendes Eigenleben. Die Normierung von Kulturen, die Erfindung nationaler Traditionen und die Konstruktion neuer Identitäten entfaltete eine lokale Eigendynamik und ging einher mit der Rekrutierung nationaler Eliten für die Partei- und Staatsapparate der einzelnen Sowjetrepubliken (Suny 1993: 84-126). Zugleich führte eine auf Stabilität zie-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 13 14
Vgl. Tucker (1973: 462-487); Gill (1982); Tumarkin (1983); Stölting (1997b); Heller/Plamper (2004); Apor et al. (2004). Vgl. Fischer (2007); Sretenovic/Puto (2004) sowie zu Rumänien auch Tismaneanu (2003: 187232); Verdery (1996: 64ff) und zu Albanien Hensell (2004b: 72-78).
108
Die Formierung des Staates in Osteuropa
lende sowjetische Kaderpolitik seit den 1960er Jahren zu langjährigen Amtszeiten und einer zunehmenden Vergreisung der staatlichen Eliten (Blackwell, Jr. 1979; Bialer 1980: 81-96). Von 1960 bis Mitte 1980 betrug die durchschnittliche Amtsdauer der Parteisekretäre in der Sowjetunion Jahre 19 Jahre (s. Tabelle 3). Wie in den Staaten Südosteuropas etablierten sich damit auch hier stabile, durch die Parteisekretäre personalisierte Arrangements des Regierens, wenngleich weniger ausgeprägt als in den Regimen Südosteuropas. Tabelle 3: Regierungszeiten Erster Sekretäre in Republiken der Sowjetunion Russland:
Leonid Breschnew
1964 – 1982
= 18 Jahre15
Ukraine:
Wladimir Schtscherbizki
1972 – 1989
= 17 Jahre
Weißrussland: Piotr Mascherow
1965 – 1980
= 15 Jahre
Moldawien:
1961 – 1981
= 20 Jahre
Ivan Bodyul
Aserbaidschan: Haidar Alijew
1969 - 1982
= 13 Jahre
Georgien:
Wassili Mschawanadse
1953 - 1972
= 19 Jahre
Armenien:
Karen Demirtschian
1974 - 1988
= 14 Jahre
Usbekistan:
Scharaf Raschidow
1959 - 1983
= 24 Jahre
Kasachstan:
Dinmuchamed Kunajew
1960 - 1986
= 24 Jahre16
Kirgistan:
Turdjakun Usubalijew
1961 - 1985
= 24 Jahre
Tadschikistan: Dschabar Rasulow
1961 - 1982
= 21 Jahre
Turkmenistan: Muhhamednasar Gapurow
1969 - 1985
= 16 Jahre ȱ
Die Personalisierung der sozialistischen Staaten durch ihre Führungsspitze blieb jedoch in der Regel begrenzt. Herausragende Anführer wurden in der Regel nicht ausschließlich als Person, sondern immer auch als Repräsentant einer Idee und Symbol der Partei verehrt (Breuer 1998: 239).17 Die Generalsekretäre der Partei waren zwar mit erheblicher Machtfülle ausgestattet und nahmen eine dominante Position ein, jedoch herrschten sie nicht absolut und ihre Macht wurde in der Regel durch die Partei ausbalanciert (Brown 1980). Auf ihr Abtreten folgten daher auch Bestrebungen, das Prinzip der kollektiven Führung und die Priorität der Partei wiederherzustellen (Paltiel 1983: 64). Nachfolgeregelungen bedeuteten
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 15 16 17
Generalsekretär der KPdSU. Mit Unterbrechung von Ende 1962-1964. Vgl. auch Tumarkin (1983: 261-263) zu Lenin und Stölting (1997a: 194) zu Stalin.
Widersprüche des sozialistischen Staates
109
dabei zumeist die Verschiebung von der Herrschaft einer Person zu instabilen Oligarchien, die dann zurück zu einer Form personaler Herrschaft tendierten (Rush 1974: 14-19). Tendenzen zur Personalisierung der sozialistischen Staaten blieben nicht auf die Spitze beschränkt, sondern bestimmten auch die Funktionsweise im Apparat. Denn die Gründung des Parteistaates auf den Prinzipien einer charismatischen, außeralltäglichen Mobilisierung hatte eine vergleichsweise hohe Bedeutung außerordentlicher, extralegaler Methoden zur Folge. Die administrative Willkür war Bestandteil der bürokratischen Logik, weil die Gültigkeit legaler Satzungen und Rechtsnormen unter dem Vorbehalt des Politischen blieb. Informelle und flexible Vorgehensweisen sowie außerordentliche „Maßnahmen“ (Plaggenborg 2006: 201-220), die sich nicht einer rechtsförmigen und satzungsgemäßen Logik unterordneten, bestimmten daher die bürokratische Praxis wesentlich mit. Zum Ausdruck kam das in personalisierten Entscheidungsprozessen und weiten Handlungsspielräumen der Akteure. Dem stalinistischen Diktum „Kader entscheiden alles“ und den Prinzipien der Kaderverwaltung (vgl. Balla 1972) zufolge besaß der einzelne Parteifunktionär eine erhebliche Machtfülle. Sie bestand zwar nicht losgelöst von der ausgeübten Parteifunktion, aber solange ihr Inhaber diese Funktion innehatte, verfügte er über weitgefasste bis unumschränkte Befugnisse (Schapiro 1971: 623ff; Hoffer 1992: 79ff, 92ff). Parteikader umgingen bei Bedarf Instanzenzug und Kompetenzregelung oder entschieden als Sonderbeauftragte Kompetenzstreitigkeiten. Das Prinzip weit reichender Vollmachten hatte eine Allzuständigkeit der Führungsspitze zur Folge, bei der sich auch der Generalsekretär der KPdSU mit technischen Details der Produktion befasste (Hough 1969: 282ff; Herlemann 1976: 1072ff). Damit wies die Verwaltung der sozialistischen Staaten durchaus Ähnlichkeiten zur Bürokratie des Osmanischen Reichs auf (Fairbanks, Jr. 1987: 347ff). Grundsätzlich zeichneten sich alle sozialistischen Staaten dadurch aus, dass sie über keine konsolidierte Rechtssphäre verfügten (Plaggenborg 2006: 201-220). Der Ausbau der so genannten „sozialistischen Gesetzlichkeit“ bedeutete zwar eine Rechtskodifizierung und Verrechtlichung, die jedoch in erster Linie das Strafrecht betraf. Eine Formalisierung und Systematisierung des Verwaltungsrechts dagegen unterblieb (ebd. 205ff). Aber auch das Strafrecht blieb ein politisierter und instrumentalisierbarer Bereich ohne wirkliche Autonomie. Parteikader intervenierten in Strafverfahren und blieben zugleich außerhalb der Reichweite des Strafrechtes, wenn parteipolitische oder persönliche Interessen einer Verurteilung im Weg standen (Sharlet 1979; Solomon, Jr. 1992). Im Ergebnis galt deshalb: „‚The law is the law, but the raikom secretary is the raikom secretary‘“ (Sharlet 1979: 382, Hervorh. i. O.). Neben diesem Element der Willkür entwickelten sich patrimoniale Praktiken vor allem durch das zunehmende Streben der Akteure nach privaten, einträg-
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Die Formierung des Staates in Osteuropa
lichen Lebensformen (Shlapentokh 1989: 153ff). Je stärker die angestrebte Zukunft und die Ziele des Sozialismus in der Alltagswirklichkeit verblassten, desto mehr trat die Erwartung wirtschaftlicher Vorteile und Strategien der materiellen Besitzstandswahrung in den Vordergrund. Die Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft erfolgte wesentlich über ökonomische Interessen (vgl. Weber 1980: 661f), während die Bedeutung kulturellen Kapitals in Form ideologischpolitischen Heilswissens zurücktrat. Der Klientelismus und verschiedene Formen der Aneignung und damit die Akkumulation sozialen und ökonomischen Kapitals gewannen an Bedeutung.
Der Klientelismus der Partei Der Klientelismus, gekennzeichnet durch vertikale Beziehungen zwischen einem höhergestellten Patron und niedrigergestellten Klienten, ist in vielen sozialistischen Staaten verbreitet gewesen und erlangte eine zentrale Rolle für die Rekrutierung und Mobilität der Eliten.18 Vor allem in der Partei formierten sich klientelistische Netzwerke. Denn sie monopolisierte die staatliche Ämterverteilung und verregelte durch Kaderpolitik und Nomenklatursystem die Eintrittsbedingungen ins staatliche Feld (Voslensky 1980: 171-176). Die Parteimitgliedschaft wurde zur Voraussetzung von Karrieren und stellte eine Form institutionalisierten sozialen Kapitals dar. Sie verschaffte Beziehungen und den Zugang zu begehrten Konsumgütern, besserer medizinischer Versorgung, knappem Wohnraum, Ferienhäusern und anderen Privilegien (vgl. ebd. 308-357; Matthews 1978: 36ff). Schon früh zeichnete sich in der Sowjetunion die Existenz klientelistischer Netzwerke ab. Die bolschewistische Partei, in ihren Anfängen vor allem eine Partei der urbanen und industriellen Zentren (Lewin 1985: 270), erlangte in den 1920er Jahren eine Kontrolle über die russische und nicht-russische Peripherie nur indirekt, indem sie die dort etablierten mächtigen Akteure tolerierte. Verbunden durch gemeinsame Erfahrungen im Untergrund und Bürgerkrieg standen diese Intermediäre an der Spitze lokaler Patronagenetzwerke und erhoben den Anspruch auf ökonomische und politische Macht (Easter 2000). Der Klientelismus entwickelte sich insbesondere in den südlichen Sowjetrepubliken und im Balkan zur vorherrschenden Art der Elitenakkommodation und zum dominanten Prinzip sozialer Interaktion. Die Kollektivierung hatte zwar die traditionalen
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 18
Vgl. allgemein zum Klientelismus in den sozialistischen Staaten Rigby/Harasymiw (1983); Rigby (1990); Willerton (1992); Easter (2000).
Widersprüche des sozialistischen Staates
111
Eliten und ihr Monopol auf lokale Patronage beseitigt, schuf aber neue Formen eines über den Staat vermittelten Klientelismus, dessen Strukturen die Hierarchie der bürokratischen Apparate durchdrang. Die Etablierung weit verzweigter und dichter Patronagenetzwerke sowie die Kontrolle der wichtigsten Ämter durch die erweiterte Familie des Parteisekretärs stabilisierten die politische Herrschaft.19 Die Klientelsysteme wiesen eine erhebliche Varianz auf. Dabei lassen sich modernisierte und traditionale Varianten unterscheiden. Entscheidend für erstere war die gemeinsame Ausbildung in Betrieben, Behörden, Jugendorganisationen und territorialen Verwaltungseinheiten, in denen sich karrierefördernde Beziehungen entwickelten.20 Die hier entstandenen instrumentellen Freundschaften waren nicht durch traditionale symbolische Beziehungen umkleidet und allein auch nicht ausreichend für die weitere Karriere. Denn die Patronage wurde zunehmend nur in Verbindung mit speziellen Qualifikationen und einer technokratischen Orientierung wirksam. Neben persönlichen Beziehungen stellte das kulturelle Kapital der Fachschulung eine wesentliche Voraussetzung des beruflichen Fortkommens dar (Stewart et al. 1972; Reisinger/Willerton, Jr. 1988). Die entsprechenden Klientelmuster zeichneten sich daher durch ein rationales Element aus. Zugleich grenzten sie sich nach unterschiedlichen institutionellen Bereichen ab und waren auf den Austausch spezifischer Hilfen verengt (Eisenstadt/Roniger 1984: 186-190). Diesen modernisierten Klientelbeziehungen standen umfassendere und weniger flexible Netzwerke der lokalen und verwandtschaftlichen Patronage gegenüber. Traditionale Erwartungshaltungen und affektive Bindungen familiärer, religiöser oder ethnischer Art blieben dort ein zentrales Element.21 Klientelbeziehungen glichen im Sozialismus grundsätzlich den Mangel an formal-legaler Erwartungssicherheit aus. Weil der einzelne Parteifunktionär über keine einklagbaren Rechte verfügte und in seiner Laufbahn gänzlich von der Person seines Vorgesetzten abhängig blieb (Schapiro 1971: 623ff), stellte Patronage eine wesentliche Möglichkeit dar, um die eigene Position im bürokratischen Feld abzusichern oder zu verbessern. Die Netzwerke der Patronage waren nicht auf die lokale Ebene beschränkt, sondern reichten auch in die Führungsspitze der sozialistischen Staaten bis hinauf zum Generalsekretär der KPdSU (Willerton
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 19
20 21
Vgl. Willerton (1992: 191-220) zu Aserbaidschan, Collins (2006: 80-134) und Roy (2000: 96124) zu Zentralasien, Fairbanks (1983) zu Georgien, de Flers (1984) zu Rumänien, Hensell (2004b: 75ff) zu Albanien und Vaisman (1995: 108-115) zu Usbekistan. Vgl. Urban (1989: 70-78) zu Weißrussland, Willerton (1992: 191-220) zu Aserbaidschan sowie Roy (2000: 96-124) und Luong (2002: 51-101) zu Zentralasien. Vgl. Roy (2000: 85-96) zu Zentralasien und Allcock (2000: 353-366) zu Jugoslawien.
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Die Formierung des Staates in Osteuropa
1992: 33ff; 42ff).22 Sie überspannten Regionen, Institutionen und politische Positionen. Sie halfen die Partei- und Staatshierarchien zu überbrücken, wichtige Akteure und ihre Netzwerke einzubinden, Unterstützung für bestimmte politische Initiativen zu mobilisieren sowie die Kontrolle über Teilbürokratien zu erlangen (ebd. 227f). Klientelistische Beziehungen waren nicht nur innerhalb der Partei vorherrschend, sondern stellten darüber hinaus auch die wesentliche Form der Interaktion zwischen den Bürgern und der öffentlichen Verwaltung dar. Um staatliche Dienste in Anspruch zu nehmen, waren klientelistische Netzwerke fast immer unverzichtbar (DiFranceisco/Gitelman 1984: 611ff). In ihrer Reichweite wurden Jobs, Wohnungen, der Zugang zu Bildungseinrichtungen und medizinischer Versorgung gegen knappe Konsumgüter und private Dienstleistungen getauscht.23
Die Aneignung in der informellen Ökonomie In jedem politischen System steht das Ausmaß staatlicher Regulierung in einem Zusammenhang mit den Opportunitäten zur Korruption. Je größer die Bedeutung des öffentlichen Sektors als Quelle für Güter, Dienstleistungen und Arbeit, desto mehr Möglichkeiten für die staatlichen Bediensteten von illegaler Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung zu profitieren (vgl. Scott 1972: 12f). Insbesondere der Sozialismus schuf durch seine weit reichende Regulierung auch weit reichende informelle und illegale Praktiken, um die Rigiditäten des Systems zu umgehen (Clark 1993: 43-66; 214-219). Dabei eröffneten die Positionen im bürokratischen Feld verschiedene Chancen zur Akkumulation ökonomischen Kapitals. Polizei, Justiz, Bildungseinrichtungen oder die für die Verteilung von Wohnraum zuständigen Ämter profitierten von einem System konventionalisierter Trinkgelder und Zuzahlungen für Genehmigungen, die Beschleunigung von Verfahren oder die Gewährung von Ausnahmen.24 Vor allem aber die Verstaatlichung der Öko-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 22 23
24
Vgl. auch Urban (1989: 73-78) zu Weißrussland, Willerton (1992: 191ff) zu Aserbaidschan und Roy (2000: 104) zu Zentralasien. Von den vertikalen Netzwerken des Klientelismus sind die Netzwerke mit horizontalen Beziehungen zu unterscheiden, die sich unter den Bedingungen knapper Ressourcen entwickelten. In ihnen bestimmte gegenseitige Fürsprache und Hilfe den Tausch zwischen Gleichen, der anders als im Klientelismus nicht auf Asymmetrie und Ungleichheit gründete (Ledeneva 1998: 53-57 und passim; Sampson 1985: 48f, 58ff). Die Übergänge zwischen diesen unterschiedlichen Formen sozialer Verpflichtung waren allerdings fließend (ebd.). Vgl. auch allgemein Schmidt et al. (1977); Eisenstadt/Roniger (1984). Vgl. Simis (1982: 67-88, 127-145); Shelley (1996: 46-52); DiFranceisco/Gitelman (1984: 612617); Kramer (1977: 214ff).
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nomie schuf zahlreiche Möglichkeiten der Bereicherung. Alle sozialistischen Systeme zeichneten sich durch einen informellen ökonomischen Sektor aus, der sich als Reaktion auf die planwirtschaftliche Ineffizienz entwickelte. Neben die verstaatlichte formelle Ökonomie mit Preiskontrolle, Produktions-, Verteilungsund Außenhandelsmonopol traten flexible Schattenmärkte, um die Knappheit und mangelnde Qualität an Gütern und Dienstleistungen auszugleichen.25 Diese informelle Ökonomie umfasste ein breites Spektrum von Praktiken. Dazu zählten zunächst Formen legaler privater Arbeit in der Landwirtschaft sowie in bestimmten Berufen. Weil diese Aktivitäten zumeist einer behördlichen Genehmigung sowie der Besteuerung unterlagen, erfolgten sie in der Regel informell (Grossman 1984: 6-8). Darüber hinaus eigneten sich Kleinunternehmer Materialien, Güter und Transportmittel des öffentlichen Sektors für ihre privaten, teils legalen, teils illegalen wirtschaftlichen Aktivitäten an. Diese Appropriation wurde schließlich allgemein akzeptierte und behördlich tolerierte Praxis (Millar 1985: 697ff). Auch jeder sozialistische Betrieb war zur Erfüllung des Plansolls auf ein gewisses Maß an „brauchbarer Illegalität“ (Luhmann 1976: 304-314) angewiesen. Dazu zählte typischerweise eine höher oder niedriger angegebene Produktion, sei es um Prämien zu kassieren, sei es um höhere Planziele im nächsten Jahr zu vermeiden oder bei späteren Versorgungsengpässen den Plan doch noch erfüllen zu können. Ferner zählte dazu die Beschäftigung inoffizieller Zulieferer, die für die eigenen Betriebe arbeiteten und deren Aufgabe allein darin bestand, auf informellem Wege alle notwendigen Materialen und Komponenten zu organisieren, um den reibungslosen Betrieb zu gewährleisten.26 Formelle und informelle Ökonomie entwickelten sich nicht getrennt, sondern waren Teil eines Reproduktionsprozesses. Die Notwendigkeit, die Irrationalitäten der Planwirtschaft durch informelle und illegale Praktiken auszugleichen, sowie die Expansion einer Vielzahl von privaten ökonomischen Aktivitäten schufen breiten Raum für Bestechung staatlicher Bediensteter. Das galt insbesondere für die illegale Produktion knapper Konsumgüter in „Untergrundfabriken“ oder unter dem Deckmantel staatlicher Betriebe, deren Produkte über den Schwarzmarkt oder reguläre Groß- und Einzelhandelskanäle vertrieben wurden (Simis 1982: 102-126; Grossman 1984: 1520). Stets erforderte dies Bestechungsgelder an Zulieferer, Transport- und Verkaufspersonal, an Direktoren der Betriebe, an Inspektoren und Kontrolleure sowie an Ministerialbeamte und Parteisekretäre (Grossmann 1977: 31ff; Simis 1982: 106ff). Mit wachsendem Umfang der Untergrundfirmen stiegen daher
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Vgl. Grossman (1977, 1984); Sampson (1985, 1987); ŁoĞ (1990); Ledeneva (1998). Berliner (1957); Simis (1982: 89-102); ŁoĞ (1983: 40-45).
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Die Formierung des Staates in Osteuropa
auch die Kosten für Protektion durch die zuständigen Behörden, die quasi eine progressive Einkommenssteuer auf illegale Gewinne erhoben (Grossman 1984: 15, 24). Auf der unteren Ebene der Partei- und Staatshierarchie protektionierten ganze Verwaltungsstäbe die Restaurants, Betriebe oder Läden ihres Bezirks, indem sie deren illegale Praktiken verschleierten und dafür Bestechungsgelder kassierten (Simis 1982: 44-66). Insbesondere die kaukasischen und zentralasiatischen Staaten hatten vergleichsweise große informelle Ökonomien.27 Die Kontrolle und Besteuerung der parallelen Märkte durch die Behörden warf hier entsprechend hohe illegale Gewinne ab. Diese informellen Strukturen entwickelten sich zu einem System, bei dem weite Teile des Partei- und Staatsapparates im großen Stil illegal ökonomisches Kapital akkumulierten. Die institutionalisierte Aneignung begünstigte schließlich die Käuflichkeit öffentlicher Ämter und eine Veräußerungspraxis, die regelrechte Märkte für Positionen im bürokratischen Feld entstehen ließ (Simis 1977: 42).28 Im innersowjetischen Vergleich entfielen auf die kaukasischen und zentralasiatischen Republiken ungleich mehr Korruptionsfälle, gemessen an den bekannt gewordenen Verurteilungen.29 Anti-Korruptionskampagnen in der Sowjetunion konzentrierten sich vornehmlich auf die südlichen Republiken. Von 1964 bis 1977 trafen sie die Führungsebenen in Aserbaidschan, Georgien, Armenien, Kirgistan und Usbekistan und Mitte der 1980er Jahre noch einmal fast alle zentralasiatischen Staaten.30 Hierin zeigt sich allerdings auch, dass die Tendenzen zur Patrimonialisierung nicht ohne Widerstand hingenommen wurden. Regelmäßige Kampagnen gegen Schwarzmarktaktivitäten und Korruption sowie zahlreiche Kontrollagenturen und die kritische Berichterstattung der kontrollierten Öffentlichkeit zielten darauf ab, diese Praktiken zu begrenzen (Clark 1993: 100ff). Die Erfolge blieben jedoch beschränkt. Praktiken der Aneignung wurden nur zum Teil geahndet, sei es weil einflussreiche Patrone eine strafrechtliche Verfolgung ihrer Klienten verhindern konnten, sei es weil bestimmte Rechtsübertretungen aus Gründen der Parteiräson oder der Planerfüllung als opportun erachtet wurden.31 Anti-Korruptionskampagnen waren darüber hinaus immer auch Teil des politischen Machtkampfs um Pfründe und wurden zur Ausschaltung von Konkurrenten instrumentalisiert. Die Denunziation korrumpierter Par-
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Kim (2003: 545ff); Schroeder-Greenslade (1980: 10ff); Altman (1989); Grossman (1977: 34f); Lubin (1984: 183-197). Vgl. Zemtsov (1976: 67-89) zu Aserbaidschan, Simis (1982: 35-37) zu Georgien und Lubin (1984: 196) zu Usbekistan. Clark (1993: 85-89); Feldbrugge (1984: 541); Holmes (1993: 146). Simis (1977: 46-50); Burg (1990: 36); Clark (1993: 145-201); Holmes (1993: 220-231). Simis (1977: 47-49); Lampert (1984); Schwartz (1979: 430ff).
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teimitglieder zielte auf die Beseitigung einflussreicher Patrone und ihre Netzwerke, um dann andere Klientelen etablieren zu können (Clark 1993: 146ff). Wie die sozialistischen Staaten selbst, so zeichnete sich auch der patrimoniale Sozialismus damit insgesamt durch eine erhebliche Varianz aus. Er prägte sich in unterschiedlichen Formen und Gewichtungen aus. Ausschlaggebend hierfür waren ebenso die konkreten vorsozialistischen Bedingungen und das unterschiedliche Ausmaß der Umwälzung traditionaler Formen wie der ungleiche Charakter der Sowjetrepubliken und der Balkanstaaten und die damit verbundenen politischen und ökonomischen Differenzen. Der Patrimonialismus entwickelte sich jedoch nicht zum dominierenden Modus im staatlichen Feld. Er stieß in der zentralisierten bürokratischen Kontrolle des Parteistaates und den ideellen Zielen der charismatischen Herrschaft auf unterschiedliche Widerstände.
Fazit: Die Eigentümlichkeit des sozialistischen Staates Die Spezifik des sozialistischen Staates lässt sich als die Herrschaft charismatischer Weltanschauungsparteien fassen, die sich durch eine Bürokratisierung und Patrimonialisierung veralltäglicht haben.32 Der Partei kam nicht nur eine zentrale Machtstellung zu, sondern sie wurde zugleich zum Träger eines transpersonalen Charismas.33 Die charismatische Mobilisierung des Parteistaates wurde von einem forcierten gesellschaftlichen Wandel begleitet, bei welcher der Staat als Hauptagent der Modernisierung auftrat und eine weitreichende gesellschaftliche Präsenz erlangte. Erkennbar wurde dies nicht nur an der staatlichen Regulierung der Ökonomie, sondern auch an der Kontrolle der räumlichen und sozialen Mobilität, der Kultur, Religion, des Familienlebens, der Freizeitgestaltung und Berufswahl sowie an der Fähigkeit zur effektiven Unterdrückung innergesellschaft-
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Zur Entstehung bürokratischer oder patrimonialer Strukturen aus der Veralltäglichung charismatischer Herrschaft siehe Weber (1980: 142-148, 661ff). Diese Entwicklungssequenz ist hier, wie auch bei Weber, idealtypisch zu verstehen. In der historischen Realität der sozialistischen Staaten zerlegt sie sich in einzelne Schübe und Konjunkturen. Tendenzen zur bürokratischen und patrimonialen Herrschaft spielten im Sozialismus von Anfang an eine Rolle, wie umgekehrt Versuche das Parteicharisma zu reaktivieren bis zu seinem Ende andauerten. Wenn hier das charismatische Moment hervorgehoben wird, so soll die Gewaltförmigkeit des Sozialismus damit nicht unterschlagen werden. Wie jede Herrschaft basierte auch der sozialistische Staat auf Angst, Drohung und Zwang. Die gewaltsame Formierung der Sowjetunion im Zuge innerstaatlicher Kriege, der stalinistische Terror in den 1930er Jahren, die erzwungene Modernisierung oder die massive Repression oppositioneller Bestrebungen durch die omnipräsenten Polizei- und Geheimdienste belegen das zur Genüge (vgl. zuletzt Plaggenborg 2006: 121-177).
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Die Formierung des Staates in Osteuropa
licher Gegenkräfte und zur Kontrolle der Gewalt. Mit der bürokratischen Expansion und Durchsetzung einer flächendeckenden Verwaltung erfuhr die charismatische Herrschaft eine zunehmende Veralltäglichung. Die formale Rationalisierung des Parteistaates blieb jedoch begrenzt und er formierte sich ohne eine autonome politische, bürokratische und ökonomische Sphäre. Darin lag die Bedingung der Möglichkeit, dass sich patrimoniale Praktiken herausbilden konnten. Auch hierdurch hat sich die charismatische Herrschaft veralltäglicht. Der patrimoniale Sozialismus ist vor allem ein Kennzeichen der Sowjetrepubliken und der Balkanstaaten gewesen, deren Gesellschaften bereits vor dem Sozialismus nur in Ansätzen eine Modernisierung durchlaufen haben. Vor diesem historischen Hintergrund haben die Staaten Osteuropas den post-sozialistischen Systemwechsel durchlaufen. Das folgende Kapitel will auf einzelne Aspekte dieses Systemwechsels näher eingehen und argumentiert dabei, dass die Mehrzahl der zeitgenössischen Regime in Südosteuropa und Eurasien im Zuge der Transformation einen weiteren Schub der Patrimonialisierung erfahren haben. Ihr Transformationsprozess lässt sich daher als eine pfadabhängige Patrimonialisierung fassen.
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Transformation als pfadabhängige Patrimonialisierung
Die zunehmende Stagnation und ökonomische Krise des Sozialismus in Verbindung mit der politischen und wirtschaftlichen Liberalisierung in der Sowjetunion mündeten in den 1980er Jahren in einen Strukturwandel. Das Ergebnis dieses Wandels, in dem globale und innerstaatliche Dynamiken ineinander griffen, war der Zusammenbruch der alten Ordnung und ein Systemwechsel. Demokratie und Marktwirtschaft wurden in einem Prozess globaler Vergesellschaftung nach Osteuropa importiert, wo sie sich als neuer institutioneller Rahmen verallgemeinerten. Mit der Integration in den Weltmarkt und der Annäherung an die OECDWelt veränderten sich zugleich die internationalen Bedingungen der osteuropäischen Staaten grundlegend. Dies ging einher mit dem Niedergang von imperialen und föderalen Zusammenhängen und einer Staatengründungswelle. Aus dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens gingen zahlreiche selbständige neue Staaten hervor, die zum Teil auf ihren Territorien wiederum mit sezessionistischen Unabhängigkeitsbewegungen und de-facto unabhängigen Republiken konfrontiert wurden. Die Transformation war damit auch ein Prozess der Dekolonisation und Staatsbildung. Die Formierung des Staates in Osteuropa lässt sich idealtypisch als soziale Differenzierung beschreiben. Der Einparteienstaat durchläuft danach einen Wandel, in welchem sich einzelne gesellschaftliche und staatliche Bereiche mit unter-
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schiedlichen Reproduktionsmodi und Eigenlogiken ausdifferenzieren. Die Trennung von Politik, Ökonomie und Verwaltung ist das Ziel des Systemwechsels. Sie bedeutet zugleich die Rekonstituierung der öffentlichen und der privaten Sphäre. Die Entstaatlichung der Ökonomie ist gleichbedeutend mit der Schaffung eines kapitalistischen Marktes, also eines relativ autonomen ökonomischen Feldes mit Eigentumstiteln, privaten Wirtschaftssubjekten und privatwirtschaftlichem Kapital. Die Abschaffung des Einparteienregimes und die Etablierung von demokratischen Institutionen bedeutet wiederum die Konstituierung eines eigengesetzlichen politischen Feldes. Die Entpolitisierung der öffentlichen Verwaltung und ihre Verpflichtung auf Rechtsstaatlichkeit und formale Rationalität sind schließlich gleichbedeutend mit der Autonomisierung des bürokratischen Feldes. In der überwiegenden Mehrzahl der post-sozialistischen Staaten, wie sie sich vor allem in Südosteuropa und Eurasien etabliert haben, ist dieser Prozess der Differenzierung unvollständig geblieben. Ökonomie, Politik und Verwaltung haben sich nur begrenzt als autonome Felder mit unterschiedlichen Geltungslogiken ausdifferenziert. Dabei spielen historische Pfadabhängigkeiten eine zentrale Rolle. Wie alle gesellschaftlichen Umbrüche vollzog sich auch der Wandel in Osteuropa nicht ohne Kontinuitäten. Der Grund dafür ist in dem unintendierten, nicht-revolutionären Charakter der politischen Umbrüche zu suchen. Gegeneliten und Oppositionsbewegungen kamen vielerorts nur als Nebenprodukt des Regimezerfalls auf. Sie waren organisatorisch und ideologisch schwach und verfügten weder über eine strategische Vision noch eine Massenbasis (Elster et al. 1998: 11ff). In der Abwesenheit einer revolutionären Gegenelite und eines dominierenden Projektes der Transformation lag die Bedingung der Möglichkeit einer weitgehenden Kontinuität von Akteuren (vgl. ebd. 18f). Die Transformation bewirkte einen Makrowandel der Institutionen und produzierte massive Kontingenzen und Unsicherheiten. Demgegenüber standen jedoch die Mikrokontinuitäten individueller und kollektiver Akteure. Überzeugungen, Routinen, Gewohnheiten, Fähigkeiten und Erwartungen, die in der sozialistischen Vergangenheit generiert worden waren, haben sich erhalten und wurden zugleich die Grundlage, um neue Positionen im staatlichen Feld zu beziehen (ebd. 19, 26, 61). Kontinuitäten in den politischen Eliten und im bürokratischen Personal bedingten eine Fortsetzung von eingeschliffenen Wahrnehmungsmustern und damit eines Habitus, der unter den Bedingungen des Wandels eine praktische Orientierung ermöglichte. Weil den Akteuren über den Habitus aber etablierte Routinen und Spielregeln des Feldes verinnerlicht waren, wurden hierdurch auch erprobte Praktiken reaktualisiert und reproduziert. Zugleich haben sich die Bedingungen für diese Praktiken mit der Transformation des staatlichen Feldes verändert, die sich als Dynamik von Macht und Herrschaft interpretieren lässt (ebd. 19, 26; vgl. Schlichte 2005: 65ff). Das Ende
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Die Formierung des Staates in Osteuropa
der alten Regime war gleichbedeutend mit dem Zerfall der sozialistischen Herrschaft und einer massiven De-Institutionalisierung von Machtbeziehungen. Der Systemwechsel schuf jedoch Opportunitäten für den Aufbau neuer Machtbeziehungen und ihre Verstetigung zu legitimen Herrschaftspositionen. Dabei veränderten sich nicht nur die Verteilung ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals, sondern auch der Tauschwert dieser Kapitalsorten, ihre relative Gewichtung sowie die Bedingungen ihrer Akkumulation im staatlichen Feld. Der Prozess der Liberalisierung eröffnete die Gelegenheit, arretierte Kapitalverteilungen aufzubrechen und neue Strategien in der Erschließung von Machtmitteln zu verfolgen. Im Zentrum der Transformation des staatlichen Feldes stand die Umverteilung und Aneignung ökonomischen Kapitals im Zuge der Privatisierung der Staatswirtschaften. Für die Akkumulation ökonomischen Kapitals wurden diverse informelle aber auch kriminelle Praktiken der Appropriation bedeutsam. Das kulturelle, ideologische Kapital verlor dagegen mit dem Ende des Sozialismus gänzlich an Bedeutung. Auch das kulturelle Kapital der fachlichtechnokratischen Ausbildung unterlag mit der Reform der staatlichen Institutionen und ihrer Anpassung an westliche Vorbilder einer Entwertung. Demgegenüber stieg der Tauschwert sozialen Kapitals. Beziehungen zu den neuen Machthabern oder reaktivierte alte Netzwerke sicherten politische Unterstützung und eröffneten Chancen auf bürokratische Laufbahnen. Soziales Kapital wurde ferner im Zuge der wirtschaftlichen Privatisierung im großen Stil in ökonomisches Kapital getauscht, um exklusive Marktchancen zu erlangen. Die post-sozialistische Transformation lässt sich als eine Restrukturierung des staatlichen Feldes interpretieren, um neue Kapitalverteilungen und Machtbalancen durchzusetzen. Dabei haben jedoch Kontinuitäten in den Habitusformen die Reproduktion von flexiblen Praktiken begünstigt, die sich bereits im Sozialismus ausgebildet hatten und an die sich auch die neuen Akteure im staatlichen Feld angepasst haben. Das Ergebnis ist die Kontinuität patrimonialer Praktiken. Sie wurden zum Bestandteil von neuen Prozessen der Macht- und Herrschaftsbildung und haben sich damit unter veränderten Bedingungen im staatlichen Feld fortgesetzt und zugleich verallgemeinert. Die Transformation des Staates in Osteuropa lässt sich daher als eine pfadabhängige Patrimonialisierung fassen. Dieser weitere Schub der Patrimonialisierung stellte in Südosteuropa und Eurasien jedoch weder eine gleichmäßige Bewegung dar noch mündete er in eine einheitliche politische Form. Denn mit dem Wegfall des hegemonialen Systemzusammenhangs haben sich noch einmal die bereits vorher bestehenden Unterschiede zwischen und innerhalb der früheren Ostblockregionen vergrößert. Zufälligkeiten der Machtlagen, der politischen Ereignisse, der Konflikte und Allianzen von Akteuren verschränkten sich in den post-sozialistischen Staaten ganz verschiedenartig, um sich in einem Formwandel politischer Herrschaft auszuprä-
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gen. In dem Ausmaß der Patrimonialisierung bestehen also deutliche Unterschiede. Sie ist am deutlichsten bei den zentralasiatischen Regimen und der Kaukasusrepublik Aserbaidschan erkennbar. Aber auch in den übrigen Kaukasusrepubliken, in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien und Russland sowie in den südlichen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens einschließlich Albanien, Rumänien und Bulgarien lassen sich patrimoniale Elemente des Regierens beobachten.34 Diese Elemente haben sich in den Staaten nicht nur unterschiedlich stark, sondern auch in unterschiedlichen Formen und Konstellationen ausgeprägt. Sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist nicht leicht. Sowohl die Differenzen zwischen der ehemaligen südlichen Sowjetunion und Südosteuropa als auch die Varianzen innerhalb dieser Regionen haben sich diesbezüglich nach dem Ende des Sozialismus noch einmal verstärkt. Dennoch lassen sich übergreifend drei Prozessmuster der Patrimonialisierung festhalten, die sich in der Mehrzahl der Staaten Südosteuropas und Eurasiens beobachten lassen: die Personalisierung der staatlichen Führung, die Expansion klientelistischer Netzwerke und die Kriminalisierung des Staates.35 Die Personalisierung der staatlichen Führung lässt sich daran ablesen, dass sowohl politische als auch bürokratische Amtsträger zu machtbewussten Big Men aufgestiegen sind. An der Staatsspitze sind vor allem die Präsidenten oder Regierungschefs in die Rolle autoritärer oder patriarchalischer Führer hineingewachsen. Das gilt insbesondere für die neuen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Sie sind überwiegend präsidial verfasst (Easter 1997: 190; Luchterhandt 2002). Dabei haben sich die Präsidenten der ersten und zweiten Generation vornehmlich aus den Apparaten der früheren Sowjetrepubliken rekrutiert. In den kaukasischen und zentralasiatischen Staaten sind in den 1990er Jahren mehr als die Hälfte der Präsidenten zuvor erste Parteisekretäre ihrer Republik gewesen. In allen übrigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion und Südosteuropas haben die Präsidenten oder Regierungschefs in der Regel zuvor auf niedrigeren Ebenen öffentliche Funktionen bekleidet (Pradetto/Weckmüller 2004: 47ff). Mit diesen personellen Kontinuitäten sind auch Kontinuitäten in den Habitusformen und Praktiken gegeben. Die Machtstellung der Präsidenten und Regierungschefs ist in vielen Staaten von patrimonialen Praktiken des Regierens be-
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Diese These stützt sich auf die Ergebnisse einzelner regional- und länderspezifischer Arbeiten. Vgl. beispielhaft Zimmer (2005) zur Ukraine, Aves (1996a); Koehler/Zürcher (2004); Stefes (2006) zum Kaukasus, Cummings (2002) und Collins (2006) zu Zentralasien und Hensell (2003, 2004b) zu Mazedonien und Albanien. Die folgenden Abschnitte haben hypothetischen Charakter und beziehen sich wiederum auf die Befunde aus einzelnen regional- und fallspezifischen Arbeiten. Vgl. hierzu die in der vorherigen Fußnote angeführte Literatur.
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gleitet worden, mit denen die Staatschefs die Exekutive dominiert, politische Gegner unterdrückt und ökonomisch bedeutsame Bereiche kontrolliert haben (vgl. Bos/Helmerich 2006; Luchterhandt 2002). Aber auch in den staatlichen Bürokratien und Verwaltungen agieren die Big Men. Sie haben als Minister oder Behördenchefs ihre Apparate zu persönlichen Zwecken instrumentalisiert. Diese Personalisierung des Staates von oben hat zumindest teilweise bereits vorher ausgebildete personalisierte Beziehungsmuster reproduziert. Die Expansion klientelistischer Netzwerke ist eine weitere Tendenz, in der sich ebenfalls Kontinuitäten von Praktiken beobachten lassen, die bereits im Sozialismus verbreitet waren. Klientelistische Netzwerke haben sich in vielen postsozialistischen Staaten typischerweise als personalisierte Klientelparteien formiert. Sie zeichnen sich durch eine geringe programmatische Differenzierung aus und werden in der Regel nicht mit bestimmten Werten oder einer bestimmten sozialen Basis assoziiert, sondern mit der Person ihrer Führer (vgl. Kitschelt et al. 1999: 47ff). Die klientelistische Elitenakkommodation hat zugleich die Liberalisierung der ehemals verstaatlichten Ökonomie und damit die Oligarchisierung des Staates wesentlich mitbestimmt. Teile der alten Nomenklatura haben sich im Bündnis mit neuen Eliten zu strategischen Gruppen formiert, die ihren Aufstieg ihrer Nähe zur Politik verdankten und die sich dort etablierten, wo sich Appropriationschancen eröffnet haben (Shlapentokh et al. 1999; Higley/Lengyel 2000). In der sich dabei herausbildenden Figuration des „politischen Kapitalismus“ (Staniszkis 1995: 34ff) sind vor allem Kapitalsorten getauscht worden. Im Zuge der Privatisierung und des Aufbaus neuer Unternehmen wurde ökonomisches Kapital vom Staat zu privatwirtschaftlichen Akteuren transferiert und zugleich deren Marktrisiko reduziert, indem diese einen bevorzugten Zugang zum Markt erhielten. Soziales Kapital in Form von persönlichen Verbindungen zum politischen Feld hat den Zugang zu Krediten, Lizenzen und Exportgarantien ermöglicht und eine privilegierte Umgebung für die Operation des eigenen Geschäftes gesichert. Unternehmer haben dabei auch Einfluss auf die Ausgestaltung von Gesetzen sowie Regierungs- und Zentralbankentscheidungen und damit auf die staatlichen Parameter ökonomischer Aktivitäten wie Zins-, Steuer-, Im- und Exportpolitik erlangt. Ein dichtes Geflecht privatwirtschaftlicher und staatlicher Bereiche war die Folge, das es erlaubte, die Kosten privater Gewinne über den Staat zu externalisieren.36 Zugleich hat sich in vielen Staaten der Klientelismus zur vorherrschenden Form der Rekrutierung in den Apparaten der staatlichen Verwaltung entwickelt, sei es, dass politische Parteien die Ämterpatronage im
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Staniszkis (1995: 34ff); Tatur (1998); Hellman et al. (2000); Gray et al. (2004).
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öffentlichen Sektor praktiziert, sei es, dass die Bürokratien eine klientelistische Selbstrekrutierung betrieben haben (O’Dwyer 2006). In der Kriminalisierung des Staates kommen ebenfalls Kontinuitäten von Aneignungspraktiken zum Ausdruck. Die Privatisierung und die damit verbundene ökonomische Krise hatten in vielen Ländern Südosteuropas und Eurasiens massive Finanzierungsprobleme zur Folge. Das erzwang die Akkumulation ökonomischen Kapitals auf andere Kanäle auszudehnen. Damit haben sich Formen der zum Teil bereits vorher bestehenden Korruption generalisiert. Praktiken der Unterschlagung, Veruntreuung und Hinterziehung sind vielerorts vorherrschend geworden. Mit der allgemeinen Bestechlichkeit des bürokratischen und politischen Personals ist eine Tendenz zur Kommodifizierung öffentlicher Güter einhergegangen.37 Darüber hinaus hat sich der Staat mit den expandierenden kriminellen Sphären verzahnt. Die Auflösung des Monopols über den Außenhandel und die Liberalisierung des grenzüberschreitenden Verkehrs hat neue Gelegenheiten für illegale Transaktionen wie den international organisierten Schmuggel von Menschen und Gütern geschaffen. Neue kriminelle Aktionsfelder haben sich auch durch die Unsicherheiten der Transformationsphase ergeben. Das Vakuum staatlicher Regulierung durch unklare gesetzliche Bestimmungen und ineffektive Polizeidienste hat die kriminelle Schutzindustrie befördert, die Sicherheit und Rechtsansprüche von Marktteilnehmern mit gewaltsamen Mitteln durchgesetzt hat. Verschiedene kriminelle Gruppen und die „Mafia“, teils mit Wurzeln in der sozialistischen Zeit, haben ihren Aufstieg Bereicherungschancen verdankt, die sich aus den Umbrüchen der Transformation ergeben haben. Aufbauend auf einer bereits im Sozialismus entwickelten staatlichen Protektion der informellen Ökonomie haben sich Teile des Staates mit dem Organisierten Verbrechen verzahnt. Die diesbezüglichen Arrangements reichen von der informellen Besteuerung krimineller Praktiken bis zur direkten Partizipation politischer Akteure am internationalen Drogen-, Waffen- und Menschenhandel.38 Die Verläufe der Transformation in Südosteuropa und Eurasien zeichnen sich durch eine enorme Heterogenität, aber auch durch Gemeinsamkeiten aus. Diese Gemeinsamkeiten bestehen zunächst einmal in ähnlichen strukturellen historischen Voraussetzungen. Der sozialistische Staat hat sich in Südosteuropa und
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Hellman et al. (2000); Gray et al. (2004); Holmes (2006); Karklins (2005). Vgl. zur ehemaligen Sowjetunion Williams (1997); Varese (2005); Volkov (2002); Handelman (1995) und zu Südosteuropa Mappes-Niediek (2003); Miletitch (1998) und Hajdinjak (2002). Die zur Beschreibung dieses Komplexes üblicherweise verwendeten Begrifflichkeiten sind freilich unscharf. So steht etwa die „Mafia“ in post-sozialistischen Ländern sowohl als Symbol für partikulare Netzwerke wie für unverdienten Reichtum oder einfach nur für undurchsichtige Mächte (Verdery 1996: 219f).
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Die Formierung des Staates in Osteuropa
Eurasien vornehmlich in traditionalen Kontexten etabliert und sich dort als patrimonialer Sozialismus ausgeprägt. Die mit dieser Herrschaftsform verbundenen Praktiken sind nicht nur der gemeinsame Ausgangspunkt der Transformation in Südosteuropa und Eurasien gewesen, sondern sie haben auch die Pfade der Transformation präfiguriert. In den dortigen Ländern lassen sich daher auch, trotz einer wachsenden Diversität der politischen Formen, ähnliche patrimoniale Muster der Herrschaftsbildung beobachten. Die Personalisierung der staatlichen Führung, die Expansion klientelistischer Netzwerke sowie die Kriminalisierung des Staates sind drei typische Prozessmuster der Patrimonialisierung. Sie lassen sich zumindest zum Teil als Fortsetzung bereits vorher etablierter Praktiken verstehen. Die Mehrzahl der ehemals sozialistischen Staaten in Südosteuropa und Eurasien hat damit eine pfadabhängige Patrimonialisierung durchlaufen. Auf dieser Grundlage soll im Folgenden abschließend der Versuch unternommen werden, strukturelle Besonderheiten des Staates zusammenzufassen und in einem Realtypus zu bündeln.
