Springer-Lehrbuch
Hermann Ribhegge
Europäische Wirtschaftsund Sozialpolitik
Mit 44 Abbildungen und 29 Tabellen
123
Professor Dr. Hermann Ribhegge Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschafts- und Sozialpolitik
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ISSN 0937-7433 ISBN 978-3-540-70878-0 Springer Berlin Heidelberg New York
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Inhaltsverzeichnis
1
Einfiihrung 1.1 Aufbau des Lehrbuchs 1.2 Daten und Fakten 1.3 Chronik der Europaischen Einigung
1 1 6 12
2
Theoretische Grundlagen 2.1 Ricardo-Modell 2.2 Freihandel versus Protektionismus 2.2.1 Handelsliberalisierung und Auswirkungen auf Zusammenhalt und Beschaftigung 2.2.2 Politische Tendenzen zum Protektionismus 2.3 Neue Aufienhandelstheorie 2.3.1 Mehr Wettbewerb durch Integration 2.3.2 Marktgrofie und Produktvielfalt 2.3.3 Skalenertrage und Marktgrofie 2.4 Arbeitsmarktintegration 2.4.1 Effiziente Migration 2.4.2 Ineffiziente Migration 2.4.3 Ubergangsregeln
19 19 26
3
Politische Institutionen der EU 3.1 Rechtliche Grundlagen 3.2 Die Organe der Europaischen Union 3.3 Das Finanzsystem der EU 3.4 Entscheidungsverfahren in der EU 3.4.1 Rechtsetzungsprozess 3.4.2 Ernennungs- und Misstrauensverfahren bei der Europaischen Kommission
37 39 43 45 47 50 52 55 67 71 81 81 82 90 96 96 100
VIII
Inhaltsverzeichnis 3.4.3 Der Entscheidungsprozess uber die Finanzen der EU 3.5 Schwachstellenanalyse der Institutionen der EU
101 106
4
Europaisches System der Zentralbanken (ESZB) 4.1 Vor- und Nachteile einer Wahrungsunion 4.2 Konvergenzkriterien 4.3 Einheitliche Geldpolitik im Eurosystem 4.4 Institutionen des ESZB 4.5 Ziele und Strategien der einheitlichen Geldpolitik 4.6 Instrumente der einheitlichen Geldpolitik
109 110 117 125 130 132 136
5
Europaische Kohasionspolitik 141 5.1 Die Neuausrichtung der Kohasionspolitik fur den Zeitraum 2007 - 2013 145 5.2 Reformpotenzial der Europaischen Kohasionspolitik . . . . 153
6
Agrarpolitik 6.1 Ziele der GAP 6.2 Instrumente der GAP 6.3 Reformen 6.4 Ausblick
159 160 162 174 177
7
Koordination der Finanzpolitik — Stabilitats- und Wachstumspakt 7.1 Koordination der Politikbereiche 7.2 Darstellung des Stabilitats- und Wachstumspakts 7.3 Nationaler Stabilitatspakt 7.4 Reform des Stabilitats- und Wachstumspakts
181 181 182 190 193
8
9
Europaische Beschaftigungspolitik und die Offene Methode der Koordinierung 8.1 Begrlindung der Europaischen Beschaftigungspolitik . . . . 8.2 Darstellung und Entwicklung der Europaischen Beschaftigungspolitik 8.3 Der Mehrwert der Europaischen Beschaftigungspolitik und der Offenen Methode der Koordinierung
206
Europaische Lohnpolitik 9.1 Der institutionelle Rahmen 9.2 Strategien einer europaischen Lohnpolitik
211 213 215
197 197 202
Inhaltsverzeichnis
IX
10 Koordination der Fiskalpolitik
221
11 Koordination der Steuerpolitik 11.1 Vertikale Koordination der Steuerpolitik 11.2 Horizontale Koordination der Steuerpolitik 11.3 Die Gefahrdung des Sozialstaates durch Mobilitat
229 229 230 245
12 Koordination der Sozialpolitik 257 12.1 Die rechtlichen Grundlagen der Sozialpolitik in der EU. . 259 12.2 Koordinierung versus Harmonisierung 262 12.3 Koordinierung der Sozialen Sicherung 269 13 Perspektiven des Europ. Sozialmodells
277
Abbildungsverzeichnis
283
Tabellenverzeichnis
285
Index
287
1
Einfiihrung
1.1 A u f b a u des Lehrbuchs Das vorliegende Lehrbuch setzt sich mit wirtschafts- und sozialpolitischen Fragestellungen in der Europaisehen Union (EU) auseinander. Politik ist angewandte Wirtschaftstheorie, zu deren Verstandnis auf einige wichtige Aspekte der okonomischen Theorie eingegangen werden muss. Ziele, Instrumente und Trager sind als Eckpfeiler jeder Politik detailliert zu analysieren. Deren Analyse reicht aber fur die Konzeption einer rationalen Politik nicht aus. Rationale Politik soil vorgegebene Ziele mit einem adaquaten Instrumenteneinsatz realisieren. Nach diesem Verstandnis bedarf es der okonomischen Theorie, denn diese stellt mit der Wirkungsanalyse als positive Theorie der Erklarung und Prognose realer Phanomene der Politik das notwendige Instrumentarium zur Verfugung. Unter einer Wirkungsanalyse verstehen wir Aussagen liber den Zusammenhang zwischen Zielen und Instrumenten in Form allgemeiner Hypothesen. Wirtschafts- und Sozialpolitik ist mehr als angewandte Wirtschaftstheorie. Zum einen reflektiert Politik die Ziele. Sie beinhaltet daher - im Gegensatz zur Theorie - normative Elemente und beschaftigt sich mit der zentralen Frage, wie die Ziele der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu legitimieren sind. Dazu kann die reine Theorie keine endgiiltigen Antworten bieten. Zum anderen versucht die Politik das Verhalten der Akteure der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit in die okonomische Analyse einzubeziehen. Diese Ausweitung des Theoriegegenstandes ist besonders bei der Klarung des Phanomens der Nichtdurchsetzbarkeit und dies gilt auch in der EU - vieler theoretisch fundierter und effizienzverbessernder Mafinahmen im politischen Prozess notwendig.
2
1 Einfiihrung
Da sich dieses Lehrbuch mit der europaischen Wirtschafts- und Sozialpolitik auseinandersetzt, macht es wenig Sinn, liber einen Gegenstand zu theoretisieren und fur ihn wirtschaftspolitische Empfehlungen abzuleiten, den m a n nicht kennt. Deshalb werden im folgenden Abschnitt dieses Kapitels einige elementare Fakten und Zahlen iiber die EU prasentiert, die dann in den einzelnen Kapiteln zu den jeweiligen Sachgebieten vertieft werden. Um die Strukturen von Institutionen und ihre Entscheidungsmechanismen zu verstehen, ist es notwendig, ihre Entstehung und Entwicklung zu analysieren. Damit schliefit das Einfiihrungskapitel. Im 2. Kapitel werden die theoretischen Grundlagen dieses Lehrbuchs herausgearbeitet. Um zu zeigen, dass mit der Integration der Markte alle teilnehmenden Staaten gewinnen konnen und dass bei einer Handelsliberalisierung nicht eine Seite auf Kosten einer anderen Wohlfahrtsgewinne realisiert, wird die einfachste Version des Ricardo-Modells dargestellt und dessen wirtschaftspolitische Implikationen herausgearbeitet. Anschliefiend werden die gesellschaftlichen Kosten des Protektionismus aufgezeigt und Argumente diskutiert, warum sich im politischen Prozess Protektionismus durchsetzt, wie dies in der EU insbesondere fur den Agrarbereich gilt. Um die Aussagen des durch recht restriktive Annahmen gekennzeichneten Ricardo-Modells zu verallgemeinern, erfolgt ein kurzer Uberblick iiber die Neue Aufienhandelstheorie, der die zentralen Aussagen des einfachen Modells prinzipiell bestatigt. Nicht nur im Gutermarkt, sondern auch im Arbeitsmarkt wird die Integration innerhalb der EU mittels Arbeitnehmerfreiziigigkeit und Niederlassungsfreiheit schrittweise verwirklicht. Im letzten Teil des 2. Kapitels werden zunachst die positiven Wohlfahrtseffekte einer Arbeitsmarktintegration fur einen neoklassischen Arbeitsmarkt aufgezeigt. Auch wenn m a n einerseits darlegen kann, dass sowohl Arbeitskrafte abgebende als auch aufnehmende Lander durch die Arbeitsmarktintegration einen positiven Wohlfahrtseffekt realisieren, so kann man andererseits deutlich machen, dass die Integration moglicherweise mit gravierenden Einkommensumverteilungen verbunden ist, die bei vielen Gruppen zu deren Ablehnung fuhrt. Noch kritischer wird die Einstellung zur Arbeitnehmerfreizugkeit, wenn wir die Moglichkeiten einer ineffizienten Wanderung betrachten. Diese kann u. a. eintreten, wenn aufgrund inflexibler Lohne im Aufnahmeland die Wanderung dort nur zusatzliche Arbeitslosigkeit bewirkt oder wenn Arbeitskrafte wandern, um das hohere Sozialleistungsniveau eines anderen Staates in Anspruch nehmen zu konnen.
1.1 Aufbau des Lehrbuchs
3
Im 3. Kapitel wenden wir uns den Akteuren der EU zu. Zum einen werden die rechtlichen Grundlagen, die den Rahmen fur wirtschaftsund sozialpolitische Aktivitaten vorgeben, dargestellt. Zum anderen werden die Akteure selbst skizziert und das Finanzsystem der EU erlautert. Bei der Darstellung der Entscheidungsverfahren in der EU konzentrieren wir uns auf den Prozess der Schaffung neuen Rechts sowie der Finanzplanung in der EU. Das Kapitel endet mit der Herausarbeit u n g der strukturellen und prozessualen Defizite der Institutionen der EU. Bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik kann die EU zwei alternative Wege einschlagen. Zum einen konnen alle Kompetenzen bei den Organen der EU konzentriert werden, wobei man dann von einer Vergemeinschaftung des Politikbereichs spricht. Diesen Weg hat die EU u. a. bei der einheitlichen Geldpolitik, der Kohasions- und der Agrarpolitik eingeschlagen. Zum anderen besteht die Moglichkeit, den Mitgliedstaaten ihre Autonomie zu lassen und eine Koordination in diesem Bereieh zu realisieren. Diesen Weg hat die EU z. B. im Bereieh der Sozialen Sicherung, der Beschaftigungs-, Fiskal- und Finanzpolitik, u m nur einige Bereiche zu nennen, beschritten. Im 4. Kapitel wird das Europaische System der Zentralbanken behandelt. Zunachst werden die Vor- und Nachteile einer Wahrungsunion diskutiert. Diese Diskussion ist besonders fur die Mitgliedstaaten von Bedeutung, die den Euro noch nicht eingefuhrt haben. Inwieweit die Vorteile dieser Wahrungsunion dominieren, hangt entscheidend davon ab, ob ein optimaler Wahrungsraum vorliegt. Entsprechend wird gepruft, ob die Konvergenzkriterien die Identifikation eines optimalen Wahrungsraums ermoglichen. Daran anschliefiend wird die einheitliche Geldpolitik der Europaischen Zentralbank dargestellt, indem die monetaren Institutionen, die Ziele und Strategien sowie die Instrumente der einheitlichen Geldpolitik behandelt werden. Im 5. Kapitel wenden wir uns der Kohasionspolitik der EU zu. Anhand der Strukturfonds sowie ihrer Zielsetzungen als auch ihres finanziellen Rahmens werden die Instrumente der Kohasionspolitik dargestellt. Sodann wird die seit 2007 giiltige Neuausrichtung der Kohasionspolitik erlautert. Das Kapitel endet mit einer kritischen Bewertung dieses Politikfeldes, indem sein Reformpotenzial aufgezeigt wird. Das 6. Kapitel hat die Agrarpolitik der EU zum Gegenstand, das bzgl. des finanziellen Umfangs wichtigste Politikfeld der EU. Das Kapitel beginnt mit einer kritischen Bestandsaufnahme der Ziele der Agrarpolitik, die nur schwer mit dem Konzept einer rationalen Wirtschaftspolitik zu vereinbaren sind. Danach werden die Funktionsweise der Instru-
4
1 Einfiihrung
mente der Agrarpolitik erlautert und ihre Effizienz gepriift. Abschliefiend wird die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Agrarpolitik aufgezeigt, die trotz aller anerkennenswerten Reformbemuhungen der Vergangenheit weiter dringend notwendig ist. Die nachfolgenden Kapitel beschaftigen sich mit der Koordination der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Im 7. Kapitel werden die Unterschiede zwischen der vertikalen Koordination, die die Abstimmung zwischen der EU und den einzelnen Mitgliedstaaten betrifft, und der horizontalen Koordination, die Abstimmung der Mitgliedstaaten untereinander, herausgearbeitet. Untersucht wird alsdann die Koordination in den einzelnen Politikfeldern der EU, beginnend mit der Koordination der Finanzpolitik. Das entscheidende Koordinationsinstrument ist hier der Stabilitats- und Wachstumspakt, dessen Notwendigkeit diskutiert und dessen Ausgestaltung problematisiert wird. Sodann wird anhand der Bundesrepublik Deutschland untersucht, wie die Erfordernisse des Paktes auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Das Kapitel endet mit einer Darstellung und Bewertung der Reform des Stabilitatsund Wachstumspaktes. Das 8. Kapitel behandelt die Koordination der Beschaftigungspolitik in der EU. Zunachst soil kritisch die Notwendigkeit der Koordination in diesem Politikfeld hinterfragt werden. Es folgt sodann eine Skizzierung der derzeitigen Ausgestaltung der europaischen Beschaftigungspolitik. Dabei gehen wir ausfuhrlich auf das neue Instrument der Politikkoordinierung, die OfFene Methode der Koordinierung (OMK), ein und priifen kritisch, welche Vorteile diese neue Methode mit sich bringt. Im 9. Kapitel riickt ein wesentlich umstritteneres Politikfeld der EU in unseren Fokus. Wir zeigen auf, dass eine Koordination der Lohnpolitik aufgrund unterschiedlicher nationaler institutioneller Rahmenbedingungen sowie fehlender Kompetenzen nur schwer zu realiseren ist. Sodann diskutieren wir unterschiedliche Strategien zur europaweiten Umsetzung einer gemeinsamen Lohnpolitik. Das 10. Kapitel widmet sich der Koordination der Fiskalpolitik. Es wird aufgezeigt, dass eine Koordinationsnotwendigkeit nur dann gegeben ist, wenn externe Effekte vorliegen und, dass nur in sehr spezifischen Konstellationen diese von erheblicher Relevanz sind. Das 11. Kapitel behandelt die immens schwierige Koordination der Steuerpolitik, ein Bereich, in dem sich die Interessen der Mitgliedstaaten oft diametral gegentiber stehen. Wahrend die Koordination der Mehrwertsteuer - trotz aller Schwierigkeiten bei ihrer konkreten Ausgestaltung - iiber Mindeststandards verwirklicht worden ist, tauchen bei der Koordination der Einkommensteuer, insbesondere bei der Ka-
1.1 Aufbau des Lehrbuchs
5
pitalbesteuerung, betrachtliche Probleme auf. Dabei kann man nachweisen, dass ohne eine Koordination es zu einem race to the bottom kommt, bei dem sich eine ineffizient niedrige Besteuerung in der EU durchsetzt. Hinzu kommt, dass u. U. der Wohlfahrtsstaat bei ausreichend hoher Mobilitat des Faktors Arbeit seine Finanzierungsgrundlage verliert. A u d i wenn die Materie extrem schwierig zu koordinieren ist, so zeigt das anschliefiende 12. Kapitel, dass die EU im Bereich der Koordinierung der Sozialen Sicherung, die zur Verwirklichung der Arbeitnehmerfreiziigigkeit unumganglich ist, weit voran geschritten ist. In diesem Kapitel werden die EU-weiten Regelungen fur die Renten-, Krankenund Arbeitslosenversicherung dargestellt, die u. a. immer dann wirksam werden, wenn Arbeitnehmer und ihre Familienangehorigen grenzliberschreitende Aktivitaten vornehmen. Dariiber hinaus wird in diesem Kapitel aufgezeigt, warum eine Anpassung der Sozialsysteme im Sinne einer Harmonisierung nicht sinnvoll ist. In dem das Lehrbuch abschliefienden 13. Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob iiberhaupt in der EU ein gemeinsames Sozialmodell existiert. In Abgrenzung zum sozialen Sicherungssystem der USA kann m a n dessen Existenz durchaus als gegeben ansehen. Dabei muss man aber relativierend feststellen, dass das europaische Sozialmodell eher ein normatives Leitbild darstellt, das nur ansatzweise verwirklicht worden ist. Dariiber hinaus ist die Nachhaltigkeit dieses Modells zu hinterfragen. Es ist zu bestimmen, inwieweit dieses Modell im Wettbewerb der Sozialsysteme uberleben kann. Insbesondere ist zu klaren, ob dieses Modell einen race to the bottom in dem Sinne beinhaltet, dass es sich hin zu einem neoliberalen Modell einer rudimentaren Absicherung des Existenzminimums entwickelt. Den Schwerpunkt des Lehrbuchs bildet das Spannungsfeld zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung von Aufgaben in der EU, das sich in der Frage der adaquaten Integration in der EU niederschlagt. Dieses Spannungsfeld zeigt sich im Subsidiaritatsprinzip des MaastrichtVertrages. Die Frage der optimalen Zuordnung von Aufgaben wird in diesem Lehrbuch auf mehreren Ebenen diskutiert. Zum einen wird im Kapitel 2 eine theoretische Analyse vorgenommen. Dort werden die Auswirkungen der Integration des Giiter- und Arbeitsmarktes aufgezeigt und die effizienzsteigernden Effekte einer Integration herausgearbeitet. Dabei verdeutlicht sich die politische Dimension einer Integration, indem analysiert wird, warum sich protektionistische Tendenzen im politischen Prozess trotz der Wohlfahrtsgewinne durch Integration durchsetzen.
6
1 Einfiihrung
Diese politische Dimension der EU gewinnt dadurch an Bedeutung, dass Integration nur dann positive Wohlfahrtseffekte zur Folge hat, wenn die politischen Institutionen dem Integrationsprozess der EU adaquat angepasst werden. Dieser Aspekt wird im Kapitel 3 behandelt. Integration kann nicht nur aufgrund des unzureichenden politischen Umfeldes scheitern, sondern auch aufgrund unzureichender Umsetzung. Deshalb lasst sich die Frage, ob Integration letztlich sinnvoll ist, nicht abschliefiend auf der theoretischen Ebene beantworten, sondern sie verlangt eine detaillierte Analyse der einzelnen Politikfelder der EU. Dazu werden in den Kapiteln 4 bis 6 zunachst die Politikbereiche behandelt, die durch eine starke Zentralisierung (Vergemeinschaftung) gekennzeichnet sind. Daran anschliefiend wenden wir uns den Bereichen zu, in denen die Mitgliedstaaten eine relativ grofie Autonomic besitzen.
1.2 D a t e n u n d F a k t e n Die EU besteht aus einer Vielzahl von Mitgliedstaaten, von denen keiner eine annahernd starke Position wie die USA, Russland oder China im Weltgeschehen hat. Wie aber Tabelle 1.1 zeigt, steht die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten an Nummer 3 in der Hierarchie der bevolkerungsreichsten politischen Blocke. Tabelle 1.1. Bevolkerung der EU im internationalen Vergleich Bevolkerungszahlen China Indien EU27 USA Russland Japan Vereinigtes Konigreich Deutschland Frankreich Italien Spanien
in Millionen 38,2 Polen 1288,4 1064,4 Rumanien 21,7 Niederlande 486,3 16,3 Griechenland 11,0 291,0 143,4 Portugal 10,5 10,4 127,2 Belgien Tschechische Republik 10,2 59,7 Ungarn 10,1 82,5 Schweden 9,0 59,9 Osterreich 8,1 57,9 Bulgarien 7,8 42,3
Quelle: Europaische Kommission (2005)
Danemark Slowakei Finnland Irland Litauen Lettland Slowenien Estland Zypern Luxemburg Malta
5,4 5,4 5,2 4,0 3,4 2,3 2,0 1,4 0,7 0,5 0,4
1.2 Daten und Fakten
7
Die Bevolkerungsverteilung in der EU beinhaltet eine erhebliche Heterogenitat in der Grofie der einzelnen Mitgliedstaaten, aus denen sich einige Herausforderungen fiir die EU ergeben. W a h r e n d die Bundesrepublik mit 82,5 Mio. Einwohnern der mit Abstand bevolkerungsreichste Mitgliedstaat ist, hat Malta als kleinster nur 0,4 Mio. Einwohner. Diese Diskrepanz in der Einwohnerzahl hat u. a. erhebliche Relevanz fiir die Entscheidungsstruktur in der EU. Jeder Mitgliedstaat mochte in den wichtigen Entscheidungsgremien mit vertreten sein. Dies hat zur Folge, dass mit dem Beitritt Bulgariens und Rumaniens die Entscheidungsgremien mindestens 27 Mitglieder umfassen, was die Effizienz dieser grofien Gremien erheblich beeintrachtigt. Die Entscheidungsfindung wird besonders schwierig, wenn in den Gremien Einstimmigkeit notwendig ist. Die Heterogenitat in der Bevolkerungsgrofie gibt zu weiteren Sorgen Anlass. So befurchten die kleinen Mitgliedstaaten, dass die EU von den grofien vier Mitgliedstaaten Deutschland, Prankreich, Grofibritannien und Italien dominiert wird. Hingegen befurchten die Grofien, dass es zu einer Koalition der Kleinen kommt und diese sich - insbesondere wenn jedem Mitgliedstaat ein annahernd gleiches Stimmrecht eingeraumt wird - gegen die Grofien durchsetzen. Die bedeutende Wohlstandsposition der EU im weltweiten Vergleich wird deutlich, wenn wir das Pro-Kopf-Einkommen (gemessen in Kaufkraftstandards (KKS)) betrachten. Wie aus Tabelle 1.2 deutlich wird, liegen die EU25 hinter den USA und J a p a n . Dabei stellt die EU25 alle Mitgliedstaaten ohne die neuen Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumanien dar, mit denen wir die EU27 erhalten. Die EU15 sind die Mitgliedstaaten vor der EU-Osterweiterung u m die EU10. Wenn von der EU8 gesprochen wird, so sind die zehn neuen Mitgliedstaaten (EU10) der in 2004 vollzogenen EU-Osterweiterung mit Ausnahme von Malta und Zypern gemeint. Auch wenn das Pro-Kopf-Einkommen in der EU mit 21.400 E U R gemessen in Kaufkraftstandards (KKS) relativ hoch ist, so zeigt die detailliertere Analyse der EU, dass es erhebliche Wohlfahrtsunterschiede innerhalb derselben gibt. Dabei gehoren die neuen Mitgliedstaaten, die EU10 sowie Bulgarien und Rumanien, zu den armen Staaten in der EU. Mochte m a n in den Mitgliedstaaten der EU gleichwertige Lebensbedingungen realisieren und verwirklicht dies nicht liber die Offnung der Markte in der EU, bote sich eine nivellierende Umverteilungspolitik in der EU an, die ansatzweise mit der Kohasionspolitik der EU verfolgt wird.
8
1 Einfuhrung
T a b e l l e 1.2. Pro-Kopf-Einkommen in Kaufkraftstandards (KKS) im internationalen Vergleich
EU25 Belgien Tschechische Republik Danemark Deutschland Estland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Zypern Lettland Litauen Luxemburg Ungarn Malta Niederlande Osterreich Polen Portugal Slowenien Slowakei Finnland Schweden Vereinigtes Konigreich Bulgarien Rumanien Vereinigte Staaten Japan
1996 1999
2002
2004
2005 2 0 0 6 p !2007 p
100.0 100.0 118.0 115.5 71.0 (e) 66.1
100.0 117.5 67.7
100.0 118.1 70.5
100.0 117.5 73.8
100.0 117.6 76.1
100.0 117.2 77.9
123.7 118.1 34.7 (e) 69.8 87.0 112.8 101.3 115.6 79.6 (e) 30.2 (e) 35.2 (e) 196.7 48.5 (e) 119.2 126.5 42.1 ( e ) 74.8 69.0 (e) 46.7 (e) 103.9 115.7 109.1
126.3 113.7 38.8 70.8 92.3 113.6 121.2 114.0 80.2 34.1 37.4 218.1 51.8 78.1 122.9 125.2 46.0 80.5 73.8 47.0 112.7 118.0 111.7
121.4 108.5 46.8 77.2 95.2 112.0 132.3 110.0 82.0 38.7 41.9 220.7 59.1 75.6 125.3 120.0 46.3 79.4 74.5 51.0 114.7 113.6 116.0
121.5 124.2 108.0 109.3 53.0 60.1 81.8 82.0 97.7 98.6 109.5 108.8 135.8 137.5 105.5 102.6 82.6 83.3 47.2 42.8 52.1 47.8 237.5 247.5 61.4 60.9 70.2 69.5 124.4 124.2 121.7 122.5 48.7 49.8 72.3 71.2 P 79.2 80.6 52.9 55.0 113.7 113.3 117.1 114.5 117.1 116.5 P
125.5 109.0 64.4 82.9 98.5 108.1 138.4 101.7 83.2 50.3 54.5 251.7 63.1 68.6 124.8 122.4 51.0 70.0 82.2 57.1 114.9 115.6 116.5
125.5 107.7 68.3 83.6 98.2 107.2 139.9 100.5 82.8 53.1 56.7 255.7 64.5 67.8 125.3 121.9 52.3 68.8 83.6 59.5 115.4 116.1 116.8
27.4 (e) 26.1 - 25.4 150.8 154.5
28.3 28.1 145.4
32.1 30.5 32.1 34.7 149.9 148.5 P
33.2 36.0 148.8
34.5 37.1 148.1
121.4 112.3 107.1 p 109.3 P 108.7 P
109.6
109.9
P ... Prognose - ... nicht verfugbar (e) ... geschatzter Wert Quelle: Eurostat
1.2 D a t e n und Fakten
9
Eine der grofiten sozialen Herausforderungen der EU ist die hohe Arbeitslosigkeit. Schauen wir uns dazu die Tabelle 1.3 an, so stellen wir fiir das Jahr 2005 fest, dass a) die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in der EU mit 8,8% wesentlich hoher als die der USA mit 5,1% war und b) die Varianz in der Arbeitslosigkeit in der EU recht grofi ist, wobei mit 17,7% Polen die mit Abstand hochste Arbeitslosigkeit aufweist, hingegen der „keltische Tiger" Irland mit 4,3% am besten abschneidet. T a b e l l e 1.3. Arbeitslosenquoten Arbeitslosenquote in % EU25
8^8
Bulgarien 10.1 Rumanien 7.7 USA Japan
1
5.1 4.4
Belgien 8.4 Tschechische Republik 7.9 Danemark 4.8 Deutschland 9.5 Estland 7.9 Griechenland 9.8 Spanien 9.2 Frankreich 9.7 Irland 4.3 Italien 7.7 Zypern 5.3 Lettland 8.9 Litauen 8.3
Luxemburg Ungarn Malta Niederlande Osterreich Polen Portugal Slowenien Slowakei Finnland Schweden Vereinigtes Konigreich
4.5 7.2 7.3 4.7 5.2 17.7 7.6 6.5 16.3 8.4 7.8 1 4.7
vorlaufiger Wert Quelle: Eurostat, Stand 2005
Die hohe Varianz in den Arbeitslosenraten macht deutlich, dass man nicht pauschal vom Versagen des europaischen Sozialmodells sprechen kann, fiir das plakative Begriffe wie Eurosklerose verwendet werden. Zum einen gibt es Mitgliedstaaten in der EU, die eine bessere Performance auf dem Arbeitsmarkt als die USA prasentieren. Zum anderen miissen wir uns fragen, ob die heterogene Struktur der Arbeitslosigkeit uberhaupt zulasst, von einem einheitlichen Sozialraum EU zu sprechen. Eine wesentliche Ursache fiir die unbefriedigende Beschaftigungslage in der EU sind die niedrigen Wachstumsraten des realen Bruttoinlandproduktes in den Mitgliedstaaten, wie dies in Tabelle 1.4 deutlich wird.
10
1 Einfiihrung T a b e l l e 1.4. W a c h s t u m s r a t e n des realen B I P
\EU25
Belgien Tschechische Republik Danemark Deutschland Estland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Zypern Lettland Litauen Luxemburg Ungarn Malta Niederlande Osterreich Polen Portugal Slowenien Slowakei Finnland Schweden Vereinigtes Konigreich Bulgarien Rumanien Vereinigte Staaten Japan
1996 1999 2002 2004 2005 2 0 0 6 p \2007 p 1.2 2.2 1.8 3.0 2.3 1.7 2.3 1.2 3.1 1.5 2.1 2.6 1.2 2.3 4.2 6.1 4.0 4.7 1.3 1.9 5.3 2.8 1.0 4.4 2.4 2.4 1.1 8.0 0.7 1.8 3.8 5.1 1.5 1.3
2.6 2.0 0.3 3.4 4.7 3.2 11.6 1.9 4.8 4.7 -1.5 8.4 4.2 - 4.1 3.4 4.7 2.6 3.3 6.2 4.5 3.6 3.9 3.7 5.4 6.1 1.5 3.7 3.9 1.3 4.5 2.8 3.0
-9.4
2.3
0.5 0.0 8.0 3.8 2.7 1.0 6.0 0.3 2.1 6.5 6.9 3.8 4.3 2.2 0.1 0.9 1.4 0.8 3.5 4.1 1.6 2.0 2.1
3.0 1.9 1.2 0.9 8.1 10.5 4.7 3.7 3.2 3.5 2.3 1.2 4.3 5.5 1.1 0.0 3.9 3.8 8.6 10.2 7.3 7.6 3.6 4.0 4.9 4.2 0.0 2.2 2.0 1.5 2.4 2.0 5.3 3.2 0.4 1.2 4.4 4.0 5.4 6.1 3.5 2.9 3.7 2.7 3.3 1.9
3.2 1.7 8.9 3.5 3.1 1.9 4.9 1.3 3.8 8.5 6.5 4.4 4.6 1.7 2.6 2.5 4.5 0.9 4.3 6.1 3.6 3.4 2.4
2.3 1.0 7.9 3.4 2.8 2.0 5.1 1.2 3.8 7.6 6.2 4.5 4.2 1.9 2.6 2.2 4.6 1.1 4.1 6.5 2.9 3.0 2.8
5.6 8.4 3.9
5.5 4.1 3.2
5.4 5.5 3.2
5.7J
2.3
2.6
2.8
2.4
3.7
4.4
4.9 5.1 1.6
2.6
-0.2
0.1
- -1.2
P ... Prognose - ... nicht verfugbar Quelle: Eurostat
5.1 2.7
1.2 Daten und Fakten
11
Insbesondere im Vergleich zu den USA fallen die Wachstumsraten in der EU relativ niedrig aus. Dies gilt aber durchweg nicht fur die neuen Mitgliedstaaten, die wie Irland hohere Wachstumsraten als die USA erzielen konnten. Um ihre Wachstumsdynamik neu zu beleben, muss die EU den Integrationsprozess, der mit der Realisierung des Gemeinsamen Marktes begonnen wurde, fortsetzen und zusatzlich ihre Integration in den Welthandel verstarken. Auch wenn die EU-Bevolkerung nur 7% der Weltbevolkerung ausmacht, liegt ihr Weltanteil an den Ex- und Importen bei 20%. Wie stark die EU in den Welthandel integriert ist, wird in Abb. 1.1 ersichtlich. Addiert man die Importe und Exporte, so betragt Id8U
1400 -i 1200 1000 -
941 883 !••
•
800 600 463 436 400 200 -
•
1
27
-200 -
11 -58
765 499 405
•
1 94
n
1
t|
I 1
11
|
I Exporte Importe | Handelsbilanz
-400 -600 61£
China
EU
Japan
Quelle: Europaische Kommission
USA (2006)
Abbildung 1.1. Internationaler Warenhandel in Mrd. EUR in 2003 das Handelsvolumen der EU immerhin 1.824 Mrd. EUR und liegt unter dem der USA mit 2.145 Mrd. EUR. Vergleicht man aber allein die Exporte, so ist die EU mit 883 Mrd. EUR der Exportweltmeister, zu dessen Spitzenposition Deutschland in wesentlichem Umfang beitragt. Dramatisch ist fur die langfristige positive Entwicklung des Welthandels das Handelsbilanzdefizit der USA in Hohe von 615 Mrd. EUR, das ungefahr 4% des BIP der USA ausmacht und eigentlich in dieser Relation fur Entwicklungslander charakteristisch ist. Die EU ist aber nicht nur stark in den Welthandel verflochten, sondern auch innerhalb der EU ist der Integrationsprozess weit voran ge-
12
1 Einfuhrung
schritten. Die innereuropaischen Exporte der Mitgliedstaaten betragen 1.879 Mrd. EUR und die Importe 1.788 Mrd. EUR. Zieht man den Anteil des Handels eines Mitgliedstaates mit den anderen EU-Mitgliedstaaten an dessen Gesamthandel als Indikator heran, so zeigt sich, dass der Integrationsprozess innerhalb der EU bei den einzelnen Mitgliedstaaten recht unterschiedlich weit vorangeschritten ist. Dies wird in Tabelle 1.5 aufgezeigt. Der Integrationsgrad in Luxemburg liegt bei 82%, in Tabelle 1.5. Anteil des EU-Binnenhandels am Gesamthandel Anteil des Handels mit anderen EU-Mitgliedstaaten a m Gesamthandel der einzelnen Mitgliedstaaten EU25
66.7
Luxemburg 82.4 Portugal 79.9 Slowakei 79.2 Tschechische Republik 78.4 Osterreich 77.2 Lettland 76.7 Belgien 75.1
Polen Estland Ungarn Spanien Danemark Slowenien Niederlande Frankreich Deutschland
74.3 72.0 71.7 71.6 71.5 71.4 68.1 68.0 64.8
Quelle: Europdische Kommission
Schweden Finnland Irland Italien Malta Zypern Litauen Vereinigtes Konigreich Griechenland
64.4 63.7 62.4 61.0 60.1 59.3 58.6 57.0 56.1
(2006), Stand: 2003
Grofibritannien bei 57% und in Griechenland bei nur 56,1%. Auffallig ist, dass gemafi dieses Indikators der Integrationsgrad der EU10 schon vor dem endgtiltigen Beitritt durch die Assoziierungsabkommen weit vorangeschritten war.
1.3 Chronik der Europaischen E i n i g u n g Die Europaische Kommission hat eine Chronik der Europaischen Einigung veroffentlicht, die in ihren Grundziigen im Folgenden dargestellt und mit der die Fragestellung dieses Lehrbuchs erlautert werden soil. Die Darstellung des historischen Werdegangs der EU ist deshalb sinnvoll und notwendig, da dieser deutlich macht, dass die EU nicht ein Entwurf aus einem Guss ist, sondern sich schrittweise entwickelt hat und auf einer Vielzahl von Vereinbarungen und Regelungen beruht. Viele Ungereimtheiten und Ineffizienzen in der Ausgestaltung der EU sind nur aus der historischen Perspektive nachzuvollziehen. Manche Kritik
1.3 Chronik der Europaischen Einigung
13
an der aktuellen Politik der EU ist von daher oft nicht gerechtfertigt, da die heutigen Akteure auf Rahmenbedingungen und Entscheidungen Riicksieht nehmen miissen, die in der Vergangenheit festgelegt worden sind und die die heutige Politik nicht zu verantworten hat. 18. April 1951: In Paris unterzeichnen sechs Lander - Belgien, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien, Luxemburg und die Niederlande - den Vertrag zur Griindung der Europaischen Gemeinschaft fur Kohle und Stahl (EGKS). Intention dieses Vertragswerkes war nicht allein, die europaische Integration voranzutreiben, sondern die Kontrolle liber die Produktion strategisch wichtiger Giiter auf der Europaischen Ebene zu sichern. Der Vertrag war auch durch die Erfahrungen des II. Weltkrieges gepragt und man wollte ein „Wettrusten" in der EU in den Bereichen Kohle, Stahl und insbesondere eine dominante Position Deutschlands verhindern. Entsprechend wurden Kontrollen im Bereich der Beihilfen, Quoten usw. festgelegt. Diese Regulierungsvorschriften bildeten spater die Grundlage fur die Industrie-, Wettbewerbsund Beihilfepolitik der EU. 25. M a r z 1957: In Rom unterzeichnen die sechs Lander die Vertrage zur Griindung der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europaischen Atomgemeinschaft (Euratom). Die Unterzeichnung der Vertrage von Rom stellt die Geburtsstunde der Gemeinschaft dar. Entscheidend ist aber, dass mit den Vertragen von Rom der Integrationsprozess nicht abgeschlossen war. Zum einen kam es zu einer sukzessiven Ausweitung des Geltungsbereichs der Vertrage, indem in einzelnen Schritten weitere europaische Staaten dem Vertragswerk beitraten. Zum anderen kam es zu einer inhaltlichen Ausweitung, indem das Vertragswerk durch weitere Vertrage erganzt und durch Richtlinien, Verordnungen der EU sowie durch Entscheidungen der Kommission prazisiert wurde. Wahrend in den romischen Vertragen okonomische Aspekte im Vordergrund standen und die Sozialpolitik in der EU hochstens instrumental als Mittel zur Realisierung und sozialen Absicherung wirtschaftspolitischer Ziele gesehen wurde, hat sich im Werdegang der EU ein Wandel dahingehend vollzogen, dass man heute durchaus eine soziale Dimension der EU identifizieren und ansatzweise vom Sozialraum EU sprechen kann. 3 0 . Juli 1962: Eine Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) wird eingefiihrt. Die G A P stellt sowohl von der Interessenlage der Mitgliedstaaten als auch von ihrem finanziellen Volumen den Anker der Gemeinschaft dar, der aufgrund der Vorteile der G A P die starke Anbindung der Mitgliedstaaten an die E W G bedingte. Viele der noch heute giiltigen Regelungen der G A P werden nur verstandlich, wenn m a n sich verdeutlicht,
14
1 Einfuhrung
dass diese in einer Phase der relativen Knappheit an Agrarprodukten in der Zeit des Kalten Krieges vereinbart wurden, in der das Autarkiestreben noch sehr stark ausgepragt war. 20. Juli 1962: In Jaunde wird ein Assoziierungsabkommen zwischen der E W G und 18 afrikanischen Landern unterzeichnet. Da die G A P im Wesentlichen auf die Abschottung der EU vor dem Weltmarkt fur Agrarprodukte bestand und die E W G in ihrem wirtschaftlichen Kern eine Zollunion darstellte, war es notwendig, ftir die Staaten, mit denen man relativ enge Handelsbeziehungen pflegte und weiter pflegen wollte, iiber Assoziierungsabkommen entsprechende Handelspraferenzen zu vereinbaren. Diese Aufgabe stellte sich besonders gegeniiber den ehemaligen Kolonialstaaten der EU-Mitgliedstaaten. 1. Juli 1968: 18 Monate fruher als geplant werden die Binnenzolle ftir gewerbliche Erzeugnisse abgeschafft; der Gemeinsame Zolltarif wird eingefuhrt. Damit war aber noch nicht der Gemeinsame Markt der EU geschaffen. So mussten noch viele nichttarifare Handelshemmnisse, wie die Vorgabe von diskriminierenden Standards und Auflagen, beseitigt werden. Besonders die Verwirklichung der Freizligigkeit im Dienstleistungssektor sollte sich noch als eine immense Herausforderung darstellen. 1. J a n u a r 1973: Danemark, Irland und das Vereinigte Konigreich treten der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft bei, wodurch sich die Zahl der Mitgliedstaaten auf neun erhoht. 28. F e b r u a r 1975: In Lome wird ein Ubereinkommen Lome I zwischen der E W G und 46 Staaten Afrikas, des karibischen Raums und des Pazifischen Ozeans (AKP) unterzeichnet. Mit diesem Abkommen wurden den AKP-Staaten, insbesondere bei industriellen Gutern, ein bevorzugter Marktzugang eingeraumt und vertraglich Entwicklungshilfemafinahmen zugesagt. Aufierdem sollte mithilfe dessen eine Vertiefung der Kooperationsbeziehungen angestrebt werden. 2 2 . Juli 1975: Der Vertrag iiber die Erweiterung der Haushaltsbefugnisse des Europaischen Parlaments und die Griindung des Europaischen Rechnungshofes wird unterzeichnet. Er tritt am 1. Juni 1977 in Kraft. 7. u n d 10. J u n i 1979: Zum ersten Mai wahlen die Burger der Mitgliedstaaten die 410 Mitglieder des Europaischen Parlaments direkt. Mit der Einraumung von Haushaltsbefugnissen ist die Position des Parlaments gestarkt worden. Mit der Direktwahl ist die Legitimis t des Parlaments erheblich erhoht worden, so dass sich dieses nun als legitime Interessenvertretung der Burger verstehen kann. Diese erhohte
1.3 Chronik der Europaischen Einigung
15
Legitimitat hat das Parlament konsequent genutzt, urn seine Stellung im Entscheidungsprozess der EU sukzessive zu starken. 1. J a n u a r 1981: Griechenland tritt als zehnter Mitgliedstaat der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. 28. Februar 1984: Das Esprit-Programm - Europaisches strategisches P r o g r a m m fur Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Informationstechnologie - wird angenommen. 1. J a n u a r 1986: Spanien und Portugal treten der E W G bei, wodurch sich die Zahl der Mitgliedstaaten auf 12 erhoht. 17. u n d 28. Februar 1986: Die Einheitliche Europaische Akte wird in Luxemburg und Den Haag unterzeichnet. Sie tritt am 1. Juli 1987 in Kraft. Durch sie werden die Romischen Vertrage geandert und der Europaische Einigungsprozess erhalt eine neue Dynamik. Hierdurch wird der Weg fur die Schaffung des Binnenmarktes bis 1993 geebnet. Mit dieser Akte werden das Instrument der qualifizierten Mehrheit ausgeweitet und die soziale Dimension der Gemeinschaft gestarkt. So werden der soziale Dialog zwischen den Sozialpartnern institutionalisiert und ein neuer Titel XIV „Politik des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts" in den Vertrag aufgenommen. Dieser bildet die Grundlage fur die Kohasionspolitik der EU und hat u. a. die Aufgabe, die sozialen Spannungen, die sich aus der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes ergeben, abzubauen. 15. J u n i 1987: Beginn des „Erasmus"-Programms zur Unterstiitzung junger Menschen, die ein Studium in anderen europaischen Lander n aufnehmen mochten. 19. J u n i 1990: Das Ubereinkommen von Schengen zur Abschaffung der Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten wird unterzeichnet. Nach diesem Abkommen fallen nun auch an den Grenzen innerhalb der E W G die Personenkontrollen weg. Dies gilt aber nicht fur Irland und Grofibritannien. Die nach 2004 beigetretenen 12 neuen Mitgliedstaaten mlissen erst noch die Bedingungen fur die Anwendung dieses Abkommens erfullen. 9 . / 1 0 . D e z e m b e r 1991: Der Europaische Rat von Maastricht verabschiedet den Vertrag iiber die Grundung der Europaischen Union, der die Grundlage fur eine gemeinsame Aufien- und Sicherheitspolitik, eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres und die Schaffung einer Wirtschafts- und Wahrungsunion bildet, zu der auch eine gemeinsame W a h r u n g gehort. Die intergouvernementale Zusammenarbeit in diesen Bereichen schafft gemeinsam mit dem bestehenden Gemeinschaftssystem die Europaische Union (EU). Die E W G wird in „Europaische Gemeinschaft" (EG) umbenannt. In diesem Vertrags-
16
1 Einfiihrung
werk werden das Subsidiaritatsprinzip verankert, die Entscheidungsregeln entsprechend modifiziert und die Kompetenzen der E U prazisiert. 7. Februar 1992: Der Vertrag liber die Europaische Union wird in Maastricht unterzeichnet. Er tritt am 1. November 1993 in Kraft. 1. J a n u a r 1993: Verwirklichung des Binnenmarktes. Die vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes: freier Giiterverkehr, freier Kapitalverkehr, Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreiziigigkeit sowie Niederlassungsfreiheit werden verwirklicht. 1. J a n u a r 1995: Osterreich, Finnland und Schweden treten der EU bei, wodurch sich die Zahl der Mitgliedstaaten auf 15 erhoht. Norwegen lehnt die EU-Mitgliedschaft per Referendum ab. 1 6 . / 1 7 . J u n i 1997: Der Europaische R a t von Amsterdam verabschiedet einen Vertrag, der der Europaischen Union neue Befugnisse und Zustandigkeiten verleiht. In diesem Vertrag u b e r n a h m letztendlich Grofibritannien die in einem Protokoll verankerten, bis dato fur diesen Mitgliedstaat nicht giiltigen, da abgelehnten sozialpolitischen Vereinbarungen des Vertrags von Maastricht. 2. O k t o b e r 1997: Der Vertrag von Amsterdam wird unterzeichnet. Er tritt am 1. Mai 1999 in Kraft. 30. M a r z 1998: Der Beitrittsprozess von 10 beitrittswilligen Staaten Mittel- und Osteuropas sowie Zyperns und Maltas wird eingeleitet. 3. M a i 1998: Der Europaische Rat von Brtissel beschliefit, dass die 11 EU-Mitgliedstaaten Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Osterreich, Portugal und Spanien die Kriterien fur die Einfiihrung der gemeinsamen W a h r u n g am 1. Januar 1999 erfiillen. 3 1 . D e z e m b e r 1998: Der Rat setzt die Wechselkurse zwischen den Wahrungen der teilnehmenden Mitgliedstaaten und dem Euro unwiderruflich fest. 1. J a n u a r 1999: Mit dem Beginn der dritten Stufe der W W U tritt in 11 EU-Landern der Euro an die Stelle der Landeswahrungen. Die gemeinsame W a h r u n g wird auf den Finanzmarkten eingefuhrt. Von nun an ist die Europaische Zentralbank (EZB) verantwortlich fur die EU-Geldpolitik, die in Euro festgelegt und durchgefiihrt wird. 2 4 . / 2 5 . M a r z 1999: Der Europaische Rat von Berlin genehmigt den Entwurf fur den EU-Haushalt 2000 - 2006 im Rahmen der „Agenda 2000". Mit dieser Agenda werden die Konsolidierung der G A P in einem geringen Umfang verwirklicht sowie die finanziellen Konsequenzen der EU-Osterweiterung mit ihren entsprechenden Programmen in die mittelfristigen Finanzplanung der EU integriert.
1.3 Chronik der Europaischen Einigung
17
1 0 . / l l . Dezember 1999: Der Europaische Rat von Helsinki, der sich hauptsachlich mit der Erweiterung der EU beschaftigt, erkennt die Tiirkei offiziell als Kandidat ftir eine EU-Mitgliedschaft an und beschliefit, die Verhandlungen mit den anderen 12 Bewerberlandern zu intensivieren. 23./24. Marz 2000: Der Europaische Rat von Lissabon entwickelt eine Strategie zur Forderung der Beschaftigung in der EU, zur Modernisierung der Wirtschaft und zur Starkung des sozialen Zusammenhalts in einem wissensbasierten Europa. 7./8. Dezember 2000: In Nizza einigt sich der Europaische Rat auf einen neuen Vertrag, der das Entscheidungsfindungssystem der EU auf die Erweiterung vorbereitet. Die Prasidenten des Europaischen Parlaments, des Europaischen Rates und der Europaischen Kommission verkiinden feierlich die Charta der Grundrechte der Europaischen Union. Da die Reform- und Kompromissbereitschaft der Mitgliedstaaten nicht sehr grofi waren, gelang es mit dem Vertrag von Nizza nur unzureichend, die Entscheidungsstrukturen adaquat auf ein erweitertes Europa der EU25 bzw. EU27 auszurichten. Auch das angestrebte Ziel, den Bereich der Mehrheitsentscheidungen auszuweiten und so Blockaden abzubauen, konnte nur marginal verwirklicht werden. Von daher war es umso dringlicher, eine gemeinsame Verfassung zu verwirklichen. 1. Januar 2001: In Griechenland wird der Euro eingefuhrt. 26. Februar 2001: Der Vertrag von Nizza wird unterzeichnet. Er tritt am 1. Februar 2003 in Kraft. 14./15. Dezember 2001: Der Europaische Rat in Laeken verabschiedet eine Erklarung zur Zukunft der Union. Hierdurch wird der Weg ftir die anstehende umfassende Reform der EU und die Einrichtung eines Konvents zur Erarbeitung einer Europaischen Verfassung geebnet. Valery Giscard d'Estaing wird zum Prasidenten des Konvents ernannt. 1. Januar 2002: Die Euro-Banknoten und -Miinzen werden in den Landern des Euro-Gebiets eingefuhrt. 31. Mai 2002: Alle 15 EU-Mitgliedstaaten ratifizieren das KyotoProtokoll, ein weltweites Ubereinkommen zur Verringerung der Luftverschmutzung. 16. April 2003: In Athen unterzeichnet die EU Beitrittsvertrage mit Zypern, der Tschechischen Republik, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei und Slowenien (EU10). 10. Juli 2003: Der Konvent zur Zukunft der Europaischen Union schliefit seine Arbeiten am Entwurf einer Europaischen Verfassung ab. 4. Oktober 2003: Beginn der Regierungskonferenz zur Erarbeitung eines neuen Vertrages unter Einbeziehung der Europaischen Verfassung.
18
1 Einfiihrung
1. Mai 2004: Zypern, die Tschechische Republik, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei und Slowenien treten der Europaischen Union bei. 29. Oktober 2004: Der Vertrag liber eine Verfassung fur Europa wird von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. 2005: In Luxemburg unterzeichnet die EU die Beitrittsvertrage mit Bulgarien und Rumanien. Frankreich und die Niederlande lehnen die Verfassung in Referenden ab. Priihjahr 2006: Rat, Parlament und Kommission einigen sich iiber die finanzielle Vorausschau 2007 - 2013. 1. Januar 2007: Bulgarien und Rumanien werden Mitgliedstaaten der EU. Slowenien fuhrt den Euro ein.
Literatur • • • • • • •
Baldwin, R./Wyplosz, Ch. (2006): The Economics of European Integration, 2. AufL, London u.a. El-Agraa, A. M. (Hrsg.) (2004): The European Union, Economics and Policies, 7. AufL, Harlow u.a. Europaische Kommission (2005): Fakten und Zahlen iiber Europa und die Europaer, Briissel. Europaische Kommission (2006): External and Intra-European Union Trade, Statistical Yearbook Data 1958 - 2005, Luxemburg. Eurostat, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/ Ifo's Database for Institutional Comparisons in Europe (DICE). Wagener, H.-J./Eger, Th./Fritz, H. (2006): Europaische Integration - Recht und Okonomie, Geschichte und Politik, Miinchen.