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Der bürokratisch-patrimoniale Staat
Der post-sozialistische Staat lässt sich übergreifend als hybrid charakterisieren, denn im fehlt eine klare Trennung in eigengesetzliche öffentliche und private Sphären. Der Staat besitzt zwar ein ausgeprägtes bürokratisches Moment, er ist jedoch ebenso der Logik patrimonialer Praktiken verhaftet. Diese Spezifik lässt sich mit dem Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staates auf den Begriff bringen. Dieser Typus versteht sich als Hypothese. Er lässt sich auf der Grundlage der skizzierten Geschichte des sozialistischen Staates und beobachtbaren Merkmalen seiner Transformation plausibilisieren. Die Kernmerkmale dieses Typus lassen sich wie folgt umreißen: Der bürokratisch-patrimoniale Staat zeichnet sich durch ein etabliertes, bürokratisches Feld aus. Der Staat besitzt eine starke gesellschaftliche Präsenz und ein hohes institutionelles Eigengewicht. Er verfügt über eine flächendeckende Verwaltung und eine Tradition des Fachbeamtentums. Kulturelles Kapital der sachlichen Qualifikation in Form eingeschulten Fachwissens und betrieblichen Dienstwissens spielt eine wesentliche Rolle für das Fortkommen im bürokratischen Feld. Zahlreiche Apparate und deren bürokratisches Wissen erlauben es dem Staat, wichtige Bereiche wie die ökonomischen Aktivitäten seiner Bürger, territoriale Bewegungen oder Formen privatisierter Gewalt vergleichsweise effektiv zu kontrollieren. Dabei gelingt es auch das Kernmerkmal des Staates, das Gewaltmonopol, durchzusetzen. Als Steuerungsmedium des Staates hat das Recht eine wesentliche Bedeutung in der Konfliktlösung und zu einer Teilver-
Der bürokratisch-patrimoniale Staat
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rechtlichung und -formalisierung der staatlichen Herrschaft beigetragen. Der Rekurs auf die direkte physische Gewalt zur Unterdrückung der politischen Opposition ist daher kein gängiges Mittel der Herrschaftssicherung. Nicht zuletzt hat sich der Staat auch im sozialen Habitus und Erwartungshaltungen verankert, die dem Staat eine gesellschaftliche Ordnungs- und Distributionsfunktion zuschreiben. Der bürokratisch-patrimoniale Staat ist das Kennzeichen durchstaatlichter Gesellschaften und besitzt eine hohe „infrastrukturelle Macht“. Dennoch spielen patrimoniale Praktiken der Machtbildung im politischen und bürokratischen Feld des Staates eine wesentliche Rolle. Das politische Feld zeichnet sich durch eine Tendenz zur Personalisierung aus, die mit autoritären oder semiautoritären Formen der Herrschaft einhergeht. Die Staatsoberhäupter und Regierungschefs haben als Big Men in der personalen Ausgestaltung der politischen Sphäre eine wesentliche Rolle. Ihr politisches Überleben hängt indes vor allem von der Ausbalancierung und Steuerung von klientelistischen Netzwerken ab, die sich überwiegend als Klientelparteien oder Oligarchien formieren. Denn Patronage ist die zentrale Voraussetzung, um Machtpositionen im politischen Feld in legitime Herrschaft zu verwandeln und somit die vorherrschende Form der Elitenakkommodation. Es existiert daher auch eine enge Verkoppelung ökonomischer und politischer Macht. Politische Herrschaft ist in der Regel gleichbedeutend mit der Verfügung über eine ökonomische Machtbasis und die Akteure ziehen durch informelle und kriminelle Praktiken aus ihren Positionen alle Arten von wirtschaftlichem Gewinn. Im bürokratischen Feld spielt der Rekurs auf legale Regeln und formale Satzungen für die Betriebslogik der Apparate eine wesentliche Rolle. Die Grenzen zwischen formellen und informellen Sphären sind jedoch flexibel und alle Akteure verfügen über Möglichkeiten, die formalen Regeln zu umgehen. Die Manipulation und Instrumentalisierung von Verfahren zu partikularen Zwecken ist eine typische Praktik im bürokratischen Feld. Dabei wachsen auch die Minister und hochrangige bürokratische Akteure in die Rolle von Big Men hinein, die ihre Apparate von oben personalisieren und an der Spitze klientelistischer Netzwerke stehen. Der Klientelismus ist der vorherrschende Modus der Rekrutierung der Verwaltung. Zugleich dominieren im bürokratischen Feld illegale Praktiken der Aneignung und der Kontrolle ökonomischer Bereiche. Diese Patrimonialisierung ist auch eine aus dem Apparat selbst entstehende Bewegung. Sie ist teils das Ergebnis einer gezielten Personalisierung durch die Behördenchefs, teils das Ergebnis von schlichten Überlebensstrategien des Behördenpersonals. Die Mehrzahl der zeitgenössischen Staaten Osteuropas, so die These dieser Arbeit, lassen sich dem Typus des bürokratisch-patrimonialen Staates zuordnen. Dieser Typus kann in Südosteuropa am ehesten Geltung beanspruchen für Rumänien, Bulgarien und Albanien sowie für die südlichen Nachfolgestaaten Ju-
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Die Formierung des Staates in Osteuropa
goslawiens wie Serbien, Mazedonien, Montenegro und das Kosovo. In Eurasien lassen sich neben Russland, der Ukraine, Weißrussland und Moldawien auch die kaukasischen Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan sowie die zentralasiatischen Republiken Usbekistan, Kasachstan, Turkmenistan, Kirgistan und Tadschikistan diesem Typus zuordnen. In den realen politischen Formen variiert indes die konkrete Gewichtung bürokratischer und patrimonialer Elemente. Das Ausmaß der Patrimonialisierung weist in den Staaten Südosteuropas und Eurasiens erhebliche Unterschiede auf, die sich nicht leicht einem einheitlichen Muster zuordnen lassen. Mit der in Teil II entwickelten soziologischen Staatskonzeption und dem hier entwickelten Realtypus liegen die beiden zentralen Elemente des theoretischen Bezugsrahmens vor. Im Folgenden Teil sollen zwei Fallstudien aus regional unterschiedlichen Kontexten das Vorangegangene exemplifizieren und empirisch untermauern.
V Der Staat in Albanien und Georgien Der Staat in Albanien und Georgien
In diesem Teil stehen mit Albanien und Georgien zwei Fallbeispiele im Mittelpunkt. Dabei ist der zeitgenössische, post-sozialistische Staat Gegenstand der Analyse. Das Ziel der interpretativen Fallstudien ist es, den Typus des bürokratisch-patrimonialen Staates und die skizzierten Prozessmuster seiner Transformation zu exemplifizieren und empirisch zu belegen. Dabei geht es um eine detaillierte Betrachtung patrimonialer Praxisformen. Aufgabe der Fallanalysen ist es, patrimoniale Praktiken in der Organisationswirklichkeit des Staates in Albanien und Georgien am empirischen Material nachzuweisen und genauer zu bestimmen. Die Fallstudien nehmen also im Vergleich zum vorherigen Teil in mehreren Punkten eine andere Perspektive auf den Staat ein. Ging es zuvor um eine strukturgeschichtliche Längsschnittanalyse der Formierung des Staates, so geht es jetzt in einer Querschnittsanalyse um die innere Funktionsweise post-sozialistischer Staaten. Damit verlässt die Arbeit an dieser Stelle auch die bisher eingenommene makropolitische Perspektive und wechselt zu einer mikropolitischen Perspektive auf den Staat. Die Untersuchung unterscheidet zu diesem Zweck, im Anschluss an die theoretischen Bestimmungen, zwei Dimensionen des Staates, nämlich die politische Herrschaft und die Verwaltung bzw. das politische und das bürokratische Feld. Auf letzterem liegt jedoch das Gewicht der folgenden Untersuchung, weil die staatliche Verwaltung ein in der Transformationsforschung bislang stark vernachlässigter Bereich ist. Die Verwaltung soll hier beispielhaft untersucht werden und zwar anhand des staatlichen Sicherheitssektors. Die Polizei und ihr Apparat stehen daher im Mittelpunkt der empirischen Fallstudien. Bevor die Gliederung näher erläutert wird, sind an dieser Stelle zur Polizei in Osteuropa noch ein Paar erläuternde Worte vonnöten. Die sozialistischen Staaten waren durch ein einheitliches Polizeimodell geprägt, wobei das Vorbild der sowjetischen Polizei, der so genannten „Miliz“, auch zum gültigen Modell in allen anderen sozialistischen Staaten wurde (Shelley 1996: xvii). Die Polizei im Sozialismus zeichnete sich durch einige Besonderheiten aus. Sie besaß quasimilitärische Ränge und war wie andere Teile der Verwaltung auch ein politisierter Bereich, bei dem ideologische Ausbildung und politische Zuverlässigkeit ein entscheidendes Kriterium für die Rekrutierung und Beförderung darstellte (ebd. 63ff). Zugleich verfügte die Polizei über weit reichende Kompetenzen. Sie sorgte
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Der Staat in Albanien und Georgien
nicht nur nach klassischem Verständnis für Recht und Ordnung, sondern ihr oblag auch die Aufgabe, die politischen Ziele und den Regulierungsanspruch des Sozialismus durchzusetzen. Sie kontrollierte daher faktisch jeden lebensweltlichen Aspekt der Bevölkerung. Dabei stellte das System der „internen Pässe“ einen besonders tiefgehenden Eingriff dar. Sie vermerkten den Wohnort, welcher zugleich der einzige Ort war, wo ein Bürger sich legal über längere Zeit aufhalten durfte (Matthews 1993). Dieses System erlaubte es der Polizei, die räumliche Mobilität effektiv zu kontrollieren. Aber auch die Überwachung politischer Aktivitäten, die Kontrolle von Märkten und sanitären Bedingungen auf öffentlichen Plätzen, die Registrierung von Autos, Wohnungen, Schreibmaschinen oder die Erfassung von Fischerei- und Jagdaktivitäten zählten zu den Aufgaben der Polizei (Shelley 1996: 6f, 130-139). Ebenso zahlreich wie die polizeilich überwachten Regeln waren die Opportunitäten zu ihrer Umgehung und damit die Praktiken der Bestechung der Polizei (ebd. 46-52, 101f; Simis 1982: 127-145). Mit dem Systemwechsel haben sich auch die Polizeikräfte der ehemals sozialistischen Staaten westlichen Modellen des Polizierens angenähert. Die Reformen, die viele Dienste durchlaufen, zielen auf eine Depolitisierung und Entmilitarisierung der Sicherheitsapparate. Sie sollen die Polizei in eine zivile, auf rechtsstaatliche Grundsätze verpflichtete Institution umwandeln. Der folgende Teil will die Polizei beispielhaft als einen zentralen Teil der öffentlichen Verwaltung analysieren und zugleich in den jeweiligen politischen Regimekontext einordnen. Dabei stehen drei Analysefelder im Mittelpunkt: die Rolle und Handlungen von hochrangigen Amts- und Funktionsträgern, Formen der Einbindung und Rekrutierung von Akteuren sowie Muster der materiellen Reproduktion. Diese drei analytischen Bereiche werden im politischen und bürokratischen Feld anhand unterschiedlicher Kontexte beobachtet. In Bezug auf das politische Feld oder den Regimekontext gilt das Augenmerk der Rolle der Staats- und Regierungschefs, vorherrschenden Konstellationen zwischen den politischen Parteien und Formen der Elitenakkommodation sowie dem Verhältnis politischer und ökonomischer Machtchancen. Bezüglich des bürokratischen Feldes der Polizei sind folgende analytische Gesichtspunkte leitend: Erstens soll die Rolle des Innenministers untersucht werden, der einerseits als politische Persönlichkeit und Mitglied der Regierung, andererseits als Chef der Polizeibehörde und Sprecher seines Apparates auftritt und daher sowohl auf dem politischem als auch dem bürokratischem Feld bzw. an der Schnittstelle zwischen beiden agiert.1 Zweitens werden die Formen der Rekrutierung, verstan-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 1
In dieser Arbeit werden die Bezeichnungen „Innenministerium“ und „Polizei“ zum Teil synonym verwandt, weil dem auch empirisch in der Verwaltungsrealität in der Regel keine deutli-
Der Staat in Albanien und Georgien
127
den in einem allgemeinen Sinne als Art und Weise, wie bestimmte Positionen im bürokratischen Feld eingenommen werden, näher betrachtet. Zu diesem Zweck werden das System der Laufbahnen und die damit verbundenen Praktiken der Anstellung, Ausbildung, Beförderung, Versetzung und Entlassung analysiert. Drittens wird die Ökonomie der Polizei untersucht, wozu die formelle materielle Ausstattung und die Kontrolle und Distribution von Ressourcen zählen. Ein letzter zusätzlicher Punkt widmet sich kurz den Prioritäten und Effekten der Reformpolitik, die darauf gerichtet ist, die Polizei nach westlichen Maßstäben zu reformieren. Der hier zugrunde gelegte Beobachtungszeitraum reicht von Anfang der 1990er Jahre bis Ende 2003 bzw. 2005. Während für die Ausführungen zum politischen Regime in Albanien und Georgien überwiegend auf Sekundärliteratur zurückgegriffen werden kann, stützt sich die Arbeit zur Polizei auf eigene Daten.2 Bei der Darstellung und Gliederung der Befunde zur Polizei waren Abstriche erforderlich. Die skizzierten Analysefelder konnten auf der Grundlage des verfügbaren Materials und der unterschiedlich guten Dokumentation einzelner Aspekte nicht genau gleichgewichtig für beide Fälle behandelt werden. Bestimmte Bereiche wie beispielsweise das System der Ausbildung oder die polizeiliche Ökonomie wurden daher in den Fallstudien jeweils unterschiedlich ausführlich behandelt. Die Analysebereiche werden zwar der Reihenfolge nach, nicht aber in einer strengen Systematik abgehandelt. Kapitel 1 hat den post-sozialistischen Staat in Albanien als Gegenstand. Nach einem einleitenden kurzen historischen Abschnitt über den patrimonialen Sozialismus widmet sich das erste Unterkapitel dem Regime der großen Patronageparteien (1.1), worauf ein zweites Unterkapitel zur Entwicklung und Funktionsweise der Polizei folgt (1.2). Analog hierzu ist Kapitel 2 aufgebaut, das den
2
che institutionelle Trennung entspricht. Wo eine Differenzierung notwendig ist, wird sie vorgenommen. Die Analyse zur Polizei basiert, sofern nicht aus Schriftquellen zitiert wird, auf knapp 120 Interviews, die im Verlauf von Feldforschungen 2003-2006 in Albanien und Georgien durchgeführt wurden (zur Methode s. Kapitel III). Ein aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes weitgehend anonymisiertes Verzeichnis der Gesprächspartner findet sich im Anhang. Um die Befragten keinen Gefahren oder Nachteilen auszusetzen, wurde im Text auf eine Zitierweise mit der einzelnen Nennung der betreffenden Interviewpartner verzichtet. Stattdessen wurde jede befragte und im Verzeichnis aufgeführte Person mit einer Nummer versehen, die im Text als Quellenangabe zitiert wird. Um aus Anonymitätsgründen eine direkte Rückführung bestimmter Aussagen auf einzelne Personen auszuschließen, wurden die für einzelne Absätze verwendeten Interviews in der Regel am Ende des Absatzes summarisch in einer Fußnote aufgeführt. Aus Gründen der Lesbarkeit und Übersichtlichkeit werden in den folgenden Kapiteln darüber hinaus kürzere Zeitungsartikel und Agenturberichte sowie einzelne Internetquellen nur in den Fußnoten und nicht noch mal im Literaturverzeichnis aufgeführt.
128
Der Staat in Albanien und Georgien
post-sozialistischen Staat in Georgien behandelt. Einer kurzen historischen Einleitung zum patrimonialen Sozialismus im sowjetischen Georgien folgt das erste Unterkapitel, das sich dem Schewardnadse-Regime widmet (2.1). Daran anschließend wird in einem zweiten Unterkapitel die Polizei näher betrachtet (2.2.). Kapitel 3 führt die Ergebnisse zum politischen Regime und zur Polizei in beiden Ländern in einer vergleichenden Perspektive zusammen und zieht Schlussfolgerungen in Bezug auf beobachtbare Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den beiden Fällen sowie bezüglich der grundlegenden Thesen dieser Arbeit.
1
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
Wie viele andere osteuropäische Staaten hatte auch Albanien im Sozialismus eine Patrimonialisierung durchlaufen.3 Die Volksrepublik Albanien hatte vor allem im Verlauf der langjährigen Amtszeit Enver Hoxhas, von 1943 bis 1985, patrimonialen Charakter angenommen. Zum Ausdruck kam dies in der überragenden Bedeutung der Person Enver Hoxhas. In seiner über vierzigjährigen Amtszeit, zuletzt als erster Sekretär des Zentralkomitees, äußerte sich Hoxha zu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, der Wirtschaft und internationalen Fragen und gab diesbezüglich die politischen Richtlinien vor. Seine Vorstellungen und Gedanken, die 1989 in einer Werkausgabe von 68 Bänden zuzüglich 20 Memoiren-, Tagebuch- und Briefbänden verschriftlicht vorlagen (SchmidtNeke 1990: 55), waren Pflichtlektüre für Parteikader und bestimmten die Politik der Partei. Mit dieser ausufernden literarischen Produktion stilisierte sich Hoxha zudem als eigene Quelle des Marxismus-Leninismus und erhob auch innerhalb des sozialistischen Lagers Anspruch auf ideelle Führung. Landesweit aufgestellte Hoxha-Statuen und Plakate, auf denen seine Wahlsprüche und Porträts abgebildet waren sowie der obligatorische Abdruck seiner Zitate in Schulbüchern (O’Donnell 1999: 117) verdeutlichten den allgegenwärtigen Kult um seine Person. Hoxha verkörperte den Staat. Diese mangelhaft ausgeprägte Trennung von öffentlichen und privaten Bereichen führte dazu, dass jegliche politische Opposition auch als unmittelbare Bedrohung seiner Person angesehen wurde. Auf oppositionelle Bestrebungen und Fraktionskämpfe folgten stets Säuberungen der Partei, an die sich fast immer Geheimprozesse mit Todesurteilen oder hohen Haft-
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Das post-sozialistische Albanien wird sowohl in der Regionalforschung zum Balkan als auch der Transformationsforschung ausgesprochen selten thematisiert. Die folgenden Ausführungen können sich daher nur auf wenige Monographien und Aufsätze stützten, die seit Beginn der 1990er Jahre erschienen sind. Dazu zählen u.a. Vickers/Pettifer (1997); Biberaj (1998); Kajsiu et al. (2002); Schmidt-Neke (2004) sowie Bogdani/Loughlin (2007).
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
129
strafen anschlossen (Pipa 1990: 54-85; Janos 2000: 284f). Das Regime basierte auf einem latenten Nord-Süd-Gegensatz und hatte seinen regionalen Schwerpunkt im Süden Albaniens (vgl. Blumi 1997; Janos 2000: 285-287). Ausgehend von einer engen sozialen Basis erfolgte die Eliteneinbindung vor allem über klientelistische Netzwerke. Zum Ausdruck kam das in Verheiratungsstrategien der politischen Klasse und der Patronage der wichtigsten Familien als Strategie der gegenseitigen Vernetzung in den höheren Parteigremien (Hensell 2004b: 75f, Janos 2000: 286). Gegen Ende des Regimes und mit einer zunehmenden ökonomischen Krise begannen sich auch informelle ökonomische Praktiken zu verbreiten, bei denen staatliche Akteure von Bestechungsgeldern und illegalen Transitarrangements profitierten (Fuga 1998: 82, 88; Miletitch 1998: 154f). Die patrimoniale Struktur hat das Ende des Sozialismus überdauert. Dabei war es das Kennzeichen des Staates, dass die nach dem Zerfall des Sozialismus sich formierenden politischen Eliten überwiegend zuvor Funktionen in der albanischen KP bekleidet hatten oder sich aus Familien der ehemaligen Regimeeliten rekrutierten (Pihet 2000: 145; Schmidt-Neke 2004: 835). Damit setzten sich alte Muster und Praktiken fort, wenn auch in veränderter Form.
1.1
Das Regime der großen Patronageparteien
Die post-sozialistische Transformation war von der Herrschaft zweier Großparteien geprägt, die seit 1992 abwechselnd die Regierung stellten und in einem konfliktiven Wettbewerb um Gefolgschaft und ökonomische Distribution standen. Beide Parteien formierten sich als vertikale klientelistische Netzwerke und betrieben jeweils eine ausgeprägte Ämterpatronage, mit der sie den Staat ihren partikularen Interessen unterwarfen. Jede Partei etablierte dabei im Verlauf ihrer Regierungszeit ein Regime, das von verbreiteten Praktiken der Aneignung und zugleich hoher politischer Instabilität gekennzeichnet war. Als Sammlungsbewegung antisozialistischer und reformorientierter Kräfte war Anfang der 1990er Jahre die „Demokratische Partei Albaniens“ (Partia Demokratike e Shqipërisë, PD) entstanden, deren Anhänger sich vorwiegend aus den nördlichen Regionen Albaniens rekrutierten. Die PD wurde in der Folge zum Hauptgegner der „Sozialistischen Partei Albaniens“ (Partia Socialiste e Shqipërisë, PS), die als inoffizielle Nachfolgeorganisation der albanischen KP galt und wie diese ihre Basis hauptsächlich in Südalbanien hatte (Pihet 2000: 151ff; Zanaj 2004: 111ff). Von 1992 bis 1997 stellte die PD die Regierung, von 1997 bis 2005 die PS und danach wieder die PD. Beide Parteien vereinten zusammen bei Wahlen in der Regel 80 Prozent der Stimmen auf sich und dominierten das politische Feld mit den sie umgebenden Wahlbündnissen, zwischen denen die Wäh-
130
Der Staat in Albanien und Georgien
lerschaft flottierte (Schmidt-Neke 2004: 823). Die Folge dieser bipolar strukturierten Parteienlandschaft war der Split der Eliten und die Polarisierung der Politik. Nahezu jedes Ergebnis der seit dem Ende des Sozialismus durchgeführten Parlaments- und Kommunalwahlen wurde von der jeweils unterlegenen Großpartei angefochten und boykottiert (Kajsiu et al. 2002: 20-22; Bogdani/Loughlin 2007: 41ff). Weil beide Parteien durch ihre Anführer personalisiert wurden, kam die Parteienkonkurrenz auch in ausgeprägten persönlichen Rivalitäten zwischen den jeweiligen Parteivorsitzenden zum Ausdruck. Neben den großen Parteien existierten noch diverse kleinere Parteien, die verschiedentlich die Rolle von Koalitionspartnern in Regierungen der PS oder PD übernahmen. Fast alle albanischen Parteien zeichneten sich durch eine Tendenz zur Fraktionierung aus und hatten seit ihrer Gründung mehrere Abspaltungen durchlaufen (Schmidt-Neke 2004: 825f; Biberaj 1998: 275ff). Die erste Regierungsphase der PD von 1992 bis 1997 war von der Entwicklung zu einem Präsidialregime gekennzeichnet. Der Anführer der PD, der aus dem nordalbanischen Tropoja stammende Sali Berisha, war 1992 zum Präsidenten gewählt worden und etablierte im Verlauf seiner fünfjährigen Amtszeit eine zunehmend uneingeschränkte Herrschaft. Nach der seit Anfang der 1990er Jahre geltenden Übergangsverfassung besaß der Präsident weitgehende Kompetenzen, u.a. bezüglich der Ernennung und Entlassung von Ministern, Mitgliedern der Regierung und der Verwaltung (Biberaj 1998: 161ff). Der Präsident war zugleich Vorsitzender eines obersten Justizrates, der das alleinige Recht besaß, Richter und Staatsanwälte auf allen gerichtlichen Ebenen zu ernennen, zu befördern, zu degradieren und zu versetzen sowie über ihre disziplinarische Verantwortlichkeit zu entscheiden. In dieser Funktion übte Berisha alsbald Druck auf die Justiz aus, um Prozesse gegen politische Gegner und die Presse anzustrengen (Abrahams 1996; Rosenberg 1994: 91f). Die vom Präsidenten favorisierte Verfassungsreform, welche die Übergangsverfassung ablösen sollte, zielte auf die Legalisierung und den Ausbau dieser präsidialen Kompetenzen ab. Der letztendlich gescheiterte Verfassungsentwurf sah eine Übertragung weiter legislativer und judikativer Machtbefugnisse auf den Präsidenten vor und enthielt keine Garantien der Gewaltenteilung (Schmidt-Neke 2004: 807f; Vickers/Pettifer 1997: 259). Die Tendenz zum Autoritarismus kam auch in der Verschärfung des Pressegesetzes und der Instrumentalisierung verschiedener „Lustrationsgesetze“4 zur Exklusion und Unterdrückung der gegnerischen PS zum Ausdruck (Abrahams 1996: 51f).
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Lustrationsgesetze zielten in vielen postsozialistischen Staaten auf die Säuberung der Verwaltung von Anhängern des alten Regimes und waren Bestandteil der rechtlichen und politischen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit. Vgl. zu Albanien Imholz (2004).
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
131
Auch die eigene Partei begann Berisha autoritär zu beherrschen und von einer Sammlungsbewegung reformorientierter Kräfte in eine populistische Führerpartei umzuwandeln (Pihet 2000: 148f; Schmidt-Neke 2004: 829f). Diese Formen der Willkürherrschaft mündeten 1996 in eine manipulierte Parlamentswahl und eine zunehmende Repression der Opposition und der Medien. Protestaktionen gegen die Regierung wurden von der Polizei und dem Geheimdienst gewaltsam unterdrückt (Vickers/Pettifer 1997: 280; Biberaj 1998: 299f). Die innerstaatliche Polarisierung eskalierte schließlich 1997, anlässlich des Kollapses einer Reihe von irregulären Privatbanken, in schweren gewaltsamen Unruhen, im Zuge derer es einer militanten Protestbewegung gelang, den Rücktritt des Präsidenten zu erzwingen. Aus Neuwahlen ging die PS als Sieger hervor. In der Folge wurde das Amt des Präsidenten im Zuge einer neuen Verfassung auf eine weitgehend repräsentative Funktion reduziert. Damit hatte sich die exekutive Macht auf das Amt des Ministerpräsidenten verlagert und dessen Regierung abhängiger vom Kräftespiel der Parteien gemacht (Schmidt-Neke 2004: 808ff, 818). Dieser institutionellen Konstellation war es u.a. zu verdanken, dass das politische Feld seitdem verstärkt von instabilen Machtbalancen gekennzeichnet war. Das galt insbesondere für die Regierungszeit der PS von 1997 bis 2005. Die von der PS geführten Regierungen basierten in der Regel auf Koalitionen und der Einbindung von kleineren Parteien, um die parlamentarische Basis der Regierung zu verbreitern. Denn das politische Feld war von permanenten Fraktionierungen und schnell wechselnden Bündnissen gekennzeichnet. Alle Koalitionen der Parteien beruhten auf einer fragilen Balance von Netzwerken, ökonomischen Interessen und zugeteilten Pfründen. Umstrittene Ernennungen seitens des Ministerpräsidenten, Wechsel an der Spitze von Ressorts aber auch politische Intrigen, persönliche Rivalitäten und die diffuse Logik der „Rache“5 provozierten regelmäßig Machtkämpfe und parlamentarische Blockaden, die über kurz oder lang entweder zur Umbildung oder zum Sturz des Kabinetts führten. Das Ergebnis waren laufende Positionsverschiebungen im politischen Feld. Innerhalb von zwei Legislaturperioden, von 1997 bis 2005, wurde von der PS sechs mal der Posten des Ministerpräsidenten neu besetzt, obwohl sie im Parlament über eine absolute Mehrheit der Mandate und mit ihren Koalitionspartnern bis 2001 sogar über eine Zweidrittelmehrheit verfügte (Schmidt-Neke 2004: 823; s. Tabelle 4).
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Vgl. hierzu und zu den dahinter liegenden symbolischen Ordnungen und kulturellen Codes Schwandner-Sievers (1996, 1998).
132
Der Staat in Albanien und Georgien
Auf die Dauer von zwei Legislaturperioden, in denen die PS die Regierung stellte, entfielen elf unterschiedliche Kabinette.6 Tabelle 4: Albanische Regierungen unter Führung der PS 1997-2005 ȱ
Fatos Nano
Juli 1997
-
Oktober 1998
Pandeli Majko
Oktober 1998
-
Oktober 1999
Ilir Meta
Oktober 1999
-
September 2001
Ilir Meta
September 2001 -
Februar 2002
Pandeli Majko
Februar 2002
-
Juli 2002
Fatos Nano
Juli 2002
-
September 2005
In den politischen Bündnissen bzw. Konflikten spielten programmatische Übereinstimmungen oder Differenzen zwischen den Parteien kaum eine Rolle. Die wesentliche Herausforderung im politischen Feld bestand vielmehr darin, möglichst viele Akteure einzubinden und materiell zu versorgen.7 Der Klientelismus stellte dabei die vorherrschende Praktik dar (Hoppe 1994; Pihet 2000: 156ff). Er kam vor allem in dem Zugriff auf die Positionen in der staatlichen Verwaltung zum Ausdruck. Obwohl verschiedene Gesetze eine meritokratische Rekrutierung der staatlichen Bediensteten und ihren Schutz vor politischer Interferenz vorsahen, existierte in der Praxis keine politisch unabhängige und kontinuierliche Verwaltung. Denn der Staat gehörte den Parteien. Jede an der Regierung beteiligte Partei betrachtete alle Ämter im öffentlichen Sektor und der Verwaltung als Verfügungsmasse und praktizierte die Ämterpatronage gegenüber ihren Anhängern. Aus dem Wechsel von Regierungen oder nur ihrer Umbildung resultierten daher immer Verschiebungen in der Architektur klientelistischer Netzwerke, die früher oder später den Austausch des Personals im öffentlichen Sektor und den Behörden nach sich zogen. Weil die Klientelketten weit in den Apparat hineinreichten,
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 6
7
Neue bzw. umgebildete Kabinette im Juli 1997, April 1998, Oktober 1998, Oktober 1999, Juli 2000, November 2000, September 2001, Februar 2002, Juli 2002, Juli 2003 und Dezember 2003. ADN 11.9.2001 „Parliament Delays Govt. Vote, Expected Today“; RFE/RL Balkan Report, Vol. 5, No. 65, 18.9.2001, „Albania’s New Government“; ADN 10.8.2002 „Press Review: Dita: A New Suit for Nano“; ADN 8.1.2004 Press Review: Shekulli: SP Allies Demand 11 Deputy Ministers“; ADN 24.1.2004 „Press Review: Korrieri: Nano Rewards Allies with Posts“; ADN 6.3.2004 „Allies Unsatisfied with the Coalition, Accord not Respected“; ADN 16.7.2004 Press Review: Zeri i Popullit: Coalition of Offices – SDP Share“; ADN 8.9.2004 „Socialist Allies Push for One-third of Govt Seats“.
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
133
nahmen solche Verschiebungen nicht selten das Ausmaß regelrechter Säuberungskampagnen an, die den gesamten Apparat erfassten (Kajsiu et al. 2002: 17f; Bogdani/Loughlin 2007: 47f). Die Konkurrenz der Parteien und der klientelistischen Netzwerke resultierte wesentlich aus dem Kampf um Erwerbschancen. Denn alle Positionen im staatlichen Feld boten verschiedentlich Möglichkeiten, ökonomisches Kapital zu akkumulieren. Das galt zunächst für das Geflecht politischer und wirtschaftlicher Macht, bei dem einzelne Unternehmer begünstigt wurden, die gleichzeitig Teil der politischen Klasse waren oder ihr nahe standen und von ihrem sozialen Kapital profitierten. In der Reichweite dieser Netzwerke wurden Lizenzen, Kredite und Baugenehmigungen verteilt sowie illegale Absprachen getroffen, die zur Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Monopole, zur Vergabe öffentlicher Aufträge und zur Protektion von Märkten dienten.8 Auch der informelle Sektor, der sich nach unterschiedlichen Schätzungen auf 30 bis 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belief (OECD 2005a: 29), bot Möglichkeiten zur Bereicherung. In dieser Schattenökonomie wurden alle finanziellen Transaktionen in bar abgewickelt und weder Steuern noch Sozialabgaben entrichtet. Zwischen 1998 bis 2003 belief sich der geschätzte Verlust an Steuereinnahmen aufgrund von Steuerhinterziehung im Privatsektor auf durchschnittlich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (ebd. 42). Dafür verwendete ein Unternehmen durchschnittlich geschätzte 3,3 Prozent seiner Gesamteinnahmen für die „Korruptionssteuer“, d.h. für Bestechungsgelder, um behördliche Genehmigungen zu erlangen oder administrative Auflagen zu umgehen (Gray et al. 2004: 17, 22). Die generalisierte Korruption war die Folge.9 Chancen zur Akkumulation ökonomischen Kapitals ergaben sich auch in den Schattenzonen des Weltmarktes. Die Verzahnung des Staates mit kriminellen wirtschaftlichen Kreisläufen eröffnete den Akteuren diverse Möglichkeiten der Aneignung. Mit der Verlagerung der traditionellen Balkan-Schmuggelrouten im Zuge des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens und dank seiner strategischen Position an der Adria hatte sich Albanien als bevorzugtes Transit- und Herkunftsland für geschmuggelte Waren aller Art etabliert. Das in Folge des Bos-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 8
9
Kaufmann et al. (1998); Gray et al. (2004: 25, 28); Bogdani/Loughlin (2007: 61, 72, 175ff); RFE/RL Balkan Report Vol. 4, No. 55, 25.7.2000, „Albania’s Pre-Election Building Race“; RFE/RL Balkan Report Vol. 5, No. 71, 30.10.2001 „Monopolies Weigh Down Albanian Economy“; ADN 27.10.2001 „Press Review: Tema: Angjeli‘ Empire, 12 Companies in Tirana“; ADN 17.8.2004 „AKK Chairman Worried Over Monopolization of Fuel Market“; Korrieri 12.3.2005 „Berisha: Duka dhe ‚Aiba‘, ne konflikt interesi [Berisha: Duka und Aiba im Interessenkonflikt]“. Kaufmann et al. (1998); World Bank (1998: 3f); Kajsiu et al. (2002: 37); Bogdani/Loughlin (2007: 152f).
134
Der Staat in Albanien und Georgien
nienkrieges gegen Serbien und Montenegro von den Vereinten Nationen 1992 verhängte Embargo spielte dabei zunächst eine entscheidende Rolle. Seine Umgehung in Form des Ölschmuggels von Nordalbanien nach Montenegro stellte bis 1995 ein lukratives Geschäft dar (Hajdinjak 2002: 15). In diesen Handel waren staatliche Akteure schon früh verwickelt. So wurde der Schmuggel u.a. über die zu diesem Zeitpunkt das Monopol auf den Im- und Export von Öl innehabende Firma „Shqiponja“ abgewickelt, die direkt der Führung der regierenden PD unterstand (Gumbel 1997; Mappes-Niediek 2003: 78). Über andere Kanäle wurde der Schmuggel im großen Stil per Eisenbahn organisiert (Hajdinjak 2002: 18; Biberaj 1998: 201). Nach der Aufhebung des Embargos 1995 verlagerte sich der Schmuggel auf andere Akteure und Güter. Die Aktivitäten vieler kleiner und größerer krimineller Gruppen mit teils lokalem, teils transnationalem Aktionsradius hatten zur faktischen Privatisierung des grenzüberschreitenden Handels mit Waffen, Zigaretten, Autos, Drogen und Menschen geführt. Albanien stand vor allem über den Drogen- und Menschenhandel in Kontakt zu amerikanischen, asiatischen, kolumbianischen und italienischen Kartellen sowie zu Gruppierungen in Rumänien, Bulgarien und in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens und war damit fest in den Schattenweltmarkt eingebunden.10 Wie anderswo in Südosteuropa stellte in Albanien die Grenzkontrolle für die Staatsdiener die größte Quelle zur Akkumulation ökonomischen Kapitals dar (SELDI 2002: 7). Der grenzüberschreitende Schmuggel von Waren aller Art und die illegalen Grenzübertritte von Flüchtlingen und Migranten waren auf die aktive Unterstützung oder wenigstens Duldung diverser bürokratischer Agenturen wie der Passkontrolle, der Zollbehörden, der Kontrolleure an den Häfen, Flughäfen und allen sonstigen Grenzpunkten angewiesen. Diese Duldung im großen Stil bedurfte wiederum des Schutzes durch übergeordnete Instanzen. Das Ergebnis war die staatliche Protektion krimineller Aktivitäten. Die in diesem Zusammenhang etablierten Ketten zur Umverteilung ökonomischen Kapitals reichten bis in die Staatsspitze. Hochrangige politische Akteure waren in den Schmuggel von Öl, Drogen, Zigaretten, Waffen und Geldwäsche verwickelt und unterhielten Verbindungen zum organisierten Verbrechen.11 Parlamentsabgeordnete und Minister unterstützten und verkehrten öffentlich mit Personen, die als Mitglieder der Mafia bekannt waren oder später als solche identifiziert wurden (Kajsiu et al. 2002: 40f).
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Vgl. Hajdinjak (2002: 30ff); Mappes-Niediek (2003: 72ff); Chassagne/Gjeloshaj (2001: 173ff); Xhudo (1996); Miletitch (1998); Jamieson/Sily (1998: 21-26); Tabaku (2005). Xhudo (1996: 8); Jamieson (1999: 113); Chassagne/Gjeloshaj (2001: 177f); Mappes-Niediek (2003: 78-81).
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
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Bis 1996 floss ein Großteil der kriminellen Profite in ein System irregulärer Privatbanken, so genannte „Pyramiden“ oder „Sparspiralen“, die Geldwäsche im großen Stil ermöglichten (Vaughan-Whitehead 1999: 191ff; Jarvis 2000). Diese Pyramiden versprachen frühen Investoren hohe Zinssätze, die durch die Beiträge späterer Investoren finanziert wurden. Das System funktionierte nur durch stetig ansteigende Summen. Die Tatsache, dass sich über einen Zeitraum von 1992 bis 1997 an die dreißig solcher Pyramiden etablieren konnten, die teilweise monatliche Zinssätze von über vierzig Prozent garantierten, lässt sich nur auf den konstanten Zufluss erheblicher Geldsummen zurückführen. Schätzungen zufolge absorbierten die Pyramiden in ihrer Hochphase Ende 1996 1 – 1,3 Milliarden USDollar, ungefähr die Hälfte des damaligen Bruttoinlandsprodukts (Korovilas 1999: 408f).12 Der Erfolg der Pyramiden verdankte sich auch der Verbindung mit den politischen Parteien (Biberaj 1998: 202f, 317f). So wurde 1994 der staatliche Waffenproduzent „Meico“ an die private Firma und gleichzeitig größte Sparspirale „Vefa Holding“ verkauft, deren Vorsitzender wiederum ein enger Freund des damaligen Verteidigungsministers und bedeutendster Spender für den Wahlkampf der Regierungspartei war (Jamieson 1999: 113; Vaughan-Whitehead 1999: 196f). Eine gesetzliche Regulierung der Pyramiden blieb daher ebenso aus wie die Implementierung eines Anfang 1996 beschlossenen Gesetzes gegen Geldwäsche (Biberaj 1998: 317-319; Vaughan-Whitehead 1999: 197f). Der unvermeidliche Kollaps der Pyramiden Anfang 1997 stürzte das Land für mehrere Monate in schwere gewaltsame Unruhen und brachte die Regierung Berisha zu Fall. Seit dem Ende der Pyramidensysteme wurden illegal erwirtschaftete Profite vornehmlich durch den Bau von Hotels, Bars, Restaurants und Wohnkomplexen gewaschen (ICG 2003: 5). Die Verkoppelung politischer und ökonomischer Macht und die Tendenz zur Kriminalisierung des Staates lassen sich beispielhaft an einer Akteurskonstellation aus den Jahren 2003 bis 2005 verdeutlichen: Durrës war nicht nur die wichtigste Hafenstadt Albaniens, sondern auch der größte Umschlagplatz für geschmuggelte Güter sowie der Ort vieler illegal gebauter Hotels und Restaurants. Der dortige 2003 ins Amt gewählte Bürgermeister, Lefter Koka, war Eigentümer einer Zuckerabfüllanlage, eines Transportunternehmens mit mehreren Schiffen, einer Im- und Exportfirma sowie einer Baufirma, die illegale Wohnkomplexe baute, die im Nachhinein von der Kommune legalisiert wurden. Sein Bruder, Leonard Koka, wurde als Boss eines Rings von Zigarettenschmugglern verdäch-
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Dazu zählten auch wesentlich Gelder der albanischen Diaspora, die bis 1997 pro Jahr geschätzte 700 Millionen US-Dollar überwiegend in bar über Kuriere in die Heimat transferierte (Korovilas 1999: 404).
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tigt. Beide galten als enge Bekannte des damaligen Ministerpräsidenten Fatos Nano. Lefter und Leonard Koka waren außerdem mit dem damaligen Landwirtschaftsminister Agron Duka verschwägert. Diese verwandtschaftliche Verbindung wurde von gemeinsamen Geschäftsinteressen ergänzt. Lefter Koka und Agron Duka und wiederum dessen Bruder hielten gemeinsam 90 Prozent der Anteile an einem Fernsehsender. Die Gebrüder Duka waren darüber hinaus Besitzer der Firma AIBA, die ihren Sitz in der Nähe von Durrës hatte und zu den größten albanischen Unternehmen zählte. Dieses importierte Nudeln, Olivenöl und elektronische Haushaltsgeräte namenhafter westlicher Hersteller über zollfreie Lager im Hafen von Durrës nach Albanien und besaß das Recht auf ihren Alleinvertrieb im Land. Zugleich hatte AIBA den Markt für Geflügelzucht, Eier und Tierfutter in Albanien faktisch monopolisiert. Diese Firma wurde außerdem des Drogenhandels verdächtigt. Im April 2005 hatten Behörden in Italien einen Lastwagen von AIBA mit 25 kg Heroin beschlagnahmt.13 Diese Verflechtung von politischen, ökonomischen und kriminellen Sphären war u.a. dafür verantwortlich, dass sich die Implementierung vieler Gesetze im Rahmen der Korruptionsbekämpfung verzögerte oder ausblieb, weil Teile der politischen Klasse aus gewichtigen Gründen kein Interesse an ihnen hatte.14 Auch die Arbeit der Kontrollbehörden und der Justiz unterlag massiven politischen Einflüssen. Versuche ihre Tätigkeit zu verhindern oder sie zur Unterdrückung politischer Gegner zu instrumentalisieren waren verbreitet (Kajsiu et al. 2002: 38). Die teils erfolgreichen, teil misslungenen Versuche verschiedene Generalstaatsanwälte zu entlassen waren vor allem politische Manöver, um die Justiz unter Kontrolle zu bringen (ebd. 24).15 Fälle von organisierter Kriminalität, Korruption oder Geldwäsche wurden kaum vor Gericht verhandelt, da entweder die Anklagen am Ende der Voruntersuchungen fallengelassen oder Verfahren gar nicht erst in Gang gesetzt wurden.16 Dem albanischen Justizministerium zufolge sind von 1998 bis 2000 insgesamt nur 18 Staatsbedienstete für Amts-
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Interview: A42, A50 - A52. Vgl. auch L’ Express 17.11.2005 „Albanie. Le pays des Aigles et de la pègre“; EIU (2005: 14f); Gazeta Metropol 20.5.2006 „Policia Ndërtimore, kallëzim penal për Lefter Kokën e Miri Hotin“ [Baupolizei, Strafanzeige für Lefter Koka und Miri Hotin]; Korrieri 12.3.2005 „Berisha: Duka dhe ‚Aiba‘, ne konflikt interesi [Berisha: Duka und Aiba im Interessenkonflikt]“. SELDI (2002: 51, 57, 60, 75); European Commission (2005: 15f); Bogdani/Loughlin (2007: 155). ADN 20.3.2002 „Parliament Votes to Dismiss Attorney General“; CSEES: SEE Security Monitor: Albania 24.7.2006 „Albanian parliament asks president to sack prosecutor-general“. OSCE (2004: 50); FATF (2004: 3); Bogdani/Loughlin (2007: 52).
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missbrauch und Bestechung verurteilt worden (Kajsiu et al. 2002: 38).17 Korrumpierte Beamte wurden in der Regel entlassen oder versetzt ohne gerichtliche Strafverfahren einzuleiten (ebd.). Die allgemeine Verbreitung illegaler und krimineller Praktiken im staatlichen Feld stand in starkem Kontrast zu ihrer kaum merklichen Verfolgung, weshalb sie sich auch schwerlich als „Korruption“ bezeichnen lassen, denn es handelte sich nicht um „Regelverstöße“, sondern um weithin akzeptierte soziale Praxis. Diese politischen und ökonomischen Dynamiken bildeten den Kontext, in dem die Polizei in Albanien seit 1991 eine Transformation durchlief. Sie soll im Folgenden näher betrachtet werden. Wie für andere Bereiche der öffentlichen Verwaltung in Albanien war auch für die Polizei kennzeichnend, dass sie nur über eine geringe anstaltsstaatliche Eigenrationalität verfügte. Diverse patrimoniale Praktiken verhinderten die Konsolidierung eines nach formal-legalen Verfahren operierenden Polizeiapparates. Dazu zählte insbesondere die weit reichende personale Macht und Willkür des Ministers, der sich auch mit geringsten Details der Polizeiarbeit befasste und dessen personale Herrschaft formalen Verfahren überlegen war (1.2.1). Die Rekrutierung und Beförderung des Personals wurde vom Klientelismus der politischen Parteien und des Polizeipersonals bestimmt, was eine außerordentlich geringe Kontinuität der Verwaltung zur Folge hatte (1.2.2). Die überwiegend nicht-meritokratische Rekrutierung ging wiederum mit einem problematischen Ausbildungsstand einher (1.2.3). Schließlich zeichnete sich die Polizei durch verschiedene Praktiken der Aneignung aus, wozu vor allem die Involvierung in den lukrativen Schmuggel beitrug (1.2.4). Die Reform und Modernisierung der albanischen Polizei wird seit einiger Zeit von diversen internationalen Akteuren gefördert, womit sich die Polizeiarbeit zunehmend internationalisiert hat (1.2.5).
1.2
Der bürokratische Apparat der Polizei
In der Ära des Sozialismus galt Albanien als eines der repressivsten und rigidesten aller sozialistischen Regime. Folter, höchste Haftstrafen, Internierungen in Verbanntendörfern oder Arbeitslagern bis hin zur Tötung zählten zu den gängigen Mitteln staatlicher Repression. Garant hierfür war ein omnipräsenter Sicherheitsapparat, der über ein verzweigtes System von Lagern und Gefängnissen wachte (Zickel/Iwaskiw 1992: 227-238). Die Polizei war Bestandteil dieses Sys-
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Die Quote ist seitdem angestiegen auf zuletzt 171 strafrechtlich verfolgte Personen in 2004 (European Commission 2005: 16).
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tems und folgte in ihrem Aufbau dem Modell der frühen, hochgradig zentralisierten sowjetischen Miliz, das bis 1991 weitgehend unverändert beibehalten wurde (Shajko/Shkëmbi 1994: 170-175; Fogel 1994: 58).18 Die Transformation des polizeilichen Sicherheitssektors begann unmittelbar nach der politischen Öffnung des Landes. Bereits Mitte 1991 wurde ein neues Polizeigesetz verabschiedet, das die Depolitisierung der Polizei und ihre Loslösung vom Geheimdienst vorsah (Shkëmbi 2004: 185). Darauf folgten eine Reihe von weiteren Gesetzen und organisatorischen Neuerungen mit dem Ziel, die Polizei in Anlehnung an westliche Modelle zu restrukturieren (Shajko/Shkëmbi 1994: 175-177; Republic of Albania 2001: 6f). Substanzielle Änderungen des Sicherheitsapparates blieben indes aus. Der Dienst blieb stark zentralisiert und nach den alten militärischen Rängen gegliedert (Koçi 1998: 85), so dass das Innenministerium Ende der 1990er Jahre die Reformen im eigenen Haus selbst als „komplett gescheitert“ (Republic of Albania 2001: 8) bezeichnete. Ein neuer Reformschub fiel in die Zeit nach 1999. Im November 1999 verabschiedete das Parlament ein weiteres Polizeigesetz, das u.a. die Trennung der politischen und administrativen Führung und die Umwandlung des Dienstes in eine zivile Institution vorsah (Republic of Albania 2001: 42). Seit den schweren bewaffneten Unruhen von 1997 wurde die Neuordnung der Polizei von einer wachsenden Zahl externer Akteure massiv mit Beratung, Ausbildungsprogrammen und Logistik unterstützt. Allein drei Polizeimissionen der EU, der USA und Italiens waren zuletzt in Albanien tätig. Der bisherigen Reform zufolge stellte sich die Struktur der Polizei grob umrissen wie folgt dar19: Die „Staatspolizei“ setzte sich aus der Verkehrspolizei, der Kriminalpolizei, der Polizei für öffentliche Ordnung, der Grenzpolizei sowie den Spezialkommandos bzw. schnellen Eingreiftruppen zusammen.20 Diese verschiedenen Bereiche waren in einzelnen Direktoraten organisiert. Hierzu zählten zu-
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Vgl. zur frühen sowjetischen Miliz Shelley (1996: 19-37). Die Angaben wurden zuletzt im Herbst 2005 aktualisiert. Die Zusammenlegung des Innenministeriums mit dem Ministerium für lokale Angelegenheiten im September 2005 und die sich daraus ergebenden Veränderungen sind hier nicht mehr berücksichtigt worden. Neben der Staatspolizei gehört auch die Republikanische Garde dem Innenministerium an. Sie dient dem Schutz von hochrangigen Politikern und staatlichen Residenzen. Seit September 2005 gehört auch die Stadt-und Kommunalpolizei dem Innenministerium an. Daneben existieren noch andere Polizeikräfte, die aber anderen Ministerien zugeordnet sind und hier nicht weiter betrachtet werden. Dazu zählt zunächst die nicht eindeutig vom Innenministerium abgegrenzte Justizpolizei, die sich zwar aus der Staatspolizei rekrutiert und organisatorisch ihren Hierarchien folgt, formal jedoch für die Staatsanwaltschaft ermittelt. Darüber hinaus existieren eine Steuerpolizei, Gefängnispolizei, Elektrizitätspolizei sowie eine Forstpolizei und eine Baupolizei.
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letzt das Direktorat für Organisiertes Verbrechen, das Direktorat für Anti-Terrorismus, ein Direktorat für öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie das Direktorat für die Grenzpolizei. All diese waren im Generaldirektorat der Polizei zusammengefasst. Dort fanden sich auch andere zentrale Einrichtungen wie die Polizeiakademie. Unterhalb dieser Ebene befanden sich 12 regionale Direktorate. Sie wurden jeweils von einem Distriktpolizeichef geleitet. Diese koordinierten und beaufsichtigten wiederum die Kommissariate in ihren Distrikten. Jedem Distriktpolizeichef unterstanden etwa 2-4 Kommissariate mit jeweils einem Kommissariatschef. In den regionalen Direktoraten fanden sich auch Sektionen der oben genannten zentralen Direktorate wieder. Das gesamte Generaldirektorat der Polizei war Bestandteil des Innenministeriums, das über eigene Abteilungen für Personal, Logistik, Finanzen und Inspektion verfügte (Republic of Albania 2001: 24ff). Zahlenmäßig wurde das Personal der Polizei seit der Liberalisierung Albaniens kontinuierlich reduziert. Von 1992 über 21.000 Mann hatte sich die Polizei bis 1998 auf knapp 16.000 und seit 2001 auf etwas mehr als 12.000 Mann verkleinert (Policia e Shtetit 2004a; Taçi/Shkëmbi 2001: 40).21
1.2.1
„Der Minister kann alles“
In Albanien galt das Amt des Innenministers aufgrund der Kontrolle über den Polizeiapparat und die staatlichen Gewaltmittel als eine Schlüsselstellung. Die Position des Innenministers war jedoch, wie die aller anderen Akteure im politischen Feld, keine beständige. Denn die permanenten Machtkämpfe zwischen den Parteien machten laufend Kabinettsumbildungen und eine Neuverteilung von Ministerämtern nötig. Dieser Dynamik unterlag auch der Innenministerposten, der nicht nur zu Beginn, sondern auch mehrmals im Verlauf einer Legislaturperiode neu vergeben wurde. Von 1997 bis 2004 haben acht unterschiedliche Personen das Amt des Innenministers bekleidet (s.u. 1.2.2). Dem Innenminister gelang es daher nur begrenzt, im instabilen politischen Feld eine einflussreiche Position einzunehmen. Umso ausgeprägter war dagegen seine Macht im bürokratischen Feld. Seit dem Beginn der Demokratisierung in Albanien waren alle Innenminister Zivilisten. Jedoch existierte zunächst keine strikte Trennung zwischen der politischen und der administrativen Führung (Shkëmbi 2004: 333). Das kam u.a. darin zum Ausdruck, dass der Generaldirektor der Polizei gleichzeitig stellvertretender Innenminister war. Erst in einem neuen Polizeigesetz vom November
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Unklar ist dabei, woraus sich die jeweiligen Zahlenabgaben genau zusammensetzen.
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Der Staat in Albanien und Georgien
1999 wurde die Trennung der politischen von der administrativen Führung explizit vorgesehen. Laut diesem Gesetz war der Innenminister für die politische Steuerung und zivile Kontrolle zuständig und durfte operative Instruktionen nur vermittelt über den Generaldirektor der Polizei vornehmen. Ansonsten war der Generaldirektor der Polizei als höchster Beamter zuständig für die administrative interne Leitung und Koordinierung der Polizei.22 Die Trennung zwischen den Kompetenzen des Ministers und des Generaldirektors blieb jedoch in der konkreten Praxis ebenso schwach ausgeprägt wie die Autonomie des Generaldirektorats. So berichtete das Ministerium regelmäßig über polizeiliche Einzelvorgänge wie Autodiebstähle, Drogendelikte, Festnahmen oder die Vergehen einzelner Polizeibeamter.23 Das Ministerium verwaltete ferner das Budget der Polizei und konnte allein Zahlungen im Generaldirektorat autorisieren. Der Generaldirektor selbst hatte keinerlei Kontrolle über seinen Haushalt, weder über Investitionsmittel noch über den Etat für Gehälter.24 Diese Zentralisierung war vor allem Ausdruck der organisatorischen Besonderheit, dass das Ministerium nichts anderes als den Polizeiapparat zu beaufsichtigen hatte.25 Aber auch die Bedeutung des Ministers als Person und Big Man ließ eine wirkliche autonome polizeiliche Verwaltung nicht zu. Jeder Minister hat sein Ministerium und den dazugehörigen Polizeiapparat personalisiert. In seinem politischen Aufgabenfeld ausschließlich auf die zivile Führung der Polizei verwiesen, neigte der Minister dazu, sich fortgesetzt mit internen polizeilichen Belangen zu befassen. Auch die stets nagende Kritik Internationaler Organisationen und der skandallüsternen Presse angesichts polizeilicher Misserfolge oder Korruptionsskandale bestärkten das Kontrollbedürfnis des Ministers. Das Ergebnis war die laufende Intervention des Ministers in den Apparat. Der Minister befasste sich mit bürokratischen Details und warf ein Auge auf einzelne Polizeibeamte der höheren Ränge. Zum Ausdruck kam das in der Etablierung enger Beziehungen zu den oberen Polizeistäben. Der Minister konzentrierte sich auf den Generaldirektor der Polizei, 12 Distriktpolizeidirektoren und etwa 36 Kommissariatschefs. Unter anderem über laufende Kontakte mit den Distriktpolizeichefs, die im Schnitt alle zwei bis drei Wochen zu Lagebesprechungen in die
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Ligj Nr. 8553, datë 25.11.1999, „Për Policinë e Shtetit“, Neni 7-8 [Gesetz Nr. 8553 vom 25.11.1999 über die Staatspolizei, Artikel 7-8]. Vgl. die Pressemitteilungen des Ministeriums seit September 2001. Im Internet unter: <www.moi.gov.al> Interview: A3, A63, A64. Die möglichen Veränderungen, die diesbezüglich aus der Zusammenlegung des Innenministeriums mit dem Ministerium für lokale Angelegenheiten im August 2005 resultierten, wurden hier nicht mehr berücksichtigt.
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
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Hauptstadt Tirana zitiert wurden, erlangte der Minister Einfluss auf das operative Geschehen in der Polizei und kommentierte entsprechend oft Einzelvorgänge (IPLS 2000: 31). Der Minister bereiste darüber hinaus regelmäßig alle regionalen Direktorate, wo er die Polizeiarbeit kritisierte und evaluierte, an Lagebesprechungen teilnahm und neue Strategien zur Bekämpfung des Drogenhandels präsentierte. Er war bei entscheidenden Polizeioperationen direkt an der Planung, Durchführung und Auswertung beteiligt, er präsentierte vor Ort neue Distriktpolizeidirektoren und Kommissariatschefs und besuchte die Familie im Dienst umgekommener Polizisten.26 Er schaltete sich ferner bei wichtigen Kriminalfällen in die laufende Polizeiarbeit ein und entschied über die Vergabe zusätzlicher Ausbildungsplätze an der Polizeiakademie. Der Minister entschied darüber hinaus über die Abbeorderung von Polizeibeamten zu Kooperationsprojekten mit Internationalen Organisationen und genehmigte außerdem persönlich jede Auslandsreise eines Polizeibeamten, einschließlich solcher des Generaldirektors. Oder wie es ein ehemaliger Distriktpolizeichef ausdrückte: „Der Minister kann alles“.27 Die prekäre Autonomie des Apparates gegenüber der personalen Herrschaft des Ministers kam auch im Bereich der Personalfragen zum Ausdruck. Denn hier ergaben sich für den Minister Chancen zur Ämterpatronage. Formal galt bei der Rekrutierung des Polizeipersonals ein abgestuftes Verfahren. Laut Gesetz hatte der Minister lediglich die Kompetenz, den Generaldirektor der Polizei vorzuschlagen, der dann vom Ministerrat ernannt wurde. Sonstige Ernennungen und Entlassungen im Polizeiapparat durfte der Minister nur in den oberen Rängen und nur auf Vorschlag des Generaldirektors vornehmen. Letzterem oblag auch die alleinige Personalverantwortung für die Beamten der mittleren Ränge. Die Personalverantwortung für die unteren Ränge lag wiederum auf der Ebene der Distriktpolizeidirektoren.28 In der Praxis hatte dieses Verfahren jedoch keine Bedeutung. Denn der Minister betrachtete alle polizeilichen Ämter als seine Verfü-
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Vgl. ADN 21.8.2002 „Interview: Albania Resolute in Anti-trafficking Fight“; ADN 7.12.2002 Press Review: Dita: „Interior Minister Continues Controls on Commissariats“. Siehe ferner die Pressemitteilungen des Ministeriums: 11.3.2003 „The Minister Rama at the Police Directorate of Berat District“; 5.6.2003 „Minister Rama pays a visit at the family of the killed policeman during performing his duty“; 26.7.2005 „The Minister of Public Order issued an order on the eve of the tourist period“; 14.10.2005 „Third trimester’s analysis of the work done by Police Directorate of Tirana District“; 7.6.2006 „Minister of Interior Sokol Olldashi held a working meeting with Border and Migration Police structures management“; 27.6.2006 „Minister of Interior presented in Vlora Chief Commissar Astrit Mehja, Director of the Police District“. Im Internet unter: <www.moi.gov.al> Interview: A5, sowie A2, A3, A52, A 60, A64. Ligj Nr. 8553, datë 25.11.1999, „Për Policinë e Shtetit“, Neni 9, 19 [Gesetz Nr. 8553 vom 25.11.1999 über die Staatspolizei, Artikel 9, 19].
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gungsmasse. Jeder Innenminister versuchte daher, sich den Generaldirektor zu unterwerfen, um dessen Kompetenz über Einstellungen und Entlassungen zu appropriieren. Der konfliktive Charakter dieser Beziehung äußerte sich in wiederholten Versuchen, den Generaldirektor loszuwerden oder über Gesetzesänderungen die ministerielle Macht gegenüber dem Generaldirektor auszubauen.29 Trotz gelegentlichen Widerstands seitens des Generaldirektors war es letztendlich zumeist der Minister, der über alle wichtigen Einstellungen entschied, gegebenenfalls auch über solche, die bereits in die Zuständigkeit der nachgelagerten Ebene der Distriktpolizeichefs fielen (siehe 1.2.2).30 Die Tendenz zur Personalisierung durch den Minister kam darüber hinaus in der Praxis der Korruptionsbekämpfung zum Ausdruck. Eingebunden in ein Geflecht internationaler Polizeikooperationen und angehalten zu Reformen durch die Kritik und Beobachtung internationaler Organisationen sowie den alarmistischen Diskurs über die „organisierte albanische Kriminalität“ sah sich der Minister gezwungen, Erfolge bei der Polizeiarbeit vorzuweisen. Die wesentlich von außen produzierten Erwartungen richteten sich dabei auf eine Effektivierung der Polizeiarbeit, wozu auch die Bekämpfung korrumpierter Beamter gehörte, die kriminelle Gruppen gewähren ließen oder sie direkt unterstützten. Zentraler Bestandteil der Korruptionsbekämpfung im Innenministerium war ein „Interner Kontrolldienst“ (Shërbimit të Kontrollit të Brendshëm, SHKB), der außerhalb des Generaldirektorats der Polizei angesiedelt war und direkt dem Innenminister berichtete. Das Kontrollbüro sammelte Informationen über Unregelmäßigkeiten und Gesetzesverstöße in der Polizei und führte Untersuchungen durch. Die weit überwiegende Mehrheit der Korruptionsfälle wurde durch dieses Büro offen gelegt.31 Nur zum Teil folgte der SHKB jedoch einer autonomen Logik der Korruptionsbekämpfung. Die Autonomie dieses Büros war nicht sonderlich ausgeprägt, denn seine Arbeit vermischte sich mit den persönlichen Interessen des Ministers. Die Arbeit des SHKB, die vor allem darin bestand, belastendes Material anzu-
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Mit dem Verweis auf Gesetzeslücken bei der Ernennung, Entlassung und Suspendierung von Polizeibeamten und mögliche institutionelle Konflikte zwischen dem Generaldirektor und dem Minister legte letzterer Anfang 2003 eine Ergänzung zum Polizeigesetz vor, die den Ausbau der ministeriellen Kompetenz gegenüber dem Polizeiapparat vorsah. ADN 21.02.2003 „Interior Minister Presents Amendments to Law on Police“. Interview: A3, A5, A6, A35, A38, A44. Erst seit Etablierung des Büros 2001 liegt überhaupt eine Erfassung von Korruptionsfällen und damit so etwas wie eine Statistik vor (Policia e Shtetit 2004b). Sie verzeichnet 2001 einen Fall, 2004 bereits 307. Darin spiegelt sich höchstwahrscheinlich nicht ein Anstieg von tatsächlichen Korruptionsfällen wider, sondern nur die verstärkte Beobachtung einer vorher nicht weiter reflektierten Praxis.
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sammeln, ermöglichte es dem Minister Abhängigkeiten zu schaffen und persönlichen Gehorsam zu erzwingen. Die Korruptionsbekämpfung wurde dazu benutzt, unliebsame oder illoyale Beamte zu disziplinieren, die in ihrer Ermittlungsarbeit die Geschäftsinteressen von Bekannten des Ministers zu tangieren drohten oder die sich den persönlichen Anweisungen des Ministers widersetzt hatten. Sie erlaubte dem Minister aber auch, bei Bedarf lukrative und begehrte Positionen im Apparat neu zu vergeben, indem einzelnen Polizeibeamten etwas angehängt und sie so aus dem Weg geräumt wurden. Zugleich war die Korruptionsbekämpfung potentiell gefährlich, denn sie konnte Protegés von anderen Ministern, Parlamentariern oder sonstigen Big Men treffen. Die Aktivität des Büros hing daher wesentlich vom sozialen Einverständnishandeln zwischen seinen Mitarbeitern und dem Minister ab. Auf dessen Druck hin musste sich das Personal einerseits auf bestimmte Personen konzentrieren und diese härter verfolgen als andere, andererseits durfte es wiederum nicht gegen die „Falschen“ ermitteln, sonst wurden „die Beziehungen zum Minister kalt“, wie es ein ehemaliger stellvertretender Leiter des Büros ausdrückte.32 Es blieb zum großen Teil dem Ermessen des Ministers anheim gestellt, gegen wen das Büro ermittelte und wer von seiner Tätigkeit unbehelligt blieb. Auf der Grundlage der vom SHKB gewonnenen Informationen ergingen alle Anschuldigungen und Disziplinarmaßnahmen einschließlich Entlassungen in der Polizei. Dabei berief sich der Minister bzw. der Generaldirektor in der Regel auf Verstöße gegen den polizeilichen Ethikcode oder das Polizeigesetz. Verfahrensregelungen in Form von Begründungen, Darlegung von Sachverhalten, Fristenregelungen oder Beschwerdewegen spielten in diesem Zusammenhang durchweg keine Rolle. Vage Vorwürfe und wenig transparente Disziplinarverstöße reichten stets aus für umgehende Strafversetzungen oder gleich für die Entlassung. Aus der faktischen Nichtexistenz von dienst- und personalrechtlichen Verfahren und der zumeist direkt verfügten Amtsenthebung folgte die gänzlich prekäre Stellung jedes einzelnen Beamten im bürokratischen Feld einschließlich des Generaldirektors. Nur selten kamen dabei in Korruptionsfällen auch Strafverfahren zustande, sei es, dass dem Minister juristisch verwertbare Beweise fehlten, sei es, dass angesichts der notorischen Käuflichkeit von Justizurteilen Strafverfahren ohnehin keinen Sinn machten.33 Die Arbeitsweise des Innenministeriums folgte nur zum Teil einer formalen Verfahrenslogik. Denn der Minister war persönlich in Bereiche wie die Personal-
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Interview: A35 und A3, A38, A51. Interview: A3 - A5, A25, A32, A51 - A53, A60. Erst seit kurzem werden in der Polizei verstärkt Strafverfahren gegen Beamte eingeleitet (European Commission 2005: 60).
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Der Staat in Albanien und Georgien
rekrutierung, interne Kontrolluntersuchungen oder Disziplinarverfahren involviert und entschied dort nicht selten entgegen geltender formaler Regeln. Willkürliche Entscheidungen des Ministers aber auch der ihm untergeordneten Polizeidirektoren bestimmten wesentlich die Praxis im Apparat. Von befragten zehn Prozent aller albanischen Polizeibeamten gaben mehr als vier Fünftel an, dass sie mehr vor der Willkür ihrer Vorgesetzten geschützt werden müssten, um effektiv arbeiten zu können (UNDP 2004: 23). Dem entgegen stand jedoch die Bedeutung personalisierter Beziehungen im Apparat, wie sie in der Macht des Ministers und den Abhängigkeiten von seiner Person zum Ausdruck kamen. Die bürokratische Logik in der Polizei wurde indes vor allem von den Praktiken des Klientelismus durchkreuzt, bei denen alle Akteure soziales und ökonomisches Kapital akkumulierten.
1.2.2
Die permanente Rotation
Entscheidender als die Politik eines jeweiligen Ministers waren für die Polizei die starke Polarisierung des politischen Feldes sowie die Machtkämpfe der beiden großen Parteien, der PD und der PS. Beide praktizierten einen ausgeprägten Klientelismus, der in dem Zugriff auf Positionen in der Verwaltung zum Ausdruck kam. Daher folgte auch die Funktionsweise der Polizei überwiegend der Logik der Parteipatronage. Dabei wirkten sich vor allem wechselnde Regierungen stets direkt auf den Polizeiapparat aus. Jeder politische Machtwechsel schlug auf den Apparat durch und ging mit Neueinstellungen, Versetzungen und Entlassungen des Personals einher. Das Ergebnis war eine ausgesprochen geringe Kontinuität der Verwaltungsstäbe und damit permanente Verschiebungen der Positionen im bürokratischen Feld. Ein Blick auf die Entwicklungen seit 1992 verdeutlicht dies. Nach dem Wahlsieg der reformorientierten Oppositionspartei PD im März 1992 erklärte die neue Regierung die Umgestaltung der Sicherheitsdienste zu einem vorrangigen Ziel. Die diesbezüglichen Bemühungen konzentrierten sich auf die Säuberung der Polizei von denjenigen, die aufgrund ihres Dienstes unter dem früheren sozialistischen Regime als unfähig angesehen wurden, das Projekt der Demokratisierung mitzutragen (Koçi 1998: 86).34 Diese Neubesetzung polizeilicher Ämter war jedoch ebenso Ausdruck der Notwendigkeit, die Anhänger der PD zu akkommodieren. Eine entscheidende Rolle spielten dabei zu Beginn
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Solche Säuberungen waren in Bezug auf die Sicherheitsdienste auch anderswo in Osteuropa üblich (Fogel 1994: 7).
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die so genannten „ehemaligen politischen Gefangenen“, die im Sozialismus Repressionen wie Gefängnis, Zwangsarbeit, Verbannung und Sippenhaftung ausgesetzt gewesen waren. Diese Fraktion verfügte in der PD über wachsenden Einfluss (Biberaj 1998: 121, 133). Den ehemaligen politischen Gefangenen und ihren Familien wurde ökonomische Wiedergutmachung und soziale Unterstützung zugesichert, u.a. Land, Hilfe bei der Arbeitssuche, Ausbildung, Wohnungsbeschaffung, direkte Geldzahlungen sowie Beschäftigung im öffentlichen Sektor (ebd. 204; Luarasi 1997: 30f). Bezüglich letzterem profitierte diese Gruppe insbesondere von einem Zusatz zum bis dahin geltenden Arbeitsgesetz, den die PD einen Monat nach ihrem Wahlsieg verabschiedete: den Artikel „24/1“ (Imholz 2004: 37; Luarasi 1997: 31). Dieser Artikel erlaubte es, jeden Angestellten staatlicher Institutionen in eine andere Position zu versetzen oder zu entlassen, wenn es zur Umsetzung des Reformprozesses für notwendig erachtet wurde. Eingeführt zur rechtlichen Neuregelung der Arbeitsbeziehungen im öffentlichen Sektor, verband sich mit diesem Artikel auch das Bestreben, Angehörige der ehemaligen Kommunistischen Partei aus der Verwaltung zu entfernen (Imholz 2004: 37; Biberaj 1998: 152). In der Folge unterlagen das Innenministerium und die Polizei einem umfassenden Personalwechsel (IPLS 2000: 21). Nach Schätzungen wurden zwischen 1992-1993 etwa 80 Prozent der Polizeibediensteten versetzt oder entlassen (Taçi/Shkëmbi 2001: 51). In die freien Positionen gelangten die Anhänger der PD, deren Parteibüros das Personal zum Teil direkt rekrutierten und dabei die ehemaligen politischen Gefangenen bevorzugten.35 Dieser Schritt wurde auch rechtlich abgesichert und formalisiert. Alle Personen, die früher ein Hochschulstudium aufgrund politischer Motive unterbrochen hatten oder die den Status der politisch Verfolgten genossen, bekamen das Recht auf eine Ernennung zum Polizeioffizier.36 Diese Parteipatronage war zwar zum Teil den besonderen Umständen des Regimewechsels und der Politik der Lustration geschuldet. Sie blieb jedoch auch in der Folge gängige Praxis. Das zeigten die Entwicklungen nach den Parlamentswahlen von 1997 und dem Wahlsieg der Opposition. Mit der Konstituierung einer neuen Regierung unter Führung der PS wurde die Polizei abermals einer massiven personellen Erneuerung unterzogen, indem ein Großteil der seit 1992 rekrutierten Polizisten wieder entlassen oder versetzt und viele der damals aus dem Dienst entfernten erneut eingestellt wurden.37 Etwa 73 Prozent des Ge-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 35 36
37
IPLS (2000: 21f); Council of Europe (1996: 10); Interview: A4, A6, A7. Ligj Nr. 7880, datë 1.12.1994, „Për një shtesë në ligjin Nr. 7504, datë 30.7.1991, Për Policinë e Rendit“ [Gesetz Nr. 7880 vom 1.12.1994, Über eine Ergänzung des Gesetzes Nr. 7504 vom 30.7.1991 über die Ordnungspolizei]. IPLS (2000: 22); Interview: A4, A7.
146
Der Staat in Albanien und Georgien
samtpersonals wurden von 1997 bis 1999 versetzt oder des Amtes enthoben (Taçi/Shkëmbi 2001: 51). Nach den Machtwechseln 1992 und 1997 sind damit jeweils etwa zwei Drittel des Gesamtpersonals verschoben worden. Bei den Praktiken der Patronage hatte der Innenminister, der für die politische Steuerung und zivile Kontrolle des Apparates zuständig war, eine entscheidende Bedeutung. Jedem Innenminister fiel die Rolle eines obersten Patron zu, auf den sich eine Vielzahl von Interessen richtete. Im sozialen Umfeld des Ministers, zusammengesetzt aus Parteimitgliedern, Abgeordneten des Parlaments, Verwandten und Freunden aus seiner Herkunftsregion, wurden Erwartungen auf Partizipation, Distribution, ökonomische Chancen und Privilegien generiert.38 Das Problem der Akkommodation drängte zur Neuverteilung öffentlicher Ämter. Der Minister war dabei vor allem bestrebt, die oberen Ränge der Polizei neu zu besetzen. Je nach dem, wie groß der Bedarf war und um welche Positionen es ging, richtete sich seine Aufmerksamkeit aber auch auf die Stäbe in den mittleren und gegebenenfalls unteren Polizeirängen. Einschätzungen der Personalabteilung und fachliche Qualifikationen spielten dabei ebenso wenig eine Rolle wie das Vorschlags-, Ernennungs- und Entlassungsrecht des Generaldirektors bzw. der Distriktpolizeichefs.39 Die Position des Ministers als Patron war jedoch nicht beständig, denn die Konkurrenz der Parteien und verschiedenen Klienteln im politischen Feld machte laufende Regierungsumbildungen nötig. Neubesetzungen an der Spitze des Innenministeriums fanden daher nicht nur nach Parlamentswahlen und Machtwechseln wie 1992 und 1997 statt, sondern erfolgten auch mehrmals im Verlauf einer Legislaturperiode. Jeder Wechsel der ministeriellen Führung zog jedoch automatisch auch Veränderungen in den oberen Polizeirängen nach sich, die wiederum mit weiteren Verschiebungen auf den tiefer gelegenen Ebenen einhergingen. Denn die Klienten des Ministers wurden in vertikal integrierten Ketten, der Hierarchie der Ämter folgend, selbst zu Patronen und rekrutierten eigene Gefolgsleute in ein klientelistisches Abhängigkeitsverhältnis. Die sich hieraus ergebenden Bewegungen erfassten schließlich den gesamten Apparat. Verdeutlichen mag dies ein Blick auf die Amtszeiten unterschiedlicher Innenminister, Generaldirektoren der Polizei und Distriktpolizeichefs über den Zeitraum von etwa zwei Legislaturperioden seit 1997. Den instabilen politischen Machtbalancen war es zu verdanken, dass von 1997 bis 2005 acht unterschiedliche Personen das Amt des Innenministers bekleidet hatten.
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 38 39
Interview: A2, A6. Interview: A1, A3, A4, A6, A8, A19, A35, A38, A44.
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
147
Tabelle 5: Innenminister Albaniens seit 1997 Neritan Ceka
Juli 1997
-
April 1998
Perikli Teta
April 1998
-
September 1998
Petro Koçi
Oktober 1998
-
Juni 1999
Spartak Poçi
Juli 1999
-
November 2000
Ilir Gjoni
November 2000 -
Februar 2002
Stefan Cipa
Februar 2002
-
Juli 2002
Luan Rama
Juli 2002
-
Oktober 2003
Igli Toska
Dezember 2003
-
September 2005
Mit der Ernennung eines jeden neuen Innenministers griff die reziproke Logik des Klientelismus von neuem. Jeder Minister versuchte die Schlüsselposition des Generaldirektors und die damit verbundene Personalkompetenz zu kontrollieren. Dabei war der Minister bestrebt, einen Generaldirektor einzustellen, dessen persönlicher Loyalität und Abhängigkeit er sich sicher sein konnte.40 Daher folgte auf den Wechsel des Ministers über kurz oder lang auch der des Generaldirektors. Tabelle 6: Generaldirektoren der albanischen Polizei seit 1997 ȱ
Sokol Bare
Juli 1997
-
Mai 1998
Besnik Bregu
Mai 1998
-
September 1998
Hasan Hameti
September 1998 -
Dezember 1998
Veton Gjoliku
Dezember 1998
-
Januar 1999
Veli Myftari
Juni 1999
-
Oktober 2000
Bilbil Mema
November 2000 -
August 2002
Bajram Ibraj
September 2002 -
März 2007ȱ
Jeder Generaldirektor rekrutierte wiederum neue Polizeistäbe, entweder auf Wunsch des Ministers oder weil er selbst in die Rolle eines Patrons hineinwuchs.
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 40
Interview: A3, A6, A35, A38.
148
Der Staat in Albanien und Georgien
Daher folgten Neubesetzungen des Generaldirektors stets auch Verschiebungen auf der nächsten nachgelagerten Ebene der Distriktpolizeichefs. Tabelle 7: Distriktpolizeidirektoren von Tirana seit 1997 ȱ
Pashk Tusha
März 1997
-
Januar 1998
Fadil Canaj
Januar 1998
-
Juli 1998
Ilir Bellovoda
Juli 1998
-
Januar 1999
Mit‘hat Havari
Januar 1999
-
Januar 2000
Bilbil Mema
April 2000
-
November 2000
Ilirjan Zylyftari
November 2000 -
Mai 2003
Pjerin Ndreu
Mai 2003
-
Januar 2004
Albert Dervishi
Januar 2004
-
Juni 2006
Die politische Dynamik, wie sie im schnellen Wechsel der Innenminister zum Ausdruck kam, erfasste mit Verzögerung immer auch den Generaldirektor und alsdann die Distriktpolizeichefs. Die Tabellen 5 bis 7 verdeutlichen diese Wellenbewegung, die sich unschwer weiter die Hierarchie abwärts verfolgen ließe. Genauso ist die durchschnittlich anderthalbjährige Amtszeit des Generaldirektors und die einjährige des Distriktpolizeichefs von Tirana als durchaus repräsentativ für den gesamten Polizeiapparat anzusehen.41 Die fortlaufenden Verschiebungen in den polizeilichen Stellen lassen sich dabei nicht auf das Handeln des Ministers reduzieren, denn die Ämterpatronage war allgemeine Praxis. Auch in den Netzwerken des Polizeipersonals, zusammengesetzt aus Freunden, ehemaligen Kollegen oder Verwandten wurde soziales Kapital akkumuliert. Mit jeder Veränderung in den Leitungspositionen begann daher die große Rotation im Apparat. Positionsveränderungen an einer Stelle des bürokratischen Feldes hatten Verschiebungen an anderer Stelle zur Folge. Auf die Ernennung eines neuen Direktors oder Leiters folgte die Unterbringung des alten in irgendeiner anderen Abteilung, dessen vorheriger Leiter dann wiederum anderswohin versetzt oder entlassen werden musste. Jede neu besetzte Führungsposition erfasste wiederum das ihr zugeordnete Büro. In der Regel galt, dass ein neu eingesetzter Direktor oder Abteilungsleiter seinen eigenen Verwaltungsstab mitbrachte, sei es vorsorglich, weil man dem alten nicht vertrauen konnte oder sei es, weil die allgemeine Er-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 41
Für den Zeitraum von 1992 bis 1997 lässt sich eine vergleichbare Bewegung im Personal feststellen. Vgl. die Zahlen bei IPLS (2000: 22f).
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
149
wartung auf Reziprozität eine Akkommodation des eigenen Bekanntenkreises erforderte.42 Das Ergebnis war eine ausgesprochen geringe Personalkontinuität. Neben der allseits betriebenen Patronage waren Versetzungen und Entlassungen aber immer auch ein gezielt eingesetztes Mittel, der Bestrafung. Das Fehlschlagen einer Polizeiaktion wurde nicht selten als persönliches Versagen gedeutet und führte dann zur Versetzung oder Entlassung des Verantwortlichen oder seines ganzen Stabes. Versetzungen dienten aber auch dazu Polizeibeamte kalt zu stellen oder ihren Gehorsam zu erzwingen. Das zu harte Vorgehen gegen die „falschen“ Kriminellen oder der Fehler, kritische Graffiti gegen den Ministerpräsidenten nicht verhindert zu haben, reichten für eine Abschiebung aus, günstigstenfalls an die Polizeiakademie oder aber schlimmer, in den unzugänglichen und unterentwickelten Norden Albaniens.43 Nicht nur aufgrund des ausgeprägten Stadt-Land-Gegensatzes wurde die Versetzung vor allem von der Hauptstadt Tirana in die Provinz als Strafe empfunden. Weil die Beamten dort keine Familie hatten und sich aufgrund des beschränkten Gehalts keine zweite Wohnung leisten konnten, mussten sie entweder die angebotene Position ablehnen, was ihre Versetzung in eine niedere Position rechtfertigte, oder „aus familiären Gründen“ kündigen. Aufgrund der andauernden Unsicherheit über die Position im bürokratischen Feld machte der Familiennachzug an den Arbeitsort für das Polizeipersonal der mittleren und höheren Ränge keinen Sinn. Den häufigen Versetzungen war es daher u.a. geschuldet, dass der überwiegende Teil der landesweit eingesetzten Distriktpolizeidirektoren und Kommissariatschefs mit ihren Familien in Tirana wohnten, obwohl sie damit zumeist mehrstündige Fahrten zwischen Arbeitsplatz und Wohnort oder nur Wochenendheimfahrten in Kauf nahmen.44 Die zahlreichen Entlassungen und Rotationen wurden offiziell als Kampf gegen die Korruption oder als Beitrag zur Reform der Polizeiarbeit dargestellt. Es war jedoch überwiegend der Klientelismus der politischen Klasse und der Polizeidirektoren, der die ausgesprochen geringe Kontinuität des Personals bedingte. Der Effekt war der schrumpfende Zeithorizont aller Akteure (IPLS 2000: 29). Alle Beamten mindestens der höheren Ränge erwarteten spätestens nach der nächsten Parlamentswahl und der Konstituierung einer neuen Regierung ihre Ab-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 42
43 44
Interview: A4, A6, A7, A15, A16, A22, A24, A26, A29. Das Phänomen ist so offensichtlich, dass selbst die offiziellen Verlautbarungen des Ministeriums Nepotismus und Regionalismus bei der Auswahl des Polizeipersonals eingestehen (Republic of Albania 2001: 36). Interview: A3, A5, A6, A25, A32, A51 - A53, A58. Interview: A6, A51, A53.
150
Der Staat in Albanien und Georgien
lösung.45 Die immer prekäre Position im Feld steigerte zugleich nur das Bestreben sich auf persönliche Beziehungen zu verlassen und damit die Wahrscheinlichkeit klientelistischer Abhängigkeiten.
1.2.3
Das Problem der Ausbildung
Die Praktiken der Patronage blieben nicht ohne Folgen für die fachliche Qualifikation der Polizei. Denn der überragenden Bedeutung des sozialen Kapitals für das Fortkommen im bürokratischen Feld entsprach der geringe Wert des kulturellen Kapitals. Das galt ebenso für das organisationsspezifische, betriebliche Dienstwissen wie das technische, durch Schulung erworbene Fachwissen. Ein Blick auf die Entwicklung der Ausbildung verdeutlicht das. In Bezug auf die hohe Personalfluktuation in der Polizei Anfang der 1990er Jahre schätzte der Europarat, dass von 1992 bis 1996 etwa 80 Prozent des Personals neu rekrutiert wurde (Council of Europe 1996: 16). Gemessen an der damaligen Personalstärke der Polizei kamen damit über 13.000 neue Rekruten in die Polizei (ebd.). Zu diesem Zeitpunkt war die Polizeiakademie, die für die Ausbildung und weitere Qualifizierung des Personals zuständig ist, in der Lage, etwa 100 Polizeibeamte der unteren Ränge pro Jahr auszubilden. Aus dem für Offiziere vorgesehenen dreijährigen Ausbildungsgang gingen erst 1996 die ersten 80 Graduierten hervor (ebd. 18). Setzt man das Ausmaß der personellen Erneuerung in Beziehung zu den damaligen Ausbildungskapazitäten der Polizei, so wird die verringerte Bedeutung des kulturellen Kapitals ersichtlich. Die überwältigende Mehrheit der Polizisten aller Ränge durchlief statt der Akademie nur kurze oder gar keine Ausbildungskurse. Das betraf vor allem die Fraktion der ehemaligen politischen Gefangenen, die die Patronage der PD genoss und die über nur begrenzte oder keine schulische Ausbildung verfügte (ebd. 10; IPLS 2000: 21).46 Zwei Monate nach ihrem Wahlsieg hatte die PD im Mai 1992 einen Zusatz zum Polizeigesetz verabschiedet, der die Rekrutierung der politisch Verfolgten in Bezug auf Altersbeschränkungen und schulische Voraussetzungen erleichterte (Shkëmbi 2004: 230). Ergänzend hierzu setzten weitere Gesetzesänderungen die mehrjährige Arbeitserfahrung als Voraussetzung für polizeiliche Führungspositi-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 45
46
Die Polizei drohte dann regelmäßig in Apathie zu verfallen und bedurfte Appelle zur Fortführung ihrer Arbeit, weil alle entweder mit ihrer baldigen Versetzung rechneten oder in Erwartung neuer Chefs nichts falsch machen wollten, um keinen Vorwand für die Entlassung zu liefern. CSEES: SEE Security Monitor: Albania 29.7.2005 „Albanian police chief orders measures against ‚politicization‘“. Die Ausbildungsverweigerung gehörte zur politischen Repression im albanischen Sozialismus.
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
151
onen außer Kraft (ebd. 231). Diese formalisierte Patronage entwertete zugleich das kulturelle Kapital derjenigen Beamten, die bis dato eine Polizeikarriere verfolgt hatten. Sie wurden entweder in niedere Positionen abgeschoben oder mussten den Dienst quittieren. Zwar war seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre der Abschluss der Polizeiakademie obligatorisch für alle, die in den Dienst eintreten wollten. Dabei wurden die Beamten der unteren Ränge im Rahmen einer einjährigen Grundschulung ausgebildet, die einen mittleren Schulabschluss voraussetzte. Die Ausbildung der mittleren Ränge, beginnend mit dem Rang des Unterinspektors, betrug wiederum drei Jahre und hatte einen höheren Schulabschluss als Voraussetzung. Spezialisierungen im Verlauf des Dienstes ermöglichten den weiteren Aufstieg (Akademia e Policisë 2002: 23ff). Die nicht-meritokratische Rekrutierung hatte sich jedoch als Praxis fortgesetzt. Das belegten die so genannten Zusatzlisten. Auf die jedes Jahr frei werdenden 40-50 Ausbildungsplätze in der Akademie kamen zuletzt 1.500 Bewerber, die sich einem regulären Aufnahmeverfahren stellen mussten. Mit Hilfe von Zusatzlisten wurden jedoch pro Jahr ein bis zwei Dutzend Bewerber über der festgelegten Quote von freien Ausbildungsplätzen und außerhalb der Auswahltests angenommen. Einem legalen Verfahren zufolge entschied der Minister über die Vergabe dieser zusätzlichen Plätze, die an die Kinder verdienter oder im Dienst verletzter bzw. umgekommener Polizisten gehen sollten. Faktisch war dies jedoch das Einfallstor für die Mitglieder der politischen Klasse, die eigenen Töchter und Söhne unterzubringen, wie Studenten und Dozenten an der Akademie wissen.47 Von 1993 bis 2000 war auf der Grundlage solcher Zusatzlisten durchschnittlich fast ein Drittel der pro Jahr aufgenommenen Studenten in die Akademie gelangt, ohne sich dabei irgendwelchen Auswahlverfahren zu unterwerfen (Kosta/Skraqi 2001: 31). Aber auch die Fälschung von Zeugnissen oder die Bestechung der Lehrer stellten eine Möglichkeit dar, um in die Akademie zu gelangen oder sie erfolgreich abzuschließen. Die geringe Bedeutung des kulturellen Kapitals für den Beginn einer Polizeikarriere lässt sich an dem im Jahr 2001 erreichten Ausbildungsniveau ablesen. Die Beamten der unteren Ränge stellten etwa 80 Prozent des Gesamtpersonals (Taçi/Shkëmbi 2001: 42). Von ihnen hatten zu diesem Zeitpunkt nur 6,3 Prozent einen Abschluss von einer Polizeischule. Vom Rest hatten nur knapp 20 Prozent Kurse zur Erlangung polizeilicher Fachkenntnisse durchlaufen (Republic of Albania 2001: 31). Von den Offizieren hatte nur ungefähr die Hälfte eine höhere Polizeiausbildung erlangt. Von dem Rest der Offiziere hatten wiederum nur 40 Prozent polizeiliche Qualifizierungskurse absolviert (ebd.). Die ständigen Neure-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 47
Interview: A10 - A13, A45 sowie A3, A6, A60.
152
Der Staat in Albanien und Georgien
krutierungen schlugen sich auch in der Arbeitserfahrung des Personals nieder. Mehr als ein Drittel des Personals hatte eine Arbeitserfahrung von nicht mehr als fünf und fast zwei Drittel von nicht mehr als zehn Jahren (vgl. Taçi/Shkëmbi 2001: 48). Sowenig das kulturelle Kapital für den Eintritt in den Polizeidienst entscheidend war, sowenig war es auch für die weitere Karriere im Apparat von Bedeutung. Obschon kontinuierliche Laufbahnen und Spezialisierungen in den verschiedenen Segmenten wie der Kriminal- oder Verkehrspolizei angestrebt wurden, dominierte die Mobilität aller Akteure und zwar sowohl von unten nach oben und umgekehrt als auch über verschiedene Segmente hinweg. Beförderungsdisparitäten sowie Abweichungen zwischen den Graden und tatsächlich bekleideten Funktionen waren die Folge (Republic of Albania 2001: 32). Das diesbezügliche Auf und Ab produzierte zunächst beim Verschleiß der Generaldirektoren ein Dilemma, da diese, nachdem sie zuvor aus der obersten polizeilichen Führungsposition geschasst worden waren, mitunter in operative Abteilungen zurückkehren mussten oder auf Beraterposten im Ministerium schmorten. Auf den mittleren Ebenen des Apparates waren die Laufbahnen des Personals von ähnlichen Dynamiken gekennzeichnet. Langjährige Karrierepolizisten mussten wesentlich jüngere und fachlich schlechter qualifizierte Vorgesetzte ertragen, die ihre Position einzig ihren Beziehungen verdankten. Versetzungen von der obersten Leitung der Grenzpolizei zum Kommandanten der Hundestaffel, vom Chef des regionalen Anti-Schmuggelbüros zum Objektschutz oder von der obersten Leitung der Kriminalpolizei zur Planungsabteilung in der Polizeiakademie waren keine Ausnahme.48 Aus den laufenden Verschiebungen ergaben sich auch Disparitäten zwischen den Graden und dem Alter ihrer Träger. Obwohl der Aufstieg von einem Grad zum nächsten mehrere Jahre dauerte, hatte mehr als ein Drittel der Mitarbeiter mit hohen Polizeigraden nur eine Arbeitserfahrung von null bis zehn Jahren (Taçi/Shkëmbi 2001: 49). Die Umstellung der militärischen auf zivile Grade rief nicht zuletzt deshalb Widerstand insbesondere in den höheren Polizeirängen hervor, weil mit ihr die Aberkennung der unverdienten Ränge und Privilegien drohte (IPLS 2000: 30f). „Bei Personalentscheidungen spielt die fachliche Ausbildung keine Rolle“, so das Resümee eines ehemaligen Mitarbeiters der Personalabteilung im Innenministerium.49 Ein Anruf entschied über Karrieren und Biographien.