2
Theoretische Grundlagen
2.1 Ricardo-Modell Zielsetzung dieses Kapitels ist es nicht, ausfiihrlieh die theoretischen Grundlagen der Aufienwirtschaftstheorie zu skizzieren. Vielmehr soil an einem sehr einfachen Modell, das aber ohne grofien Aufwand verallgemeinert und der komplexen Realitat angepasst werden kann, die zentrale Botschaft der Aufienwirtschaftstheorie iiber die Vorteile des Handels plastisch dargestellt werden. Die wirtschaftspolitischen Implikationen stehen hier im Vordergrund. Welche Vorteile der Handel ermoglicht, kann man am einfachsten am Modell der komparativen Kostenvorteile verdeutlichen. Wir gehen dabei von einem Land aus, fur das folgende lineare Produktionsfunktionen F und G existieren: W = F(L) und K = G(L), wobei W die Menge an produziertem Wein als Output, K die Menge an Kase als weiteren Output und L die Arbeit als einzigen Inputfaktor angeben. Mit dem Inputfaktor L konnen wir gemafi der Produktionsfunktionen F und G sowohl Kase als auch Wein herstellen. Um deutlich zu machen, fur welche Produktion der Faktor Arbeit eingesetzt wird, differenzieren wir zwischen Lw und LK> LW gibt das Arbeitsvolumen an, das wir fur die Produktion von Wein einsetzen. Ist L das gesamte vorgegebene Arbeitsvolumen unsere Volkswirtschaft, so erhalten wir als Restriktion bei voller Nutzung des Faktors Arbeit: LW + LK = L .
(2.1)
Fur unsere linearen Produktionsfunktionen F und G sind aw und ax die jeweiligen Inputkoeffizienten. Diese sind definiert als: Lw , LK aw = -T77- und ax = —rr •
20
2 Theoretische Grundlagen
Sie geben an, wie hoch der Arbeitseinsatz ist, urn eine Outputeinheit zu produzieren. Die Kehrwerte 1/aw bzw. 1/CLK stellen die jeweiligen Arbeitsproduktivitaten dar. Fiir die Produktion von Wein gilt Lw = aw • W und wir erhalten durch unsere Restriktion gemafi Gleichung 2.2: (2.2)
aw ' W + ax • K — L
die Transformationskurve unserer Volkswirtschaft. Eine Transformationskurve gibt an, welche Kombinationen von W und K wir bei gegebenem Inputvolumen L und den Produktionsfunktionen F und G produzieren konnen. Losen wir 2.2 nach W auf, so gilt: W
L aw
ax K aw
(2.3)
und wir erhalten die lineare Transformationskurve (siehe Abb. 2.1).
K Abbildung 2.1. Transformationskurve Gehen wir von einer Effizienz in der Produktion aus und unterstellen wir, dass alle Produktionsfaktoren voll zum Einsatz kommen, so stellt sich die Frage, welcher Punkt auf der Transformationskurve realisiert bzw. welches Guterbiindel den Nachfragern angeboten wird. Die Frage, fiir welche Giiterproduktion wir den Faktor Arbeit einsetzen, entscheidet der Markt, der iiber die Preise fiir Wein Pw und fiir
2.1 Ricardo-Modell
21
Kase PK, die gesellschaftliche Wertschatzung der beiden G titer signalisiert. Arbeit wird entsprechend so eingesetzt, dass das Einkommen pro Stunde maximiert wird. In der Weinproduktion betragt es: W 1 Pw~r- = Pw— Lw
&W
(2.4)
und der von Kase: K PKJ^
1 = PK—.
(2.5)
Entsprechend ist der Verdienst der Weinproduktion grofier als der der Kaseproduktion, wenn ^ > ^ Oder ^ > ^ . (2.6) aw &K PK &K Nur wenn PW/PK — &w/a>K ist, wird sowohl Wein als auch Kase in der betrachteten Okonomie produziert. In alien anderen Fallen findet eine vollkommene Spezialisierung statt. Welche Preisrelation in einer Okonomie vorliegt, bestimmt sich iiber die Nachfrage der Haushalte, die sich in PW/PK niederschlagt. Welche Chancen ergeben sich fur unsere in ihren Produktionsmoglichkeiten skizzierte Okonomie durch den Handel? Um diese Frage beantworten zu konnen, miissen wir zusatzlich die Produktionsmoglichkeiten im Ausland analysieren. Zur Abgrenzung bezeichnen wir die Variablen des Auslands mit einem Sternchen (*). In Abb. 2.2 haben wir die Transformationskurven des In- und Auslands dargestellt. Wenn wir beide Transformationskurven vergleichen, so miissen wir zwischen absoluten und komparativen Kostenvorteilen unterscheiden. Bei den absoluten Kostenvorteilen vergleichen wir die absoluten Werte der Input koeffizienten eines Guts und fragen uns, ob das In- oder Ausland ein Gut mit mehr oder weniger Arbeitseinsatz produzieren kann. Ist z. B. aw < &w) so hat das Inland einen absoluten Kostenvorteil bei der Weinproduktion gegeniiber dem Ausland, da man zur Produktion einer Einheit Wein im Inland weniger Arbeit einsetzen muss. Vergleichen wir die absoluten Kostenvorteile der Wein- und Kaseproduktion zwischen Deutschland und Polen, so stellt sich u. a. aufgrund der star ken Rationalisierung im Agrarsektor heraus, dass sowohl &K < &*K a ls auch aw < &W s i n d, so dass sowohl Kase als auch Wein in Deutschland mit weniger Arbeitseinsatz als in Polen produziert werden konnen. Ist dann nicht die polnische Landwirtschaft der grofie Verlierer eines freien Handels, da sie bei beiden Produkten nicht konkurrenzfahig produzieren kann?
22
2 Theoretische Grundlagen
Die Kernaussage des Ricardotheorems besagt, dass die absoluten Kostenvorteile fur die Wettbewerbsfahigkeit nicht entscheidend sind. Es kommt auf die komparativen Kostenvorteile an. Unter den komparativen Kostenvorteilen versteht man die Opportunitatskosten der Produktion eines Gutes. Die Opportunitatskosten des Weins geben an, wieviel von der Kaseproduktion aufgeben werden muss, u m eine Einheit Wein zu produzieren. Die Opportunitatskosten von Wein entsprechen der Steigung ax/dw der Transformationskurve. Die Opportunitatskosten fiir Kase sind der reziproke Wert aw/ax- Aufgrund der Reziprozitat gilt zwingend, dass ein Land im Falle zweier Gtiter nur bei einem Gut einen komparativen Kostenvorteil haben kann, selbst wenn es bei alien beiden Gutern einen absoluten Kostenvorteil besitzt. Inland
Ausland
Wein 4
Wein* • (a)
(b) B*
Transformationskurve
v Transformationskurve
Kase o* Transformationskurve bei freiem Handel
A
Kase*
A* Wohlfahrtsgewinn des freien Handels
D Kase (j
Abbildung 2.2. Ricardotheorem
\ R*
Kase*
2.1 Ricardo-Modell
23
In Abb. 2.2 sind die wesentlichen Elemente des Ricardotheorems dargestellt. Da die Transformationskurve des Inlands flacher als die des Auslands verlauft, besitzt das Inland einen komparativen Kostenvorteil bei der Produktion von Kase, hingegen das Ausland bei Wein, da aK/aw < a*K/a^. Im Falle der Autarkie, d. h. ohne Handel mit dem Ausland, grenzt die Transformationskurve die moglichen Guterbiindel ein, iiber die das Inland verfugen kann. Die moglichen Guterbiindel entsprechen der Flache OB A. Entsprechend ergibt sich die Flache 0*i?*A* fiir das Ausland. Stellen wir uns nun vor, dass sich beide Lander zusammenschliefien und fragen uns, wie deren gemeinsame Transformationskurve aussehen wiirde. Wenn beide Lander nur Kase produzieren, wiirde die Menge OD = OA + 0*A* an Kase produziert (siehe Abb. 2.2 (c)). Wiirde das Inland nur Kase und das Ausland nur Wein produzieren, so konnten beide Lander iiber das durch E reprasentierte Guterbiindel verfugen. Produzierten beide Lander nur Wein, so wiirde Wein in Hohe von OF = OB + 0*B* zur Verfiigung stehen. Natiirlich gibt es weitere Kombinationen, so dass wir als Transformationskurve die geknickte Gerade FED erhalten. Dabei stellt die Kombination E die Situation dar, bei der jedes Land seinen komparativen Kostenvorteil voll nutzt. Das Inland produziert nur Kase und das Ausland nur Wein. Im P u n k t E liegt eine vollkommene Spezialisierung auf den jeweiligen komparativen Kostenvorteil vor. Wenn der P u n k t E realisiert wird, so stellt sich die Frage, welche Vorteile beide Lander aus den gemeinsamen Produktionsmoglichkeiten erzielen. Das Rechteck OGEA in Abb. 2.2 (c) und (d) gibt an, was bei der Produktion E zwischen beiden Landern zu verteilen ist. Das Dreieck OB A stellt die Giiterkombinationen dar, die dem Inland im Falle der Autarkie zur Verfiigung stehen. Das Dreieck 0*J5*A* in Abb. 2.2 (b) bzw. in Abb. 2.2 (d) reprasentiert die Versorgungsmoglichkeiten des Auslandes im Falle der Autarkie. Vom „ gemeinsamen Kuchen" OAEG wird jedes Land seinen Anteil einfordern, den es schon bei Autarkie realisieren kann. Entsprechend reprasentiert die dunkle Flache AA*GB die durch die Spezialisierung erzielte zusatzliche Giiterversorgung. Sie stellt den Wohlfahrtsgewinn des Handels dar, wenn sich beide Lander auf die Produktion des Gutes spezialisieren, bei dem sie einen komparativen Kostenvorteil besitzen. Uber die Verteilung des Wohlfahrtgewinns kann - wie im friiheren R a t fiir gegenseitige Wirtschaftshilfe - politisch iiber sogenannte Verrechnungspreise entschieden werden. K o m m t es zu einer Handelsliberalisierung, entscheidet der Markt, also Angebot und Nachfrage, iiber die Verteilung des Wohlfahrtgewinns
24
2 Theoretische Grundlagen
zwischen beiden Landern. Die Angebotsfunktion flir das Inland haben wir schon oben in Abhangigkeit von PW/PK skizziert. Diese Uberlegung konnen wir auf die aggregierte Angebotsfunktion des In- und Auslandes iibertragen. Gehen wir von einer gemeinsamen W a h r u n g beider Lander aus, so mussen nach dem Gesetz von Jevons die Preise fur ein Gut im In- und Ausland identisch sein, wenn keine Transportkosten existieren (handelbare Giiter). Es gilt also PK = PK und Pw = P\y- Da wir einen komparativen Kostenvorteil des Inlands bei der Kaseproduktion unterstellt haben, gilt: CLK/CLW < a*K/&W' Wenn PK/PW < ax/aw ist, lohnt sich weder im Inland noch im Ausland die Produktion von Kase, da der Stundenverdienst der Kaseproduktion PK • 1/CLK kleiner als der der Weinproduktion Pw • 1 /a>w ^ u n d dies erst recht fiir das Ausland mit PK • l/a*K < Pw ' I/aw gilt. Wenn PK/Pw = aK/aw < a*K/aw ist, ist der Verdienst aus der Produktion von Kase und Wein im Inland gleich. Das Ausland wird aber ausschliefilich Wein produzieren, wie in Abb. 2.3 deutlich wird.
L/aK
K + K* W + W*
Abbildung 2.3. Aggregiertes relatives Kaseangebot
Steigt PK/PW auf a^/a^^ dann lohnt sich auch im Ausland die Produktion von Kase. In der Abbildung konnen wir zusatzlich die aggregierte relative Nachfrage einzeichnen, die einen fallenden Verlauf
2.1 Ricardo-Modell
25
zeigt. Fur den Verlauf der Nachfrage haben wir in Abb. 2.4 verschiedene Szenarien skizziert.
K + K* W + W*
0 Abbildung 2.4. Alternative Marktgleichgewichte
Fall I: Extrem starke Nachfrage beider Lander nach Wein; beide Lander produzieren ausschliefilich Wein. Auf der gemeinsamen Transformationskurve (siehe Abb. 2.2 (c)) wird der Punkt F realisiert. Der Freihandel bewirkt keinen Wohlfahrtseffekt. Es liegt faktisch Autarkie vor. Fall II: Geringe gemeinsame Nachfrage nach Kase. Das Inland befriedigt allein die Kasenachfrage. Die noch freien Kapazitaten werden fiir die Weinproduktion verwendet. Das Ausland produziert ausschliefilich Wein. Es wird ein Punkt zwischen F und E auf der gemeinsamen Transformationskurve realisiert, siehe Abb. 2.2 (c). Der Wohlfahrtseffekt des freien Handels ist um so grofier, je naher die realisierte Allokation bei E liegt. Fall III: Diese ist der klassische Fall der vollstandigen Spezialisierung. Das Inland produziert nur Kase, das Ausland nur Wein. Bei dieser Arbeitsteilung ist der Wohlfahrtseffekt des freien Handels am grofiten und der Punkt E auf der Transformationskurve wird realisiert. Je grofier der Abstand zwischen a^/a^ und ax/aw ist, um so wahrscheinlicher ist es, dass sich ein relativer Preis einstellt, der zwischen diesen beiden Grofien liegt, und um so grofier ist der Wohlfahrtseffekt des freien Handels. Nahern sich die Steigungen der inlandischen und
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2 Theoretische Grundlagen
auslandischen Transformationskurven an (identische Produktionsstrukt u r ) , dann verschwindet auch der Wohlfahrtseffekt des freien Handels, worauf Samuelson (2004) hingewiesen hat. Andere Szenarien bediirfen keiner Darstellung, da sie sich analog zu den bisherigen ergeben. Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen sind in Tabelle 2.1 noch einmal zusammengefasst. Tabelle 2 . 1 . Wirtschaftspolitische Konsequenzen des Ricardo-Modells Zusammenfassung: Wirtschaftspoltische Ricardo-Modells (siehe Abb. 2.2) • • • • • • •
Konsequenzen
des
Wohlfahrtsgewinn wird durch Viereck (AA*GB) prasentiert Konflikt iiber die Verteilung des Mehrwerts (relativer Preis) Extremlosungen F und D bewirken keinen Wohlfahrtseffekt E prasentiert den grofiten Wohlfahrtsgewinn (totale Spezialisierung) Je grofier die Unterschiede bei den relativen Kosten, desto hoher der Wohlfahrtsgewinn Der Wohlfahrtseffekt ist umso geringer, je starker jedes Land das Gutj nachfragt, bei dem es einen komparativen Vorteil besitzt Kompensiert ein Land seinen komparativen Kostennachteil (z.B. Direktinvestitionen, Attrahierung von Humankapital, Innovationsaktivitaten) und steigert seine Produktivitat, so geht der Wohlfahrtseffekt des intern a t i o n a l Handels verloren (Samuelson (2004)).
2.2 Preihandel versus P r o t e k t i o n i s m u s Bei wohl keiner Frage gibt es solch breite Ubereinstimmung unter den Okonomen wie bei der, ob Freihandel wohlstandserhohend wirkt. Freihandel weitet die Grofie der Markte aus und ermoglicht, dass der Preismechanismus seine allokative Lenkungsfunktion als Knappheitsindikator voll erfiillen kann. Die Effizienzsteigerung durch die Marktoffnung ergibt sich dabei aus dem I. Fundamentaltheorem der Wohlfahrtstheorie, nach dem bei vollstandiger Konkurrenz auf einem Markt eine paretooptimale Allokation verwirklicht wird. Insbesondere sorgt der Preismechanismus dafiir, dass die Marginalbedingungen fiir ein Paretooptimum erfiillt werden. Fiir unsere Uberlegungen sind folgende beiden Marginalbedingungen von Bedeutung:
2.2 Freihandel versus Protektionismus
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1. Effizienz im Tausch mit der Ubereinstimmung der Grenzraten der Substitution (GRSi = GRSj). 2. Effizienz in der Produktion mit der Ubereinstimmung der Grenzrate der Transformation mit der Grenzrate der Substitution (GRT = GRS). Aus dieser wohlfahrtstheoretischen Perspektive konnen wir die Effizienztiberlegungen, die wir im Ricardo-Modell angestellt haben, durchaus verallgemeinern. Dass sich die theoretischen Uberlegungen zur Effizienz des Freihandels in der Realitat auch bestatigen, zeigen viele empirische Arbeiten. Bspw. weisen Untersuchungen zu den Auswirkungen der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes von 1993 sowohl positive Wachstums- als auch Beschaftigungseffekte nach. Die Analyse der Auswirkungen der Handelsliberalisierung im Rahmen der W T O fuhrt zu ahnlichen Ergebnissen. Diese positive Bewertung des Freihandels muss allerdings in zweierlei Hinsicht relativiert werden. Zum einen garantiert der Freihandel keine gerechte Verteilung, sondern nur allokative Effizienz, so dass sowohl auf der Ebene der Nationalstaaten als auch auf der der Weltwirtschaft durchaus sozialpolitischer Handlungsbedarf besteht. Zum anderen gilt das I. Fundamentaltheorem nur unter bestimmten Voraussetzungen, die in der Realitat nur sehr eingeschrankt gegeben sind. Insbesondere die Annahme der vollstandigen Konkurrenz auf alien Markten ist hochst problematisch. Die Unterstellung, alle Unternehmen verhielten sich als Mengenanpasser, ist z. B. hochst problematisch und zeigt einen gewissen Realitatsverlust neoklassischer Modelle, die oft implizit von dieser Pramisse ausgehen. Betrachten wir das Preisverhalten multinationaler Unternehmen, so stellen wir fest, dass sie oft eine erhebliche Marktmacht besitzen und aufgrund ihrer guten finanziellen Ausstattung in der Lage sind, Newcomer vom Markteintritt abzuschrecken. Besonders auf den Arbeitsmarkten haben wir aufgrund der raumlichen, beruflichen und qualifikatorischen Immobilitat lokale Monopsonsituationen, die besonders in den armsten Landern stark ausgepragt sind. So wie es grofien Konsens bezuglich der Vorteilhaftigkeit des Freihandels unter den Okonomen gibt, gilt dies entsprechend bezuglich der Nachteiligkeit des Protektionismus, wobei es in konkreten Fallen ein weniger einheitliches Bild unter den Okonomen gibt und protektionistische Mafinahmen mit Sondersituationen begriindet werden. Wenn wir uns mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit die EU Protektionismus betreibt, miissen wir zwei Ebenen auseinander halten. Auf der ersten Ebene tritt Protektionismus innerhalb der EU zwischen den Mitgliedstaaten auf. Durch die Schaffung des Gemeinsamen
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2 Theoretische Grundlagen
Marktes sollten die vier Grundfreiheiten eigentlich jeglichen Protektionismus ausschliefien. Die vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes umfassen den freien Giiter-, freien Kapitalverkehr, Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizugigkeit. Von diesen vier Grundfreiheiten wurde durch den Wegfall der Zolle in der EU und aller Handelshemmnisse die erste Grundfreiheit sehr schnell und umfassend verwirklicht. Wesentlich schwieriger gestaltete sich die Liberalisierung des freien Kapitalverkehrs. Mit der Dienstleistungsrichtlinie von 2006 wurde endlich die Dienstleistungsfreiheit im Wesentlichen verwirklicht, indem nun jeder Anbieter aus einem Mitgliedstaat einen diskriminierungsfreien Marktzutritt erhalt. Dies gilt aber nicht fur alle Dienstleistungsbereiche. So umfasst die Dienstleistungsrichtlinie nicht das Gesundheitswesen sowie andere Bereiche von besonderem nationalen Interesse. Die vollige Verwirklichung der Grundfreiheiten ist so bei den ersten zwei Freiheiten weitgehend verwirklicht worden. Dies gilt aber nicht fur den Arbeitsmarkt, auf dem durch die Ubergangsregeln im Rahmen der EU-Osterweiterung einige Mitgliedstaaten ihren Arbeitsmarkt vor der EU8 abgeschottet haben (siehe Abschn. 2.4). Auch fur die Dienstleistungsfreiheit gibt es Einschrankungen durch Ubergangsregeln in einigen Sektoren. Gerade die Auseinandersetzung zwischen Europaiseher Kommission und Parlament um die Dienstleistungsrichtlinie in 2006 macht deutlich, wie schwierig eine voile Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes ist und welche sozialen und gesellschaftlichen Spannungen eine vollkommene Liberalisierung mit sich bringt. Selbst auf dem Kapitalmarkt, auf dem eine vollstandige Freiziigigkeit vorgesehen ist, finden wir immer wieder nationalstaatliche Abschottungsmafinahmen. Dies zeigt sich z. B. in Spanien und Frankreich, die ihren Energiemarkt vor auslandischen Unternehmensiibernahmen abschotten wollen. Ahnliche Bestrebungen finden wir im Kreditsektor in Polen. Der Bundesrepublik wirft die Europaische Kommission vor, mit dem Sparkassengesetz die Offnung des deutschen Bankensektors zu verhindern. Als zweite Ebene des Protektionismus ist die der Aufienbeziehungen der EU zu anderen Handelsnationen anzufuhren. Auf dieser Ebene finden wir in erheblichem Ausmafi protektionistische Bestrebungen der EU, wobei diese nicht so sehr von der Europaischen Kommission, sondern von den Mitgliedstaaten selbst ausgehen. Die Charakterisierung der EU als „Festung Europa" ist dabei nicht ganz abwegig. Die starksten protektionistischen Aktivitaten der EU gegeniiber anderen Staaten findet man im Agrarbereich (siehe dazu K a p . 6).
2.2 Freihandel versus Protektionismus
29
Wenn ein Staat Protektionismus betreiben will, so steht ihm dazu ein breites Spektrum von Maflnahmen zur Verfiigung. Zum einen ist die Klasse der tarifaren Handelshemmnisse zu nennen. Dazu gehoren Wert- und Mengenzolle usw. Zum anderen sind die nichttarifaren Handelshemmnisse anzuftihren, die oft viel wirksamer und bei geschicktem Einsatz nur schwer zu identifizieren sind. Zu nennen sind hier Einfuhrkontingente, Einfiihrungsgenehmigungsvorschriften, diskriminierende Standards und Normen. Besonders attraktiv sind sogenannte freiwillige Selbstbeschrankungsabkommen. Sie haben den Vorteil, dass die durch sie benachteiligten Staaten meist keinen Anlass haben, eine Aufhebung des Protektionismus durch die W T O zu verlangen. Im Folgenden wollen wir uns mit einem scheinbaren Widerspruch des Protektionismus auseinandersetzen. Wir werden aufzeigen, dass Protektionismus fur eine Gesellschaft ineffizient ist und zu Wohlfahrtseinbufien fuhrt. Sodann werden wir aufzeigen, dass im politischen Prozess eine Tendenz zum Protektionismus existiert. Handelsliberalisierung ist deshalb kein nicht-aufzuhaltender Prozess hin zu einer standigen Ausweitung des Globalisierungsprozesses. Wir stellen vielmehr fest, dass es bisher immer wieder Riickschlage bei der Handelsliberalisierung gab, da die Globalisierung kein Schicksal, sondern politisch beeinflussbar ist. Wenden wir uns zuerst den negativen allokativen Effekten des Protektionismus zu. Dabei gehen wir vereinfachend von einem kleinen Land aus, bei dem vollstandige Konkurrenz auf dem Giitermarkt gegeben ist. Von Transportkosten wird abgesehen. Gegenstand unserer Analyse ist ein homogenes Gut X und wir legen unserer Argumentation die Abb. 2.5 zugrunde. In dieser Abbildung geben die Gerade A das heimische Angebot des Gutes X und die Gerade N die heimische Nachfrage an. Im Falle der Autarkie ergibt sich das Marktgleichgewicht G, bei dem zum Preis PA die Menge XA vom Gut X angeboten und nachgefragt wird. Offnet sich das Land hin zur Weltwirtschaft, so ist zusatzlich das Weltangebot mit zu berucksichtigen. Auf dem Weltmarkt wird das Gut X zum Preis Pw angeboten. Da unser betrachtetes Land ein kleines Land darstellt, ist die Weltnachfrage dieses Landes so unbedeutend, dass seine Nachfrage keinen Einfluss auf den Weltmarktpreis hat, so dass das Land mit einer vollkommen elastischen Angebotsfunktion zum Preis Pw konfrontiert ist. Im Falle des Freihandels ergibt sich folgende Allokation. Das Land wiirde in der heimischen Produktion X\ anbieten. Die Gesamtnachfrage des Landes ist aber X4, so dass X1X4 liber Importe gedeckt wird. Welche Wirkungen treten bei Protektionismus im Vergleich zum Freihandel auf? Unterstellen wir, dass als protektionistische Mafinahme ein
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2 Theoretische Grundlagen
0
Xi
X2
XA
X%
X4
A b b i l d u n g 2.5. Protektionismus Wertzoll von z% erhoben wird, so dass sich bei den Importen der Preis auf Pz = (1 + z)Pw erhoht. Dann treten folgende allokative Effekte auf: • • •
Nachfrageeffekt: Die Inlandsfrage sinkt von X4 auf X3, Produktionseffekt: Die Inlandsproduktion steigt von X\ auf X2, Handelseffekt: Die Importe sinken von X\X^ auf X2X3.
Hinzu kommen als weitere Effekte: •
•
•
Zahlungsbilanzeffekt: Da die Importe sinken, erhohen sich die Nettoexporte u m die Flache / + g. Dies kann durchaus ein Anreiz fur Lander mit einem hohen Leistungsbilanzdefizit sein, dieses iiber protektionistische Mafinahmen abzubauen. Zolleinnahmeeffekt: Der Staat erzielt daruber hinaus Zolleinnahmen in Hohe der Flache c. Staaten mit einem chronisch defizitaren Haushalt konnten versuchen, durch protektionistische Mafinahmen ihre Haushaltssituation zu verbessern. Umverteilungseffekt: Neben dem Staat sind die inlandischen Produzenten die grofien Gewinner des Protektionismus. Ihre Produzentenrente erhoht sich um die Flache a. Hingegen sind die Konsumenten die grofien Verlierer des Protektionismus. Ihre Konsumentenrente sinkt um die Flache a-\-b + c + d.
2.2 Freihandel versus Protektionismus •
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Wohlfahrtseffekt: Saldiert m a n die Zuwachse und Verluste des Staates, der Produzenten und Konsumenten, so erhalt m a n als gesellschaftlichen Wohlfahrtseffekt c + a— (a + b + c + d) — — (b + d) als Saldo. Die Flache b + d stellt den Wohlfahrtsverlust des Protektionismus dar. Dabei spiegelt b eine Ressourcenverschwendung wieder, da die Produktionsfaktoren suboptimal genutzt werden, und d zeigt die unzureichende Guterversorgung der Konsumenten auf.
Die negativen Effekte des Protektionismus verstarken sich, wenn man sich von der komparativ statischen Analyse lost und zusatzlich dynamische Effekte berucksichtigt. Durch die Absehottung der Inlandsmarkte wird der Wettbewerb geschwacht und der Innovationsdruck nimmt infolgedessen ab. Stehen durch Importbeschrankungen nicht mehr ausreichend Investitionsgiiter zu angemessenen Preisen zur Verfugung, konnen negative Wachstumseffekte eintreten, was zur Abschwachung der Wachstumsdynamik fiihrt. Weiter kann die internationale Wettbewerbsfahigkeit eines protektionistischen Staates beeintrachtigt werden, da mit einem Zoll belegte importierte Vorprodukte die Kostensituation der exportierenden Unternehmen verschlechtern. Neben diesen Nachteilen entstehen Wohlfahrtseinbufien, die aus den Verwaltungs- und Uberwachungskosten protektionistischer Mafinahmen resultieren. Verteuern sich importierte Produkte durch protektionistische Mafinahmen, so werden illegale Arbitragegeschafte wie Schmuggel, Zollvergehen usw. attraktiver, was zu weiteren nicht zu unterschatzenden gesellschaftlichen Wohlfahrtsverlust en fiihrt. Protektionismus muss politisch durchgesetzt werden. Dafiir mussen sich die Interessengruppen, die Protektionismus durchsetzen wollen, organisieren und eine umfangreiche Lobbyarbeit vornehmen. Dies verlangt einen erheblichen Ressourcenaufwand. W a h r e n d aus okonomischer Sicht Bestechungsgelder, Schmiergelder usw. eine reine Umverteilung von Ressourcen darstellen, gilt dies fur die Lobbyarbeit selbst nicht. Hier ist oft ein immenser Ressourceneinsatz in Form der Beschaftigung von Mitarbeitern, Erstellung von Dossiers, Kontaktaufnahme mit Politikern, Mafinahmen zur gezielten Beeinflussung der Medien usw. verbunden. Diese Aktivitaten, die in erheblichem Umfang zur Marktabschottung getatigt werden, werden von Bhagwati (1982) als Directly Unproductive Profit-Seeking Activities (DUP) bezeichnet. Sie sind oft unproduktiv, da sie sich wechselseitig aufheben und daher zu keinem Erfolg fiihren. Betreiben beispielsweise zwei Interessengruppen gegeneinander mit grofiem Aufwand Lobbyarbeit, konnen sich diese in ihrem Einfluss wechselseitig paralysieren. Auch im Streben nach Pro-
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2 Theoretische Grundlagen
tektionismus kann es aufgrund der heterogenen Interessen der Unternehmen zu diesen Effekten kommen. Besonders importierende Unternehmen sind durchaus an offenen Markten interessiert. Die EU stellt trotz des Gemeinsamen Marktes eine Zollunion dar, die durch Protektionismus nach aufien gekennzeichnet ist. Wird die EU durch neue Mitgliedstaaten grofier, so treten unter dem Gesichtspunkt der Handelsliberalisierung zwei gegenlaufige Effekte auf: Einerseits nimmt der Freihandel zu, da der fast vollkommen liberalisierte Gemeinsame Markt erweitert wird. Die Handelsschranken zwischen der EU und den neuen Mitgliedstaaten entfallen hierbei. Andererseits verschlechtert die Erweiterung der freihandelsbeschrankenden Zollunion EU den Welthandel. Deshalb ist zu prufen, welcher der gegenlaufigen Effekte per saldo dominiert. Hierflir kommen zwei alternative Sichtweisen zum Tragen, die die unterschiedlichen Auswirkungen aufzeigen. Zum einen wollen wir uns fragen, ob es sich fur einen potenziellen Mitgliedstaat der EU lohnt, der Zollunion EU beizutreten. Zum anderen wollen wir aus der Sicht der schon gegebenen Mitgliedstaaten die Vorteilhaftigkeit einer EU-Erweiterung prufen. Um die Analyse so einfach wie moglich zu halten und dennoch die zentrale Uberlegung sauber abzuleiten, werden wir uns auf eine einfache Partialanalyse beschranken. Lohnt sich z. B. allein unter Handelsgesichtspunkten ein Beitritt in die EU fur die Turkei? Wenn die EU sowohl nach innen als auch nach aufien eine vollstandige Handelsliberalisierung verwirklicht hatte, so ware fur die Turkei ein Beitritt immer sinnvoll, aber gleichzeitig auch vollig iiberfliissig, da sich die Turkei durch den Beitritt handelsmafiig nicht besser stellen wurde. In Anlehnung an Hansen/Ulff-M0ller Nielsen (1997) soil die mogliche Vorteilhaftigkeit eines Beitritts fur die Turkei gepriift werden. Die Abb. 2.6 spiegelt die zentralen Modelliiberlegungen wieder. DH und SH stellen die Nachfrage- und Angebotsfunktion fur ein representatives Gut X in der Turkei dar (H fur home). Vollkommene Autarkie der Turkei hatte den Gleichgewichtspreis PQ zur Folge. Es sei Pw der Weltpreis, PwO- + 1 ) = PH der Importpreis einschliefilich Zoll in der Turkei und Pp der entsprechende Importpreis einschliefilich des EU-Zolls in der EU. Wir unterstellen vereinfachend, dass die Nachfrage der Turkei als auch der EU auf dem Weltmarkt gering ist (kleine Volkswirtschaft), so dass wir die entsprechenden vollkommen elastischen Angebotsfunktionen Xw+t sowie fur die EU Xp (P fur Partner) und das Weltangebot Xw zum Weltmarktpreis Pw erhalten. F u r die Turkei ware, wie bereits ausgeflihrt, die Absenkung des Zollsatzes t auf 0 besser als ein Beitritt zur EU. Vor dem Beitritt produziert die
2.2 Freihandel versus Protektionismus
33
p*
0
D
B
A
C
Quelle: Hansen/Ulf-M0ller
Nielsen (2001), S. 21
Abbildung 2.6. Auswirkungen des Beitritts der Tiirkei zur EU Tiirkei beim Zollsatz t die Menge OB und importiert BA von X , urn die Gesamtnachfrage OA zum Preis PH ZU befriedigen. Dabei belaufen sich die Zolleinnahmen auf die Flache c + e, da die Menge BA importiert wird. Tritt die Tiirkei der Zollunion EU bei, so ist fur die Analyse ausschlaggebend, ob der Zoll in der Tiirkei hoher oder niedriger als der der EU ist, insbesondere ob PH ^ Pp> Wir gehen davon aus, dass der Preis (Zoll) in der EU niedriger als der in der Tiirkei ist, so dass mit dem Beitritt der Tiirkei in gewissem Umfang der Freihandel zunimmt. In diesem Fall steigt mit dem Beitritt in die EU die Konsumentenrente in der Tiirkei u m die Flache a+b-\~c-\-d. Hingegen reduziert sich die Produzentenrente u m die Flache a und die tiirkischen Zolleinnahmen sinken u m die Flache c + e. Erstens werden die vom Weltmarkt in die Tiirkei importierten Mengen von X eventuell zum Teil durch zollfreie Lieferungen aus der EU ersetzt. Man spricht dann von Handelsdiversifikation (Trade Diversion). Zweitens - und das ist letztlich ausschlaggebend - fliefien alle Zolleinnahmen bis auf die Verwaltungspauschale von 25%, die hier vernachlassigt werden soil, in den Haushalt der EU. Fasst man die Anderungen der Konsumenten-, Produzentenrente und der Zolleinnahmen zusammen, so erhalt m a n den
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2 Theoretische Grundlagen
saldierten Wohlfahrtseffekt des Beitritts in Hohe der Flache b + d — e. Da e grofier als b + d sein kann, bleibt offen, ob sich der Beitritt in eine Zollunion fur die Tlirkei tatsachlich lohnt. Der Vorteil ihres Beitritts ist umso geringer, je geringer der Zollabbau durch den Beitritt ist. Liegen Pp und PH nahe beieinander, so ist der Wohlfahrtseffekt b + d an Konsumenten- und Produzentenrente gering. Weiter ist die Elastizitat der tiirkischen Angebots- und Nachfragefunktion fiir die Grofie von b-\-d entscheidend. Als dritte Determinante ist der Grad der Handelsliberalisierung der EU ausschlaggebend. Erhebt die EU nur einen geringen Zoll, so dass Pp ~ Pw ist, so ist der Zolleinnahmeverlust e marginal und der Trade Diversion-Effekt irrelevant. Wie die Erfahrungen aus dem Beitritt der EU10 gezeigt haben, ist der Zolleinnahmeverlust haushaltspolitisch fiir die neuen Mitgliedstaaten nicht so relevant, wie dies die angestellte Analyse erwarten liefie. Die an die neuen Mitgliedstaaten fliefienden Strukturfondsmittel fiihren dazu, dass die Verluste bei den Zolleinnahmen durch die Strukturfondsmittel iiberkompensiert werden. Dies gilt insbesondere fiir die neuen Mitgliedstaaten mit einem grofien Agrarsektor, die erhebliche Mittel aus dem Agrarfonds (Abteilung Garantie) (siehe Kap. 6) erhalten. Bisher haben wir den Beitritt in die EU aus dem Blickwinkel eines neu aufzunehmenden Staates analysiert. Wir wollen uns nun dem Problemkreis der Erweiterung aus dem Blickwinkel der schon beigetretenen Mitgliedstaaten zuwenden. Dabei wollen wir zusatzlich den Trade Diversion-Effekt eingehender behandeln, indem wir die Auswirkungen eines Beitritts auf das neue aggregierte Angebot in der EU detaillierter untersuchen. Den Ausgangspunkt unserer Analyse bildet die Abb. 2.7. Dabei geben nun der Index H die EU27 (Home) und P das Aufnahmeland (Partner, Tiirkei) an. Weiter unterstellen wir, dass beziiglich unseres Gutes X die EU im Welthandel ein kleines Land darstellt, so dass das vollkommen elastische Weltangebot Sw gegeben ist. Da in der EU der Zollsatz t gelten soil, stellt die Gerade DT - bestimmt durch die Linie 5 V ( 1 + t) - die vollkommen elastische Weltangebotsfunktion (Weltmarktangebot) beim Zoll t dar. Des Weiteren seien SH das Angebot der EU und DH die entsprechende Nachfrage der EU. Wiirde die EU eine vollstandige Handelsliberalisierung auch nach aufien verwirklichen und ware t = 0, so wiirde die paretooptimale Nachfrage P realisiert. Durch den Beitritt der Tiirkei in die EU dreht sich die aggregierte Angebotsfunktion der EU u m die Uberschussangebotsfunktion Sp der Tiirkei nach rechts, so dass im Falle der Autarkie die Angebotsfunktion SH+PI die durch J3, i?, G und Q verlauft, gilt. Wird der Markt
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0
qi
q2
q3
q4
q$
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Quantity
Quelle: El-Agraa (2004), S. 100 A b b i l d u n g 2.7. Handelsschaffung und Handelsdiversifikation der EU geoffnet und werden Importe zum Zoll t zugelassen, so verlauft die Angebotsfunktion durch B , i?, G, Q, T und dabei ab Q horizontal. Was andert sich fur die EU durch den Beitritt der Tiirkei? Vor dem Beitritt wurde gemafi der Nachfragefunktion DH der EU die Nachfrage bei F in Hohe von q% bei einer Inlandsproduktion in Hohe von q^ realisiert und die EU-Importe entspraehen der Strecke qs — #2- F u r diese Importe wurden Ausgaben in Hohe der Flache a geleistet und die Zolleinnahmen beliefen sich auf die Flache c-\- b. Wiirde beim Beitritt der Tiirkei die EU den Zollsatz t aufrechterhalten, so kame es in der EU zu einer Uberproduktion in Hohe von FQ. Deshalb ist zu erwarten, dass es durch den Beitritt der Tiirkei zu einer Senkung des Zollsatzes dahingehend kommt, dass die Welt angebotsfunktion durch C und U verlauft und der EU-Markt bei G geraumt wird, wobei der Inlandspreis dann von D auf C sinkt. In dieser neuen Situation verringert sich die Produktion der EU auf gi, die tiirkische Produktion betragt dann Q4 ~ Qi und die Importe der EU gehen auf 0 zuriick. Wie sind diese Anderungen wohlfahrtstheoretisch zu beurteilen? Durch die mit dem Beitritt bewirkte Preis- und Zollsatzsenkung steigt die Konsumentenrente u m die Flache d + e + c + / . Hingegen sinkt die Produzentenrente der EU u m die Flache d. Des Weiteren gehen
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2 Theoretische Grundlagen
die Zolleinnahmen der EU urn die Flache c zuriick. Rechnen wir diese Effekte gegeneinander auf, so ergibt sich flir die EU ein positiver Wohlfahrtseffekt in Hohe der Flache e + / , der zeigt, dass fur die EU der Beitritt der Tlirkei vorteilhaft ist. Diese Analyse fiir die EU ist aber nicht vollstandig. Durch die Preisbzw. Zollsenkung kommt es zu einer Nachfrageausweitung in Hohe von Q4 — #3 > die durch die tiirkische Produktion (Handelsschaffung, Trade Creation) abgedeckt wird. Bei der Produktionsmenge #2 — q\ tritt mit dem Beitritt ein positiver Wohlfahrtseffekt in Hohe der Flache e auf, da die tiirkische Produktion preisgiinstiger als die alte EU-Produktion eingekauft werden kann. Die Menge q± — qs stellt die Ausweitung der durch die Preissenkung induzierten Nachfragesteigerung dar. Hier entsteht ein positiver zusatzlicher Wohlfahrtseffekt durch den Beitritt in Hohe der Flache / . Wie sieht es aber mit den Importen der EU zwischen q
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2.2.1 H a n d e l s l i b e r a l i s i e r u n g u n d A u s w i r k u n g e n auf Zusammenhalt und Beschaftigung Die EU strebt nicht nur ein EU-weites Wachstum an, sondern ist bemliht, auch die Entwicklung der Regionen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu starken. Mit diesem Aspekt werden wir uns ausfiihrlich im Kapitel 5 (Europaische Kohasion) beschaftigen. Die grofie Sorge der Gemeinschaft ist, dass die wirtschaftliche Integration in der EU und die Intensivierung des Globalisierungsprozesses eine disparate Entwicklung der Regionen der EU zur Folge haben. Dieser Aspekt wurde u. a. im R a h m e n der EU-Osterweiterung durchaus kontrovers diskutiert. Nachdem wir bisher die positiven Wohlfahrtseffekte der Liberalisierung des Handels herausgearbeitet haben, sollen nun die Kosten der Handelsliberalisierung in den Vordergrund riicken. Kosten werden relevant, wenn wir zwischen einer kurz- und langfristigen Perspektive differenzieren. In der Kurzfristperspektive werden in vielen von der Liberalisierung des Handels betroffenen Regionen die Kosten iiberwiegen. Diese Anpassungskosten beim Abbau von Handelshemmnissen werden auch von der Kommission (2004) in ihrem „Dritten Bericht iiber den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt" betont (siehe Tabelle 2.2). Zu Anpassungskosten fuhren u. a. die mit der Handelsliberalisierung verbundenen Strukturanpassungen, die eine Entwertung von Humankapital beinhalten. Der Strukturwandel fiihrt zu Dequalifizierungsprozessen, die besonders altere Arbeitnehmer hart treffen, fur die es sich nicht mehr lohnt, neues Humankapital aufzubauen. Ihnen bleibt dann oft nur das Schicksal der Arbeitslosigkeit oder sie sind gezwungen, eine Beschaftigung aufzunehmen, die ihrer fachlichen Qualifikation nicht entspricht und oft mit erheblichen Lohneinbufien verbunden ist. Hinzu kommt, dass die Zufriedenheit am Arbeitsplatz mit einem Wechsel sinkt, weil sich die Arbeitskrafte unterfordert bzw. inadaquat eingesetzt sehen und bei ihnen das Gefuhl dominiert, zu den Verlierern der Integration zu gehoren. All dies erhoht nicht das Selbstwertgefuhl der Betroffenen, fiihrt schnell zu einer antieuropaischen Stimmung und zu einer politischen Radikalisierung. Diese Radikalisierung ist besonders dann zu erwarten, wenn der Strukturwandel in einer Region zu einer sich verfestigenden Arbeitslosigkeit fiihrt. So ist gerade die Langzeitarbeitslosigkeit mit immens hohen gesellschaftlichen Kosten verbunden. Es kommt nicht nur zur inefEzienten Nutzung des Produktionsfaktors Arbeit, sondern zu einer erheblichen Entwertung von Humankapital und zu verstarkten Demotivierungsprozessen, so dass mit zunehmender
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2 Theoretische Grundlagen
Tabelle 2.2. Handelspolitik und ihre Auswirkungen auf Beschaftigung und Zusammenhalt Der Abbau von Handelsschranken ist fiir die Wirtschaft im Allgemeinen mit Vorteilen verbunden. Er fiihrt zu einer Verlagerung der Produktionsfaktoren auf produktivere Bereiche, zu verbesserter Effizienz und grofienbedingten Kosteneinsparungen, grofierem Wettbewerb, verstarktem Wissens- und Technologietransfer und zu Vorteilen fiir den Verbraucher in Form einer grofieren Auswahl und niedrigerer Preise. Die Kehrseite ist, dass ein solcher Abbau von Handelsschranken u. U. auch Kosten mit sich bringt. Unabhangig von alien langfristigen Vorteilen kann eine Verlagerung der Produktionsfaktoren kurzfristig zu Anpassungskosten fiir die Unternehmen und Beschaftigten fuhren, die von einem Anstieg der Importe betroffen sind. Diese Kosten konnen aus mehreren Griinden nicht einfach vernachlassigt werden:
stellung bestimmter Produkte bzw. Dienstleistungen spezialisiert ist. Manche Regionen werden aufgrund des Abbaus von Handelsschranken eher Nachteile haben, andere dagegen werden eher einen Nutzen daraus ziehen.
Dariiber hinaus besteht, was die Wahrnehmung von Kosten und Nutzen betrifft, eine deutliche Asymmetrie, die unvermeidliche politische Konsequenzen hat. Wahrend die Kosten sehr offensichtlich und sehr alarmierend sind nicht nur aufgrund ihrer Konzentration, sondern auch weil sie greifbarer sind (Schliefiung von Fabriken, Entlassungen usw.) —, ist der Nutzen oft weniger offensichtlich, zum Teil weil er weniger greifbar — oder zumindest schwieriger zu bemessen (z. B. grofiere Auswahl fiir Verbraucher) —, weniger auffallend und diffuser ist. Die Kosten konzentrieren sich im Allgemei- Die Anpassungskosten sind normalerweise niednen auf bestimmte Sektoren und Regionen. rig, die begleitenden MaBnahmen, die bei einem Dies fiihrt dazu, dass sie fiir bestimmte Be- Abbau von Handelsschranken getroffen werden, volkerungsgruppen gegebenenfalls betrachtli- sind jedoch sowohl aus wirtschaftlicher als auch che Ausmafie annehmen und dementsprechend aus politischer Sicht von entscheidender Bedeueine schadlichere Wirkung entfalten, als wenn tung. Diese Bedeutung ist umso grofier, als zielsie gleichmaBig iiber die ganze Wirtschaft ver- gerichtete begleitende politische Mafinahmen teilt waren. die Anpassungskosten begrenzen konnen, inNormalerweise zahlen die, die den Nutzen ha- dem sie diese soweit wie moglich vorwegnehmen ben, denen, die dabei verlieren, keine Entscha- und den erforderlichen Anpassungsprozess erdigung - manchmal deshalb, weil es schwierig leichtern. iiber eine friihzeitige Bestimmung der ist, die entsprechenden Kosten zu bestimmen anfalligen Sektoren und Arbeitsplatze sollte es —, weshalb manche Menschen (und Regionen) daher moglich sein, die Kosten zu niedrig wie zumindest kurzfristig benachteiligt sind (dies moglich zu halten. Ist das Problem einmal akut, ist ein Argument dafiir, den Betroffenen zu konnen der Veranderungsprozess beschleunigt und die Anpassungskosten minimiert werden, helfen). Die Differenz zwischen Nutzen und Kosten indem die betroffenen Menschen Unterstiitzung wird mit der Zeit immer groBer: In den An- erhalten, um ihnen bei den erforderlichen Anfangsjahren sind die Kosten normalerweise ho- passungsprozessen zu helfen. lier (die Wirkung auslandischer Wettbewerber Es ist im Interesse der Union, dabei zu helfen, auf nicht wettbewerbsfahige Sektoren zeigt alle erforderlichen Anpassungsprozesse zu ersich gewohnlich schnell), wahrend es einige leichtern, und dazu beizutragen, die Kosten der Zeit dauert, bis der Nutzen (hohere Effizienz von ihr implementierten Politiken zu decken. durch bessere Verteilung der Produktionsfak- Sie hat dies auch viele Jahre lang im Rahtoren) deutlich wird. Die empirischen Unter- men der Europaischen Gemeinschaft fiir Kohle suchungen zeigen, dass in den Jahren unmit- und Stahl getan. Die Entwicklung einer anatelbar nach Beseitigung der Handelsschran- logen Politik, die auf die Erleichterung von ken die Kosten 10-15% des Nutzens betragen, Veranderungen abzielt, wird in den komraenden Jahren umso wichtiger sein, als viele Hanzwei- bis dreimal mehr als langfristig. Kosten und Nutzen sind auch regional unter- delsabkommen auslaufen oder erneuert werschiedlich: Die Auswirkungen auf eine kon- den miissen (Multifaserabkommen, EUChilekrete Region hangen von der internationalen Abkommen), gleichzeitig auch die Aushandlung Wettbewerbsfahigkeit der dort angesiedelten neuer Abkommen ansteht (EntwicklungsagenWirtschaftssektoren, vom Grad der raumli- da von Doha [DDA], EU-Mercosur), was inschen Konzentration der Wirtschaftsbereiche gesamt mit ziemlicher Sicherheit zu einem be(besonders Handelswaren) sowie davon ab, in trachtlichen Anstieg der Importe von empfindwelchem MaB die jeweilige Region auf die Her- lichen Waren fuhren wird.
Quelle: Europ. Kommission
(2004), S. 118
2.2 Freihandel versus Protektionismus
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Lange der Arbeitslosigkeit eine Reintegration in den „ersten Arbeitsmarkt" immer schwieriger wird. Die Handelsliberalisierung gibt den bereits boomenden Agglomerationszentren in der EU einen weiteren Wachstumsschub, wahrend die peripheren Regionen durch die Marktintegration vom wirtschaftlichen Wachstum abgehangt werden und fur Investoren an Attraktivitat verlieren, so dass sich die Beschaftigungschancen in diesen Regionen verschlechtern. Die sich verschlechternde Beschaftigungssituation hat zur Folge, dass die jungen und besonders qualifizierten Erwerbspersonen die Region verlassen und diese so ihr Human- und auch Sozialkapital verliert. Damit wird dann oft ein Teufelskreis eingeleitet. Aufgrund der unzureichenden Humankapitalausstattung verliert die periphere Region weiter an Attraktivitat fur Investoren, was den Abwanderungsprozess bei den Arbeitskraften verstarkt und es sukzessive zu einer „passiven Sanierung" der peripheren Regionen kommt. Da die von der Integration benachteiligten Regionen oft zu umfangreiche Infrastrukturinvestitionen fur eine nun schrumpfende Bevolkerung getatigt haben, kommen auch die offentlichen Finanzen in Schwierigkeiten und der finanzielle Spielraum, mit einer integrierten Beschaftigungs- und Strukturpolitik gegenzusteuern, sinkt. Diese finanziellen Schwierigkeiten waren nicht so gravierend, wenn die Region ihre Infrastrukturausstattung dem Bevolkerungsnickgang anpassen konnte, was aber im Allgemeinen nicht moglich ist, so dass es zur Kostenremanenz kommt. Aber auch in den Regionen, in denen die Marktintegration positive Beschaftigungseffekte induziert, kann es aufgrund von „Uberflillungsprozessen" zu Anpassungsproblemen kommen. So kann sich das Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt verstarken, Wohnraum wird knapper und damit fur die Beschaftigten teurer usw. Dabei sollte man aber die Kernaussage zur Arbeitsteilung nicht vergessen, gemafi der wir all die aufgezeigten Anpassungsschwierigkeiten aufgrund des posit iven Wohlfahrtseffekts der Marktintegration kompensieren konnen. Wenn diese Kompensation nicht vorgenommen wird, so ist dies kein Marktversagen, sondern Politikversagen. 2.2.2 P o l i t i s c h e T e n d e n z e n z u m P r o t e k t i o n i s m u s Den Ausgangspunkt unserer nachfolgenden Uberlegungen bildet die Neue Politische Okonomie. Diese geht davon aus, dass sich auch Politiker eigennlitzig verhalten und ihre Politik primar an den Chancen ihrer Wiederwahl ausrichten. Sie verhalten sich nicht primar wohlfahrtsorientiert, indem sie als „wohlmeinender Diktator" die gesellschaftliche
40
2 Theoretische Grundlagen
Wohlfahrt unter Nebenbedingungen maximieren. Des Weiteren unterstellt die Theorie, dass sich die Wahler bei ihren Wahlentscheidungen nach ihren eigenen Interessen ausrichten. Sie beurteilen die Politiker insbesondere anhand wirtschaftlicher Ergebnisse, wie ihre eigene Beschaftigungs- und Einkommenssituation. Dariiber hinaus versucht die Neue Politische Okonomie das Verhalten aller Akteure - auch im politischen Bereich - mit dem allgemeinen Erklarungsmodell der okonomischen Theorie zu analysieren. Da alle Akteure die Politik anhand ihres eigenen Vorteilkalkuls beurteilen, stellt flir sie okonomische Effizienz keinen Wert an sich dar. Der Hinweis, dass eine Handelsliberalisierung Effizienzsteigerungen bewirkt, hat nicht zur Folge, dass sich diese Politik im politischen Prozess auch durchsetzt. Effiziente Losungen haben im politischen Prozess nur dann eine Chance sich durchzusetzen, wenn sich dabei auch die entscheidenden Akteure besser stellen. Nun ftihrt aber eine Handelsliberalisierung zu erheblichen Umverteilungen, so dass es - wie in Abb. 2.8 skizziert - durchaus dazu kommen kann, dass der Effizienzgewinn einer Liberalisierung durch einen Umverteilungseffekt flir einflussreiche Gruppen iiberkompensiert wird.