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 48 49
Interview: A6, A21, A25, A27, A35, A37, A51, A62. Interview: A6.
Herrschaft und Verwaltung in Albanien 1.2.4
153
Die Schmuggelökonomie
Neben der immer unsicheren Laufbahn und damit der Position im Feld war auch die ökonomische Situation des Personals stets prekär. Obschon die Gehälter der Polizei pünktlich und vollständig ausgezahlt wurden, galten sie allgemein als zu niedrig, um eine Familie zu versorgen. Nach mehreren Gehaltserhöhungen seit Beginn der 1990er Jahre lag das Monatsgehalt eines einfachen Polizeibeamten 2004 schließlich bei etwa umgerechnet 200 Euro, das eines Inspektors im mittleren Dienst bei etwa 314 Euro, das eines Kommissariatschefs bei 540 Euro.50 Im Jahr 2001 lag das durchschnittliche Gehalt eines Polizeibediensteten jedoch noch bei etwa 70 Euro und im Jahr davor noch bei etwa 58 Euro (Republic of Albania 2001: 32; EIU 2000b: 14). Hinzu kam die in der Regel desaströse Versorgung mit Verwaltungsmitteln aller Art. Der notgedrungene Rückgriff auf private Mittel wie eigene Autos und Mobiltelefone für den Dienst war daher verbreitet. Dieser Behelf funktionierte indes auch andersrum, nämlich in der privaten Nutzung dienstlicher Mittel. Die Distriktpolizeidirektoren und die Chefs der Kommissariate benutzten die Autos ihrer Stationen rund um die Uhr einschließlich für private Unternehmungen wie Heimfahrten und Familienausflüge.51 Diese Verquickung zwischen dienstlichen und privaten Sphären begünstigte wiederum all solche Praktiken, die gemeinhin unter dem wenig aussagekräftigen Schlagwort der „Korruption“ subsumiert werden. Die niedrigen Gehälter, schwierige Arbeitsbedingungen, die immer prekäre Stellung und allgemeine Unsicherheit über die Verweildauer im Amt bestärkten die Neigung aller Akteure, auf ihren Positionen zusätzliches ökonomisches Kapital zu akkumulieren. Die daraus resultierenden Praktiken reichten von dem Verhängen „verbilligter“ nicht-registrierter Bußgelder bei Verkehrsdelikten oder der Beschleunigung von Passverfahren über das saisonale Abkassieren bei den in den Sommermonaten anreisenden Auslands- oder Kosovoalbanern, die mit ausländischen Autokennzeichen eine leicht erkennbare Beute darstellten, bis zu verlustreichen öffentlichen Ausschreibungen im Generaldirektorat der Polizei.52 Es war jedoch vor allem die Tolerierung oder direkte Einbindung in den profitablen Schmuggel, bei der sich die Polizei mit irregulären Sphären verzahnte. Das betraf alle diejenigen polizeilichen Bereiche, die mit der Überwachung
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 50 51 52
Niveli i pagës bazë për gradë, sipas roleve për punonjësit e Policisë së Shtetit [Höhe des Grundgehaltes nach Rang und Aufgabe für die Mitarbeiter der Staatspolizei], Tirana 2004. Interview: A16, A32, A51, A59, A61, A64. U.a für die Beschaffung von Benzin, Uniformen, Medikamenten, Pässen und die Renovierung von Polizeikommissariaten. ADN 2.11.2002, Press Review: Zeri i Popullit: „Five Tenders of Scandals“.
154
Der Staat in Albanien und Georgien
der Ein- und Ausreise sowie Bewegung innerhalb Albaniens befasst waren. Die Direktoren, Kontrolleure und Hilfskontrolleure in allen Transitstellen und Distrikten mit Grenzübergängen verfügten über die größten Chancen zur Akkumulation ökonomischen Kapitals. Die Konkurrenz um die entsprechenden Positionen in der Grenz- und Verkehrspolizei, in den Kommissariaten der Häfen und des Flughafens oder in den für Passangelegenheiten zuständigen Abteilungen war daher besonders ausgeprägt.53 Nicht zufällig fanden die laufenden personellen Veränderungen im Apparat vor allem dort statt. Weil sich hier ökonomische Machtchancen verdichteten, war hier auch die Tendenz zur hierarchischen Integration distributiver bis in Staatsspitze reichender Ketten und zur direkten Käuflichkeit polizeilicher Ämter am stärksten.54 Die fortwährende Rotation verhinderte indes die Etablierung dauerhafter distributiver Netzwerke und eine stabile Verteilung sozialen und ökonomischen Kapitals. Die Polizei profitierte bei ihrer Arbeit in erster Linie von den Aktivitäten des vor Ort gut entwickelten organisierten Verbrechens, das auf die Bestechlichkeit wenigstens eines Teils der Polizei angewiesen war, um leben zu können. Das galt vor allem in Bezug auf den Schmuggel von Drogen und Menschen. Die entsprechenden illegalen Praktiken der Gesetzeshüter umfassten ein breites Spektrum. Polizisten akzeptierten gefälschte Papiere oder fälschten sie selbst, organisierten Transporte, gaben konfiszierte Schmuggelware gegen Bezahlung wieder frei oder reichten Informationen über Ermittlungen und geplante Razzien an die Betroffenen weiter. Albanien war ein wichtiges Transitland für Heroin und bedeutender Produzent von Marihuana (United States Department of State 2005: 367; UNODC 2004: 126), das von hier aus weiter nach Westeuropa und in die anderen Balkanländer geschmuggelt wurde. Trotz des internationalen Drucks und der massiven Unterstützung der Polizei seitens internationaler Organisationen stellten die in Albanien konfiszierten Drogen immer nur einen Bruchteil der Menge dar, die tatsächlich durch das Land floss (United States Department of State 2005: 368). An der Differenz zwischen den konfiszierten Drogenmengen der italienischen und albanischen Polizei lässt sich das veranschaulichen.
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 53
54
Interview: A1, A6, A19, A21, A35, A37, A60. Dort häufen sich auch die Korruptionsskandale. Vgl. exemplarisch zum Flughafen ADN 22.4.2003 „Rinas Police Chief Arrested“; ADN 6.7.2004 „Staff Purge in Airport’s Police Commissariat“; RFE/RL Newsline Southeastern Europe 11.10.2005, „Big Forgery Racket Uncovered at Albanian Airport“. Vgl. außerdem exemplarisch zum Hafen in Durres: ADN 9.3.2002 „Senior Local Officials Caught Under ‚Delon‘ Case in Durres“; ADN 31.7.2003 „Chief Police of Central City Dismisses 18 Subordinates“; ADN 19.8.2004 „Four Police Expelled for Bribery, Ministry Warns Wave of Dismissals“. Diese Käuflichkeit hat es allerdings nur in eingeschränktem Umfang und für einen begrenzten Zeitraum gegeben. Vgl. World Bank (1998: 4) und Interview: A1 - A3, A5, A6, A35, A56, A60.
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
155
Tabelle 8: Konfisziertes Heroin der albanischen und italienischen Polizei in kg55 1999
2000
2001
2002
2003
2004
Gesamt
225,4
378,4
529,7
700,7
1.110,0
1.085,0
4.029,2
Albanien: 7,1
47,0
4,5
71,7
114,5
240,6
485,4
Italien:
Die Tabelle 8 zeigt die Menge Heroin an, die von 1999 bis 2004 pro Jahr in Italien beschlagnahmt und Albanien als Transit- oder Herkunftsland zugeordnet wurde sowie das in Albanien selbst konfiszierte Heroin. In diesem Zeitraum hatte die italienische Seite insgesamt über 4 Tonnen und die albanische etwa 485 kg Heroin beschlagnahmt. Die albanische Polizei ist damit nur gut 10 Prozent der Menge habhaft geworden, die ihre italienischen Kollegen konfisziert hatte. Etwas anders sah die Bilanz in Bezug auf konfisziertes Marihuana aus. Tabelle 9: Konfisziertes Marihuana der albanischen und italienischen Polizei in kg56 ȱ
1999
2000
2001
21.337
26.071
Albanien: 4.395
6.604
Italien:
2002
2003
2004
Gesamt
12.768
5.847
8.256
801
75.080
6.915
13.717
7.760
4.882
44.273
Die Tabelle 9 zeigt für den Zeitraum von 1999 bis 2004 die Menge an Marihuana an, die jährlich in Italien beschlagnahmt und Albanien als Transit- oder Her-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 55
56
Die Daten dieser Tabelle wurden aus verschiedenen Quellen zusammengetragen, die weitestgehend übereinstimmende Zahlenangaben machen, aber unterschiedliche Zeiträume abdecken: UNODC (2004: 282); Policia e Shtetit (2004c); AIIS (2004: 39); Jahresberichte der italienischen Polizei (im Internet unter <www.poliziadistato.it/pds/online/antidroga/antidroga.htm>). Die Grammangaben sind gerundet. UNODC (2004: 309); Policia e Shtetit (2004d); AIIS (2004: 39); Jahresberichte der italienischen Polizei (im Internet unter <www.poliziadistato.it/pds/online/antidroga/antidroga.htm>); Die Mengenangaben auf italienischer Seite für 1999-2000 beziehen sich auf das insgesamt in Italien konfiszierte und nicht ausschließlich aus Albanien stammende Marihuana. Da aber in diesen Jahren nach Angaben der italienischen Behörden 95 bis 99 Prozent des beschlagnahmten Marihuanas aus Albanien kamen, dürften die Gesamtangaben für diese zwei Jahre im Wesentlichen der Menge entsprechen, die nur von Albanien aus nach Italien gelangt ist.
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Der Staat in Albanien und Georgien
kunftsland zugeordnet wurde sowie das dort selbst konfiszierte Marihuana. Italien hatte etwa 75 Tonnen, Albanien etwa 44 Tonnen beschlagnahmt. Hier hatte die albanische Polizei über einen Zeitraum von fünf Jahren etwa 60 Prozent von dem beschlagnahmt, was die Polizei in Italien konfisziert hatte. Eine weitere, schier unerschöpfliche Quelle der Bereicherung war der profitable Menschenschmuggel. Zwischen 1990 und 1999 waren etwa eine halbe Millionen Albaner ins Ausland emigriert, vorwiegend nach Griechenland und Italien (Gjonça 2002: 31-34). Der Anteil illegaler albanischer Emigranten betrug dabei nach Schätzungen zwischen 70 und 80 Prozent (ebd. 34; Doka 2003: 53). Darüber hinaus war Albanien seit 1997 auch Transitland für Menschen anderer Nationalitäten, die von hier aus weiter in die Europäische Union geschleust wurden.57 Nach Schätzungen italienischer Behörden sind von 1991 bis 2002 zwischen 500.000 und einer Millionen Menschen über den Seeweg nach Italien geschmuggelt worden (Hajdinjak 2002: 50; vgl. Miletitch 1998: 4-21). Dabei stellte vor allem der Handel mit Frauen, jungen Mädchen und Kindern zum Zweck sexueller Ausbeutung und sonstiger Zwangsarbeit ein lukratives Geschäft dar.58 Albanische Händler rekrutierten ihre „Ware“ vor Ort oder kauften sie von anderen Netzwerken und schmuggelten sie weiter, wobei der mehrmalige Weiterverkauf während der Reise den Preis der Ware steigen ließ, je näher die Grenzen der Schengen-Staaten rückten (Save the Children 2001: 15; IOM/ICMC 2001: 5). Die Verschiffung von den albanischen Hafenstädten über die Adria nach Italien entwickelte sich ab Mitte der 1990er Jahre bis 2002 mit mehreren regelmäßigen Überfahrten pro Nacht zu einem etablierten Grenzverkehr.59 Auch in diesen Handel war die Polizei direkt oder indirekt involviert.60 Dank massiver Razzien war es gelungen, den offenen Verkehr über die Adria ab 2002 weitgehend zu unterbinden. Als vorläufig letzte Maßnahme gegen den Menschen- und Drogenhandel beschloss das Parlament im April 2006 für drei Jahre die albanischen Gewässer für Privatschiffe vollständig zu sperren.61 Der Menschenschmuggel hatte sich damit allerdings nur verlagert. Er erfolgte fortan durch offizielle Transitstellen, die mit gut gefälschten und leicht zu kaufenden Papieren passiert wurden.62 Nicht zuletzt profitierte die Polizei auch vom lokalen Automarkt. Etwa 50 bis 80 Prozent aller im Land gehandelten Autos galten als geschmuggelt oder im
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Seit 2004 ist die Bedeutung Albaniens als Transitland wieder zurückgegangen. IOM (2001, 2004: 16-33, 2005: 51-112); CRCA (2003); Van Hook (2006). Miletitch (1998: 13-16); Save the Children (2001: 14); IOM (2004: 16, 31). 2001 gaben von 125 befragten Opfern von Schleuserbanden etwa 10 Prozent an, dass die Polizei direkt am Schmuggel beteiligt war (IOM/ICMC 2001: 5-10). BIRN Balkan Insight No. 30, 12.4.2006 „Albania Bans Speedboats To Curb Trafficking“. CRCA (2003: 6f); IOM (2004: 29); AIIS (2004: 38).
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
157
Ausland gestohlen und wurden über nicht lizenzierte Händler auf Gebrauchtwagenmärkten vertrieben.63 Auf solchen Märkten deckte sich nicht nur das Regierungspersonal einschließlich des Innenministers ein.64 Auch die Polizei fuhr privat mit geschmuggelten Autos und organisierte für andere Personen die Registrierung mit gefälschten Papieren, wofür sie Bestechungsgelder kassierte.65 Die Praktiken der illegalen Aneignung waren kein auf die unteren Polizeiränge begrenztes Phänomen, sondern betrafen auch höherrangige Polizeibeamte wie Kommissariats- und Distriktpolizeichefs.66 Sofern das Polizeipersonal nicht direkt selbst den Schmuggel abwickelte, war sie in ihn über Intermediäre eingebettet, die zwischen den legalen und kriminellen Sphären vermittelten. Zu ihnen zählten typischerweise die Leibwächter und Fahrer der höheren Polizeidirektoren, auch Sekser (Vermittler) genannt (Gjoni 2002: 37f). Sie waren Prestige- und Statussymbol des Chefs, verfügten jedoch als seine rechte Hand auch über eigene personale Macht, die es ihnen erlaubte im Namen des Direktors zu sprechen und Dinge für ihn zu entscheiden, vor allem Personalangelegenheiten (ebd.). Darüber hinaus wickelten die Sekser bevorzugt illegale Transaktionen ab, weil ihre mit offiziellen Polizeikennzeichen versehenen Autos nicht angehalten wurden und auch in abgesperrte Hafen- und Grenzanlagen gelangten. Sie waren in Prostitutionsgeschäfte und Dokumentenfälschung verwickelt, agierten als Dro-
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Miletitch (1998: 164f); Tabaku (2005: 127f). RFE/RL Newsline Southeastern Europe 14.1.1999 „Prosecutor Says Albania Flooded With Stolen Cars“; ADN 2.5.2001 „Investigation into Car Theft System“; RFE/RL Organized Crime and Terrorism Watch Reports, Vol. 2, No. 11, 21.03.2002, „‚Stolen‘ Car Scam Revived in Albania“; ADN 21.8.2002 „Car Dealers in Albania Threatened by Smuggling“, ADN 8.4.2004 „Car’s Legal Distributors Demand Measures Against Informal Market“. Miletitch (1998: 165); RFE/RL Newsline Southeastern Europe 26.1.1998 „Albanian Government Uses Stolen Cars“. Die Dienstlimousine des Innenministers wurde 1999 bei einem offiziellen Besuch in Griechenland von der dortigen Grenzpolizei als gestohlen identifiziert und beschlagnahmt. RFE/RL Balkan Report, Vol. 4, No. 61, 15.8.2000 „Albanian Investigators Arrest Kukes Police Chief“; ADN 31.7.2003 „Chief Police of Central City Dismisses 18 Subordinates“, Korrieri 22.4.2004, „106 policë me makina kontrabandë [106 Polizisten mit geschmuggelten Autos], S. 4; Gazeta Sot (o.D.) „The Police, Accomplice in Car Trafficking“; Gazeta Sot (o.D.) „Policemen move with cars without licence plates“. Interview: A6. Vgl. RFE/RL Newsline Southeastern Europe 7.1.1998 „Albanian Police Chiefs Accused Of Smuggling“; RFE/RL Newsline Southeastern Europe 25.6.1998 „Albanian Interior Minister Vows To Sack Corrupt Police Chiefs“; RFE/RL Balkan Report Vol. 4, No. 60, 11.8.2000, „Albanian Anti-Corruption Unit Charges 23 Police Employees“; RFE/RL Balkan Report Vol. 5, No. 15, 23.2.2001 „Albanian Court Issues Arrest Warrant For Former Chief Investigator“; ADN 19.12.2002: Press Review: Zeri i Popullit: About 70 Police Officials Related to Organized Crime; ADN 22.6.2004 „Two Senior Police Officials Expelled from Force“.
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Der Staat in Albanien und Georgien
genkuriere und versteckten flüchtige Polizeikommissare.67 Diese machtvolle Position im Feld bot gute Chancen auf weitere soziale Mobilität. Beispielhaft war das Aufrücken einiger Leibwächter in die Position des Kommissariatschefs (Shkëmbi 2000: 61) oder die Karriere des so genannten Arben „Ben“ Hasani, der in den 1990er Jahren vom Leibwächter eines Innenministers zum Hoteleigentümer aufstieg und nach 1997 verschiedene hochrangige Polizeiposten bekleidete (Mappes-Niediek 2003: 79-81).68 In diesem Kontext war die Grenze zwischen der Welt des organisierten Verbrechens und der ihrer Verfolger durchlässig, die Fortsetzung krimineller Karrieren im Polizeidienst nicht ausgeschlossen (IPLS 2000: 22f). Die Polizei hatte Mühe sich von dem Gegenstand zu distanzieren, den sie bekämpfen sollte. Das lag auch am Einfluss der etablierten Mafia, die einerseits enorme Profite erwirtschaftete, andererseits unter dem Schutz einflussreicher politischer Akteure stand. Aufgrund dieser privilegierten Ausstattung an ökonomischem und sozialem Kapital war nicht selten sie es, die Druck auf die Polizei ausübte und nicht umgekehrt. Das „Business“ hatte häufig gute Chancen entweder den örtlichen Distriktpolizeichef zu bestechen oder gleich einen politischen Big Man, der dann auf die Ernennung eines gefälligen Distriktdirektors hinwirkte. Aufgrund dieser Konstellation liefen einzelne engagiert ermittelnde Beamte stets Gefahr, sich an die „falschen“ Fälle heranzuwagen. Je erfolgreicher die Arbeit, desto größer die Probleme, wie es ein Mitarbeiter einer Internationalen Organisation ausdrückte. Manche Abordnungen und Entlassungen waren nichts anderes als Ausdruck des Bemühens, die Arbeit der Polizei gezielt zu behindern.69 Ein Jahr wurde als Voraussetzung angesehen, um auf einer neuen Position die kriminelle Situation kennen zu lernen und Orts- und Personenkenntnisse aufzubauen. Eben so lang betrug die durchschnittliche Verweildauer auf einer Position im Polizeiapparat. Als Konsequenz der Rotationen bleiben darüber hinaus Leitungspositionen bisweilen über Monate unbesetzt, was bei der ausgeprägten hierarchischen Struktur des Apparates und der mangelnden Eigeninitiative von führungslosen Abteilungen die Polizeiarbeit praktisch zum Erliegen brachte. Eingebettet in ein dichtes Geflecht politischer und gewichtiger ökonomischer Interessen folgte die Tätigkeit der Polizei daher nicht einer autonomen
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RFE/RL Balkan Report Vol. 4, No. 60, 11.8.2000, „Albanian Anti-Corruption Unit Charges 23 Police Employees“; ADN 15.3.2001 „Police Catch Up with Fugitive Ex-colleague“; ADN 10.1.2002 „Relative of Former Chief Police of Elbasan Declared Wanted“; ADN 14.10.2004 „Ex-Police Chief Punished on Bribery Charges“; IWPR Balkan Crisis Report No. 326, 22.3.2002 „Albania: Authorities Rocked by Drugs Scandal“. Interview: A3, A6, A19, A38, A51, A52. Interview: A58 und A3, A6, A25, A51- A53, A60.
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
159
Logik, sondern war in entscheidenden Bereichen vom Einverständnishandeln mit anderen Akteuren abhängig. Dies lief mancherorts auf eine de-facto-Immunität für Kriminelle hinaus, die sowohl der Polizei als auch der lokalen Gemeinschaft bekannt waren, ohne dass dies jedoch polizeiliche Aktivitäten zur Folge hatte (Save the Children 2001: 12; IOM/ICMC 2002: 21). Das schloss nicht aus, dass die Polizei auf Bestellung und gegen ihre eigenen ökonomischen Interessen jederzeit zuschlagen konnte. Beispielhaft war die Operation „Puna“ im Sommer 2002 gegen den illegalen Schnellbootverkehr von der Hafenstadt Vlora, nachdem dort etwa sieben Jahre lang der organisierte Schmuggel weitgehend ungestört floriert hatte. Die teils ungewollte, teils gewollte Ineffektivität der Polizei, die mangelhafte Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft in Verbindung mit der Käuflichkeit von Justizurteilen und der politischen Protektion des Schmuggels war der Grund für eine außerordentlich geringe Strafverfolgung. Dem Justizministerium zufolge waren von 1998 bis 2001 nur neun Verurteilungen für Menschenschmuggel und noch weniger für den Schmuggel von Drogen ergangen (Kajsiu et al. 2002: 41). Geringe Haftstrafen waren dabei die Regel. Auch die in den Schmuggel involvierten Polizisten sind bis zuletzt weitgehend straffrei geblieben. Von 2002 bis 2003 wurden etwa sechs bis 20 Beamte zu minimalen Haftstrafen verurteilt.70 Der Tendenz nach waren erst seit 2004 wesentlich mehr Strafverfahren gegen Schmuggler und Polizeibeamte bei der Staatsanwaltschaft anhängig (Prokuroria Shqiptare 2005; European Commission 2005: 60). Erfolge in investigativer Hinsicht waren jedoch kein Garant für mehr Verurteilungen mit angemessenen Haftstrafen und damit für mehr rule of law, weil die Käuflichkeit der Justiz und ihre Nähe zu politischen Kreisen und ökonomischen Interessen eine unabhängige Strafverfolgung durchkreuzte (Bogdani/ Loughlin 2007: 52).
1.2.5
Reform und Internationalisierung
Die Eindämmung der skizzierten Praktiken und die Annäherung der Polizei an westliche Maßstäbe des Polizierens und rationaler Verwaltung waren und sind das Ziel einer ganzen Reihe von Akteuren. Dazu trug die Wahrnehmung albani-
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Es existieren hierzu keine zuverlässigen statistischen Angaben. Die Zahlen sind Schätzungen. Sie sind den jährlichen „Country Reports on Human Rights Practices“, dem „Trafficking in Persons Report“ und dem „International Narcotics Control Strategy Report“ entnommen, die alle vom US State Department herausgegeben werden und die Entwicklungen in Albanien am ausführlichsten dokumentieren. Vgl. im Internet unter: <www.state.gov>. Die Berichte weichen in ihren Angaben über Verurteilungen geringfügig voneinander ab.
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Der Staat in Albanien und Georgien
scher krimineller Gruppen als Sicherheitsrisiko für die EU und der Diskurs über die „Albanermafia“ bei.71 Nicht umsonst konzentrierten sich daher viele Bestrebungen in Albanien auf die Polizei als denjenigen Akteur, der das organisierte Verbrechen vor Ort bekämpfen sollte. Dabei durchlief die Polizei eine wachsende Internationalisierung. Das verdeutlicht die Vielzahl von internationalen Akteuren, die auf dem polizeilichen Feld aktiv waren. Allein drei Polizeimissionen waren seit 1997/98 in Albanien tätig: die Mission der Europäischen Union MAPE bzw. PAMECA, die bilaterale italienische Mission Interforza sowie die amerikanische Mission ICITAP. Daneben existierten weitere bilaterale, multilaterale und internationale Projekte der Zusammenarbeit mit der OSZE, der EU, Deutschland, Griechenland, Europol, Interpol, dem Europarat und dem FBI sowie mit UNDP, UNHCR, UNODC und UNICEF (vgl. Jäger 2002: 48-56, AIIS 2004: 26-36). Hinzu kamen Kooperationen mit Nichtregierungsorganisationen wie der deutschen Hanns-Seidel-Stiftung, der IOM, der ICMC und dem Internationalen Roten Kreuz. Ferner war die albanische Polizei in diverse regionale Kooperationsprojekte wie SECI, BSEC und den Stabilitätspakt für Südosteuropa zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens und Unterstützung der Grenzpolizei sowie in trilaterale Arrangements vornehmlich mit Italien und Griechenland eingebettet. Unterstützung durch Logistik und Trainingsprogramme erhielt die albanische Polizei weiterhin durch Großbritannien, Ägypten, die Schweiz und Dänemark. Darüber hinaus wurden albanische Beamte an Polizeischulen in der Türkei, Frankreich und Rumänien ausgebildet. Die Liste ließe sich noch verlängern. Um Projektüberschneidungen, unterschiedliche Reformstrategien, doppelte Schulungen und generell die Orientierung an unterschiedlichen Polizeimodellen zu vermeiden, hatten sich 2002 erstmals die wichtigsten internationalen Akteure in einem eigens eingerichteten internationalen Konsortium zusammengeschlossen, um überhaupt zu klären, wer in welchem Bereich tätig war und was genau machte (Jäger 2002: 55f; AIIS 2004: 30). Das Feld der Polizei durchlief eine wachsende Internationalisierung, bei welcher der albanische Staat diverse politische und administrative Aufgaben an internationale Akteure abgab. Deren Aktionsradius umfasste weite Teile des polizeilichen Feldes. Dazu zählte die Aus- und Fortbildung des Personals, strategische Planung und Beratung bei der institutionellen Restrukturierung, Umsetzung von Strategien zur Verbrechensbekämpfung, Beratung bei der Gesetzgebung sowie logistische und materielle Hilfe. Polizeibeamte aus EU-Staaten unterstützten ihre albanischen Kollegen bei der Arbeit an den Grenzübergängen und über-
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Vgl. beispielsweise das alarmistische Buch von Raufer/Quéré (2000).
Herrschaft und Verwaltung in Albanien
161
wachten auf gemeinsamen Patrouillefahrten mit ihnen das Meer (AIIS 2004: 2636). Eine zunehmende Außenabhängigkeit der Polizeiarbeit war die Folge. Die Reformeffekte dieser fürsorglichen Belagerung blieben indes ambivalent. Mit Blick auf die Entwicklungen seit Beginn der 1990er Jahre zählte zu den Errungenschaften der von außen und innen betriebenen Reformen vor allem die weitgehende Zurückhaltung der Polizei bei Wahlen. Die offene Kandidatur von Polizisten auf den Wahllisten von Parteien oder die Repression politischer Gegner im Umfeld von Wahlen gehörte überwiegend der Vergangenheit an. Ferner hatte sich die materielle Ausstattung und administrative Kapazität der Polizei im Vergleich zum Beginn der 1990er Jahre dank der internationalen Hilfe erheblich verbessert. Das Polizeigesetz und eine Reihe anderer polizeirelevanter und mit internationaler Unterstützung verabschiedeter Gesetze wurden als vorbildlich eingestuft. Der internationalen Hilfe waren dennoch Grenzen gesetzt, denn die Praktiken der Akteure obstruierten die Reformprojekte. Die realen Verhältnisse blieben hinter den externen Erwartungen an eine moderne Polizeiarbeit in wichtigen Punkten zurück. Das betraf vor allem das zentrale Betätigungsfeld der internationalen Organisationen, nämlich die Investition in Ausbildungsprogramme. In der Unterstützung und Durchführung von diversen Kursen zur Grund-, Fort- und Spezialausbildung, die teilweise im Ausland organisiert wurden, sahen die externen Akteure einen zentralen Ansatzpunkt zur Verbesserung der polizeilichen Effektivität. Gerade diese Hilfsmaßnahmen wurden aber durch das Verhalten der albanischen Beteiligten unterlaufen, weil die ständige Rotation von Beamten eine Anwendung des mühsam erlernten speziellen Fachwissens nicht zuließ. Mit dem ungebrochenen Zugriff der Parteien auf die gesamte Verwaltung ist auch die Entpolitisierung der Polizei bis heute unvollständig geblieben. Auch die Ergebnisse der Beratungstätigkeit in der polizeirelevanten Gesetzgebung waren gemischt. So wurde mit Hilfe internationaler Organisationen 1999 ein neues Polizeigesetz verabschiedet, dessen Vorteil u.a. in einer klaren Trennung der Kompetenzen des Ministers und Generaldirektors gesehen wurde. Dies sollte eine effektive Trennung der politischen und administrativen Leitung bewirken. An der Intervention des Ministers in den Apparat änderte dieses Gesetz jedoch nur wenig. Auch hat sich die Menschenrechtsbilanz der albanischen Polizei nur langsam verbessert. Misshandlungen und Folterpraktiken in Polizeigewahrsam sind bis heute ein Problem geblieben.72
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Vgl. zuletzt die Berichte in World Organisation Against Torture (2005) oder die Country Reports on Human Rights Practicies der amerikanischen Regierung. Im Internet unter: <www.state.gov>.
162
Der Staat in Albanien und Georgien
Die enorme Diskrepanz zwischen den im Drogen- und Menschenhandel erzielbaren Profiten und den durchschnittlichen Gehältern eines Polizisten machte es weiterhin leicht, die Polizei zu bestechen. Die prekäre Position der Polizeibeamten gegenüber ihren Vorgesetzten und die schwache Bedeutung dienstrechtlicher Verfahren bestärkte darüber hinaus alle Akteure, sich auf personale Beziehungen zu verlassen, um den Mangel an formal-legaler Erwartungssicherheit auszugleichen. Und aufgrund des Interessengeflechts von politischen Akteuren und kriminellen Gruppierungen bestand auch kein staatliches Interesse an effektiver Polizeiarbeit. All das verhinderte rasche Erfolge in der Rationalisierung der Polizeiarbeit. So erschöpften sich die medienwirksamen Säuberungen des Polizeiapparates, stets begründet mit der mangelnden Effektivität der Polizeiarbeit und der Notwendigkeit von Reformen, häufig nur in einer großen Rotation. Denn sie waren eine willkommene Gelegenheit, um unliebsame Konkurrenten loszuwerden und die eigene Klientel unterzubringen.
Fazit Der Staat in Albanien war durch das Regime der großen Patronageparteien geprägt, die in einem konfliktiven Wettbewerb zueinander standen und einen ausgeprägten Klientelismus praktizierten. Ein starke Polarisierung und Fraktionierung des politischen Feldes war die Folge. Die öffentliche Verwaltung zeichnete sich dabei durch eine geringe Autonomie aus und unterlag in weiten Teilen der Patronage der Parteien. Zugleich waren die Vertreter der politischen Klasse eng mit wirtschaftlichen Unternehmen verflochten und akkumulierten auch in kriminellen Sphären ökonomisches Kapital. Die Polizei hatte in diesem Kontext nur eine geringe Autonomie erlangt. Diverse patrimoniale Praktiken durchkreuzten die bürokratische Eigenlogik des polizeilichen Apparates. Dazu zählte neben der Personalisierung des Innenministeriums durch den Minister vor allem der Klientelismus der politischen Parteien und des Polizeipersonals, der eine ausgesprochen geringe Personalkontinuität zur Folge hatte. Mit der Involvierung der Gesetzeshüter in den lokalen Schmuggel gingen auch Formen der illegalen Aneignung und der Verzahnung mit kriminellen Sphären einher. Die Polizei hatte sich daher nur begrenzt als ein eigengesetzliches bürokratisches Feld ausdifferenziert.
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Herrschaft und Verwaltung in Georgien
Wie viele Republiken im Süden der Sowjetunion hatte auch Georgien im Sozialismus eine Patrimonialisierung durchlaufen.73 Die erweiterte Familie stellte dort die vorherrschende Sozialform dar und bedingte eine Dominanz personalisierter Beziehungen (Mars/Altman 1983). Der Partei- und Staatsapparat basierte auf dichten klientelistischen und regional verwurzelten Netzwerken, mit denen die sozialistische Herrschaft in verwandtschaftliche Beziehungen eingebunden blieb (Fairbanks, Jr. 1983; Gerber 1997: 39). Zugleich zeichnete sich Georgien durch einen im innersowjetischen Vergleich großen informellen Sektor aus.74 Diese informelle Ökonomie wurde nicht nur systematisch geduldet, sondern auch protektioniert und von Betriebsleitungen und Behörden gegen eine Beteiligung an den Gewinnen aktiv gefördert (Mars/Altman 1987: 232-238; Gerber 1997: 46). Auch die höchste staatliche Ebene war hierin verwickelt, wie die Nähe so genannter „Untergrundmillionäre“ zur politischen Klasse belegte (Simis 1982: 35-39, 7882, 117-120; Clark 1993: 153f). Darüber hinaus zeichnete sich das sozialistische Georgien durch verbreitete Bestechungspraktiken in verschiedenen administrativen Bereichen wie Wohnungsbau, Bildungseinrichtungen und der Justiz aus (Law 1974: 100ff; Simis 1982: 78-82, 118, 167-169). Die generalisierte Korruption mündete in den 1970er Jahren in einer Reihe von Skandalen, die bis in die politische Spitze der Kaukasusrepublik reichten. Sie führten zur Absetzung des Ersten Sekretärs der Georgischen KP, Wassili Mschawanadse, und zu groß angelegten Säuberungen und Antikorruptionskampagnen, in deren Zuge die staatlichen Eliten nahezu vollständig ersetzt wurden (Gerber 1997: 44-51; Law 1974: 99-103). Die Praktiken der Aneignung setzten sich jedoch fort. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre wurden noch einmal hochrangige Mitglieder aus der Partei wegen Korruption und Amtsmissbrauch ausgeschlossen (Gerber 1997: 151). Wie anderswo in der Sowjetunion begann sich Ende der 1980er Jahre im Zuge der Perestroika auch in Georgien eine Nationalbewegung zu formieren. Diese Bewegung zeichnete sich durch eine starke Fragmentierung aus (Gerber 1997: 187ff; Wheatley 2005: 41ff). Aus ihr ging Swiad Gamsachurdia als erster frei gewählter Präsident des unabhängigen, post-sowjetischen Georgiens hervor. Seine Herrschaft zeichnete sich ebenso durch charismatische wie autoritäre Elemente aus. Als populistischer und charismatischer Anführer verfocht Gamsachurdia fanatisch die georgische Unabhängigkeit und eine spirituelle Mission der
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Zum post-sowjetischen Georgien sind bislang nur wenige Arbeiten erschienen. Das folgende Unterkapitel stützt sich vor allem auf die zusammenfassenden Arbeiten von Wheatley (2005); Devdariani (2004) und Chiaberashvili/Tevzadze (2005). Parsons (1982: 558ff); Grossman (1977: 35); Jank (2000: 65-73).
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Der Staat in Albanien und Georgien
Nation, in deren Linie von Helden er sich selbst einordnete. Zugleich etablierte Gamsachurdia eine autoritäre Herrschaft, die durch die Konzentration von Macht in seinen Händen sowie durch die Unterdrückung politischer Gegner, der Medien und ethnischer Minderheiten gekennzeichnet war (Jones 1994; English 1996: 213-216). Das Ergebnis war eine Radikalisierung der Nationalbewegung und eine innerstaatliche Polarisierung.75 Sie ging mit der Verbreitung von Milizen einher, die sich teils als bewaffneter Flügel von politischen Parteien, teils als unabhängige paramilitärische Gruppen formierten.76 Die sich verschärfenden Gegensätze zwischen dem georgischen Zentralstaat und den ethnischen Minderheiten in den autonomen Gebieten Abchasien und Südossetien sowie gleichzeitig die zunehmende Konfrontation zwischen dem Präsidenten und seinen innenpolitischen Gegnern mündeten Anfang der 1990er Jahre in mehrere innerstaatliche Kriege. Sie führten zum Sturz Gamsachurdias, der Abspaltung Abchasiens und Südossetiens und brachten die Anführer der einflussreichsten Milizen zeitweilig an die Spitze der politischen Führung Georgiens (Bischof 1995). Erst unter der Herrschaft von Eduard Schewardnadse ab Mitte der 1990er Jahre setzte eine Phase der staatlichen Konsolidierung ein.
2.1
Das Schewardnadse-Regime
Schewardnadse hatte bereits im Sozialismus diverse öffentliche Ämter inne. In der Sowjetrepublik Georgien hatte er von 1965 bis 1972 das Amt des Innenministers und von 1972 bis 1985 den Posten des Ersten Sekretärs des ZK der georgischen KP bekleidet, um danach zum Außenminister der Sowjetunion aufzusteigen. Anfang 1992 kehrte er in die politische Führungsebene Georgiens zurück, wo es ihm gelang, die verschiedenen paramilitärischen Gruppen sukzessive zu entmachten und aufzulösen (Aves 1996b: 20f). Die Wiederherstellung eines gewissen Maßes an öffentlicher Ordnung und Sicherheit brachte ihm eine hohe Popularität ein, so dass er 1995 in das Amt des Präsidenten gewählt wurde. Schewardnadse verfolgte eine innenpolitische Stabilisierung und etablierte ein präsidiales System, bei dem sich die exekutive Macht wesentlich im Amt des Präsidenten bzw. seiner Administration, der so genannten Staatskanzlei konzentrierte. In diesem System war kein Ministerpräsident und Kabinett vorgesehen, so dass einzelne Minister der Regierung nur dem Präsidenten verantwortlich waren und von der Staatskanzlei koordiniert wurden, die wiederum keiner parlamenta-
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Gerber (1997: 187ff); Cornell (2001: 151ff); Wheatley (2005: 41ff). Vgl. Jones (1996); Demetriou (2002: 3-29); Gordadzé (2003b: 373ff); Koehler (2000).
Herrschaft und Verwaltung in Georgien
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rischen Kontrolle unterlag. Schewardnadse selbst verfügte über weitreichende Ernennungsmacht und regierte vor allem durch Dekrete (Wheatley 2005: 94f, 108ff). Jedoch resultierte hieraus kein Regime, in dem alle Entscheidungen auf den Präsidenten zurückzuführen waren. Das Parlament verfügte über reale Macht und Autonomie und die Regierungsgewalt Schewardnadses blieb durch eine effektive Teilung der Gewalten begrenzt (Areshidze 2007: 38ff). Schewardnadse, der 1995 und 1998 knapp zwei Attentate überlebte, vermied im Gegensatz zu seinem Vorgänger Gamsachurdia den offenen Autoritarismus und stellte sich als aufgeklärtes reformorientiertes Staatsoberhaupt dar. Der Preis der von ihm angestrebten Stabilisierung bestand jedoch in einer Praxis der Elitenakkommodation, die auf die klientelistische Einbindung zentraler politischer Akteure und der Tolerierung ihrer Aneignungspraktiken hinauslief. Damit setzten sich bereits im Sozialismus entwickelte patrimoniale Praktiken fort, wenn auch unter anderen Bedingungen. Um seine Position zu konsolidieren stützte sich Schewardnadse auf unterschiedliche Akteure und versuchte zugleich verschiedene klientelistische Netzwerke und Fraktionen auszubalancieren und gegeneinander auszuspielen.77 Das Ergebnis war ein Regime, in welchem Schewardnadse mit der Steuerung von Klientelketten die Rolle eines Big Man übernahm, ohne damit jedoch eine autoritäre Herrschaft zu etablieren und sich selbst den Staat anzueignen (Areshidze 2007: 38ff). In Schewardnadses Balancestrategien spielten die politischen Parteien eine, jedoch nicht die allein ausschlaggebende Rolle. Im politischen Feld standen diverse klientelistische Parteien im Wettbewerb miteinander, die partikulare ökonomische oder regionale Interessen vertraten und in der Regel ausschließlich durch die Person ihrer Führer repräsentiert wurden. Diese Personalisierung war gleichbedeutend mit ihrer schwachen Institutionalisierung. Viele Parteien waren von häufigen Fraktionierungen gekennzeichnet und überlebten weder den Weggang ihrer Anführer noch das Scheitern bei Parlamentswahlen. Der Parteienwettbewerb war ferner von flexiblen Allianzen und Koalitionen bestimmt, die einzig dem Ziel des Parlamentseinzugs dienten und bei denen ideologische Überschneidungen ebenso wenig wie programmatische Differenzen eine Rolle spielten.78 In dieser fragmentierten Parteienlandschaft stützte sich Schewardnadse vor allen auf die „Bürgerunion Georgiens“ (Sakartvelos Mokalaketa K’avshiri, SMK), die
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Wheatley (2005: 108ff); Devdariani (2004: 99-102); IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 77, 6.4.2001 „Georgia’s Fragile Balance of Power“; IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 80, 30.4.2001 „Shevardnadze’s Political Balancing Act“; IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 105, 13.11.2001 „Tbilisi Balancing Act“. Vgl. Kjeldsen (1999); Gerber (1997: 187ff); Nodia (2003); Devdariani (2004: 81ff); Wheatley (2005: 155ff).
166
Der Staat in Albanien und Georgien
er 1993 selbst ins Leben gerufen hatte und als deren Vorsitzender er bis 2001 amtierte. Die auf Schewardnadse ausgerichtete SMK hatte den Charakter einer Präsidentenpartei, deren Funktion vor allem darin bestand, politische Unterstützung für die Exekutive im Parlament zu gewährleisten. In der SMK konkurrierten zwei Gruppen miteinander, nämlich Angehörige der ehemaligen Nomenklatura sowie die so genannten „jungen Reformer“, die in der sowjetischen Perestroika aufgekommen waren und deren Anführer von Schewardnadse protegiert und in die SMK kooptiert worden waren. In der Ausbalancierung beider Fraktionen bestand eine wesentliche Aufgabe Schewardnadses.79 Durch ihren selbstbewussten, reformorientierten Flügel erlangte die Partei indes eine gewisse Autonomie gegenüber dem Präsidenten. Die SMK hatte keinen wesentlichen Einfluss auf die Verteilung öffentlicher Ämter und bekleidete Positionen in der Regierung nur zum Teil mit ihren Mitgliedern (Nodia 2003: 11; Devdariani 2004: 95). Schewardnadse stützte seine Position im politischen Feld darüber hinaus auf Teile der ehemaligen sozialistischen Nomenklatura, die durch alte Bekanntschaften und familiäre Verbindungen vernetzt waren. Diese bekleideten neben Posten in der SMK auch Positionen in der Exekutive, in der Wirtschaft sowie in der Regional- und Lokalverwaltung.80 Dabei stützte sich Schewardnadse auch auf von ihm selbst ernannte Gouverneure und andere regionale Repräsentanten, die über weite Machtbefugnisse verfügten und sich wiederum selbst zu einflussreichen Patronen ihrer lokalen Klientel entwickelten.81 Daneben existierten weitere einflussreiche Akteure im politischen Feld, mit denen Schewardnadse teils kooperierte, teils konkurrierte. Dazu zählte insbesondere Aslan Abaschidse, der als lokaler Big Man die am Schwarzen Meer gelegene Autonome Republik Adscharien praktisch in einen Feudalbesitz transformiert hatte. Unter der Herrschaft von Abaschidse und seiner Familie hatte sich Adscharien zu einem de-facto eigenständigen Staat mit Grenzkontrollen, privatisierten Steuer- und Zolleinnahmen, eigenen außenpolitischen Beziehungen und einem völlig von Abaschidse abhängigen Einparteiensystem entwickelt. Abaschidse stellte einen machtvollen Intermediär dar, der ebenso ein Widersacher wie potentieller Verbündeter Schewardnadses war (Wheatley 2005: 115-117; Chiaberashvili/Tevzadze 2005: 194-196). Die weitreichende Vernetzung der politischen Klasse durch Verwandtschaft, Freundschaft und gemeinsame ökonomische Interessen hatte die durch-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 79 80 81
Devdariani (2004: 93-96); Wheatley (2005: 89ff); RFE/RL Caucasus Report 2.9.1998, Vol. 1/No. 27 „The Sorcerer’s Apprentice’s Apprentice“. Chiaberashvili/Tevzadze (2005: 189ff); Kikabidze/Losaberidze (2000: 17ff); Khaindrava (2001: 68); Stefes (2006: 92ff). Wheatley (2005: 119f); IDEA (2003); Chiaberashvili/Tevzadze (2005: 196-198).
Herrschaft und Verwaltung in Georgien
167
gehende klientelistische Strukturierung des politischen Feldes zur Folge (Chiaberashvili/Tevzadze 2005; Kikabidze/Losaberidze 2000). Dabei waren politische und ökonomische Chancen eng verkoppelt. Zwar hatte die tiefe Wirtschaftskrise in Georgien nach dem Zerfall der Sowjetunion zunächst zu einem massiven Rückgang der Produktion und des Außenhandels geführt (Jank 2000: 99-116). Mitgliedern der ehemaligen Nomenklatura gelang es jedoch in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zu neuen Unternehmern zu avancieren, die von ihren Beziehungen zum politischen Feld profitierten, indem sie soziales in ökonomisches Kapital tauschten. Sie erlangten Vorteile bei der Privatisierung, erhielten zinnslose oder nicht rückzahlbare Kredite sowie Subventionen und Steuervergünstigungen, die sie zum Aufbau neuer Unternehmen nutzten (Goziridse/Kandelaki 2004: 65ff). Ab 1995 kontrollierten diese Gruppen die größten Unternehmen des Landes und erlangten dank politischer Protektion monopolartige Marktpositionen.82 Prominente Geschäftsleute begannen schließlich für die Präsidentenpartei zu kandidieren oder eigene Parteien zu gründen, die enge ökonomische Interessen vertraten (Devdariani 2004: 108f; Wheatley 2005: 118f). Auch die erweiterte Familie Schewardnadses war in wichtigen kommerziellen Bereichen vertreten. Sie kontrollierte einen der wichtigsten Schwarzmeerhäfen und war im Zigarettenimport, dem Im- und Export von Erdölprodukten, dem Bankensektor sowie in den Bereichen Telekommunikation, Luftfahrt und Chemische Industrie aktiv.83 Die Verbindung politischer und wirtschaftlicher Macht kam auch in dem Einfluss ökonomischer Akteure auf die Ausgestaltung von Gesetzen und präsidentiellen Dekreten zum Ausdruck (Gray et al. 2004: 25, 28). Dies lässt sich beispielhaft an der Steuerpolitik aufzeigen. Im Jahr 1997 wurde das neue Steuergesetzbuch Georgiens verabschiedet. In der Folge wurden zahlreiche Zusätze und Änderungen verabschiedet, von denen ein großer Teil Steuerausnahmen und -vergünstigungen beinhaltete und zur effektiven Verkleinerung der Steuerbasis führte (IMF 2001: 26ff; Goziridse/Kandelaki 2004: 72). Darüber hinaus entging durch verbreitete Steuerhinterziehung ein Großteil der Ökonomie der regulären Besteuerung (UNDP 1999: 25-36; Goziridse/Kandelaki 2004: 73). Fast ein Drittel der größten Steuerzahler zählte gleichzeitig zur Gruppe der größten säumigen Steuerschuldner (UNDP 1999: 29-31). Eine zentrale Rolle spielte diesbezüglich auch der Schmuggel zahlreicher Güter, die nach Georgien eingeführt wurden ohne besteuert zu werden (s.u.). Das Ergebnis war ein außerordentlich geringes Steueraufkommen.