Effizienzeffekt Umverteilungseffekt
Abbildung 2.8. Umverteilungseffekt Beim Ubergang von der Ausgangssituation, deren Giiterversorgung durch den inneren Kreis symbolisiert wird, zur neuen Situation, die durch den aufieren Kreis reprasentiert wird, kommt es zu einer besser en Giiterversorgung. Wenn die ausschlaggebende Gruppe aber beim Wechsel zum freien Handel anstelle ihres alt en Anteils ABC den geringeren Anteil ADE erhalt, so wird sie die Handelsliberalisierung blockieren und protektionistische Mafinahmen praferieren. Dass solch eine Ten-
2.2 Freihandel versus Protektionismus
41
denz zum Protektionismus im politischen Prozess durchaus vorhanden ist, soil an einigen Konstellationen verdeutlicht werden. Natiirlich konnte man beim Ubergang von einer inferioren zu einer paretooptimalen Losung alle besser stellen. Die versprochenen Kompensationen miissen aber glaubwiirdig sein. Lander mit geringer Handesliberalisierung haben aber meist nicht die notwendige Reputation bei ihren Btirgern, so dass es zu Blockaden kommt. Glaubwurdige Kompensationsversprechungen sind in einer Welt vollkommener Informationen kein Problem. In einer Welt mit Informationsasymmetrien stellen sich aber neue Herausforderungen, die protektionistische Mafinahmen attraktiv erscheinen lassen. Die Unsicherheit iiber die negativen Auswirkungen einer beabsichtigten Marktintegration sowie das Politikversagen, glaubwurdige Kompensationen anzubieten, konnen zu einer Blockade bei der Integration flihren. Dies soil anhand einer Modelluberlegung von Fernandez/Rodrik (1991) fur den Fall einer Offnung des Arbeitsmarktes aufgezeigt werden. Wie in Abschn. 2.4.1 dieses Kapitels aufgezeigt wird, fuhrt die Integration des Arbeitsmarktes dazu, dass insgesamt ein positiver Wohlfahrtseffekt eintritt; die Arbeitnehmer, insbesondere die Geringqualifizierten stellen sich in ihrer Entlohnung schlechter, die Unternehmen erzielen hingegen einen erheblichen Gewinnzuwachs aus der realisierten Freiziigigkeit der Arbeitskrafte im Falle der Zuwanderung. Nehmen wir exemplarisch an, dass ein Mitgliedstaat 100 Personen umfasst. Davon gewinnen 49% durch die Offnung des Arbeitsmarktes 5 Geldeinheiten, hingegen erleiden die 5 1 % Verlierer der Marktoffnung also die Mehrheit - jeweils 1 Einheit als Verlust. Durch die Offnung des Arbeitsmarktes kommt es zu einem Wachstumsschub, der dafiir sorgt, dass von den 51 Verlierern 2 in das Lager der Gewinner wechseln, wobei jeder der 51 Verlierer die gleiche Wahrscheinlichkeit von 2/51 hat, zu den gliicklichen Wechslern zu gehoren. Der positive Wohlfahrtseffekt der Offnung des Arbeitsmarktes ist dann 5 1 x 5 — 4 9 x 1 = 206. Waren glaubwurdige Kompensationen moglich, so konnte m a n die Voraussetzungen dafiir schaffen, dass die Mehrheit fur eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes gesichert ware. Ohne Kompensationszahlungen wird sich aber die Mehrheit gegen eine wohlfahrtssteigernde Offnung des Arbeitsmarktes aussprechen, obwohl sich durch die Arbeitsmarktintegration die Mehrheit von 5 1 % besser stellt. Die Verlierer beurteilen die Offnung und ihre Chance in das Lager der Gewinner zu wechseln, folgendermafien: 2/51 x 5 — 49/51 x l = —0, 76, so dass sich 51% gegen die Offnung aussprechen werden.
42
2 Theoretische Grundlagen
Informationsasymmetrien treten insbesondere bei der Kosten-Nutzen-Bewertung einer Marktintegration auf. Bei einer Marktoffnung treffen die Anpassungskosten eines intensivierten Wettbewerbs wie Unternehmensinsolvenzen und damit verbundene Arbeitslosigkeit Einzelne besonders hart. Oft wird hier mit dem Hinweis auf auslandische Wettbewerber vorschnell ein Begriindungszusammenhang aufgezeigt, der dann Anlass flir protektionistische Mafinahmen ist. Der Nutzen der Marktintegration ist hingegen oft kaum merklich und diffundiert sehr stark. Es sind die Konsumenten, die die grofien Gewinner einer verstarkten Marktintegration sind. Sie konnen iiber eine reichlichere Giiterpalette verfiigen und die Kostenvorteile der Integration schlagen sich in niedrigeren Preisen nieder. Gerade die Preisvorteile sind aber oft kaum merklich und werden von den Konsumenten nicht auf die Marktintegration zuruckgefiihrt. Preisanpassungen vollziehen sich vielmehr anonym liber den Marktprozess. Wahrend die Kosten der Marktintegration meist merklich und konzentriert auftreten, verhalt es sich mit dem Nutzen der Integration umgekehrt. Auch im zeitlichen Verlauf der Auswirkungen der Marktintegration ist das gegenlaufige Verhaltnis ersichtlich. Dies wird in Abb. 2.9 veranschaulicht. Die zeitlichen Unterschiede in den Nutzen- und KostenverKosten, Nutzen
Nutzen
Kosten
Zeit Abbildung 2.9. Kosten und Nutzen der Handelsliberalisierung
laufen schaffen eine Tendenz zur Marktabschottung. Erstens muss der zukiinftige Nettonutzen diskontiert werden. Zweitens sind zuklinftige Vorteile fur viele aufgrund der Unsicherheit nur vage Versprechen der
2.3 Neue Auflenhandelstheorie
43
Politiker, die nicht glaubwiirdig sind, wahrend die Nachteile in der kurzen Prist offensichtlich sind. Hinzu kommt drittens, dass die Politiker sich auf ihre Wiederwahl konzentrieren miissen, so dass auch sie sieh eher an den kurzfristigen Nachteilen als an den langfristigen Vorteilen der Integration orientieren. Eines der wesentlichen Ergebnisse der Neuen Politischen Okonomie ist der Nachweis der Ungleichheit der Wahler im politischen Entscheidungsprozess. Auch wenn alle Wahler genau eine Stimme haben, so ist doch ihr politischer Einfluss recht unterschiedlich. Wahler unterscheiden sich in ihrem politischen Engagement, wie z. B. in ihrer Wahlbeteiligung, in ihrer Ressourcenausstattung und damit in ihrer Macht, andere zu beeinflussen, und insbesondere in ihrer Organisationsfahigkeit. Wie Olson (1968) aufgezeigt hat, konnen sich im politischen Prozess kleine Gruppen wesentlich besser organisieren und politisch durchsetzen als grofie Gruppen. Kleine Gruppen sind z. B. die Produzenten, die ein gemeinsames Interesse verbindet: Privilegien auf einem Markt zu schutzen. Solche Interessengruppen, die ihren Markt von dem internationalen Wettbewerb abschotten wollen, sind zahlreich. Hingegen sind die Konsumenten, die die Gewinner der Marktoffnung sind, eine schwer organisierbare Gruppe mit einem meist nur geringen politischen Einfluss. Die geringe Organisationsfahigkeit grofier Gruppen ist damit zu begrlinden, dass die Verfolgung von Gruppeninteressen die Produktion eines offentlichen Gutes beinhaltet. In grofien Gruppen, die meist auf anonymen und unpersonlichen sowie sehr lockeren Sozialbeziehungen aufbauen, ist es wesentlich attraktiver, sich als Aufienseiter zu verhalten und bewusst auf den eigenen Anteil zur Produktion des offentlichen Gutes „Interessenvertretung" zu verzichten. Die Anreizstruktur stellt sich hingegen in kleinen Gruppen wesentlich gunstiger dar. Diese hat zur Folge, dass Interessengruppen, die gezielt auf protektionistische Mafinahmen auf Kosten der Allgemeinheit setzen, sich in den politischen Auseinandersetzungen erfolgreich durchsetzen.
2.3 Neue Aufienhandelstheorie Bisher sind wir von der grundlegenden Annahme ausgegangen, dass der internationale Handel durch vollstandige Konkurrenz gepragt ist, und haben unter dieser Modellannahme unsere wohlfahrtstheoretischen Aussagen zur Effizienz der Offnung der Markte abgeleitet. Die Modellannahme der vollstandigen Konkurrenz wird nicht nur von Gegnern der Globalisierung kritisiert, sie hat auch wenig Realitatsbezug. Insbesondere die Modellpramisse, dass alle Anbieter und Nachfrager nur
44
2 Theoretische Grundlagen
marginale Marktanteile haben und sich als Mengenanpasser verhalten, ist vollig unrealistisch. Im internationalen Handel dominieren multinationale Unternehmen, die auf Teilmarkten einen durchaus dominant en Einfluss und oft eine marktbeherrschende Stellung inne haben. Von ihnen zu erwarten, ihre Marktmacht nicht zu nutzen, besagt nichts anderes, als ihnen irrationales Verhalten zu unterstellen. Im Folgenden steht der Zusammenhang zwischen Marktmacht und Offnung der Markte im Vordergrund. Wir werden prufen, ob nicht gerade die Offnung der Markte durch Integration die Chance bietet, Marktmacht abzubauen. Neben der Marktmacht wird als zweiter Aspekt die Grofie des Marktes in den Mittelpunkt unserer Analyse rucken. Im Modell der vollstandigen Konkurrenz haben wir uns nicht explizit mit der Grofie des Marktes beschaftigt, da das langfristige Marktgleichgewicht (als innere Losung) nicht von dieser beeinflusst wird. Aufgrund konkaver Nutzenund Produktionsfunktionen kommt dabei der Marktgrofie selbst keine erklarende Funktion zu. Vollig anders stellt sich die Situation dar, wenn wir beide Funktionen realitatskonformer spezifizieren. Existieren economies of scale, so ist das Modell der vollstandigen Konkurrenz ein inadaquates Referenzmodell. Hier werden sich aufgrund von Kostenvorteilen grofie Unternehmen gegeniiber kleinen durchsetzen und es wird sich eine Tendenz zum Monopol einstellen. Mit zunehmender Marktgrofie konnen die Anbieter Skaleneffekte besser nutzen, so dass tendenziell mit einer Ausweitung des Marktes Wohlfahrtssteigerungen verbunden sind und aus dieser Perspektive eine Marktintegration durchaus positiv zu bewerten ist. In der Mikrookonomie sind die Giiter, die den Konsumenten zur Verfiigung stehen, exogen vorgegeben, so dass ein Einfluss der Marktgrofie auf die Breite der Produktpalette per definitionem ausgeschlosssen ist. In der Realitat ist aber die Anzahl der angebotenen Giiter eine endogene Grofie. Ein Unternehmen bietet nur dann ein neues P r o d u k t an, wenn der Markt ausreichend grofi ist und eine Produktnische existiert, die ihm einen ausreichenden Gewinn sichert. Existiert eine Beziehung zwischen Marktgrofie und Produktvielfalt, so bewirkt eine Markt vergrofierung durch Marktoffnung einen weiteren positiven Wohlfahrtseffekt. Wir werden zeigen, dass mit der gestiegenen Produktvielfalt ein Nutzenanstieg bei den Nachfragern verbunden ist, der eine Wohlfahrtssteigerung beeinhaltet. Diese grundlegenden Uberlegungen der Neuen Handelstheorie konnen hier in einer wirtschaftspolitisch ausgerichteten Arbeit nicht en detail dargestellt werden. Wir werden uns stattdessen auf einige grundlegende Modellbeispiele konzentrieren, denen fur den europaischen Integrationsprozess eine besondere Bedeutung zukommt.
2.3 Neue Aufienhandelstheorie
45
2.3.1 M e h r W e t t b e w e r b d u r c h I n t e g r a t i o n Als Ausgangssituation wahlen wir die Konstellation, dass auf dem Inlandsmarkt und dem Auslandsmarkt jeweils ein Monopol vorliegt. Fiir die beiden Monopolisten gilt jeweils die isoelastische Nachfragefunktion: qi = 1 / 2 ^ mit 0 < e < 1, wobei pi den Preis und qi die nachgefragte Menge fur i = H, dem Inlands-, bzw. fiir i = P , dem Auslandsmarkt, angeben. Die Preiselastizitat der Nachfrage ist dann: d * . P* dpi qi
=
I (__}\ . (-1A-1) . Pi l 2\ ej q{
=
_ I . 1 ^ ~ 1 / £ . P* = _ I (2 7) e 2 pi qi e '
Weiter liegen fiir beide Monopolisten jeweils die fixen Kosten bei / und die Grenzkosten sind konstant gleich c. Es liegt so bei beiden eine fallende Durchschnittskostenkurve vor. Als Gewinn ergibt sich TTI = Pi(Qi)'Qi~c'Qi^f' Fiir das Gewinnmaximum erhalten wir als notwendige Bedingung: -j-
=Pi + ^~ • ft - c = 0 ,
so dass gilt: pi f 1 + -—r,— * ~ I = V dqi/dpi qi)
c
(2.8) •
(2-9)
Nun haben wir oben gezeigt, dass die Elastizitat der Nachfrage —1/e ist, daraus ergibt sich fiir den optimalen Preis: po(l + l/(—l/e)) = c oder po(l — e) — c bzw. po = 1/(1 — £) • c. D e r Monopolist erhalt seinen maximalen Gewinn, wenn er auf die Grenzkosten einen konstant en Aufschlag in Hohe von 1/(1 — e) vornimmt. Dieser Sachverhalt ist in Abb. 2.10 (a) dargestellt, wobei go das optimale Angebot des jeweiligen Monopolisten ist. Durch die Integration beider Markte entsteht nun die aggregierte Angebotsfunktion
Q = QH + qp = \v~n'e
+ \p~p'£
= P~1/E •
( 2 -!0)
Die Elastizitat der Nachfrage ist weiter —1/e. Wir unterstellen einen Cournot-Wettbewerb unter den beiden bisherigen Monopolisten. Jeder Anbieter bestimmt seinen optimalen O u t p u t unter der Annahme, dass der Konkurrent sein bisheriges Angebot nicht anpasst, so dass fiir beide gilt: dQ/dqi = 1.
46
2 Theoretische Grundlagen
P*
Pt
DP
Po
k
^0
]DH + DP
a
A
c c
\B\
Pi
Pi d
' 1
\D
C
\ \
1 1 <& 0i
\
I l
'
Qo Qi
. Q
(a) (b) Quelle: Hansen/Ulf-M0ller Nielsen (2001), S. 38 Abbildung 2.10. Integration des gesamten Marktes und der wettbewerbsfordende Effekt Unter dieser Reaktionshypothese konnen wir die notwendige Bedingung fur das Gewinnmaximum ^i = p(Q) • Qi — C' Qi — f bestimmen. ^ ., diii dp dQ Es gilt: — t = p + - ^ . - ! 1 . ffi - c = 0 , dqi dQ dqi dqi
\
und — - = p I 1 dqi
dQJ
p
n
& \ £
Q
- ] - c = 0.
(2.11) (2.12) (2.13) (2.14)
Da beide identische Anbieter den gleichen optimalen Preis und das gleiche optimale Angebot q\ haben, ist q\ — 1/2 • Q. Daraus ergibt sich pi = (1/(1 — s/2)) • c. Der konstante Aufschlag der Anbieter sinkt aufgrund des durch die Marktintegration verstarkten Wettbewerbs, da
l-e/2
<
1-e
ist.
(2.15)
Schliefien sich n —» oo Markte mit jeweiligen Monopolisten zusammen, so wiirde in diesem Extremfall die Marktoffnung vollstandige Konkurrenz herstellen. In unserem einfachen Beispiel bewirkt die Marktintegration, dass (siehe Abb. 2.10 (b)) die Konsumentenrente um A -\- B steigt und die Produzentenrente u m A — D sinkt. Insgesamt steigt die
2.3 Neue Aufienhandelstheorie
47
Wohlfahrt u m A + B — (A — D) = B + D und in jedem Land urn b + d. Dieser Wohlfahrtsgewinn stellt sich auch dann ein, wenn nach der MarktofFnung der Giiteraustausch zwischen den beiden Landern gering ausfallt, da der mit der MarktofFnung verbundene potenzielle Wettbewerb das Senken der Margen bei der Preispolitik erzwingt. Die von der MarktofFnung erzwungene Preissenkung von po auf p\ kann zur Folge haben, dass beide Anbieter Verluste machen, wenn Pi • qi < c • q\ + / ist. In diesem Fall miisste einer der beiden Anbieter aus dem Markt ausscheiden und der Preis wiirde dann wieder auf Po ansteigen. In dieser Situation wird jedes Land bemuht sein, seinen Monopolisten zu starken, u m die heimischen Arbeitsplatze zu sichern. Auf diesem Szenario baut die strategische Handelspolitik auf. Selbst wenn sich das eigene Unternehmen nicht am Markt halt en kann, so zahlt sich in unserem Beispiel die Marktintegration doch aus, da durch die MarktofFnung aufgrund des fallenden Verlaufs der Durchschnittskostenkurve SkalenefFekte realisiert werden, was in unserem konkreten Fall bedeutet, dass die bisher doppelt anfallenden Fixkosten / nach dem Marktaustritt eines Anbieters nur noch einmal anfallen. 2.3.2 Marktgrofie u n d P r o d u k t v i e l f a l t Eine grofie Schwache des im Abschn. 2.1 dargestellten Ricardo-Modells liegt darin, dass wir mit ihm nur den interindustriellen, nicht aber den immer mehr an Bedeutung gewinnenden intraindustriellen Handel erklaren konnen. Der interindustrielle Handel vollzieht sich zwischen den verschiedenen Sektoren der Volkswirtschaften. So exportieren die Staaten der dritten Welt meist arbeitsintensive Produkte und RohstofFe und erhalten im Austausch dafiir kapitalintensive und High-Tech-Produkte. Wir stellen aber immer mehr fest, dass Staaten Produkte eines Industriesektors sowohl importieren als auch exportieren. Deutlich wird dies in der Tatsache, dass Deutschland Autos aus Frankreich importiert, wahrend Frankreich Autos aus Deutschland importiert. Wenn Produkte eines Sektors gleichzeitig importiert und exportiert werden, sprechen wir von intraindustriellem Handel, der mit dem Konzept der komparativen Kostenvorteile nur schwer vereinbar ist. Im Folgenden wollen wir ein einfaches Modell skizzieren, das uns die Entstehung intraindustriellen Handels plausibel macht. Wir gehen zunachst in unserer betrachteten Volkswirtschaft von n exogen vorgegebenen Produkten qi (i = l,...n) aus. Es herrscht monopolistische Konkurrenz der Gestalt, dass fur jedes Gut genau ein Anbieter existiert. Des Weiteren gelten fur alle Anbieter die gleichen Angebots- und Nachfragebedingungen. Die Kostenfunktion soil dabei der im Abschn. 2.3.1
48
2 Theoretische Grundlagen
unterstellten entsprechen. Wir gehen von der inversen Nachfragefunktion eines monopolistischen Anbieters Pi=
(^J
-q~£ aus.
(2.16)
Die Grofie L stellt einen Indikator fur die Grofie des Marktes dar. Darunter kann man sich eine Kennziffer fiir die Bevolkerungszahl oder auch fiir das BIP vorstellen. L stellt dabei eine exogen bestimmte Grofie dar. Die vorgegebene Nachfragefunktion impliziert eine isoelastische Nachfrage mit der Elastizitat —1/e. Wenn sich die Produktpalette erweitert, so steigt n und die Nachfragekurven verschieben sich hin zum Ursprung, da sich die Absatzchancen jedes Anbieters verschlechtern. Wie im ersten Modell „Mehr Wettbewerb durch Integration" abgeleitet, bestimmt sich der optimale Preis als
PO=P* = YZ^'C>
( 2 - 17 )
der aufgrund unserer Symmetrieannahme fiir alle Anbieter gleich ist. Solange mit p* ein Gewinn verbunden ist, lohnt es sich, als Anbieter in den Markt einzutreten und ein neues P r o d u k t qi anzubieten, so dass sich n erhoht. Deshalb ist im langfristigen Marktgleichgewicht, fiir das TTi = 0 mit TTi = (jpo ~ c)qo — f ist, also von keinem Anbieter ein Gewinn realisiert wird, n eine endogene Variable, dessen Wert no durch die Null-Gewinn-Hypothese eindeutig determiniert ist. Das langfristige Gleichgewicht mit der dazugehorigen Angebotsfunktion Do fiir einen Anbieter ist in Abb. 2.11 dargestellt. Bei der Nachfragekurve D\ ist die Produktvielfalt geringer und die Anbieter realisieren Gewinne, die weitere Anbieter anlocken. Dadurch erhoht sich die Produktvielfalt und die Kurve D\ verschiebt sich hin zur Kurve Z?o5 die das langfristige Gleichgewicht darstellt. Vollzieht sich nun eine Marktoffnung, indem z. B. die EU10 dem Gemeinsamen Markt beitritt, so erhoht sich damit die Grofie L in den Nachfragefunktionen und entsprechend die endogene Grofie no- Welche Wohlfahrtseffekte sind mit der durch die Marktoffnung bedingten Ausweitung der Produktpalette verbunden? Die grofien Gewinner der erhohten Produktvielfalt sind die Konsumenten. Sie haben eine Praferenz fiir Produktvielfalt, wenn m a n nach dem Konzept von Dixit/Stiglitz (1977) von folgender Nutzenfunktion U — X^ILi % ausgeht, die die „love of variety" widerspiegelt. Diese Nutzenfunktion ist so spezifiziert,
2.3 Neue Aufienhandelstheorie
t \D°
\Di
\
\
\
\
\
V
\
\
\
\
\ \
\
\
f
\
\
>
1
\\
1
N
N N
JXJ 1
49
1
"I 1
•
Quelle: Hans en/Ulf-M0ller Nielsen (2001), S.38. Abbildung 2.11. Marktgleichgewicht unter monpolistischem Wettbewerb dass sie mit den obigen Nachfragekurven kompatibel ist. Bei gegebenem Budget eines Konsumenten steigt mit n sein Nutzen, den er mit dem Kauf der P r o d u k t e realisieren kann. Ist n = 1, so muss er all sein Geld fur ein Gut ausgeben und aufgrund der vorgegebenen Nutzenfunktion sinkt sein Grenznutzen aus dem Kauf des Gutes. Nimmt die Produktvielfalt zu, so kann ein Kaufer seine Nachfrage auf mehr Produkte verteilen und der Grenznutzen der letzten gekauften Einheit jedes Produktes steigt. Dieses Ergebnis lasst sich aus der Nutzenfunktion leicht ableiten. Da fur alle n - P r o d u k t e aufgrund unserer Symmetrieannahmen der Preis gleich ist, folgt aus der Nutzenfunktion, dass jeder Kaufer von jedem Gut die gleiche Menge nachfragt, so dass sich die Nutzenfunktion vereinfachend darstellen lasst als: U = Y,
=n-Q{l-e)
•
(2-18)
i=l
Wenn ein Konsument liber das Budget B verfugt, so gibt er dann fur jedes Gut po • q aus, so dass q = B/(po • n) ist und wir fur den Nutzen er halt en: U = n-(-^—\ bzw. U=(— 1 -n£, (2.19) \Po-nJ \poJ so dass der Nutzen mit groflerem n zunimmt. Dieses Ergebnis kann man sich auch fur den Fall illustrieren, dass die Giiterversorgung von
50
2 Theoretische Grundlagen
n = 1 auf n = 2 ansteigt und m a n dann die Aussage mit vollstandiger Induktion verallgemeinert. Es sei B gegeben, dann ist fur n = 1 die nachgefragte Menge q = B/po und es wird der Nutzen U\ realisiert, wie in Abb. 2.12 dargestellt. UA
uA u2\
z^\^^^ x
2p0
Po
Abbildung 2.12. Wohlfahrtssteigerung durch Produktvielfalt Wenn nun n = 2 ist, dann ist q = B/(2 • po) und fiir jedes Gut wird der Nutzen Ui erreicht, so dass der gesamte Nutzen 2JJ^ ist. Dieser ist aber aufgrund des konkaven Verlaufs der Nutzenfunktion grofier als der Nutzen U\. Wir sehen, dass mit der Marktoffnung der Markt grofier wird, die Produktvielfalt zunimmt und der Nutzen der Konsumenten steigt, ohne dass sie mehr ausgeben miissen. 2.3.3 S k a l e n e r t r a g e u n d Marktgrofie Mit einer Marktoffnung vergrofiert sich nicht nur die Produktpalette, sondern der grofiere Markt bietet a u d i Chancen der Spezialisierung und der Nutzung von Skaleneffekten. Vor einer Marktintegration sind viele Unternehmen aufgrund der geringen Nachfrage gezwungen, gleichzeitig mehrere P r o d u k t e zu produzieren, u m so economies of scope (Verbundeffekte) zu realisieren. Mit der Produktion verschiedener P r o d u k t e sind die Unternehmen auch bei geringer Nachfrage bei den einzelnen Produkten in der Lage, die fixen Gemeinkosten auf mehrere Produkte zu verteilen und so die Durchschnittskosten zu senken. K o m m t es zu einer Marktoffnung, steigt die Nachfrage. Aufgrund der verbesserten Absatzsituation konnen die Unternehmen ihre Durchschnittskosten
2.3 Neue Aufienhandelstheorie
51
dadurch senken, dass sie von economies of scope zu economies of scale wechseln. Die Vorteilhaftigkeit dieses Strategienwechsels im Falle einer Markterweiterung soil an einem einfachen Modell skizziert werden. Um Verbundeffekte realisieren zu konnen, kann das betrachtete Unternehmen die beiden P r o d u k t e q\ und q
c
\
x
+ c*g2 + / *
(2.20)
produzieren. Dabei symbolisiert * nicht das Ausland, sondern dient nur zur Abgrenzung der beiden Kostenfunktionen. Ware der Markt ausreichend grofi, so wlirde es sich fiir das Unternehmen anbieten, ausschliefilich das Gut q zu produzieren, u m so Skaleneffekte zu realisieren, wobei die Kostenfunktion K = cq
+ f
(2.21)
gegeben ware. Um das Modell realistisch zu gestalten, nehmen wir an, dass c < c* und / < / * < 2 • / gelten. Diese A n n a h m e n bedingen, dass die Fixkosten im Einproduktfall geringer als die im Zweiproduktfall und die Grenzkosten bei der Produktion eines Gutes geringer als bei der von zwei Produkten sind. Aufgrund der Fixkostendegression sind bei hinreichend grofier Nachfrage die Durchschnittskosten AC', die sich den konstanten Grenzkosten annahern, bei der Produktion eines Gutes geringer als bei der von zwei Produkten. Da aber / * kleiner als 2 / ist, ist bei hinreichend kleinem q der Wert ( 2 / — f*)/(2q) kleiner als c* — c. Dann fallen die Durchschnittskosten AC = c + f/q im Einproduktfall hoher als die Durchschnittskosten AC* = c*+f*/2q im Zweiproduktfall aus, wenn man jeweils q\ = q2 = q produziert. In Abb. 2.13 sind diese Kurvenverlaufe dargestellt. Steigt durch Marktintegration die Nachfrage iiber den kritischen Wert g, so lohnt es sich, einen wohlfahrtssteigernden Wechsel von economies of scope zu economies of scale zu vollziehen. Dabei bestimmt sich der kritische Wert q = ( 2 / — / * ) / ( 2 ( c * — c)). Gerade dieses Beispiel macht sehr anschaulich deutlich, welches Risiko mit einer Verwirklichung von economies of scale im R a h m e n einer Marktintegration verbunden ist, wenn ein kleiner in einen grofien Markt integriert wird. Dieser Fall war bei der EU-Osterweiterung gegeben. Denn jeder Beitrittsstaat war aus der Sicht des Gemeinsamen Marktes der EU15 ein kleiner Markt. In diesen kleinen Markt en mussten die Unternehmen auf economies of scope setzen, wahrend der Gemeinsame Markt der EU15 den Unternehmen die Option der Realisierung von economies of scale ermoglichte. Von daher war die Ausgangssituation der Unternehmen in der EU10 recht ungiinstig, da sie, u m im
52
2 Theoretische Grundlagen
AC A
q =
qi=Q2
Quelle: Hansen/Ulf-M0ller Nielsen (2001), S. 50 Abbildung 2.13. Break even point bei alternativen Produktionsverfahren Gemeinsamen Markt wettbewerbsfahig zu werden, erst ihr Unternehmen von economies of scope zu economies of scale umstrukturieren mussten. Um diesen Anpassungsprozess zu erleichtern, hat die EU mit der EU10 schon friihzeitig Anfang der 90er Jahre Assoziierungsabkommen geschlossen, die eine kontinuierliche Markt integration durch einen sukzessiven Zollabbau ermoglichten.
2.4 Arbeitsmarktintegration Wenn man die in Abschn. 2.2 erlauterten vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes betrachtet, dann mussten diese, da sie Bestandteil des acquis communautaire (Gemeinschaftlicher Besitzstand) sind, eigentlich uneingeschrankt ab dem 1. Mai 2004 fur die neuen Mitgliedstaaten gelten. Dies ist aber nicht der Fall, da sogenannte Ubergangsregeln fur die Arbeitnehmerfreizugigkeit sowie die Dienstleistungsfreiheit vereinbart wurden. Bevor wir uns der Ausgestaltung der Ubergangsregeln zuwenden, wollen wir uns einigen wichtigen Fragen zur Arbeitnehmerfreizugigkeit zuwenden. Folgende Aspekte werden dabei betrachtet: • • •
Wie grofi ist die Mobilitat des Faktors Arbeit in der EU? Was sind die Migrationsmotive? Welche allokativen und distributiven Effekte sind mit einer Arbeitsmarktintegration verbunden?
2.4 Arbeitsmarktintegration • • •
53
Warum gibt es in vielen Mitgliedstaaten erhebliche Widerstande gegen eine Arbeitsmarktintegration? Gibt es ineffiziente Wanderungen? Wie sehen die Ubergangsregeln aus und wie sind diese zu beurteilen?
Wahrend der Faktor Kapital in der EU sehr mobil ist, der Handelsaustausch vollkommen liberalisiert ist und die Handelsverflechtungen innerhalb der EU kontinuierlich zunehmen, stellen wir fest, dass die Mobilitat der Erwerbstatigen innerhalb der EU15 sehr gering ist. Nur 0,2% aller Erwerbstatigen der EU15 sind Grenzganger, die taglich pendeln. Auch die Migration ist in Europa niedrig. Selbst im Prozess der Erweiterung der EU sind keine dramatischen Migrationseffekte aufgetreten. So sind im Zeitraum 1950 - 1970 nur 3% (ca. 5 Mio.) der slideuropaischen Bevolkerung der EU nach West- und Nordeuropa ausgewandert. Von daher gehen die Prognosen der Migrationseffekte, die sich bei voller Freizligigkeit durch die EU-Osterweiterung ergeben wiirden, von einer relativ verhaltenen Zuwanderung aus. So schatzt das D I W in Berlin in einer zusammenfassenden Analyse, dass in den nachsten 20 Jahren ungefahr 2 Mio. Personen aus den 10 mittel- und osteuropaischen Staaten (EU8, Bulgarien und Rumanien) nach Deutschland migrieren werden (siehe dazu z. B. Brlicker (2004)). Davon sind 50% Erwerbspersonen. Strittiger in den Analysen ist die Hohe der Nettostrome in den ersten Jahren nach Einflihrung der Freizligigkeit und damit die Frage, inwieweit die aufnehmenden Arbeitsmarkte in der Lage sind, die Zuwanderung kurzfristig adaquat zu absorbieren. Wenn man das Migrationspotenzial abschatzen will, muss m a n sich liber die Migrationsmotive im Klaren sein. Aus okonomischer Sicht sind die beiden wichtigsten Bestimmungsfaktoren die • •
Lohndifferentiale und die Unterschiede in den Arbeitslosenquoten zwischen dem abgegebenden und dem aufnehmenden Staat.
Nicht die Hohe der Lohne im Aufnahmeland ist entscheidend, sondern der Einkommenszuwachs, den ein Migrant erwartet. Beispielsweise sind die Lohne in Deutschland ungefahr vier mal so hoch wie in Polen, so dass es erhebliche Anreize gibt, zu migrieren. Hohe Einkommensdifferentiale reichen aber nicht aus. Arbeitnehmer werden nur migrieren, wenn sie auch eine grofie Wahrscheinlichkeit sehen, eine Beschaftigung im aufnehmenden Staat zu erhalten. Von daher sind dynamische Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeit wie Baden-Wlirttemberg und Bayern, aber auch Berlin Hauptadressaten flir Migranten aus den neuen Mitgliedstaaten. Migranten reagieren sensibel auf eine hohe Arbeitslo-
54
2 Theoretische Grundlagen
sigkeit im Aufnahmeland, da sie befiirchten, besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. Meist liegt eine latente Diskriminierung in dem Sinne vor, dass sie sich am Ende der Schlange der Arbeitssuchenden einreihen miissen, da im Zweifelsfall doch einheimische Arbeitskrafte vorgezogen werden. Oft bleibt dann bei hoher Arbeitslosigkeit nur noch die Option der illegalen Beschaftigung zu sehr unattraktiver Entlohnung. Wichtiger fur die Migrationsentscheidung ist die Beschaftigungssituation im Heimatland. Gehen die Arbeitnehmer davon aus, dass sich ihre fat ale Beschaftigungssituation in der Zukunft nicht grundlegend verbessert, werden sie sich fiir eine Migration entscheiden. Erwartete Einkommensdifferentiale sind dann ein wesentliches Kriteriu m bei der Frage, in welche Region man migriert. Neben den okonomischen Motiven existieren auch soziale, kulturelle und politische Motive. Hierzu zahlen die Verfolgung ethnischer und religioser Minderheiten, politische Unterdrlickung sowie kriegerische Auseinandersetzungen. All diese Faktoren sind in der EU27 irrelevant. Nicht zu vernachlassigen sind aber kulturelle und soziale Faktoren wie: Sprachbarrieren, Aufgabe sozialer Beziehungen, Verlust an Human- und Sozialkapital, erwartete Diskriminierung als Auslander sowie Informationsdefizite, die zur Folge haben, dass nur bei erheblichen Einkommensunterschieden die schwerwiegende und oft nicht revidierbare Migrationsentscheidung getroffen wird. Aus dieser Perspektive miissen die Vorteile nicht so grofi sein, wenn es u m die Entscheidung geht, grenzuberschreitender Pendler (Grenzganger) zu werden. Hier sind die Informationskosten nicht so hoch und Fehlentscheidungen konnen leicht revidiert werden. Insbesondere fallen die Kosten des Wohnsitzwechsels weg, die oft als einmalige Kosten wesentlich hoher als die permanenten Fahrtkosten beim Pendeln sind. Nun gibt es zur Zeit, z. B. in der Grenzregion von Deutschland zu Polen und Tschechien, keine verlassliche Schatzung der Pendleraktivitaten. Es ist aber aufgrund unserer oben angestellten Uberlegungen aus folgenden Griinden damit zu rechnen, dass die Pendleraktivitaten nicht besonders stark ausfallen: • • • •
niedriges Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit, geringe Bevolkerungsdichte und ungtinstige Verkehrsinfrastruktur
auf beiden Seiten der Grenzregion, • •
Fehlen attraktiver Agglomerationszentren und Vorurteile
auf der deutschen Seite in der Grenzregion.
2.4 Arbeitsmarktintegration
55
Wenn man sich diese Faktoren anschaut, sind die deutschen Grenzregionen relativ unattraktiv fur Pendler. Da mit Berlin, Dresden und Wien attraktive Zentren im Einzugsbereich der Pendler vorhanden sind, werden sich die Pendleraktivitaten auf diese Zentren konzentrieren. Von Interesse ist a u d i die Frage, warum sich Migrationsstrome mehr oder weniger kontinuierlich im Zeitablauf vollziehen und - von Extremsituationen, wie Kriegen, Vertreibungen, Hungersnoten usw. abgesehen nicht in kurzen Zeitraumen konzentriert auftreten. Besonders die Jungen und besonders Qualifizierten wandern ab, so dass kontinuierlich ein neues Migrationspotenzial heranwachst. Mit zunehmendem Migrationsvolumen wird der Wohnraum knapper, die Mieten hoher und die Beschaftigungschancen sinken. Die sinkendende Absorptionsfahigkeit des Aufnahmelandes senkt folglich die Attraktivitat der Migration. Hinzu vollziehen sich die notwendigen Informationsprozesse mehr oder weniger kontinuierlich liber Netzwerke. Diese Faktoren sprechen dafur, dass auch nach der vollen Freiziigigkeit nicht mit einem dramatischen abrupten Anstieg in den Migrationszahlen zu rechnen ist. 2.4.1 Effiziente M i g r a t i o n Wenn wir die allokativen und distributiven Effekte einer Arbeitsmarktintegration analysieren wollen, mussen wir zuerst unsere Modellpramissen prazisieren. Einmal kann man von der Pramisse ausgehen, dass die Migrationsstrome relativ bedeutsam sind und das aufnehmende Land im Verhaltnis dazu nicht sehr grofi ist, so dass sich die Migrationsstrome signifikant im Arbeitsangebot niederschlagen und es zu einer Anpassung der endogenen Groflen, insbesondere des Gleichgewichtslohns, kommt. Diesen Fall, der besonders dann relevant wird, wenn wir die Migrationseffekte fur Deutschland und Osterreich betrachten, die am starksten von der Migration betroffen sein werden, werden wir ausfiihrlich behandeln. Der kontrare Fall, der bei einer EU-weiten Betrachtung relevant wird, geht davon aus, dass die Migrationsstrome so gering sind, dass sie das Arbeitsmarktgleichgewicht nur marginal beeinflussen. Bei diesem Szenario geht man vereinfachend davon aus, dass die Arbeitsnachfrage vollkommen lohnelastisch ist, so dass sich eine Ausweitung des Arbeitsangebots nicht in einem niedrigeren Gleichgewichtslohn niederschlagt. Des Weiteren muss zwischen einer kurz- und langfristigen Betrachtungsweise differenziert werden. Bei einer kurzfristigen Betrachtungsweise macht es wenig Sinn, von vollig flexiblen Lohnen auszugehen, die ihre Marktraumungsfunktion voll erfullen und so Arbeitslosigkeit aufgrund von Zuwanderung ausschliefien. Dariiber hinaus mussen
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2 Theoretische Grundlagen
in der kurzen Frist die bei Migration auftretenden Mengenanpassungsschwierigkeiten und -kosten gesehen werden. Arbeitnehmer sind nicht vollkommen raumlich und qualifikatorisch fiexibel, so dass Migration die friktionelle Arbeitslosigkeit erhohen kann. Andererseits kann eine gezielte Zuwanderung auch in der kurzen Frist zu einer Entspannung auf dem Arbeitsmarkt fiihren, da durch Zuwanderung Arbeitsmarktengpasse beseitigt und so ein Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt abgebaut werden kann. In der langen Frist ist die Funktionsfahigkeit des Arbeitsmarktes eher gegeben. Die Lohne konnen sich anpassen und ein Marktgleichgewicht wieder herstellen. Langfristig kann man auch von einer hinreichenden raumlichen und qualifikatorischen Flexibilitat des Faktors Arbeit ausgehen. Weiter relativieren sich dann die transistorischen Anpassungskosten auf dem Arbeitsmarkt. Anhand des einfachen Arbeitsmarktmodells, das aus einer Arbeitsnachfragekurve und einer Arbeitsangebotskurve besteht, lassen sich die Effekte der Arbeitsmarktintegration darstellen. Dabei ergibt sich die Arbeitsnachfrage aus dem Gewinnmaximierungsverhalten der Arbeitgeber. Unterstellen wir vereinfachend vollstandige Konkurrenz auf dem Giiter- und Arbeitsmarkt und gehen wir von nur einem Inputfaktor Arbeit L aus, so gilt fur den Gewinn TT eines reprasentativen Unternehmens TT = P-Y(L)-W-L
,
(2.22)
wobei Y(L) die Produktionsfunktion, p den Preis und w den Lohn darstellen. Differenzieren wir 7r nach L, so erhalten wir fur das Gewinnoptimum dY p• — - w = 0 . dL
(2.23)
Arbeitskrafte werden solange vom Unternehmen nachgefragt, wie w/p < dY/dL ist, also der Reallohn geringer als die Grenzproduktivitat des Faktors Arbeit ist. Aufgrund dieser Beziehung und der vereinfachenden Annahme p = 1 spiegelt die Arbeitsnachfragekurve eine Beziehung zwischen der jeweiligen Arbeitsnachfrage und der ihr zugeordneten Grenzproduktivitat wieder. Wird z. B. in Abb. 2.14 die Arbeitsnachfrage L* realisiert, so gibt L*
die Flache 0PML* = J (dY/dL)dL die „Summea aller Grenzproduktio vitaten und das Volkseinkommen Y an. Dabei reprasentiert die Flache
2.4 Arbeitsmarktintegration
0
57
L* Abbildung 2.14. Arbeitsnachfrage, Produktion und Verteilung
ON ML* die Lohnsumme w • L*, so dass das Dreieck NPM das Residualeinkommen fur das representative Unternehmen darstellt. Wesentliche Determinante fiir die Hohe der Lohnsumme ist die Elastizitat der Arbeitsnachfrage. Ist die Elastizitat absolut grofier als 1, so fiihrt eine Lohnsenkung zu einer Erhohung der Lohnsumme. Wahrend Keynesianer von einer eher unelastischen Arbeitsnachfrage ausgehen, bei der Lohnsenkungen zu einem Nachfrageausfall fuhren, bewirken der Globalisierungsprozess und der Integrationsprozess in der EU eine Tendenz zu einer recht hohen Elastizitat der Arbeitsnachfrage. Wie in makrookonomischen Ansatzen ublich, gehen wir von einer vollkommen unelastischen Arbeitsangebotsfunktion aus. Dies erleichtert uns zum einen die Aggregation der Arbeitsangebotsfunktion des aufnehmenden Landes mit jener der Zuwanderer und zum anderen konnen wir die allokativen und distributiven Effekte einer Arbeitsmarktintegration isoliert darstellen. In Abb. 2.15 gehen wir davon aus, dass die Migration erheblich ist und durchaus das Arbeitsmarktgleichgewicht signifikant beeinflusst. Wir wahlen eine Langfristperspektive, so dass wir Anpassungsprobleme des Arbeitsmarktes und migrationsinduzierte Arbeitslosigkeit zunachst vernachlassigen. Wir differenzieren zwischen der Arbeitsnach—w frage West, bei der beim fixen Arbeitsangebot L vor einer Integration der marktraumende Lohn wWl realisiert wird. Ohne Integration betragt im Westen das Arbeitseinkommen (Lohnsumme) OwwWlAL Wl und das Residualeinkommen, der Gewinn, w FA.
58
2 Theoretische Grundlagen
Lohn West
Arbeit Ost QW
Arbeit QO West Trennung
Integration
Abbildung 2.15. Neoklassisch.es Arbeitsmarktmodell der Integration Analog stellt sich der Arbeitsmarkt in Ost dar. Bei der Nachfrage Ost, die sich an dem Ausgangspunkt der Nullbeschaftigung 0 ° nach links hin zu mehr Beschaftigung Ost ausrichtet (seitenverkehrte Darstellung), wird bei dem Arbeitsangebot L (Strecke L 0°) der im Vergleich zu West niedrige Lohn wQl realisiert. Dass vP1 < wWl ist, wird auf die reichlichere relative Ausstattung mit dem Faktor Arbeit in Ost im Vergleich zu West zuruckgefuhrt, da die Kapitalintensitat in West hoher als in Ost ist, so dass bei identischen neoklassischen Produktionsfunktionen die Arbeitsproduktivitat in West hoher als in Ost ist. Weiter kann nicht zwingend von identischen Produktionsfunktionen ausgegangen werden. Aufgrund der hoheren Innovationskraft von West sowie besserer Humankapitalausstattung usw. ist die Arbeitsgrenzproduktivitat West hoher als die in Ost. Was passiert nun bei einer Arbeitsmarktintegration? Aufgrund des Lohndifferentials wandern bei voller Arbeitnehmerfreizugigkeit Arbeitskrafte von Ost nach West, bis das Integrationsgleichgewicht L* erreicht worden ist und ein einheitlicher Lohn w* in West und Ost gilt. Das Arbeitsangebot steigt in West u m L L* und sinkt entsprechend in Ost. Dieses zusatzliche Arbeitsangebot in West hat sowohl allokative als auch distributive Effekte zur Folge. Das Lohneinkommen der Inlander sinkt um die Flache w*wWlAB und wird zugunsten der Gewinne umverteilt, was auf das reichlichere Arbeitsangebot zuriickzufuhren ist. Die Inlander verlieren ihre Knappheitsrente. Die zustromenden Arbeits-
2.4 Arbeitsmarktintegration
59
krafte erhohen ihr Einkommen urn die Flache CBDE. Entsprechend partizipieren auch die in Ost verbliebenen Arbeitskrafte von der Integration, da in Ost der Faktor Arbeit knapper geworden ist. In Ost vollzieht sich eine Umverteilung der Gewinne hin zu den Arbeitseinkommen in Hohe von EDw*wQl. Da sich die distributiven Effekte immer kompensieren, ist der Wohlfahrtseffekt der reinen Umverteilung sowohl in West als auch in Ost gleich Null. Allokative Effekte, die mit einer Wohlfahrtssteigerung verbunden sind, entstehen aber durch die effizientere Nutzung des Faktors Arbeit aufgrund der Migration. Die Wertschopfung der Migration steigt von —o —o der Flache L CDL* auf die Flache L ADL*, so dass die Wohlfahrt in dem integrierten Europa u m das Dreieck CAD steigt, dem allokativen Effekt der Integration. Wie verteilt sich nun dieser Wohlfahrtseffekt auf West und Ost? In West eignen sich allein die Unternehmer einen Teil in Hohe des Dreiecks BAD an, die Arbeitnehmer West gehen dabei leer aus. In Ost ist die Verteilungssituation ein wenig komplizierter. Durch ihre Einkommenssteigerung in Hohe der Flache CBDE eignen sich die Migranten den anderen Teil der Wohlfahrtssteigerung in Hohe von CBD an. Grofie Verlierer sind aber die Unternehmen Ost, die nicht nur mit einer Umverteilung Ost in Hohe von EDw*wQl belastet werden, sondern deren Gewinne durch den Riickgang der Produktion u m die Flache L CDL* die Einkommenssteigerung der Migranten mit der Gewinneinbufie in Hohe des Dreiecks CDE tragen mlissen. Per saldo verliert Ost durch die Marktintegration das Dreieck CDE. Dieses fur Ost unglinstige Ergebnis muss aber in zweierlei Hinsicht relativiert werden. Existieren nur Pendler zwischen Ost und West, so tritt vielmehr in Ost ein positiver Wohlfahrtseffekt in Hohe des Dreiecks CBD auf. Selbst wenn L L* nur Migranten darstellt, die den Arbeitsmarkt Ost verlassen, so bleiben diese ihrem Heimatland doch verbunden. Sie werden z. B. Transfers in das Heimatland vornehmen und so den Wohlfahrtsverlust CDE erheblich kompensieren, wenn nicht sogar uberkompensieren. Insbesondere ist zu erwarten, dass insgesamt auch in Ost ein positiver Wohlfahrtseffekt entsteht, wenn die Migranten nach einigen Jahren in ihre urspriingliche Heimat zuruckkehren und ihre Einkommenssteigerung CBDE zuriick transferieren. Auch wenn per Saldo langfristig sowohl West als auch Ost eine Wohlfahrtserhohung durch die Arbeitsmarktintegration erzielen, so stellt sich doch fur die Wirtschaftspolitik, insbesondere in West, eine verteilungspolitische Herausforderung. Die Einkommenssituation der Arbeitnehmer ist im Durchschnitt in West und Ost wesentlich schlechter, als die von Gewinnbeziehern. Die Arbeitnehmer West sind aber die
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2 Theoretische Grundlagen
Verlierer der Integration in unserem Modell, so dass sich in West die Einkommensverteilung verschlechtert. Hier ist durchaus Handlungsbedarf fur eine sozial- und wirtschaftspolitischen Flankierung der Arbeitsmarktintegration gegeben. Hierzu gibt es a u d i ausreichende finanzielle Reserven in Hohe des Gewinnzuwachses w*wWlAD. Durch eine geschickte Politik kann m a n im Sinne des Kaldor-Kriteriums erreichen, dass fiir Arbeitnehmer und Unternehmen eine win-win-Situation entsteht, indem m a n den Einkommensausfall w*wWlAB der Arbeitnehmer finanziell ausgleicht und sie am Wohlfahrtsgewinn BAD partizipieren lasst. Natiirlich ist in einem marktwirtschaftlichen System die Umsetzung extrem schwierig, aber unsere Modelliiberlegungen haben eindeutig nachgewiesen, dass sie moglich ist. Mit diesen Uberlegungen wird auch offensichtlich, dass man mit den Ubergangsregeln Politikversagen demonstriert. Eine Abschottung des Arbeitsmarktes bedeutet Verzicht auf Wohlfahrtssteigerungen und das Eingestandnis, dass die Wirtschaftspolitik nicht in der Lage ist, die damit verbundenen Verteilungskonflikte marktkonform zu losen. Inwieweit es tatsachlich zu Lohnsenkungen bei einer Arbeitsmarktintegration kommt, hangt nicht nur von der Anzahl der zusatzlich Beschaftigten, sondern auch von der Elastizitat der Arbeitsnachfrage ab. Je grofier die Elastizitat der Arbeitsnachfrage ist, u m so geringer ist der Druck auf die Lohne. Dabei muss man aber sehen, dass dieser abschwachende EfFekt teuer erkauft wird, denn je elastischer die Arbeitsnachfrage ist, umso geringer fallt der positive Wohlfahrtseffekt BAD, wie in Abb. 2.15 gezeigt, aus. Die bis jetzt angestellte komparativ-statistische Analyse ist aber zu relativieren. So haben wir die Migrationseffekte isoliert fiir den Arbeitsmarkt analysiert. Man muss aber berucksichtigen, dass sich die Veranderungen des Arbeitsmarktes auch auf andere Bereiche der betrachteten Volkswirtschaft auswirken. Dadurch, dass m a n zusatzlich Arbeitskrafte zu einem niedrigeren Lohn einstellen kann, steigt die internationale Wettbewerbsfahigkeit. Kapazitaten werden besser ausgelastet und bei einer Elastizitat der Arbeitsnachfrage absolut grofier 1 steigt sogar die Lohnsumme im Aufnahmeland und damit die Kaufkraft. Dies wird durch die Transfers der Migranten an ihre alte Heimat abgeschwacht, wobei aber gesehen werden muss, dass liber eine gestiegene Exportnachfrage dieser Absorpsionseffekt wieder abgeschwacht wird. Insgesamt wirkt die effiziente Nutzung des Faktors Arbeit und die damit verbundene Wohlfahrtssteigerung - gemessen durch das Dreieck CAD - in der EU nachfragebelebend, so dass die Investitionstatigkeit
2.4 Arbeitsmarktintegration
61
angeregt wird und insgesamt von der Integration Wachstumsimpulse ausgehen. Diese Wachstumsimpulse, die in Abb. 2.16 in Form einer erhohten Gliternachfrage, welche eine Verschiebung der Arbeitsnachfrage nach aufien bewirkt, dargestellt sind, konnen so stark sein, dass der Lohndruck der Integration im Idealfall iiberkompensiert wird und der urspriingliche Lohn wwl nicht auf w* sinkt, sondern auf w** steigt. Lohn West
Lohn Ost
S S w w*
Arbeit Ost QW
Arbeit ^ 0° West Voile Integration Abbildung 2.16. Agglomerationseffekt des integrierten Arbeitsmarktes
Dabei muss man aber sehen, dass sich dieser Wachstumsimpuls nicht in alien Regionen in gleichem Umfang niederschlagen wird. Vielmehr ist zu erwarten, dass er sich auf die durch eine besondere Dynamik ausgezeichneten Agglomerationsraume konzentrieren wird und die peripheren R a u m e diese Vorteile eher nicht nutzen konnen, da sie nicht in der Lage sein werden, gerade die qualifizierten Arbeitskrafte aus der EU8 zu bekommen. Von daher hilft den peripheren Raumen die Beschrankung der Arbeitnehmerfreiziigigkeit nicht, da sie vom Arbeitskraftezustrom kaum tangiert werden. Die Konzentration des Zustroms von Arbeitskraften aus der EU8 fuhrt zu einer breiteren Palette von qualifizierten Arbeitskraften in den Zentren. Netzwerke werden engmaschiger und das Innovationspotenzial wird gestarkt. Aus dieser Sicht werden die Ausfiihrungen der Europaischen Kommission in ihrem „Bericht iiber die Anwendung der im Beitrittsvertrag 2003 festgelegten Ubergangsregelungen" aus dem Friihjahr 2006 plausibel, dass gerade die Mitgliedstaaten von der EU-
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2 Theoretische Grundlagen
Osterweiterung sowohl beziiglich ihres wirtschaftlichen Wachstums als auch in Bezug auf ihre Beschaftigungssituation gewonnen haben, die ihren Arbeitsmarkt geoffnet haben. Diesen Vorteil werden die anderen Mitgliedstaaten durch eine verspatete Offnung nicht wieder vollstandig ausgleichen konnen. Die bis jetzt angestellten Uberlegungen haben schon ansatzweise deutlich gemacht, dass fur das aufnehmende Land die Qualifikation der Migranten von immenser Bedeutung ist. Dieser Aspekt soil in einer einfachen Modellvariante starker herausgearbeitet werden, bei der die Inhomogenitat des Arbeitsmarktes und Spill-over-Effekte zwischen den Arbeitsmarktsegmenten betont werden. In unserem einfachen Modell gehen wir von folgenden Annahmen aus: 1. Der aufnehmende Arbeitsmarkt teilt sich in zwei Teilarbeitsmarkte: den fur Qualifizierte und den fur Geringqualifizierte. Naturlich haben wir in der Realitat ein Kontinuum von Qualifikationen, jedoch konnen wir mit unserer vereinfachenden Annahme sehr stringent unsere wirtschaftspolitischen Implikationen ableiten. 2. Es besteht produktionstechnisch eine gewisse Komplementaritat zwischen Qualifizierten und Geringqualifizierten. Diese Komplementaritat bewirkt sogenannte Spill-over-Effekte zwischen den beiden Teilarbeitsmarkten. Geht die Beschaftigung in einem Teilmarkt aufgrund exogener Einfltisse zuriick, so wirkt sich dies automatisch auf den anderen Teilmarkt dahingehend aus, dass die Arbeitsnachfrage dort auch zuruckgeht. Sind z. B. in einem Betrieb nicht mehr genug Meister vorhanden, so muss man Geringqualifizierte entlassen, da diese nicht mehr adaquat im Betrieb eingesetzt werden konnen. 3. Des Weiteren gehen wir davon aus, dass der Teilarbeitsmarkt fur Qualifizierte vollig flexibel ist, dass insbesondere der Lohn seine Marktraumungsfunktion voll erfiillt und deshalb Arbeitslosigkeit auf diesem Teilmarkt ausgeschlossen ist. Hingegen unterstellen wir fur den Teilmarkt fur Geringqualifizierte, dass die Lohne relativ inflexibel sind, so dass auf diesem Teilmarkt Arbeitslosigkeit nicht ausgeschlossen werden kann. Dass gerade auf diesem Teilmarkt die Lohne inflexibel sind, kann man u. a. mit dem hoheren gewerkschaftlichen Einfluss in diesem Segment, mit Mindestlohnen sowie dem Arbeitslosengeld II begriinden. 4. In unserem Modell wollen wir zwei Alternativen diskutieren. Es migrieren A nur Geringqualifizierte bzw. B Qualifizierte.
2.4 Arbeitsmarktintegration
63
Beginnen wir mit dem Fall A: In Abb. 2.17 werden die zu analysierenden Interdependenzen deutlich. Betrachten wir dazu den Teilarbeitsmarkt fur Geringqualifizierte: In der Ausgangssituation ist das Arbeitsangebot LQ an Geringqualifizierten vorhanden und der Lohnsatz liegt bei wo. Die Beschaftigung liegt bei Lo, so dass Arbeitslosigkeit in Hohe von LQ — Lo existiert. Durch die Arbeitnehmerfreizligigkeit erhoht sich mit der Zuwanderung Geringqualifizierter das Arbeitsangebot von LQ auf L\. Das erhohte Uberangebot an Geringqualifizierten iibt Druck auf den Lohn aus, so dass der Lohn von WQ auf w\ sinkt und die Beschaftigung von LQ auf L\ steigt. Trotz des positiven Beschaftigungseffektes einer Lohnsenkung erhoht sich die Arbeitslosigkeit von LQ — Lo auf L\—L\. Diese zusatzliche Arbeitslosigkeit ist in diesem neoklassischen Modellansatz aber ursachlich nicht auf die Migration, sondern auf die Inflexibilitat des Lohnes zuruckzufiihren und von daher „hausgemacht". Lohn
Lohn
Nachfrage
Zuwanderung
Nachfrage
wo
£o (a) Qualifiziert
Arbeit
LQ L\ LO L\ Arbeit (b) Gering qualifiziert
Quelle: Zimmermann (1997), S. 310 Abbildung 2.17. Zuwanderung gering qualifizierter Arbeit Der positive Beschaftigungseffekt bewirkt einen Spill-over-Effekt auf dem Teilarbeitsmarkt fur Qualifizierte. In der Ausgangssituation herrschte dort annahmegemafi Vollbeschaftigung. Das Arbeitsangebot ^o wurde voll ausgeschopft. Aufgrund der starkeren Beschaftigung von Geringqualifizierten verschiebt sich komplementar die Nachfragekurve fur Qualifizierte nach aufien. Das Arbeitsangebot ist jedoch schon ausgeschopft, so dass die Nachfragesteigerung nur zu einer Lohnsteigerung von VQ auf v\ fuhrt. Da die Arbeitsnachfrage fur den Teilarbeitsmarkt der Geringqualifizierten unter der Pramisse eines Beschaftigungsnive-
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2 Theoretische Grundlagen
aus So aufgestellt worden ist, treten bei konstantem So keine Riickwirkungen auf den Teilarbeitsmarkt flir Geringqualifizierte ein. Ziehen wir ein wirtschaftspolitisches Fazit, so stellen wir einige negative Effekte bei einer Zuwanderung Geringqualifizierter fest. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu und die Einkommensunterschiede zwischen Qualifizierten und Geringqualifizierten verstarken sich. Politisch geraten dabei besonders die Gewerkschaften in eine Vertrauenskrise gegenuber ihren Mitgliedern. Sie akzeptieren Lohnsenkungen und werden dabei mit hoherer Arbeitslosigkeit konfrontiert. Den Mitgliedern plausibel zu machen, dass ohne Lohnkonzessionen alles noch sehlimmer geworden ware und d a n n die Arbeitslosigkeit bei L\ — LQ gelegen hatte, wird ihnen schwerfalien. Hingegen sind die grofien Gewinner der Zuwanderung die Qualifizierten. Sie erhalten eine zusatzliche Knappheitsrente v\ — v$. Hinzu kommt, dass sie als die entscheidenden Nachfrager im haushaltsnahen Bereich zusatzlich gewinnen und so ihr Realeinkommen entsprechend erhohen konnen, indem sie dort auf billigere Arbeitskrafte zuriickgreifen konnen. Da aber trotz gleichen Stimmrechts Qualifizierte einen hoheren politischen Einfluss als Geringqualifizierte haben, ist im politischen Prozess davon auszugehen, dass trotz geringerer Stimmenzahl die Qualifizierten sich mit ihren Interessen durchsetzen werden. Nun ist es vollig unrealistisch anzunehmen, dass man Migrationsprozesse so steuern konnte, dass nur Geringqualifizierte aufgenommen werden. Noch unrealistischer ist der im Anschluss zu behandelnde Fall, dass nur Qualifizierte in gewiinschter Zahl und Qualification aufgenommen werden. Dennoch ist unser Fallbeispiel unter regionalpolitischen Aspekten hochst realistisch. Vieles spricht dafur, dass Migranten sich sortieren und dass die qualifizierten Migranten eine Beschaftigung in den Agglomerationszentren finden, wo Qualifizierte besonders knapp sind und - was entscheidender ist - hohe Lohne gezahlt werden. Hingegen werden die Geringqualifizierten gezwungen sein, in die unattraktive Peripherie abzuwandern, weil sie in den Agglomerationszentren keine Beschaftigung finden, die Mieten dort zu hoch sind usw. Wenn dieser Sortierungsprozess Realitat wird, so tritt das im Fall A aufgezeigte negative Szenario nicht in einer ganzen Volkswirtschaft auf, sondern nur in Teilregionen. Damit kann Zuwanderung die Kohasion des Aufnahmelandes erheblich gefahrden. Um diesen Aspekt zu vertiefen, wenden wir uns nun dem anderen Extremfall zu, dass nur Qualifizierte migrieren. Fall B: Wenn nur Qualifizierte migrieren, so wirkt sich dies erst einmal nur auf den Teilarbeitsmarkt der Qualifizierten aus, indem sich (siehe Abb. 2.18) das Arbeitsangebot von So auf S\ erhoht. Damit
2.4 Arbeitsmarktintegration
65
der Markt geraumt wird, sinkt der Gleichgewichtslohn von vo auf v±. Die zusatzliehe Beschaftigung von Qualifizierten bewirkt aufgrund der Komplementaritat einen Spill-over-Effekt auf den Teilarbeitsmarkt fiir Geringqualifizierte in der Weise, dass sich die Arbeitsnachfrage dort nach aufien verschiebt und ein Beschaftigungsimpuls eintritt. Die Beschaftigung erhoht sich von LQ auf L\ und die Arbeitslosigkeit geht von L — LQ auf L — L\ zuriick.
So
S1 Arbeit
(c) Qualifiziert
LQ L\ L2L Arbeit (d) Gering qualifiziert
Quelle: Zimmermann (1997), S.310 Abbildung 2.18. Zuwanderung qualifizierter Arbeit Dieser positive Beschaftigungseffekt wird noch verstarkt, wenn die Lohnsenkung bei den Qualifizierten eine Lohnsenkung bei den Geringqualifizierten bewirkt. Aufgrund der verbesserten Beschaftigungssituation bei den Geringqualifizierten ist dies aber nicht unbedingt zu erwarten. Dennoch werden die Gewerkschaften ein Interesse an Lohnkonzessionen haben, um die Lohnhierarchie zwischen Qualifizierten und Geringqualifizierten aufrecht zu erhalten. Wtirden im Extremfall die Lohne der Qualifizierten unter die der Geringqualifizierten fallen, so wtirden die Qualifizierten ihren Teilarbeitsmarkt verlassen und die Geringqualifizierten in die Arbeitslosigkeit verdrangen. Deshalb kommt es zu einer Anpassung des Lohns der Geringqualifizierten von wo nach w\, so dass sich ein lohnbedingter zusatzlicher Beschaftigungseffekt in Hohe von L2 — L\ ergibt. Dieser zusatzliehe Beschaftigungseffekt bewirkt wiederum einen weiteren Spill-over-Effekt auf den Teilmarkt der Qualifizierten. Es werden zusatzliehe Qualifizierte benotigt, so dass sich die Arbeitsnachfrage fiir Qualifizierte nach aufien verschiebt und der Lohn
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2 Theoretische Grundlagen
von v\ auf V2 ansteigt. In diesem Fall der alleinigen Zuwanderung von Qualifizierten haben wir eine durchaus vorteilhafte Situation im Aufnahmeland. Die Beschaftigung der Geringqualifizierten nimmt zu und der Einkommensabstand zwischen Qualifizierten und Geringqualifizierten wird abgebaut. Der einzige Wermutstropfen ist das Absinken der Lohne, das aber die Qualifizierten in zweierlei Hinsicht starker trifft. Zum einen sind ihre Lohneinbufien absolut und relativ grofier als die der Geringqualifizierten. Zum anderen werden ihre Lohneinbufien nicht wie bei den Geringqualifizierten durch bessere Beschaftigungschancen kompensiert. Bisher haben wir uns in unserer Analyse nur auf die allokativen und distributiven Effekte beschrankt. Die Bewertung der Migration wird wesentlich komplexer und schwieriger, wenn wir auch die fiskalischen Effekte der Migration mit beriicksichtigen. Kommt es zur Wanderung und wandern insbesondere die Leistungstrager ab, so kann dies erhebliche Auswirkungen auf das Steueraufkommen des Herkunftlandes haben und dieses in finanzielle Schwierigkeiten bringen. Des Weiteren erhoht die Migration automatisch die Pro-Kopf-Verschuldung des Herkunftlandes und kann von daher einen Verstarkereffekt bewirken, so dass Migrationsindifferente nun auch veranlasst werden, sich durch Migration der gestiegenen Steuerlast zu entziehen. Migration kann insbesondere soziale Sicherungssysteme destabilisieren und einen ruinosen Wettbewerb im Sinne einer Abwartsspirale Sozialer Sicherung induzieren, wenn in erster Linie die Jungen abwandern, die im Wesentlichen die Soziale Sicherung finanziell tragen. Auf diesen Aspekt werden wir ausfuhrlicher im Abschn. 11.3 eingehen. Auch wenn Migration - wie oben aufgezeigt wurde - effizienzsteigernd im Sinne einer Paretoverbesserung bei den betroffenen Mitgliedstaaten ist, so ist damit nicht gesagt, dass der Umfang der Migration zu einem Paretooptimum fiihrt. Als Grande fur ein suboptimales Niveau der Migration kann man u. a. Folgendes anflihren: Einmal konnen Informationsdefizite zu einer zu niedrigen Wanderungsrate fiihren. Da m a n seine Chancen im Ausland nicht kennt, zieht m a n eine Migration nicht in Betracht. Weiter ist Migration mit Migrationskosten verbunden und eine Revision einer Migrationsentscheidung entsprechend kostspielig. Von daher wartet man lieber ab und halt sich die Option offen, wenn alles noch schlechter in der Heimat wird, diese dann zu verlassen. Dariiber hinaus wird das Argument der Praferenzverzerrung angeflihrt. Wird in einer Familie die Frage der Migration diskutiert, dann entscheiden dariiber letztendlich die Eltern. Diese haben aber aufgrund geringerer Flexibil i t y und hoheren Alters, das eine Armortisation der Migrationskosten
2.4 Arbeitsmarktintegration
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erschwert, eine starkere Praferenz zu bleiben als ihre Kinder. Hinzu kommt eine suboptimale Migration aufgrund von Auslanderfeindlichkeit im Aufnahmeland. 2.4.2 InefRziente M i g r a t i o n Bisher haben wir nur Konstellationen analysiert, die zu Paretoverbesserungen flihren. Es ist aber durchaus moglich, dass Migration zu einer Paretoverschlechterung fiihrt. Solche Situationen sind im Allgemeinen zu erwarten, wenn die Migration durch Fehlanreize ein Volumen erreicht, das liber das Optimum hinausgeht. Mit solchen Fallen wollen wir uns nun auseinander setzen. Nicht zu vernachlassigen sind die Externalitaten, die im abgebenden Land mit der Migration verbunden sind und die eine effiziente Wanderung verhindern. Diese treten auf unterschiedlichen Ebenen auf. Dies gilt z. B. fur den politischen Bereich. Nach Hirschman (1974) konnen wir zwischen den Kontrollmechanismen „Widerspruch" und „Abwanderung" differenzieren. Der Markt setzt in erster Linie auf den Kontrollmechanismus Abwanderung. Kommt es zu einem Leistungsabfall bei einem Unternehmen, so wird das Unternehmen dadurch abgestraft, dass Kunden zur Konkurrenz abwandern. Im politischen Bereich dominiert hingegen der Kontrollmechanismus des Widerspruchs im Sinne der Abwahl unfahiger Regierungen. Wandern aber unzufriedene Leistungstrager in einen anderen Mitgliedstaat der EU ab, so wird dadurch der politische Widerstand im Herkunftsland geschwacht und die Regierung aufgrund fehlender Opposition gestarkt. Dieses Phanomen konnten wir z. B. in der D D R feststellen, in dem zur Stabilisierung des Systems missliebige Oppositionelle in den Westen abgeschoben wurden. Da aber in der EU politische Beweggriinde fur Migrationsentscheidungen relativ irrelevant sind, kann diese Relativierung unserer obigen Aussagen vernachlassigt werden. Von zentraler Bedeutung in der EU ist aber das Phanomen der wohlfahrtsbedingten Wanderung. Damit ist gemeint, dass Arbeitskrafte nur deshalb wandern, um die hoheren Sozialleistungen in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch zu nehmen. Da wir uns mit diesem Phanomen noch im Abschn. 11.3 ausfiihrlich beschaftigen wollen, werden wir hier nur die allokativen Auswirkungen diskutieren. Es sei s die hoheren Sozialleistungen, die man im Aufnahmeland im Vergleich zum Herkunftsland erhalten kann. Wenn man im Aufnahmeland beschaftigt ist, erhalt man nicht nur den Lohn to, sondern verbessert sich um den Betrag s an zusatzlichen Sozialleistungen, so dass sie
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2 Theoretische Grundlagen
liber ihrem Grenzwertprodukt entlohnt werden, was zur ineffizienten Wanderung fiihrt (siehe Abb. 2.19). Lohn West '
Lohn - (Ost
i
ww,
X.
F^-^^^ \ D ^ 7
/>.,* W
s
w uu
Wo
w 2 Arbeit Ost o w
^
^
Trennung
-
G \H \J Integration Verzerrung
Oi
wArbeit 1 Q° West
Abbildung 2.19. Wohlfahrtsbedingte Wanderung Ohne diesen Anreiz s ware die optimale Wanderung - wie oben aufgezeigt - durch den P u n k t D determiniert, bei dem alle Arbeitnehmer den Gleichgewichtslohn w* in West wie Ost erhalten konnen. Wenn es aber zusatzlich den Sozialtransfer s in West gibt, so liegt der Nettolohn in West bei w* + 5, hingegen in Ost nur bei io*, so dass in diesem Ungleichgewicht zusatzliche wohlfahrtsbedingte Wanderung induziert wird, bis ein wohlfahrtsbedingtes Gleichgewicht in F verwirklicht wird. Durch die wohlfahrtsbedingte Wanderung im Bereich H — J wird der Faktor Arbeit in Ost knapper und der Lohn Ost steigt auf w°2 mit w°2 — ww<2 + s . Die Strecke FG spiegelt den durch s entstandenen Keil zwischen der Entlohnung Ost und West wider. Aus der Abb. 2.19 wird deutlich, dass wohlfahrtsbedingte Wanderung ineffizient ist. Da nicht der Integrationspunkt i J , sondern das durch die Sozialleistung verzerrte Beschaftigungsniveau J verwirklicht wird, erhoht sich die Produktion in West u m die Flache HDGJ. Andererseits geht aber die Produktion in Ost um HDFJ zuriick, so dass sich per saldo die EU-Produktion um das Dreieck DFG insgesamt verringert. Die wohlfahrtsbedingte Wanderung ist nicht nur okonomisch ineffizient, sie schafft auch soziale Spannungen im aufnehmenden Mitgliedstaat, da durch sie der Lohn nicht nur auf den effizienten Gleichgewichtslohn w*, sondern durch das zusatzliche Angebot auf dem Arbeits-
2.4 Arbeitsmarktintegration
69
markt auf ww<2 gedrlickt wird. Grofier Gewinner dieser wohlfahrtsbedingten Wanderung sind die Unternehmen, die ihren Gewinn zusatzlich u m die Flache ww<2w*DG erhohen konnen. Ob aber die Unternehmen die grofien Gewinner sind, hangt davon ab, wer die Sozialtransfers fur die Migranten zu tragen hat. Da das Transfersystem im aufnehmenden Mitgliedstaat annahmegemafi starker als im Herkunftsland der Migranten ausgebaut ist und die Grofie s nur die Differenz in den Sozialleistungen zwischen West und Ost darstellen soil, sind die an die Migranten fliefienden Transfers grofier als s multipliziert mit der Zahl der Migranten. Die mit der wohlfahrtsbedingten Migration verbundenen vielschichtigen Verteilungskonflikte werden aber mit Sicherheit nicht die Integrationsbereitschaft der beteiligten Gruppen starken. Bis jetzt sind wir davon ausgegangen, dass die Lohne flexibel sind. Dies gilt durchaus bei einer langfristigen Betrachtungsweise. Wenden wir uns aber der kurzen Frist zu und beriicksichtigen wir, dass Tarifvertrage im Allgemeinen eine Laufzeit von ein bis zwei Jahren haben, so ist es realistisch, in der kurzen Frist von vollig inflexiblen Lohnen auszugehen, so dass kurzfristig bei Migration neue Ineffizienzen u. a. in Form einer erhohten Arbeitslosigkeit mit den entsprechenden fiskalischen Effekten auftreten konnen. Dies wird in Abb. 2.20 deutlich. Lohn . Ost
Lohn West '
\ s ^ Nachfrage West Nachfrage Ost
^^^^^
ww,
w* C rbeit Ost QW
-
w
L*
~W
Arbeit 0° West
Trennung Integration Abbildung 2.20. Migration bei starren Lohnen Wenn der Lohnsatz wWl, der vor der Arbeitnehmerfreiziigigkeit im potenziellen Aufnahmeland Vollbeschaftigung fur die inlandischen ArTW beitnehmer auf dem Niveau L sicherte, vollig inflexibel ist und nicht
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2 Theoretische Grundlagen
auf eine Ausweitung des Arbeitsangebots reagiert, so ist die Absorptionsfahigkeit dieses Arbeitsmarktes gleich Null. Im Extremfall wurden aufgrund des hohen Lohns wWl Lw — L Arbeitskrafte migrieren, bis sich in West und Ost das Lohnniveau wWl durchgesetzt hat. Migranten, die eine Beschaftigung im Aufnahmeland erhalten, wurden nur inlandische Arbeitnehmer verdrangen, das Arbeitsvolumen wiirde sich nicht ausweiten, da die Unternehmen beim Lohnsatz wWl nur L Arbeitskrafte nachfragen werden. In diesem Szenario wiirde durch die Migration im Extremfall Arbeitslosigkeit in Hohe von Lw — L generiert. Gelingt es den Migranten zumindest temporar, eine Beschaftigung im Aufnahmeland zu erlangen, so haben sie nach dem Diskriminierungsverbot der EU (siehe dazu ausfuhrlich Abschn. 12.3) wie Inlander einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Dieser hier skizzierte Extremfall ware fur die europaische Integration ein Horrorszenario und ist z. B. ansatzweise das Referenzsystem der Bundesregierung, mit dem sie im Marz 2006 eine Inanspruchnahme der Ubergangsregeln fur den Zeitraum 2006 - 2009 begriindet hat. Betrachten wir die allokativen, distributiven und fiskalischen Effekte dieses Szenarios: Erstens ware in dieser Situation Migration von Ost nach West vollig ineffizient. Migration wiirde zu keiner Produktionser—w hohung in West fiihren. Das Beschaftigungsniveau wiirde bei L verharren. Selbst die bei flexiblen Lohnen optimale Migration in Hohe von L* — L ware nun ineffizient, da sie nur zu einer Ressourcenverschwendung durch die Nichtnutzung des Faktors Arbeit im Abgabeland fiihrt. W a h r e n d in West die Produktion konstant bleibt, wiirde im Extremfall einer Migration in Hohe von Lw — L die Produktion in Ost u m die W W Flache L CKL sinken. Als distributiver Effekt wiirde durch die Migration ein heftiger Kampf u m die knappen Arbeitsplatze entstehen, der leicht unter der Parole „die Auslander nehmen uns unseren Arbeitsplatz weg" politisch instrumentalisiert werden kann. Als fiskalischer Effekt sind die zusatzlichen Ausgaben fur die Gewahrung von Arbeitslosengeld zu nennen, auf das in diesem Szenario sowohl Inlander als auch Migranten Anspruch haben. Dieses aufgezeigte Horrorszenario stellt einen Extremfall dar, dessen Kernaussagen aber zu relativieren sind. Vielmehr ist dieses Szenario in vielerlei Hinsicht unrealistisch und iiberzogen. Bei inflexiblem Lohn wwi wird es nicht zur Migration in Hohe von Lw — L kommen. Migranten werden sich an dem Erwartungswert z-wWl + (l — z)LE < wWl orientieren, wobei z die Wahrscheinlichkeit, einen Arbeitsplatz zu be-
2.4 Arbeitsmarktintegration
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kommen, und LE die Lohnersatzleistung (z. B. Arbeitslosengeld) im Falle der Arbeitslosigkeit sind. In diesem Kalktil wird die Migration geringer als Lw — L ausfallen. Das Szenario ware nur relevant, wenn alle Mitgliedstaaten in West vollige Lohninflexibilitat aufweisen wiirden. Existieren hingegen einige Mitgliedstaaten mit flexiblen Lohnen und entsprechender Absorptionsfahigkeit, so werden sich die Migrationsstrome auf diese Lander konzentrieren. Des Weiteren mtissen schon erhebliche erwartete Lohndifferentiale und eine hohe Mobilitatsbereitschaft existieren, damit es zur Migration kommt. Die Kommission (2006) hat in dem oben erwahnten Bericht festgestellt, dass die drei Staaten Irland, Grofibritannien und Schweden, die schon 2004 die Arbeitnehmerfreizugigkeit zugelassen haben, eben nicht von Migrationsstromen iiberflutet worden sind. Aufierdem widerspricht die A n n a h m e der vollkommen inflexiblen Lohne - auch in der kurzen Frist - vollig der Realitat. Lohne reagieren immer - wenn auch in unterschiedlicher Intensitat - auf Anderungen in der Beschaftigungssituation. So konnen die Unternehmen die Lohndrift abbauen, freiwillige Zahlungen uber Tarif abbauen und nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer (dazu gehoren fast alle Migrant en, die gerade ihre Heimat verlassen) unter Tarif einstellen, was naturlich zu erheblichen sozialen Spannungen im Betrieb fuhren wurde. Wie immer m a n aber auch das hier skizzierte Szenario relativiert: fur Mitgliedstaaten, die schon heute mit hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert sind, ist die sofortige Einfiihrung der Arbeitnehmerfreizugigkeit keine realistische Option, da sie der eigenen Wahlerschaft nicht zu vermitteln ist. 2.4.3 U b e r g a n g s r e g e l n Obwohl die Arbeitnehmerfreizugigkeit eine der vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes darstellt und damit Kernbestandteil des fur alle Mitgliedstaaten verbindlichen Gemeinschaftsrechts (acquis communautaire) ist, hat m a n sich im Beitrittsvertrag mit der EU10 auf sogenannte Ubergangsregeln geeinigt, durch die die Arbeitnehmerfreizugigkeit in alien Mitgliedstaaten erheblich eingeschrankt werden kann. Diese Ubergangsregeln miissen spatestens nach sieben Jahren in 2011 auslaufen. Fur die Ubergangsregeln gilt die 2-3-2 Jahresformel. Die Mitgliedstaaten, die beim Beitritt der EU10 2004 die Ubergangsregeln in Anspruch genommen haben, mussten bis April 2006 der Kommission mitteilen, ob sie diese weiter anwenden wollen. Grundsatzlich sollten die Ubergangsregeln dann 5 Jahre nach dem Beitritt auslaufen. Nur im
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2 Theoretische Grundlagen
Falle schwerwiegender Storungen auf dem Arbeitsmarkt ist eine Verlangerung urn weitere zwei Jahre moglich. Tabelle 2.3. Freiztigigkeit ~~~"~"—-—_____^ nach EU15 EU8 von ~~~—-—.______ EU15
I
III
EU8
II
IV
Erlauterung: EU8 = EU10 (ohne Malta und Zypern). Fur diese beiden Lander gelten Sonderregeln. Da fur Zypern und Malta im Prinzip keine Ubergangsregeln gelten (Malta kann u. U. eine Schutzklausel in Anspruch nehmen), existieren bei den Ubergangsregeln zwei Gruppen: die EU15 (alte Mitgliedstaaten) und die EU8 (neue Mitgliedstaaten ohne Malta und Zypern). Da bilaterale Regelungen zwischen den Mitgliedstaaten auf Grundlage nationaler Losungen moglich sind, erhalten wir die in dem Schaubild (Tabelle 2.3) dargestellte Matrix von Beziehungen fur die Mobilitat des Faktors Arbeit, die in Tabelle 2.4 skizziert wird. Im Feld / geht es u m die Mobilitat innerhalb der EU15. In diesem Bereich gilt das Gemeinschaftsrecht wie bisher uneingeschrankt, d. h. die Arbeitnehmerfreizugigkeit ist uneingeschrankt gewahrleistet. Heftig umstritten war bei den Beitrittsverhandlungen und ist auch noch heute das Feld II, die Regelung der Arbeitsaufnahme von Arbeitskraften aus der EU8 in der EU15. Hier gelten bezuglich der hier relevanten Grundfreiheiten folgende Regelungen: Mochten Arbeitskrafte aus der EU8 in der EU15 aktiv werden, so konnen sie sich selbstandig machen und unter Berucksichtigung der entsprechenden Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates als Unternehmer aktiv werden. Die Niederlassungsfreiheit wird in keiner Weise eingeschrankt. Die auslandischen Unternehmen dtirfen aber nicht ihre eigenen gebietsfremden Arbeitsnehmer mitbringen, sondern diirfen nur Arbeitskrafte aus der EU15 beschaftigen. Arbeitnehmer aus der EU8 diirfen auch eine Tatigkeit in der EU15 aufnehmen, indem sie sich als Produktionsgenossenschaft zusammenschliefien. Dabei sind sie sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber in ihrem Unternehmen. Des Weiteren gilt die Dienstleistungsfreiheit. Diese ist bis auf den Baubereich und den baunahen Bereich (z. B. Gebaudereinigung) uneingeschrankt zu gewahrleisten. Aufgrund der
2.4 Arbeitsmarktintegration
73
Tabelle 2.4. Preiziigigkeit, Erlauterungen Zul: •
status quo, vollige Preiziigigkeit
•
uneingeschrankte Niederlassungsfreiheit - uneingeschrankte Beschaftigung einheimischer Beschaftigter - Zulassung von Produktivgenossensehaften u. a. (Umgehungsstrategien) Dienstleistungsfreiheit bis auf Bau- und baunahe Bereiche (Schutzklausel) - Entsendung von Arbeitnehmern zu Konditionen des Entsendelandes (Arbeits- und Sozialrecht) - Verbot des Rotationsprinzips Arbeit nehmerfreizugigkeit - Landerspezifische Regelungen bei den EU15 - Grofibritannien, Irland, Schweden —> vollige Freiziigigkeit - Deutschland, Osterreich —* Ubergangsregeln (2 J., 3 J., 2 Jahre Schutzklausel) - Regelungen fur die Ubergangszeit 1. Praferenzregel: Vorrang von EU8-Burgern vor Burgern aus Drittlandern 2. Stillhalteklausel: Einmal gewahrte Rechte auf Zugang zum Arbeitsmarkt werden im Vergleich zum status quo (16. April 2003) nicht verschlechtert (z.B. Werkvertragskontingente / vorher schon Beschaftigte und deren Familienangehorige) 3. Nur Beschrankung des Zugangs, nicht aber Diskriminierung bei Beschaftigung (Arbeitssuche u. a.) Schutzklausel —> auch bei voller Preiziigigkeit Beschrankungen bei schwerwiegenden Problemen auf dem Arbeitsmarkt nur mit Genehmigung durch Kommission (bzw. Ministerrat mit qualiflzierter Mehrheit: Aufhebung der abgelehnten Genehmigung durch Kommission).
ZuII:
•
•
•
Zu III: • •
Reziprozitat: Moglichkeit der gleichwertigen Beschrankung gegeniiber den EU15-Staaten mit Beschrankungen Schutzklausel —> bei schwerwiegenden Problemen auf dem Arbeitsmarkt nur mit Genehmigung durch Kommission (bzw. Ministerrat mit qualiflzierter Mehrheit: Aufhebung der abgelehnten Genehmigung der Kommission) solange ein EU15-Staat Beschrankungen vorsieht. ZuIV:
• •
kein Mitgliedstaat hat Ubergangsregeln gegeniiber den EU8-Staaten beantragt. Schutzklausel anwendbar (siehe III)
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2 Theoretische Grundlagen
Dienstleistungsfreiheit diirfen Unternehmen ihre Arbeitnehmer bis zu 24 Monate in die EU15 als Arbeitnehmer entsenden. Die Anwendung des Rotationsprinzips, u m die Arbeitskrafte permanent in der EU15 zu beschaftigen, ist aber nicht zulassig. Aufgrund der Entsenderichtlinie (siehe ausfiihrlich Kap. 12) gilt fiir entsendete Arbeitnehmer im Prinzip das Arbeits- und Sozialrecht des Entsendelandes, was u. U. zu Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt fiihren kann. Bis auf Grofibritannien, Irland u n d Schweden haben alle Staaten der EU15 die Moglichkeit in Anspruch genommen, die Arbeitnehmerfreizugigkeit durch nationale Regelungen zu beschranken. Fiir die zweite Phase 2006 - 2009 haben Finnland, Griechenland, Portugal und Spanien die Einschrankungen der Arbeitnehmerfreizugigkeit aufgehoben. Frankreich will schrittweise die Einschrankungen auslaufen lassen, wahrend sich die Niederlande erst Ende 2006 entscheiden werden. Die anderen Staaten der EU15 werden ihre Einschrankungen im Wesentlichen beibehalten. Bei den beiden neuen 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumanien nehmen die EU15 die Ubergangsregeln voll in Anspruch, so dass die Ausfiihrungen zu der EU8 auch fiir diese entsprechend giiltig sind. Diejenigen EU15-Mitgliedstaaten, die die Moglichkeit der Einschrankung der Arbeitnehmerfreizugigkeit in Anspruch nehmen, miissen dabei aber grundlegende Vorgaben der EU erfiillen. So gilt u. a. eine Praferenzregel fiir Arbeitnehmer aus der EU8. Arbeitnehmer aus der EU8 sind danach denen aus Drittstaaten vorzuziehen. Mit den Ubergangsregeln will man die Einschrankung der Arbeitnehmerfreizugigkeit auf ein Minimum reduzieren. Um dies zu gewahrleisten, ist von jedem Mitgliedstaat die Stillhalteklausel einzuhalten. Danach darf kein EU15-Mitgliedstaat restriktivere Beschrankungen gegeniiber den EU8Staaten anwenden, als sie zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags am 16.04.2003 giiltig waren. Dies gilt z. B. fiir die Bundesrepublik beziiglich der Ausnahmeregelungen fiir den Anwerbestopp (siehe unten). Insbesondere sollen Arbeitnehmer, die schon in einem der EU15-Staaten eine Arbeitserlaubnis hatten, durch die nationalen Beschrankungen nicht schlechter gestellt werden. Entsprechend gelt en fiir Arbeitnehmer, die an dem 16.04.2003 oder danach ununterbrochen 12 Monate lang in einem EU15-Staat regular beschaftigt waren, die Ubergangsregeln nicht in dem Beschaftigungsland. Dies gilt eingeschrankt auch fiir die Familienangehorigen. Wichtig ist auch, dass, wenn ein Arbeitnehmer aus der EU8 eine Arbeitserlaubnis in einem EU15Mitgliedstaat erhalten hat, als gebietsfremder Arbeitnehmer gegeniiber den inlandischen Arbeitskraften nicht diskriminiert werden darf. Da-
2.4 Arbeitsmarktintegration
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mit soil insbesondere verhindert werden, dass ein Mitgliedstaat formal die Arbeitnehmerfreizligigkeit einfiihrt, durch Beschrankungen im Bereich der Sozialen Sicherung diese aber faktisch unterlauft. So hat auch ein Arbeitnehmer aus der EU8, wenn er erne Arbeitserlaubnis besitzt, wie ein einheimischer Beschaftigter Anspruch auf Arbeitslosengeld usw. Insbesondere gelten fur ihn die Regelungen der Verordnung 1408/71 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherung (siehe Kap. 12). Leistungsansprliche im Bereich der sozialen Grundsicherung, wie das Arbeitslosengeld II, konnen nach der Verordnung 1612/68 aber eingeschrankt werden. Um Anreize zu setzen, schnell auf die Inanspruchnahme der Ubergangsregeln zu verzichten und das damit verbundene Risiko zu verringern, Instabilitaten auf dem eigenen Arbeitsmarkt zu induzieren, sind Schutzklauseln vorgesehen. EU15-Mitgliedstaaten konnen nach der Einfuhrung der Freiziigigkeit im Falle schwerwiegender Probleme auf dem heimischen Arbeitsmarkt Beschrankungen bei der Kommission beantragen. Erteilt die Kommission keine Genehmigung, so kann der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit die Entscheidung der Kommission aufheben. Im Feld 7 7 / geht es u m die Arbeitnehmer der EU15, die in den neuen Mitgliedstaaten arbeiten mochten. Hier gilt das Prinzip der Reziprozitat. Ein neuer Mitgliedstaat darf hochstens im gleichen Umfang Beschrankungen der Arbeitnehmerfreizligigkeit gegenliber einem EU15Mitgliedstaat vornehmen, wie dieser Staat sie gegenliber dem neuen Mitgliedstaat selbst vorgenommen hat. Dieses Recht haben nur Ungarn, Polen und Slowenien in Anspruch genommen. Entsprechend dem Reziprozitatsprinzip gibt es spezifische Regelungen dieser drei Staaten gegenliber der EU15 ohne Grofibritannien, Irland und Schweden. D a die letzteren drei keine Einschrankungen der Freiziigigkeit vorgenommen haben, darf die EU8 gegenliber ihnen ebenfalls keine vornehmen. Auch fiir die EU8 gilt die obige Schutzklausel. Des Weiteren waxen theoretisch Beschrankungen der Mobilitat zwischen den EU8-Staaten zulassig (Feld IV). Von diesem Recht hat aber kein neuer Mitgliedstaat Gebrauch gemacht. Bei naherer Betrachtung zeigt sich, dass es sowohl in der Ausgestaltung als auch im Volumen der Regelungen der Arbeitnehmerfreizligigkeit eine breite Skala von Auspragungen innerhalb der EU15 gibt. Dies gilt insbesondere bezliglich der Sozialen Absicherung von Arbeitnehmern aus der EU8. Nur Schweden hat als einziger Mitgliedstaat liberhaupt keine Einschrankungen vorgenommen. Auch Deutschland hat seinen Arbeitsmarkt nicht vollkommen gegenliber Arbeitnehmern aus den neuen Mitgliedstaaten abgeschottet.
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2 Theoretische Grundlagen
Durch die Inanspruchnahme der Ubergangsregeln gilt a u d i fiir Arbeitnehmer aus der EU8 der seit 1973 geltende Anwerbestopp fiir NichtEU-Auslander (Drittstaaten). Die Anwerbestoppausnahmeverordrmng (ASAV) sieht aber Moglichkeiten fiir die Beschaftigung von Arbeitnehmern aus Drittstaaten und insbesondere der EU8 sowie Bulgarien und Rumanien vor. Unter ihnen sind fiir unsere Fragestellung folgende Ausnahmeregelungen besonders bedeutsam: • • •
Werkvertragsarbeitnehmer, Saisonarbeitnehmer, Grenzganger.
Fiir alle diese Arbeitnehmer gilt, dass sie eine Arbeitserlaubnis durch die Bundesagentur fiir Arbeit benotigen. Eine Arbeitserlaubnis kann auch fiir die Aus- und Weiterbildung erteilt werden. Dabei pruft die Agentur u. a., ob die Stelle nicht mit einheimischen Arbeitskraften besetzt werden kann. Werkvertragsarbeitnehmer sind Auslander, die auf der Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen im Rahmen eines Werkvertrages von ihrem Unternehmen nach Deutschland entsendet werden. Ihnen kann eine Arbeitserlaubnis fiir langstens zwei Jahre (u. U. 3 Jahre) erteilt werden. Dabei konnen zur Regulierung des Arbeitsmarktes Werkvertragskontingente in der zwischenstaatlichen Vereinbarung vereinbart werden. Werkvertragsabkommen sind u. a. mit Bulgarien, Kroation, Lettland, Polen, Rumanien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn abgeschlossen worden, so dass die EU8 bis auf Estland und Litauen diese Regelung in Anspruch nehmen konnen. Im Bereich Land- und Forstwirtschaft, Hotel- und Gaststattengewerbe usw. konnen Saisonarbeitnehmer bis zu drei Monaten im J a h r beschaftigt werden. Dazu sprechen sich die Bundesagentur fiir Arbeit und die Arbeitsverwaltung des Herkunftslandes iiber das Auswahl- und Vermittlungsverfahren ab. Seit 2006 gilt, dass bei Beschaftigung von Saisonarbeitern ein Unternehmen ohne Priifung, ob einheimische Krafte zur Verfiigung stehen, 80% der im Jahr 2005 zugelassenen Arbeitskrafte per se beschaftigen darf. Das Kontingent darf bis zu 90% genutzt werden, wenn die Stellen nachweislich nicht mit heimischen Kraften besetzt werden konnen. Die restlichen 10% sind fiir die Beschaftigung von Arbeitslosengeld-II-Beziehern vorgesehen. Auslander, die an der deutschen Grenze wohnen, konnen fiir ein regulares Beschaftigungsverhaltnis eine Arbeitserlaubnis erhalten, wenn sie taglich in ihrem Heimatstaat zuriickkehren bzw. eine langstens zwei Tage pro Woche begrenzte Beschaftigung aufnehmen. Dabei diirfen sie nur in der engeren Grenzregion zwischen Deutschland, Polen und Tschechien arbeiten.
2.4 Arbeitsmarktintegration
77
Nach Ansicht der Bundesregierung ist das Volumen der durch diese Ausnahmeregelungen beschaftigten Arbeitnehmer erheblich, so dass schon jetzt Deutschland prozentual den hochsten Anteil bei der Beschaftigung von EU8-Arbeitnehmern in der EU hat. Insbesondere ist festzustellen, dass die Kontingente nicht voll ausgeschopft werden. Nach Angaben der Bundesagentur fur Arbeit waren im August 2005 24.536 Werkvertragsarbeitnehmer in Deutschland beschaftigt. Die Zahl der erteilten Arbeitserlaubnisse fiir Saisonarbeiter belief sich auf 333.690 in 2004 (davon 286.623 fiir Polen). Die Zahl der Grenzganger ist hingegen mit ca. 500 zu vernachlassigen. Setzt man diese Zahlen in Vergleich zu den erteilten Arbeitserlaubnissen in Grofibritannien, so stellt m a n fest, dass 2004 nur ca. 130.000 Arbeitserlaubnisse in Grofibritannien erteilt worden sind und man dabei nach Brlicker (2005, S.357) von 50.000 80.000 zum Teil nur voriibergehend Beschaftigten aus der EU8 ausgehen kann, was im Vergleich zu Deutschland nicht sehr viel ist. Mit Recht weist deshalb die Bundesregierung darauf hin, dass bei der hohen Arbeitslosigkeit von liber 4 Mio. Arbeitslosen die sofortige und umfassende Verwirklichung der Arbeitnehmerfreizugigkeit politisch den Deutschen nicht vermittelbar ist. Dennoch sollte m a n die Argumente der Kommission ernst nehmen, die sich mit Verweis auf die Erfolge der Liberalisierung in Irland, Grofibritannien und Schweden vehement fiir eine Ausweitung der Arbeitnehmerfreizugigkeit stark macht. Auch wenn vieles fiir eine Fortsetzung der Ubergangsregeln aus der Sicht der Bundesregierung spricht, da sie der bequemere Weg ist und der Bevolkerung mehr Sicherheit vorgaukelt, so sollte m a n dennoch die Kosten und Ineffizienzen dieser Strategie mitberucksichtigen, die im aktuellen Tagesgeschehen wenig Beachtung finden. Bei den Kosten geht es nicht u m die reinen Kontrollkosten, die der Zoll aufwenden muss, u m die Einhaltung der Ubergangsregeln gegen die Markkrafte durchzusetzen. Da es keine perfekte Kontrolle gibt, fiihren diese zu Ausweichreaktionen und zu einer Ausweitung der Schattenwirtschaft, die aber mit signifikanten gesellschaftlichen Kosten verbunden ist. Dies beginnt mit dem Ausfall von Steuereinnahmen und Sozialabgaben iiber eine ineffiziente - da meist sehr arbeitsintensive Produktionsweise sowie iiber einen meist vollig unzureichenden Arbeitsschutz, der zu erheblichen gesundheitlichen Beeintrachtigungen fiihrt. Hinzu kommt als gesellschaftliches Problem eine verstarkte Ausbeutung und Diskriminierung der Arbeitskrafte bei illegalen Beschaftigungsverhaltnissen, die meist mit erheblichen kriminellen Aktivitaten verbunden sind. Neben diesen direkten und indirekten Kosten der Ubergangsregeln muss m a n zusatzlich die Ineffizienz der Ubergangsregeln selbst sehen, die letzt-
78
2 Theoretische Grundlagen
endlich die Arbeitsplatze nicht so schlitzen konnen, wie sich dies die Verfechter von Ubergangsregeln erhoffen. Neben den illegalen gibt es sehr wirkungsvolle legale Ausweichmoglichkeiten, mit denen man die Ubergangsregeln fast vollig aushebeln kann. Zu denken ist hier an die Chancen, die sich aus der Dienstleistungsfreiheit ergeben. Darf man keine Arbeitskrafte aus der EU8 beschaftigen, so stellt man, wie dies zum Teil illegal - da nur fiktiv - viele Schlachtbetriebe praktiziert haben, einfach Werkvertragsarbeitnehmer aus der EU8 ein. Eine weitere Umgehungsstrategie stellt die Selbstandigkeit bzw. die Scheinselbststandigkeit dar, die noch den Vorteil fur den Auftragsvergebenden besitzt, dass keine Sozialabgaben anfallen und m a n so einen Wettbewerbsvorteil realisieren kann. Allerdings: Das entscheidende Moment fur die Ineffizienz von Ubergangsregeln stellt die Option des internationalen Handels dar, Arbeit dadurch zu exportieren, dass m a n arbeitsintensive Produkte in das durch Ubergangsregeln geschutzte Land exportiert. Ubergangsregeln schlitzen deshalb nur die Arbeitsplatze vor auslandischer Konkurrenz, bei denen Giiter mit hohen Transportkosten, insbesondere lokale Giiter produziert werden und diese in den Ausnahmebereich der Dienstleistungsfreiheit fallen. Das grofie Gefahrenmoment ist aber gar nicht die Konkurrenz von Arbeitskraften aus der EU8, sondern die Gefahr, dass Arbeitsplatze in die EU8 und weiter nach Osten verlagert werden. Vor dieser moglichen Verlagerung schlitzen aber keine Ubergangsregeln. Ganz im Gegenteil. Durch Ubergangsregeln werden Verlagerungen nur noch attraktiver. Wlirde man die Option nutzen, qualifizierte Arbeitskrafte und auch geringer qualifizierte Arbeitskrafte zu niedrigeren Lohnen aus der EU8 zu beschaftigen, so wlirde dies u. U. die Produktivitat erhohen und man konnte so kostenglinstiger produzieren, so dass die internationale Wettbewerbsfahigkeit steigen und sich eine Verlagerung von Betriebsstatten erlibrigen wlirde. Hinzu kommt ein zeitlicher Aspekt. Mit den Ubergangsregeln verschiebt man nur die unvermeidlichen Strukturanpassungen und wiegt die Betroffenen in scheinbarer Sicherheit, so dass diese die kurze Zeitspanne bis zur unvermeidlichen Offnung der Arbeitsmarkte nicht nutzen. Abwarten ist aber im internationalen Wettbewerb fatal. Wartet man ab, so werden sich Netzwerke bei den Arbeitskraften aus der EU8 hin zu den Landern etablieren, die frlihzeitig ihren Arbeitsmarkt geoffnet haben, so dass sich die Migrationsstrome in diese Staaten verfestigen. F u r Nachzligler ist dann der Zug schon abgefahren und ihre Moglichkeit, nach 2011 ihr dann sich verstarkendes Defizit an qualifizierten Arbeitskraften durch Arbeitskrafte aus der EU8 aufzuflillen,
2.4 Arbeitsmarktintegration
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wird sich als vertane Chance offenbaren. Damit soil nicht gesagt werden, dass man von Heute auf Morgen das Ruder vollig umwerfen soil. Vielmehr bietet es sich an, kontinuierlich den Arbeitsmarkt zu offnen, ohne die Bevolkerung dabei zu verunsichern. Dies kann man insbesondere dadurch erreichen, dass man die Erteilung der Arbeitserlaubnis erleichtert.