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Goziridse/Kandelaki (2004: 67); Devdariani (2004: 98, 108); The Georgian Messenger No. 073 (0097), 17.4.2002 „More Monopolies in Georgia“, S. 3. Targamadze (2000: 82); Chiaberashvili/Tevzadze (2005: 190ff); Wheatley (2005: 112f).
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Der Staat in Albanien und Georgien 84
Tabelle 10: Georgische Steuereinnahmen in Prozent des BIP ȱ
1998
1999
2000
2001
2002
2003
10,5
11,5
11,7
12,0
14,4
15,0ȱ
Von 1998 bis 2003 belief sich die durchschnittliche jährliche Steuerquote auf weniger als 13 Prozent des BIP (vgl. Tabelle 10). Georgien hatte damit eine der niedrigsten Steuerquoten aller post-sowjetischen Staaten. Der IMF schätzte, dass gemessen an den geltenden Steuersätzen das faktische Steueraufkommen 1998 und 1999 nur etwa die Hälfte der potentiell möglichen Einnahmen betrug (IMF 2000: 81). Eine permanente Haushaltskrise und Abhängigkeit von internationalen Krediten war die Folge (Jank 2000: 99ff). Der durchgehende Klientelismus im staatlichen Feld und die Verschränkung politischer und ökonomischer Macht hatten eine weit reichende Instrumentalisierung der Bürokratie und ihre Unterordnung unter partikulare Interessen zur Folge. Dazu zählte u.a. die gezielte Produktion und Ausnutzung behördlicher Willkür zum Zweck der Bereicherung (Christophe 2005). Mangelnde Kompetenzabgrenzungen, widersprüchliche Regelungen und bürokratische Hürden wurden bewusst gebilligt oder gefördert, um mit den daraus entstehenden Blockaden und Konflikten einen Raum für behördliche Willkür zu eröffnen. Das erzwang dann eine Unterordnung unter politische Unternehmer, die ihre Patronage anboten. Unter Einsatz ihres sozialen und ökonomischen Kapitals setzten sie Vorschriften außer Kraft, hoben Blockaden auf und sicherten so für ihre Klienten Konkurrenzvorteile gegen eine Beteiligung an deren Geschäften (ebd. 64ff, 87ff, 122ff). Die Folge war die politische Protektion von allen größeren wirtschaftlichen Aktivitäten. Minister und hochrangige Beamte entwickelten sich zu einflussreichen Unternehmern, die in den Kompetenzbereichen ihrer Behörden eigene Firmen besaßen oder sie für ihre Klienten protektionierten (Stefes 2006: 93ff). Auch von anderen informellen Praktiken der Aneignung profitierten die Akteure im staatlichen Feld. Zahlreiche ministerielle Kontrollagenturen, deren Anzahl selbst die Regierung nicht genau zu beziffern wusste (National Anti-Corruption 2000: 10f), verfügten über das Recht, die Geschäftsaktivitäten von Unternehmen zu kontrollieren und nutzten diese Kompetenz gezielt für deren Erpressung und informelle Besteuerung aus. Insbesondere aber stellte die Beteiligung an dem expandierenden Schmuggel eine wichtige Quelle der Bereicherung dar und beförderte zugleich die Verzahnung des Staates mit kriminellen Sphären. Zahlrei-
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Quelle: IMF (2006: 14).
Herrschaft und Verwaltung in Georgien
169
che Güter gelangten nach Georgien über die Grenzübergänge zu Aserbaidschan und der Türkei, durch die Schwarzmeerhäfen sowie durch die sezessionistischen und quasi unabhängigen Gebiete Abchasien und Südossetien, die beide an Russland grenzten und faktisch den Status von Freihandelszonen besaßen. Durch die eingeschränkte Kontrolle der Außengrenzen wurden Güter wie Benzin, Diesel, Zucker, Mehl, Weizen und Zigaretten nach Georgien eingeführt und dort unversteuert gehandelt. Aber auch Drogen, Waffen, Menschen, gestohlene Autos, Altmetall und Holz wurden über die Grenzen verschoben. In diesen profitablen Handel waren staatliche Akteure vielfach involviert, indem sie den Schmuggel verschleierten oder direkt selbst betrieben.85 Weil das staatliche Feld zahlreiche Möglichkeiten der Aneignung bot, etablierte sich auch die klassisch patrimoniale Praktik des Ämterkaufes, bei der öffentliche Positionen auf einem regelrechten Markt gehandelt wurden und zum Verkauf standen.86 Die Ämterkäuflichkeit hatte wiederum ein elaboriertes System der Extraktion und Umverteilung von Ressourcen zur Folge, die über verschiedene staatliche Ebenen bis zur politischen Führung kanalisiert wurden (Di Puppo 2004: 49ff; Stefes 2006: 100ff).87 Das Ergebnis war die organisierte Appropriation. Den geringen, teilweise unter dem offiziellen Existenzminimum liegenden staatlichen Gehältern (GFSIS 2002: 14, 25) stand der unerklärliche Reichtum vieler hochrangiger Bürokraten und Mitglieder der politischen Klasse gegenüber (Chiaberashvili/Tevzadze 2005: 194f; Wheatley 2005: 106). Die politische Patronage zahlreicher informeller und krimineller Praktiken korrelierte mit einer geringen Strafverfolgung. Zwar wurden unter Schewardnadse mehrere Kampagnen und Initiativen gegen Korruption ins Leben gerufen (OECD 2005b). Viele Korruptionsfälle wurden jedoch nicht weiterverfolgt. Anschuldigungen wurden später wieder fallengelassen und Verfahren eingestellt (Anjaparidze 2001). Bei einer Gesamtzahl von ca. 130.000 öffentlichen Angestellten sind für Bestechung, Amtsmissbrauch und andere Vergehen im Amt
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 85
86 87
Vgl. insbesondere Kukhianidze et al. (2004) sowie ferner Wheatley (2005: 115f; 122f); Stefes (2006: 99); Gotsiridze (2003: 9ff); Glonti (2001); Demetriou (2002: 36-39); Cvil Georgia 13.8.2003, „Red Bridge: Bent Mirror of the Georgian Economy“; IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 108, 5.12.2001 „South Ossetia: Single Market Economy“; The Georgian Messenger No. 042 (0066), 4.3.2002 „Smuggling in Georgia“, S. 3; The Georgian Messenger No. 047 (0323), 12.3.2003 „Smuggling Suffocates Country“, S. 3; EurasiaNet, Eurasia Insight 27.6.2002 „Entrenched Corruption Begins at Georgias’s Border“. Gurgenidze (1999: 11, 34); World Bank (1998: 4, 2000: 19); Wheatley (2005: 105); Stefes (2006: 100f). Einer Erhebung zufolge gaben 64 Prozent der öffentlichen Angestellten an, dass Bestechungsgelder in der Regel mit Kollegen und Vorgesetzten geteilt werden (World Bank 2000: 19).
170
Der Staat in Albanien und Georgien
2001 und 2002 insgesamt nur knapp 200 Verurteilungen ergangen (vgl. OECD 2005b: 30, 44). Seit 2001 sah sich die herrschende Elite des Schewardnadse-Regimes wachsenden Herausforderungen durch interne Oppositionskräfte gegenüber, die aus den Fraktionierungen innerhalb der SMK entstanden waren (Devdariani 2004: 99ff; Wheatley 2005: 172ff). Die systematische Wahlfälschung bei den Parlamentswahlen Ende 2003 gaben schließlich Anlass zu Massenprotesten und der so genannten „Rosenrevolution“, in deren Verlauf das Schewardnadse-Regime gestürzt wurde. Nach vorgezogenen Präsidentenwahlen und wiederholten Parlamentswahlen Anfang 2004 gelangte der junge Reformer und populäre Anführer der Protestbewegung, Michail Saakaschwili, an die Spitze der politischen Führung und in das Amt des Staatspräsidenten. Die neue Regierung bezog ihre Legitimität zunächst wesentlich aus Antikorruptionskampagnen in Form spektakulärer Verhaftungen von Mitgliedern der alten Regierung, erzwungenen Rückzahlungen an den Fiskus und Konfiszierungen von Eigentum.88 Sie sollten den Bruch mit dem Schewardnadse-Regime signalisieren und den Weg für eine künftige Rationalisierung des Staates ebnen. Das Regime von Schewardnadse, wie es sich seit Mitte der 1990er Jahre bis Ende 2003 etabliert hatte, stellte auch den Kontext für die Entwicklung der georgischen Polizei dar. Wie im politischen Feld entwickelten sich auch im bürokratischen Feld der Polizei patrimoniale Praktiken. Der Innenminister verfügte über eine zentrale Machtposition im politischen Feld und stand als hochrangiger professioneller Polizeibeamter zugleich an der Spitze verschiedener distributiver Ketten und klientelistischer Netzwerke im Polizeiapparat (2.2.1). Der Personalisierung von oben entsprach eine weitgehend informelle Rekrutierung, bei der polizeiliche Positionen über klientelistische Beziehungen und den Kauf von Ämtern erworben wurden (2.2.2) Die Ökonomie der Polizei basierte wiederum auf einem breiten Spektrum von Praktiken, die von der Erpressung Kleinkrimineller über die informelle Besteuerung des Autoverkehrs und des Groß- und Einzelhandels bis zur Beteiligung an Entführungen und dem expandierenden Schmuggel reichten (2.2.3). Über direkte oder indirekte Verbindung zu diversen Firmen profitierte die Polizei ferner von wirtschaftlichen Monopolen (2.2.4). Seit der Etablierung der neuen politischen Führung 2004 durchläuft die Polizei einen grundlegenden und international unterstützten Reformprozess. Die Bekämpfung der Korruption und eine tiefgehende institutionelle Neuordnung sollen die Polizei westlichen Modellen annähern (2.2.5).
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Shelley et al. (2007); Stefes (2006: 162-170); Wheatley (2005: 203f); IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 221, 4.3.2004 „Georgia: Corruption Crackdown Makes Waves“.
Herrschaft und Verwaltung in Georgien 2.2
171
Der bürokratische Apparat der Polizei
Im Sozialismus war das georgische Innenministerium und die ihr zugehörige Polizei Teil des Innenministeriums der Sowjetunion gewesen. Wie andere lokale Institutionen war auch die Polizei in den föderalen sowjetischen Zusammenhang integriert. Moskau erstellte Jahrespläne und führte vor Ort Kontrollen durch, georgische Polizeioffiziere wurden in Hochschulen und Akademien des sowjetischen Innenministeriums in der ganzen Sowjetunion ausgebildet und der Schriftverkehr der Verwaltung erfolgte auf Russisch. Aber anders als andere Sicherheitsinstitutionen war das georgische Innenministerium nicht direkt der Zentrale in Moskau unterstellt und erlangte in der post-stalinistischen Zeit seit den 1950er Jahren im Zuge von Dezentralisierungsprozessen eine relative lokale Autonomie (vgl. Shelley 1996: 38ff). Im Jahr 1978 wurde in Tiflis eine Zweigstelle der Moskauer Akademie des sowjetischen Innenministeriums gegründet. Polizeibeamte wurden hauptsächlich aus der lokalen Bevölkerung rekrutiert und vor Ort eingesetzt. Fast ausschließlich aus einheimischen Kadern zusammengesetzt, entwickelte die Polizei gegenüber den sowjetischen Strukturen eine zunehmende Eigenständigkeit (Gordadzé 2003a: 204f; Aphrasidze 2004: 39f). Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Georgiens wurde die Polizei dann auch formal zu einer nationalen Institution. Begleitet wurde diese Transformation von verschiedenen Neuerungen. Alle noch bestehenden föderalen Einbindungen wurden abgeworfen, die polizeiliche Amtssprache wurde Georgisch, eine neue regionale Verwaltungsebene wurde geschaffen und ein 1993 verabschiedetes Polizeigesetz stellte die Arbeit der Polizei auf eine neue gesetzliche Grundlage. Auf einen grundsätzlichen Umbau der Polizei wurde jedoch verzichtet. Zahlreiche Strukturen und bürokratische Verfahrensweisen blieben nach dem alten sowjetischen System erhalten. Zwar wurden seit 1999 verschiedene Reformkonzepte vorgelegt. Von ihnen wurde jedoch nur ein Bruchteil umgesetzt (Aphrasidze 2004: 43; Kruniü/Siradze 2005: 48f). Bis zum Sturz des Schewardnadse-Regimes Ende 2003 blieb die Polizei weitgehend einer aus dem Sozialismus herrührenden Verwaltungstradition verhaftet. So operierte die Polizei zum Teil weiter auf der Grundlage alter sowjetischer Normen und Kompetenzen, welche die alltägliche Polizeiarbeit bestimmten (Darchiashvili 2004: 100; Meuller/delMistro 2005: 8ff). Darüber hinaus blieb das gesamte System weiterhin stark zentralisiert (Aphrasidze 2004: 42). Ebenso blieb eine klare Abgrenzung zwischen polizeilichen und militärischen Bereichen aus. Das ganze Ministerium behielt nach sowjetischer Tradition militärischen Charakter. Nicht nur das neue Polizeigesetz definierte die Polizei weiterhin als ein militarisiertes öffentliches Organ. Alle Polizeiränge blieben darüber hinaus an armeeähnliche Dienstgrade gebunden (ebd.; Darchiashvili 2003a: 8). Das In-
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Der Staat in Albanien und Georgien
nenministerium verfügte außerdem mit den 6.400 Mann starken „Inneren Truppen“ über eigene militärische Kapazitäten (Darchiashvili 2003b: 16). Allein mit diesen Inneren Truppen kommandierte das Innenministerium beinah halb so viele bewaffnete Einheiten wie das Verteidigungsministerium (ebd.). Zugleich existierte keine klare Abgrenzung zwischen polizeilichen und zivilen Bereichen. So gehörten dem Innenministerium auch diverse zivile Dienste wie Feuerwehr, Katastrophen- und Zivilschutz oder das nationale Einwohnermeldebüro an, das für die Herausgabe von Pässen und Personalausweisen zuständig war. Darüber hinaus waren nahezu alle Angestellten des Ministeriums – einschließlich des Innenministers selbst – Polizeibeamte (Aphrasidze 2004: 42; Kupatadze et al. 2005: 13). Weder der Gesetzgebung noch der aktuellen Praxis nach übte das Innenministerium daher die Funktion einer zivilen Kontrolle über bewaffnete Akteure aus (Darchiashvili 2003a: 8). Der Umstand, dass der Innenminister und seine Stellvertreter zugleich hochrangige Polizeibeamte waren und direkte polizeiliche Tätigkeiten ausübten, bedeutete auch eine mangelnde Trennung zwischen der politischen und administrativen Leitung (Aphrasidze 2004: 42). Die Polizei setzte sich aus folgenden verschiedenen Einheiten bzw. Polizeiarten zusammen: der Kriminalpolizei, Verkehrspolizei, Polizei für öffentliche Ordnung, Transportpolizei und der Umweltpolizei sowie der quasi-privatisierten so genannten Eigentumsschutzpolizei (ebd.).89 Die Polizei war in verschiedenen Departments und Hauptverwaltungen zusammengefasst und gliederte sich darüber hinaus in neun regionale Landeshauptverwaltungen mit einer noch darunter befindlichen Ebene der Stadt- und Bezirksverwaltungen. Im Innenministerium waren neben der Polizei, den Inneren Truppen und einer Spezialeinheit weitere zentrale Abteilungen wie die Generalinspektion, die Polizeiakademie sowie verschiedene Versorgungseinrichtungen und zivile Dienste angesiedelt (vgl. Kruniü/ Siradze 2005: 19ff; Aphrasidze 2004: 42). Mit all diesen Einheiten und Diensten verfügte das Innenministerium über einen Personalbestand, der nur zum Teil Eingang ins offizielle Budget fand. Das Staatsbudget Georgiens verzeichnete für das Haushaltsjahr 2003, wie in den Jahren zuvor, knapp 30.000 Beschäftigte für alle Dienste des Innenministeriums einschließlich der Inneren Truppen.90 Die tatsächliche Größe des Polizeiapparates wurde jedoch verschiedentlich weit höher
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Darüber hinaus existierten noch weitere Polizeiarten, die jedoch anderen Ministerien zugeordnet waren und daher hier nicht berücksichtigt werden (vgl. Gordadzé 2003a: 203f). Die Personenzahl fürs Innenministerium wurde im Budget angegeben und für einzelne Bereiche etwas näher aufgeschlüsselt. Vgl. für das Jahr 2003: sakartvelos 2003 ts’lis sakhelmts’ipo biujet’is shesakheb [Gesetz über das Staatsbudget Georgiens 2003].
Herrschaft und Verwaltung in Georgien
173
geschätzt.91 Nach dem Sturz des Schewardnadse-Regimes wurde diese Zahl von der neuen reformorientierten Polizeiführung denn auch offiziell erheblich nach oben korrigiert. So gab das Innenministerium 2004 an, zuletzt nicht über 30.000, sondern knapp 54.000 Beschäftigte verfügt zu haben (Kruniü/Siradze 2005: 19; Aphrasidze 2004: 42f). Woraus sich beide Zahlen genau zusammensetzen und woher diese erhebliche Diskrepanz resultierte ist unklar. Selbst unterstellt, dass bei der höheren Zahl auch Dienste eingerechnet wurden, die zuvor bei der niedrigeren Zahl nicht berücksichtigt wurden, bleibt eine Abweichung des offiziellen gegenüber dem tatsächlichen Personalbestand wahrscheinlich. Daraus lässt sich schließen, dass ein Teil des Polizeipersonals nur informell im Innenministerium existierte und nicht aus dem offiziellen Gehaltsetat finanziert wurde (Darchiashvili 2003a: 11). Der Kontinuität von institutionellen Eigenschaften entsprach eine weitgehende Kontinuität des polizeilichen Personals (Larsson 2003: 15; Wheatley 2005: 113f). Auch die Innenminister entstammten im Wesentlichen der alten sowjetischen Polizeielite (Kupatadze et al. 2007: 94). Zugleich wuchs der Apparat in den 1990er Jahren an. Zum Zeitpunkt des Kollapses der Sowjetunion verfügte das Innenministerium nach unterschiedlichen Quellen über einen Personalbestand von rund 25.000 Beschäftigten, der sich dann nach der Unabhängigkeit mehr als verdoppelte.92
2.2.1
Die Macht des Ministers
Das Innenministerium stellte im Schewardnadse-Regime eine Schlüsselinstitution dar. Die Polizei hatte gegen Ende der innerstaatlichen Kriege, von Ende 1993 bis 1995 in mehreren landesweiten Polizeiaktionen die Milizen und irregulären Gewaltakteure sukzessive entwaffnet und zerschlagen (Aves 1996b: 20f; Wheatley 1005: 86f). Sie hatte wesentlich Anteil an der Wiederherstellung eines gewissen Maßes an Ordnung und Sicherheit und damit auch einen Beitrag zur Konsolidierung des Regimes von Schewardnadse erbracht (Aphrasidze 2004: 42). In der Folgezeit erlangte der Innenminister eine zentrale Machtposition im politischen Feld. Als Mitglied der Regierung und gleichzeitig hochrangiger Polizeibeamter gelang es dem Innenminister, Versuche zur politischen Kontrolle des Apparates abzuwehren und ihn gleichzeitig seiner eigenen personalen Herrschaft zu
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Auf 60.000-85.000 Personen nach unterschiedlichen Schätzungen (Feinberg 1999: 25; Fritz 2004: 138; Gordadzé 2003a: 203). UNDP (1997: 40); Kupatadze et al. (2007: 93f); Stefes (2006: 110).
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Der Staat in Albanien und Georgien
unterwerfen. Der Innenminister wuchs dabei in die Rolle eines Big Man hinein, der nicht nur auf dem bürokratischen, sondern auch auf dem politischen Feld erhebliche Machtmittel akkumulierte. Damit begann sich die Polizei zu verselbständigen und eigene politische und ökonomische Interessen zu verfolgen. Beispielhaft hierfür war vor allem die Entwicklung während der Amtszeit des Innenministers Kacha Targamadse von 1995 bis 2001. Targamadse, der über freundschaftliche und geschäftliche Verbindungen zum Neffen Schewardnadses verfügte (Chiaberashvili/Tevzadze 2005: 191), war mit Schewardnadse selbst durch ein flüchtiges Bündnis verbunden. Der Staatspräsident und der Innenminister standen in einer Patronagebeziehung zueinander, bei welcher Schewardnadse als Patron häufig seine schützende Hand über Targamadse hielt, der sich wiederum in allen innenpolitischen Kämpfen loyal zu Schewardnadse verhielt. Diese Allianz hatte jedoch überwiegend instrumentellen und flexiblen Charakter. Schewardnadse stellte sich bei zahlreichen Vorwürfen der Korruption und des Machtmissbrauchs, die von verschiedenen Seiten gegen den Innenminister vorgebracht wurden, stets hinter Targamadse, benutzte ihn aber zugleich, um in der eigenen Partei verschiedene Fraktionen auszubalancieren (Devdariani 2004: 82, 99-102).93 Schewardnadse unterstützte dabei sowohl den Innenminister als auch dessen Gegner, der wiederum auch mit den Widersachern von Schewardnadse kooperierte (Gordadzé 2003a: 211). Darüber hinaus war das Innenministerium und die Polizei Bestandteil einer Strategie des Präsidenten, die seit den innerstaatlichen Kriegen Anfang der 1990er Jahre darin bestand, verschiedene reguläre und irreguläre Gewaltakteure wechselseitig auszubalancieren. Schewardnadse hatte zuerst die Milizen gegen die bewaffneten Anhänger des gestürzten Präsidenten Gamsachurdia, dann das Innenministerium gegen die Milizen und später das Innenministerium gegen das Ministerium für Staatssicherheit ausgespielt. Gezwungen sich auf den Machterhalt und die eigene Position im politischen Feld zu konzentrieren, gewann der Innenminister durch diese Balancetaktiken eine weitgehende Selbständigkeit. Damit begann sich auch die Polizei zu verselbständigen und gleichzeitig zu politisieren (ebd. 209ff). Sie verfolgte ihre eigenen Interessen und griff dabei aktiv ins politische Geschehen ein. Die Polizei versuchte durch Wahlfälschungen Einfluss auf den Ausgang von Wahlen zu nehmen und unterstützte einzelne Politiker und politische Richtungen, ohne dabei jedoch klar
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The Georgian Times 30.3.2001, No. 062 (882) „President Shields Interior Minister“, S. 5; IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 77, 6.4.2001 „Georgia’s Fragile Balance of Power“; IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 99, 15.9.2001 „Shevardnadze Turns Back on Reform“; IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 104, 6.11.2001 „Georgia: CUG Hopelessly Divided“.
Herrschaft und Verwaltung in Georgien
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Partei für ein bestimmtes Lager zu ergreifen.94 Auch als das SchewardnadseRegime schließlich gestürzt wurde, verhielt sich die Polizei neutral (Aphrasidze 2004: 46f; Kupatadze et al. 2007: 95). Targamadse erlangte im Verlauf seiner Amtszeit eine erhebliche Eigenständigkeit. So verfolgte er beispielsweise eine eigene Tschetschenien- und Abchasienpolitik. Tschetschenische Guerillas, die in der benachbarten russischen Teilrepublik Tschetschenien für die Loslösung von der Russischen Föderation kämpften, hatten eine im nordöstlichen Teil Georgiens liegende tschetschenische Exklave, das Pankisi-Tal, als Rückzugsraum und Nachschubbasis genutzt und sich dort zunehmend frei bewegt. Zugleich hatte der tschetschenische Widerstand Verbindungen nach Georgien aufgebaut (Rau 2005: 63ff). Im Herbst 2001 gelang es mehreren hundert tschetschenischen Kämpfern das georgische Territorium zu durchqueren und sich in die am Schwarzen Meer gelegene abtrünnige Republik Abchasien zu begeben, wo sie ohne Billigung der politischen Führung Georgiens auf georgischer Seite in den schwelenden Sezessionskonflikt eingriffen und ihn erneut gewaltsam eskalieren ließen (Blandy 2002: 13-15). Diese militärische Aktion wurde weithin dem Innenminister angelastet, der sie durch logistische Unterstützung erst möglich gemacht und dabei eigene politische Ziele verfolgt habe.95 Targamadse erklärte in diesem Zusammenhang öffentlich, dass er die bewaffneten Kräfte seines Ministeriums bereithalte, falls die Spannungen in der abchasischen Konfliktzone zunehmen sollten (Darchiashvili 2003b: 10). Darüber hinaus konkurrierte Targamadse mit anderen Ministern um Kompetenzen und wirtschaftlichen Einfluss. So geriet das Innenministerium in Gegensatz zum Ministerium für Staatssicherheit, das 1993 aus dem georgischen KGB hervorgegangen und u.a. mit der Bekämpfung von Terrorismus und Wirtschaftskriminalität beauftragt war (Larsson 2003: 16). Beide Ministerien begannen Mitte der 1990er Jahre um die Kontrolle wirtschaftlich bedeutsamer Bereiche, insbesondere den lukrativen Zigarettenmarkt zu konkurrieren (s.u. 2.2.4). Als ein 1995 erfolgtes Attentat auf Schewardnadse Angehörigen des Sicherheitsministeriums zur Last gelegt wurde, setzte dessen relative Entmachtung ein und es geriet unter die Kontrolle des Innenministeriums (Aves 1996b: 12, 21f). Das Ministerium für Staatssicherheit wurde von Polizeibeamten infiltriert (Kupatadze
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 94 95
Aphrasidze (2004: 42); Gordadzé (2003a: 210f); Kupatadze et al. (2007: 94). Darchiashvili (2003: 12 und 12 Anm. 1); Gordadzé (2003a: 211f); Kupatadze et al. (2007: 94); RFE/RL Newsline Transcaucasia and Central Asia 26.9.2001 „Have Chechen Militants Infiltrated Abkhazia?“; RFE/RL Caucasus Report 12.10. 2001, Vol. 4/No. 34 „Who Attacked Abkhazia, And Why?“; RFE/RL Newsline Transcaucasia and Central Asia 28.2.2003, Vol. 7/No. 39 „Did Former Georgian Interior Minister Help Chechen Warlord?“; Interview: G2, G7, G58, G59.
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Der Staat in Albanien und Georgien
et al. 2005: 6), die dort zu arbeiten begannen und entwickelte sich zu einer Art „inoffiziellen Zweigstelle des Innenministeriums“ (Darchiashvili 2003b: 11). Dagegen verlor das Innenministerium Anfang 2000 eine Auseinandersetzung mit dem Justizministerium, das zu diesem Zeitpunkt von dem erklärten Gegner Targamadses und Reformpolitiker, Michail Saakaschwili, geführt wurde. Saakaschwili war es gelungen die Übertragung des Gefängnissystems mit seinen zahlreichen Möglichkeiten der Bereicherung (s.u. 2.2.3) vom Innen- an das Justizministerium durchzusetzen. Dieser Vorgang stellte denn auch nicht einfach einen Verwaltungsvorgang dar, sondern einen politischen Coup, weil dem Innenminister damit eine zentrale Quelle ökonomischen Kapitals entzogen wurde (Wheatley 2005: 125; Gordadzé 2003a: 226). Aufgrund der mangelnden Trennung zwischen der politischen und administrativen Leitung war der Innenminister zugleich ein hochrangiger Polizeibeamter und damit direkt in die bürokratischen Abläufe des Apparates eingebunden. Er traf sich regelmäßig zu Lagebesprechungen mit den Polizeichefs, besuchte lokale Polizeiämter und verfügte aufgrund des zentralisierten Systems über eine weit reichende Ernennungsmacht. Der Minister war dabei auch direkt mit operativen Tätigkeiten befasst. Er verhandelte persönlich mit Geiselnehmern, untersuchte wichtige Kriminalfälle, inspizierte Kontrollposten und war bei Polizeioperationen selbst an der Planung und Durchführung vor Ort beteiligt.96 Der Minister stand formell an der Spitze der Polizeihierarchie. Als langjähriger und hoch dekorierter Beamter mit dem Grad eines Polizeigenerals verfügte er über ein hohes Maß an kulturellem Kapital (Kruniü/Siradze 2005: 20). Seine Position im bürokratischen Feld war jedoch nicht in erster Linie hiervon abhängig, sondern basierte vor allem auf der Verfügung über soziales und ökonomisches Kapital. Als oberster Patron stand der Minister an der Spitze vertikaler klientelistischer Netzwerke und einer auf distributiven Ketten beruhenden informellen Einkommenshierarchie. Der Minister praktizierte die Ämterpatronage, profitierte von dem Verkauf polizeilicher Posten, protektionierte die illegale Aneignung im großen Stil und betrieb eine profitable Kommerzialisierung des Innenministeriums. Er personalisierte die Polizei damit von oben. Diese Patrimonialisierung ging indes
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 96
RFE/RL News and Features on Georgia, October 1999 „Georgia: Hostage-Takers Want Security Guarantees“; RFE/RL Newsline Transcaucasia and Central Asia 18.10.2001 „Georgian Criminal Kingpin Killed By Outhouse Mine“; RFE/RL Newsline Transcaucasia and Central Asia 17.1.2002, Vol. 6/No. 11 „Georgia Launches Crackdown in Pankisi Gorge“; RFE/RL Newsline Transcaucasia and Central Asia 26.8.2002, Vol. 6/No. 160 „Georgian Police Launch Antiterrorism Operation in Pankisi“; RFE/RL Newsline Transcaucasia and Central Asia 10.9.2003, Vol. 7/No. 172 „Georgian Security Operation Launched in Crime-Riddled Region“; Interview: G8.
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nicht nur vom Minister aus, sondern entwickelte sich als allgemeine Praxis auf allen Ebenen des Apparates. Die georgische Polizei war wenig beliebt. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde sie in erster Linie nicht als Garant der Ordnung und Sicherheit betrachtet, sondern eher als bedrohliche, mit Ermittlungs- und Gewaltkompetenz ausgestattete, vornehmlich private ökonomische Interessen verfolgende Macht. Einer Umfrage aus dem Jahr 1997 zufolge glaubten nur 2 Prozent der Befragten bei einer Polizeiuntersuchung gute Chancen auf ein faires und gerechtes Verfahren zu haben (Hanf/Nodia 2000: 104f). Die Polizei galt als eine der korruptesten georgischen Institutionen, die besonders häufig von Haushalten und Firmen bestochen wurde.97
2.2.2
Der Markt der Polizeiämter
Die Rekrutierung in die Polizei und die Entwicklung der weiteren Laufbahn im Apparat war insgesamt von einer geringen Bedeutung formalisierter Strukturen gekennzeichnet. Dabei spielten auch meritokratische Prinzipien nur eine untergeordnete Rolle. Eine Polizeikarriere war von anderen Faktoren abhängig. Ermöglicht wurde dies u.a. durch noch aus der sozialistischen Zeit stammende Verfahren. Wie viele andere Bereiche der Polizeiarbeit blieb auch das System der Ausbildung und Beförderung weitgehend unreformiert und alten sowjetischen Standards verhaftet, wonach weniger eine fachliche Qualifizierung als die politische Zuverlässigkeit für die Besetzung einer Polizeiposition ausschlaggebend war (vgl. Shelley 1996: 83ff). Die damit verbundenen intransparenten Rekrutierungs- und Beförderungsregeln waren das Einfallstor für diverse patrimoniale Praktiken, mit denen alle Akteure im polizeilichen Feld versuchten ihre Position zu verbessern. Klientelistische Beziehungen und der Kauf von polizeilichen Positionen entwickelten sich zu einem bestimmenden Faktor für das berufliche Avancement der Beamten. Zwar besaß das Prinzip der Laufbahn und die Hierarchie der Ränge weiterhin Gültigkeit und hohe Auszeichnungen galten als erstrebenswertes Ziel einer Polizeikarriere (Gordadzé 2003a: 218f; Aphrasidze 2004: 44). Auch verfügten die meisten Polizisten als altgediente Mitarbeiter über eine langjährige Berufserfahrung. Jedoch ging die Bedeutung dieses betrieblichen Dienstwissens wie auch die des durch Schulung erworbenen Fachwissens für eine Polizeikarriere zurück. Beide Sorten kulturellen Kapitals verloren gegen-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 97
World Bank (2000: 5-9); GORBI (2003: 8, 12).
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Der Staat in Albanien und Georgien
über der wachsenden Bedeutung sozialen und ökonomischen Kapitals für das Fortkommen im polizeilichen Feld relativ an Wert. Der Zugang zur Polizei erfolgte im Wesentlichen über die Polizeiakademie. Vormalig Bestandteil des sowjetischen Milizschulsystems, wurde die Polizeiakademie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in eine nationale Institution umgewandelt. Während der innergeorgischen Kriege zwischen 1991 und 1993 faktisch geschlossen, operierte die Akademie danach auf einem prekären Ausstattungsniveau weiter. Nach dem überkommenen System bot die Akademie weiterhin faktisch eine juristische Ausbildung an, wobei u.a. Kriminologie und Strafrecht gelehrt wurden und Abgänger am Ende einer vierjährigen Ausbildung einen Juraabschluss erhielten (Izoria 2005: 234; Glonti 2005: 1072). Die Akademie war ein Bestandteil des georgischen Hochschulsystems und vermittelte nur wenige spezielle polizeiliche Kenntnisse. Ihre Abgänger traten daher auch nicht notwendig im Anschluss den Polizeidienst an, während umgekehrt der Zugang zur Polizei auch über andere juristische Ausbildungsstätten möglich war. Wie alle georgischen Ausbildungsinstitutionen arbeitete auch die Polizeiakademie mit stark begrenzten materiellen Ressourcen. Geringe Gehälter für das Lehrpersonal, Mangel an technischem Equipment, überholte Lehrmethoden und veraltete Textbücher auf Russisch, die jüngere Studierende bereits nicht mehr zu lesen vermochten, kennzeichneten die Ausbildungssituation an der Akademie.98 Und wie alle georgischen Ausbildungsinstitutionen war auch die Polizeiakademie notorisch korrupt. Bereits für die Zulassung zur Akademie waren unabhängig von der Qualifikation eines Bewerbers persönliche Verbindungen und Bestechungen notwendig. Gelang die Aufnahme in die Akademie, so waren jedes Jahr weitere Zahlungen fällig, um alle Prüfungen einschließlich des Abschlussexamens zu bestehen.99 Ebenso wenig wie die Ausbildung erfolgte die anschließende Aufnahme in die Polizei einem formal regulierten Verfahren. Für den Polizeidienst galt dabei dasselbe wie für die gesamte öffentliche Verwaltung in Georgien, nämlich dass sich ihr gesetzlicher Rahmen zwar verändert hatte, er jedoch faktisch nicht implemetiert wurde und die bürokratische Praxis weiterhin auf sowjetischen Normen basierte (GFSIS 2002: 23f). Für den Staatsdienst existierten keine klaren
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 98
99
Interview: G3, G10, G11. Vgl. Meuller/delMistro (2005: 15) sowie Waters (2004: 72ff, 78), der sich allerdings nicht direkt auf die Polizeiakademie bezieht, sondern allgemein auf die juristische Ausbildung. Kupatadze et al. (2007: 100); Interview: G3, G5, G6, G10, G13, G22, G55. Vgl. allgemein zur Korruption in den georgischen Hochschulen Rostiashvili (2004); RFE/RL News and Features on Georgia, November 2002 „Georgia: Clock Is Ticking As Higher Education Eaten Away By Corruption“ sowie zur juristischen Ausbildung im Besonderen Waters (2004: 74ff).
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Beschreibungen von Kompetenzbereichen oder explizite Anforderungen an die Qualifizierung des Personals. Weder waren klare Kriterien zur Anstellung und Beförderung bekannt noch gab es eine Evaluation der Leistung oder eine Absicherung gegen die Willkür von Vorgesetzten (ebd. 24f; Gurgenidze 1999: 12, 33). Dementsprechend häufig erfolgte eine Rekrutierung in die öffentliche Verwaltung ohne Auswahlverfahren (Gurgenidze 1999: 11, 34; OECD 2005b: 43). Die gleichen Bedingungen galten im Wesentlichen für die Polizei. So wurde die Arbeit der Polizei ebenso durch das Polizeigesetz von 1993 wie durch etablierte sowjetische Prozeduren reguliert (Meuller/delMistro 2005: 8ff). Das Verfahren der Rekrutierung orientierte sich dabei weitgehend an der alten sowjetischen Praxis. Freie Stellen wurden weder formal angezeigt noch gab es eine Standardform der Bewerbung oder eine offizielle schriftliche Liste von Dokumenten, die Kandidaten für eine Auswahl vorzulegen hatten. Es lag daher wesentlich in der Hand des jeweiligen Polizeichefs, einen geeigneten Kandidaten zu finden und auszuwählen (ebd. 8-10).100 Das war das Einfallstor für die Praktiken des Klientelismus und den klassisch patrimonialen Kauf und Verkauf von Ämtern. Über Beziehungen und gezielte Bestechungen wurde Einfluss auf die Anstellung, Versetzung und Beförderung genommen. Die Besetzung lukrativer und käuflich erwerbbarer Positionen war dabei von besonderen Arrangements abhängig. Ehemalige Kollegen, Verwandte oder Freunde traten als Intermediäre oder Patrone auf und brachten einen ihnen nahe stehenden Kandidaten ins Spiel, für dessen Vertrauenswürdigkeit und Loyalität sie garantierten. Zugleich galt es eine entsprechende Summe aufzubieten und an diejenige Person zu entrichten, welche die betreffende Position kontrollierte und über ihre Besetzung entschied. Die Preise für Polizeifunktionen, in der Regel eine vier- bis fünfstellige Summe in US-Dollar, richteten sich vor allem nach den zu erwartenden Bestechungssummen, mit denen auf einer Polizeiposition zu rechnen war. Diese wiederum ergaben sich aus der jeweiligen Polizeiabteilung, dem Dienstort und dem Postenrang in der bürokratischen Hierarchie. Aber auch die fachlichen Qualifizierungen des Interessenten und seine persönlichen Beziehungen zum Verkäufer beeinflussten den Preis eines Amtes. Zu den lukrativen Bereichen der Polizei gehörten insbesondere die Verkehrspolizei, die für Pass- und Meldeangelegenheiten zuständigen Abteilungen oder die Abteilungen für die Bekämpfung des Drogenhandels und der Wirtschaftskriminalität. Hier galt: „Not who you are but where you are matters“.101
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 100 Interview: G5, G10, G11. 101 Interview: G3.
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Der Staat in Albanien und Georgien
Je lukrativer die Position, desto mehr war soziales Kapital in Form von Verbindungen zu einem hochrangigen Polizeibeamten und ökonomisches Kapital für den Erwerb der Position vonnöten. Die Praxis des Ämterkaufs hatte sich soweit verallgemeinert, dass sich ein regelrechter Markt für Polizeifunktionen etabliert hatte, erkennbar an dem Wissen in der Polizei und der Bevölkerung um die Käuflichkeit, ungefähren Preise und ökonomischen Vorteile einzelner Polizeipositionen.102 Diese Käuflichkeit blieb jedoch immer abhängig von personalen Netzwerken und sozialem Kapital. Gute Beziehungen, Vertrauen und persönliche Verlässlichkeit waren gegebenenfalls wichtiger als Geld. Der Kauf einer Position im bürokratischen Feld stellte grundsätzlich eine riskante ökonomische Investition dar. Sie zahlte sich nur durch spätere illegale Einnahmen wieder aus und war zugleich von einer gewissen Verweildauer im Apparat abhängig, die trotz Patronage und der durch den Kauf erworbenen Ansprüche auf Bestechungsgelder nicht garantiert war. Wurde eine Position erworben, so entstand der Zwang durch illegale Aneignung möglichst schnell Gewinne zu erzielen, um die ursprüngliche Investition wieder herauszubekommen. Darüber hinaus entstanden jedoch auch weitere finanzielle Zwänge. Denn der Kauf einer Position ging mit der Einbindung in ein System der Distribution einher, aus dem fortlaufende Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Vorgesetzten erwuchsen. Auf einer mittleren Position im Polizeiapparat ergab sich diesbezüglich in etwa folgendes Arrangement: Der Leiter eines Polizeibezirks, der seine Position käuflich erworben hatte, verstand sich nicht nur als Beamter sondern auch als Unternehmer, der mit seinem eingesetzten venture capital zügig versuchte, Gewinne zu erzielen und zugleich laufenden finanziellen Verpflichtungen gegenüber seinen Vorgesetzten nachzukommen hatte. Das entsprechende Kapital galt es durch die Erwerbsmöglichkeiten zu gewinnen, die sich in dem Bezirk boten. Vorgesetzte oder ehemalige Stelleninhaber instruierten zunächst über die mögliche Höhe illegaler Einnahmen, die sich beispielsweise durch die informelle Besteuerung des vorhandenen Gewerbes oder Straßenverkehrs erzielen ließen. Darauf legte der Bezirkschef einen bestimmten Betrag fest, den die Beamten seines Bezirks zu erbringen und als geregelte Abgabe wöchentlich an ihn abzuführen hatten. Von der eingebrachten Summe führte der Bezirkschef wiederum einen bestimmten Prozentsatz einmal im Monat an seinen Vorgesetzten ab. Dieses Muster wiederholte sich dann in der Hierarchie der Ämter auf der nächst höheren bzw. darunter liegenden Ebene und sozialisierte Vorgesetzte, Kollegen und Untergebene durch Zwang und Reziprozität in ein System der materiellen Distribu-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 102 Interview: G1, G2, G5 - G9, G12, G25, G29 G30, G37, G53, G55. Vgl. auch World Bank (1998: 4, 2000: 19); Gordadzé (2003a: 218f); Aphrasidze (2004: 44f).
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tion. Das Ergebnis war eine Pyramide, bei der auf den unteren Ebenen ökonomisches Kapital akkumuliert und von da über verschiedene Stufen der behördlichen Hierarchie weiter aufwärts bis zu den Stellvertretern des Ministers und dem Minister selbst kanalisiert wurde. Je höher die Position im Apparat, desto größer der Zufluss ökonomischen Kapitals.103 Diese Pyramide wies durchaus auch Ähnlichkeiten zum feudalen Lehnswesen auf. Beispielhaft hierfür war die Praxis der so genannten „Neujahrsgabe“. Dabei kam den unteren Polizeibehörden im Dezember jeden Jahres die Aufgabe zu, landesweit lokale Spezialitäten in Form von Lebensmitteln und Spirituosen zu sammeln, die dann Ende Dezember per LKW in die Hauptstadt geschickt wurden, wo sie unter der Leitung des Innenministeriums verteilt wurden.104 Die Verpachtung von Polizeiämtern bedingte eine relative Stabilität des Apparates. Neue Minister und Polizeichefs praktizierten zwar die Verteilung von Ämtern an ihre eigenen Klienten, woraus Verschiebungen in den hohen und mittleren Positionen der Polizei resultierten. Das Ausmaß personeller Veränderungen hielt sich jedoch in Grenzen. Groß angelegte Säuberungen und Entlassungen blieben eher die Ausnahme. Denn der Ämterkauf und der damit erworbene legitime Anspruch auf ökonomische Chancen begünstigte eine Praxis der Akkommodation, bei der den Beamten die weitere Verwendung im Polizeiapparat und damit die Chance auf dauerhafte Einbindung in Verteilungskoalitionen häufig gesichert war. Daher hing die Kontinuität in einer käuflich erworbenen Position nicht ausschließlich von der dauerhaften Patronage durch die Person ab, die ursprünglich bezahlt worden war oder die Ernennung verfügt hatte. Die Klienten überdauerten in ihren Positionen den Weggang ihres Patrons und gingen neue Patronagebeziehungen ein. Ein neuer Polizeidirektor „respektierte alte Verträge“ wie es ein Mitarbeiter des Innenministeriums ausdrückte.105 Auch einzelne „ernsthaft kompromittierte“ Mitarbeiter, deren Fehlverhalten nicht mehr zu verschleiern war und die die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen und damit zum Problem für den Vorgesetzten wurden, mussten nicht notwendig die Polizei verlassen. Polizeibeamte wurden gegebenenfalls in die Reserve der Personalabteilung verschoben (Kupatadze et al. 2005: 23) und von da aus später in andere Abteilungen versetzt.106 Damit verbunden war auch eine weitgehende strafrechtliche Immunität der Polizeibeamten. Weniger als 15 Prozent der formalen Beschwerden über polizeiliches Missverhalten führten zu Strafverfahren und nur wenige Beamte wurden dort wiederum verurteilt (Stefes 2006: 134). Über
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 103 104 105 106
Interview: G1 – G6, G8, G14, G22, G23, G33, G52, G62. Interview: G2. Interview: G4. Interview: G1 – G6, G8, G12, G14 – G16, G51, G53, G55, G56.
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Der Staat in Albanien und Georgien
einen Zeitraum von zehn Jahren, von 1994 bis 2003, sind nach einer Statistik der Generalinspektion des Innenministeriums nur 1.586 Polizeibeamte aus dem Dienst entlassen worden.107 Das entsprach gemessen an den unterschiedlichen Angaben über die Gesamtstärke der Polizei je nach dem etwa 3-5 Prozent des Gesamtpersonals. Die Stabilität und das kontinuierliche Wachstum des Polizeipersonals waren zumindest zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Aneignung der Ämter dauerhafte Bindungen schuf und gleichzeitig fortwährend neue Interessenten anzog, deren Aufnahme in den Dienst gegen Bezahlung vor allem den Profiterwartungen höherer Polizeibeamter zu verdanken war.
2.2.3
Der Gendarm als Räuber
Das System des Ämterkaufs hatte diverse Strategien der Bereicherung zur Folge. Mit ihm gewannen informelle und kriminelle Praktiken der Aneignung eine zunehmende Bedeutung für die Ökonomie der Polizei. Sie waren jedoch zugleich auch eine Reaktion auf wachsende Budgetrestriktionen, die den regulären Haushalt der Polizei betrafen. Wie für alle Ministerien hatte die permanente Haushaltskrise und das geringe Steueraufkommen des georgischen Staates auch für das Innenministerium Konsequenzen. Zum Ausdruck kam das in der fortlaufenden Diskrepanz zwischen dem geplanten und faktisch ausgeführten Budget. Dies zeigt ein Blick auf den Haushalt für Öffentliche Ordnung und Sicherheit, der sich überwiegend aus dem Etat des Innenministeriums und der Polizei zusammensetzte. Tabelle 11: Georgisches Budget für Öffentliche Ordnung und Sicherheit in 108 Millionen GEL ȱ
1998
1999
2000
2001
2002
geplant:
79,9
91,1
95,6
87,5
91,7
ausgeführt: 65,9
75,7
63,9
80,4
80,4ȱ
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 107 Statistics of the General Inspection (1994-2004), Ministry of Interior, Tbilisi. 108 Quelle: Parliament Budget Office (2002: 11); World Bank (2002: 35); UNDP (1999: 38); UNDP (2000: 79f); GEPLAC (2003: 21). Die Planziffern stellen zum Teil bereits nach unten korrigierte Größen dar und sind Kürzungen von ursprünglich größer angesetzten Etats. 1 Georgischer Lari (GEL) entsprach etwa 0,5 Euro.
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Über einen Zeitraum von fünf Jahren blieb die Bereitstellung der vorgesehenen Mittel durchschnittlich um fast 20 Prozent hinter den Planvorgaben zurück. Dies stellte jedoch nur einen Teil der Budgetrestriktionen dar. Denn von den letztendlich ausgeführten Etats eigneten sich wiederum einen Teil die Beamten der höheren Ränge an, um ihre Investitionen für den Kauf ihrer Positionen wieder herauszubekommen.109 Beides zusammengenommen hatte erhebliche Einschnitte bei den ohnehin sehr knapp bemessenen Gehältern und der technischen Ausstattung zur Folge. Bis 2004 belief sich das durchschnittliche Gehalt eines einfachen Polizeibeamten auf umgerechnet etwa 70-90 GEL110 und lag damit bereits unterhalb des offiziellen Existenzminimums von etwa 125 GEL (State Department for Statistics 2003: 26). Aufgrund der laufenden Etatkürzungen und Praktiken der Aneignung wurde jedoch selbst dieses geringe Gehalt nur unregelmäßig ausgezahlt. Mitte 2000 befand sich das Innenministerium mit einem Wert von 13 Monatsgehältern im Zahlungsrückstand (EIU 2000a: 14). Die Gehalts- und Rentenzahlungen des Innenministeriums verspäteten sich bis zu einem Jahr oder blieben gänzlich aus, was zu öffentlichen Protesten des Personals und im Ruhestand befindlicher Polizisten führte.111 Weil auch die Etats für Ausrüstungen häufig in dunklen Kanälen verschwanden, war die Polizei zugleich von einer katastrophalen Ausstattung der Büros, des Fuhrparks, der Polizeiakademie und anderer Bereiche gekennzeichnet. Die mangelnde Versorgung hatte zur Konsequenz, dass die Bediensteten häufig selbst für Uniformen, Bürobedarf, Autoersatzteile oder Benzin aufzukommen hatten und die laufenden Verwaltungskosten aus eigener Tasche bezahlten.112 In Verbindung mit den Praktiken des Ämterkaufs ergab sich daraus die klassisch patrimoniale Konstellation, wonach durch die Veräußerung staatlicher Ämter auch die Kosten für den Unterhalt und die Ausrüstung der Beamten auf die Amtsträger selbst abgewälzt wurden, die diese Ausgaben aus den offiziellen und inoffiziellen Einnahmen ihrer Amtstätigkeit bestritten. Die chronische Unterfinanzierung des Apparates und der daraus resultierende Mangel an Verwaltungsmitteln sowie gleichzeitig die aus dem Ämterkauf erwachsenden Erwerbszwänge bedingten diverse Formen der Selbstfinanzierung. Von der Erpressung
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 109 Interview: G2, G4, G9, G14. 110 Aphrasidze (2004: 43); Izoria (2005: 240); Kupatadze et al. (2007: 95); OECD (2005b: 44). 111 The Georgian Times 14.6.2000, No. 116 (680), S. 1 „Hungry and Angry Pensioners Block the Streets“; RFE/RL Newsline Transcaucasia and Central Asia 11.9.2000 „Pensioned Georgian Police Officers Plan Mass Protests“; RFE/RL Newsline Transcaucasia and Central Asia 20.2.2001 „Georgian Interior Ministry Forces Stage Protest To Demand Wage Arrears“; The Georgian Times 26.7.2001, No. 144 (964) „Pensioners Demand Money“, S. 3. 112 Interview: G8 – G11, G16, G18 – G21, G23 – G32, G34 – G42.
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Der Staat in Albanien und Georgien
Kleinkrimineller über die informelle Besteuerung von Straßenhändlern und Autofahrern bis zur Beteiligung an dem Schmuggel- und Entführungsgeschäft krimineller Gruppen nutzte die Polizei alle sich bietenden Opportunitäten aus, um ökonomisches Kapital zu akkumulieren. Mit ihrer stetigen Präsenz auf Straßen und Märkten, wo sie ihre Kontrollfunktion zur Generierung von Bestechungsgeldern nutzte und ihrer Verflechtung mit kriminellen Akteuren entwickelte sich die Polizei schließlich selbst zu einem gut organisierten Räuber.113 Eine wesentliche Einnahmequelle der Polizei stellte die kriminelle Szene dar. Grundsätzlich konnte die Polizei von allen Delikten profitieren, indem sie eine Anzeige und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Bezahlung fallen ließ. Das galt für die ganze Palette möglicher Vergehen, von kleinkriminellen Delikten wie unerlaubtem Waffenbesitz, Diebstahl oder Vandalismus bis hin zu bewaffnetem Raubüberfall und vorsätzlichem Mord (Gordadzé 2003a: 222f). Dabei kam es der Polizei zugute, dass nicht nur die Staatsanwaltschaft, sondern auch praktisch jede Polizeidienststelle Anklage vor Gericht erheben konnte und daher über ein entsprechendes Drohpotential verfügte. Die diesbezüglichen polizeilichen Praktiken lassen sich am Beispiel des Umgangs mit Rauschgiftdelikten verdeutlichen. Erwischte die Polizei eine Person beim Drogengebrauch, so drohte nicht nur ein Strafverfahren, sondern auch eine Registrierung als Drogenkonsument und damit eine fortgesetzte Beobachtung durch die Polizei. Beides ließ sich gegen die Zahlung eines Bestechungsgeldes abwenden. Dabei verfolgte die Polizei vorzugsweise Angehörige gut situierter Schichten, die aufgrund ihres Rufes eine solche offizielle Registrierung auf jeden Fall vermeiden wollten und die in der Lage waren, eine entsprechend hohe Auslösesumme zu zahlen. Waren Drogenkonsumenten nicht in der Lage sich direkt freizukaufen, dann gerieten sie dauerhaft ins Visier der Polizei und wurden regelmäßig von ihr aufgesucht und erpresst. Dabei wurde die lokale Drogenszene von der Polizei nicht nur besteuert, sondern zu ökonomischen Zwecken auch gefördert. Dazu gehörte, dass Polizeibeamte selbst inkognito Rauschgift an Süchtige verkauften, um danach ihre Kollegen über die Käufer zu informieren, die dann von der Polizei aufgesucht und um Bestechungsgelder erpresst wurden. Nicht zahlungsfähige User rekrutierte man als Informanten, die von der Polizei mit Drogen versorgt wurden und dafür Hinweise auf andere User lieferten, welche die Polizei dann wiederum aufsuchte und erpresste. Ebenso kooperierte die Polizei mit Drogendealern, die von der Polizei toleriert wurden, dafür einen Teil ihrer Profite an die Polizei abführten und zugleich Informationen über ihre Klienten weitergaben, die dann ebenfalls von der Polizei auf Drogen hin kontrolliert und
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 113 Interview: G35, G52.
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erpresst wurden.114 Im Ergebnis galt die Abteilung des Kampfes gegen die Drogenkriminalität als der größte Drogenhändler. Wenn keine Delikte vorlagen, von denen die Polizei profitieren konnte, wurden gegebenenfalls welche erfunden. So gehörte es u.a. zur polizeilichen Routine bei Fahrzeug- oder Personenkontrollen Drogen in die Taschen untersuchter Personen zu platzieren und so ein Suchtmitteldelikt zu fabrizieren. Daher galt bei Jugendlichen die Regel, sich niemals von der Polizei die eigenen Taschen durchsuchen zu lassen, sondern sie immer gleich selbst nach außen zu kehren (Gordadzé 2003a: 222, Anm. 41).115 Das von allen Polizeieinheiten leidlich genutzte Recht, Rauschgiftkontrollen durchzuführen, musste schließlich per Ministerdekret auf lediglich eine spezialisierte Abteilung eingeschränkt werden.116 Zu der gezielten Suche oder Fabrikation von Delikten gehörte es auch, bei Verhören in Polizeigewahrsam Geständnisse von tatsächlichen oder vermeintlichen Vergehen mit Gewalt zu erzwingen, um dann Bestechungsgelder für eine Einstellung des Verfahrens zu erpressen.117 Diese proaktive Form der Verbrechensbekämpfung lief auf eine Kriminalisierung breiter Bevölkerungskreise hinaus. „Police looked at all people like potential criminals“, wie es ein ehemaliger stellvertretender Minister des Sicherheitsministeriums ausdrückte.118 Der Freikauf aus einem Ermittlungsverfahren unterlag bestimmten Regeln und folgte einem abgestuften Preissystem (Gordadzé 2003a: 222). Eine direkt noch am Tatort erfolgte Einigung mit der Polizeistreife, kein Vergehen festzustellen und gleich beglichene Zahlungsforderungen, stellten in der Regel den günstigsten Fall dar. Konnte der Fall nicht gleich geregelt werden und folgte der Gang aufs Kommissariat, so verteuerte sich die Angelegenheit durch die Einbeziehung von Vorgesetzten oder Kommissariatschefs, die an dem Erlös des Falls zu beteiligen waren. Folgte die formale Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens, so bedeutete dies generell die Einbeziehung weiterer Akteure mit ökonomischen
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 114 IWPR Caucasus Report CRS No. 130, 23.5.2002, „Police Collude in Georgian Drug Trade“; IWPR Caucasus Report CRS No. 95, 24.8.2001 „Traffic Control“; EurasiaNet, Georgia Daily Digest, 25.6.2002 „TV accuses Georgian drug agency chief of dealing and extortion“; Interview: G4 – G6, G8, G46, G47, G53. 115 IWPR CRS No. 130, 23.5.2002, „Police Collude in Georgian Drug Trade“; Interview: G53, G58, G59, G62. 116 Civil Georgia 6.2.2002 „Interior Minister Restricts Police Rights“. 117 Civil Georgia 22.7.2002 „Primary Detention Breeds Human Rights Abuse“.Vgl. GCRT/Anchor Consulting (2004: 12); Civil Georgia 31.12.2001 „Human Rights Violations Persist in Preliminary Detention“, Liberty Institute (2004: 5-28), die Country Reports on Human Rights Practicies (1999ff) des US Department of State (im Internet unter <www.state.gov>) sowie die Annual Reports On Human Rights Violations (1999ff) der International Helsinki Federation for Human Rights (im Internet unter <www.ihf-hr.org>). 118 Interview: G5
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Interessen wie beispielsweise die Pflichtverteidiger, die meistens wiederum ehemalige Mitarbeiter der Polizei waren oder ihr nahe standen (Waters 2004: 67). Je mehr Polizeibeamte und Abteilungen mit dem Vorgang befasst waren, desto höher stiegen die Kosten für eine Einstellung des Verfahrens. Der Preis hierfür hing darüber hinaus von dem jeweils konkreten Fall ab. Er variierte je nach der Schwere der Tat und ihren genauen Umständen, dem Verhalten möglicher Tatopfer, dem Ort der Tat, dem Vorsatz des Verbrechens und den jeweiligen Beziehungen des Täters zu möglicherweise einflussreichen Freunden, die sich für den Delinquenten einsetzten.119 Konnte eine Verurteilung und Haft nicht mehr abgewendet werden, so profitierte die Polizei über die Verwaltung der Gefängnisse auch vom gesamten Strafvollzug, dessen einzelne Elemente wie Haftdauer, Haftbedingungen oder Bewährungsauflagen ebenfalls grundsätzlich verhandelbar blieben. Zahlreiche Hafterleichterungen wie die Bereitstellung von Einzelzellen, Möbeln, Mobiltelefonen, Alkohol, Drogen, Zugang zu Prostituierten oder zeitweiliger Freigang stellten eine lukrative Einkommensquelle für die Polizei dar (Gordadzé 2003a: 225f).120 Nicht zuletzt profitierte die Gefängnisverwaltung vom organisierten Drogenhandel im Gefängnis (Wheatley 2005: 125, Anm. 67). Das gesamte Strafverfahren, von der Feststellung eines Vergehens bis zu den Bewährungsauflagen, eröffnete der Polizei zahlreiche Möglichkeiten der Bereicherung. Das Innenministerium hatte sich daher auch Änderungen der Strafprozessordnung widersetzt, die mehr Rechte für Inhaftierte in der Untersuchungshaft vorsahen, weil damit die Möglichkeiten zur Erpressung von Häftlingen eingeschränkt wurden. Nach der Verabschiedung der Strafprozessordnung gelang es dem Innenministerium etwa 250 Zusätze durchzubringen und sie damit im Ergebnis weitgehend zu verwässern (Wheatley 2005: 125 u. Anm. 65). Ebenso opponierte das Innenministerium offen gegen die Übertragung der Gefängnisverwaltung an das Justizministerium, weil ihm damit eine lukrative Einkommensquelle verloren ging (ebd. 125 u. Anm. 67; Darchiashvili 2004: 109). Nachdem diese Übergabe schließlich Anfang 2000 durchgesetzt wurde, kam es zu mehreren spektakulären Gefängnisausbrüchen, die weithin auf die aktive Unterstützung des Innenministeriums zurückgeführt wurden, mit dem Ziel, das Justiz-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 119 Interview: G2, G5, G8, G45, G47, G48, G53. 120 Die Gewährung dieser Vergünstigungen war zugleich Zugeständnis an eine kriminelle Prestigehierarchie, wonach den so genannten „Dieben im Gesetz“ (Glonti/Lobjanidze 2004) traditionell eine Führungsrolle in den Gefängnissen zukam und sie damit auch einen legitimen Anspruch auf Privilegien hatten (ebd. 45; Human Rights Watch 2006: 10f). Interview: G8, G48.
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ministerium zu diskreditieren und die Kontrolle über die Gefängnisse zurückzuerlangen.121 Einen weiteren überaus lukrativen Bereich stellte die Verkehrspolizei dar. Sie galt allgemein als der korrupteste Teil der Polizei (World Bank 2000: 5-7). Von 22 staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen rangierte die Verkehrspolizei hinsichtlich Integrität und Ehrlichkeit in der Wahrnehmung von öffentlichen Angestellten, Firmen und Haushalten auf dem letzten Platz (ebd. 7). Die Verkehrspolizei trat vor allem durch mobile Posten oder Straßensperren in Erscheinung, mit denen sie sich an den Ausfallstraßen der Hauptstadt, auf den Landstraßen und Autobahnen oder an belebten innerstädtischen Kreuzungen positionierte. An diesen Punkten stoppte die Polizei kontinuierlich Autos, um aus tatsächlichen und fabrizierten Verkehrsdelikten Kapital zu schlagen. Hierzu zählten etwa das Überfahren kaum sichtbarer Linien, vermeintliche und tatsächliche Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Fahrzeugmängel sowie das Fehlen zahlreicher formal erforderlicher Dokumente wie Fahrtenbücher oder Gesundheitsbescheinigungen (Gordadzé 2003a: 227). Hatte die Polizei einen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung festgestellt, so wurde in der Regel auf einen förmlichen Strafzettel zugunsten eines verbilligten nicht-registrierten Bußgeldes verzichtet (Papuashvili 2003). Dabei etablierte sich ein System abgestufter Preise, je nachdem ob mobile Posten oder größere Straßensperren passiert wurden, ob es sich um private PKW, Taxis, Minibusse oder beladene LKW handelte sowie je nach Art und Menge der Ladung. Neben diesen ad-hoc-Zahlungen entwickelten sich auch institutionalisierte Arrangements wie z.B. mit den Fahrern der Minibuslinien, den so genannten „Marschrutkas“. Alle Fahrer dieser Linien unterlagen einer regelmäßigen Besteuerung durch die Verkehrspolizei, bei der die Minibusfahrer von sich aus täglich oder mehrmals pro Woche routinemäßig bei bestimmten Posten der Verkehrspolizei anhielten und dort eine festgelegte Gebühr entrichteten.122 Mit ihren zahlreichen mobilen Posten und Straßensperren, die das ganze Land überzogen, glich die Verkehrspolizei eher einem gut organisierten, von Wegezöllen lebenden Straßenräuber, für den sich denn auch verschiedene Bezeichnungen wie „Banditen in Uniform“ oder „hungrige Hunde“ etablierten (Gordadzé 2003a: 226f).
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 121 The Georgian Times 4.10.2000, No. 195 (759) „Massive Escape From Prison Hospital Caused Fear of Plot, Destabilization and Repression“, S. 2; The Georgian Times 15.11.2000, No. 225 (789), „Prisoners Escape from Rustavi Prison“, S. 4; The Georgian Messenger 16.6.2003, No. 110 (0386) „Criminal situation rages out of control“, S. 3; IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 56, 3.11.2000 „Heads Roll in Georgia’s Justice Ministry“; RFE/RL Caucasus Report Vol. 6, No. 24, 3.7.2003 „Jail Breaks May Speed Georgian Justice Minister’s Dismissal“. 122 Papuashvili (2003); Interview: G3, G5, G8, G11, G49, G50, G52, G53, G62.
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Der Staat in Albanien und Georgien
Die Verkehrspolizei profitierte darüber hinaus von bürokratischen Verfahren und Kontrollvorgängen, die sie gegen Bestechung beschleunigte oder aussetzte. So waren für die Ausgabe von Autokennzeichen oder die Ausstellung von Fahrzeugscheinen und Führerscheinen in der Regel illegale Zuzahlungen notwendig (Papuashvili 2003; Aphrasidze 2004: 46). Weitere Abschöpfungsmöglichkeiten existierten anlässlich der jährlichen obligatorischen Überprüfung aller Fahrzeuge auf technische Verkehrssicherheit und Umweltstandards. Diese Prüfung wurde von privaten so genannten „Diagnostischen Zentren“ durchgeführt, die neben den gesetzlich geregelten Gebühren in der Regel zusätzliche Pauschalen erhoben, von denen sie einen Teil an die Polizei abführten. Nach dieser technischen Prüfung, der Zahlung der Kraftfahrzeugsteuer und der Vorlage einer obligatorischen Versicherung wurde eine entsprechende Bescheinigung ausgestellt, die von der Verkehrspolizei des Bezirks formell zu bestätigen war, um abschließend eine offizielle Plakette zu erhalten. Auch für diesen Vorgang kassierte die Polizei je nach Zustand und Tonnage des Autos noch einmal Trinkgelder.123 Viele Autofahrer verzichteten angesichts dessen auf eine technische Inspektion ihrer Autos und die Zahlung der Kraftfahrzeugsteuer (Unanyants/Svanidze 2004: 46). Die Einnahmen aus dieser Steuer haben sich daher seit 1996 kontinuierlich verringert und erreichten schließlich 2001 und 2002 eine extrem niedrige Stufe, obwohl die Zahl der Autobesitzer im gleichen Zeitraum deutlich zugenommen hatte (ebd.). Die Umgehung der jährlichen technischen Untersuchung und der Kraftfahrzeugsteuer gab der Verkehrspolizei freilich nur wiederum einen neuen Vorwand, bei Fahrzeugkontrollen die entsprechenden Autohalter zu erpressen. Mit ihrem System der Wegezölle und konventionalisierten Trinkgelder stellte die Verkehrspolizei eine zentrale Quelle illegaler Einnahmen dar. Nach einer Schätzung wurden allein 2002 aus den skizzierten Praktiken der Verkehrspolizei etwa 40 Millionen GEL inoffiziell generiert (Papuashvili 2003). Das hätte der Hälfte des offiziellen Staatsbudgets für Öffentliche Ordnung und Sicherheit in diesem Jahr entsprochen (vgl. Tabelle 11). Eine weitere wesentliche Möglichkeit zur Akkumulation ökonomischen Kapitals ergab sich durch die informelle Besteuerung aller Arten von Gewerbe und Dienstleistungen (Gordadzé 2003a: 223-225). Dabei spielte vor allem die Abteilung zur Bekämpfung von Korruption und Wirtschaftskriminalität des Innenministeriums eine Rolle, welche die Nachfolge des früheren sowjetischen OBKhSS angetreten und dessen Kompetenz geerbt hatte, die Geschäftsaktivitäten von Un-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 123 Papuashvili (2003); Kupatadze et al. (2007: 97); Interview: G3 – G5, G52.
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ternehmen zu untersuchen.124 Diese Abteilung hatte das Recht, Produktion und Vertrieb von Firmen zu inspizieren und dabei Lizenzen und Steuerunterlagen zu überprüfen. Sie konnte damit prinzipiell aus allen Irregularitäten Kapital schlagen, die sie gegen Bestechung oder eine Beteiligung am Geschäft duldete oder verschleierte. Weil viele Produzenten und Händler bürokratische Hürden und hohe Steuern umgingen und im informellen Sektor tätig waren, ergaben sich hier für die Polizei auch viele Chancen zur Bereicherung. So profitierte die Polizei ebenso vom grenzüberschreitenden Klein- oder Straßenhandel wie vom Gastronomie- und Transportgewerbe, wo Steuern hinterzogen, geschmuggelte Güter und gefälschte Markenprodukte gehandelt oder Waren ohne Lizenz verkauft wurden.125 Schließlich kooperierte die Polizei auch mit kriminellen Gruppen, deren Geschäfte sie gegen eine Beteiligung an den Gewinnen zuließ und protektionierte.126 Direkte Beziehungen zur kriminellen Welt baute die Polizei u.a. über den Schmuggel zahlreicher Güter sowie über das Entführungsgeschäft auf, bei dem die Angehörigen entführter ausländischer Geschäftsleute oder vermögender Georgier um Lösegeld erpresst wurden.127 Beides gedieh in dem an die Russische Republik Tschetschenien angrenzenden Pankisi-Tal, in der verselbständigten Autonomen Republik Adscharien sowie im Umfeld der sezessionistischen Gebiete Abchasien und Südossetien. Das Pankisi-Tal stellte eine im Nordosten Georgiens liegende ethnische Enklave dar, in der eine tschetschenische Minderheit lebte und die Flüchtlinge und Kämpfer aus dem benachbarten Tschetschenien beherbergte (Rau 2005: 53ff; Blandy 2002). Von 1999 bis 2002 entwickelte sich das Pankisi-Tal zu einem Zentrum des Drogen- und Waffenhandels und der Verschleppung zahlreicher Entführungsopfer. Das Tal wurde von der Polizei zwar als unkontrollierbare kriminelle Enklave dargestellt (Gordadzé 2003a: 220f). Jedoch war sie faktisch, zusammen mit Vertretern des Staatssicherheitsministeriums entweder direkt oder über Intermediäre am dortigen Drogen- und
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 124 Der OBKhSS hatte in der Sowjetunion u.a. Unterschlagung und Fälschung von Planziffern in Betrieben bekämpft (vgl. Clark 1993: 109f). 125 Civil Georgia 13.8.2003, „Red Bridge: Bent Mirror of the Georgian Economy“; IWPR Caucasus Report CRS No. 147, 20.9.2002 „Georgia’s Red Bridge Ordeal“; IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 189, 31.7.2003, „Georgia’s Dodgy Traders“; The Georgian Messenger No. 037 (0061), 25.2.2002 „Problems of Street Vendors in Tbilisi“, S. 3. Interviews: G1, G3 – G6, G8, G56, G58 – G60. 126 Vgl. zu den kriminellen Gruppen in Georgien Glonti/Lobjanidze (2004); Shelley (2007). 127 Zum Schmuggel in Georgien allgemein s.o. Kapitel 2.1 und zum Entführungsgeschäft Glonti (2001: 386); IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 135, 27.6.2002 „Georgian Kidnapping: A Deadly Trend“. Interview: G6.
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Der Staat in Albanien und Georgien
Waffenhandel und Entführungsgeschäft beteiligt.128 Auch in Nähe der de-facto unabhängigen Republiken Abchasien und Südossetien war die Polizei in kriminelle Aktivitäten verwickelt. Diese Gebiete stellten ein Einfallstor für den Schmuggel zahlreicher Güter dar, u.a. von Benzin, Diesel, Zucker, Mehl, Weizen, Alkohol und Zigaretten.129 In diesen Konfliktzonen hatten sich auf der sozialen Basis der verarmten Bevölkerung Netzwerke krimineller Gruppen gebildet, die mit den vor Ort stationierten russischen Friedenstruppen, einflussreichen politischen Akteuren und der georgischen Polizei ein effektives System der Bestechung, Distribution und Patronage etabliert hatten.130 Das Ausmaß der Involvierung der Polizei in den Schmuggel korrelierte mit der geringen Zahl von registrierten Fällen von Zollverstößen seitens der Polizei. So verzeichnete die Abteilung zur Bekämpfung von Korruption und Wirtschaftskriminalität des Innenministeriums beispielsweise für die an die abtrünnige Republik Abchasien angrenzende georgische Region über einen Zeitraum von 4 Jahren, von 2000 bis einschließlich 2003, nur 14 Fälle von Zollverstößen (Kukhianidze 2004: 96). Die entsprechende landesweite Erfassung betrug von 2000 bis einschließlich 2002 insgesamt nur 80 solcher Fälle (ebd.). Eine wichtige Einnahmequelle stellte für die Polizei die Beteiligung am Schmuggel von Zigaretten dar. Diese wurden u.a. im großen Stil durch die Autonome Republik Adscharien verschoben, die im Südosten Georgiens an die Türkei angrenzt. Dabei spielte die in Adscharien registrierte Firma „Omega“ eine zentrale Rolle. Sie hatte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im georgischen Zigarettenmarkt mit Unterstützung des Innenministeriums ein faktisches Marktmonopol erlangt (s.u. 2.2.4). Über diese Firma wurde zugleich der illegale Import von Zigaretten aus der Türkei nach Georgien abgewickelt. Betrieben und protektioniert wurde dieser Handel durch ein Beziehungsnetzwerk zwischen dem Neffen des Präsidenten, Nugzar Schewardnadse, dem Innenminister und dem
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 128 Demetriou (2002: 36-39); Kupatadze et al. (2007: 94); Civil Georgia 19.7.2001 „The Police Cooperates with Criminals in the Pankisi Valley“; Civil Georgia 17.1.2002 „Pankisi Gorge – A Criminal Enclave“; IWPR Caucasus Reporting Service No. 113, 25.1.2002 „Georgia’s Pankisi Dilemma“; EurasiaNet, Eurasia Insight 10.7.2002 „Kidnapping of British Businessman in Georiga Focuses Attention on Law-Enforcement Corruption“; IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 115, 11.2.2002 „Georgia: Pankisi Locals Slam Police Operation“. Interview: G2, G5, G8, G58, G59, G61. 129 Kukhianidze et al. (2004: 31-49); Gotsiridze (2003: 9ff); IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 108, 5.12.2001 „South Ossetia: Single Market Economy“; The Georgian Messenger No. 032 (0308), 18.2.2003 „Separatist Region Damages Georgian Economy“, S. 3. 130 Kukhianidze et al. (2004: 5ff); Aphrasidze (2004: 46); Kupatadze et al. (2007: 95); Freese (2005: 110); IWPR Caucasus Reporting Service CRS No. 108, 5.12.2001 „South Ossetia: Single Market Economy“. Interview: G53, G55.
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lokalen Big Man Aslan Abaschidse, unter dessen Führung sich Adscharien weitgehend verselbständigt hatte.131 Der Betrieb von Omega wurde 2004 von der Staatsanwaltschaft stillgelegt, nachdem auf dem Firmengelände Schmuggelware, Fälschungsutensilien und gefälschte Steuerbanderolen gefunden worden waren.132 Aber auch in anderen Gebieten wie im Umfeld Abchasiens und Südossetiens war die Polizei in den Zigarettenschmuggel verwickelt (Kukhianidze et al. 2004: 15, 23, 39-42). Der verbreitete und von der Polizei tolerierte oder selbst betriebene Zigarettenschmuggel hatte erhebliche Steuerausfälle zur Folge. Nach Schätzungen des Haushaltsbüros des georgischen Parlaments hätte der Staat bei einer vollen Besteuerung des Zigarettenmarktes mindestens 140 Millionen GEL pro Jahr einnehmen sollen (Gotsiridze 2003: 11). Die tatsächlichen Steuereinnahmen lagen jedoch weit darunter (siehe Tabelle 12). Gemessen an den möglichen Einnahmen sind von 1997 bis 2002 durchschnittlich mehr als 75 Prozent der Tabakprodukte in Georgien der Besteuerung entgangen (ebd.). Tabelle 12: Georgische Einnahmen durch die Besteuerung von Tabakprodukten 133 in Millionen GEL ȱ
ȱȱȱ1997
1998
1999
2000
2001
2002
27,5
13,8
62,9
25,9
30,4
36,5
Die Polizei war darüber hinaus auch in den illegalen Handel mit Diesel und Benzin verwickelt.134 Auch hier bestand eine Geschäftsbeziehung zwischen dem Innenminister und Nugzar Schewardnadse, der Diesel und Benzin aus Aserbaidschan und Rumänien nach Georgien importierte.135 Dieser Sektor war ebenfalls von verbreiteten Schmuggelpraktiken gekennzeichnet (Gotsiridze 2003: 9f; Kukhianidze et al. 2004: 37-39). Nach Schätzungen standen 2001 einem jährlichen Einnahmepotential von etwa 250 Millionen US-Dollar aus dem Erdölsektor weniger als 50 Millionen US-Dollar faktische Steuereinnahmen gegenüber, womit das Steueraufkommen aus diesem Bereich weniger als 20 Prozent der möglichen Einnahmen betrug (USAID 2002: Abschn. 1-3 und 3-1).
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 131 Targamadze (2000: 81f); Wheatley (2005: 115f); Stefes (2006: 99); Gordadzé (2003a: 211, Anm. 29). Interview: G5, G51, G54, G55, G58, G59, G61. 132 RFE/RL Newsline Transcaucasia and Central Asia 20.2.2004, Vol. 8/No. 33 „Georgian Parliamentarian Implicated in Tax Evasion“. 133 Quelle: Gotsiridze (2003: 11, 35 Tab. 3). 134 Interview: G2, G44. 135 Darchiashvili (2003b: 8); Stefes (2006: 99); Targamadze (2000: 82).
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Der Staat in Albanien und Georgien
Mit ihren zahlreichen informellen ökonomischen Praktiken verzahnte sich die Polizei auch mit kriminellen Gruppen, die sie nur unter genau berechneten Strategien bekämpfte oder gegen eine Beteiligung an ihren Geschäften duldete. Das Ergebnis war eine Formalisierung der Beziehungen zur kriminellen Welt. Die Polizei erschien eher als legale Mafia denn als Ordnungshüter und war nur noch schwer von der kriminellen Sphäre zu unterscheiden (Gelovani zit. nach Stefes 2006: 105).136
2.2.4
Die Kommerzialisierung des Ministeriums
Zur Ökonomie der Polizei zählten auch halblegale Beziehungen des Innenministeriums zu diversen Firmen. Mit ihnen unterstützte die Polizei lukrative monopolistische Marktarrangements. Die Möglichkeit hierzu ergab sich zunächst durch einen Präsidentenerlass, der es allen Ministerien erlaubte, so genannte nichtbudgetäre Einnahmen zu erzielen. Wie andere Ministerien auch verfügte das Innenministerium über verschiedene solcher nicht-budgetärer Einnahmequellen, die u.a. durch Gebühren für das Ausstellen von Führerscheinen, Auto- und Transitnummernschildern oder Reisepässen erzielt wurden. Dieser Bereich stellte jedoch eine rechtliche Grauzone dar. Die Regulierung der nicht-budgetären Finanzquellen und die Entscheidung über die Verwendung der Einnahmen oblagen faktisch dem Minister und die Mittel verblieben überwiegend oder gänzlich im Haushalt des Innenministeriums.137 Zugleich etablierten sich mit dem Recht Einnahmen zu erzielen auch Beziehungen zu Firmen, die dem Innenministerium nahe standen und in seinem Auftrag tätig waren. Das stellte das Einfallstor für die Kommerzialisierung des Ministeriums dar.138 Diese Firmen standen in direkter oder indirekter Verbindung mit hochrangigen Polizeibeamten und bekamen als Monopolanbieter ihre Aufträge ohne öffentliche Ausschreibung vom Ministerium. Dabei verkauften sie ihre Produkte zu überhöhten Preisen an das Innenministerium oder profitierten von der Ausführung überteuerter Dienstleistungen für die Polizei. Zu diesen Firmen zählten u.a. Lieferanten von Uniformen, Waffen, Benzin, Kommuni-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 136 Interview: G2, G5, G8, G53. 137 The Georgian Times, No. 139 (703), 17.7.2000 „Special resources – favorite sphere of officials“, S. 3; Civil Georgia 11.9.2001 „The Ministries have Illegally Appropriated 10 Million GEL“. Interview: G6, G8, G51. 138 National Anti-Corruption (2000: 13); Civil Georgia 24.10.2001 „Power Ministries Try to Maintain the Right for Commercial Activity“.
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193
kationssystemen und Lebensmitteln.139 Vor allem aber der Bereich Verkehr und Transport war ein monopolisierter Sektor, in dem private Anbieter von Dienstleistungen und hohe Angestellte der Polizei- und weiterer Verkehrsbehörden vernetzt waren und zugleich in enger Beziehung zur Familie des Präsidenten standen (Chiaberashvili/Tevzadze 2005: 191f; Darchiashvili 2003b: 8). Hier existierten Firmen, die die Lizenz für die Anfertigung von Führerscheinen und Autokennzeichen hatten und diese überteuert an das Ministerium verkauften (Papuashvili 2003). Die so genannten „Diagnostischen Zentren“, die die Lizenz für die verkehrstechnische Überprüfung von Autos besaßen, profitierten dagegen von Bestechungsgeldern, die sie neben den gesetzlich geregelten Gebühren für ihre Prüfungen erhoben (ebd.).140 In diesem Umfeld entwickelte sich auch der Bereich der Autoversicherungen zu einem profitablen Geschäft für das Innenministerium. In dem Handel mit Versicherungen hatte sich bereits früh, wie in anderen Wirtschaftssegmenten, eine marktbeherrschende Firma etabliert. Mitte der 1990er Jahre hatte David Gamkrelidse die Firma „Aldagi“ gegründet und mit ihr alsbald den Versicherungsmarkt monopolisiert. Dies verdankte Gamkrelidse seinen guten Beziehungen im politischen Feld und informellen Absprachen. In einem Interview gab Schewardnadse selbst zu, für Gamkrelidse ein „exklusives Geschäft“ auf dem Versicherungsmarkt erwirkt zu haben.141 Hinter diesem Geschäft verbarg sich die staatliche Gewährleistung eines Monopols, das Aldagi auf die Ausstellung verschiedener Versicherungen erhielt.142 Dank seiner politischen Kontakte zog Gamkrelidse 1999 auf einer Liste der Präsidentenpartei, der SMK, ins georgische Parlament ein (Wheatley 2005: 118). Gefördert wurde dies auch durch Verbindungen und gemeinsame Geschäftsinteressen zwischen Gamkrelidse und den Gründern der „United Georgian Bank“ (ebd.), die wiederum der ehemaligen Nomenklatura angehörten und Schewardnadse nahe standen (vgl. Chiaberashvili/ Tevzadze 2005: 192f). Von den Arrangements im Versicherungsmarkt hatte auch die Polizei ihren Nutzen. Im Juni 1997 wurden die Besitzer von Kraftfahrzeugen gesetzlich zu einer Versicherung verpflichtet, die bei der jährlichen technischen Autoinspektion und der Abnahme der Fahrzeuge durch die Verkehrspolizei vorzulegen war (Tsiskadze 1999: 51). Obwohl in der Folgezeit mehr als ein Dutzend Firmen diese Versicherung anboten (ebd. 52), besaß Aldagi mit einem Marktan-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 139 Interview: G3, G5, G8, G44, G58, G59. 140 Interview: G4, G5, G8, G52. 141 EurasiaNet, Business and Economics 21.4.2003 „As Business Support Ebbs, Georgian President Adjusts Tactics“. 142 Devdariani (2004: 98, Anm. 18); The Georgian Times, No. 105 (669), 30.5.2000 „‚Aldagi‘ – Limited Insurance Market: Few Choices because of Regulations“, S. 3.
194
Der Staat in Albanien und Georgien
teil von durchschnittlich fast 70 Prozent zwischen 1999 und 2001 ein faktisches Monopol in diesem Markt.143 Dies wurde weithin auf ein lukratives Abkommen zwischen Aldagi und dem Innenministerium zurückgeführt, wonach die Verkehrspolizei bei Fahrzeugkontrollen und der jährlichen technischen Autoinspektion nur von Aldagi ausgestellte Versicherungen akzeptierte und dafür im Gegenzug an den Gewinnen im Versicherungsgeschäft beteiligt wurde.144 Ein weiteres Segment, in dem das Innenministerium von monopolistischen Arrangements profitierte, stellte der Markt für private Sicherheitsdienste dar, auf dem Gebäude- und Personenschutz und andere sicherheitsbezogene Dienstleistungen angeboten wurden. In diesem seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich und seit 2002 verstärkt expandierenden Markt (Wood 2006: 21) konkurrierten private Sicherheitsfirmen mit der so genannten Eigentumsschutzpolizei oder privaten Schutzpolizei des Innenministeriums (Kruniü/Siradze 2005: 35; Hiscock 2006: 141). Diese Schutzpolizei war einerseits formal dem Innenministerium zugehörig, fungierte jedoch andererseits als ein unabhängiger, kommerzieller Anbieter von Sicherheitsdienstleistungen. Vom staatlichen Budget unabhängig, bestritt die Schutzpolizei ihre Kosten aus eigener Tasche, jedoch profitierte das Innenministerium von den Einnahmen (Kruniü/Siradze 2005: 34f). Die Schutzpolizei stellte einen zentralen Akteur auf dem Markt dar (Hiscock 2006: 141), dem gegenüber andere private Anbieter zugleich eine schlechtere Ausgangsposition innehatten. Weil keine klaren gesetzlichen Bestimmungen existierten, die die Arbeit privater Sicherheitsfirmen regulierten, fiel die Tätigkeit ihrer Angestellten unter das für Normalbürger geltende Waffengesetz, womit ihnen das Tragen von Waffen verboten war (Wood 2006: 16). Das brachte die privaten Dienste in einen Ausrüstungsnachteil gegenüber der Schutzpolizei, der im Gegensatz dazu, als Polizeiabteilung des Innenministeriums, das Tragen von Waffen erlaubt war. Um diesen Nachteil wettzumachen, hatten private Sicherheitsfirmen entweder die Möglichkeit für jeden einzelnen ihrer Angestellten eine persönliche Lizenz zum Waffenbesitz vom Innenministerium zu erwerben, wofür ein wegen der vielen Bestechungsgelder bekanntermaßen teures Verfahren zu durchlaufen war (ebd. 16, 32). Oder sie ließen ihre Angestellten formal als Polizisten der Schutzpolizei registrieren, um den Status eines Beamten mit Erlaubnis des Waffenbesitzes zu erlangen, wofür dann ebenfalls der Kauf einer Lizenz oder
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 143 Quelle: Jahresberichte von Aldagi 1999, 2000, 2001. Vgl. Devdariani (2004: 98, Anm. 18); The Georgian Times, No. 105 (669), 30.5.2000 „‚Aldagi‘ – Limited Insurance Market: Few Choices because of Regulations“, S. 3. 144 Interview: G1, G3, G4, G8, G12, G52, G54 - G56, G58, G59, G61, G62. Vgl. Wheatley (2005: 119); The Georgian Times, No. 193 (757), 2.10.2000 „Technical Inspection Becomes Cheaper in Result of Political Clashes“, S. 3.
Herrschaft und Verwaltung in Georgien
195
Bestechung notwendig waren (Darchiashvili 2003b: 8).145 Die meisten privaten Sicherheitsfirmen verfügten deshalb über keine Waffen (Wood 2006: 20). Die Schutzpolizei erschien damit von der Ausrüstung und Technik her und mit einer Personalstärke von etwa 10.000 Mann im Vergleich zu anderen Anbietern als effektiver und verlässlicher (Kruniü/Siradze 2005: 35). Im Ergebnis behielt sie daher auch einen erheblichen Marktanteil.146 Verschiedene Versuche seit 2001, die Gesetzeslage zu ändern und den privaten Sicherheitssektor zu regulieren, blieben erfolglos (Wood 2006: 17). Ein im Frühjahr 2002 im Parlament diskutierter Gesetzentwurf, der eine Neuregelung bezüglich des privaten Waffenbesitzes vorsah, scheiterte und wurde vom Innenministerium offen abgelehnt (Darchiashvili 2003b: 8, Anm. 14).147 Eine gewinnbringende Kommerzialisierung strebte das Innenministerium auch durch den Fußballclub „Dynamo Tiflis“ an. Dieser Verein war wie alle Dynamo-Vereine in der Sowjetunion ursprünglich eine Betriebssportgemeinschaft der Polizei gewesen, wobei die Polizei den Träger des Vereins darstellte. Anfang der 1990er Jahre war Dynamo Tiflis privatisiert worden. Nach mehreren Korruptionsskandalen im Club und Untersuchungen einer staatlichen Kommission, die in diesem Zusammenhang ungeklärte Eigentumsfragen und Unregelmäßigkeiten bei den Transfers von Spielern aufgedeckt hatte, wurde die Privatisierung jedoch wieder rückgängig gemacht und der Verein fiel zurück an das Innenministerium. Dabei wurde 2001 durch sieben hochrangige Mitarbeiter des Ministeriums einschließlich des Innenministers eine GmbH gegründet, die fortan als Eigentümerin des Fußballclubs auftrat (Chapidze 2001a). Diese GmbH bestand jedoch als eigene juristische Person unabgängig vom Innenministerium (Usupashvili 2001: 8). Mit der Begründung, dass der Verein in den letzten Jahren durch Unterschlagung und Veruntreuung von Geldern durch die früheren Clubpräsidenten seiner finanziellen Grundlagen beraubt worden sei, legte eine Verordnung Schewardnadses die finanzielle Sanierung des Clubs durch Mittel des Innenministeriums fest. Der Verordnung zufolge sollten jährlich 60 Prozent der nicht-budgetären Einnahmen des Innenministeriums, nach Schätzungen etwas mehr als 2 Millionen GEL, u.a. für die Schuldentilgung aufgewendet werden (ebd. 9). Der Fußballclub war jedoch weiterhin Eigentum der GmbH. Damit hätte diese Konstruktion die sieben Gesellschafter der GmbH nach ihrem Weggang aus der Polizei zu Besitzern eines auf Kosten des Innenministeriums sanierten Fußballclubs gemacht (Chapidze 2001a; 2001b).148
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 145 146 147 148
Interview: G4, G5, G51. Nach Schätzungen zweier Interviewpartner 70-80 Prozent: Interview: G6, G8. Interview: G3, G8. Interview: G54, G61.