Liter at ur • • •
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3
Politische Institutionen der Europaischen Union
3.1 Rechtliche Grundlagen Bevor wir uns den Institutionen und Entscheidungsprozessen in der EU zuwenden, ist es sinnvoll, kurz auf die rechtlichen Grundlagen der EU einzugehen. Die EU besteht aus verschiedenen Gemeinschaften, die jeweils eine eigene Rechtspersonlichkeit besitzen: die Europaische Gemeinschaft und die Europaische Atomgemeinschaft, wobei die dritte 1951 gegriindete Gemeinschaft, die Europaische Gemeinschaft fur Kohle und Stahl, 2002 beendet wurde und die fur die EU relevanten Regelungen sukzessive in das Gemeinschaftsrecht integriert wurden. Hinzu kommen gemafi EU-Vertrag zwei Bereiche der Regierungszusammenarbeit: die gemeinsame Aufien- und Sicherheitspolitik sowie die Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik. Die EU selbst besitzt keine eigenen Vertragsbefugnisse nach internationalem Recht, so dass sie nicht eigenstandig volkerrechtliche Vertrage schliefien oder internationalen Ubereinkommen beitreten kann. Dieses Defizit, welches jedoch die EU nicht daran hindert Ubereinkunfte zu schliefien und EU-Interessen international zu vertreten, sollte durch die neue Verfassung beseitigt werden, mit der die EU eine eigene Rechtspersonlichkeit erhalten hatte. Die einflihrenden Bemerkungen verdeutlichen schon die komplexe Architektur der EU. Mit diesem BegrifF wird die Gesamtheit der Organisationen, Institutionen, Vertrage und gewohnheitsrechtlichen Beziehungen in der EU zusammengefasst. Diese Architektur wird von drei Saulen getragen: der Europaischen Gemeinschaft, der gemeinsamen Aufien- und Sicherheitspolitik und der Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik. Wahrend die erste Saule auf den Vertragen der Gemeinschaft ruht, fufien die zweite und dritte Saule auf dem Ver-
82
3 Politische Institutionen der EU
fahren der Regierungszusammenarbeit der Mitgliedstaaten der EU, das im EU-Vertrag geregelt ist. Die Aufgaben der zweiten und dritten Saule werden von der Gemeinschaft nur geregelt. Mit der neuen Verfassung sollten diese drei Saulen bis auf die Bereiche der gemeinsamen Aufienund Sicherheitspolitik sowie der Verteidigungspolitik, die weiter auf Regierungszusammenarbeit aufbauen sollen, vollstandig in einem einheitlichen Gesetzesrahmen integriert werden. Bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung, das sich mit den gescheiterten Volksabstimmungen bzw. -befragungen in Frankreich und den Niederlanden zumindest fur eine geraume Zeit verzogert, bilden folgende Vertrage die rechtliche Grundlage der Gemeinschaft: •
Vertrag zur Griindung der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957, • Vertrag zur Griindung der Europaischen Atomgemeinschaft (Euratom) von 1957, • Vertrag iiber die Europaische Union (EU) von 1992. Dieses vertragliche Grundgerust wurde durch einige weitere Vertrage erganzt und modifiziert. Diese wurden meist dann geschlossen, wenn eine Erweiterung der EU beabsichtigt war. Der Vertrag von Nizza schuf u. a. die institutionellen Voraussetzungen fur eine EU-Osterweiterung in Form eines durchaus umstrittenen und zum Teil stark kritisierten Kompromisses der Mitgliedstaaten.
3.2 Die Organe der Europaischen Union Die wichtigsten Organe der Europaischen Union sind in der Abb. 3.1 dargestellt. Demokratietheoretisch sollte dabei dem Europaischen Parlament die zentrale Stellung zukommen. Die Parlamentarier wurden in den ersten Jahren der EWG als Vorganger der EU von den Mitgliedstaaten delegiert. Erst seit 1979 werden sie von den Biirgern direkt gewahlt, wobei aber die Wahlbeteiligung wesentlich niedriger als bei den nationalen Wahlen ist. Die Parlamentarier werden fur eine Wahlperiode von flinf Jahren gewahlt. Besonders umstritten ist und war die Zahl und Verteilung der Sitze im Par lament, die im Rahmen der EU-Erweiterung standig korrigiert werden mussten. Besonders strittig war dieser Punkt bei den Verhandlungen von Nizza, bei denen man sich iiber die zukiinftige Sitzverteilung fur die Zeit nach der EU-Osterweiterung einigen musste. Die Verhandlungen wurden noch dadurch erschwert, dass man im Jahr 2000 nicht genau wusste, welche Kandidaten tatsachlich spater aufgenommen werden. Deshalb musste
3.2 Die Organe der Europaischen Union
83
Europaischer Rat
Ministerrat 345 Stimmen D F GB I ESP NL B GR P S A DK FIN IRL
29 29 29 29 27 13 12 12 12 10 10 7 7 7
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
99 72 72 72 50 25 22 22 22 18 17 13 13 12
Kommission 27 Mitglieder
6 6 20 6 20 8 12 5 50 13 7 17 33
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
4 4 12 4 12 4 7 3 27 7 4 10 14
L CY CZ EST H LT LV M PL SK SLO BG RO
Parlament 732 Abgeordnete Abbildung 3.1. Die Organe der Europaischen Union man sich auf alternative Beitrittsszenarien einigen. Erst im Beitrittsvertrag von Athen wurde dann 2003 die Verteilung der Sitze fur die Legislaturperiode 2004 - 2009 endgiiltig festgelegt, wie sie in der Abb. 3.1 dargestellt ist. Im Beitrittsvertrag wurden fur jeden Mitgliedstaat die Anzahl der zu wahlenden Vertreter und die Gesamtzahl der 732 Mitglieder des Parlamentes festgelegt. Die Stellung des Europaischen Parlaments bestimmt sich iiber die ihm zugewiesenen Aufgaben und seinen Einfluss bei den entsprechenden Entscheidungen. Im EWG-Vertrag von 1957 wurde dem Europaischen Parlament eine rein beratende Funktion zugewiesen. Meilensteine bei der Emanzipation des Europaischen Parlaments waren die Einheitliche Akte von 1987, der EU-Vertrag von 1992 (Vertrag von Maastricht) und der Vertrag von Amsterdam von 1997. Sie ermoglichten eine schritt-
84
3 Politische Institutionen der EU
weise Ausweitung der Kompetenzen des Parlaments. Heute sind dem Parlament drei wichtige Aufgabengebiete zugewiesen: •
•
•
Gesetzgebende Gewalt: Das Europaische Parlament ist heute in unterschiedlicher Form in den Gesetzgebungsprozess der EU eingebunden. Kontrollrechte: Die Kontrollreehte des Parlaments beziehen sich dabei auf die Auswahl der Europaischen Kommission und der Kontrolle seiner Aktivitaten sowie auf die Kontrolle des Rats der Europaischen Union in Form von Anfragen. Haushaltsbefugnis: Parlament und Rat der Europaischen Union verabschieden gemeinsam den Haushalt, wobei das Parlament aufierdem die Haushaltskontrolle ausiibt.
Im Abschnitt Entscheidungskompetenzen und -prozesse werden in diesem Kapitel detaillierter die Einfiussmoglichkeiten des Europaischen Parlaments bestimmt. Aufgrund der foderalen Struktur der EU kommt dem Rat der Europaischen Union eine zentrale Position zu. Er ist das wichtigste Entscheidungsorgan der EU. Der Rat der Europaischen Union, der zur klaren Abgrenzung meist als Ministerrat oder oft nur als Rat bezeichnet wird, reprasentiert die Mitgliedstaaten der Union. Der Ministerrat besteht aus den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten und stellt neben dem Parlament die Legislative der Union dar. Die Regierungen werden in den Sitzungen des Ministerrates durch ihre jeweiligen Fachminister vertreten, so dass der Ministerrat, je nachdem, welche Aufgaben zu behandeln sind, in unterschiedlichen Zusammensetzungen tagt . Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Ecofin zu. Das ist der Ministerrat in der Zusammensetzung der Wirtschafts- und Finanzminister. Die Minister im Rat, die fur ihre Regierungen verbindlich entscheiden, haben bei den Abstimmungen, je nach Mitgliedstaat, unterschiedliche Stimmengewichte, die sich nur grob an der Bevolkerungszahl des jeweiligen Mitgliedstaates ausrichten. Mit dem Beitritt Bulgariens und Rumaniens gilt die Stimmenverteilung im Ministerrat, wie sie in Abb. 3.1 dargestellt ist. Insgesamt verfugt der Rat iiber 345 Stimmen. Die meisten Abstimmungen im Rat erfolgen mit qualifizierter Mehrheit. In den fur die Mitgliedstaaten besonders sensiblen Bereichen wie die Gemeinsame Aufienund Sicherheits-, Steuer-, Asyl- und Einwanderungspolitik, konnen Beschliisse nur einstimmig gefallt werden. Eine qualifizierte Mehrheit ist erreicht:
3.2 Die Organe der Europaischen Union • • •
85
wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten (in einigen besonderen Fallen sogar 2 / 3 der Mitgliedstaaten) zustimmt und wenn mindestens 255 Ja-Stimmen (73,9%) vorliegen sowie - wenn dies von einem Mitgliedstaat zur Prlifung gefordert wird - die abgegebenen Ja-Stimmen 62% der Gesamtbevolkerung der EU reprasentieren.
Bei qualifizierter Mehrheit miissen bei Antrag auf Prlifung alle drei Kriterien erflillt sein. Die Aufgaben des Ministerrates lassen sich mit den folgenden Aufgabengebieten umschreiben: •
•
•
• • •
•
Gesetzgebung: Zusammen mit dem Parlament verabschiedet der R a t die Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die auf den Vertragen der EU aufbauen. Koordinierung der Wirtschaftspolitik: In der europaischen Gemeinschaft existiert in den einzelnen Politikfeldern ein erheblicher Koordinierungsbedarf. Dies gilt insbesondere fur die Finanzpolitik (Verschuldung) der Mitgliedstaaten. Aber auch im Bereich der Beschaftigungs-, Steuer- und Sozialpolitik ist dieser Bedarf durchaus gegeben. Da fur diese Bereiche eigene Kapitel in diesem Lehrbuch ausgearbeitet worden sind, muss auf diese Aufgabe an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Abschluss internationaler Vereinbarungen: Da die Europaische Union keine eigene Rechtspersonlichkeit besitzt, fallt der Abschluss von volkerrechtlich verbindlichen Vertragen in das Aufgabenfeld des Rates. Kontrollrechte: Auch der Rat besitzt wie das Parlament erhebliche Kontrollrechte, insbesondere gegeniiber der Kommission. Haushaltsbefugnis: Wie oben erwahnt, beschliefit der R a t gemeinsam mit dem Parlament den Haushalt der Gemeinschaft. Gemeinsame Aufien- und Sicherheitspolitik: Besonders stark ist in diesem Bereich die Position des Rates. Da in diesen Bereichen (zweite Saule der Gemeinschaft) die Mitgliedstaaten ihre Souveranitat im Wesentlichen behalten haben, ist hier der Einfluss der Kommission und des Parlaments gering. Justiz und Inneres: Diese Uberlegungen gelten entsprechend auch fur die dritte Saule der Gemeinschaft. Im Bereich der Asylpolitik ist aber eine gewisse Tendenz zur Vergemeinschaftung, d. h. zur Ubertragung von Kompetenzen an die EU durch die Mitgliedstaaten, festzustellen.
Neben dem Rat der Europaischen Union besteht noch der Europaische Rat als eine weitere Institution der Gemeinschaft. Er besteht aus den
86
3 Politische Institutionen der EU
Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Prasidenten der Europaischen Kommission. Der Europaische Rat kommt mindestens zwei Mai pro Jahr zusammen, urn Grundsatzentscheidungen zu treffen. So setzt er die Leitlinien fiir die Europaische Beschaftigungspolitik fest. Er ist realiter das oberste Entscheidungsgremium der Union. Wohl konnen sich das Parlament, aber faktisch nicht der R a t der Europaischen Union iiber die meist auf sogenannten Gipfeltreffen gefallten Beschliisse des Europaischen Rates hinweg setzen. Wahrend der Europaische Rat und der Rat der Europaischen Union Organe der Gemeinschaft darstellen, gilt dies nicht fur den Europarat. Dieser ist kein Organ der Gemeinschaft, sondern wurde 1949 als eine zwischenstaatliche Organisation u. a. zum Schutz der Menschenrechte geschaffen. Dem Europarat gehoren derzeit 46 Staaten, darunter alle Staaten der EU27, sowie 5 Staaten mit Beobachterstatus an. Die Europaische Kommission, ein weiteres Organ der Gemeinschaft, stellt die Exekutive der Europaischen Union dar. Sie setzt sich aus je einem Vertreter der Mitgliedstaaten zusammen. Jeder Vertreter ist in seiner Funktion als Kommissionsmitglied verpflichtet im Interesse der gesamten EU zu handeln und ist von seiner nationalen Regierung weisungsunabhangig. Die Amtszeit eines Komissionsmitglied betragt 5 Jahre. Der Kommission ist eine Verwaltung zugeordnet, die ungefahr 24.000 Mitarbeiter umfasst. Die Verwaltung ist in 36 Abteilungen, die als Generaldirektionen und Dienste (z. B. Juristischer Dienst) bezeichnet werden, gegliedert. Die Kommission wird von einem Prasidenten geleitet. Er ordnet auch den einzelnen Kommissionsmitgliedern (Kommissaren) ihr Aufgabengebiet zu und andert dieses gegebenenfalls. Entsprechend den Vorgaben des Prasidenten gibt es Kommissare fiir Umwelt, Steuern und Zollunion, Wirtschaft und Wahrung, Unternehmen und Industrie usw. Jedem Kommissar ist eine entsprechende Generaldirektion zugeordnet. Des Weiteren wird der President von zwei Vizeprasidenten vertreten. Die Position des Prasidenten wurde dadurch gestarkt, dass er mit Zustimmung der Kommission den Riicktritt eines einzelnen Kommissars durchsetzen und damit gegebenenfalls die Kommission vor einem Misstrauensantrag des P a r laments schiitzen kann. Die Aufgaben der Kommission sind vielfaltig, da sie sowohl ein Impulsgeber fiir die Weiterentwicklung der Union, fiir die Tagespolitik der Union als auch fiir die Einhaltung der Vertrage und der Verordnungen sowie fiir die Umsetzung von Richtlinien verantwortlich ist und als „Hiiterin der Vertrage" gegen Pflichtverletzungen vorgehen kann und muss.
3.2 Die Organe der Europaischen Union
87
Dieses grofie Aufgabenfeld der Kommission kann man in folgende Aufgabengebiete aufteilen: •
•
•
Initiativrecht: Die Kommission hat das alleinige Privileg zur Ausarbeitung von Vorschlagen fiir Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die von ihr in den Gesetzgebungsprozess eingebracht werden. Dabei stellen Verordnungen Rechtsakte dar, die unmittelbares nationales Recht in den Mitgliedstaaten bedingen, wahrend Richtlinien in einem angemessenen Zeitraum von den Mitgliedstaaten in das jeweilige nationale Recht umgesetzt werden miissen. Durchfiihrung der EU-Politik: Die Kommission ist u. a. fiir die Aufstellung des Haushalts der EU und seine Durchfiihrung zustandig. Aufgaben, die an die Gemeinschaft libertragen worden sind, wie die Agrarpolitik und die Kohasionspolitik, werden von ihr durchgefuhrt. Durchsetzung des europaischen Rechts: Als Htiterin der Vertrage iiberwacht die Kommission die Mitgliedstaaten, ob sie die Vertrage und Verordnungen einhalten, und sie priift, ob die Mitgliedstaaten in der vorgegebenen Frist die Richtlinien umsetzen. Bei rechtswidrigem Verhalten eines Mitgliedstaates leitet die Kommission ein „Vertragsverletzungsverfahren" ein, das u. U. zu einer Klage vor dem Europaischen Gerichtshof (EuGH) fuhrt, der durch Strafen rechtswidriges Verhalten unterbinden kann. Die Urteile des E u G H sind dabei fiir die Mitgliedstaaten bindend. Strafen konnen nicht nur von dem E u G H ausgesprochen werden, sondern auch von dem R a t der Europaischen Union. Gemafi des Stabilitats- und Wachstumspaktes (siehe Kap. 7 im einzelnen) kann die Kommission in einem komplizierten Abstimmungsprozess innerhalb des Rates ein Strafverfahren bei einem iibermafiigen Haushaltsdefizit eines Mitgliedstaates initiieren. Dariiber hinaus miissen die Mitgliedstaaten gewisse staatliche Aktivitaten durch die Kommission genehmigen lassen. Dies gilt insbesondere fiir solche staatlichen Mafinahmen, die zu Wettbewerbsverzerrungen in der EU fiihren konnen. Zu denken ist hier insbesondere an die staatliche Beihilfepolitik der Mitgliedstaaten. Die Kommission ist nicht nur Hiiterin der Vertrage gegeniiber den Mitgliedstaaten, sondern auch gegeniiber der Privatwirtschaft. Im Rahmen der Fusionskontrolle kann sie Unternehmenszusammenschliisse unterbinden, wenn sie den europaischen Wettbewerb erheblich beschranken. Des Weiteren kann sie Strafen fiir Unternehmen aussprechen, die z. B. Kartellabsprachen getroffen und sich wettbewerbswidrig verhalten haben. Sie kann ebenfalls gegeniiber
88
•
3 Politische Institutionen der EU Unternehmen Strafen aussprechen, wenn diese Beihilfeauflagen der Kommission nicht eingehalten haben. Vertretung der EU auf internationaler Ebene: Die Kommission vertritt die EU bei Verhandlungen auf internationaler Ebene. Dies gilt zum Beispiel bei den Verhandlungen mit der W T O in der DohaRunde. Dazu erhalt die Kommission von den Mitgliedstaaten ein Mandat, damit die EU mit nur einer Stimme spricht und so ihre Verhandlungsposition starken kann. Schliefllich handelt die Kommission im Auftrag der Gemeinschaft auch volkerrechtliche Vertrage aus.
Als weiteres politisches Organ der EU ist der Europaische Wirtschaftsund Sozialausschuss (EWSA) anzuflihren, der schon 1957 gegrlindet wurde. Dem E W S A kommt eine beratende Funktion zu. In ihm sind die Verbande der Arbeitgeber, Gewerkschaften, Landwirte und anderer Interessenverbande sowie nach dem Vertrag von Nizza auch die Verbraucherverbande der Mitgliedstaaten vertreten. Sie werden vom Rat der Europaischen Union mit qualifizierter Mehrheit ernannt. Zur Zeit umfasst dieses Organ 317 Mitglieder und es erweitert sich durch den Beitritt von Rumanien und Bulgarien auf 344 Mitglieder. Die wesentliche Aufgabe des E W S A liegt darin, dass von ihm eine Stellungnahme zu Beschlussen iiber die Wirtschafts- und Sozialpolitik eingeholt werden muss und dem E W S A das Recht eingeraumt wurde, aus eigenem Ermessen Stellungnahmen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik abzugeben. 1994 wurde der Ausschuss der Regionen (AdR) durch den Maastricht-Vertrag eingerichtet. Auch er ist wie der E W S A ein beratendes Organ, das aus den Vertretern der regionalen und kommunalen Gebietskorperschaften der Mitgliedstaaten besteht. Die Zahl der Mitglieder und ihre Verteilung auf die Mitgliedstaaten entspricht die des EWSA. Seitens der Bundesrepublik sind in ihr die Vertreter der Bundeslander, des Deutschen Stadtetages usw. Mitglieder. Sie werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten vorgeschlagen, sind aber in ihrer Arbeit im A d R politisch unabhangig. Sie werden vom Rat der Europaischen Union ernannt. Der AdR muss bei Beschlussen der Gemeinschaft, die die Kommunen und regionalen Einheiten tangieren, gehort werden. Dies betrifft u. a. die Bereiche Kohasions-, Umwelt-, Bildungs- und Kulturpolitik. Auch dem A d R steht das Recht zu, eigene Stellungnahmen abzugeben. Neben den bisher dargestellten politischen Organen der Gemeinschaft existiert ein judikatives Organ in Form des Europaischen Gerichtshofs (EuGH). Als Hiiter des Rechts der Gemeinschaft nimmt der
3.2 Die Organe der Europaischen Union
89
E u G H eine hervorragende Stellung unter den Organen der Gemeinschaft ein. Jeder Mitgliedstaat ernennt im gegenseitigen Einvernehmen fiir die Periode von sechs Jahren einen Richter. Dem E u G H wurde, urn die vielen Rechtssachen besser bearbeiten zu konnen, 1989 das Gericht erster Instanz vorgelagert. Die Aufgabe des E u G H ist es, eine einheitliche Auslegung und Anwendung der Rechtsvorschriften der EU zu gewahrleisten. Der E u G H ist insbesondere fiir alle Rechtsstreitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten, Organen der EU, Unternehmen und Biirgern der EU zustandig. Dabei muss aber der Rechtsweg eingehalten werden. Burger, die vor dem E u G H klagen wollen, miissen erst den nationalen Instanzenweg durchlaufen. EU-Biirger konnen sowohl die Gemeinschaft als auch einzelne Mitgliedstaaten wegen Verletzung des europaischen Rechts verklagen. Die Kommission ist besonders auf die Unterstiitzung des E u G H angewiesen, da sie keine eigenen Weisungsbefugnisse gegeniiber den Mitgliedstaaten besitzt und nur ihre Rechtsposition iiber den E u G H durchsetzen kann. Weitere Organe sind die Verwaltungseinheiten der Gemeinschaft. Der Europaische Rechnungshof besteht aus je einem Mitglied eines Mitgliedstaates. Die Mitglieder werden auf sechs Jahre vom Rat ernannt. Der Rechnungshof ist fiir die Kontrolle des Haushalts der EU zustandig. Insbesondere hat er die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsfiihrung sicher zu stellen. Der Rechnungshof hat die Pflicht und das Recht, die Finanzen aller Einrichtungen zu priifen, die die Einnahmen oder Ausgaben der EU verwalten bzw. EU-Mittel in Anspruch nehmen. Auf ein weiteres wichtiges Organ der Gemeinschaft, der Europaischen Zentralbank (EZB), muss an dieser Stelle nicht ausfiihrlich eingegangen werden, da diese Einrichtung im 4. Kapitel „Das Europaische System der Zentralbanken" ausfiihrlich behandelt wird. Die EZB, die mit dem Vertrag von Maastricht rechtlich abgesichert ist, wurde 1998 gegriindet und ist fiir die Geldpolitik im Europaischen System der Zentralbanken (ESZB) zustandig. Als letztes - noch nicht erwahntes - Organ der Gemeinschaft ist die Europaische Investitionsbank (EIB) mit Sitz in Luxemburg anzufiihren. Die EIB ist eine Non-Profit-Organisation und finanziert Investitionsprojekte zum Erreichen der Ziele der EU. Die Anteilseigner der EIB sind die Mitgliedstaaten der EU. Die EIB erhalt keine Haushaltsmittel der EU. Sie finanziert die von ihr geforderten Invest it ionsprojekte durch die Anteile ihrer Eigentiimer sowie iiber Anleihen auf dem Kapitalmarkt. Da die EIB eine hohe Kreditwiirdigkeit besitzt (triple A) kann sie Kredite zu sehr giinstigen Konditionen am Kapitalmarkt aufnehmen und diese zu recht giinstigen Konditionen an nicht so kredit-
90
3 Politische Institutionen der EU
wtirdige Investoren weiterreichen. Die Kreditvergabe der EIB umfasst folgende Bereiche: •
• •
Realisierung der Ziele der EU: Verbesserung der Wettbewerbsfahigkeit, besserer Umweltschutz, Ausbau des transeuropaischen Netzes usw., Starkung benachteiligter Regionen, ausreichende Kofinanzierung.
Audi wenn 90% Mittel innerhalb der EU vergeben werden, fliefien z. B. audi Mittel an die Beitrittskandidaten und an die AKP-Staaten.
3.3 Das Finanzsystem der EU Die Finanzstrome innerhalb der EU lassen sich am besten am Haushalt der EU darstellen. Im Haushalt, besser Haushaltsplan, da er eine Vorgabe fur das anstehende Haushaltsjahr darstellt, wird auf der Ausgabenseite zwischen Zahlungs- und Verpflichtungsermachtigungen unterschieden. Die Verpflichtungsermachtigung, die finanzielle Zusagen an Dritte beinhaltet, wird im Haushalt hoher als die Zahlungsermachtigung angesetzt, da oft - dies gilt insbesondere fur die Strukturfonds (siehe Kap. 5) - von der EU zugesagte Mittel iiberhaupt nicht oder mit einer gewissen zeitlichen Verzogerung in Anspruch genommen werden. Da die Verpflichtungsermachtigungen den politischen Spielraum der EU widerspiegeln, hingegen die Zahlungsermachtigungen nur haushaltstechnisch von Relevanz sind, beschrankt sich die Darstellung in erster Linie auf die Verpflichtungsermachtigungen. Der EU-Haushalt muss laut EG-Vertrag ausgeglichen sein, so dass die geplanten Einnahmen den erteilten Zahlungsermachtigungen entsprechen miissen. Seit 1994 ist die Grundstruktur der Einnahmen der EU dahingehend festgelegt, dass diese sich aus Eigenmitteln sowie sonstigen Einnahmen zusammensetzen, wobei die sonstigen Einnahmen nur gerade 2% ausmachen. Zu diesen gehoren die moglichen Uberschiisse aus dem vorausgegangenen Haushaltsjahr, Zinseinnahmen sowie Steuern auf die Einkommen der EU-Bediensteten und Strafen, die in den EU-Haushalt fliefien (z. B. von Unternehmen wegen Kartellabsprachen), sowie sonstige Verwaltungseinnahmen. Der wichtigste Einnahmeposten sind die Eigenmittel. Zu den traditionellen Eigenmitteln, bei denen die EU einen gewissen Entscheidungsund Gestaltungsspielraum besitzt, gehoren die Zolle und die Agrarabgaben. Bei den Zollen, die aufgrund des Gemeinsamen Marktes nicht im Binnenmarkt, sondern nur an den Aufiengrenzen der EU erhoben
3.3 Das Finanzsystem der EU
91
werden, erhalten die Mitgliedstaaten 25% der von ihnen erhobenen Zolle. Hinzu kommt die Zuckerabgabe sowie Einnahmen aus der Agrarabschopfung, wobei die Importeure den Differenzbetrag zwischen dem Importpreis und dem Inlandspreis (Interventionspreis) als Abgabe an die EU zahlen mlissen, wenn der Importpreis unter dem Interventionspreis liegt. Auch wenn der Begriff Eigenmittel etwas anderes suggeriert, kann die EU diese nicht autonom im Sinne selbst steuerbarer Finanzquellen gestalten. Sie werden vielmehr von den Mitgliedstaaten der EU als Beitrage zur Verfugung gestellt. Dabei entscheidet der Rat der Europaischen Union vollig autonom und letztverbindlich iiber den Umfang und die Struktur dieser Eigenmittel. Mit seinem Beschluss vom 29. September 2000, der einstimmig gefasst werden musste, hat der Rat die Einnahmen fur die Haushaltsplanung langfristig vorgegeben. Dies gilt sowohl fur die Mehrwertsteuer-Eigenmittel als auch fur die BNEEigenmittel, wobei BNE das Bruttonationaleinkommen darstellt und ungefahr dem BIP entspricht. Bei den Mehrwertsteuer-Eigenmitteln zahlt jeder Mitgliedstaat einen prozentualen Anteil seiner harmonisierten Mehrwertsteuer-Bemessungsgrundlage in den EU-Haushalt. Der einheitliche Mehrwertsteuersatz liegt zur Zeit bei 0,5%. Die Bruttonationaleinkommen (BNE)-Eigenmittel dienen der Restfinanzierung des Haushalts. Sie sorgen dafur, dass der Haushalt ex ante ausgeglichen ist. Bei den BNE-Eigenmitteln zahlen die Mitgliedstaaten einen gewissen Prozentsatz ihres BNE an die EU. Der Satz wird dabei so gewahlt, dass der Haushalt ausgeglichen wird. Im Haushalt 2006 der EU stellen sich die Einnahmen wie in Tabelle 3.1 dar. Dabei sehen wir, dass die BNE-Eigenmittel mit 72% den wichtigsten Einnahmeposten darstellen. Die traditionellen Eigenmittel machen nur noch 12,7% mit sinkender Tendenz aus, da im Rahmen der W T O Handelsliberalisierung die Zolleinnahmen als auch die Agrarabgaben weiter sinken werden. Im Gegensatz zur Einnahmenseite besteht auf der Ausgabenseite eine erhebliche politische Gestaltungsmoglichkeit, die sich auch in den Haushaltsberatungen widerspiegelt. Die Ausgabenseite des EUHaushaltes wird traditionellerweise in 8 Rubriken gegliedert. Der grofite Ausgabenposten ist dabei immer noch der Bereich Landwirtschaft, fur den 5 1 M r d . E U R von insgesamt 121,9 Mrd. E U R an Verpflichtungsermachtigungen in 2006 eingeplant worden sind (siehe Tabelle 3.2). Dies sind immer noch iiber 40% des Haushalts. Von diesem grofien Ausgabenposten sind 16,7% fur Marktbezogene Mafinahmen vorgesehen, bei denen z. B. iiber Stiitzungskaufe usw. in
92
3 Politische Institutionen der EU Tabelle 3.1. Finanzierung nach Art der Einnahmen Haushaltsplan 2006 Einnahmenart
Agrarzolle und Zuckerabgaben
(in Mio. EUR)
%
Haushaltsplan 2005 (in Mio. EUR)
%
1 319,70
1,2
1 913,20
1,8
Zolle
12 905,40
11,5
12 030,80
11,4
MwSt-Eigenmitel
15 884,32
14,2
15 556,05
14,7
BNE-Eigenmittel („vierte Einnahmenart")
80 562,50
72,0
68 884,10
65,2
1 297,69
1,2
7 299,90
6,9
Verschiedene Einnahmen + Uberschiisse, Salden und Berichtigungen Insgesamt
111 696,61 100,0
105 684,05 100,0
Quelle: Europaische Kommission (2006) die Preisbildung eingegriffen wird. Bei den Direktbeihilfen, die 68,2% ausmachen, werden Subventionen oft flachenbezogen an die Landwirte gezahlt. Die rest lichen 15,2% werden als Strukturfondsmafinahmen fur die Entwicklung des landlichen Raumes verwendet. Nach den Agrarausgaben stellen die Strukturmafinahmen mit 44,6 Mrd. E U R den zweitgrofiten Ausgabenposten im Haushalt dar. Davon fliefien 63,9% in den E F R E - und den Europaischen Sozialfonds sowie 13,5% in den Kohasionsfonds (siehe dazu ausfuhrlich Kap. 5). Der Interne Politikbereich umfasst mit 9,4 Mrd. E U R ein breites Spektrum von Politikfeldern wie: Umwelt, Energie und Verkehr, Bildung, Forschung, Beschaftigung und Gesundheit. Bei den externen Politikbereichen mit einem Volumen von 5,5 Mrd. E U R geht es u. a. u m die gemeinsame Entwicklungshilfe der EU und den Wiederaufbau im Irak sowie Hilfen fur Drittlander im Katastrophenfall. Bei den Verwaltungsausgaben in Hohe von 6,7 Mrd. E U R sind auch die Ausgaben fur alle Organe der EU (Europaisches Parlament, R a t usw.) enthalten. Dabei ist der wichtigste Ausgabenposten der der Personalausgaben. Die Heranfuhrungshilfe in Hohe von 2,5 Mrd. E U R dient der Vorbereitung fur den Beitritt von Bulgarien, Rumanien sowie der Turkei und Kroatien. Mit ihrem Beitritt in 2004 sind die Staaten der EU10 voll an der Aufbringung der Eigenmittel finanziell beteiligt, wahrend bei den Ausgaben der EU zu erwarten ist, dass diese erst mit Verzogerung fliefien. Um zu verhindern, dass
3.3 Das Finanzsystem der EU
93
Tabelle 3.2. Ausgaben im Haushalt der EU 2006 Mittel fur Verpflichtungen
in Mrd. E U R
1. Landwirtschaft Agrarausgaben (ohne Entwicklung des landlichen Raums) Entwicklung des landlichen Raums sowie flankierende Mafinahmen
51,0 43,3
2. Strukturmafinahmen Strukturfonds Kohasionsfonds
44,6 38,5 6,0
7,8
3. Interne Politikbereiche
9,4
4. Externe Politikbereiche
5,5
5. Verwaltung
6,7
6. Reserven
0,2
7. Heranfiihrungshilfe
2,5
8. Ausgleichszahmngen
1,1
Mittel fur Verpflichtungen insgesamt
121,1
Mittel fur Zahlungen
111,9
Obergrenze der Mittel fiir Zahlungen % des BNE Spielraum bei unvorhergesehenen Ausgaben Eigenmittelobergrenze Quelle: Europdische Kommission
1,01 % 0,13 % 1,24 %
(2006)
bei diesem time-lag die neuen Mitgliedstaaten zu Nettozahlern werden, sind Ausgleichszahlungen in Hohe von 1,1 Mrd. E U R vorgesehen. Wiirden die Organe der EU ohne Restriktionen das Ausgabenvolumen der EU bestimmen konnen, so wiirden die Mitgliedstaaten zu reinen Finanzierungserfiillungsgehilfen degradiert: „Die Gemeinschaft entscheidet und die Mitgliedstaaten haben zu zahlen". Um nicht ins Schlepptau der EU zu geraten, sieht der Beschluss des Rates von 2000 eine entscheidende Einschrankung der Zahlungsverpflichtung der Mitgliedstaaten vor. Aufgrund der beschlossenen Eigenmittelobergrenze von 1,24% miissen die Mitgliedstaaten der EU maximal 1,24% des EU-BNE zur Verfiigung stellen. Damit ist auch eine Schranke durch die Eigenmittelobergrenze fiir die Zahlungsermachtigungen geschaffen worden. Da der Haushalt ausgeglichen sein muss, diirfen die Zahlungs-
94
3 Politische Institutionen der EU
ermachtigungen nicht hoher als 1,24% des EU-BNE sein. Diese Restriktion wird - wie wir noch sehen werden - durch weitere Vorgaben zusatzlich eingeschrankt, so dass der %-Anteil der Zahlungsermachtigungen - nicht nur urn einen Spielraum fiir unvorhergesehene Ausgaben zu schaffen - immer unter der 1,24%-Marge liegt. Wenn man sich die Einnahmen und Ausgaben, die jeden Mitgliedstaat betreffen, naher anschaut, so stellt man ganz unterschiedliche Nettopositionen unter den Mitgliedstaaten fest. Mit Abstand grofiter Nettozahler ist - wie aus Tabelle 3.3 ersichtlich - die Bundesrepublik mit 7,1 Mrd. E U R und mit Abstand grofiter Empfanger ist Spanien mit 8,5 Mrd. EUR. Diese Zahlen sagen aber wenig aus. Nimmt m a n als Indikator fur die Nettoleistungen fiir die EU die Pro-Kopf-Nettozahlungen, so relativiert sich die Reihenfolge in der Belastung. P r o Kopf leisten dann Luxemburg, die Niederlande und Schweden mehr als Deutschland. Aber auch die Pro-Kopf-Nettozahlungen sind kein guter Mafistab, da dabei die Leistungsfahigkeit (z. B. gemessen am BNE) nicht berucksichtigt wird. Verwendet m a n diesen Indikator Pro-BNE-Nettozahlungen, so ist z. B. der Beit rag der Niederlande mit 0,44% wesentlich hoher als der Deutschlands mit 0,33%, so dass sich das grofie Klagen in Deutschland, „am meisten fiir die EU zu zahlen", doch erheblich relativiert. Die Zahlen machen aber auch deutlich, dass der fiir Grofibritannien geltende „Vereinigte Konigreich (VK)-Rabatt" ebenfalls kritisch hinterfragt werden muss. Die Griinde fiir diesen R a b a t t : die hohen Agrarausgaben der EU von iiber 70% sowie der geringe Agrarsektor und das niedrige Pro-Kopf-Einkommen in Grofibritannien gehoren heute der Vergangenheit an. Hinzu kommt, dass bei dem zur Zeit giiltigen Ratsbeschluss von 2000 der V K - R a b a t t weiter wachsen wird, selbst wenn das Zugestandnis Grofibritanniens auf dem Gipfel im Dezember 2005 zu einem Verzicht mit dem Gesamtvolumen von ca. 10 Mrd. E U R Realitat wiirde. Wenig nachvollziehbar ist auch die Struktur der Nettoempfanger. Warum miissen z. B. die alten Mitgliedstaaten Griechenland und Portugal wesentlich hohere prozentuale Nettozahlungen als Ungarn, Tschechien, Slowakei, Polen und Slowenien erhalten? Hier besteht noch ein erheblicher Reformbedarf, der im Kap. 5 ausfiihrlich behandelt wird.
3.3 Das Finanzsystem der E U
95
T a b e l l e 3 . 3 . Nettoz-ahler und -empfanger in den EU-Haushalt im J a h r 2004
Land
Saldo in Mio. € € pro Einwohner % des B N E
Luxemburg
-93
-233
-0,41
Niederlande
-2 035
-129
-0,44
Schweden
-1 060
-119
-0,38
peutschland
-7 141
-87
-0,33
-536
-52
-0,19
Frankreich
-3 051
-52
-0,19
Italien
-2 947
-51
-0,22
Grofibritannien
Belgien
-2 865
-48
-0,16
Osterreich
-365
-45
-0,16
Danemark
-225
-42
-0,12
Finnland
-70
-13
-0,05
Ungarn
193
19
0,25
Tschechien
272
27
0,33
Slowakei
169
31
0,51
1 438
37
0,75
Slowenien
110
55
0,43
Lettland
198
86
1,82
Zypern
64
91
0,53
Estland
145
103
1,79
Litauen
369
105
2,13
45
113
1,02
Spanien
8 502
215
1,08
Portugal
3 124
316
2,37
Griechenland
4 163
392
2,52
Irland
1 594
430
1,30
Polen
Malta
Quelle: Europaische Kommission
(2005)
96
3 Politische Institutionen der EU
3.4 Entscheidungsverfahren in der E U 3.4.1 Rechtsetzungsprozess Da in der EU in den meisten Angelegenheiten kein Organ autonom entscheiden kann und innerhalb der Organe mehrere Entscheidungstrager existieren, miissen dazu kollektive Entscheidungsprozesse strukturiert werden. Im Vordergrund steht dabei die Rechtsetzung der Gemeinschaft. Die Entscheidungsprozesse innerhalb der einzelnen Organe (einfache Mehrheit, qualifizierte Mehrheit) sind schon angesprochen worden. Deshalb konzentrieren sich die folgenden Ausfuhrungen auf die Entscheidungsprozesse der Rechtsetzung liber Rechtsakte (Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen sowie Stellungnahmen und Empfehlungen), an denen die Kommission, das Parlament und der Rat der Europaischen Union beteiligt sind. Der EG-Vertrag sieht drei unterschiedliche Entscheidungsverfahren vor: • • •
das Anhorungsverfahren, das Zustimmungsverfahren, das Mitentscheidungsverfahren,
wobei das Mitentscheidungsverfahren das gangigste und am meisten zur Anwendung kommende Verfahren ist. Bei alien Verfahren liegt das Initiativrecht bei der Kommission. Sie bringt einen Vorschlag fur eine Rechtsvorschrift ein, iiber den dann das Parlament und der Rat zu entscheiden haben. Die Kommission kann die Verfahren bis zum ersten Beschluss des Rates wesentlich beeinflussen, indem sie ihren Vorschlag andert bzw. zuriickzieht. Der Rat kann Anderungen der Vorschlage der Kommission nur einstimmig beschliefien. Dies gilt aber nicht fur das Vermittlungsverfahren im Mitentscheidungsverfahren. Beim Anhorungsverfahren sind die Einflussmoglichkeiten des Europaischen Parlaments am geringsten. Die Kommission ubermittelt ihren Vorschlag an das Parlament und den Rat mit Bitte u m Stellungnahme. Es kommt dann zur Anhorung, die je nach Gegenstand obligatorisch oder optional sein kann. In der Anhorung kann dann das Parlament dem Kommissionsvorschlag zustimmen, ihn ablehnen oder Anderungen beantragen. Die Kommission berat das Votum des Parlaments und kann - muss aber nicht - Anderungsvorschlage des Parlaments libernehmen, die sie dann an den Rat zur Beschlussfassung weiterleitet. Der Rat kann zustimmen, ablehnen oder den Vorschlag abandern. Letzteres setzt aber immer Einstimmigkeit voraus. Das Anhorungsverfahren gilt u. a. in folgenden Bereichen: •
Anderung der Vertrage,
3.4 Entscheidungsverfahren in der EU • • • •
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Landwirtschaft, Wettbewerbsregeln, steuerliche Vorschriften, Wirtschaftspolitik.
Als Faustregel kann man sagen, dass in den Bereichen, in denen Einstimmigkeit im Rat vorgesehen ist, das Anhorungsverfahren zum Tragen kommt. Mit dem Zustimmungsverfahren wird die Position des Parlaments gestarkt. Das Parlament hat ein echtes Mitbestimmungsrecht, aber keine Gestaltungsmoglichkeiten. Bei diesem Verfahren kann das Parlament missliebige Rechtsakte durch seine Ablehnung verhindern. Das Parlament kann aber die Entscheidungsfindung nicht in seinem Sinne positiv beeinflussen. Der Entscheidungsprozess ist beim Zustimmungsverfahren analog zum Anhorungsverfahren aufgebaut. Die Optionen des Parlaments sind aber dahingehend eingeschrankt, dass es nur mit absoluter Mehrheit dem Vorsehlag der Kommission zustimmen oder den Vorschlag ablehnen kann. Stimmt das Parlament zu, dann bedarf es zur Annahme noch wie beim Anhorungsverfahren der Zustimmung des Rates. Lehnt das Parlament aber ab 5 so ist die Verabschiedung definitiv gescheitert und die Kommission kann einen neuen Vorschlag einbringen. Das Zustimmungsverfahren kommt u. a. in folgenden Bereichen zur Anwendung: • • •
im Bereich des Europaischen Systems der Zentralbanken, bei den Strukturfonds, Beitritt neuer Mitgliedstaaten.
Das dritte Verfahren, das Mit entscheidungsverfahren, hat sich das Europaische Parlament erst mit dem Vertrag von Maastricht in einigen wenigen Bereichen erkampft und dann in den spateren Vertragsreformen sukzessive ausgeweitet. Bei diesem Verfahren hat das Parlament Kompetenzen, wie sie fur parlamentarische Demokratien charakteristisch sind. Beim Mitentscheidungsverfahren ist das Parlament ein gleichwertiger Partner des Rates im Entscheidungsprozess. Zunachst ubermittelt die Kommission (siehe Abb. 3.2) ihren Vorschlag an das Parlament und den Rat. In der ersten Lesung kann dann das Parlament den Vorschlag in Form einer Stellungnahme billigen oder Anderungen beschliefien. Die Stellungnahme wird der Kommission und dem Rat mitgeteilt. Der Rat beschlieflt dann mit qualifizierter Mehrheit in erster Lesung, ob er der Stellungnahme des Parlaments zustimmt. Im Falle der Zustimmung ist der Rechtsakt erlassen und das Verfahren abgeschlossen. Der Rat kann aber mit qualifizierter Mehrheit die Stellung-
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keine Frist
3 (+1) Monate
3 (+1) Monate
Quelle: Rat der Europdischen Union (o. J) Abbildung 3.2. Mitentscheidungsverfahren, zusammenfassendes Schema
nahme des Parlaments ablehnen und einen eigenen Entwurf als „Gemeinsamer Standpunkt" beschliefien und dem Parlament und der Kommission zukommen lassen. Ubernimmt in zweiter Lesung das Parlament den Gemeinsamen Standpunkt des Rates bzw. fasst keinen Beschluss, dann ist damit der Rechtsakt erlassen. Das Parlament kann auch mit absoluter Mehrheit den Gemeinsamen Standpunkt ablehnen, dann ist der Rechtsakt definitiv nicht erlassen. Das Parlament kann auch mit
3.4 Entscheidungsverfahren in der EU
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6 (+2) Wochen 6 (+2) Wochen 6 (+2) Wochen
EP 3. Lesung
Einberufung des Vermittlungsausschusses Vorbereitungsphasi
Rat 3. Lesung Quelle: Rat der Europdischen Union (o. J) Abbildung 3.3. Mitentscheidungsverfahren, zusammenfassendes Schema (Fortsetzung)
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absoluter Mehrheit eine Abanderung des Gemeinsamen Standpunktes beschliefien. In diesem Fall kommt es zur zweiten Lesung des Rates, wobei der Rat das Votum der Kommission zur Abanderung des Parlaments zu berucksichtigen hat. Billigt er mit qualifizierter Mehrheit die Abanderungen des Parlaments, so ist der Rechtsakt erlassen. Entscheidet dabei der R a t liber Anderungen, zu denen die Kommission eine ablehnende Stellungnahme abgegeben hat, so bedarf es dazu der Einstimmigkeit. Lehnt der Rat aber den Beschluss ab, so kommt es zum Vermittlungsverfahren. Der von Parlament und Rat paritatisch besetzte Vermittlungsausschuss beendet entweder, ohne dass ein Rechtsakt erlassen wird, das Verfahren, indem er ein Scheitern des Vermittlungsverfahrens feststellt, oder er legt dem Rat und dem Parlament einen gemeinsamen Entwurf vor. Stimmen dann in dritter Lesung beide Seiten (Parlament mit absoluter, R a t mit qualifizierter Mehrheit) zu, so ist der Rechtsakt erlassen. In alien anderen Fallen ist das Verfahren des Erlasses eines Rechtsaktes gescheitert. Das Mitentscheidungsverfahren hat sich zum dominanten Entscheidungsverfahren in der Gemeinschaft entwickelt. Es gilt im Allgemeinen dann, wenn im Rat mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden muss. Die vielen Anwendungsbereiche des Mitentscheidungsverfahrens, die mehr als 30 Bereiche umfassen, aufzuzeigen, macht wenig Sinn. Fur unsere Ausfuhrungen sind folgende Bereiche der Mitentscheidung von Relevanz: • • • • • •
Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehorigkeit, Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Markts, Beschaftigung, Sozialpolitik, sofern keine Einstimmigkeit erforderlich ist, Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt.