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Der Staat in Albanien und Georgien
Der weitaus lukrativste Bereich, in den die Polizei verwickelt war, stellte der Zigarettenmarkt dar. Hier standen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zwei Importfirmen im Wettbewerb miteinander, nämlich die Firmen „Omega“ und „Eliz“. Beide trugen ihre Konkurrenz um Marktanteile auch mit gewaltsamen Mitteln aus, was 1997 in einem bewaffneten Überfall und der Entführung eines Transportes gipfelte.149 Dieser Kampf stand zugleich im Zusammenhang mit konkurrierenden Bestrebungen des Innenministeriums und des Ministerium für Staatssicherheit, im Zigarettenmarkt Fuß zu fassen. Schließlich gelang es Omega die Konkurrenz aus dem Feld zu drängen und eine marktbeherrschende Stellung einzunehmen (Tvalchrelidze 2003: 73, Anm. 11), wobei es von der Spitze des Innenministeriums im Austausch für eine Beteiligung am Zigarettengeschäft protektioniert wurde.150 Das Ergebnis war eine massive Konzentration im Tabaksektor (IMF 2001: 30) und zugleich ein verstärktes politisches Interesse des Innenministeriums an der Frage der Besteuerung des Tabakmarktes (vgl. EIU 1999: 7). Zwischen 1997 und 2001 haben Interessengruppen versucht aktiv Einfluss auf die Besteuerung des Zigarettenmarktes zu nehmen. In diesem Zeitraum sind die Verbrauchssteuern auf Zigaretten und andere Tabakprodukte vielfach angepasst und geändert worden, wobei zahlreiche gesetzliche Ausnahmeregelungen und Vergünstigungen in der Besteuerung die Einnahmen aus diesem Bereich erheblich reduziert haben (IMF 2001: 30). Aufgrund ihrer marktbeherrschenden Stellung im Zigarettensektor zog vor allem die Firma Omega aus diesen Vergünstigungen einen Vorteil. Dank der Patronage durch das Innenministerium profitierte Omega aber auch von diversen illegalen Praktiken wie Zigarettenschmuggel (s.o. 2.2.3) und Geldwäsche. Dabei wurde die firmeninterne Bank für Finanztransaktionen genutzt, mit denen u.a. Geld nach Zypern und auf die Bermudas zu verschiedenen „Offshore-Firmen“ transferiert wurde, die dann wieder in Georgien reinvestierten. Der Innenminister war in dieser Bank häufig zu Besuch, wie ein ehemaliger Mitarbeiter der Bank zu berichten weiß.151
2.2.5
Die Reform nach der Rosenrevolution
Nach dem Sturz des Schewardnadse-Regimes in der so genannten „Rosenrevolution“ und der Etablierung einer neuen politischen Führung unter dem 2004 gewählten Präsidenten Michail Saakaschwili stellte die Reform der Polizei eines
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 149 The Georgian Chronicle, March 1997, S. 5. 150 EIU (1997: 10; 1999: 7); Targamadze (2000: 81f); Gordadzé (2003a: 220) sowie Interview: G1, G5, G51, G54, G55, G58, G59, G61. 151 Interview: G55.
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der dringlichsten Anliegen der neuen Machthaber dar. Seit 2004 wurden weit reichende Veränderungen im Innenministerium umgesetzt. Sie zielten insbesondere auf die Bekämpfung der Korruption und die Herstellung einer effektiven zivilen Kontrolle der Polizei. Im Zuge dieser Reformvorhaben wurden diverse Abteilungen der Polizei umstrukturiert, verkleinert oder aufgelöst. Einige Dienste wurden an andere Ministerien abgegeben. So wurde das für die Herausgabe von Pässen und Personalausweisen zuständige nationale Einwohnermeldebüro an das Justizministerium übergeben und die Inneren Truppen an das Verteidigungsministerium transferiert. Zugleich hat das Innenministerium durch die Zusammenlegung mit dem Ministerium für Staatssicherheit und der Eingliederung der vorher unabhängigen Grenzpolizei neue Aufgabenbereiche erhalten. Umstrukturiert wurde auch die gesamte Aus- und Fortbildung. Die Polizeiakademie bot mit neuen Ausbildungsprogrammen und Lehrmethoden eine spezialisierte Polizeiausbildung an, die sich in ein Grundstudium mit einem System der Weiterbildung in festgelegten Abständen gliedern sollte. Zugleich wurde eine Trennung der politischen und administrativen Führung durchgesetzt. Seit Ende 2003 bekleideten nur noch Zivilisten den Posten des Innenministers. Zu den Zielen der Reform gehörte auch die personelle Verkleinerung des Apparates, die Anhebung der Gehälter und die Schaffung klarer Einstellungs-, Entlassungs- und Beförderungsvoraussetzungen. Im Zuge dieser Neuordnungen sind bis 2005 etwa 16.000 Polizeibeamte entlassen worden.152 Mit diesen und weiteren Reformbestrebungen hatte sich das Feld der Polizei rasch internationalisiert. Die Orientierung der Regierung an euro-atlantischen Strukturen ging einher mit der Etablierung eines westlichen Polizeimodells und dem Engagement zahlreicher internationaler Akteure, die das Reformprojekt unterstützten. Diese Unterstützung umfasste Beratungsleistungen, Ausbildungshilfen sowie logistischen und finanziellen Beistand. Verschiedene internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und einzelne Staaten engagierten sich in der Reform der georgischen Polizei. Unterstützung fand sie durch die OSZE und ihr Police Assistance Programme for the Georgian Police, durch das Police and Human Rights Programme des Europarates sowie durch die zivile Polizeikomponente der United Nations Observer Mission in Georgia. Die EU leistete im Rahmen ihrer EU Rule of Law Mission to Georgia (EUJUST THEMIS) sowie ihrem TACIS Programm Beihilfe und unterstützte die Polizei ferner durch ihr South Caucasus Antidrugs Program sowie seit Anfang 2007 durch ihre European Neighbourhood Policy. Direkte finanzielle Unterstützung
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 152 Vgl. zu den Prioritäten der Polizeireform und ihrer Umsetzung Aphrasidze (2004: 46-48); Izoria (2005: 223ff); Kruniü/Siradze (2005); Kupatadze et al. (2005, 2007).
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Der Staat in Albanien und Georgien
und Beratung erhielt die Polizei ferner u.a. durch die USA, Deutschland und Frankreich. Daneben erhielt die Polizei Hilfe durch Nichtregierungsorganisationen wie die IOM oder die Open Society Georgia Foundation der Soros-Stiftung. Die Polizei war ferner im Rahmen der Black Sea Economic Cooperation sowie der Organization for Democracy and Economic Development – GUAM (Georgia, Ukraine, Azerbaijan, Moldova) in regionale Kooperationsformen eingebunden. Schließlich verfügte die Polizei über bilaterale und multilaterale Kooperationsabkommen u.a. mit den USA, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, Großbritannien, Österreich, Türkei, Ägypten, Finnland, Iran und China sowie fast allen post-sowjetischen Staaten.153 Neben Beratungs- und Ausbildungsleistungen und technischer Unterstützung wurde die Reform der Polizei auch direkt finanziell unterstützt. So wurde in der Anfangsphase der Reformen ein u.a. von UNDP, der Soros-Foundation und der Swedish International Development Cooperation Agency gesponserter Development and Reform Fund aufgelegt, aus dem von 2004 bis 2006 die Gehälter staatlicher Bediensteter bezuschusst und institutionelle Reformprojekte finanziert wurden. Für die Ko-Finanzierung von Gehältern und technischen Innovationen in der Polizei waren für diesen Zeitraum fast sieben Millionen US-Dollar eingeplant.154 Die forcierten, tief greifenden Reformen haben das Ansehen der Polizei in der Bevölkerung schnell steigen lassen. Ob sie ausreichen, um die Polizei dauerhaft auf eine anstaltsstaatliche Logik zu verpflichten, kann hier nicht beantwortet werden. Die komplette Neuordnung vieler polizeilicher Abteilungen dürfte die Rückkehr zu etlichen der skizzierten Praktiken dauerhaft versperrt haben. So ist es beispielsweise der als allererstes völlig umgebauten Verkehrspolizei nicht mehr erlaubt, an mobilen Posten oder Straßensperren Autos herauszuwinken, was in der Vergangenheit durchgehend zur Erpressung von Autofahrern genutzt wurde. Auch dürfte mit der Abgabe der Kompetenz zur Untersuchung von Wirtschaftsverbrechen an das Finanzministerium der Polizei eine wichtige Quelle der Bereicherung entzogen worden sein. In anderen Bereichen haben patrimoniale Praktiken jedoch offenbar fortgedauert. So unterlag die Rekrutierung neuer Polizisten teilweise wieder klientelistischen Vermittlungen (Kupatadze et al. 2007: 95ff). Menschenrechtsverletzungen in Polizeigewahrsam sind nach wie vor ein Problem und auch die Involvierung der Polizei in den Schmuggel hat sich par-
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 153 Vgl. Kruniü/Siradze (2005: 12-14, 53f); Izoria (2005: 238, 276-279) sowie die Angaben auf der Internetseite des Innenministeriums unter: <www.police.ge> 154 Quelle: „Budget 2004 Development and Reform Fund Program Budget“. Im Internet unter: <www.drf.org.ge>. Vgl. RFE/RL News and Features on Georgia 19.1.2005 „Georgia: Experiment On Averting Corruption Among State Officials“.
Ergebnisse der Falluntersuchung im Vergleich
199
tiell fortgesetzt. Dennoch gilt gerade die Reform der Polizei als besonders erfolgreich (ebd. 93). Es bleibt abzuwarten, wie sich die Reformen weiterentwickeln.
Fazit Der Staat in Georgien entwickelte sich nach dem Kollaps des Sozialismus zu einem von Schewardnadse dominierten Präsidialregime. Als Big Man kam Schewardnadse die Aufgabe zu, verschiedene Fraktionen und klientelistische Netzwerke im politischen Feld auszubalancieren und gegeneinander auszuspielen. Daraus resultierte ein Regime, in welchem Schewardnadse mit der Steuerung von Klientelketten die klassische Rolle eines Patrimonialherren übernahm, ohne jedoch eine autoritäre Form der Herrschaft zu etablieren. In diesem Regime waren politische und ökonomische Macht eng verkoppelt. Führende Unternehmer verfügten über enge Beziehungen zum politischen Feld und erlangten Vergünstigungen für ihre Geschäfte. Die daraus resultierende schwindende fiskalische Basis des Staates hatte massive Finanzierungsprobleme und die generalisierte Korruption des bürokratischen und politischen Personals zur Folge. Vor diesem Hintergrund hatte sich die Polizei in Georgien nicht als ein Feld mit einer bürokratischen Eigenrationalität etabliert. Die Polizei hatte in der Amtszeit Schewardnadses eine weitreichende Verselbständigung und Patrimonialisierung erfahren. Neben der Machtstellung des Innenministers und klientelistischen Praktiken der Rekrutierung lässt sich das vor allem an der Praxis des Ämterkaufs ablesen. Die Etablierung eines Marktes für Polizeifunktionen hatte die gezielte Akkumulation ökonomischen Kapitals in informellen und kriminellen Sphären zur Folge. Ergänzt wurden diesen Formen der Appropriation durch die Verflechtung des Innenministeriums mit diversen Firmen, was die Kontrolle ökonomisch bedeutsamer Bereiche ermöglichte. Die bürokratische Praxis der Polizei folgte damit in weiten Teilen einer patrimonialen Logik.
3
Ergebnisse der Falluntersuchung im Vergleich
In den vorherigen Abschnitten wurden empirische Befunde zum post-sozialistischen Staat präsentiert. Dabei dienten Albanien und Georgien als Fallbeispiele, in denen das politische Regime und die bürokratische Praxis der Polizei analysiert wurden. Im folgenden Kapitel sollen nun in vergleichender Perspektive einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Fällen aufgezeigt werden. Einer kurzen Kontrastierung der unterschiedlichen Regime in Albanien und Georgien folgt ein Vergleich der dortigen Polizei. Daran schließen
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Der Staat in Albanien und Georgien
sich Schlussfolgerungen in Bezug auf die dieser Arbeit zugrunde liegenden Thesen an. Beide hier untersuchten Länder zeichnen sich durch verschiedene regionale Kontexte, unterschiedliche Entwicklungen im Sozialismus und Verläufe der Transformation aus. Ihnen gemeinsam ist jedoch, dass sie beide Phasen der Patrimonialisierung durchlaufen haben. Bereits in der Volksrepublik Albanien und der Sowjetrepublik Georgien hatten sich Formen des patrimonialen Sozialismus etabliert. Die hier ausgebildeten Praktiken haben sich in beiden Fällen unter veränderten Bedingungen auch in den neuen Institutionen des post-sozialistischen Staates fortgesetzt, allerdings in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen. In Albanien war das politische Feld von den Machtkämpfen zweier großer Patronageparteien bestimmt, die abwechselnd seit Anfang der 1990er Jahre die Regierung stellten und jeweils den öffentlichen Sektor gänzlich ihrer Ämterpatronage unterwarfen. Häufig wechselnde Ministerpräsidenten und laufende Flügelkämpfe der Parteien sowie die ausgeprägte Konkurrenz um Gefolgschaft und ökonomische Distribution bedingten eine hohe Instabilität des politischen Feldes. Die politische Klasse profitierte von der Etablierung diverser wirtschaftlicher Monopole und beteiligte sich auch an der Schmuggelökonomie, in der zahlreiche Güter verschoben wurden. Im politischen Feld Georgiens ist dagegen aus mehreren innerstaatlichen Kriegen Anfang der 1990er Jahre das vergleichsweise stabile Präsidialregime von Eduard Schewardnadse hervorgegangen. Dabei stützte sich Schewardnadse ebenso auf seine Partei wie auf Netzwerke der ehemaligen Nomenklatura. Zahlreiche Marktmonopole und eine weitgehend partikularen Interessen untergeordnete Steuerpolitik sowie verbreitete Praktiken der Steuerhinterziehung und des Schmuggels waren die Kennzeichen des SchewardnadseRegimes. In beiden Fällen ließen sich Formen der Big-Men-Herrschaft im politischen Feld beobachten. Sowohl den Ministerpräsidenten in Albanien als auch Schewardnadse in Georgien kam jeweils die Aufgabe eines obersten Patrons zu, verschiedene Netzwerke und Klientelen zu akkommodieren und auszubalancieren. Dies gelang den diversen albanischen Ministerpräsidenten indes nur teilweise oder für kurze Zeit. Dagegen schaffte es Schewardnadse über einen vergleichsweise langen Zeitraum, verschiedene Klientelketten einzubinden und gegeneinander auszuspielen. Jedoch sind weder die Ministerpräsidenten Albaniens noch der Präsident in Georgien in die Rolle wirklich autoritärer politischer Führer hineingewachsen. Die Personalisierung der politischen Führung blieb begrenzt. Dennoch hatten in beiden Ländern Klientelparteien und Oligarchien eine große Bedeutung. In Albanien und Georgien ließ sich nicht nur eine durchgehende Verkoppelung politischer und ökonomischer Macht beobachten, sondern auch eine Tendenz zur Kriminalisierung der politischen Klasse.
Ergebnisse der Falluntersuchung im Vergleich
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Patrimonialen Praktiken ließen sich auch im bürokratischen Feld der Polizei beider Länder beobachten. Dabei können im Vergleich eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden festgestellt werden. Grundsätzlich basierte die Polizei in Albanien und Georgien zunächst auf einem einheitlichen Polizeimodell. Bereits während und vor allem nach dem Sozialismus nahm die Polizei in beiden Ländern jedoch unterschiedliche Entwicklungen. So ähnelte die albanische Polizei Anfang der 1990er Jahre weitgehend dem Modell der frühen stark zentralisierten sowjetischen Miliz. Gleich nach dem Fall des alten Regimes und verstärkt seit 1997 wurden dann verschiedene institutionelle Reformen eingeleitet. Die georgische Polizei entsprach dagegen Anfang der 1990er Jahre dem spätsowjetischen Polizeimodell und behielt dieses auch weitgehend unverändert bis 2004 bei. Für Georgien und Albanien galt, dass der Innenminister als Person jeweils eine erhebliche Bedeutung für die polizeiliche Alltagsverwaltung erlangte. Bezüglich seiner formalen Position bestand zwischen beiden Fällen jedoch ein gewichtiger Unterschied. So blieben die Innenminister in Georgien bis 2003 hochrangige Polizeibeamte und übten gleichzeitig politische und administrative Funktionen aus, während in Albanien bereits seit Beginn der 1990er Jahre nur Zivilisten dieses Amt bekleideten. Für die tatsächlichen Praktiken der Innenminister hatte dieser Unterschied der formalen Kompetenz jedoch kaum eine Bedeutung. Denn der Minister war nicht nur in Georgien ein zentraler Akteur im bürokratischen Feld, sondern er blieb es auch in Albanien, wo er, wie sein georgisches Pendant, mit zahlreichen Details der Polizeiverwaltung befasst blieb. Als Big Man und oberster Patron standen beide außerdem jeweils an der Spitze klientelistischer Netzwerke, in denen ökonomisches Kapital akkumuliert wurde. Beide Innenminister haben ihren Apparat damit von oben personalisiert. Jedoch bestanden wiederum Unterschiede in ihrer politischen Machtposition. In Georgien erlangte der Minister eine zentrale Stellung im politischen Feld, indem es ihm gelang, Versuche zur zivilen Kontrolle des Apparates abzuwehren und diesen gleichzeitig seiner eigenen Herrschaft zu unterwerfen. Den häufig wechselnden albanischen Innenministern gelang es im Vergleich dazu nicht, aufgrund der ständigen politischen Machtkämpfe, eine gefestigte Position im politischen Feld zu erlangen. Typisch patrimoniale Praktiken bestimmten auch die Rekrutierung des Polizeipersonals. Sowohl für Albanien als auch Georgien galt, dass in der Laufbahn eines Polizeibeamten der fachlichen Qualifizierung in Form von Ausbildungen oder Akademieabschlüssen eine vergleichsweise geringe Bedeutung zukam. Die Rekrutierung und Beförderung unterlag weitgehend nicht-meritokratischen Prinzipien. Dabei waren es in Albanien vor allem die politischen Parteien, die Polizeiämter unter ihre Klientel verteilten. Aber auch die Innenminister und Polizei-
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Der Staat in Albanien und Georgien
direktoren praktizierten die Ämterpatronage. Zusammengenommen ergab sich daraus eine laufende Rotation des Personals, das eine außerordentlich geringe Kontinuität und erhebliche Auf- und Abwärtsmobilität aufwies. In Georgien dagegen bestimmte neben dem Klientelismus des Polizeipersonals vor allem ein betriebsinterner Markt für Polizeifunktionen die Rekrutierung. Das Polizeipersonal zeichnete sich hier durch eine wesentlich höhere Stabilität aus und hatte zudem überwiegend bereits im sowjetischen Georgien gedient. Umfangreiche Säuberungen im Apparat, wie sie in Albanien seit 1991 fortlaufend praktiziert wurden, sind in Georgien weder direkt nach der staatlichen Unabhängigkeit noch im weiteren Verlauf der 1990er Jahre durchgeführt worden. Ein weiterer Unterschied bestand in der Größe der Apparate. Während in Albanien das Polizeipersonal kontinuierlich reduziert wurde, wuchs es in Georgien an. Die Ökonomie der Polizei wies in beiden Fällen eine erhebliche informelle Dimension auf. Die Polizei war von einer prekären Ausstattung gekennzeichnet. Zum Ausdruck kam dies ebenso in einer mangelhaften Ausrüstung wie in geringen und mit Verspätung ausgezahlten Gehältern. Dies war vor allem in Georgen der Fall. Der Rückgriff auf informelle Formen der Selbstfinanzierung war die Folge. Die diesbezüglichen Strategien variierten jedoch und waren, soweit sich aus dem empirischen Material schließen lässt, in Georgien ausgeprägter als in Albanien. Dort war es vor allem die Duldung oder direkte Beteiligung am illegalen Handel mit Drogen, Menschen und Autos, bei dem die Polizei ökonomisches Kapital akkumulierte. In Georgien war die Polizei durch den Zigaretten- und Benzinschmuggel sowie durch die Rekrutierung und Erpressung von Kleinkriminellen ebenfalls in kriminelle Geschäfte verwickelt. Darüber hinaus erzielte sie aber auch Einnahmen durch die Besteuerung des Straßenverkehrs und des Groß- und Einzelhandels sowie durch halblegale Verbindungen zu zahlreichen Firmen. In beiden Fällen haben sich Teile der Polizei mit kriminellen Sphären verzahnt. Beide Länder haben einen phasenverschobenen Prozess der Reform durchlaufen mit dem Ziel der Annäherung der Polizeiarbeit an westliche Maßstäbe. Während dieser Umbau in Albanien bereits seit Anfang der 1990er Jahre durchgeführt wurde, ist er in Georgien erst ab 2004 in Angriff genommen worden. Dabei spielen internationale Akteure in beiden Fällen eine zentrale Rolle, so dass sich die dortige Reform der Polizei kaum noch als lokales Geschehen begreifen lässt. Die internationale Hilfe umfasst weite Teile des polizeilichen Feldes und betrifft u.a. die Beratung bei der Gesetzgebung, Korruptions- und Verbrechensbekämpfung, Aus- und Fortbildung sowie Logistik und Technik. Damit hat sich die Polizeiarbeit in beiden Ländern zunehmend internationalisiert. Diese Einbettung in globale Zusammenhänge fügt sich in einen jüngeren, auch anderswo zu beobachtenden Trend der Internationalisierung von polizeilichen Sicherheits-
Ergebnisse der Falluntersuchung im Vergleich
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funktionen ein (vgl. Jachtenfuchs et al. 2005; Andreas/Nadelmann 2006). Die Frage nach den Effekten der von außen und innen betriebenen Polizeireformen konnte in dieser Arbeit nicht mehr behandelt werden. Die vorliegenden Befunde indizieren jedoch eine gemischte Bilanz und in beiden Ländern gilt der Umbau der Polizei nach wie vor als unabgeschlossen. Das Problem vieler Reformansätze ist das ihnen zugrunde liegende sozialtechnologische Reformverständnis, das vor allem auf gute Gesetze und Schulungen setzt, um die Polizei auf eine legalrationale Ordnung zu verpflichten. Rationale Staatlichkeit lässt sich jedoch nicht durch formale Satzung erzwingen oder in Seminaren vermitteln, denn sie beruht auf komplexen sozialen Voraussetzungen (vgl. Schlichte 2005). Auf der Grundlage der empirischen Befunde lässt sich festhalten, dass die Polizei in Albanien und Georgien in weiten Teilen nicht der Logik formal-rationaler Organisationen folgte. Die anstaltsstaatliche Eigenrationalität der Polizei ist vielmehr durch patrimoniale Praktiken beschränkt geblieben. Die Willkür bürokratischer Big Men, klientelistische Netzwerke und die illegale Aneignung haben die Betriebslogik der Polizei wesentlich mitbestimmt. Wie lassen sich diese Befunde erklären? Eine kausale Erklärung der beschriebenen Polizeipraktiken, die sich in unterschiedlicher Ausprägung auch in anderen Staaten Südosteuropas und Eurasien beobachten lassen155, muss sowohl historische als auch politische und institutionelle Faktoren berücksichtigen. Für die Ausprägung der Polizeipraxis dürften zunächst Hinterlassenschaften des patrimonialen Sozialismus eine Rolle spielen. So galt die Polizei vielerorts schon zu Zeiten des Sozialismus als bestechlich (Simis 1982: 127-145; Shelley 1996: 46-52, 101f). Ebenso zeichnete sich die Polizei bereits im Sozialismus durch eine politisierte und intransparente Rekrutierung aus. Die gegenwärtig beobachtbaren Handlungsmuster lassen sich daher zumindest teilweise als eine Fortsetzung von bereits seit längerem etablierten Praktiken verstehen. Ihre Ausweitung in den 1990er Jahren ist jedoch den politischen Umbrüchen geschuldet. Die Verallgemeinerung informeller Praktiken nach dem Sozialismus lässt sich als eine Reaktion auf Opportunitäten und Restriktionen unter den Bedingungen der Transformation interpretieren. Die fortbestehende Zentralisierung der Apparate hat eine Personalisierung von oben begünstigt, während verschleppte Reformen des Dienst- und Personalrechts sowie politisch motivierte Säuberungen ein neues Einfallstor für klientelistische Praktiken geschaffen haben. Zugleich haben die Privatisierung der ehemals staatlichen Ökonomie und die Expansion krimineller Sphären neue Gelegenheiten der Aneignung von Ressourcen eröffnet.
ȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱȱ 155 Vgl. die Beiträge in Favarel-Garrigues (2003a) sowie zu Russland Waller/Yasmann (1995), zu Zentralasien ICG (2002) und zu Südosteuropa CSD (2004).
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Der Staat in Albanien und Georgien
In Albanien und Georgien ließen sich indes Unterschiede in dem Ausmaß und der Verbreitung patrimonialer Praktiken beobachten. Soweit sich aus dem empirischen Material schließen lässt, hatte in Georgien eine weiter reichende Patrimonialisierung als in Albanien stattgefunden. So wies die chronisch unterfinanzierte georgische Polizei ein geradezu klassisch patrimoniales Organisationsmuster auf, indem mit der Veräußerung von Polizeiämtern auch die Kosten für den Unterhalt und die Ausrüstung gleichsam auf die Amtsträger selbst abgewälzt wurden, die diese dann aus den offiziellen und inoffiziellen Einnahmen ihrer Tätigkeit bestritten. Die Institutionalisierung der Korruption und ein breites Spektrum illegaler ökonomischer Praktiken war die Folge. In Albanien ließ sich eine derart fortgeschrittene Appropriation nicht oder nur in Ansätzen beobachten. Für diese beobachtbare Varianz dürften unterschiedliche Faktoren ausschlaggebend gewesen sein. In Georgien hatte der Innenminister eine relativ stabile und autonome Position inne, von der aus es ihm gelang, seinen Apparat gezielt als eine Pyramide aufzubauen, die effektiv ökonomisches Kapital akkumulierte. Dabei bedingten die Praktiken des Ämterkaufs offenbar eine dauerhafte Einbindung in Netzwerke und zugleich ein kontinuierlichen Wachstum des Personals, das stets auf der Suche nach neuen Einkommensquellen war. Daraus resultiere die ökonomische Expansion des georgischen Polizeiapparates. In Albanien dagegen ging die laufende Neubesetzung des Innenministerpostens mit permanenten personellen Verschiebungen im Polizeiapparat einher. Daher konnte sich hier weder ein Markt für Polizeipositionen noch ein stabiles System distributiver Ketten herausbilden. Das variierende Ausmaß der Patrimonialisierung in beiden Ländern dürfte aber auch zum Teil auf unterschiedliche institutionelle Strukturen und Kompetenzordnungen zurückzuführen sein. Mit ihren weit reichenden, aus sowjetischer Zeit übernommenen Kontroll- und Verwaltungsaufgaben verfügte die georgische Polizei über einen großen Aktionsradius, der auch zahlreiche Möglichkeiten der Korruption bot. Dagegen durchlief die Polizei in Albanien nicht nur eher einen Reformprozess, sondern sie stand auch früher unter der Beobachtung und Kritik internationaler Akteure, die im albanischen Sicherheitssektor an Reformen beteiligt waren. Letztlich stellen beide Fälle unterschiedliche Formen der Patrimonialisierung dar. Diese ist in Georgien vor allem als eine aus dem Apparat selbst entstehende Bewegung mit einer Tendenz zur klientelistischen Selbstrekrutierung des Polizeipersonals zu verstehen, während es in Albanien vor allem die Patronage der Parteien war, die eine Patrimonialisierung des Innenministeriums zur Folge hatte. Der Anstoß zur Patrimonialisierung kam also in Georgien aus dem bürokratischen, in Albanien dagegen aus dem politischen Feld. Daher zeichnete sich die albanische Polizei durch eine besonders geringe institutionelle Autonomie aus. Dagegen gelang es der georgischen Polizei unter der Herrschaft einflussrei-
Ergebnisse der Falluntersuchung im Vergleich
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cher Innenminister eine erhebliche Autonomie zu erlangen, jedoch verbunden mit einer Tendenz zur unkontrollierten Verselbständigung. Daraus lässt sich schließen, dass weder die politische Kontrolle noch die bürokratische Autonomie von Apparaten notwendig die legale Rationalität der Verwaltung verbürgt. Ungeachtet der zum Teil weit reichenden Unterordnung unter private Zwecke, hat sich die Polizei aber offenbar in keinem der beiden Fälle zum persönlichen Zwangsstab eines politischen Führers entwickelt und eine zentrale Rolle in der Unterdrückung innenpolitischer Gegner bekommen, wie dies in neo-patrimonialen Regimen häufig beobachtet werden kann. Zwar stellten Repression und Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei ein verbreitetes Problem dar. Jedoch wurden sie weder vom Schewardnadse-Regime in Georgien noch von dem Regime der großen Patronageparteien in Albanien systematisch gegen politische Gegner initiiert. Die Instrumentalisierung der staatlichen Zwangsmittel gegen die Opposition blieb ausgeschlossen. Auch innerhalb der Polizeiapparate ließ sich keine Eskalation der Gewalt beobachten, wie es für ökonomische Konkurrenzen in neo-patrimonialen Kontexten typisch ist. So bedeuteten die häufigen Wechsel der Klientelketten in Albanien zwar die regelmäßige Verletzung des patrimonialen Prinzips der „Integration durch Verteilung“, jedoch hatte dies keine gewaltsamen Auseinandersetzungen zur Folge. Diese Befunde könnte man als Ausweis einer Teilverrechtlichung und -formalisierung deuten. Im bürokratisch-patrimonialen Staat spielen patrimoniale Praktiken zwar eine erhebliche Rolle, jedoch werden sie durch rationale Elemente auch begrenzt. Dies scheint vor allem in Bezug auf die Einhegung und Kontrolle der Gewalt zu gelten. Die Befunde zur Polizei in Albanien und Georgien sollten das bürokratische Feld in beiden Ländern exemplarisch beleuchten. Hier stellt sich nun die Frage, ob sich die gewonnenen Ergebnisse auf andere Verwaltungsbereiche in Albanien und Georgien übertragen lassen? Die Polizei stellt nur einen bestimmten Teil der öffentlichen Verwaltung dar, der sich zudem durch einige Besonderheiten auszeichnet. Die Polizei ist mit einer Gewaltkompetenz zur Sicherung der öffentlichen Ordnung ausgestattet und steht in stetigem Kontakt mit der Bevölkerung und der kriminellen Welt. Sie ist damit auch stetigen Versuchen der Einflussnahme und Korrumpierung ausgesetzt. Diese Besonderheit unterscheidet die Arbeit der Gesetzeshüter von anderen staatlichen Bereichen. Vermutlich verbinden sich hiermit besondere Akteurskonstellationen und Praxisformen, die sich in ihrer konkreten Ausprägung nicht ohne weiteres für andere Bereiche verallgemeinern lassen. Es ließe sich indes unschwer zeigen, dass auch andere Teile der Verwaltung in Albanien und Georgien patrimoniale Strukturen aufgewiesen haben. Das gilt insbesondere für die Zoll- und Steuerverwaltung aber auch für andere bürokratische Felder wie den Gesundheits- und Bildungssektor oder die Justiz. Bereits ein kursorischer Blick auf das Material lässt den Schluss zu, dass
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Der Staat in Albanien und Georgien
die hier am Beispiel der Polizei analysierten Praktiken in ähnlicher Form auch in anderen Verwaltungsbereichen beobachtet werden können. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann daher davon ausgegangen werden, dass sich auch in den anderen Verwaltungsbereichen beider Länder patrimoniale Praktiken verbreitet haben. Auf der Grundlage der empirischen Befunde der Fallstudien lässt sich daher zusammenfassen: Der Staat in Albanien und Georgien ist wesentlich von der Logik patrimonialer Praktiken bestimmt. In ihm haben sich keine wirklich eigengesetzlichen öffentlichen und privaten Sphären ausdifferenziert. Dabei unterliegt die politische Herrschaft ebenso wie die Verwaltung in einem signifikanten Ausmaß partikularen Interessen. Big Men spielen für die politische Ausgestaltung und bürokratische Organisation des Staates eine entscheidende Rolle. Dem entspricht die überragende Bedeutung der Patronage und des Klientelismus als vorherrschender distributiver Logik. Zugleich ist die Ausnutzung staatlicher Positionen zu privaten ökonomischen Zwecken weit verbreitet. Es sind diese Formen der Personalisierung, in denen die Willkür des Staates in Osteuropa begründet liegt. Die Befunde der Fallstudien erhärten die These dieser Arbeit von der Bedeutung patrimonialer Praktiken für die Funktionsweise des post-sozialistischen Staates. Albanien und Georgien können dabei als exemplarische Fälle des bürokratisch-patrimonialen Staates gelten, wie er sich nach dem Ende des Sozialismus in Osteuropa etabliert hat. Der abschließende Teil VI will diesen Befund noch einmal kontextualisieren und greift Lücken und Versäumnisse dieser Arbeit sowie offene Forschungsfragen auf, die sich auf den Staat in Osteuropa und in anderen Regionen der Weltgesellschaft beziehen.
VI Resümee und Schlussfolgerungen Resümee und Schlussfolgerungen
In diesem Schlusskapitel sollen noch einmal die wesentlichen Argumentationslinien nachgezeichnet und die Ergebnisse der Arbeit resümiert werden. Dem folgen eine Kritik des eigenen Erklärungsansatzes und der empirischen Befunde sowie ein Ausblick auf offene Forschungsfragen.
Argumentation und Ergebnisse Ziel dieser Arbeit war ein theoretischer und empirischer Beitrag zum Staat in Osteuropa. Dabei wurde hier wie folgt argumentiert: In der Mehrzahl der postsozialistischen Staaten haben sich moderne politische Verhältnisse nicht durchgängig entfaltet. Die Länder Südosteuropas und Eurasiens, so das Kernargument dieser Arbeit, zeichnen sich vielmehr durch die widersprüchliche Gleichzeitigkeit traditionaler und moderner Handlungslogiken aus. Bereits der sozialistische Staat hatte sich überwiegend in traditionalen Gemeinschaften etabliert, die vor dem Sozialismus keine Phase der bürgerlich-kapitalistischen Modernisierung und rationalen Staatsbildung durchlaufen hatten. Zugleich haben die institutionellen Besonderheiten des sozialistischen Parteienstaates zu keiner durchgehenden formalen Rationalisierung der staatlichen Herrschaft geführt. Hierin lag das Bedingungsgefüge für die Genese des patrimonialen Sozialismus. In vielen sozialistischen Staaten haben sich patrimoniale Praktiken etabliert, die auch das Ende des Sozialismus überdauert haben. Sie haben sich unter den post-sozialistischen Bedingungen fortgesetzt und zugleich verallgemeinert. Patrimoniale Praktiken sind Bestandteil des Aufbaus neuer Machtbeziehungen und der Institutionalisierung dieser Machtbeziehungen zu Herrschaft geworden. Die Transformation der Staaten Südosteuropas und Eurasiens lässt sich daher als ein pfadabhängiger Prozess der Patrimonialisierung fassen. Die zeitgenössischen Staaten Osteuropas weisen keine klare Trennung öffentlicher und privater Sphären auf. Sie besitzen zwar ein ausgeprägtes bürokratisches Moment und verfügen mit weit reichenden Verwaltungsapparaten über eine hohe gesellschaftliche Präsenz, jedoch spielen patrimoniale Praktiken der Machtbildung in der politischen Herrschaft ebenso wie in der öffentlichen Verwaltung eine erhebliche Rolle. Die Staaten in Osteuropa lassen sich daher als bürokratisch-patrimonial charakterisieren.
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Resümee und Schlussfolgerungen
Das Ergebnis dieser Arbeit ist ein sowohl theoretischer als auch empirischer Beitrag zum Staat in Osteuropa. Der theoretische Beitrag besteht in der Entwicklung von Elementen einer politischen Soziologie des Staates. Dazu zählt eine soziologische Konzeption, wonach sich der Staat als ein Feld verstehen lässt, das von den Praktiken der Akteure bestimmt wird. Dabei lassen sich patrimoniale Praktiken als eine mögliche Praxisform im staatlichen Feld auffassen. Das Ergebnis dieser Konstruktionen ist ein theoretisch konsistenter Ansatz, der es ermöglicht den Staat anhand konkreter Akteurspraktiken zu erschließen und dabei sowohl begrifflich als auch analytisch differenziert zu fassen. Diese theoretische Konzeption wurde weiterhin zu einer Strukturgeschichte der Formierung des Staates in Osteuropa ausformuliert. Dabei wurden wesentliche Entwicklungslinien des Staates nachgezeichnet. Auf dieser Grundlage wurden zentrale Kennzeichen des post-sozialistischen Staates typologisch zusammengefasst. Der historisch hergeleitete Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staates versucht die Spezifik der zeitgenössischen Staaten Osteuropas auf den Begriff zu bringen. Neben diesem theoretischen Ertrag hat diese Arbeit mit Länderfallstudien zu Albanien und Georgien auch einen empirischen Beitrag vorgelegt. Zwei Fallstudien zur Herrschafts- und Verwaltungspraxis post-sozialistischer Staaten haben den Typus des bürokratisch-patrimonialen Staates exemplifiziert und empirisch plausibilisiert. Dabei stand die Dimension der öffentlichen Verwaltung im Mittelpunkt, die hier wiederum exemplarisch anhand der Polizei untersucht wurde. In den Fallstudien wurden konkrete Praktiken, informelle Handlungsmuster und Mechanismen der Machtbildung näher beleuchtet. Mit dieser Untersuchung wurden detaillierte Einblicke in einen Bereich gewonnen, über den kaum etwas bekannt ist und der bislang wenig systematische Aufmerksamkeit erfahren hat. Das gilt ebenso für die Verwaltungswirklichkeit post-sozialistischer Staaten im Allgemeinen wie für die Polizei im Besonderen. Das Material hat es ermöglicht, ein relativ genaues Bild der formellen und vor allem informellen Funktionsweise der Polizeiverwaltung zu zeichnen, so dass hiermit auch ein empirisch fundierter Beitrag zum Staat in Osteuropa vorgelegt wurde.
Zur Relevanz der Ergebnisse Mit diesen Ergebnissen ist die Arbeit in mehrerlei Hinsicht anschlussfähig an Diskussionen in den Disziplinen der vergleichenden Politikwissenschaft und den Internationalen Beziehungen. Die Arbeit hat zunächst zentrale Desiderata der Transformationsforschung aufgegriffen und einen Beitrag zu ihrer Aufhebung geleistet. Grundsätzlich ist hier mit dem Staat eine Dimension in den Mittelpunkt gerückt worden, die bislang in der Transformationsforschung wenig Beachtung
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gefunden hat. Die prozesssoziologische Analyse der Formierung staatlicher Herrschaft hat zugleich den Blick auf die Genese konstitutiver Zusammenhänge gelenkt und mit der Historizität des Staates eine weitere zentrale Dimension thematisiert, die sich in der zumeist auf kurze Zeithorizonte beschränkten Transformationsforschung nicht erschließt. Ferner wurden mit dem Fokus auf die Staaten Südosteuropas und Eurasiens und den Belegfällen Albanien und Georgien das Augenmerk auf Regionen gelenkt, denen bislang wenig systematische Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Der in dieser Arbeit gewonnene Realtypus des bürokratisch-patrimonialen Staates ergänzt zudem die Debatte über die Regimetypen in Osteuropa. Das Konzept des Patrimonialismus verspricht dabei eine hohe empirische Relevanz in der Erklärung der Herrschaftslogik des Staates in Osteuropa. Es erlaubt viele empirische Daten in einen Zusammenhang zu bringen und bislang unverbundene Einzelbeobachtungen, die in der Transformationsforschung unter Stichworten wie „Korruption“ oder „Informalität“ thematisiert werden, aus einem einheitlichen Rahmen heraus zu erklären. Es ist diese „Hebelwirkung“ (King et al. 1994: 29-31), die ein Kriterium für gute Theorie ist. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind aber auch für diejenigen Diskussionen der Vergleichenden Politikwissenschaft relevant, die sich mit dem Staat in anderen Regionen der Weltgesellschaft beschäftigen. Viele Aspekte staatlicher Herrschaft in der Dritten Welt werden unter Rückgriff auf das patrimoniale Paradigma erklärt. Diese Arbeit hat gezeigt, dass dies auch mit Blick auf die Erklärung des Staates in Osteuropa möglich ist. Mit dem hier gewonnenen Typus erschließen sich neue vergleichende Perspektiven zwischen Weltgegenden wie z.B. Osteuropa und Afrika, in denen sich patrimoniale Komponenten des Regierens unterschiedlich stark ausgeprägt haben (vgl. Beissinger/Young 2002; Barrington 2006). Diese Arbeit versteht sich daher auch als Beitrag zur typologischen Differenzierung patrimonialer Systeme und damit zur vergleichenden Erforschung staatlicher Herrschaftsformen jenseits der OECD-Welt. Sie hat damit zugleich eine Schnittstelle aufgezeigt, an der sich die angemahnte Annäherung der Transformations- und Entwicklungsländerforschung konkretisieren könnte (Kollmorgen 2004). Nichtzuletzt hat diese Arbeit auch einen staatstheoretischen Ertrag. Mit der Verknüpfung von Theoremen Max Webers und Pierre Bourdieus wurden hier Elemente eines soziologischen Verständnisses des Staates entwickelt, das die Handlungen von Akteuren zentral setzt. Diese handlungsorientierte Konzeption ist theoretisch anschlussfähig an jüngere staatstheoretische Diskussionen, in
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denen der Staat nicht allein von seinen Institutionen, sondern auch von den konkreten Praktiken der Akteure her gedacht wird.1
Kritik der theoretischen Erklärung und der Fallstudien Die theoretischen Konstruktionen und empirischen Analysen dieser Arbeit zeichnen sich durch Stärken aber auch durch Schwächen aus, die im Folgenden benannt werden sollen. Zunächst zur Theorie. Für das hier entwickelte soziologische Verständnis des Staates als Handlungsfeld waren Theoreme und Kategorien von Weber und Bourdieu zentral, die aufeinander bezogen wurden. Dies erwies sich grundsätzlich als möglich. In den Arbeiten beider Theoretiker ließen sich diverse Aspekte finden, die in vergleichbarer Weise analytisch gefasst und erklärt werden. Dies gilt etwa in Bezug auf die Ausdifferenzierung von Wertsphären bei Weber und den eigengesetzlichen sozialen Feldern bei Bourdieu oder hinsichtlich der Differenz von Politik und Verwaltung im modernen Staat bei Weber, die sich bei Bourdieu in der Unterscheidung eines politischen und bürokratischen Feldes andeutet. Bourdieu bezieht sich in seinen Arbeiten auch direkt auf Weber. Deutlich wird das nicht nur an Bourdieus Verständnis des dynastischen Fürstenstaates als patrimoniale Herrschaft, sondern auch an seiner Konzeption des modernen bürokratischen Feldes, das sich analog zum Weber’schen Anstaltsstaat durch eine unpersönliche Logik auszeichnet. Und wie Weber misst auch Bourdieu den Juristen eine historisch entscheidende Rolle in der Entwicklung des modernen Staates bei. So ließen sich auch in Bezug auf die Rolle der Regeln und des Rechts im bürokratischen Feld bei Bourdieu und Webers Konzeption der formalen Satzung im rationalen Staat Gemeinsamkeiten ausmachen. Zusammengenommen haben sich aus diesen theoretisch anschlussfähigen Elementen eine Reihe von Schnittstellen und inhaltlich-konzeptionellen Überschneidungen ergeben. Aus der Zusammenführung der Konzeptionen Webers und Bourdieus konnte hier zwar ein theoretisch konsistenter Ansatz und eine stringente Begrifflichkeit gewonnen werden. Jedoch handelt es sich bei dieser Konzeption um eine keine ausformulierte theoretische Synthese. Die theoretischen Konstruktionen haben eher den Status konzeptioneller Vorüberlegungen für eine noch zu leistende politische Staatssoziologie. Das theoretische Vokabular Bourdieus erwies sich auch mit Blick auf Theorien der Pfadabhängigkeit als erweiterungs- und anschlussfähig. Das gilt vor allem für das Habituskonzept. Um Pfadabhängigkeiten zu plausibilisieren kommt
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Vgl. Sharma/Gupta (2006); Migdal (2001) und Schlichte (2005).
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es darauf an einen kausalen sozialen Mechanismus zu benennen, der ein Handlungsmuster reproduziert. Der Habitus wird bei Bourdieu theoretisch präzise als ein solcher kausaler Mechanismus gefasst, mit dessen Hilfe erklärt werden kann, wie sich historischen Strukturen in das Handeln der Akteure verlängern und warum bestimmte soziale Praktiken reproduziert werden. Die Überlegungen dieser Arbeit beziehen sich also auf einen möglichen Baustein für eine Ergänzung von Theorien der Pfadabhängigkeit. Eine Weiterentwicklung dieser Theorien hat die Arbeit indes nicht geleistet. Die Anwendung der Theoreme Bourdieus hätte in den empirischen Fallstudien ferner konsequenter ausfallen können. So legt die Verwendung des Habituskonzepts als eines Systems von Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern auch eine Erschließung von Sinnbezügen der Akteure in der empirischen Analyse nahe. Das hätte eigentlich eine stärkere hermeneutische Ausrichtung der Arbeit erfordert. In diesem Zusammenhang wäre auch eine differenziertere Fassung der unterschiedlichen Kapitalsorten geboten gewesen. Beides hätte jedoch eine wesentlich detaillierte Empirie und stärkere Fokussierung auf den Einzelfall notwendig gemacht. Als nicht unproblematisch erwies sich auch die strukturgeschichtliche Rekonstruktion der Formierung des Staates. Ziel war es hier wesentliche Entwicklungslinien des Staates, von der vorsozialistischen Zeit bis heute, vermittels einer prozesssoziologischen Analyse zu rekonstruieren und dabei die Genese und den Wandel von patrimonialen Praxisformen zu plausibilisieren. Zugleich wurde dabei eine interregionale Perspektive eingenommen, bei der die Aufmerksamkeit den Subregionen Südosteuropa und Eurasien galt. Diese historische und räumliche Spanne ließ sich nicht leicht zusammenhängend behandeln. Der Anspruch, für die strukturelle Entwicklung staatlicher Herrschaft in diesen Regionen Übergreifendes zu formulieren ohne dabei die jeweiligen historischen und regionalen Besonderheiten zu vernachlässigen, ließ sich nicht immer zufrieden stellend einlösen. So konnte den einzelnen historischen Formationen, zeitlichen Phasenverschiebungen und den konkreten Formen politischer Vergesellschaftung nur ungenügend Rechnung getragen werden. Der Vergleich zwischen den vorsozialistischen Modernisierungsprozessen im Balkan, Kaukasus und Zentralasien ließ sich nur in Form eines stark verdichteten historischen Abrisses umsetzen, bei dem auf eine genauere Betrachtung der konkreten Verläufe und des regional unterschiedlichen Ausmaßes des sozialen Wandels verzichtet werden musste. Das gleiche gilt für die Betrachtung der sozialistischen Staaten. Hier wäre eine genauere Analyse der unterschiedlichen bürokratisch-autoritären Modernisierung in Südosteuropa und der Sowjetunion, etwa in Rumänien und Albanien im Vergleich zum sowjetischen Zentralasien, eigentlich notwendig gewesen. Dies hätte wichtige Unterschiede in der jeweiligen regionalspezifischen Ausprägung des patri-
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monialen Sozialismus zu Tage gefördert und eine stärkere Differenzierung zwischen den sozialistischen Staaten erlaubt. Schließlich hätte auch der Varianz der Transformationspfade nach dem Ende des Sozialismus mehr Rechnung getragen werden können. Denn die bereits vorher erkennbaren Unterschiede zwischen den Sowjetrepubliken und den Balkanländern haben sich in der Phase der Transformation noch weiter verstärkt und zu einer enormen Vielfalt politischer Formen geführt. Diese Aspekte mussten zugunsten einer zusammenhängenden, systematischen Betrachtung vernachlässigt werden. Aus diesem Grund konnten auch Pfadabhängigkeiten der Entwicklung hier nicht rekonstruiert werden. Sie ließen sich auf der Grundlage des Habituskonzepts lediglich plausibilisieren und an einigen Stellen andeuten. Die prozesssoziologische Rekonstruktion erlaubte es also nur grobe Verläufe zu skizzieren. Sie kann daher nicht den Anspruch erheben, einzelne politische Entwicklungen oder die Etablierung bestimmter Institutionen zu erklären. Diese Mängel waren allerdings nicht nur der raum-zeitlichen Tiefe der Erklärung, sondern auch dem lückenhaften empirischen Material insbesondere zur sozialistischen Zeit geschuldet. Der Gewinn der eingenommenen Perspektive liegt darin, dass durch sie historische Entwicklungslinien und Strukturbildungen in den Blick gekommen sind. Sie wurden hier allerdings eher angedeutet als wirklich erwiesen. Dazu zählen vor allem auffällige Kontinuitäten in den traditionalen Voraussetzungen der sozialistischen Staaten und ihrer späteren Patrimonialisierung. Sowohl in den vorsozialistischen Bedingungen als auch den Ausprägungen im Sozialismus und den Verläufen der Transformation lassen sich interregional übergreifende Gemeinsamkeiten festmachen. Sie legen den Schluss einer longue durée traditionaler Strukturen nahe. Hieraus lassen sich zwar keine Kausalitäten ableiten, jedoch gewinnt dadurch die Annahme der Existenz von Pfadabhängigkeiten in den Prozessen der Staatsbildung an Plausibilität. Die historischen Konstruktionen verstehen sich daher als eine erste Annäherung an die wahrscheinlichen Ursachen des politischen Wandels (Tilly 1984: 80). Als nicht einfach stellte sich auch die Verbindung zwischen der Strukturgeschichte des Staates und den Fallstudien heraus. Idealerweise hätten die Fallstudien die zuvor rekonstruierten Prozessmuster des staatlichen Wandels in Bezug auf einzelne Länder in historischen Längsschnittanalysen nachvollzogen und dabei anhand empirischen Materials konkretisiert und differenziert. Das mangelnde Wissen über die historische Ausprägung des Sozialismus in einzelnen Volks- oder Sowjetrepubliken hat diesen Schritt jedoch von vornherein ausgeschlossen. Allenfalls der Einsatz geschichtswissenschaftlicher Methoden hätte diese Lücke füllen können, was jedoch zu Lasten des gegenwartsbezogenen Erkenntnisinteresses dieser Arbeit gegangen wäre. So wurde hier stattdessen einem Fallsample den Vorzug gegeben, das sich auf die zeitgenössische, post-sozia-
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listische Staatlichkeit bezieht. Dabei musste jedoch in mehreren Punkten ein Perspektivwechsel auf den Staat vollzogen werden – von der historischen Genese des Staates und seiner Praxisformen zur mikropolitischen Feinbestimmung der Praktiken am Beispiel der Polizei in Albanien und Georgien. Dieser Übergang war nicht leicht zu vermitteln und ließ sich in der Darstellung nicht durchgehend glatt bewerkstelligen. Was die Analysen zur Polizei betrifft, so ließ sich ein empirisch fundierter und detaillierter Einblick in das geschlossene Polizeimilieu beider Länder gewinnen. Mit dem Konzept des Patrimonialismus konnte darüber hinaus eine Reihe von beobachtbaren Einzelphänomenen zusammenhängend erklärt werden. Formen personaler Herrschaft, klientelistische Netzwerke und illegale ökonomische Aneignungsweisen treten typischerweise zusammen auf und stehen in der Regel in einem Funktionszusammenhang von Tauschlogiken und Mechanismen der Machtbildung, der sich am plausibelsten als Patrimonialismus erklären lässt. Allerdings wurde auch deutlich, dass die hier verwendeten Begrifflichkeiten nur eine grobe Benennung und Einordnung der faktisch eine große Vielfalt aufweisenden Praktiken ermöglichte. Eine mikropolitisch genauere Bestimmung kleiner Mechanismen und Praxisformen wäre wünschenswert gewesen, hätte hier jedoch einen anderen theoretischen Rahmen und eine detaillierte Empirie vorausgesetzt. In der empirischen Analyse hätte darüber hinaus eine stärkere Berücksichtigung der rationalen Seite der Polizeipraxis erfolgen müssen. Sie wurde hier eher vorausgesetzt als analysiert. Die Polizei wurde in beiden Fällen nur ausschnitthaft auf die Existenz patrimonialer Handlungsmuster hin befragt. Hierin liegt denn auch ein klarer Schwachpunkt dieser Arbeit. Das formal-rationale Moment des Staates hätte mehr Beachtung erfahren müssen. Dem professionellen Habitus und Berufsethos der Beamten, dem esprit de corps der Akteure, bürokratischen Routinen, Verfahrenslogiken und anderen Aspekten rationaler Staatlichkeit konnte hier nicht ausreichend Rechnung getragen werden. Der Grund dafür ist in erster Linie in Problemen der Empirie zu suchen. Die oben genannten Gesichtspunkte gleichgewichtig in die Analyse miteinzubeziehen hätte ein wesentlich breiteres und aussagekräftigeres Datenmaterial vorausgesetzt, als es hier zusammengetragen werden konnte. Der analytische Fokus auf die patrimonialen Aspekte der Verwaltung birgt allerdings die Gefahr, die Wirklichkeit des Staates einseitig darzustellen. Daher gilt es die Reichweite und Aussagekraft der empirischen Befunde zu verdeutlichen. Sie belegen zwar die Existenz patrimonialer Praktiken und ermöglichen so wichtige Rückschlüsse auf die bürokratische Organisationswirklichkeit post-sozialistischer Staaten. Die vorgelegte Analyse kann jedoch nur eine Teilerklärung des Verwaltungshandelns sein. Sie kann nicht beanspruchen, die Funktionsweise der gesamten Verwaltung umfassend und vollständig erklärt zu haben.
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Offene Forschungsfragen Vor dem Hintergrund der Lücken und Defizite dieser Arbeit lassen sich eine Reihe von Frage- und Problemstellungen benennen, anhand derer der Gegenstand weiter erforscht werden könnte. Notwendig wären zunächst weitere historisch differenzierte Arbeiten, die die Geschichtlichkeit politischer Herrschaft berücksichtigen und dabei auch nach den historischen Voraussetzungen der postsozialistischen Staaten fragen. Denkbar wären daher prozesssoziologische Analysen, die den Kontinuitäten und Brüchen in der Entwicklung politischer Herrschaft auf die Spur kommen und die zugleich eine genauere historische Rekonstruktion von Prozessen und Verläufen erlauben (vgl. George/Bennett 2004: 205232). Diesbezügliche Arbeiten könnten sich eine sozialgeschichtliche Analyse des real existierenden Sozialismus zum Ziel setzen und diesen exemplarisch anhand einzelner Länder oder Regionen genauer rekonstruieren. Hier käme es freilich darauf an nicht die ganze Geschichte zu ergründen, sondern wesentliche Phasen der Genese und des Strukturwandels politischer Herrschaft begrifflich differenziert zu fassen und zu unterscheiden. Dabei könnte die Verfolgung möglicher Pfadabhängigkeiten es erlauben, eine größere historische Tiefenschärfe in der Analyse aktueller politischer Prozesse zu erreichen. Diese Analyse von Pfadabhängigkeiten müsste anhand einzelner Institutionen oder politischer Handlungsfelder erfolgen, um Persistenzen und Kontinuitäten in der Entwicklung hinreichend konkretisieren zu können. Neben der Analyse von Pfadabhängigkeiten wären jedoch auch Kontingenzen, Diskontinuitäten und Bifurkationen von Pfaden zu berücksichtigen, wie sie politische Umbrüche und Phasen beschleunigten sozialen Wandels kennzeichnen (vgl. Beyer 2006: 145-243). Für solche historisch differenzierten Analysen könnte die in dieser Arbeit gewählte Verbindung einer strukturbezogenen Erklärung mit akteursbezogenen kausalen Mechanismen, wie sie auch Herbert Kitschelt (2003) als eine Erklärung von Transformationsprozessen vorgeschlagen hat, eine mögliche Vorgehensweise darstellen. Strukturgeschichtlich und vergleichend angelegte Arbeiten, die systematisch Verläufe der Staatsbildung und Modernisierung analysieren, wären auch geeignet, die hier entwickelten Thesen zu falsifizieren oder weiter zu differenzieren. In dieser Arbeit wurde ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den vorsozialistischen Bedingungen und der späteren Ausbildung patrimonialer Elemente im Sozialismus angenommen. Eine Widerlegung dieser These wäre es, wenn sich in den Formen des Sozialismus keine wesentlichen Unterschiede feststellen ließen, also beispielsweise patrimoniale Praktiken im sozialistischen Polen ebenso wie im sowjetischen Georgien nachgewiesen werden können. Dieser Befund würde die Schlussfolgerung nahe legen, dass der Patrimonialismus zur Systemrationalität aller sozialistischen Regime gezählt hat und nicht mit den traditionalen
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Voraussetzungen in einzelnen Regionen kovariiert. Um dies zu belegen bedürfte es eines entsprechenden Untersuchungsdesigns, das z.B. den Sozialismus in Mittelosteuropa und im Kaukasus und die dortige vorsozialistische Geschichte im Wege eines systematischen Vergleichs analysiert, um Kovariationen zuverlässig zu identifizieren. In diesem Zusammenhang wäre auch eine stärkere Unterscheidung der weiteren Entwicklungswege der osteuropäischen Staaten vonnöten. Denn diese folgen keiner einheitlichen Richtung. Künftigen Arbeiten käme die Aufgabe zu, genauer zwischen den Regimepfaden beispielsweise in Südosteuropa und in Zentralasien zu differenzieren. So lassen sich die dortigen Staaten zwar übergreifend in einem modernisierungstheoretischen Sinn als hybrid bezeichnen, jedoch können in ihrer Modernisierung deutliche Phasenverschiebungen beobachtet werden. In diesen historischen Differenzen liegt vermutlich eine Ursache dafür, dass sich heute in Zentralasien stärker als in Südosteuropa patrimoniale und autoritäre Herrschaftselemente ausprägen. Diese und andere Varianzen wären im Wege vergleichender strukturgeschichtlicher Analysen zu erschließen, um so dem regional unterschiedlichen Ausmaß sozialer Differenzierung und teilautonomer bürokratischer Staatlichkeit besser gerecht zu werden. Vermutlich lassen sich dabei aber auch ebenso intraregionale Unterschiede wie interregionale Gemeinsamkeiten ausmachen, die sich einer einfachen regionalen Zuordnung entziehen. Dies wäre auch ein Beitrag zur Überwindung der stark ausgeprägten regionalen Aufgliederung der Osteuropaforschung. Die Politikwissenschaft verweist diese stärkere Berücksichtigung der Geschichtlichkeit auf die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen. Sie wird diese historische Arbeit nur zum Teil selbst leisten können und weiterhin auf die Arbeit von Historikern angewiesen sein. Aufgabe künftiger Forschungen sollte ferner eine weitere Untersuchung der Verwaltung und bürokratischen Praxis der Staaten in Osteuropa sein. Dieses Feld weist nicht nur in der Transformationsforschung, sondern auch in der Literatur zu anderen Staaten jenseits der OECD-Welt große Bearbeitungslücken auf (Schlichte 2005: 19). Weitere Analysen zur öffentlichen Verwaltung der postsozialistischen Staaten wären notwendig. Diese könnten ebenso die Polizei wie das Militär, die Justiz, die Steuerverwaltung, die Zollbehörden oder die Lokalverwaltung umfassen. Angesichts des mangelnden Wissens über die bürokratische Seite des Staates dürften weiterhin Studien mit explorativen Charakter vonnöten sein, um die unbekannte Welt der Verwaltung in den peripheren Staaten Osteuropas und anderswo zu erhellen. Hierfür könnte der Typus des bürokratisch-patrimonialen Staates als ein Ausgangspunkt der Analyse dienen. Eine Weiterentwicklung der hier gewählten empirischen Vorgehensweise wäre es, bürokratische und patrimoniale Elemente gleichermaßen zum Gegenstand der Analyse zu machen (vgl. Erdmann/Engel 2007: 104f). Die unterschiedliche Arti-
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kulation bürokratischer und patrimonialer Logiken sowie die Mischverhältnisse und Gewichtungen dieser Logiken in den Praktiken der Akteure könnten dann genauer bestimmt werden, um Aufschluss über die konkrete Funktionsweise staatlicher Verwaltungen zu erlangen. Dabei käme es freilich darauf an nicht alle möglichen abweichenden Verhaltensweisen und Unregelmäßigkeiten unter das patrimoniale Paradigma zu subsumieren und damit zu simplifizieren. Mangelnde Kompetenzabgrenzungen, informelles Handeln, partikulare Orientierungen oder eine Verschränkung von Politik und Verwaltung können nicht per se als Ausweis für Patrimonialismus gelten. Denn diese und andere Phänomene sind durchaus kennzeichnend für formale Organisationen und damit für den modernen Staat insgesamt.2 Dass auch die öffentliche Verwaltung der westlichen Staaten nicht der Weber’schen Idealvorstellung eines hierarchisch zentralisierten und unpolitischen, rein instrumentell gebrauchten Apparates entspricht, ist seit langem bekannt. Um die analytische Trennschärfe der Kategorie zu bewahren käme es daher darauf an, nur dann wirklich von patrimonialen Praktiken zu sprechen, wenn die hier genannten drei Elemente – die Willkür der Big Men, der Klientelismus und die Formen ökonomischer Aneignung – in einem signifikanten Ausmaß auftreten und sich gleichzeitig beobachten lassen. Ihr einzelnes Auftreten wäre danach eine zwar notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Patrimonialismus. Ein weiterer wesentlicher Aspekt dem mehr Beachtung geschenkt werden müsste, wäre die fortschreitende Internationalisierung staatlicher Herrschaft, die sich in den zeitgenössischen Staaten der Weltgesellschaft an unzähligen internationalen Vermittlungen ablesen lässt (Schlichte 2005: 58-61). In der Transformationsforschung ist diese globale Einbettung erst in letzter Zeit stärker thematisiert worden (vgl. Jacoby 2006). Zweifellos war und ist auch die Staatsbildung in Osteuropa das Ergebnis eines globalen Vergesellschaftungsprozesses. Diese weltgesellschaftliche Einbettung konnte in dieser Arbeit, etwa bei der Rekonstruktion der Staatsbildung in Osteuropa oder der Darstellung der internationalisierten polizeilichen Reformpolitik, nur gestreift werden. Die Dynamiken der Internationalisierung von Herrschaft anhand anderer Bereiche des Staates weiter zu verfolgen wäre ein lohnenswertes Unterfangen. In Arbeiten zur Auswirkung der Erweiterung der EU auf die mittelosteuropäischen Länder ist das schon passiert. Ein weiter Schritt könnte darin bestehen die Zwänge und Opportunitäten zu analysieren, die sich für die Staaten Südosteuropas und Eurasiens aus ihren Bemühungen einer Annäherung an die westliche Staatengemeinschaft ergeben. Denn die angestrebte Anpassung an westliche Standards
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Das gilt gerade auch für Formen hybrider Verwaltung in Osteuropa (vgl. Lehmbruch 2005).
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setzt stets Reformen voraus und ist zugleich eine Welt der Projekte: der good governance, der „Sicherheitssektorreform“, der „Korruptionsbekämpfung“, der „Ausbildung“, der „Förderung der Zivilgesellschaft“ usw. In diesem Feld kommt es für die lokalen politischen Akteure vor allem auf kulturelles Kapital an, nämlich auf die Beherrschung von Begriffen und Argumentationsfiguren westlicher Diskurse. Diese Anpassung lässt sich als eine Form der globalen Akkulturation von Eliten verstehen (Schlichte/Wilke 2000: 369). Sie ist jedoch für die lokalen politischen Akteure nicht nur ein notwendiges Erfordernis, sondern eröffnet ihnen auch Machtchancen, die sich durch die Konvertierung des kulturellen Kapitals in andere Kapitalsorten ergeben. Beispielhaft hierfür ist die Antikorruptionspolitik, die mittlerweile zum Standard aller good governance-Programme zählt. Sie wird einerseits von der westlichen Gemeinschaft eingefordert und ist insofern eine Reaktion auf äußere Erwartungen und Restriktionen. Gleichzeitig wird sie von den lokalen Akteuren in vielen post-sozialistischen Staaten auch instrumentalisiert, um politische Gegner aus dem Weg zu räumen und neue Klienteln zu etablieren – eine bereits im Sozialismus bekannte Praktik. Die Korruptionsbekämpfung verschafft international Legitimität und symbolisches Kapital, sie hat jedoch vielerorts ambivalenten Charakter und nicht-intendierte Ergebnisse zur Folge. Welche Effekte die internationale Einbettung der post-sozialistischen Staaten in anderen Politikfeldern hat und welche Akteursfiguration sich daraus ergeben, ist noch weithin unerforscht. Ein Sonderfall, aber deshalb nicht weniger relevant, wären in diesem Zusammenhang auch diejenigen Quasi-Staaten Südosteuropas und Eurasiens, die durch eine besonders hohe Außenabhängigkeit gekennzeichnet sind. Die Effekte der internationalen Protektorate im ehemaligen Jugoslawien und ihrer bürokratischen Strategien der Konfliktverregelung auf das lokale politische Feld oder die Folgen der russischen Patronage für die Herrschaft in den nicht-anerkannten Ministaaten Eurasiens wären hier lohnenswerte Forschungsfelder. Die entsprechenden Untersuchungen wären ein Beitrag zur Überwindung der gängigen aber immer weniger angemessenen Trennung politischer Räume in ein „innen“ und „außen“, wie sie auch in der Transformationsforschung verbreitet ist.
Aufgaben und Perspektiven der Forschung In dieser Arbeit sind verschiedene Forschungszweige thematisiert worden, die sich den Disziplinen der vergleichenden Regierungslehre und Internationalen Beziehungen zuordnen lassen und die den Kontext und Ausgangspunkt der Argumentation gebildet haben. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit sind nun an diese Debatten rückzubinden.
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Für die Transformationsforschung lässt sich aus den hier erbrachten Befunden zunächst die Forderung ableiten, politische Herrschaft in Osteuropa nicht länger nur auf die Alternative von Demokratie und Autokratie zu reduzieren und autoritäre Regime wiederum nur daraufhin zu untersuchen, was ihnen mit Blick auf entwickelte Demokratien fehlt. Den vielfältigen Aspekten politischer Herrschaft wird dieses dichotomische Schema nicht ausreichend gerecht. Die Transformationsforschung müsste neben bürokratischen insbesondere patrimonialen Formen von Herrschaft mehr Beachtung schenken. Dies würde bedeuten nicht länger eine Eigenlogik und Autonomie rein politischer Prozesse vorauszusetzen, sondern stattdessen stärker die politische Ökonomie staatlicher Herrschaft als analytische Dimension zu berücksichtigen. Die Bedeutung verkoppelter politischer und ökonomischer Macht, die wirtschaftliche Bedeutung staatlicher Ämter, die Aneignung und Verteilung von materiellen Ressourcen und die damit generierte politische Unterstützung – all diese Aspekte wären wesentlich stärker zu gewichten, als es mit dem Fokus auf Demokratie oder Nicht-Demokratie bislang der Fall gewesen ist. Die zweite wesentliche Forderung, die sich aus dieser Arbeit für die Transformationsforschung ableiten lässt besteht darin, die Dimension sozialen Wandels stärker zu berücksichtigen und den Umstand, dass in vielen post-sozialistischen Ländern moderne staatliche Elemente nicht durchgängig das Hauptmerkmal des Politischen sind. Dazu bedürfte es einer modernisierungstheoretischen Perspektive, die es erlaubt die Formen politischer Herrschaft in Osteuropa erst einmal adäquat zu benennen und zu differenzieren. Fasst man den modernen Staat als Idealtypus auf, dann lassen sich in einem ersten Schritt die empirisch vorfindlichen Staatsgebilde in Osteuropa danach unterscheiden, wie weit sie diesem Ideal entsprechen. Für die mittelosteuropäischen Staaten gilt, dass sie sich in zentralen Bereichen dem Ideal des modernen Staates weitgehend angenähert haben. Zwar spielen auch hier traditionale Elemente politischer Herrschaft eine Rolle. Nur sind sie dort nicht dominant. In der Mehrzahl der post-sozialistischen Staaten ist das anders. Von der Feststellung dieser Abweichung vom Idealtyp des modernen Staates ist es allerdings nur ein kleiner Schritt zur Teleologie und zur Interpretation politischer Ordnungen als „gescheitert“. Und von da ist es dann schließlich auch nicht mehr weit zur Tribalisierung und Kriminalisierung der Osteuropäer und damit zu einem neuen Orientalismus (Sampson 1998). Dessen ungeachtet behält die sozialwissenschaftliche Unterscheidung von Tradition und Moderne ihren Sinn und sie könnte auch der Transformationsforschung als Leitdifferenz dienen. Dabei käme es jedoch darauf an, diese modernisierungstheoretische Perspektive zu explizieren und nicht als verdeckte Teleologie mitzuführen. Statt von einer notwendigen Entfaltung demokratischer, bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse auszugehen, gälte es die Widersprüche, Heterogenitäten und
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Ungleichzeitigkeiten hybrider Formen in den Blick zu nehmen, in denen sich traditionale und moderne Logiken verschränken. Die bislang vernachlässigte Peripherie Osteuropas müssten dann stärker systematisch erforscht und zugleich in adäquaten Begrifflichkeiten erklärt werden, ohne sie ex negativo als „gescheiterte“ Ordnungen zu diffamieren. Hierfür könnte der Typus des bürokratischpatrimonialen Staates ein Ausgangspunkt sein. Aus dieser Arbeit ergeben sich auch Schlussfolgerungen für diejenigen Diskussionen, die den Typus des Patrimonialismus zur Erklärung von Staaten jenseits der OECD-Welt verwenden. In diesen Debatten ist zumeist von „neo-patrimonialen“ oder „sultanistischen“ Regimen die Rede. Kennzeichnend für diese Regime ist, dass in ihnen das patrimoniale Element vorherrschend ist. Alles ist auf die Person des Präsidenten, des willkürlich regierenden obersten Machthabers ausgerichtet. Die Person des Präsidenten ist daher auch der Schlüssel zum Verständnis der Regime (Bratton/van de Walle 1997: 63ff; Chehabi/Linz 1998). Diese Konzeption ist griffig aber auch beschränkt. Sie lehnt sich eng an den Weber’schen Idealtypus der reinen patrimonialen Herrschaft an und gewinnt dadurch an Eindeutigkeit, sie lässt sich jedoch nur auf wenige zeitgenössische Staaten wirklich anwenden, die typischerweise auch institutionell als Präsidialregime verfasst sind. Die Konzeption dieser Arbeit erlaubt demgegenüber eine differenziertere Betrachtung. Patrimoniale Elemente lassen sich auch in anderen Formen beobachten, wie die Befunde dieser Arbeit deutlich machen. Anstatt die Logik patrimonialer Herrschaft von der Person des Präsidenten her zu bestimmen, geht das hier zugrunde gelegte analytische Verständnis von Praktiken aus, die sich auf einzelne Organisationsformen und Handlungsmuster im politischen oder bürokratischen Feld beziehen lassen. Der Gewinn besteht hier in einer Differenzierung, die das Verständnis des Patrimonialismus von der Figur des alles überragenden Präsidenten löst und in der Lage ist, Patrimonialisierungen auch im Kleinen nachzuweisen: in der Willkür einzelner Big Man auf den nachgelagerten Ebenen des Staatsapparates, in der Klientelpolitik von Parteien oder in Formen der Selbstfinanzierung von Behörden. Mit dem hier entwickelten Verständnis lassen sich einzelne Elemente patrimonialer Herrschaft genauer benennen und gewichten, so dass eine stärkere Feinbestimmung patrimonialer Systeme möglich wird. Hiervon ausgehend lassen sich dann auch differenzierte Regime- oder Staatstypen bilden, wozu in dieser Arbeit mit dem bürokratisch-patrimonialen Staat ein erster Schritt getan wurde. Solche teilbürokratisierten, quasi-patrimonialen Formen wären in einer vergleichenden Forschung stärker mit zu berücksichtigen. Schlussfolgerungen ergeben sich schließlich für diejenigen Diskussionen der Internationalen Beziehungen, die sich um die Rolle und Zukunft des Staates
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jenseits der OECD-Welt drehen. Das betrifft auch die politische Soziologie des Staates in der Weltgesellschaft, die in dieser Arbeit den allgemeinen theoretischen Ausgangspunkt darstellte. Deutlich wurde hier, dass die Staaten Südosteuropas und Eurasiens Ähnlichkeiten zu den politischen Formen anderswo auf der Welt aufweisen und sich daher durchaus auch vergleichend analysieren lassen (Schlichte 2005: 123ff). Aufgabe einer politischen Soziologie der Weltgesellschaft wäre es daher, weiter die Aufhebung der überkommenen und unfruchtbaren wissenschaftlichen Arbeitsteilung einer getrennten Behandlung von Zweiter und Dritter Welt zu betreiben (vgl. Pletsch 1981). Sie müsste diese Arbeitsteilung, die sich gegenwärtig in der Abgrenzung von Transformationsforschung und Entwicklungsländerforschung reproduziert (Kollmorgen 2004), vermeiden. Eine politische Soziologie der Weltgesellschaft, die diejenigen Staaten thematisiert, in denen sich moderne Verhältnisse nicht durchgängig entfaltet haben, müsste in einer vergleichenden Perspektive die Staaten in Afrika, Lateinamerika und Asien gleichberechtigt mit den Staaten Osteuropas behandeln. Dies würde nicht die Einebnung von Unterschieden bedeuten, sondern wäre in mehrerlei Hinsicht ein Gewinn an Differenzierung. Eine solche erweiterte Perspektive könnte zum Anlass genommen werden, statt der geographischen Nähe die Ähnlichkeiten institutioneller Formen noch stärker zu gewichten und die verschiedenen Staaten weniger nach Regionen, sondern systematisch nach dem Grad der erreichten internen sozialen Differenzierung und staatlichen Autonomie typologisch zu ordnen (Schlichte 2005: 123-125). Zu den hierzu bereits vorliegenden Ansätzen (vgl. ebd.) könnte der bürokratisch-patrimoniale Staat ein Beitrag sein. Vermutlich lässt sich dieser Typus auch auf Länder Lateinamerikas anwenden, die wie die post-sozialistischen Länder länger andauernde Phasen der Verstaatlichung durchlaufen haben. Hieraus könnten sich neue vergleichende Perspektiven ergeben. Vom Beispiel der Transformationen in Osteuropa ließe sich darüber hinaus lernen, dass der Staat mit dem einmal erreichten Ausmaß der Bürokratisierung und Verstaatlichung der Gesellschaft auch nach Phasen institutioneller Erosion die dominierende politische Form bleibt. Hieraus lassen sich Schlussfolgerungen in Bezug auf die in der Diskussion verbreitete Hypothese vom drohenden Zerfall des Staates ziehen. In vielen Weltregionen scheint die Zukunft des Staates in Frage zu stehen. Staatliche Herrschaft wird durch machtvolle Intermediäre, Kriegsherren und andere nicht-staatliche Akteure herausgefordert. Kernbereiche des Staates sind von institutionellen Zerfallsprozessen betroffen. Als Herrschaftsmodell scheint der Staat damit vielerorts ausgedient zu haben. Mit Blick auf die Befunde der vorliegenden Arbeit ist dieser Abgesang auf den Staat jedoch zu relativieren. Zwar haben auch die Staaten Südosteuropas und Eurasiens mit dem Kollaps des Sozialismus eine Phase der institutionellen Erosion und ge-
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waltförmigen Transformation durchlaufen. Dennoch lassen sich diese Umbrüche nicht als Prozesse des Staatszerfalls begreifen. Sie lassen sich rückblickend vielmehr als Konjunkturen interpretieren, die in einer Rekonfiguration und Rekonsolidierung des Staates gemündet sind. Der Grund dafür, so legen es die Befunde dieser Arbeit nahe, dürfte in dem bereits erreichten Ausmaß der Verstaatlichung der Gesellschaften Osteuropas liegen. Denn der Sozialismus war von der radikalen ökonomischen Rekonstruktion über die erzwungene Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen und Verwaltung ethnischer Zuordnungen bis zur amtlichen Registrierung von Schreibmaschinen ein durch und durch staatliches Projekt. Daher ist auch der post-sozialistische Staat in den Erwartungshaltungen seiner Bürger präsent. Er hat sich im Habitus der Akteure verankert. Das Ideal des rationalen, dem Allgemeininteresse verpflichteten Staates hat sich auch in Südosteuropa und Eurasien verallgemeinert und kommt in Diskursen über Staatsaufgaben, Korruption, Recht, öffentliche Ordnung und Sicherheit zum Ausdruck. Das Ausmaß der Verstaatlichung lässt sich auch daran ablesen, dass nach kriegerischen Phasen der Transformation an den Rändern Osteuropas überall die Rekonsolidierung des staatlichen Kernmerkmals, des Gewaltmonopols, gelang. Anders als in Afrika sind in den post-sozialistischen Kriegen im ehemaligen Jugoslawien oder im Kaukasus Phänomene der „Warlord-Herrschaft“ und der Privatisierung der Gewalt begrenzt geblieben. Der Staat bleibt das wichtigste Feld für die Reproduktion und Kämpfe der Eliten um materielle Ressourcen und Patronagemacht. Das gilt auch für die hier analysierten Fälle Albanien und Georgien, die sich deshalb auch nicht als schwache oder gescheiterte Staaten verstehen lassen. Die Transformation der post-sozialistischen Staaten bestätigt die These, dass die zeitgenössischen Staaten der Weltgesellschaft unterschiedlichen Konjunkturen und Dynamiken unterworfen sind, die keineswegs überall zu einer institutionellen Erosion führen, sondern ebenso auf eine Neuformierung von Staatlichkeit hinauslaufen können (Schlichte 2005: 283). Dies verweist auf alte Einsichten. Auch die Entwicklung des Staates im Westen war ein langfristiger, widersprüchlicher und konfliktiver Prozess (Elias 1997). Festzuhalten bleibt, dass sich der Staat auch aus kriminellen und informellen Sphären heraus entwickeln kann, wofür die gesamte Geschichte der westlichen Staatsbildung Pate steht, in der sich der moderne Staat erst im Verlauf eines langen Zeitraumes aus feudalen und patrimonialen Herrschaftsformen ausdifferenziert hat. Illegale und kriminelle Praktiken sind Teil von Staatsbildungsprozessen und stehen dem „Wesen“ des Staates nicht entgegen (Tilly 1985; Heyman 1999). Ob sich aus den historischen Erfahrungen der westlichen Staatsbildungsprozesse auch eine Tendenz zur Rationalisierung des Staates in Osteuropa ableiten lässt, ist jedoch fraglich. Denn die Herausbildung rationaler Staatlichkeit in Westeuropa und Nord-
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amerika erfolgte unter höchst singulären Bedingungen und basierte auf einer Reihe von Einzelprozessen (Breuer et al. 1982). Als Ideal und politisch wirksames Leitbild dürfte der moderne Staat gleichwohl wirkmächtig bleiben (vgl. Schlichte 2005: 84ff). Die weitere Erforschung politischer Herrschaft jenseits der OECD-Welt müsste vermutlich der Eigenlogik des Gegenstandes und den Bedingungen des empirischen Feldes stärker Rechnung tragen und auf dieser Grundlage auch zu einer realistischen Einschätzung bezüglich der Möglichkeiten und Grenzen sozialwissenschaftlicher Erklärungen kommen. Die systematische Überprüfung von Hypothesen und die dazu konzipierten Techniken der Operationalisierung stellen vermutlich nicht überall eine geeignete Herangehensweise dar. Denn sie setzen vielfach eine gut verfügbare und aggregierte Empirie voraus, wie sie u.a. der Staat selbst durch die bürokratische Erfassung der eigenen Bevölkerung in Form von Statistiken und Erhebungen erbringt, wie sie durch die Selbstbeschreibung formaler Organisationen zustande kommt oder wie sie in Form vorhandener Datensätze besteht, die bereits in anderen Forschungen produziert wurden. Auf solche Voraussetzungen können sich vor allem Arbeiten stützten, die den Staat in der OECD-Welt analysieren. Für die Erforschung der Mehrzahl der Staaten der Weltgesellschaft dürften diese Voraussetzungen jedoch nur eingeschränkt gegeben sein, was in dieser Arbeit am Beispiel der Polizeiverwaltung in Albanien und Georgien deutlich wurde. Solche Bedingungen haben Folgen für die Auswahl der Methoden. Denn diese Auswahl muss sich an der Leistungsfähigkeit einer Methode für eine spezifische Problemlösung orientieren. Die Mehrzahl der formalisierten Methoden, die zum Kanon der empirischen Sozialforschung zählen, ist vermutlich für eine Reihe von Frage- und Problemstellungen in Bezug auf den Staat jenseits der OECD-Welt wenig geeignet. In Bezug auf die Erforschung der dortigen politischen Herrschaftsformen dürften vermutlich in erster Linie qualitativ orientierte Arbeiten mit einem hohen interpretativen Anteil einen Erkenntnisgewinn versprechen (vgl. Kalthoff et al. 2008). Dies bedeutet weder den Verzicht auf eine systematische Herangehensweise noch folgt daraus eine Aufforderung zum „Erleben“ fremder Kulturen. Einen relevanten Ertrag werden vor allem solche Arbeiten erbringen, die auch auf ethnologische und explorative Herangehensweisen rekurrieren und die in der Lage sind, theoretische Konstruktionen am empirischen Material zu entfalten (vgl. ebd.; Schlichte 2005: 47-58). Dabei dürften es vor allem Arbeiten mit geringen Fallzahlen oder auch theoriegeleitete Einzelfallstudien sein (vgl. Bowen/ Petersen 1999; George/Bennett 2004), aus denen sich weiterführende Einblicke in die Dynamiken politischer Herrschaft jenseits der OECD-Welt ergeben. Solche Arbeiten bedürften vor allem einer an die Bedingungen des empirischen Feldes angepassten Theoriesprache, die in der Lage ist beobachtete Zusammenhän-
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ge präzise begrifflich zu fassen. Ein adäquates Vokabular muss die Konflikte und Widersprüchlichkeiten politischer Herrschaft benennen und sie nicht mit harmonisierenden Begrifflichkeiten wie „Zivilgesellschaft“ oder „Rechtsstaat“ terminologisch verschleifen. Eine solche an den Gegenstand angepasste Theorieund Beobachtungssprache wäre die Voraussetzung, um die Dinge überhaupt erstmal richtig zu beschreiben und verfügbares empirisches Material plausibel zu interpretieren, um es dann auch analysieren zu können. Eingedenk der schwierigen Empirie und dem nicht-experimentellen, historischen Charakter des Gegenstandes wären dabei bescheidenere Ansprüche an Kausalanalysen zu stellen. Ein wesentliches Ziel von Analysen bestünde zunächst einmal in der Untersuchung, ob bestimmte Phänomene unter bestimmten Bedingungen auftreten oder nicht. Die Suche nach den wahrscheinlichen Ursachen dieser Phänomene wäre dann erst der nächste Schritt (Lieberson 1985: 152f, 161f, 219f). Dabei bestünde die Herausforderung darin, den theoretischen Anspruch an Reichweite und Verallgemeinerung mit der Erfassung vieler Merkmale einzelner Fälle und einer hinreichenden historischen Tiefenschärfe zu vereinbaren. Es sind allerdings gerade diese gegensätzlichen Ansprüche, die dazu beigetragen haben, dass sich unterschiedliche Disziplinen wie Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Ethnologie ausdifferenziert haben (Gerring 2001: 103-106). Ihre Abgrenzung ein Stück weit zu überwinden müsste ein zentrales Anliegen sozialwissenschaftlicher Forschung sein.
Verzeichnis der Interviewpartner Verzeichnis der Interviewpartner In der folgenden Liste der Gesprächspartner finden sich aus Gründen der Anonymität keine detaillierten Angaben zu den befragten Personen und ihren polizeilichen Funktionen. Darüber hinaus wurde auch das Datum des Gesprächs weggelassen, um eventuell Rückschlüsse auf einzelne Personen auszuschließen und die Anonymität der Teilnehmer zu wahren. Die Interviews in Albanien fanden im April 2004 und September 2005 statt. Die Gespräche in Georgien fanden von November 2003 bis Juli 2004 sowie im April 2005 und September 2006 statt. Die Zahlen in Klammern hinter den Gesprächspartnern zeigen die Anzahl der Interviews an. Der angegebene Ort bezieht sich auf die Stelle, wo das Gespräch stattfand und bezeichnet nicht notwendig den Einsatzort der befragten Person. Gesprächspartner in Albanien A1 A2 A3 A4 A5 A6 A7 A8 A9 A10 A11 A12 A13 A14 A15 A16 A17 A18 A19 A20 A21 A22 A23 A24 A25 A26
Ehem. Innenminister, Tirana Ehem. Innenminister, Tirana Ehem. Generaldirektor der Polizei, Tirana Distriktpolizeichef, Tirana Ehem. Distriktpolizeichef, Tirana Ehem. Mitarbeiter der Personalabteilung des Innenministeriums und des SHKB, Tirana (5) Oberkommissar, Kriminalpolizei, Tirana Ehem. Kriminalpolizist, Tirana Direktor der Polizeiakademie, Tirana Mitarbeiter der Polizeiakademie, Tirana Mitarbeiter der Polizeiakademie, Tirana Studentin der Polizeiakademie, Tirana Student der Polizeiakademie, Tirana Student der Polizeiakademie, Tirana Kommandeur RENEA-Einheit, Tirana Erster Agent, Verkehrspolizei, Tirana Erster Agent, Verkehrspolizei, Tirana Distriktpolizeichef, Durres Distriktpolizeichef, Durres Kommissariatschef, Durres Mitarbeiter im Hafenkommissariat, Kriminalpolizei, Durres Oberassistent, Ordnungspolizei, Durres Assistent, Kriminalpolizei, Durres Erster Agent, Ordnungspolizei, Durres Unterkommissar Kriminalpolizei, ehem. Leiter eines Büros zur Schmuggelbekämpfung, Durres/Tirana (2) Distriktpolizeichef, Gjirokastra
226 A27 A28 A29 A30 A31 A32 A33 A34 A35 A36 A37 A38 A39 A40 A41 A42 A43 A44 A45 A46 A47 A48 A49 A50 A51 A52 A53 A54 A55 A56 A57 A58 A59 A60 A61 A62 A63 A64 A65 A66
Verzeichnis der Interviewpartner Distriktpolizeichef, Vlora Kommissariatschef, Saranda Unterkommissar, Grenzpolizei, Saranda Distriktpolizeichef, Elbasan Oberinspektor, Leiter der Ordnungspolizei, Elbasan Kommissariatschef, Shkoder Mitarbeiter im Innenministerium, Abt. für Finanzen, Tirana Mitarbeiter im Innenministerium, Abt. Internationale Beziehungen, Tirana Ehem. stellv. Direktor des SHKB, Tirana Kriminologe, Tirana Ehem. Abteilungsleiter im Geheimdienst und Berater im Innenministerium, Tirana Rechtsberater im Innenministerium, Tirana Mitarbeiter des Parlaments, Ausschuss für öffentliche Ordnung und Geheimdienste, Tirana Taxifahrer Gjirokastra Taxifahrer Saranda Arbjan Mazniku, „Mjaft“, Tirana Alban Bala, Journalist, Tirana Sotiraq Hroni, Institute for Democracy and Mediation, Tirana Nertila Mosko, Hans-Seidel-Stiftung, Tirana Kozara Kati, Albanian Center for Human Rights, Tirana Auron Pasha, Institute for Development Research and Alternatives, Tirana Ismail Beka, Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, Tirana Pjerin Marku, Albanian Coalition against Corruption, Tirana Genc Ruli, Institute for Contemporary Studies, Tirana Mitarbeiter der OSZE, Anti-Trafficking-Unit, Tirana (3) Mitarbeitern der OSZE, Durres (2) Mitarbeiter der OSZE, Judicial Reform, Tirana Mitarbeiter der OSZE, Gjirokastra Mitarbeiterin der OSZE, Gjirokastra Tina Gewis, OSZE, Vlora Juan-Pedro Perez-Gomez, OSZE, Vlora Mitarbeiter der OSZE, Shkoder Klaus Schmidt, PAMECA, Head of Mission Alan Moyer, PAMECA (2) Mitarbeiter, PAMECA Mitarbeiter PAMECA, Organised Crime Coordinator, Tirana Mitarbeiter PAMECA, Senior Technical Assistant for Financial Management, Tirana Mitarbeiter PAMECA, Adviser Financial Management, Tirana José Santiago, PAMECA Sabine Bloch, stellv. Missionsleiterin, Deutsche Botschaft, Tirana
Verzeichnis der Interviewpartner Gesprächspartner in Georgien G1 G2 G3 G4 G5 G6 G7 G8 G9 G10 G11 G12 G13 G14 G15 G16 G17 G18 G19 G20 G21 G22 G23 G24 G25 G26 G27 G28 G29 G30 G31 G32 G33 G34 G35 G36 G37 G38 G39 G40 G41
Ehem. Leiter der Kriminalpolizei, Tiflis Oberleutnant der Polizei, Hauptverwaltung, Tiflis Ehem. Dozent der Polizeiakademie und Kriminologe, Tiflis Direktor der Abt. Information und Analyse des Innenministeriums, Tiflis Ehem. stellv. Minister des Sicherheitsministeriums, Tiflis (2) Ehem. Inspektor der Kriminalpolizei (2) Ehem. Polizeichef der Hauptstadt, Tiflis Leiter der Abteilung für Europäische Integration im Innenministerium, Tiflis Ehem. Ermittler, Mitarbeiter im Innenministerium, Abteilung für Ermittlung, Tiflis Stellvertretender Leiter der Polizeiakademie, Tiflis Mitarbeiter der Polizeiakademie, Human Ressources Manager, Tiflis Ehem. Pro-Rektor der Polizeiakademie, Tiflis Dolmetscherin, Polizeiakademie, Tiflis Anwalt und ehem. Kriminalpolizist, Tiflis Polizeioberst, Innenministerium, Tiflis Polizeileutnant, Innenministerium, Tiflis Polizeihauptmann, Innenministerium, Tiflis Oberleutnant, Innenministerium, Tiflis Polizeioberst , Ausbilder an der Polizeiakademie, Tiflis Polizeihauptmann, Ausbilder an der Polizeiakademie, Tiflis Polizeimajor, Haushaltsverwaltung der Polizeiakademie, Tiflis Polizeimajor, stellv. Leiter des Lehrstuhls an der Polizeiakademie, Tiflis Polizeimajor, Bezirkspolizei, Tiflis Polizeileutnant, Bezirkspolizei, Tiflis Polizeimajor, Stadtpolizei, Tiflis Polizeioberst, Stadtpolizei, Tiflis Polizeioberst, Stadtpolizei, Tiflis Polizeihauptmann, Bezirkspolizei, Tiflis Polizeimajor, Bezirkspolizei, Tiflis Polizeioberleutnant, Bezirkspolizei, Tiflis Polizeioberleutnant, Bezirkspolizei, Tiflis Polizeioberst, Ausbilder an der Polizeiakademie, Tiflis Polizeihauptmann, Tiflis Polizeioberst, Innenministerium, Tiflis Polizeioberst, Tiflis Polizeihauptmann, Leiter des Wachdienstes, Tiflis Polizeiunteroffizier, Wachdienst, Tiflis Polizeioberst, Leiter des Lehrstuhls an der Polizeiakademie, Tiflis Polizeileutnant, Wachdienst, Tiflis Polizeihauptmann, Tiflis Polizeimajor, Tiflis
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228 G42 G43 G44 G45 G46 G47 G48 G49 G50 G51 G52 G53 G54 G55 G56 G57 G58 G59 G60 G61 G62
Verzeichnis der Interviewpartner Polizeioberleutnant, Tiflis Polizeihauptmann, Tiflis Mitarbeiter der staatlichen Kontrollkammer, Tiflis Jugendlicher Straftäter, Tiflis Jugendlicher Straftäter, Tiflis Jugendlicher Straftäter, Tiflis Dieb, Tiflis Privattaxifahrer, Tiflis Minibusfahrer, Tiflis David Darchiashvili, Direktor der Georgian Open Society Foundation, Tiflis Shalva Papuashvili, GTZ Rechtsberatungsprojekt im Südkaukasus, Tiflis Giorgi Vashakidze, freier Mitarbeiter des International Security Network, Tiflis Eliso Chapidze, stellv. Chefredakteurin der Zeitung Rezonansi, Tiflis Alexandre Kupatadze, Researcher TraCCC, Tiflis David Usupashvili, Vorsitzender der Republikanischen Partei, Tiflis David Losaberidze, Programmdirektor, The Caucasus Institute for Peace, Democracy and Development, Tiflis Journalistin der Zeitung 24 Saati, Tiflis Journalistin der Zeitung 24 Saati, Tiflis Aslan Chanidze, Leiter der regionalen Organisation der Georgian Young Lawyers Association, Batumi Zviad Koridze, Freier Journalist, Tiflis Nina Khatiskatsi, Programmdirektorin, Transparency International, Tiflis
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