3.4.2 E r n e n n u n g s - u n d M i s s t r a u e n s v e r f a h r e n b e i d e r Europaischen Kommission Der Europaische Rat benennt mit qualifizierter Mehrheit den Kandidaten, den er zum Prasidenten ernennen mochte. Sodann muss das Europaische Parlament dem Vorschlag des Europaischen Rates zustimmen. Im weiteren Verfahren erstellen die Mitgliedstaaten fur den Europaischen Rat eine Liste fur die zu ernennenden Kommissare. Diese Liste muss dann vom Europaischen Rat im Einvernehmen mit dem designierten Prasidenten mit qualifizierter Mehrheit vom Europaischen Rat angenommen werden. Nachdem der President und die iibrigen Mitglieder
3.4 Entscheidungsverfahren in der EU
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benannt worden sind, mlissen sie als Kollegium im Parlament die Zustimmung zu ihrer Ernennung erhalten. Das Parlament kann nur iiber die gesamte Kommissionsbesetzung, nicht aber iiber einzelne Kommissare ein Votum abgeben. Nach der Zustimmung des Parlaments werden der President und die Kommissare vom Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt. Im Ernennungsverfahren ist vorgesehen, dass in der Kommission nur je ein Vertreter jedes Mitgliedstaates Mitglied ist. Wenn es zu einer Erweiterung auf mindestens 27 Mitgliedstaaten kommt, was im Falle des Beitritts Bulgariens und Rumaniens der Fall ist, soil die Zahl der Kommissare geringer als die der Mitgliedstaaten sein, indem das Rotationsprinzip angewandt wird. Die Kommission unterliegt der Kontrolle des Parlaments. Dieses kann der Kommission das Misstrauen aussprechen. Wird mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen dem Misstrauensantrag zugestimmt, so muss die Kommission geschlossen zuriicktreten. Dabei kann das Parlament aber nicht einem einzelnen Mitglied, sondern nur der Kommission in ihrer Gesamtheit das Misstrauen aussprechen. Dariiber hinaus muss die Kommission zum Ende des Haushaltsjahres vom Parlament entlastet werden. 3.4.3 D e r E n t s c h e i d u n g s p r o z e s s iiber die F i n a n z e n d e r E U Bis 1988 wurde in einem Abstimmungsprozess zwischen Kommission, Rat und Parlament der Haushaltsplan der Gemeinschaft jahrlich aufgestellt und verabschiedet. In diesem Prozess traten erhebliche Verteilungskonflikte auf, die oft zu Blockaden fuhrten und die die fristgerechte Verabschiedung des Haushaltsplans gefahrdeten. Insbesondere dominierten in diesem Verfahren kurzfristig ausgerichtete Partikularinteressen, so dass eine Kontinuitat in der Haushaltspolitik der Gemeinschaft nicht gewahrleistet war. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, kamen die Kommission, der Europaische Rat und das Europaische Parlament uberein, eine Finanzielle Vorausschau fur jeweils sieben Jahre zu vereinbaren. Da solch eine Ubereinkunft im EG-Vertrag nicht vorgesehen war, wurde die Finanzielle Vorausschau in Form einer interinstitutionellen Vereinbarung zwischen Kommission, R a t und Parlament verwirklicht. Eine interinstitutionelle Vereinbarung kann nur zustandekommen, wenn alle drei Institutionen gemafi ihrer relevanten internen Entscheidungsverfahren dieser Vereinbarung zustimmen. Da sich in den beiden Jahrzehnten dieses Verfahren bewahrt hat, ist es in den Entwurf der EU-Verfassung aufgenommen worden. In der Finanziellen Vorausschau werden ein finanzieller Rahmen fur die zukunftigen Ausgaben der EU vereinbart
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sowie weitere haushaltsmafiig relevante Aspekte - wie z. B. Verbesserung der Abwicklung des jahrlichen Haushaltsverfahrens - geregelt. Zielsetzung der Finanziellen Vorausschau ist es, die Stabilitat der jahr lichen Haushalte zu sichern und dabei die Prioritaten der Union zu unterstutzen. Insbesondere soil die Planungsicherheit fur alle Beteiligten erhoht werden. Kernbestandteil der Finanziellen Vorausschau ist der Finanzrahmen, iiber den fur die Periode 2007 - 2013 zwischen Kommission, Rat und Parlament in 2005 und 2006 heftig gestritten wurde. Der Finanzrahmen ist mehr als die Finanzplanung nach deutschem Verstandnis. Mit dem Finanzrahmen werden verbindliche Obergrenzen fur die grofien Ausgabenkategorien der zukiinftigen Haushaltsplane vorgegeben. An dieser Finanzplanung muss sich die dann jahrlich stattfindende Haushaltsplanung ausrichten. In einer tabellarischen Ubersicht werden sowohl der Rahmen fur Verpflichtungsermachtigungen in den einzelnen Rubriken des Haushalts fur die jeweiligen Jahre als auch der Gesamtbetrag fur Zahlungsermachtigungen angegeben. Der Gesamtbetrag fur Zahlungen ist dabei niedriger als der Gesamtbetrag bei den Verpflichtungen, da bei den Verpflichtungen eine gewisse Flexibilitat und Ubertragbarkeit existiert. Bei der Finanziellen Vorausschau muss eine wichtige Vorgabe erfiillt werden: die Eigenmittelobergrenze von 1,24% des BNE darf durch den Gesamtbetrag der Zahlungen in keinem J a h r uberschritten werden. Vielmehr muss ein gewisser Spielraum zwischen beiden Grofien bestehen, u m unvorhergesehene Ausgaben tatigen zu konnen. Dabei muss berucksichtigt werden, dass das maximale absolute Ausgabenvolumen fur die einzelnen Rubriken eine Prognose iiber die Entwicklung des realen BNE voraussetzt. Eine Inflationsprognose ist von daher nicht notwendig, da die finanzielle Vorausschau von 2007 - 2013 in Preisen von 2004 ausgewiesen ist. Wie immens schwierig es ist, sich auf eine Finanzielle Vorausschau zu einigen, zeigen die Verhandlungen fur die Finanzielle Vorausschau fur 2007 - 2013. Schon in der ersten Halfte von 2004 h a t t e die Kommission ein Konzept vorgelegt, das sie dann mit weiteren Dokumenten prazisierte. Erst mit der Agenda 2007 konnte sich auf dem Gipfel am 15. und 16. Dezember 2005 der Europaische Rat auf eine Finanzielle Vorausschau einigen. Wahrend aber die Kommission eine Gesamthohe fur Zahlungsermachtigungen fur den Zeitraum von 2007 2013 von 929 Mrd. E U R vorschlug, konnte sich der Rat nur auf eine Gesamthohe von 819 Mrd. E U R bei den Zahlungsermachtigungen bzw. 862 Mrd. E U R bei den Verpflichtungsermachtigungen einigen, was nur 0,99% bzw. 1,045% des BNE ist und weit unter der Eigenmittelobergrenze von 1,24% des BNE liegt. Diese Einigung im Rat wurde d a n n
3.4 Entscheidungsverfahren in der EU
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auch vom Europaischen Parlament zuriickgewiesen. Das Parlament bemangelte u. a. den hohen Anteil der Agrarausgaben sowie das zu geringe Ausgabenvolumen, mit dem die neuen Herausforderungen der EU durch die Osterweiterung nicht gelost werden konnen. Nach zahen Verhandlungen haben sich Anfang 2006 Parlament, Rat und Kommission auf einen Kompromiss geeinigt. Er sieht eine Aufstockung des Gesamtvolumens von 862 auf 864 Mrd. E U R vor, wobei das Parlament Zuwachse in den Bereichen Wettbewerbsfahigkeit fiir Wachstum und Beschaftigung (400Mio.EUR), Transeuropaische Netze (500 Mio. E U R ) , lebenslanges Lernen (800 Mio. EUR), Forschung und Entwicklung (300 Mio. EUR) sowie fiir die Sozialagenda (100 Mio. EUR) durchgesetzt hat. Insgesamt gestaltet sich der Finanzrahmen 2007 - 2013 wie in Tabelle 3.4 dargestellt. Tabelle 3.4. Finanzrahmen 2007-2013 l.a Wettbewerbsfahigkeit fiir Wachstum und Beschaf- 74,2 Mrd. EUR tigung l.b Kohasion bei Wachstum und Beschaftigung
307,9 Mrd. EUR
2. Nachhaltige Bewirtschaftung und natiirliche Res- 371,3 Mrd. EUR sourcen 3. Unionsbiirgerschaft, Freiheit, Sicherheit und Recht
10,7 Mrd. EUR
4. Die EU als globaler Partner
49,5 Mrd. EUR
5. Verwaltung
49,8 Mrd. EUR
6. Ausgleich
0,8 Mrd. EUR Quelle: Europdische Kommission
Im Falle einer Nichteinigung waxen folgende zwei Konstellationen moglich gewesen: Erst ens man einigt sich zumindest, die bisherige interinstitutionelle Vereinbarung zu verlangern und die Finanzielle Vorausschau 2000 - 2006 anzuwenden. Dies h a t t e fiir den Haushaltsplan 2007 zur Folge, dass die Obergrenze fiir Verpflichtungen mit 117,7 Mrd. E U R um 1,2 Mrd. E U R niedriger als in 2006 ausfallt und damit sogar unter dem Vorschlag des Rates liegt. Von daher miissten sich Parlament und Kommission, die eine Ausweitung des Budgets fordern, fiir das Angebot des Rates aussprechen. Fiir das Parlament ist aber die zweite Konstellation relativ giinstig, bei der die bisherige interinstitutionelle Vereinbarung nicht verlangert wird. In dieser Konstellation gilt nur das Haushaltsrecht der EU, wie dies vor 1988 der Fall war. Das Haushalts-
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recht starkt aber die Verhandlungsposition des Parlaments, selbst fiir den moglichen Fall, dass sich aufgrund der Spannungen Parlament und Rat auf keinen Haushalt einigen konnen. Dabei kann das Parlament mit einfacher Mehrheit die Beendigung der bisherigen interinstitutionellen Vereinbarung beschliefien. Die rechtlichen Grundlagen fiir die Aufstellung und die Verabschiedung des Haushaltsplans findet man in den Finanzvorschriften (Art. 268-280) des EG-Vertrages. Diese Regelungen kommen immer dann uneingeschrankt zum Tragen, wenn m a n sich nicht in Form einer interinstitutionellen Vereinbarung auf eine Finanzielle Vorausschau geeinigt hat. In einer Finanziellen Vorausschau werden wesentliche Haushaltsfragen im vorhinein von den drei Institutionen: Kommission, Rat und Parlament gemeinsam verbindlich geregelt, so dass einige Finanzvorschriften nicht mehr zur Anwendung kommen miissen. Bei der Aufstellung des Haushalts miissen folgende Haushaltsgrundsatze beriicksichtigt werden: • •
•
• •
Grundsatz der Einheit von Ausgaben und Einnahmen in einem Haushaltsdokument, Grundsatz der Universalitat, nach dem erstens das Nonaffektionsprinzip (keine Zweckbindung der Einnahmen) gilt und zweitens eine Verrechnung von Einnahmen und Ausgaben (Nettoprinzip) ausgeschlossen ist, Jahrlichkeitsprinzip, nach dem Haushaltsaktivitaten - bis auf die Verpflichtungs- und Zahlungsermachtigungen bei den Mehrjahresprogrammen - an das Haushaltsjahr gebunden sind, Grundsatz des Haushaltsausgleichs, der eine Haushaltsverschuldung ausschliefit, Grundsatz der Spezialitat, bei dem den Ausgabenposten eine bestimmte Zweckbestimmung zugeordnet werden muss.
Die Initiative zur Haushaltsaufstellung geht von der Kommission aus. Sie legt bis zum 1. September dem Rat einen Haushaltsvorentwurf vor. Der Rat stellt dann in 1. Lesung mit qualifizierter Mehrheit den Haushaltsentwurf auf und leitet ihn bis zum 5. Oktober dem Europaischen Parlament zu. Will der Rat vom Vorentwurf abweichen, so setzt er sich zuvor mit der Kommission und den anderen beteiligten Organen ins Benehmen. In der ersten Lesung kann dann das Parlament dem Entwurf zustimmen, so dass der Haushaltsplan damit endgiiltig verabschiedet ist. Das Parlament kann aber bei den nichtobligatorischen Ausgaben mit absoluter Mehrheit der Mitglieder Anderungen beschliefien und bei den obligatorischen Ausgaben (Ausgaben, die sich zwingend aus dem EG-Vertrag oder den entsprechenden Rechtsakten ergeben)
3.4 Entscheidungsverfahren in der EU
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mit der Mehrheit seiner abgegebenen Stimmen dem R a t Anderungen vorschlagen. Den wichtigsten Haushaltsposten bei den obligatorischen Ausgaben stellen die Agrarausgaben dar. In zweiter Lesung beschliefit der Rat iiber die Anderungen bzw. Anderungsvorschlage des Parlaments. Bei den nichtobligatorischen Ausgaben kann der R a t jede Anderung des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit wieder abandern. Bei den Anderungsvorschlagen des Parlaments fiir die obligatorischen Ausgaben kann der Rat faktisch in letzter Instanz mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, sofern nicht das Parlament in zweiter Lesung den Haushaltsentwurf in seiner Gesamtheit ablehnt. Lehnt das Parlament in 2. Lesung nicht den gesamten Haushaltsentwurf ab, so kann es nur noch den nichtobligatorischen vom R a t vorgenommenen Anderungsteil mit drei Flinfteln der abgegebenen Stimmen andern und ablehnen und den gesamten Haushaltsplan feststellen bzw. mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und der Mehrheit seiner Mitglieder den Haushaltsentwurf ablehnen und die Vorlage eines neuen verlangen. Auch wenn das Parlament bei der Bestimmung des Ausgabenvolumens im nichtobligatorischen Teil einen grofien Spielraum in diesem Verfahren besitzt, so sind ihm doch einige Schranken gesetzt. Zum einen legt die Kommission einen verbindlichen Hochstsatz fiir den Zuwachs bei den nichtobligatorischen Ausgaben fest, der von der Wachstumsrate des BNE der EU, der durchschnittlichen Wachstumsrate der Haushalte der Mitgliedstaaten und der Inflationsrate bestimmt wird. Des Weiteren muss der Haushalt ausgeglichen sein, so dass durch die Eigenmittelobergrenze sowie durch die obligatorischen Ausgaben der Spielraum des Parlaments weiter eingeschrankt wird. Hinzu kommen die Ausgabenbesehrankungen, die sich aus der Finanziellen Vorausschau ergeben. 1st zu Beginn des neuen Haushaltsjahres noch kein Haushaltsplan verabschiedet, so tritt die Ein-Zwolftel-Regelung in Kraft, nach der fiir jeden Haushaltstitel monatliche Ausgaben bis zur Hohe eines Zwolftels der im abgelaufenen Haushaltsplan bereitgestellten Mittel vorgenommen werden diirfen. Des Weiteren diirfen die Ausgaben insgesamt nicht ein Zwolftes des aktuellen Haushaltsentwurfs iiberschreiten. Der Rat kann aber mit qualifizierter Mehrheit iiber die Ein-Zwolftel-Regel hinausgehende Mehrausgaben genehmigen. Bei den nichtobligatorischen Ausgaben kann im Falle der Genehmigung durch den Rat das Parlament den Beschluss des Rats mit der Mehrheit seiner Mitglieder und mit drei Fiinfteln der abgegebenen Stimmen abandern und ihn aussetzen. Unabhangig von der Ein-Zwolftel-Regel wiirde im Falle einer Einigung auf eine Finanzielle Vorausschau die vereinbarten Hochstsat-
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ze zum Tragen kommen. Im Falle einer Nichteinigung gelten die Einschrankungen aus dem von der Kommission vorgegebenen Hochstsatz fur den Zuwachs der nichtobligatorischen Ausgaben.
3.5 Schwachstellenanalyse der Institutionen der EU Nachdem die einzelnen Organe und Institutionen der EU skizziert worden sind, soil an dieser Stelle eine kritische Bewertung vorgenommen und mogliche Schwachstellen herausgearbeitet werden. Da die Ratifizierung der EU-Verfassung in der jetzt vorliegenden Form durch alle Mitgliedstaaten zur Zeit mehr als fraglich ist und durch diese auch die hier aufgezeigten Schwachstellen im Wesentlichen nicht ausgeraumt werden, soil an dieser Stelle auf eine Darstellung der Verfassung verzichtet werden, da davon auszugehen ist, dass sie nur in erheblich modifizierter Form in Kraft tret en wird. Schaut man sich die drei Saulen der Gemeinschaft an, so stellt man fest, dass dem EG-Vertrag als Ordnungsprinzip weitgehend das Modell eines Bundesstaates mit starker Machtkonzentration bei der Kommission, hingegen dem EU-Vertrag das eines Staatenbundes mit der herausragenden Stellung des Europaischen Rates und des Rates der Europaischen Union, deren Staatsinteressen durch das dominante Einstimmigkeitsprinzip gewahrt wird, zugrunde liegen. Diese beiden Ordnungsprinzipien und Machtzentren beinhalten ein erhebliches Spannungsfeld, das durchaus die Effizienz der Institutionen der EU beintrachtigen kann. Dabei wird in Konfliktfallen die Position der Kommission tendenziell durch die Rechtsprechung des EuGH gestarkt, der sehr stark die Position eines einheitlichen zentralisierten Europas favorisiert. Diese Ambivalenz wird auch im Artikel 1 der EU-Verfassung deutlich, wo es heifit: „Geleitet von dem Willen der Burgerinnen und Burger und der Staaten Europas...". Letztlich sollten sowohl die EU als auch die einzelnen Mitgliedstaaten sich dem Willen der Burgerinnen und Burger unterordnen. Zu fragen ist, ob es einen eigenstandigen Willen der Mitgliedstaaten jenseits des Willens der Burgerinnen und Burger gibt. Nur in einer Konzeption eines Staatenbundes macht es iiberhaupt Sinn, vom Willen der Staaten zu sprechen. Das Spannungsfeld zwischen den beiden Machtzentren Kommission und Rat der Europaischen Union wird noch dadurch verstarkt, dass in der EU keine klare Trennung der Gewalten vorliegt und so beiden Institutionen sich iiberlappende Aufgaben zugeordnet werden. Beide Institutionen erfullen sowohl legislative als auch exekutive Aufgaben. Wie die Ausfuhrungen zum Entscheidungsprozess in der EU gezeigt
3.5 Schwachstellenanalyse der Institutionen der EU
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haben, ist die Kommission nicht nur fiir die Umsetzung von Rechtsakten verantwortlich, sondern ist zugleich ein zentraler Akteur bei der Gesetzgebung. Besonders bei der zweiten und dritten Saule haben sich die Mitgliedstaaten umfangreiche exekutive Kompetenzen vorbehalten. Soil aber bei dieser unprazisen Aufgabenzuweisung mit sich iiberschneidenden Kompetenzen die EU funktionsfahig arbeiten, bedarf es dazu eines stabilen Machtgleichgewichts zwischen Kommission und Rat. Das in der EU existierende Machtgleichgewicht ist aber relativ instabil, wie die Auseinandersetzung zwischen Kommission und Rat bei der Auslegung des Stabilitats- und Wachstumspakts (siehe Kap. 7) gezeigt hat. Instabile Gleichgewichte zwingen aber die beteiligten Institutionen, ihre Machtposition zu schutzen und zu stabilisieren, was oft mit einem erheblichen Ressourcenaufwand verbunden ist, zu Reibungsverlusten fiihrt und letztlich die Effizienz der Institutionen beintrachtigt. Schaut m a n sich die einzelnen Politikbereiche der EU an, so stellen wir fest, dass die Kommission kein einheitliches ordnungspolitisches Konzept verfolgt, sondern wir in der Gemeinschaft sowohl Ansatze zum Inter vent ionismus als auch zum Laissez-Faire finden. Mit dem Ziel des Gemeinsamen Marktes und seiner vier Grundfreiheiten verfolgt die Kommission sehr konsequent ein marktwirtschaftlich ausgerichtetes Konzept. Interventionistische Ziige werden aber deutlich, wenn wir uns in spateren Kapiteln den einzelnen Politikbereichen zuwenden. Zu nennen sind hier u. a. die Kohasions- und Agrarpolitik der EU. Diese beiden Politikfelder nehmen immerhin mehr als 70% des EUHaushalts in Anspruch. Die ordnungspolitische Spannung wurde in der Auseinandersetzung u m die neue Dienstleistungsrichtlinie deutlich. Unter den Institutionen der EU kommt der Kommission eine zentrale Position zu. Dies ist nicht nur auf die ihr zugewiesenen Aufgaben zuruckzufuhren, sondern auch auf einige Kompetenzen und Strukturen, die ihre dominante Position in der EU noch starken. Die Kommission ist nicht der direkten Kontrolle der Wahler unterworfen und hat damit einen erheblichen diskretionaren Spielraum. Die Kommission muss sich nie dem Wahlervotum stellen und, dass das Parlament einen Riicktritt der Kommission erzwingt, wird nur in Extremsituationen der Fall sein. Ihren diskretionaren Spielraum kann die Kommission aufgrund einiger Privilegien im Entscheidungsprozess uber Rechtsakte der EU zu ihrem Vorteil nutzen. Die Kommission besitzt im Rechtsetzungsverfahren das Initiativrecht. Mifiliebige Gesetzesinitiativen kommen daher gar nicht erst auf die Tagesordnung. Selbst wenn das Parlament Anderungen beschliefit, die nicht im Interesse der Kommission sind, kann die Kommission ihren Entwurf solange abandern bzw. sogar zuriickziehen, bis
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ein Beschluss des Rates ergangen ist. Des Weiteren kann sich in weiten Bereichen der Rechtsetzung der Rat nur einstimmig gegen das Votum der Kommission durchsetzen. Nur im Vermittlungsverfahren bei der Mitentscheidimg hat die Kommission fast keine Einflussmoglichkeiten auf den Entscheidungsprozess von Parlament und Rat mehr. Die Position der Kommission wird dadurch weiter gestarkt, dass die Entscheidungsprozesse in der EU sehr komplex und fur die Biirgerinnen und Burger sehr unlibersichtlich sind, so dass diese die jeweils Verantwortlichen nur schwer identifizieren und zur Rechenschaft ziehen konnen. Da Letztentscheider immer das Parlament und der Rat sind, kann sich so die Kommission leicht aus ihrer Verantwortung stehlen.
Literatur •
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Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
Weim wir uns in diesem Kapitel ausfiihrlich mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 und insbesondere mit den dort vereinbarten Konvergenzkritierien auseinandersetzen, so steht dabei nicht die historische Perspektive beziiglich der einzelnen Schritte zur Schaffung der Europaischen Wahrungsunion im Vordergrund, sondern primar die folgenden zwei Fragekomplexe. Erst ens fragen wir uns, welche Vor- und Nachteile eine Wahrungsunion mit sich bringt. Diese Frage ist nicht nur aus der ruckblickenden Perspektive, inwieweit die Einfiihrung des Euro sinnvoll war, sowie aufgrund der radikalen Forderungen in einigen Mitgliedstaaten, die Europaische Wahrungsunion zu verlassen, angebracht. Sie ist auch wirtschaftspolitisch hochst aktuell, da bisher drei Mitgliedstaaten der EU15 - Grofibritannien, Danemark und Schweden - der Europaischen Wahrungsunion noch nicht beigetreten sind und die EU10 sowie Bulgarien und Rumanien noch vor dem Beitritt zur Wahrungsunion stehen. Zweitens ist zu priifen, was besonders fur die EU10 von grofier Bedeutung ist, ob die Beitrittskriterien des Maastricht-Vertrags gute Indikatoren sind, um einen optimalen Wahrungsraum abzugrenzen. Wir werden konkret priifen, wie der aktuelle Stand der Beitrittsvorbereitung der EU10 ist und inwieweit es im Vergleich zu dem Beitrittsprozedere bei den schon aufgenommenen Mitgliedern gerechtfertigt ist, einigen EUlO-Mitgliedstaaten den Beitritt zu verwehren. In der zweiten Halfte des Kapitels werden wir uns der einheitlichen Geldpolitik im Europaischen System der Zentralbanken (ESZB) zuwenden. Dabei werden wir erlautern, was die wesentlichen Charakteristika und Schwierigkeiten einer einheitlichen Geldpolitik sind. Sodann werden wir uns im Abschnitt „Institutionen des ESZB" mit den Tragern der Geldpolitik auseinandersetzen und in den anschliefienden Abschnitten den Zielen
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4 Europaisch.es System der Zentralbanken (ESZB)
und Strategien sowie den Instrumenten der einheitlichen Geldpolitik zuwenden.
4.1 Vor- u n d N a c h t e i l e einer W a h r u n g s u n i o n Ein offensichtlicher Vorteil einer Wahrungsunion ist der Wegfall der hohen Gebiihren, die man beim An- und Verkauf von anderen Wahrungen zahlen muss. Dass dieser Aspekt nicht trivial ist, zeigt die heftige Auseinandersetzung zwischen der Kommission und dem privaten Bankensektor u m die zu hohen Kosten bei EU Auslandsiiberweisungen, die die Banken ihren Kunden anrechneten. Umtauschkosten bei den Wahrungen diirfen aber nicht einfach mit gesellschaftlichen Kosten gleichgesetzt werden. Banken nutzen den Umtausch von Devisen, u m Monopolrenten zu realisieren. Diese stellen in erster Linie eine reine Umverteilung zwischen Kunden und Banken dar. Unter allokativen Gesichtspunkten sind die realen Einsparungen durch eine gemeinsame W a h r u n g relevant. Zu denken ist dabei u. a. an die Personalkosten zur Durchfuhrung von Devisengeschaften sowie das Vorhalten fremder Devisen fur die Abwicklung der Devisentransaktionen. Auch beim Halten von Devisen aus Landern aufierhalb der Wahrungsunion entstehen gewisse Kosteneinsparungen, da die Mitgliedstaaten der Wahrungsunion das Halten fremder Wahrungen effizienter koordinieren konnen. Die Kosteneinsparungen einer Wahrungsunion sind um so hoher, je starker der Integrationsgrad in einer Wahrungsunion ist. Dies bedeutet, je mehr wirtschaftliche Transaktionen zwischen den Mitgliedstaaten als mit P a r t n e r n aufierhalb der Wahrungsunion vollzogen werden, u m so attraktiver ist eine Wahrungsunion. Insgesamt wird z. B. von Artis (1994, S. 349) der diskutierte Einspareffekt auf ca. 0,2% des Bruttoinlandprodukts der Mitgliedstaaten der Europaischen Wahrungsunion geschatzt. Bedeutsamer - aber auch schwerer abschatzbar - sind die Vorteile einer Wahrungsunion, die sich aus dem Abbau von Risiken bei Direktinvestitionen in andere Mitgliedstaaten der Wahrungsunion ergeben. Um Wechselkursrisiken zu reduzieren, sind Unternehmen veranlasst, im jeweiligen Absatzland zu produzieren, was zu einer Streuung der Produktionsstatten ftihrt. Auch wenn die Standortstreuung unter finanzwirtschaftlicher Perspektive fur das einzelnen Unternehmen sinnvoll ist, ftihrt sie doch zu gesellschaftlichen Verlusten. Erklart werden sie durch economies to scale, die nur voll genutzt werden konnen, wenn das Unternehmen sich auf einen Standort konzentriert. Dieses Argument kann auch nicht durch den Hinweis entkraftet werden, dass m a n
4.1 Vor- und Nachteile einer Wahrungsunion
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sich auf den Finanzmarkten vor dem Wechselkursrisiko absichern konne. Die notwendige Absicherung ware fur ein bis zwei Jahre durchaus finanzierbar, nicht aber iiber die gesamte Abschreibungsdauer eines Invest itionsob j ekt es. Erganzend wird von den Befiirwortern einer Wahrungsunion auf den positiven Zinseffekt hingewiesen, der durch das gesunkene Wechselkursrisiko bedingt ist. Die Risikopramie fur Wechselkursschwankungen fallt in der Wahrungsunion weg, so dass sich die Finanzierungskonditionen fur Investitionen verbessern und es zu einer Erhohung der Investitionsquote kommt, die Wachstumsimpulse erzeugt. Unumstritten ist der Vorteil der hoheren Markttransparenz durch eine Wahrungsunion und die damit verbundene hohere allokative Effizienz. Die gemeinsame W a h r u n g erleichtert Preisvergleiche und folglich Arbitrageschafte, so dass das Gesetz der Unterschiedslosigkeit der Preise von Jevons starker zum Tragen kommt. Auch intertemporale Konsumentscheidungen bei langlebigen Produkten werden erleichtert, da die Wechselkursschwankungen wegfallen und der Preis seine Funktion als Knappheitsindikator besser erfiillen kann. Dieser Aspekt ist bedeutsam, weil - im Gegensatz zum Kaufkraftparitatentheorem - Wechselkursanderungern oft nicht realwirtschaftlich verursacht, sondern auf spekulative Finanztransaktionen zuruckzufuhren sind. Mit der Einfuhrung des Euro wurde eine W a h r u n g geschaffen, die sich im Anlagekalkiil von Privaten als auch der Notenbanken zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten zum Dollar entwickelt hat. Ubersteigt die Auslandsnachfrage nach Euro die bisherige Gesamtnachfrage nach den Zahlungsmitteln der Teilnehmerlander, entsteht durch den Seigniorageeffekt (Mlinzgewinn) des Euro, der durch die Geldschopfung entsteht, eine weitere Wohlfahrtssteigerung. Hinzu kommt, dass die Starke des Euro die Wahrscheinlichkeit gezielter Wechselkursbeeinflussungen durch Devisenspekulanten erheblich reduziert, die - wie die erfolgreichen Attacken gegen die britische und franzosische Wahrung Anfang der 90er Jahre gezeigt haben - bisher gegen die einzelnen Wahrungen der Teilnehmerstaaten durchaus vielversprechend waren. Wesentlich kritischer werden die nachfolgenden Argumente fur eine europaische Wahrungsunion bewertet. Die Anhanger erwarten, dass die Wahrungsunion die Tarifparteien bei ihren Lohnverhandlungen diszipliniert, da die Moglichkeit der Korrektur einer verfehlten Tarifpolitik durch eine Wechselkursanpassung entfallt. Dariiber hinaus wird in einer Wahrungsunion Lohnzuriickhalt u n g beschaftigungspolitisch starker honoriert. Die dadurch verbesserte internationale Wettbewerbsfahigkeit kann d a n n nicht mehr mittels
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4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
einer Aufwertung kompensiert werden. Im Kap. 9 werden wir diesen Komplex eingehend behandeln. In Anbetracht des Ziels der Geldwertstabilitat ist das Argument, dass die Position einer gemeinsamen Zentralbank gegeniiber den teilnehmenden Staaten starker als die der bisherigen Zentralbanken gegeniiber ihren Regierungen sei, besonders umstritten. Wie komplex und difizil sich dieser Problemkreis darstellt, werden wir im Kap. 7 aufzeigen, wenn es urn die Koordination der einheitlichen Geldpolitik mit den einzelnen Politikbereichen geht. Deshalb soil hier auf eine pauschale Bewertung des Arguments verzichtet werden. Die Kritiker einer europaischen Wahrungsunion haben - entsprechend wie auch die Anhanger - auf zwei Ebenen versucht, ihre Position zu rechtfertigen. Zum einen haben sie die Argumente der Gegenseite selbst in Prage gestellt. Des Weiteren haben sie neue Argumente fur ihre Position in die Diskussion gebracht. Diese neuen Gegenargumente sollen nun kurz erlautert werden. Das wohl wichtigste und aus theoretischer Sicht interessanteste Gegenargument ist der Hinweis auf die fehlende Moglichkeit, durch Wechselkursanpassungen asymmetrische exogene Schocks zu kompensieren. Dieses Argument ist u m so bedeutsamer, je weniger die europaische Wahrungsunion einen optimalen Wahrungsraum darstellt, der u. a. durch hohe Flexibilitat der Preise und Lohne gekennzeichnet ist. Exogene asymmetrische Schocks sind solche, bei denen die jeweiligen Staaten z. B. aufgrund unterschiedlicher Produktionsstrukturen in unterschiedlicher Weise auf exogene Einflussfaktoren, wie z. B. Roholverteuerungen, Einbruch im Welthandel usw. reagieren. Asymmetrische Schocks sind insbesondere dann gegeben, wenn die Aufieneinfliisse gegenlaufige wirtschaftliche Entwicklungen in den betrachteten Landern bewirken. Dies ware z. B. der Fall, wenn ein exogener Schock in einem Land einen Boom und in einem anderen Land eine Rezession bewirkt. Diesen Extremfall eines asymmetrischen Schocks wollen wir anhand zweier Lander exemplarisch analysieren. Die Auswirkungen eines Schocks schlagen sich in der Verschiebung der aggregierten Nachfragefunktion einer Volkswirtschaft nieder. Wahrend bei einem symmetrischen Schock die beiden Lander in gleicher Richtung getroffen werden und so in beiden gleiche kompensatorische Mafinahmen notwendig sind, gilt dies nicht fur asymmetrische Schocks. Betrachten wir exemplarisch die beiden Lander Frankreich (F) und Deutschland (£)), SO unterstellen wir in Abb. 4.1 in Frankreich einen negativen Schock (Verschiebung der aggregierten Nachfragekurve von ADQ nach AD\ sowie fur Deutschland einen gegenlaufigen positiven
4.1 Vor- und Nachteile einer Wahrungsunion
y* y Y* Abbildung 4.1. Asymmetrische Schocks
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Y
Schock. Inwieweit sich der jeweilige Schock in einer veranderten Beschaftigung niederschlagt, hangt von der Elastizitat der aggregierten Angebotsfunktion ab. Wir haben in Abb. 4.1 eine lineare Angebotsfunktion der Form y = y* + a(p — pe) gewahlt. Die Grofie y* reprasentiert analog zur NAIRU (non accelerating inflation rate of unemployment) das Sozialprodukt bei Vollbeschaftigung. Des Weiteren nehmen wir an, dass sich die Preiserwartung pe kurzfristig nicht andert. Die Steigung 1/a der Angebotsfunktion kann den Wert von annahernd oo erreichen. Dann befinden wir uns im Modell der Klassiker mit unendlicher Anpassungsgeschwindigkeit der Preise und Lohne, die alle exogenen Schocks vollkommen absorbieren. F u r den Fall, dass 1/a nahe bei 0 liegt, befinden wir uns in einer keynesianischen Welt, bei der reine Mengenanpassung vorliegt und die Preise und Lohne auf exogene Schocks nicht reagieren, so dass die Angebotsfunktion annahernd horizontal verlauft. Wir sehen, dass in einer keynesianischen Welt die Auswirkungen exogener Schocks auf Beschaftigung und Produktion durchaus von erheblicher Bedeutung sind und stabilitatspolitischen Handlungsbedarf schaffen. Im klassischen Modellrahmen bedarf es hingegen keiner kompensatorischer Mafinahmen. Nun ist die Realitat dadurch gekennzeichnet, dass gewisse Lohn- und Preisinflexibilitaten existieren und die Angebotsfunktion eine positive Steigung hat, wie dies in Abb. 4.1 skizziert ist, so dass ein stabilitatspolitischer Handlungsbedarf durchaus gegeben ist. Existieren zwischen Deutschland und Frankreich flexible Wechselkurse, so stellen diese einen automatischen Stabilisator dar, der dafur
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4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
sorgt, dass die Schocks kompensiert werden und die aggregierten Nachfragefunktionen zu ihrer ursprlinglichen Lage zuriickkehren (sich AD\ nach ADQ verschiebt). Betrachten wir zur Klarung dieses Sachverhaltes die aggregierten Nachfragekurven, die sich vereinfachend darstellen lassen als: Y = C + I + G+(E-I).
(4.1)
Von Interesse sind hier die Determinanten der beiden letzten Komponenten der aggregierten Nachfrage: der Export E und der Import / . Der Export Deutschlands nach Frankreich wird im Wesentlichen von der Gesamtnachfrage in Frankreich, dem DM-Preis und dem Wechselkurs bestimmt. Steigt der Wert der D-Mark gegenliber dem franzosischen Franc, verteuern sich deutsche P r o d u k t e in Frankreich und die Nachfrage nach deutschen Produkten - also die deutschen Exporte nach Frankreich - gehen damit zuriick. Dies hat zur Folge, dass sich die aggregierte Nachfrage in Deutschland nach links verschiebt. Die Aufwertung der DMark bewirkt eine Preissenkung fur Importe aus Frankreich, so dass sich die Importe erhohen. Dies hat ebenfalls einen Rlickgang der aggregierten Nachfragekurve in Deutschland sowie eine Linksverschiebung zur Folge. Durch eine Aufwertung der D-Mark ist es moglich, die durch den exogenen Schock bewirkte Uberhitzung der deutschen Konjunktur zuriickzufahren und so Preissteigerungen und eine Ubernachfrage nach Arbeitskraften zu verhindern. Des Weiteren bewirkt die Aufwertung der D-Mark eine Konjunkturbelebung in Frankreich, die den negativen exogenen Schock kompensiert und die Beschaftigung stabilisiert. Bei flexiblen Wechselkursen existiert so ein automatischer Stabilisator, der asymmetrische exogene Schocks kompensiert. Dieser automatische Stabilisator flexibler Wechselkurse funktioniert aber nur dann perfekt, wenn die Wechselkurse durch die realwirtschaftliche Entwicklung und nicht durch spekulative Finanztransaktionen determiniert werden. Es kann auch durch weitere Einflussfaktoren zu einer Beeinflussung der aggregierten Angebotsfunktion kommen, die einer Stabilisierung zuwider lauft. Eine Verteuerung der Importe bedeutet z. B. fur die Arbeitnehmer in Frankreich eine Reallohnsenkung. Entsprechend werden sie bei gegebenem Inlandspreisniveau ihr Arbeitsangebot verringern. Dies fiihrt zu einer Verschiebung der aggregierten Angebotsfunktion nach links. Insbesondere besteht die Gefahr, dass eine Wechselkurskorrektur eine Lohn-Preisspirale induziert, so dass man nicht sagen kann, dass eine Wechselkursanpassung ein Allheilmittel darstellt, auf das man mit einer Wahrungsunion verzichtet.
4.1 Vor- und Nachteile einer Wahrungsunion
115
Von deutscher Seite wird insbesondere argumentiert, dass sich mit der Wahrungsunion die Infiationsneigung in Europa verstarkt. Wahrend in Deutschland sowohl die Bundesbank als a u d i die Bevolkerung der Geldwertsicherung eine hohe Prioritat zuordnen, wlirde sich Deutschland bei der europaischen Wahrungsunion mit Staaten zusammenschliefien, die dem Ziel der Preisniveaustabilitat nicht diese hohe Prioritat zukommen lassen. Die Bundesrepublik wlirde so einer Inflationsgemeinschaft beitreten. O b dieses negative Szenario eintritt, hangt aber entscheidend von der Unabhangigkeit der Europaischen Zentralbank ab, die wir in einem spateren Teil dieses Kapitels behandeln werden. Die in den ersten Jahren des Euros gemachten Erfahrungen zeigen aber, dass diese Sorge unberechtigt ist. Es kann aber durchaus sein, dass Deutschland durch die europaische Wahrungsunion einen Wohlfahrtsverlust erleidet. Deutsche Kreditnehmer mlissen z. B. bei Eurokrediten mit einer hoheren Risikopramie als bei D-Markkrediten rechnen. Dieser deutsche Wohlfahrtsverlust bedeutet aber nicht zwingend, dass eine Wahrungsunion okonomisch ineffizient ist. Denn die Argumente der Beflirworter lassen durchaus die Schlussfolgerung zu, dass die Wohlfahrtsgewinne aller Teilnehmer die Verluste Deutschlands iiberkompensieren konnen. Fur alle Teilnehmerstaaten schafft die Wahrungsunion ein neues Koordinationsproblem zwischen der zentralisierten Geldpolitik und der in nationaler Verfiigungsgewalt bleibenden Fiskal- und Finanzpolitik. Welche Koordinationsprobleme dabei im einzelnen auftreten, werden wir hier nicht vertiefen, sondern in den Kap. 7, 9 und 10 ausfiihrlich behandeln. Die Kritiker einer Wahrungsunion schlagen zur Losung des Koordinationsproblems vor, erst die Vergemeinschaftung der Politikbereiche voranzutreiben und dann im Sinne einer Kronungstheorie diesen Integrationsprozess mit der europaischen Wahrungsunion abzuschliefien. Dieser Alternativvorschlag ist aber wenig iiberzeugend. Wie wir in den nachfolgenden Kapiteln aufzeigen werden, ist eine Vergemeinschaftung vieler Politikbereiche okonomisch nicht sinnvoll und auch nicht damit zu rechtfertigen, damit die Effizienz der Wahrungsunion zu gewahrleisten. Wiirde man sich diese Strategic zu eigen machen, wlirde man die Wahrungsunion auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Denn die politischen Widerstande gegen eine Integration der daflir relevanten Politikbereiche ist so stark, dass diese Voraussetzung fur eine Wahrungsunion niemals politisch durchsetzbar ware. Von daher ist es ehrlicher, wenn man sich dann explizit gegen die europaische Wahrungsunion ausspricht.
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4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
Die bisher angeflihrten Argumente sind beziiglich der Beurteilung einer Wahrungsunion mehr von grundsatzlicher Natur. F u r die Beurteilung einer Wahrungsunion, die eine umfassende Reform der Kompetenzen in der Geldpolitik bedeutet, sind a u d i die Transformationskosten mit zu beriieksichtigen, die mehr temporarer Natur, aber dennoch nicht unerheblich sind. Als erstes sei auf die Umstellungskosten im Bankensektor hinzuweisen, die auf ca. l O M r d . E U R geschatzt werden. So miissen die Banken ihre Geldautomaten neu programmieren und zum Teil ersetzen. Gravierender ist die mit dem Wechsel einhergehende Unsicherheit iiber die zukiinftige geldpolitische Strategie und ihre Umsetzung in der europaischen Wahrungsunion. Es bestehen durchaus Zweifel, ob die neue Zentralbank tatsachlich konsequent ihre Politik auf das Ziel der Preisniveaustabilitat ausrichtet. Insbesondere muss sich die neue Zentralbank die Reputation aufbauen, die zuvor z. B. die deutsche Bundesbank besafi. Dies kann dazu fiihren, dass die neue Zentralbank das Ziel der Geldwertstabilitat wesentlich konsequenter als die deutsche Bundesbank verfolgt, und so bewusst gesellschaftliche Kosten in Form hoherer Arbeitslosigkeit in Kauf nimmt, um ihre Unabhangigkeit zu demonstrieren und so Glaubwiirdigkeit zu gewinnen. Nicht zu unterschatzen ist auch der psychologische Effekt der Wahrungsumstellung. Die nationalen Wahrungen hatten eine immense nationale Symbolkraft und waren durchaus identitatsstiftend. Dieser Anker entfallt mit der Wahrungsunion und der Euro stellt keinen Ersatz dar, da sich bei den Europaern die Meinung verfestigt hat, dass sie den „Teuro" bekommen haben, obwohl die Preisstatistik dieses Vorurteil nicht bestatigt. Auf politischer Ebene wird auf die Gefahr der zwei Geschwindigkeiten hingewiesen, die durch die Wahrungsunion initiiert wird. Hat sie sich erst einmal etabliert und verfestigt, so ist die Sorge, dass sie auch auf andere Politikbereiche der Union ubertragen wird, nur sehr schwer auszuraumen. Man beflirchtet sogar, dass die Wahrungsunion der Beginn eines Desintegrationsprozesses ist. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben aber gezeigt, dass diese Befiirchtungen unbegriindet sind. Der Hinweis kann aber im Rahmen des sich hinausziehenden Beitritts der EU10 zur europaischen Wahrungsunion an Bedeutung gewinnen. Dabei kommt der Erflillung der Konvergenzkriterien von Maastricht eine wesentliche Bedeutung zu, denen wir uns nun zuwenden wollen.
4.2 Konvergenzkriterien
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4.2 Konvergenzkriterien Primares Ziel der im Maastricht-Vertrag beschlossenen Konvergenzkriterien ist es, ein Auswahlraster zu entwickeln, das dafiir sorgt, dass nur solche Mitgliedstaaten in die Wahrungsunion aufgenommen werden, die das Ziel der Geldwertstabilitat in der Wahrungsunion nicht gefahrden. Bei der Konzipierung der Konvergenzkriterien konnte man auf das Konzept des optimalen Wahrungsraums zuriickgreifen. Mit den Konvergenzkriterien mochte man idealiter einen E u r o r a u m schaffen, der einen optimalen Wahrungsraum darstellt, der durch einen hohen Integrationsgrad, Flexibilitat sowie eine Produktionsstruktur gekennzeichnet ist, bei der asymmetrische Schocks nicht von zentraler Bedeutung sind. Die Maastricht-Konvergenzkriterien sollen kurz dargestellt und gepriift werden, inwieweit die Erfullung der Kriterien die Sicherung des Geldwerts garantieren. In Tabelle 4.1 sind die Kriterien kurz dargestellt und sollen nun erlautert werden. Tabelle 4 . 1 . Maastricht-Kriterien 1. Preisniveaustabilitat Preisniveau eines Landes darf nur 1,5 % hoher als in den drei Landern mit den geringsten Inflationsraten sein. 2. Wechselkursstabilitat Wechselkurse miissen sich in den zwei Jahren vor der Prufung ohne grofie Spannung in der normalen Bandbreite des Europaischen Wahrungssystems (EWS) gehalten haben. 3. Zinsstabilitat Das langfristige nominale Zinsniveau darf nicht hoher als 2 % der Zinssatze derjenigen drei Lander mit der niedrigsten Inflationsrate sein. 4. Staatsverschuldung a. Defizit des offentlichen Haushaltes darf nicht grofier als 3 % des Bruttoinlandproduktes sein. b. Offentlicher Schuldenstand darf nicht mehr als 60 % des BIP betragen.
Das erste Kriterium verlangt die Verwirklichung von Preisniveaustabilitat. Danach darf das Preisniveau nur hochstens 1,5% grofier als in den drei Landern mit den geringsten Inflationsraten im Jahr vor der Beitrittsprufung gewesen sein. Dabei wird die Preisentwicklung anhand
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4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
des Verbraucherpreisindex gemessen. Leider ist dieses Kriterium nur wenig operational definiert, da sich die Marge von 1,5% auf die drei Lander mit den niedrigsten Inflationsraten bezieht. Wie ist diese Marge zu verstehen, wenn die drei besten erheblich in den Inflationsraten divergieren? Bezieht man sich dann bei den 1,5% auf den Durchschnittswert, das Beste oder das Schlechteste der drei Lander? Die Operationalitat des Kriteriums wird weiterhin dadurch eingeschrankt, dass die Preisniveaustabilitat „anhaltend" sein muss, ohne dass dieser Begriff ausreichend definiert wird. Dass die Preisniveaustabilitat anhaltend sein muss, ist deshalb notwendig, weil man kurzfristig durchaus die Inflationsentwicklung dampfen kann, auch wenn die inflationaren Tendenzen in einem Land sehr stark sind. So kann z. B. die jeweilige Regierung Erhohungen der administrierten Preise zuruckstellen. Des Weiteren kann sie iiber die Wechselkurspolitik den direkten Preiszusammenhang zu ihren Gunsten nutzen. Liegen flexible Wechselkurse vor, kann die jeweilige Regierung bzw. die Notenbank durch eine Aufwertung seine Stellung gegeniiber anderen Staaten im Inflationsprozess verbessern. Eine Aufwertung fiihrt zu billigeren Importen und so zu einer Dampfung des Inflationsprozesses im aufwertenden Land. Ein weiteres Gefahrenmoment des 1,5%-Kriteriums liegt darin, dass mehrere Beitrittskandidaten im Sinne einer konzertierten Aktion eine Inflationsgemeinschaft bilden und so das Kriterium aushebeln konnen. Das 1,5%-Kriterium stellt namlich nicht auf die absolute Inflationsrate, sondern nur auf die Varianz in den Inflationsraten ab. Wenn in alien Landern die gleiche Inflationsrate annahernd realisiert wird, so ist diese auch bei einer Rate von 0% bzw. 5% oder 10% mit dem Konvergenzkriterium vereinbar. Es muss nur ein Gleichschritt vorliegen. Unter diesem Aspekt stellt fur die EU10 dieses Kriterium mit der realisierten Wahrungsunion eine ganz andere Hiirde dar, da fur die neuen Mitgliedstaaten nun ein absolutes Vergleichsniveau mit den Inflationsraten der bisherigen Teilnehmerstaaten im Euroraum vorgegeben ist, das von der Europaischen Zentralbank bestimmt wird. Die zentrale Schwache des Inflationskriteriums liegt in ihrer fehlenden Zukunftsbezogenheit. Inwieweit in der Zukunft in einem Land Inflationstendenzen zu erwarten sind, die eine einheitliche Geldpolitik im Euroraum erschweren, lasst sich aus den bisher realisierten Inflationsraten nur schwer ablesen, da die kurzfristigen Beeinflussungsmoglichkeiten seitens der Politik zu grofi sind. Wir hatten schon auf die Moglichkeit hingewiesen, iiber die Beeinflussung der Wechselkurse die Inflationsrate eines Landes zu beeinflussen. Um diese Eingriffsmoglichkeiten auszuschliefien, besagt das zweite
4.2 Konvergenzkriterien
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Maastricht-Kriterium: „Wechselkurse mlissen sich in den zwei Jahren vor der Priifung ohne grofle Spannung in der normalen Bandbreite des Europaischen Wahrungssystem (EWS) gehalten haben." Dabei ist das Europaische Wahrungssystem der Vorlaufer der Europaischen Wahrungsunion. Das E W S beinhaltet ein System fester Wechselkurse und eine Interventionspflicht der Mitgliedstaaten. Aufgrund der Wahrungsturbulenzen Anfang der neunziger Jahre, die zu einer durch gezielte Devisenspekulationen erzwungenen Abwertung des britischen Pfund und des franzosischen Franc ftihrten, die die Spannweite fur zulassige Wechselkursanpassungen durchbrach, wurden die Ober- und Untergrenzen fur zulassige Wechselkursanpassungen mit einer sehr hohen Spannweite von 15% versehen. Damit wurde faktisch das E W S in ein System flexibler Wechselkurse mit deklatorischer Interventionspflicht transformiert. Das Kriterium der geforderten Wechselkursstabilitat ist deshalb sinnvoll, da Wechselkursanpassungen nach dem Kaufkraftparitatentheorem dann zu erwarten sind, wenn die Inflationsraten zwischen den jeweiligen Landern erheblich divergieren. Wenn die Inflationserwartungen auf erheblich unterschiedliche Inflationsentwicklungen hinweisen, kommt es zu Wechselkursanpassungen. Besonders sensibel reagieren die langfristigen Nominalzinsen auf antizipierte Preisniveauveranderungen. Von daher stellen die langfristigen Nominalzinsen einen guten Indikator daflir dar, die Staaten zu identifizieren, von denen nach dem Beitritt keine inflationaren Entwicklungen ausgehen. Gehen wir von einem relativ stabilen langfristigen Realzins r* sowie der Annahme aus, dass der langfristige Nominalzins i = r* + p e ist, wobei pe die Inflationserwartungen widerspiegelt, so zeigen Nominalzinssteigerungen an, dass sich die inflationaren Tendenzen im betrachteten Land verstarkt haben. Von dieser Uberlegung ausgehend verlangt das Maastricht-Kriterium iiber die Zinsentwicklung, dass das langfristige nominale Zinsniveau nicht hoher als 2% der Zinssatze derjenigen Lander mit den niedrigsten Inflationsraten sein darf. Das Zinsniveau-Kriterium stellt so eine Bonitatspriifung dar, ob ein Land fur Kreditgeber als inflationsgefahrdet angesehen wird. Hinzu kommt, dass das Zinsniveau-Kriterium das Wechselkurskriterium sinnvoll erganzt. Ein Land, das unter starkem Abwertungsdruck steht, kann durch hohe Zinsen versuchen, den Druck auf seine W a h r u n g herauszunehmen. Diese Politik fxihrt aber dazu, dass man die Erfullung des Wechselkurskriteriums nur auf Kosten des Zinsniveau-Kriteriums erfiillen kann. Kritisch ist zu den bisher skizzierten drei Kriterien zu sagen, dass sie relativ wenig liber die wichtigste Einflussgrofie in der zu schaffenden Wahrungsunion sagen, namlich iiber die zu erwartende Stabilitatsorientierung der Europaischen Zentralbank. Inwieweit die Europaische
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4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
Zentralbank sich dem Geldwertstabilitatsziel verpfiichtet fiihlt und in der Lage ist, dieses auch zu realisieren, hangt nicht nur von der institutionellen Ausgestaltung der Wahrungsunion (siehe nachsten Abschnitt), sondern auch von ihrem Umfeld ab, insbesondere vom Interesse der Teilnehmerstaaten am Ziel der Geldwertstabilitat und ihrer Bereitschaft, die Europaische Zentralbank bei ihren Stabilisierungsbemiihungen zu unterstiitzen. Das Interesse an Geldwertstabilitat und die Unterstiitzungsbereitschaft der Teilnehmerstaaten wird aber wesentlich durch die finanzielle Situation jedes Teilnehmerstaates bestimmt. Um mogliche Konflikte zwischen den Teilnehmerstaaten und der Europaischen Zentralbank auf ein Minimum zu reduzieren, sieht der Maastricht-Vertrag zwei Verschuldungskriterien vor, die jedes Beitrittsland als Beitrittsvoraussetzung erfullen muss und die nach dem Stabilitats- und Wachstumspakt (siehe Kap. 7) jeder Teilnehmerstaat auch nach dem Beitritt einhalten muss. Dabei geht es zum einen u m das Defizit des offentlichen Haushalts. Danach darf zum einen - von Ausnahmesituationen abgesehen - die Nettokreditaufnahme nicht hoher als 3% des Bruttoinlandprodukts ausfallen. Zum anderen darf der offentliche Schuldenstand die Marge von 60% des Bruttoinlandprodukts nicht iibersteigen. Auf den ersten Blick erscheinen die im Maastricht-Vertrag verankerten Defizitkriterien als willkurlich. Sie haben aber durchaus ihre eigene Logik. Das 60%-Schuldenkriterium bestimmte sich als Durchschnittswert der Verschuldung in der EU anfangs der 90er Jahre. Das 3%-Nettokreditaufnahme-Kriterium ist dabei so gewahlt worden, dass es mit der Einhaltung dieses Kriteriums nicht zu einer Ausweitung des Schuldenstandes liber die 60% hinaus kommt. Dabei unterstellte die Kommission ein langfristiges Wachstum des nominalen Bruttoinlandprodukts von ungefahr 5%. Unter dieser Pramisse fiihrt eine Nettokreditaufnahme von 3% zu einer Verschuldungsquote von: Dt BIPt
=
Dt-i+NKt = 0 , 6 g f P t - i + 0 , 0 3 - g f P t - i ( l + 0,05) B / P t - i (1 + 0,05) BIPt-! (1 + 0,05)
wenn sich in der Vorperiode der Schuldenstand auf 60% belief, wobei Dt die Gesamtverschuldung und NKt die Nettokreditaufnahme darstellen. Wenn wir uns mit dem Stabilitats- und Wachstumspakt im Kap. 7 beschaftigen, werden wir eingehend priifen, inwieweit diese beiden Verschuldungskriterien als Vorgabe fur die Finanzpolitik sinnvoll sind und uns fragen, ob sie nicht genauer spezifiziert werden sollten, damit besondere Umstande berucksichtigt werden konnen. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass das Verschuldungs-Kriterium nur die explizite Schuld eines Landes berucksichtigt. Die Sozialversicherungen, die in der EU alle mehr oder weniger auf dem
4.2 Konvergenzkriterien
121
Umlageverfahren aufbauen, sind mit einer impliziten Schuld belastet, die bei den Maastricht-Kriterien nicht beriicksichtigt wird. Die implizite Schuld der Deutschen Rentenversicherung in Form der zukiinftigen Rentenansprliche der Versicherten ist aber wesentlich hoher als die in den Schuldenkriterien beriicksiehtigte explizite Schuld der offentlichen Hand, also des Bundes, der Lander, Kommunen und Sozialversicherungen. Eine explizite Schuld der Sozialversicherungen schlieflt das Umlageverfahren eigentlich aus, da nach diesem Prinzip die Einnahmen immer den Ausgaben entsprechen sollen. Unter Verletzung dieser Vorschrift haben z. B. die Gesetzlichen Krankenkassen in 2004 einige Milliarden Schulden aufgenommen, u m Beitragsanpassungen zu vermeiden. Diese wurden voll bei den Schuldenkriterien beriicksichtigt. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass schon im Vertrag von Maastricht einige Formulierungen zu finden sind, die dazu flihren, dass diese Kriterien sehr stark aufgeweicht werden konnen und daher keine strengen Selektionskriterien darstellen. Man findet im Vertrag vage Formulierungen, dass eine Aufnahme auch gerechtfertigt sein kann, wenn von einem „rlicklaufigen Schuldenstand" auszugehen ist, die Referenzwerte „die Nahe" des Kriteriums erreichen und die Verletzung des Kriteriums nur „vorlibergehend" ist. Es reicht sogar u. U., dass sich die Staaten „bemlihen", die Kriterien zu erflillen. Diese Hinweise machen deutlich, dass sich der Rat der Europaischen Union mit dem Maastricht-Vertrag keinem strengen Regelmechanismus fur den Beitritt unterwerfen wollte, sondern sich einen erheblichen diskretionaren Spielraum eingeraumt hat, u m so politisch liber die Aufnahme der Mitglieder der Wahrungsunion zu entscheiden. In der Tabelle 4.2 sind die Werte der Kriterien der EU15 dargestellt, die in 1998 die Grundlage flir die Aufnahmeentscheidung in die Wahrungsunion bildeten. Schaut man sich diese Tabelle genauer an, so stellt m a n fest, dass die Inflationsraten in den 90er Jahren gesunken sind u n d sich auf einem niedrigen Niveau u m 2% eingependelt haben. Nur Griechenland verletzt den Referenzwert flir die Inflationsrate erheblich. Auch bei den langfristigen Zinsen zeigt sich eine entsprechend glinstige Lage. Wesentlich kritischer stellt sich die Ausgangsperspektive bei dem Haushaltsund Verschuldungs-Kriterium dar. Hier verletzen nur Schweden, Danemark, die nicht beitreten wollen, Finnland, Irland, Luxemburg und die Niederlande das Defizitkriterium von 3% nicht. Irland und die Niederlande verletzen aber das Schuldenstandskriterium, so dass als einzige Staaten nur Finnland und Luxemburg alle Kriterien erflillen.
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4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
Tabelle 4.2. Indikatoren fur die Referenzwerte des Maastricht-Vertrages
Land
Deutschland Frankreich Grossbritannien Italien Spanien Niederlande Belgien Osterreich Schweden Danemark Finnland Griechenland Portugal Irland Luxemburg
Verbraucher- Langfristige Finanzierungsdefizit der Offentliche preise Zinsen Verschuldung ^ offentlichen H a u s h a l t e Veranderung in P r o z e n t in vH des nominalen B r u t t o i n l a n d s p r o d u k t s in vH gegeniiber dem Vorjahr 1997 1995 1996 1997 1995 1996 1997 1996 1997 1996 1.5 2.0 2.4 3,9 3.6 2.1 2,1 1,9 0,7 2.1 0,6 8.5 3.2 1.6 1,4
1,5 6,2 1,75 6.5 3,0 7,8 2,5 9,2 2,5 8,7 2,5 6.2 2,0 6.3 2,0 6,3 1,5 8.0 2,5 7.1 1,5 6,0 6,0 14,0 3,0 8.6 2,0 7,5 1,5 6,3
6,0 3,6 3,8 6,0 4.8 4,1 7,5 5.5 4,8 7,0 6.9 6,8 7,0 6.6 4,4 6,0 4,1 2,4 6,0 4,1 3,4 6,0 5,9 4,5 6,5 7.7 3,6 6,5 1,9 1,5 6,0 5.1 2,6 11,0 9.2 7,5 6,5 5,0 4,0 6,5 2.3 1,0 6,0 -1,5 -0,9
3 bis 3,5 3 ) 3 bis 3,5 3 bis 3,5 3,5 bis 4 3 bis 3,5 2 bis 2,5 3 bis 3,5 3 bis 3,5 2 bis 2,5 0,5 bis 1 1,5 bis 2 6 bis 6,5 3 bis 3,5 1 bis 1,5 0 bis -0,5
58.1 60,6 52.8 56,5 53.9 55,0 124,9 124,5 65.8 69,0 80,0 79,0 133.7 130,0 69,0 72,0 79,4 79,0 71.9 71,0 59.2 60,0 111.8 110,0 71,7 71,0 81,6 75,0 6,1 8,0
62 58 55 124 68 76 127 73 78 68 59 109 69 70 8
1) Fiir 1997 auf halbe P r o z e n t p u n k t e g e r u n d e t . 2) Fiir 1997 auf voile P r o z e n t p u n k t e gerundet. 3) Nicht gerundet: 3,2 vH. Quelle:
DIW
u. a. (1997),
S. 283
Mit dem Beitritt der EU10 sowie Bulgarien und Rumandien im Rahmen der EU-Osterweiterung sind nun 15 Mitgliedstaaten aufierhalb des Eurosystems, das alle Mitgliedstaaten umfasst, die den Euro eingefuhrt haben. Wahrend fiir Grofibritannien und Danemark keine Beitrittsverpflichtung zur Europaischen Wahrungsunion besteht, haben die anderen Mitgliedstaaten nicht das Recht, der Wahrungsunion fernzubleiben. Diese haben sich vertraglich gebunden, die Erfullung der Konvergenzkriterien sicher zu stellen und den Euro baldmoglichst einzufuhren. Da Schweden per Volksentscheid 2003 einen Beitritt abgelehnt hat, verhindert Schweden den Beitritt, indem es nicht am W K M II teilnimmt und damit das Wechselkurskriterium des Maastricht-Vertrages nicht erfullen kann. Da mit der Einfuhrung des Euro 1998 das Europaische W a h rungssystem (EWS) auslief, miissen nun die Beitrittskandidaten am W K M II, der Nachfolgeinstitution des EWS, spannungsfrei liber mindestens zwei Jahre teilnehmen und insbesondere die Marge von ± 1 5 % bei den Wechselkursschwankungen einhalten. Um zu priifen, ob die noch nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten der EU die Konvergenzkriterien erfullen, erstellt die EZB alle zwei Jahre
4.2 Konvergenzkriterien
123
oder auf Antrag eines dieser Mitgliedstaaten einen Konvergenzbericht. Einen Konvergenzbericht fiir alle 11 Mitgliedstaaten, fur die in 2006 noch eine Ausnahmeregelung gilt, hat die EZB 2004 erstellt. Die Erfiillung der Konvergenzkriterien wird in Tabelle 4.3 deutlich. Bei der Erfullung des Ziels der Preisniveaustabilitat haben die untersuchten Mitgliedstaaten 2002 ein Niveau von durchschnittlich 2,0% erreicht, das auch 2003 und 2004 realisiert wurde. Dabei ist positiv hervorzuheben, dass dieser Wert 1997 noch bei annahernd 10% lag. Im J a h r 2004 wurde in Lettland mit 4,9%, Ungarn 6,5%, Slowenien 4,1%, Slowakei 8,4% der Referenzwert von 2,4% iiberschritten. Auch bei dem Zinsniveau-Kriterium stellt sich die Situation nicht schlecht dar. Alle Staaten erfiillen dieses Maastricht-Kriterium. Schaut m a n sich die Nettokreditaufnahme an, so muss generell gesagt werden, dass sich hier fiir die Beitrittskandidaten die grofiten Schwierigkeiten stellen. Die Haushaltsdefizite sind erheblich und iiberschreiten den Referenzwert von 3% sehr stark. So haben die Tschechische Republik mit einem Haushaltsdefizit von 5,0%, Zypern 5,2%, Ungarn 5,5%, Malta 5,2%, Polen 5,6% und Slowakei 3,9% bis auf vier der EU10 dieses Kriterium durchaus erheblich verletzt. Bis auf Zypern und Malta haben alle das Schuldenstandskriterium erftillt. Dies ist aber im Wesentlichen darauf zuruckzufiihren, dass nach dem Zusammenbruch des Sozialismus diese Staaten annahernd schuldenfrei den Transformationsprozess gestartet haben. Aus dieser Perspektive ist der Schuldenstand von Ungarn mit 59,9% besorgniserregend. Vergleicht man die Kriterienerfiillung dieser Staaten mit der der bisher aufgenommenen Staaten, so kann man nur das Fazit ziehen, dass sie sich bei der Erfullung im Grofien und Ganzen besser prasentieren. Bisher ist aber noch kein neues Mitglied nach dem Beitritt Griechenlands aufgenommen worden. Nur Litauen und Slowenien sind 2004 dem W K M II beigetreten und haben 2006 einen Beitrittsantrag gestellt. Aufgrund des sehr kritischen Konvergenzberichts der EZB fiir diese beiden Kandidaten hat die Kommission dem R a t empfohlen, nur Slowenien in die Wahrungsunion aufzunehmen, dem der R a t zugestimmt hat, so dass Slowenien ab dem 01.01.2007 dem Euroraum angehort. Betrachtet m a n die Tabelle 4.4, so muss man sich aber fragen, ob hier nicht mit zweierlei Mafi gemessen wird, insbesondere dann, wenn man die Erfiillung der Konvergenzkriterien durch die schon aufgenommenen Mitgliedstaaten betrachtet. Slowenien erfiillt alle Kriterien, hingegen liegt Litauen mit einer Inflationsrate von 2,6% knapp liber dem Referenzwert von 2,5%, da die Inflationsrate der drei Lander mit der niedrigsten Inflationsrate (Finnland, Niederlande u n d Schweden) bei 1% lag.
124
4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB) T a b e l l e 4 . 3 . Indikatoren der wirtschaftlichen Konvergenz
Tschechische Republik Estland
Zypern
Lettland
Litauen
Ungarn
Malta
Polen
Slowenien
Slowakei
Schweden
Referenzwert 4 )
2002 2003 2004 2002 2003 2004 2002 2003 2004 2002 2003 2004 2002 2003 2004 2002 2003 2004 2002 2003 2004 2002 2003 2004 2002 2003 2004 2002 2003 2004 2002 2003 2004
HVPI- Langfristiger FinanzierungsBruttoInflation1^ Zinssatz 2^ saldo verschuldimg des Staates 3 ^ des Staates 3^ -6,8 4,9 28,8 1,4 -12,6 37,8 -0,1 4,1 -5,0 1,8 4,7 37,9 3,6 5,3 1,4 5,3 1,4 3,1 0,3 2,0 4,8 67,4 5,7 -4,6 2,8 4,7 -6,4 70,9 4,0 5,2 -5,2 72,6 2,1 5,4 -2,7 2,0 14,1 14,4 4,9 -1,5 2,9 4,9 5,0 -2,0 14,7 22,4 6,1 0,4 -1,5 21,4 -1,9 5,3 -1,1 21,4 -0,2 4,7 -2,6 5,2 -9,2 57,2 7,1 4,7 6,8 -6,2 59,1 6,5 -5,5 59,9 8,1 -5,9 2,6 5,8 62,7 1,9 -9,7 5,0 71,1 2,6 4,7 -5,2 73,8 1,9 -3,6 7,4 41,1 45,4 0,7 -3,9 5,8 47,2 -5,6 2,5 6,9 -2,4 29,5 7,5 -2,0 29,4 5,7 6,4 5,2 -2,3 30,8 4,1 -5,7 3,5 6,9 43,3 -3,7 8,5 5,0 42,6 8,4 -3,9 44,5 5,1 -0,0 2,0 5,3 52,6 0,3 52,0 2,3 4,6 4,7 0,6 51,6 1,3 6,4% 3 % 6 0% 2,4%
1 Durchschnittliche V e r a n d e r u n g gegeniiber dem Vorjahr in %. Die A n g a b e n fur 2004 beziehen sich auf den Zeitraum von S e p t e m b e r 2003 bis August 2004. 2 In %, J a h r e s d u r c h s c h n i t t . Die A n g a b e n fur 2004 beziehen sich auf den Zeitraum von S e p t e m b e r 2003 bis August 2004. 3 In % des BIP. P r o j e k t i o n der Dienste der Europaischen Kommission fur 2004. 4 F u r die HVPI-Inflation sowie den langfristigen Zinssatz bezieht sich der Referenzwert auf den Zeitraum von S e p t e m b e r 2003 bis August 2004 u n d fur den Finanzierungssaldo sowie die Bruttoverschuldung des Staates auf das J a h r 2003. Quelle: Europdische Zentralbank
(2004b),
S. 24
4.3 Einheitliche Geldpolitik im Eurosystem
125
Tabelle 4.4. Maastricht-Kriterien zweier EUlO-Staaten, 2005 Slowenien Litauen Schuldenstand
29,1 %
18,7 %
Haushaltsdefizit
1,8%
0,5%
ja
Wechselkursstabilitat Zinsstabilitat
3,8%
ja 3,7%
Preisniveaustabilitat
2,3%
2,7%
4.3 Einheitliche Geldpolitik i m E u r o s y s t e m Mit dem Vertrag von Maastricht wurden die Grundlagen fur die europaische Wahrungsunion beschlossen. 1998 wurden gemafi der Maastricht-Kriterien die aufzunehmenden Mitgliedstaaten und die Einfuhrung des Euro zum 01.01.1999 - zunachst nur fur den Interbankensektor (bargeldlose Zahlungsverkehr) - und dann zum 01.01.2002 als gesetzliches Zahlungsmittel im Eurosystem vereinbart. Wesentliches Kennzeichen der Wahrungsunion ist die einheitliche Geldpolitik, die als erstes skizziert werden soil. Entscheidendes Merkmal der einheitlichen Geldpolitik des Eurosystems ist der Tatbestand, dass die Teilnehmerstaaten ihre geldpolitische Autonomic an eine supranationale Einrichtung, die Europaische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt am Main, aufgegeben haben, so dass fur die Teilnehmerstaaten die Geldpolitik vergemeinschaftet worden ist. Die an der Wahrungsunion teilnehmenden Mitgliedstaaten bilden mit ihren Nationalen Zentralbanken (NZBen) und der EZB das Eurosystem und zusammen mit den NZBen der anderen Mitgliedstaaten der EU das Europaische System der Zentralbanken (ESZB). Wesentliches Merkmal einer einheitlichen Geldpolitik ist das Monopol der EZB bei der Schaffung und Vernichtung von Zentralbankgeld. Insbesondere wird von der EZB das Geldmengenziel und die Geldpolitik festgelegt. Mit dem ESZB andert sich die Orientierung bei den monetaren Zielen und Politiken bei der einheitlichen Geldpolitik. Sie orientiert sich an einheitlichen Grofien der gesamten Wahrungsunion. Dies bedeutet eine Orientierung an Durchschnittswerten und nicht an der spezifischen Situation einzelner Teilnehmerstaaten. Insbesondere kann sie sich nicht an den nationalen Inflationsraten und Beschaftigungsniveaus einzelner Teilnehmerstaaten ausrichten. Dies setzt die einheitliche Geldpolitik unter starken Druck, wenn wir eine sehr disparate Entwicklung dieser beiden Indikatoren feststellen, die eigentlich eine auf
126
4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
die spezifische Situation des einzelnen Staates ausgerichtete Geldpolitik notwendig macht. Dariiber hinaus verlangt die einheitliche Geldpolitik den Einsatz der gleichen geldpolitischen Instrumente. So kam vor der Wahrungsunion bei den Teilnehmerstaaten nicht der gleiche Instrumentenkasten zum Einsatz. Diese Staaten unterschieden sich bei den Instrument en, die sie zur Steuerung der Geldmenge einsetzen. Nicht in alien Staaten wurde z. B. das Steuerungsinstrument der Mindestreserve eingesetzt. Um aber eine Diskriminierung auszuschliefien und die gleiche Effizienz bei der Geldmengensteuerung in alien Teilnehmerstaaten zu gewahrleisten, ist ein Einsatz der gleichen Instrumente notwendig. Aber auch diese Anforderung reicht nicht fur eine einheitliche Geldpolitik. Hinzu kommt die Notwendigkeit des Einsatzes der Instrumente mit gleicher Intensitat. Beispielsweise miissen bei der Kreditvergabe der EZB an die Banken die gleichen Konditionen und Zinssatze im Euroraum, den Staaten des Eurosystems, gelten. Wenn z. B. unterschiedliche nominale Zinssatze bei der Euro-Kreditvergabe verlangt wurden, so kame es sofort zu Arbitrage-Geschaften und zu einer Nivellierung der Zinssatze. Die EZB ist deshalb gezwungen, einen einheitlichen Zinssatz im Euroraum zu verlangen. Eine einheitliche Geldpolitik gestaltet sich u m so schwieriger, je heterogener die wirtschaftliche Struktur im Euroraum ist, je starker sie von einem optimalen Wahrungsgebiet abweicht. Drei Problemfelder sollen im Folgenden kurz angesprochen werden: • • •
Realwirtschaftliche Divergenzen, Divergenzen im Transmissionsprozess, Inflationsdivergenzen.
Wahrend die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages auf monetare und fiskalische Konvergenz abstellen, ist die reale Konvergenz fur eine einheitliche Geldpolitik von immenser Bedeutung. Bei der realwirtschaftlichen Konvergenz geht es u. a. um den Entwicklungsstand der Teilnehmerstaaten, also u m das Realeinkommen pro Kopf, die Produktivitat, Produktionsstruktur, Export orient ierung usw. Dabei ist die Existenz eines gemeinsamen Konjunkturverbunds von Relevanz. Die realwirtschaftlichen Divergenzen werden zunehmen und an Bedeutung gewinnen, wenn weitere Mitglieder aus dem Kreis der EU8 aufgenommen werden. Von daher ist es bei der Beitrittsprufung wichtig, diesen Aspekt intensiver zu beriicksichtigen. Bei der Beurteilung der realwirtschaftlichen Divergenzen kommt der Sachverstandigenrat in seinem Gutachten 1998/99 zu dem Ergebnis, dass diese durchaus bestehen, sie sich aber in den letzten Jahren abgeschwacht haben. Nicht unerheblich sind die Divergenzen beim
4.3 Einheitliche Geldpolitik im Eurosystem
127
Transmissionsprozess monetarer Impulse. Dabei geht es insbesondere urn die Wirkungen der Geldmenge auf den realen Sektor (Produktion und Beschaftigung) als auch auf den monetaren Bereich (Inflationsrate). Bei diesem Transmissionsmechanismus monetarer Impulse treten schon deshalb unterschiedliche Effekte bei den Teilnehmerstaaten auf, da diese durch unterschiedliche Finanzierungs- und Finanzmarktstrukturen gekennzeichnet sind. So ist in Deutschland das Universalbankensystem besonders stark ausgepragt, wahrend in anderen Staaten des Euroraums das Trennsystem dominiert. Auch in den Eigenkapitalquoten unterscheiden sich die Teilnehmerstaaten sowie in der Finanzierung iiber Emissionen oder liber Kreditaufnahme. Bei der Untersuchung der Transmissionsmechanismen im Euroraum kommt erschwerend hinzu, dass es keinen einheitlichen Theorieansatz zur Analyse gibt. So greift der Sachverstandigenrat in seiner Analyse auf folgende konkurrierende Theorieansatze zuriick: den keynesianisch orientierten Zinsmechanismus und den mehr monetaristisch ausgerichteten Kredit- sowie den Wechselkursmechanismus. Betrachten wir exemplarisch den Zinsmechanismus, der dem bekannten IS-LM-Modell zugrunde liegt, so sind fiir die Divergenzen bei den monetaren Impulsen u. a. • • •
die Zinselastizitat der Geldnachfrage, die Zinselastizitat der Investitionsnachfrage und der Anteil der Investitionsnachfrage an der Gesamtnachfrage
ausschlaggebend. Je grofier der Anteil der Investitionsnachfrage an der Gesamtnachfrage ist, um so starker ist der monetare Impuls. Nun variiert aber nach der Analyse des Sachverstandigenrates diese Grofie im Euroraum zwischen 17% und 26%. Aber auch Unterschiede der Zinselastizitat der Investitionsnachfrage konnen dazu fiihren, dass die einheitliche Geldpolitik unterschiedliche Effekte in den Staaten des Euroraums bewirkt. Betrachtet man eine wichtige Komponente im Bereich der Investitionsnachfrage, das Baugewerbe, so schwankt nach den Ausflihrungen des Sachverstandigenrats die Zinselastizitat zwischen 4,3% in Frankreich und 7,8% in Spanien. Noch schwieriger sind die Auswirkungen iiber die Unterschiede in der Geldnachfrage zu prognostizieren, da die ersten Schatzungen iiber die Geldnachfrage im Euroraum durch den mit der Einfuhrung einer einheitlichen Geldpolitik verbundenen Strukturbruch noch zu keinen iiberzeugenden endgiiltigen Ergebnissen gefiihrt haben. Nicht nur in der Starke und Richtung divergiert der Transmissionsmechanismus. Eine einheitliche Geldpolitik wird insbesondere dann, wenn sie gezielt gegensteuern will, durch unterschiedliche time-lags im Transmissionsmechanismus erschwert. Liegt eine hohe Varianz in den
128
4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
time-lags vor, so kann der Extremfall eintreten, dass eine einheitliche Geldpolitik zu einem Zeitpunkt in einem Staat des Euroraums expansiv und in einem anderen restriktiv wirkt. Bei den Inflationsdivergenzen, die bei einem einheitlichen Nominalzins automatisch zu Unterschieden in den Realzinsen fiihren und damit sich unterschiedlich auf die Invest it ionsnachfrage auswirken, konnen wir theoretisch davon ausgehen, dass sie mit zunehmender Integration im Euroraum zuriickgehen. Welche Relevanz Inflationsdifferenziale haben, zeigt Tabelle 4.5 auf, wobei der HVPI den harmonisierten Verbraucherpreisindex darstellt. Tabelle 4.5. Abweichung der jahrlichen schnitt des Euroraumes Durchschnitt 1999 1999-2004 Belgien -0,1 0,0 Deutschland -0,7 -0,5 Griechenland 1,2 1,0 Spanien 1,0 1,1 Frankreich -0,2 -0,6 Irland 1,8 1,3 Italien 0,4 0,5 Luxemburg 0,5 -0,1 Niederlande 0,8 0,9 Osterreich -0,4 -0,6 Portugal 1,1 1,0 Finnland -0,3 0,2
HVPI-Teuerungsraten vom Durch2000 2001 2002 2003 2004 0,6 0,1 -0,7 -0,7 -0,4 -0,9 0,8 1,3 1,7 1,4 0,5 1,3 -0,3 -0,6 -0,3 3,2 1,6 2,5 0,5 0,0 0,3 1,7 0,1 -0,2 0,2 2,8 1,6 -o,i 0,0 -0,6 0,7 2,1 1,4 0,8 0,3 -0,2
-0,6 -1,0 1,4 1,0 0,1 1,9 0,7 0,5 0,2 -0,8 1,2 -0,8
-0,3 -0,4 0,9 0,9 0,2 0,2 0,1 1,1 -0,8 -0,2 0,4 -2,0
in Prozentpunkten Quelle: Eurostat und EZB-Berechnungen
Bemerkenswert war die Situation in 2000. Wahrend Deutschland u m -0,7 Prozentpunkte unter der durchschnittlichen Inflation im Euroraum lag, liberstieg der Wert in Irland den Durchschnitt u m 3,2 Prozentpunkte so dass hier die Differenz bei fast 4 Prozentpunkten lag. Bei einem hohen Integrationsgrad des Euroraums und insbesondere, wenn keine Transportkosten existieren, diirfen eigentlich nach dem Gesetz der Unterschiedlosigkeit der Preise von Jevons auf einem funktionsfahigem Markt keine Inflationsdifferenzen im E u r o r a u m vorliegen. Nun existieren aber Transportkosten und der Integrationsgrad im Euroraum ist immer noch steigerungsfahig, aber - was wesentlich wichtiger ist - es kommen weitere Faktoren hinzu. Inflationsdifferenzen sind auch zum Grofiteil „hausgemacht". Zu denken ist hier an die unterschiedliche
4.3 Einheitliche Geldpolitik im Eurosystem
129
Ausrichtung der Finanzpolitik sowie an Unvollkommenheiten auf den Giiter- und Arbeitsmarkten. So unterscheiden sich die Energiepreise in der EU aufgrund unterschiedlicher Unternehmenskonzentration und Marktmacht sowie nationalstaatlicher Regulierung erheblich. Auch der Lohnbildungsprozess und die Anpassungsflexibilitat des Arbeitsmarktes sind weder in der EU und noch im Euroraum einheitlich. Existieren im Euroraum in erheblichem Umfang lokale Giiter, die wie viele personliche Dienstleistungen vor Ort produziert werden miissen und sich daher vor dem internationalen Wettbewerb abschotten, so sind Inflationsunterschiede zu erwarten. Dieser Aspekt gewinnt im R a h m e n der EU-Osterweiterung an Bedeutung. Mit Hinweis auf das Balassa-Samuelson-Theorem wird argumentiert, dass mit dem Beitritt der EU8-Staaten die inflationaren Spannungen im Euroraum zunehmen werden, und deshalb gefordert, der en Beitritt zum Euro zuriickzustellen. Beim dem Theorem gehen wir davon aus, dass die Arbeitsproduktivitatssteigerungen bei lokalen Glitern geringer als bei den international gehandelten Glitern ausfallen. Des Weiteren unterstellt man, dass die aufholenden Lander ihre internationale Wettbewerbsfahigkeit sukzessive verbessern, so dass sie durch uberdurchschnittliche Produktivitatssteigerungen bei den handelbaren Giitern im Gegensatz zu den lokalen Giitern gekennzeichnet sind. Liegt ausreichende Arbeitskraftemobilitat zwischen beiden Arbeitsmarktsegmenten vor, so werden die Gewerkschaften annahernd gleiche Lohne in beiden Segmenten durchsetzen. Im Segment fur handelbare Giiter erzwingt der internationale Wettbewerb eine Lohnpolitik, die sich an der Entwicklung der Arbeitsproduktivitat der erstellten handelbaren Giiter orientiert. Wie im Kapitel „Lohnpolitik" ausfiihrlich erlautert wird, bedingt eine „produktivitatsorientierte Lohnpolitik" konstante Lohnstiickkosten und damit Preisniveaustabilitat fiir die handelbaren Giiter. Anders bei den lokalen Giitern. Hier fiihrt die Lohnpolitik: „Gleicher Lohn fiir gleiche Arbeit" dazu, dass die Lohne starker steigen als die Arbeitsproduktivitat. Dies fiihrt zu Lohnstiickkostensteigerungen und damit zu Preiserhohungen bei den lokalen Giitern. Dies bedingt Inflation, die u m so hoher ist, je grofier der Anteil der lokalen Giiter ist und um so starker die Produktivitatssteigerungen divergieren. Aus dieser Argumentation heraus ist zu erwarten, dass Inflationsunterschiede mit der Aufnahme der EU8-Staaten in den E u r o r a u m an Bedeutung gewinnen werden, da dort der Anteil lokaler Giiter recht hoch ist und die Unterschiede in den Produktivitatsentwicklungen erheblich sind.
130
4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
4.4 I n s t i t u t i o n e n des E S Z B Das ESZB besteht aus den NZBen der Mitgliedstaaten der EU und der EZB mit Sitz in Frankfurt am Main. Die EZB ist ein Organ der Gemeinschaft mit eigener Rechtspersonlichkeit. Die NZBen sind alleiniger Kapitalzeichner der EZB und damit auch Anteilseigner, sie sind aber andererseits weisungsabhangig von der EZB. Die Kapitalanteile bestimmen sich iiber den Anteil der Mitgliedstaaten an der Gesamtbevolkerung der Union und dem Anteil am Bruttoinlandprodukt der Gemeinschaft. Die Kapitalanteile werden alle funf Jahre neu bestimmt. Der Kapitalanteil Deutschlands liegt zur Zeit bei 2 1 % . Wahrend die Mitgliedstaaten des Eurosystem ihre vollen Kapitalanteile einbringen miissen, sind die nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten nur zu einer Einzahlung von 7% ihres Kapitalanteils verpflichtet. Dartiber hinaus stellen die Staaten des Eurosystems der EZB entsprechend ihrer Kapitalanteile Wahrungsreserven zur Verfiigung. Die Gewinne der EZB werden anteilig auf die NZBen ausgeschiittet. Das ESZB ist fur: • • • •
die Festlegung und Durchfuhrung der einheitlichen Geldpolitik sowie die Devisengeschafte, die Verwaltung der Wahrungsreserven und die Abwicklung des Zahlungsverkehrs
zustandig. Fur die EZB ergeben sich dabei u. a. folgende Aufgaben: • •
Kontrolle des Banknotenumlaufs, Aufsicht iiber die Kreditinstitute.
Die Entscheidungsorgane der EZB sind der R a t und der Erweiterte Rat, dessen Beschlusse vom Direktorium als ausfiihrendes Organ des ESZB umgesetzt werden. Das Direktorium wird vom Prasidenten geleitet, dem ein Vizeprasident zur Seite steht. Hinzu kommen weitere vier Direktoriumsmitglieder. Der President sowie das Direktorium werden von den Staats- und Regierungschefs auf Empfehlung des Rats, der dazu u. a. das Parlament anhort, im Einvernehmen ernannt. Die Amtszeit betragt 8 Jahre. Zur Wahrung einer ausreichenden Unabhangigkeit ist eine Wiederernennung ausgeschlossen. Die EZB hat Weisungsbefugnisse gegeniiber den NZBen, nicht aber gegeniiber den Mitgliedstaaten. Bei Vertragsverletzung steht der EZB nur der Klageweg zum E u G H offen. Wesentliche Voraussetzung dafiir, dass die EZB ihre Aufgabe
4.4 Institutionen des ESZB
131
der Sicherung des Geldwertes des Euro erfiillen kann, ist ihre Unabhangigkeit. Diese Unabhangigkeit der EZB ist auf mehreren Ebenen abgesichert: •
•
•
•
Erstens ist die funktionelle Unabhangigkeit zu nennen. Vorrangige Aufgabe des ESZB ist es, die Preisstabilitat (korrekter die PreismVeaustabilitat) zu gewahrleisten. Nur wenn eine Beeintrachtigung des Ziels der Preisstabilitat ausgeschlossen ist, hat das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik zu unterstlitzen. Dabei ist das ESZB dem Grundsatz einer „offenen Marktwirtschaft" verpflichtet. Zweitens ist eine institutionelle Unabhangigkeit gewahrleistet, indem die Organe des ESZB unabhangig von den Weisungen Dritter sind. Nur im Bereich der Wechselkurspolitik ist diese Unabhangigkeit eingeschrankt. So kann der Rat einstimmig auf Empfehlung der Kommission ohne Empfehlung der EZB formliche Vereinbarungen liber ein Wechselkurssystem festlegen. Wiirde er sich fur ein System fester Wechselkurse entscheiden, so ware damit die EZB ihres geldpolitischen Spielraums beraubt. Aufgrund ihrer Interventionspflicht zur Wechselkursstabilisierung kann sie dann weder eine expansive noch eine restriktive Geldpolitik betreiben. Drittens verfugt die EZB iiber eine personelle Unabhangigkeit. Diese ist durch die lange Amtszeit der nationalen Zentralbankprasidenten von mindestens 5 Jahren sowie des Direktoriums von 8 Jahren gesichert. Die personelle Unabhangigkeit des Direktoriums wird dadurch gestarkt, das ihre Mitglieder nicht ein zweites Mai ernannt werden konnen. Damit werden sie zum Ende ihrer Amtszeit nicht „erpressbar". Bei der Moglichkeit einer zweiten Amtszeit bestlinde die Gefahr, dass ein Mitglied des Direktoriums iiber Zugestandnisse an die politischen Entscheidungstrager seine nochmalige Ernennungschance zu verbessern versucht. Nur bei schwerwiegenden Griinden kann ein Mitglied des Direktoriums durch den E u G H seines Amtes enthoben werden. Eine zusatzliche Beschaftigung ist den Mitgliedern untersagt. Viertens besitzt das ESZB eine finanzielle Unabhangigkeit. Es ist mit ausreichenden Mitteln zur Erfullung seiner Aufgaben ausgestattet. Insbesondere besteht nicht die Moglichkeit, durch Kiirzung von zugewiesenen Mitteln das ESZB in seiner Aufgabenerfiillung zu beeinflussen, da insbesondere die Kapitalausstaatung der EZB nicht manipuliert werden kann und das ESZB durchweg Uberschusse erwirtschaftet.
Dem Rat der EZB gehoren das Direktorium und die Prasidenten der NZBen des Eurosystems an. Der Rat ist das oberste Beschlussorgan,
132
4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
das die Richtlinien der Geldpolitik und die Leitzinsen festlegt. Die nationalen Prasidenten diirfen sich zur Wiederwahl stellen und werden fur mindestens 5 J a h r e ernannt, so dass ihre Unabhangigkeit nicht so stark wie die des Direktoriums der EZB ist. Dem Erweiterten Rat gehoren der President und der Vizeprasident der EZB sowie alle Prasidenten der NZBen der EU an. Er dient im Wesentlichen zum Informationsaustausch.
4.5 Ziele u n d S t r a t e g i e n der einheitlichen Geldpolitik Wie oben erwahnt, ist es vorrangiges Ziel des ESZB, die Preisstabilit a t zu gewahrleisten „Soweit dies ohne Beeintrachtigung des Zieles der Preisstabilitat moglich ist, unterstiitzt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft (Art. 105 des EG-Vertrags)". Wahrend die Zielvorgaben fur die deutsche Bundesbank und fur das USamerikanische Federal Reserve System wesentlich flexibler formuliert worden sind, wird dem Ziel der Preisniveaustabilitat seitens der ESZB eine absolute Prioritat eingeraumt. Die Entwicklung des Geldwertes wird dabei am harmonisierten Verbraucherpreis-Index (HVPI) gemessen. Dieser beriicksichtigt die unterschiedlichen Konsumgewohnheiten in den Mitgliedstaaten, indem er alien Staaten den gleichen Warenkorb bei der Inflationsmessung vorgibt, wahrend die einzelnen Staaten die Gewichtungsanteile gemafi der Kaufgewohnheiten ihrer Bevolkerung festlegen. W a h r e n d in der Aufbauphase des ESZB ein Wert von 2% Inflation als kritische Hochstmarge von der EZB angesehen wurde, interpretiert die EZB heute einen Wert, der nahe bei 2% liegt, als Referenzwert flir ihre Geldpolitik. Des Weiteren orientiert sich die EZB am inner en und nicht am aufieren Wert des Euro. Die EZB sieht so keine Interventionsnotwendigkeit, wenn z. B. der Euro gegentiber dem USDollar unter Druck gerat. Die EZB sieht eine Handlungsnotwendigkeit, wenn iiber den direkten Preiszusammenhang inflationare Tendenzen durch eine Abwertung des Euro importiert werden. Die geldpolitische Strategic der EZB stellt ihr langfristiges Konzept zur Realisierung der Geldwertstabilitat dar. Dabei hat sich die EZB fiir eine Zwei-Saulen-Strategie ausgesprochen. Die erste Saule stellt das Geldmengenziel dar, ein Konzept, das seit 1973 die deutsche Bundesbank erfolgreich angewandt hat. Die zweite Saule ist ein direktes Inflationsziel, bei dem andere Faktoren als die Geldmenge als Bestimmungsgrofien der Inflationsrate die Grundlage fiir die Geldpolitik bilden. Die erste Saule des Geldmengenzieles ist sehr stark monetaristisch ausgerichtet. Dabei geht man davon aus, dass die Geldmenge zumin-
4.5 Ziele und Strategien der einheitlichen Geldpolitik
133
dest langfristig die entscheidende Determinante fur die Entwicklung des Preisniveaus darstellt. Bei der Operationalisierung des Geldmengenzieles orientiert sich die EZB an der Geldmenge M3, deren Komponenten in Tabelle 4.6 deutlich werden. M3 wurde gewahlt, da die EZB u. a. davon ausgeht, dass der Zusammenhang zwischen M3 und der Inflationsrate sehr eng ist und sie aufierdem eine Variable darstellt, die die EZB relativ gut steuern kann. Die Zielvorgabe fiir die Wachstumsrate der Geldmenge bestimmt die EZB anhand der Quantitatsgleichung M • V = P • y , wobei M die Geldmenge (M 3 ), V die Geldumlaufgeschwindigkeit, P das Preisniveau und Y das reale Volkseinkommen darstellen. In Wachstumsraten transformiert, erhalten wir dann die Beziehung: WM + w>v — WP + WY als Orientierungsgrofie fiir die Geldmengenpolitik. Die EZB legt bei der Bestimmung ihres Geldmengenzieles entsprechend der obigen Beziehung die langfristige Veranderungsrate der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, die erwartete Entwicklung des Preisniveaus und des realen Wachstums zugrunde und kam so in den letzten Jahren zu einem Referenzwert von 4,5% als angestrebte Wachstumsrate fiir M3. Wie aber Abb. 4.2 zeigt, hat die EZB diese Marge in den letzten Jahren erheblich iiberschritten. Tabelle 4.6. Ubersicht der monetaren Variablen
Ml Bargeldumlauf Taglich fallige Einlagen M2-M1 (=sonstige kurzfristige Einlagen) Einlagen mit vereinbarter Laufzeit von bis zu 2 Jahren Einlagen mit vereinbarter Kiindigungsfrist von bis zu 3 Monaten M2 M3-M2 (—marktfahige Finanzinstrumente) M3
Bestand in % JWR 2 ) 1 von M3 ) April 2006 48,2 9,8 7,4 12,2 9,4 40,8 37,9 9,0 16,5
16,2
21,5 86,1 13,9 100,0
3,9 9,4 5,4 8,8
1) Stande am Ende des letzten Monats, fiir den Daten vorliegen. Differenzen in den Summen durch Runden der Zahlen. 2) Jahreswachstumsrate. Quelle: Europaische Zentralbank (2006), S. 20
Anhand der Zielbestimmung der Geldmenge iiber die Quantitatsgleichung sowie der Konkretisierung der Bestimmungsgrofien wird deut-
134
4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB) Abbildung 4.2. Wachstum der Geldmenge M3 in der EWU satsonberdrsigt, Verinderung gegenOber Vorjahr
% monatlich 8,0
j/
f/
7,0
{
/VA.
/
i
I
7,5
\
\A
\
'\ \
••
t
*
*
-
6,5 /V
6,0 5,5
.< gteitender Durchschmtt uber J'/3rei Monate j
5,0
^ / y / V
t J
4,5 - —
Referenzwert: 4Vi% 4,0 \
.1 -^7
3,5 2001
2002
Quelle:
Deutsche
2003
Bundesbank
2004
(2006),
2005
2006
S. 27
lich, dass die EZB bei ihrer Geldmengenpolitik eine regelgebundene Politik verfolgt. Dabei betreibt sie sehr stark eine potenzialorientierte Politik, indem sie sich stark an der Entwicklung des Produktionspotenzials bei der Bestimmung des realen Wachstums orientiert. Eine erheblich andere Ausrichtung finden wir bei der zweiten Saule, dem direkten Inflationsziel, die nicht von einer demand-pull-Inflation, sondern von einer cost-push-Inflation ausgeht. Diese Saule ist starker diskretionar ausgerichtet. Anhand eines umfassenden okonometrischen Modells werden die Determinanten der Inflation von der Kostenseite her bestimmt und deren Entwicklung sowie die der Inflationsrate selbst prognostiziert und die Geldpolitik der EZB entsprechend ausgerichtet. Wesentliche Bestimmungsgrofien fur die Inflation sind dabei die Entwicklung der Lohne, Wechselkurse, der Zinsstruktur, der Auslastung des Produktionspotenzials, der nationalen Finanzpolitiken sowie die Erwartungsbildung im privaten Sektor. Dass sich die EZB nicht auf eine konsistente Strategic mit nur einer Saule verstandigen konnte, hat im Wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen verlangt eine ausschliefilich auf ein reines Geldmengenziel ausge-
4.5 Ziele und Strategien der einheitlichen Geldpolitik
135
richtete Strategie, dass der EZB eine stabile und empirisch gut gesicherte Geldnachfragefunktion zur Verfiigung steht. Diese war aufgrund des zu vermutenden Strukturbruchs im Vollzug der Einfuhrung des Euro, z. B. aufgrund geanderter Kassenhaltungsgewohnheiten, nicht gegeben. Tabelle 4.7. Geldpolitische Ziel- und Zwischenzielgrofien in der EU Land
Geldmengenziel Wechselkursziel Preisziel
Belgien/Luxemburg
-
X
Danemark
X
X
-
Deutschland
-
-
Finnland
-
-
X
Frankreich
X
X
-
Griechenland
X
-
-
Grofibritannien
-
-
X
Irland
-
X
-
Italien
X
-
-
Niederlande
-
-
X
-
Osterreich
-
X
-
Portugal
-
X
Schweden
-
Spanien
-
X
X
ESZB
X Quelle: • Duwendag
-
u. a. (1999),
•
X X
i?. 332
Hinzu kam, dass die EZB auf die Empfindlichkeiten der nationalen Zentralbanken Rucksicht nehmen musste. Wie die Ubersicht in Tabelle 4.7 deutlich macht, verfolgten die europaischen Zentralbanken drei unterschiedliche geldpolitische Ziele: Geldmengen-, Wechselkurs- und Preisziel-. Nur eine Ausrichtung auf ein Wechselkursziel stand fur die EZB nicht zur Diskussion, da eine solche Zielvorgabe eine Ausrichtung am aufieren Wert des Euro beinhaltet und diese Strategie nur fur ein kleines Land angemessen ist.
136
4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
4.6 I n s t r u m e n t e der einheitlichen Geldpolitik Mit ihrem Instrumentarium will das Eurosystem den Tagesgeldsatz steuern und dem privaten Sektor eindeutige politische Signale setzen. Dazu verfugt die EZB iiber ein breites Spektrum von Instrument en. Die EZB koordiniert den Instrumenteneinsatz, wahrend die NZBen den Einsatz durchfiihren. Die Instrumente der Geldpolitik des Eurosystems lassen sich in drei Bereiche aufteilen: • • •
Mindest reserve, Offenmarktgeschafte und standige Fazilitaten.
Bei den Mindestreserven muss der Bankensektor fur bestimmte Kundeneinlagen (u. a. taglich fallige Einlagen sowie Einlagen mit einer Laufzeit bzw. Kundigungsfrist von bis zu zwei Jahren und Schuldverschreibungen mit einer entsprechenden Laufzeit) Guthaben in Hohe von zur Zeit 2% ihrer Einlagen bei den NZBen halten. Damit der Bankensektor im Eurosystem im Vergleich zu seinen internationalen Konkurrenten nicht benachteiligt wird, wird das Mindestreserve-Soll zum Durehschnittszinssatz ftir die Hauptrefinanzierungsgeschafte verzinst. Dieser liegt sehr eng bei dem Tagesgeldsatz. Die Hauptrefinanzierungsgeschafte stellen die wichtigste Komponente bei den Offenmarktgeschaften dar, die in Tabelle 4.8 dargestellt sind. Bei ihnen geht die Initiative von der Zentralbank aus, indem sie den Banken entweder befristete Transaktionen oder endgultige Kaufe anbietet. Hauptrefinanzierungsgeschafte dienen der Liquiditatsbereitstellung. Die Zentralbank stellt den Banken Liquiditat zur Verfugung, indem sie refinanzierungsfahige Wertpapiere fur eine Woche beleiht oder diese Wertpapiere mit der Riickkaufvereinbarung nach einer Woche kauft. Die zeitliche Befristung flihrt dazu, dass den Banken nur fur eine Woche Liquiditat zugefuhrt wird. Anders ist es bei den strukturellen Operationen und den Feinsteuerungsoperationen, bei denen die Zentralbank auch definitive Kaufe zur Liquiditatsbereitstellung vornimmt oder mit definitiven Verkaufen Liquiditat abschopft. Des Weiteren sind die Hauptrefinanzierungsgeschafte standardisiert. Sie finden nicht nur in einem festen Zeitrhythmus statt, sondern auch das Versteigerungsverfahren (Tender) ist genau vorgegeben. Bei den Hauptrefinanzierungsgeschaften wendet die Zentralbank in den letzten Jahren nur noch einen Zinstender nach amerikanischem Verfahren an. Danach gibt die Zentralbank einen Mindestbietungssatz an, den die Banken bei ihren Angeboten ftir ihre Liquiditatsversorgung nicht unterschreiten dtirfen. Dieser Mindestbietungssatz ist der wichtigste Leitzinssatz im Eurosystem.
4.6 Instrumente der einheitlichen Geldpolitik
137
Tabelle 4.8. Geldpolitische Geschafte T r ansakt ionsar t
Laufzeit
Rhythmus
• Eine Woche
• Wochentlich
Geldpolitische LiquiditatsLiquiditatsGeschafte bereitstellung abschopfung Offenmarktgeschafte Hauptfinanzierungsgeschafte
• Befristete Transaktionen
• Drei Monate) • Monatlich
• Befristete Langerfristige Refinanzierungs- - Transaktionen geschafte Feinsteuerungs- • Befristete operationen Transaktionen • Devisenswaps
1}
• Nicht stan- • Unregelmadardisiert fiig
• Devisenswaps • Hereinnahme von Termineinlagen • Befristete Transaktionen L
Strukturelle Operationen
• Endgiiltige Verkaufe
• Endgiiltige Verkaufe
• Befristete Transaktionen
• Emission von Schuldverschreibungen
• Standardi- • Regelmafiig siert / nicht und unregelstandardisiert mafiig
Standige Fazilitaten • Uber Nacht • Inanspruchnahme auf Initiative der Geschaftspartner
Spitzen• Befristete refinanzierungs- Transaktionen fazilitat
Einlagefazilitat
• Einlagen
• Uber Nacht • Inanspruchnahme auf Initiative der Geschaftspartner
1) Seit 10. Marz. Davor zwei Wochen. Quelle:
Europaische
Zentralbank
(2004),
S- 78
138
4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
Beim Zinstender beinhalten die Gebote der Banken Volumina sowie dazugehorige Zinsofferten. D. h. eine Bank mochte X\ Mio. E U R zum Zinssatz Y\ sowie X2 Mio. E U R zum Zinssatz I2 usw. Die EZB arbeitet die Offerten von oben nach unten ab. Es werden zuerst die Offerten mit dem hochsten Zinsangebot abgearbeitet. Die Zentralbank arbeitet die Offerten solange ab, bis bei einem Zinssatz die Nachfrage der Banken dem von der Zentralbank vorgegebenen Liquiditatsvolumen entspricht bzw. es erstmalig iibersteigt. Der sich dabei ergebende Zinssatz stellt den marginalen Zuteilungssatz bei den Hauptrefinanzierungsgeschaften dar. Bei den Zinsofferten der Banken wird den Banken Liquiditat nach dem amerikanischen Verfahren zu den Zinssatzen zur Verfiigung gestellt, die die Banken bei ihrer Offerte selbst vorgegeben haben, und nicht wie beim hollandischen Verfahren zum marginalen Zuteilungssatz. W a h r e n d bei den Offenmarktgeschaften die EZB die Banken zu einem Angebot auffordert, bietet das Eurosystem den Banken zwei standige Fazilitaten an, die von den Banken autonom liber Nacht in Anspruch genommen werden konnen. Die Banken konnen sich iiber die Spitzenrefinanzierungsfazilitat kurzfristig Liquiditat iiber Nacht besorgen bzw. iiber die Einlagefazilitat iiberschiissige Liquiditat anlegen. Beide Optionen sind fur die Banken nicht besonders attraktiv, da bisher der Zinssatz fur Spitzenrefinanzierungsfazilitaten 1% iiber und der der Einlagefazilitat 1% unter dem Mindestbietungssatz lagen, wie dies aus Abb. 4.3 ersichtlich wird. Der Mindestbietungssatz-, der Spitzenrefinanzierungs- und der Einlagesatz bilden die drei Leitzinssatze des Eurosystems.
4.6 Instrumente der einheitlichen Geldpolitik Abbildung 4.3. Notenbankzinsen und Tagesgeldsatz Tageswerte
J
3,50
5,25 Spitzenrefmanzierungssatz
2,50
2,25
2,00
1,75
1,50
marginaier Zutetfungssatz^
1,25 Einlagesatz
2004
2005
2006
1 Zlnssatz der Hauptrefmanzierungsgeschafte, Quelle: Deutsche Bundesbank (2006): Geschaftsbericht
2005, S. 21
139
140
4 Europaisches System der Zentralbanken (ESZB)
Literatur •
• • •
• • • • •
•
Artis, M. (1994): European Monetary Union, in: M. Artis, N. Lee (Hrsg.), The Economics of the European Union, Oxford, S. 346 367. Deutsche Bundesbank (2006): Geschaftsbericht 2005, Frankfurt. DIW u. a. (1997): Friihjahrsgutachten 1997, in DlW-Wochenbericht, S. 281 - 320. Duwendag, D./Ketterer, K.-H./K6sters, W . / P o h l , R./Simmert, D. B. (1999): Geldtheorie und Politik in Europa, 5. Aufl., Berlin u. a., S. 1 - 26 u. S. 314 - 363. Europaische Zentralbank (2004a): Die Geldpolitik der EZB, Frankfurt am Main. Europaische Zentralbank (2004b): Konvergenzbericht 2004, Frankfurt a. Main. Europaische Zentralbank (2006): EZB-Monatsbericht, Nr. 6. Gorgens, E./Ruckriegel, K./Seitz, F . (2004): Europaische Geldpolitik, 4. Aufl., Stuttgart. Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1998): Jahresgutachten 1998/99: Vor weitreichenden Entscheidungen, Abschnitt: Transmissionskanale der gemeinsamen Geldpolitik, Ziff. 261 - 265. Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2001): Jahresgutachten 2001/2002: F u r Stetigkeit gegen Aktionismus, Abschnitt: Inflationsdifferenzen im Euro-Raum, S. 424 - 443.
5
Europaische Kohasionspolitik
Schon in der Praambel des EWG-Vertrages von 1957 erklaren die Unterzeichnerstaaten ihren Willen „ihre Volkswirtschaften zu vereinigen und deren harmonische Entwicklung zu fordern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Riickstand weniger begiinstigter Gebiete verringern". Entscheidende Grundlage fur diese Kohasionspolitik bildet der Art. 158, der 1986 mit der Einheitlichen Europaischen Akte in den EG-Vertrag aufgenommen wurde. Die Kohasionspolitik der Gemeinschaft wurde schrittweise ausgeweitet. Wahrend 1973 erst 5% der Haushaltsmittel daftir ausgegeben wurden, erhohte sich mit der Suderweiterung der EU das Volumen auf uber 31% und heute ist sie nach den Agrarausgaben der zweitwichtigste Ausgabenbereich der Gemeinschaft. Die Notwendigkeit der Kohasion liegt nach Ansicht der Kommission in der immer noch existierenden disparaten Entwicklung der EU begriindet: Das BIP der zehn reichsten Regionen der EU15 war Ende der 90er Jahre dreimal so hoch wie das der zehn armsten Regionen. Die Arbeitslosenquote der zehn armsten Regionen war um das Siebenfache hoher als die der Erstgenannten. Die Kohasionspolitik der Gemeinschaft ist, um alien Akteuren Planungssicherheit zu verschaffen, langfristig ausgerichtet. Um die Ziele der Kohasionspolitik zu realisieren, hat die EU Fonds aufgelegt. Den wichtigsten Fonds stellt der Strukturfonds dar, der zur Finanzierung „struktureller" Mafinahmen dient, mit denen Entwicklungsunterschiede zwischen den einzelnen Regionen verringert werden sollen. Der Strukturfonds umfasst weitere Fonds, die in Abb. 5.1 dargestellt sind. Wenden wir uns zunachst den Strukturfonds zu. Die Forderung erfolgt hierbei in Form nicht riickzahlbarer Zuschusse. Voraussetzung fiir die Inanspruchnahme von Fordermitteln ist, dass die Mitgliedstaaten gemeinsam mit der Kommission Entwicklungsprogramme aushandeln
142
5 Europaische Kohasionspolitik Instrumente der Kohasionspolitik
Kohasionsfonds
Europaischer Fonds fur regionale Entwicklung (EFRE)
Strukturfonds
Europaischer Sozialfonds (ESF)
Solidaritatsfonds
Europaischer Ausrichtungs- und Garantiefonds fur die Landwirtschaft (EAGFL) Abteilung Ausrichtung
Finanzinstrument fiir die Ausrichtung der Fischerei (FIAF)
A b b i l d u n g 5 . 1 . Instrumente der Kohasionspolitik
und beschliefien. Dies erfolgt meist in Form eines Gemeinschaftlichen Forderprogramms (GFK) als Rahmenprogramm und der darauf aufbauenden Operationellen Programme (OP). Als Alternative bietet sich ein Einheitlich.es Programmplanungsdokument (EPPD) an, das das GFK und die OP umfasst. Bei der Vergabe der Fordermittel richtet sich die EU an drei Zielen aus: •
Ziel 1: Entwicklung und strukturelle Anpassung der Regionen mit Entwicklungsriickstand, • Ziel 2: Wirtschaftliche und soziale Umstellung der Gebiete mit Strukturproblemen, • Ziel 3: Anpassung und Modernisierung der Bildungs- und Beschaftigungspolitiken und -systeme. Wahrend das Ziel 3 nur eine horizontale Ausrichtung beinhaltet, nach der generell alle Regionen in Problemsituationen Strukturfondsmittel in Anspruch nehmen konnen, beinhalten Ziel 1 und Ziel 2 eine regionale Ausrichtung der Strukturfonds. Entsprechend wird nach diesen beiden Zielen zwischen Ziel-1 und Ziel-2-Gebieten differenziert. Fiir die Ziel-1-Gebiete gibt es klare Abgrenzungsregeln: Sie umfassen die Regionen, deren Bruttoinlandprodukt (BIP) unter 75% des Gemeinschaftsdurchschnitts liegt. Fiir den Zeitraum 2000 - 2006 wurden rund 50 Regionen, die 22% der europaischen Bevolkerung umfassen, als Ziel-1-Gebiet klassifiziert. Ziel-2-Gebiete sind mit Struktur- und
5 Europaische Kohasionspolitik
143
Anpassungsproblemen konfrontierte Regionen. Sie werden in gemeinsamer Absprache zwischen Kommission und dem jeweiligen Mitgliedstaat festgelegt. Um das Prinzip der Subsidiaritat zu wahren und die Eigenverantwortung der Regionen zu starken, sehen die Strukturfonds nur eine Kofinanzierung durch die E U vor. F u r Ziel-1 gilt im Prinzip eine maximale Kofinanzierung von 75% und fur Ziel-2 und Ziel-3 von 50%. Diese Hochstsatze werden aber projektbezogen nach unten angepasst. Bei der Forderung von Unternehmen gilt der Hochstsatz von 35% in Ziel-1-Gebieten und 15% in Ziel-2-Gebieten bei der Kofinanzierung. Bei Infrastrukturmafinahmen, die primar im offentlichen Interesse sind und mit denen keine erheblichen Einnahmen verbunden sind, gilt dagegen die jeweilige Hochstforderung bei der Kofinanzierung. Die Aufgabe der Verwaltung der Strukturfondsmittel liegt bei den Mitgliedstaaten. Sie - und nicht die Regionen - sind gegeniiber der Kommission fur die ordnungsgemafie Durchfiihrung der Programme verantwortlich. In foderalen Mitgliedslandern - wie der Bundesrepublik Deutschland - werden viele Aufgaben von den Mitgliedstaaten an die niedrigere politische Einheit (Bundeslander) delegiert, die wiederu m eine Verwaltungsbehorde (Fondsverwalter) mit der Mittelverwalt u n g beauftragen. Diese Verwaltungsbehorde erstellt jedes J a h r einen Durchfiilirungsbericht fur die Kommission, die die Umsetzung der Programme liberpruft, u. U. Korrekturen einfordert und sogar eine Riickzahlung von Mitteln einfordern kann. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Halbzeitbewertung, die als Grundlage fiir die Zuweisung der leistungsgebundenen Reserve dient. Neben der Verwaltungsbehorde werden fiir jedes Programm Begleitausschiisse als politische Einheiten eingerichtet, in denen die Kommission einen Sitz mit beratender Stimme hat. Sie entscheiden letztlich liber Programmanpassungen und genehmigen u. a. die Auswahlkriterien fiir die konkreten Projekte. Der wichtigste Fonds innerhalb der Strukturfonds ist der E F R E (siehe Abb. 5.1). Dessen Zielsetzung ist, Ungleichgewichte zwischen Regionen oder sozialen Gruppen abzubauen und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der EU zu fordern. Dazu werden hauptsachlich folgende Mafinahmen gefordert: • • •
Produktive Investitionen zur Schaffung oder Sicherung von Arbeitsplatzen, Infrastruktur, Lokale Entwicklungsinitiativen und Unterstiitzung der Tatigkeit von Kleinen und Mittelstandischen Unternehmen (KMU).
144
5 Europaische Kohasionspolitik
Daraus ergeben sich fiir die beiden durch E F R E finanzierten ZielGebiete folgende Aktionsschwerpunkte: In den Ziel-1-Gebieten liegt der Schwerpunkt auf der Verringerimg des Entwicklungsriickstandes. Hingegen konzentriert sich die Forderung in den Ziel-2-Gebieten auf die Diversifizierung der wirtschaftliehen Aktivitaten und auf die Ansiedlung von Unternehmen in einem attraktiven Umfeld. Wesentlicher Schwerpunkt des E S F wiederum ist die Forderung der Humanressourcen. Mit den ESF-Mitteln will man • • • •
Personen im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung unterstiitzen, Beschaftigungshilfen gewahren, die Bildungs- und Ausbildungsstruktur verbessern und Chancengleichheit fur Frauen und Manner schaffen.
Die ESF-Mittel werden meist zur Kofinanzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik herangezogen und konnen in alien Ziel-Gebieten eingesetzt werden. Zu erwahnen ist noch der Europaische Ausrichtungs- und Garantiefonds fiir die Landwirtschaft (EGFL-Abteilung Ausrichtung). Mit diesem werden die Strukturreformen in der Landwirtschaft und die Entwicklung des landlichen Raums gefordert. Des Weiteren gehort das Finanzinstrument fiir die Ausrichtung der Fischerei (FIAF) zu den Strukturfonds. Dieses Instrument dient zur Forderung der Strukturreformen in der Fischerei. Dariiber hinaus existieren sogenannte Gemeinschaftsinitiativen, die liber die Strukturfonds finanziert werden und spezifischen Problemlosungen dienen. Das Programm Interreg III soil die Zusammenarbeit zwischen den Regionen der EU fordern und wird aus EFRE-Mitteln finanziert. Die Gemeinschaftsinitiative Urban II, die auch auf E F R E Mitteln beruht, konzentriert sich auf den dauerhaften Abbau stadtischer Krisengebiete. Equal hat sich zum Ziel gesetzt, gegen die Diskriminierung und Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu kampfen. Diese Initiative wird durch den E S F finanziert. Hingegen wird die Gemeinschaftsinitiative Leader+ mit Mitteln der E A G F L finanziert und dient der landlichen Entwicklung durch innovative lokale Projekte. Der Kohasionsfonds ist 1994 eingerichtet worden, um den strukturschwachen Mitgliedstaaten die Erfiillung der Maastricht-Kriterien und den Beitritt in die Wahrungsunion zu erleichtern. Forderfahig sind Mitgliedstaaten, deren Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf unter 90% des EU-Durchschnitts liegt und die die Bedingungen des Stabilitatsund Wachstumspaktes (3%-Verschuldungs-Kriterium) erfiillen. Die vier Mitgliedstaaten Spanien, Griechenland, Portugal und Irland erhielten
5.1 Die Neuausrichtung der Kohasionspolitik 2007-2013
145
eine Forderimg durch den Kohasionsfonds. Da aufgrund des rasanten Aufschwungs in Irland zu Beginn dieses Jahrzehntes das Pro-Kopf-BIP liber dem EU-Durchschnitt anstieg, sehied es 2004 aus der Forderung durch den Kohasionsfonds aus. Durch die EU-Osterweiterung erweiterte sich der Kreis der Mitgliedstaaten, die Anspruch auf die Kohasionsfondsmittel haben, um die 10 Beitrittstaaten sowie urn Bulgarien und Rumanien. Mit dem Kohasionsfonds werden grofiere Projekte im Bereich der Umwelt- und Verkehrsinfrastruktur gefordert. Der maximale Kofinanzierungssatz ist mit 85% hoher als der des EFRE. Aufgrund der Uberschwemmungen in Deutschland, Osterreich, der Tschechischen Republik und Frankreich 2002 wurde der Solidaritatsfonds mit einem jahr lichen Volumen von lMrd.EUR eingerichtet. Er dient der Hilfe fur Mitgliedstaaten, die eine Naturkatastrophe erlitten haben. Anspruch auf Mittel aus dem Fonds haben Mitgliedstaaten, deren Schaden mehr als 3 Mrd. EUR oder mehr als 0,6% ihres BIP betragt. Abschliefiend seien noch die Heranfuhrungshilfen erwahnt, die fur die ehemaligen Beitrittskandidaten der EU-Osterweiterung (EU10) sowie Bulgarien und Rumanien geschaffen wurden. Das Programm Phare diente der Finanzierung der Reform der Verwaltungen und Justizbehorden, das Programm SAPARD als Hilfe fur die Landwirtschaft, und der Fonds ISPA dem Ausbau der Infrastruktur (Umwelt und Verkehr).
5.1 Die Neuausrichtung der Kohasionspolitik fur den Zeitraum 2007 - 2013 Mit der EU-Osterweiterung ergeben sich ganz neue Herausforderungen fur die Kohasionspolitik der Gemeinschaft. Erstens nehmen die Disparitaten in der EU erheblich zu. Diese Disparitaten existieren in enormem Umfang sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf der der Regionen. In 2003 lag das Pro-KopfBIP (gemessen in Kaufkraftparitaten) in Lettland bei 41% des EUDurchschnitts, in Luxemburg jedoch bei 215%. In alien neuen Mitgliedstaaten belauft sich das Pro-Kopf-BIP auf weniger als 90% des EU25Durchschnitts, so dass alle neuen Mitgliedslander Anspruch auf Mittel aus dem Kohasionsfonds haben. Diese Diskrepanzen werden noch grofier, wenn man die Unterschiede anhand der gegebenen Wechselkurse misst. Auf der Ebene der Regionen stellt sich die Situation ebenfalls dramatisch dar. Nach der letzten vorliegenden Berechnung verfugen die zehn wohlhabendsten Regionen liber ein Pro-Kopf-BIP von 189% des EU-Durchschnitts, hingegen die zehn am wenigsten wohlhabenden Regionen iiber ein Pro-Kopf-BIP von 36%. 90% der Bevolkerung der
146
5 Europaische Kohasionspolitik
neuen Mitgliedslander wohnt in Regionen, in denen das Pro-Kopf-BIP unter 75% des EU-Durchschnitts liegt, so dass fast alle Regionen der neuen Mitgliedstaaten den Ziel-1-Gebieten zuzuordnen sind. Zweitens sinkt das Durchschnittseinkommen in der EU, da das ProKopf-Einkommen in den neuen Mitgliedslandern erheblich niedriger als in der EU15 ist. Drittens verschieben sich die regionalen Schwerpunktbereiche der Forderung. Wurden bisher die siidlichen Regionen der EU und die neuen Bundeslander durch die EU gefordert, so verlagert sich der Bedarf an Forderung schwerpunktmafiig in die Regionen der neuen EUMitgliedstaaten. Viertens: Aufgrund des unzureichenden wirtschaftlichen Wachstums in der EU - insbesondere in den EU15 - ist die Bereitschaft bei den Mitgliedstaaten nicht gegeben, durch eine Erhohung der Kohasionsmittel den neuen Herausforderungen zu begegnen. Die Nettozahler fordern eine Reduzierung des EU-Budgets auf 1% des Bruttonationaleinkommens der EU. Hingegen legt die Kommission ihren Vorschlagen einen Anteil von 1,14% zugrunde, der immer noch geringer ist als die verordnete Obergrenze von 1,24%. Fiinftens: Durch das vorab festgelegte Budget des EAGFL, das zirka 40% des EU-Haushaltes betragt, kann der finanzielle Spielraum fur die Kohasionspolitik durch eine Umschichtung im Haushalt nur in geringem Umfang erweitert werden. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, hat die Kommission im Juli 2004 Vorschlage zur Reform der Kohasionspolitik unterbreitet. Obwohl die Herausforderungen immens sind und die Erfolge der bisherigen Kohasionspolitik eher bescheiden waren, hat die Kommission bei ihren Vorschlagen fur den nachsten Haushaltsrahmen von 2007 2013 die Chance verpasst, eine grundlegende Neuausrichtung der Kohasionspolitik vorzunehmen. Dies ist aber aufgrund des engen finanziellen Rahmens verstandlich, da in der EU grundlegende Regimewechsel nur mit entsprechenden Kompensationszahlungen realisierbar sind, fur die zur Zeit der Geldgeber fehlt. Die Kommission schlug fur den Zeitraum 2007 - 2013 ein Budget far die Kohasionspolitik von 336,1 Mrd. E U R vor. Dies entsprach gut 40% des Haushaltes. Dabei muss berucksichtigt werden, dass die Abteilung Ausrichtung des E A G F L und des FIA F aus den Strukturfonds herausgenommen und sinnvoller Weise der Agrarpolitik zugeordnet worden sind. Im Vergleich zu den in 2000 2006 veranschlagten Kohasionsmitteln von 213 Mrd. E U R ware dies ein durchaus bemerkenswerter Zuwachs, der den neuen Herausforderungen aber nur eingeschrankt gerecht wird.
5.1 Die Neuausrichtung der Kohasionspolitik 2007-2013
147
Dieser Vorschlag ist auf dem Gipfel im Dezember 2005 vom E u r o paischen Rat abgelehnt worden; der Rat einigte sich einstimmig auf ein Volumen vom 307,6 Mrd. EUR. Da aber der Finanzrahmen eine interinstitutionelle Vereinbarung darstellt, der der Rat, das Parlament und die Kommission zustimmen miissen, scheiterte der Kompromiss an der Ablehnung durch das Parlament. Erst im Friihjahr 2006 konnten sich Rat und Parlament iiber den Finanzrahmen einigen, indem sie auf Vorschlag des Parlaments eine Aufstockung der Strukturfondsmittel auf 308,041 Mrd. EUR vereinbarten. Dieser Kompromiss wurde dann vor der Kommission in der entsprechenden Strukturfondsverordnung umgesetzt. Um mit Blick auf die integrierten Leitlinien fur Wachstum und Beschaftigung die Effizienz der Kohasionspolitik zu steigern und die Mittel zielgerichteter einzusetzen, wurde eine qualitative Anderung der Forderkulisse vorgenommen, die sowohl eine Revision der Ziele als auch der Zuweisung der Instrumente und eine Neubestimmung der Forderfahigkeit beinhaltet. Die drei Hauptziele der Strukturfonds: Ziel 1 (Regionen mit Entwicklungsruckstand), Ziel 2 (vom Strukturwandel betroffene und mit Anpassungproblemen behaftete Gebiete), Ziel 3 (Bildungssysteme und Beschaftigungsforderung) werden durch die drei Ziele: Konvergenz, Regionale Wettbewerbsfahigkeit und Beschaftigung sowie Europaische territorial Zusammenarbeit ersetzt. Alle anderen Ziele der Kohasionspolitik werden diesen neuen Zielen zugeordnet, so dass sich die Ziele der Kohasionspolitik - wie in Tabelle 5.1 dargestellt - auf drei Ziele reduzieren. Bis auf das neue Ziel „Europaische territoriale Zusammenarbeit" stellen die anderen beiden neuen Ziele mehr oder weniger eine reine Umbenennung von Ziel 1 und Ziel 2 dar, so dass man zunachst nicht von einer inhaltlichen Neuausrichtung der Kohasionspolitik sprechen kann. Die damit einhergehende Reduzierung der Ziele der Kohasionspolitik von neun auf drei Ziele ist aber durchaus sinnvoll, da sich die bisherigen Ziele liberschnitten. Bemerkenswert ist die getroffene Zuordnung der Instrumente. Das Ziel Konvergenz soil nur noch durch den EFRE, den ESF und den Kohasionsfonds finanziert werden, da sich der Bereich Landwirtschaft und Fischerei auf agrarpolitische Aufgaben konzentrieren soil. Bei dem Ziel Regionale Wettbewerbsfahigkeit und Beschaftigung, das nur in Regionen zum Tragen kommen soil, die nicht nach dem Ziel Konvergenz gefordert werden, kommen die beiden Fonds EFRE und ESF zum Einsatz, wobei im Gegensatz zum EFRE die ESF-Mittel sowohl fur regionale als auch fur nationale Program-
148
5 Europaische Kohasionspolitik
T a b e l l e 5 . 1 . Kohasion 2007-2013: Von der Kommission vorgeschlagene Ziele und Instrumente 2000-2006
2007-2013
Ziele
Finanzinstrumente
Ziele
Finanzinstrumente
Kohasionsfonds
Kohasionsfonds
Konvergenz
EFRE
Ziel 1
EFRE
ESF
ESF
Kohasionsfonds
EAGFL Garantie und Ausrichtung FIAF Ziel 2
EFRE
Regionale Wettbewerbsfahigkeit und Beschaftigung
ESF
- regionale Ebene
Ziel 3
ESF
- nationale Ebene: ESF Europaische Beschaftigungsstrategie
EFRE
Interreg
EFRE
Europaische territoriale Zusammenarbeit
URBAN
EFRE
EQUAL
ESF
Leader+
EAGFL Ausrichtung
EFRE
Entwicklung des EAGFL Garanlandlichen R a u m s tie und Umstrukturierung des Fischereisektors aufierhalb von Ziel 1 FIAF 9 Ziele
6 Instrumente 3 Ziele Quelle: Europaische
Kommission
3 Instrumente
5.1 Die Neuausrichtung der Kohasionspolitik 2007-2013
149
me gemafi der Europaischen Beschaftigungsstrategie (EBS) verwendet werden sollen. Die grofite Bereinigung findet iiber die neue Zielvergabe „Europaische territoriale Zusammenarbeit" statt. Hier werden die Gemeinschaftsinitiativen aufgegeben. Kern dieser Reform ist aber eigentlich die Uberfiihrung der bisherigen Gemeinschaftsinitiative Interreg in die neue Zielsetzung. Da die neun von der Kommission angefiihrten Ziele im eigentliehen Sinne nur drei echte Ziele der Kohasionspolitik beinhalteten, wird aus der Tabelle 5.1 deutlich, dass bei der neuen Ausrichtung mehr das Motto gilt: „Alter Wein in neuen Sehlauchen". Grofieren politischen Ziindstoff beinhalten die Reformvorschlage der Kommission zur Definition der Forderfahigkeit. Dabei geht es in erster Linie um das Ziel der Konvergenz. Die Kommission schlagt vor, dass die Regionen weiter im Rahmen des Konvergenzzieles gefordert werden sollen, die das 75% Kriterium erfullen. Das hat erstens zur Folge, dass sich fairerweise die Mittel auf die neuen Mitgliedslander konzentrieren mussen, da dort der iiberwiegende Teil der anspruchsberechtigten Regionen liegt. Zweitens werden sich die bisherigen Ziel-1-Gebiete der EU15 bei den Budgetplanungen der Kommission insgesamt schlechter stellen, da sie an die neuen forderberechtigten Regionen Fondsmittel abgeben mussen. Besonders betroffen sind drittens die Regionen, die im Rahmen der EU15 weiter das 75%Kriterium erfullen, die aber in der EU25 iiber 75% des nun niedrigeren EU25-Durchschnitts liegen. In Abb. 5.2 wird dieser statistische Effekt deutlich, der sich auf die einzelnen Regionen entsprechend auswirkt. Dadurch, dass zehn relativ einkommensschwache Staaten der EU beigetreten sind, ist das Durchschnittseinkommen der EU gesunken. Regionen, wie z. B. der siid-westliche Teil Brandenburgs und Teile Sachsens, die vor der EU-Osterweiterung mit ihrem Pro-Kopf-BIP knapp unter den 75% des EU15-Durchschnittseinkommens lagen, tibersteigen nun mit ihrem Pro-Kopf-BIP die 75% Marge des Durchschnittseinkommens der EU25 nach der Osterweiterung. Da sich fur diese, dem statistischen Effekt unterliegenden Regionen durch die Osterweiterung die wirtschaftliche Situation nicht verbessert hat, ware es fur diese Regionen inakzeptabel, fielen sie aus der Konvergenzforderung heraus. Deshalb sieht die Kommission vor, diese „Phasing-out" Regionen vorlibergehend, spezifisch und degressiv bis 2013 zu fordern. Ansonsten soil das 75%-Kriterium bei dem Ziel Konvergenz uneingeschrankt angewendet werden. Dies gilt analog beim 90%-Kriterium fur die Mittel aus dem Kohasionsfonds. Beim Ziel „Regionale Wettbewerbsfahigkeit und Beschaftigung" konnen nur Regionen aufierhalb des Ziels Konvergenz gefordert werden. Dabei sollen die alten Verfahren der Ziel-2-
150
5 Europaische Kohasionspolitik 5000 I
25000 J
15000 _ J
35000 I
45000 I
55000 I
Belgien I Danemark I Deutschland I Griechenland I Spanien I Frankreich I Irland I Italien I 54 000
Luxemburg I Niederlande I Osterreich I Portugal I Finnland | Schweden Vereinigtes Konigreich Durchschnitt EU25 Zypern Tschechische Republik Estland Ungarn Lettland Litauen
Slowakei
EU15
U S ' 0(D J15 900 J11 600 H 13 600 J 9 700 310 800
Malta Polen
Durchschnitt
115 700 111 100 112 000
Slowenien
17 900 10000
\ 20000
30000
\ 40000
I
50000
Quelle: Eurostat, Berechnungen GD Regio
A b b i l d u n g 5.2. B I P pro Kopf (KKS), 2004
5.1 Die Neuausrichtung der Kohasionspolitik 2007-2013
151
Forderung weiter zum Tragen kommen. Bisherige Ziel-1-Gebiete, die aufgrund ihrer positiven wirtschaftlichen Entwicklung nicht mehr das 75%-Kritierium der Konvergenz-Forderung erftillen, erhalten unter dem Ziel Regionale Wettbewerbsfahigkeit und Beschaftigung eine voriibergehende Sonderunterstiitzung, die schrittweise bis 2013 abgebaut wird („Phasing-in"). Diese Sonderunterstiitzung dient dazu, die bisherige hohe Ziel-1-Forderung nicht abrupt runterzufahren und den Aufholprozess zu konsolidieren. Beim Ziel „Europaische territoriale Zusammenarbeit" werden Regionen, die an Binnengrenzen und bestimmten Aufiengrenzen zu Lande liegen sowie bestimmte Regionen an innergemeinschaftlichen Seegrenzen, gefordert. Alle Regionen der EU konnen bei ihrem Aufbau von Kooperationsnetzen und eines Erfahrungsaustausches nach dem Ziel „Europaische territoriale Zusammenarbeit" gefordert werden. Betrachtet man die Vorschlage der Kommission fur 2007 - 2013 (siehe Tabelle 5.2), so sind doch einige strukturelle Veranderungen zu identifizieren. Zum Einen ist eine erhebliche Umschichtung von Fondsmitteln zugunsten des Kohasionsfonds festzustellen. Zum Anderen ist die Ausweisung von speziellen Mitteln fur Regionen zu erwahnen, die dem statistischen Effekt unterliegen. Fur diesen Bereich sind immerhin 8,3% = 22,14 Mrd. EUR aus dem Fonds fur Konvergenz vorgesehen. Bemerkenswert ist auch der Anteil von 16,56% = 9,58 Mrd. EUR der aus dem Fonds fur das Ziel Regionale Wettbewerbsfahigkeit und Beschaftigung fur die „Phasing-in"-Regionen, das sind Regionen, die auch ohne den statistischen Effekt aus der Ziel-1-Forderung gefallen waren, vorgesehen ist. Hinzu kommen die Regelungen fur Regionen in aufierster Randlage, auf die hier nicht eingegangen werden soil. Die Kofinanzierungsvorschriften bei den einzelnen Programmen der Kohasionspolitik bleiben im Prinzip erhalten. Von Interesse ist noch der Vorschlag der Kommission, die leistungsgebundene Reserve in „qualitats- und leistungsgebundene Gemeinschaftsreserve" umzubenennen. Diese Reserve soil sich auf 3% der EFRE und ESF Mittel fur die beiden Ziele Konvergenz und Regionale Wettbewerbsfahigkeit und Beschaftigung belaufen. Diese Mittel sollen anhand zweier Kriterien auf die Regionen verteilt werden: •
beim Ziel Konvergenz anhand der Zunahme des Pro-Kopf-BIP und der Beschaftigungsrate im Zeitraum 2004 - 2010, • beim Teilziel Wettbewerbsfahigkeit nach der Verwendung von mindestens 50% der EFRE-Mittel fur Mafinahmen im Bereich Innovation zwischen 2007 - 2010 sowie der Zunahme der Beschaftigungsrate zwischen 2004 und 2010.
152
5 Europaische Kohasionspolitik Tabelle 5.2. Kohasionspolitik 2007-2013
Programme Foderfahigkeit und Instrumente
Prioritaten
Mittelausstattung Entwurf der Kommission von 2004
Interinstitutionelle Vereinbarung
Ziel „Konvergenz" Einschliefilich des 78,5% (264 81,54% (251,2 Sonderprogramms fur Regionen in Mrd. EUR) Mrd. EUR) aufierster Randlage Regionen mit ei- Innovation 67,34% = 177,8 70,51% = 177,0 Regionale Mrd. EUR Mrd. EUR und nationale nem Pro-Kopf-BIP - Umwelt < 75% des Durch- - RisikoProgramme schnitts der EU-25 pravention EFRE, ESF Statistischer EfFekt: - Zuganglichkeit 8,38% = 22,14 4,99% = 12,5 - Infrastrukturen Mrd. EUR Mrd. EUR Regionen mit einem Pro-Kopf-BIP - Humankapital < 75% des Durch- - Verwaltungsschnitts der EU-15 kapazitat und > 75% der EU-25 KohasionsMitgliedsstaaten - Verkehr (TEN) 23,86% = 62,99 23,22% = 58,3 fonds mit einem - nachhaltiger Mrd. EUR Mrd. EUR BSP/Kopf < 90% Verkehr des europaischen - Umwelt Durchschnitts - erneuerbare Energien Regionen mit ei1,29% = 3,3 nem Pro-Kopf-BIP Mrd. EUR < 90% des Durchschnitts der EU15 und > 90% der EU25 Ziel „Regiona e Wettbewerbsfahigkeit 17,2% (57,9 15,95% (49,1 und Beschaffci gung" Mrd. EUR) Mrd. EUR) Regionale Die Mitgliedsstaa- - Innovation 83,44% = 48,31 78,86% = 38,7 Programme ten schlagen eine - Umwelt Mrd. EUR Mrd. EUR (EFRE) und Liste der Regio- Riskonationale nen (NUTS 1 oder pravention Programme NUTS 2) vor. - Zuganglichkeit (ESF) - Europaische Beschaftigungs- 16,56% = 9,58 21,14% = 10,4 „Phasing-In"strategie Regionen unter Mrd. EUR Mrd. EUR Ziel 1 zwischen 2000 und 2006, die nicht unter das Ziel „Konvergenz" fallen. Ziel „Europaische territoriale Zusammenarbeit" 3,94% (13,2 2,52% (7,8 Mrd. EUR) Mrd. EUR) GrenziiberGrenzregionen und - Innovation 35,61% grenz- 73,86% = 5,6 schreitende Raume der transna- - Umwelt / iiberschreitend Mrd. EUR und transtionalen Zusammen- Risiko12,12% ENI grenziibergreinational arbeit pravention 47,73% fend Programme - Zuganglichkeit transnational 20,95% = 1,5 und Netze - Kulturelle 4,54% Netze Mrd. EUR (EFRE) Bildung transnational 5,19% = 0,4 Mrd. EUR Netze Quelle: Europaische
Kommission
5.2 Reformpotenzial der Europaischen Kohasionspolitik
153
Diese beiden Kriterien sind unter allokativen Aspekten durchaus zu begriifien, stellen sie doch Leistungsanreize dar. Mit ihrer Anwendung wird besonders denen geholfen, die besonders erfolgreich waren. Unter dem Ausgleichsziel der Kohasionspolitik ist aber zu fragen, ob dies auch distributiv erwiinscht ist.
5.2 Reformpotenzial der Europaischen Kohasionspolitik Fasst man die Kohasionsberichte der Kommission der letzten Jahre zusammen, so kann man feststellen: • • •
dass innerhalb der EU erhebliche regionale Disparitaten existieren, dass wir schwache Tendenzen zur Konvergenz feststellen und dass diese auf der Ebene der Mitgliedstaaten starker als auf der Ebene der Regionen sind.
Welche wirtschaftspolitischen Schlusse sind aus diesen Ergebnissen fur die Reform der Kohasionspolitik der EU zu ziehen, deren Notwendigkeit in Anbetracht der vollzogenen EU-Osterweiterung offensichtlich ist und die mit dem Finanzrahmen fur 2007-2013 bisher nur unzureichend angegangen worden ist? Es macht in einem Lehrbuch wenig Sinn, konkret auf die Tagespolitik ausgerichtete Vorschlage zu machen. Vielmehr sollen hier zwei grundlegende Fragen aufgenommen werden: 1. Brauchen wir eine europaische Kohasionspolitik? 2. Wenn ja, wie ist diese auszugestalten? Aus den empirischen Ergebnissen der regionalen Entwicklung kann man ableiten, dass sich der Optimismus der Wachstums- und Aufienhandelstheorie, nach der es tendenziell zu einer Konvergenz kommt, nicht belegen lasst. Damit ist aber nicht der falsche Umkehrschluss zu ziehen, darin die Notwendigkeit und theoretische Fundierung einer europaischen Kohasionspolitik zu sehen. Eine detaillierte Analyse konnte z. B. zu dem Ergebnis kommen, dass die Kohasionspolitik bisher wirkungslos oder sogar kontraproduktiv war. Selbst wenn man sich diese These einiger Kritiker der Europaischen Kohasionspolitik zu eigen macht, ist damit immer noch nicht das letzte Urteil liber den Sinn und Unsinn einer europaischen Regionalpolitik gesprochen. Es konnte moglich sein, dass die unterstellte unzureichende Wirksamkeit allein auf die Ineffizienz des Einsatzes regionalpolitischer Instrumente zuriickzufuhren ist. Im Folgenden soil daher systemimmanent der Frage nach der Effizienz der Kohasionspolitik nachgegangen werden. Dazu werden die in der
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5 Europaische Kohasionspolitik
Literatur vorgebrachten wichtigsten Argumente zur Rechtfertigung der Kohasionspolitik dargestellt und kritisch bewertet, urn sodann einige wirtschaftspolitische Konsequenzen abzuleiten. Da Kohasionspolitik fast ausschliefilich Interventionismus beinhaltet, also in das Marktgeschehen steuernd eingreift, liegt die Beweislast zur Rechtfertigung von Eingriffen bei den Beflirwortern. Dies gilt insbesondere dann, wenn m a n sich in der EU paradigmatisch fur die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes ausgesprochen hat. Aus dieser Sicht kann man die europaische Kohasionspolitik nur mit regionalem Marktversagen rechtfertigen. Dazu werden in der Literatur ganz unterschiedliche Argumente vorgetragen: G l e i c h h e i t s - u n d Fairnessprinzip: Im Sinne gleichwertiger Lebensverhaltnisse wird hier distributionspolitisch eine Korrektur des Marktergebnisses im Sinne einer regionalen Ausgleichspolitik gefordert. Diese Forderung ist normativ begrundet und dieses Werturteil muss aus rein wissenschaftlicher Perspektive akzeptiert werden. Dennoch stellen sich auch hier einige Fragen: • • •
Welche Formen von Ungleichheit akzeptiert die Gemeinschaft? Welche Kosten ist die Gemeinschaft bereit, zur Finanzierung der Kohasionspolitik zu tragen? Sind andere Politikbereiche besser geeignet, dieses Ausgleichsziel zu erreichen?
Einer theoretischen Bewertung zuganglicher sind hingegen allokationstheoretisch fundierte Begriindungen: Z u s a t z l i c h e s E i n k o m m e n u n d e r h o h t e r O u t p u t : Riickstandige Regionen sind durch hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Arbeitslosigkeit bedeutet unausgelastetes Produktionspotenzial. Regionalpolitik ist dann gerechtfertigt, wenn sie zu einer besseren Auslastung des Produktionspotenzials fiihrt. Niedrigere Inflationsraten und starkeres W a c h s t u m durch B e s e i t i g u n g v o n r e g i o n a l e n E n g p a s s e n : Je synchroner uber alle Sektoren und Regionen die wirtschaftliche Entwicklung ablauft, umso spannungsfreier entfaltet sich die Dynamik der Wirtschaft. Bei disparater wirtschaftlicher Entwicklung kann es dazu kommen, dass es in besonders boomenden Regionen zu Uberhitzungserscheinungen kommt, die sich in niedrigerem Wachstum und hoheren Inflationsraten niederschlagen. Dieses Argument gewinnt bei Betrachtung der Effizienz der Stabilisierungspolitik und unter Annahme unterschiedlichen Reagibilitaten der Regionen auf stabilitatspolitische Impulse an Bedeutung. Je starker aber die Regionen in einem Gemeinsamen Markt integriert sind
5.2 Reformpotenzial der Europaisehen Kohasionspolitik
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und je mobiler die Produktionsfaktoren sind, umso mehr verliert dieses Argument an Gewicht. R a u m l i c h e E x t e r n a l i t a t e n : Bleibt als letztes - und wohl a u d i liberzeugendstes - Argument das der raumlichen Externalitaten. Dieses Argument hat durch die neue Wachstumstheorie, die die Relevanz von Innovationen als offentliche Giiter fur die regionale Entwicklung betont, an Stellenwert gewonnen. Externalitaten konnen in vielfaltiger Form auftreten. Zu denken ist hier an Uberfiillung, Umweltverschmutzung, Agglomeration, Netzwerke usw. Sie alle konnen regionales Marktversagen begrlinden. Akzeptiert m a n diese Begrlindung der Kohasionspolitik, so ist damit noch nicht die Frage der Ausgestaltung beantwortet. Soil die Regionalpolitik Aufgabe der EU oder gemafi dem Subsidiaritatsprinzip die der Mitgliedstaaten sein? Mit der Existenz von Externalitaten allein lasst sich eine Kohasionspolitik auf der Ebene der Gemeinschaft nicht rechtfertigen. Sinnvoll ist, dabei zwischen Externalitaten auf der Ebene der Mitgliedstaaten und EU-weiten Externalitaten zu unterscheiden. Dass die bisher aufgezeigten Externalitaten auf der Ebene der Mitgliedstaaten vorliegen, ist unstrittig. Zu priifen ist aber, inwieweit sie EU-weite Externalitaten beinhalten. Als EU-weite Externalitaten sind Auswirkungen auf die EU-Inflationsrate und das EU-Wachstum zu bezeichnen. Dass dabei die Mitgliedstaaten allein nicht in der Lage sind, eine effiziente Regionalpolitik zu bewerkstelligen, wird dabei wie folgt begriindet: •
•
EU-weite Solidaritat: Die Burger der EU sind nicht nur an ihrem eigenen Wohlbefinden interessiert, sondern auch an dem der anderen. F u r sie stellt eine gerechte regionale Wohlstandsverteilung einen Wert an sich dar. Liegt diese altruistische Einstellung vor, so liegt eine EU-weite Externalitat vor. Diese soil durch die europaische Kohasionspolitik internalisiert werden. Interesse an der okonomischen Situation in anderen Regionen haben die EU-Biirger auch aufgrund fiskalischer Externalitaten. Ist die Performance einer Region gut, dann zahlt sie z. B. uber das BIP- sowie den Mehrwertsteueranteil in den Haushalt der Gemeinschaft ein und entlastet so die Regionen. Wenn die Performance der einzelnen Regionen gut ist, hat dies auch positive Auswirkungen auf andere Politikbereiche der EU, wie die europaische Beschaftigungspolitik, und die Attraktivitat des Standortes Europa steigt insgesamt im globalen Wettbewerb. Im Falle des transeuropaischen Netzes ist es offensichtlich, dass EU-weite Externalitaten gegeben sind. Hinzu kommen nicht-okonomische Grofien, die EU-weite Externali-
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5 Europaische Kohasionspolitik taten begriinden. Zu denken ist hier z. B. an den sozialen Frieden in der EU, der durch ausreichende Beschaftigung in den Regionen gestarkt werden kann.
In der okonomischen Foderalismustheorie wird argumentiert, das eine Zentralisierung der Politik immer dann iiberlegenswert ist, wenn umfassende und nicht nur lokale Externalitaten vorliegen und die Praferenzen der BetrofFenen relativ homogen sind. Die Existenz EU-weiter Externalitaten haben wir schon andiskutiert. Wenden wir uns den Praferenzen der EU-Biirger zu, dann unterstellt das europaische Wohlfahrtsmodell, dass bei dem Solidaritatsziel durchaus ein breiter Konsens existiert. Dies gilt auch fur das Kohasionsziel holier Beschaftigungsgrad in den Regionen. Unter dieser Annahme ware die Vergemeinschaftung der Kohasionspolitik in der EU theoretisch durchaus begriindet. Daraus sollte m a n aber nicht den Schluss ziehen, dass die zur Zeit existierende Zentralisierung der Kohasionspolitik nicht reformbedurftig ist. Dies gilt insbesondere beziiglich der Zuweisung der Entscheidungsbefugnisse, die bei der Kommission konzentriert sind und die selbst bei Detailfragen auf regionaler Ebene immer ein Mitspracherecht hat. Bei diesem top-downAnsatz der Kohasionspolitik treten sowohl Legitimationsschwierigkeiten als auch die Frage auf, ob es nicht sinnvoller ist, das spezifische lokale Wissen der Institutionen vor Ort verstarkt zu nutzen, um die Effizienz der Kohasionspolitik zu erhohen. Bisher hat die Kommission die zentrale Koordinationsfunktion dahingehend genutzt, dass sie alle regionalen Entwicklungsplane genehmigte und so Externalitaten zu internalisieren versuchte. Diesen Ansatz kann man nach Axt (2005) als regionenzentrierte Forderung bezeichnen. Zur Internalisierung der EU-weiten Externalitaten bietet sich aber als Alternative ein staatenzentrierter Ansatz an, der auf einer Ausweit u n g der Kompetenzen der Mitgliedstaaten aufbaut und einen reinen Finanzausgleich zwischen den Mitgliedstaaten beinhaltet. Bei dieser Renationalisierung der Kohasionspolitik werden die Mitgliedstaaten finanziell so gestellt, dass sie bei der Verfolgung der gemeinsamen Kohasionsziele Entscheidungen treffen, die aus Sicht der EU optimal sind. Denn selbst wenn alle Mitgliedstaaten die gleichen Kohasionsziele verfolgen, reicht dies fur einen rein staatenzentrierten Ansatz nicht aus. Die Mitgliedstaaten, die den starksten Bedarf an Kohasionspolitik haben, sind meist auch die armeren Staaten. Eine Ausnahme bildet hier die Bundesrepublik mit den neuen Bundeslandern. Bei identischen Zielen wiirden aufgrund finanzieller Restriktionen arme Mitgliedstaaten keine fur die EU optimale Kohasionsentscheidungen treffen.
5.2 Reformpotenzial der Europaischen Kohasionspolitik
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Beim Vorliegen relativ homogener Praferenzen sollten diese Finanztransfers als ungebundene Transfers den Mitgliedstaaten zur Verfiigung gestellt werden. Aus dieser Sicht ist z. B. der Kohasionsfonds, der ein erster Schritt zu einem staatenzentrierten Ansatz darstellt, nicht ausreichend, da auch hier die Kommission erhebliche Mitspracherechte hat. Flir ungebundene Transfers spricht aber, dass bei ihnen starker vor Ort und nicht im fernen Briissel entschieden wird und dass man die Opportunitatskosten explizit beriicksichtigt. Bei den gebundenen Transfers reduziert sich der politische Entscheidungsprozess auf die Frage: „Fuhren wir das Projekt durch, bei dem wir doch selbst nur 25% kofinanzieren miissen, oder verzichten wir auf seine Realisierung?" Bei ungebundenen Transfers hingegen fragt sich der Entscheidungstrager: „Wie kann ich die Mittel in meinem Sinne effizient einsetzen?" Eine Renationalisierung der Kohasionspolitik wiirde nicht nur effizienzorientiertere Entscheidungsprozesse induzieren, sondern auch zu einer erheblichen Reduzierung von Reibungsverlusten fiihren. Im jetzigen System der regionenzentrierten Kohasionspolitik zahlen viele Mitgliedstaaten in den EU-Haushalt Mittel ein, von denen sie einen Grofiteil zweckgebunden wieder zuriicktransferiert bekommen. Bei den Nettozahlern fliefien bis zu 50% ihrer Einzahlungen als Strukturfondsmittel an diese zuriiek. Gerade in der Diskussion u m die Aufstellung des Finanzrahmens 2007 - 2013 ist die Renationalisierungsstrategie nicht unproblematisch, konnten doch einige Mitgliedstaaten den Strategiewechsel dazu nutzen, sich aus den kohasionspolitischen Verpflichtungen der Gemeinschaft gegentiber den neuen Mitgliedstaaten zu verabschieden. Des Weiteren muss die oben unterstellte Annahme relativ identischer kohasionspolitischer Praferenzen in der EU, die die Voraussetzung fiir die Effizienz ungebundener Transfers ist, in Frage gestellt werden. In vielen Bereichen der Kohasionspolitik der Gemeinschaft existieren erhebliche Konfliktpotenziale. Dies ist z. B. auf der Ebene der Regionen bei der Ansiedlung von Unternehmen gegeben. Hier stehen die Regionen trotz aller Solidaritat in einem immensen Wettbewerb. Ungebundene Transfers wiirden dazu fiihren, dass es zu einem race to the top bei den Subventionen fiir Ansiedlungen kommen wiirde. Deshalb verlangt erganzend eine Renationalisierung der Kohasionspolitik eine strikt zentrale Regulierung der staatlichen Beihilfen fiir Unternehmen, wie sie in Artikel 87 des EG-Vertrages zu finden ist. Nicht nur auf der Ebene der Regionen, sondern auch zwischen den Mitgliedstaaten besteht ein Koordinationsbedarf durch die Gemeinschaft. Dieser ist z. B. im Bereich der Kohasionspolitik dann gege-
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5 Europaische Kohasionspolitik
ben, wenn bei ungebundenen Transfers die Mittel zur Finanzierung von Steuererleichterungen fur Unternehmen verwendet werden und so ein unfairer Ansiedlungswettbewerb induziert wird. A u d i hier muss die Kommission im Falle einer Renationalisierung der Kohasionspolitik zentrale Koordinationsaufgaben erfiillen. Auch wenn die hier angestellten Uberlegungen dafiir sprechen, Reformen in Richtung einer Renationalisierung vorzunehmen, so muss m a n aber sehen, dass schon bei marginalen Anderungen die Winderstande enorm sind. Es kann nicht im Interesse der Kommission sein, auf Kompetenzen zu verzichten. Mit Recht wurde sich die Kommission auf Artikel 158 des EG-Vertrages berufen, der eine regionenzentrierte Kohasionspolitik vorsieht. Es gibt aber auch Widerstand bei den Mitgliedstaaten. Viele Staaten - insbesondere die neuen Mitgliedstaaten - befurchten, die Verlierer der Reform zu werden. Erst nachdem der finanzielle Rahmen fur die Kohasionspolitik fur 2007 - 2013 festgezurrt war, bestand ausreichende finanzielle Sicherheit, u m qualitative Veranderungen vorzunehmen. Nachdem jedoch erst einmal die Mittel verteilt waren, war das Reforminteresse nicht mehr gegeben.
Literatur •
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Armstrong, H. (2004): Regional policy, in: A. M. El-Agraa (Hrsg.), T h e European Union. Economics and Policies, 7. Aufl., Harlow u. a., S. 4 0 1 - 4 2 0 . Axt, H.-J. (2005): Begrenzter Spielraum fur Reformen bei EUStrukturpolitik, in: Bundesarbeitsblatt, H. 5, S. 21 - 27. Berg, H . / G e h r m a n n , B. (2004): EU-Regionalpolitik und Osterweiterung: Hoher Reformbedarf - geringe Reformchancen, in: List Forum fur Wirtschafts- und Finanzpolitik, Bd. 30, S. 318 - 338. Europaische Kommission (2001): Die Strukturfonds richtig einsetzen: Eine Herausforderung fur die Entwicklung der Union (inforegionMitteilungsblatt, J a n u a r 2001). Europaische Kommission (2004): Die Kohasion am Wendepunkt 2007 (inforegio-Mitteilungsblatt 2004). Europaische Kommission (2004): Dritter Bericht liber den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, Briissel. Europaische Kommission (2005): Die Kohasionspolitik im Dienste von Wachstum und Beschaftigung - Strategische Leitlinien der Gemeinschaft fur den Zeitraum 2007 - 2013, Briissel, KOM(2005) 299.
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Agrarpolitik
Die Agrarpolitik der EU ist komplex, nur schwer liberschaubar und in sich widersprtichlich. Einerseits subventiert die EU stark den Tabakanbau und zum anderen engagiert sie sich gegen das Rauchen. Will man diese Politik verstehen, ist es notwendig, sich dem historischen Werdegang der europaischen Agrarpolitik zuzuwenden. Der Agrarpolitik kommt eine zentrale Stellung unter den EU-Politiken zu, da sie die erste ist, die auf einer konsequenten Vergemeinsehaftung beruht. Bei ihr haben, aufbauend auf den romischen Vertragen, schon 1962 die sechs Griindungsmitglieder der EWG ihre agrarpolitischen nationalstaatlichen Kompetenzen in Form der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) auf die Gemeinschaft ubertragen. Entsprechend muss man den Moloch GAP aus historischer Perspektive ein wenig differenzierter sehen. Die europaische Agrarpolitik ist keine Neuschopfung der EU, die den liberalen Agrarmarktorganisationen der Mitgliedstaaten kunstlich ubergestiilpt worden ist. Die GAP ist vielmehr ein auf der Konferenz in Stresa im Jahr 1958 gefundener Kompromiss, der die ausufernden marktwidrigen nationalen Regelungen, die in keiner Form mit dem Konzept eines Gemeinsamen Marktes vereinbar waren, zu integrieren. Von daher fufit die GAP auf den nationalstaatlichen Sunden. Dieser Aspekt erklart, entschuldigt aber nicht, dass der Anteil der Agrarausgaben am EU-Haushalt an 70% heran reichte und nach hartem Ringen immer noch fast 40% des EU-Haushaltes ausmacht. Vergleicht man dies mit den im Prozentbereich angesiedelten Ausgaben fur Zukunftsaufgaben der EU, so liegt hier ein erhebliches Missverhaltnis vor. Berucksichtigt man, dass nur die Agrarpolitik nicht aber die zukunftsweisenden Politikbereiche vergemeinschaftet worden sind, dann relativiert sich der Sachverhalt. Daher muss man die GAP-Ausgaben
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6 Agrarpolitik
mit den Gesamtausgaben aller Mitgliedstaaten in den einzelnen Politikfeldern vergleichen. Dass die G A P einen so immensen Stellenwert errungen hat und wie wir sehen werden - sowohl bei ihren Zielvorgaben als a u d i im Instrumentenbereich mit fundamentalen Schwachen behaftet ist, ist nicht nur auf ihr nationalstaatliches Erbe zuruckzufiihren. Ende der flinfziger Jahre, als die grundlegenden Weichenstellungen fiir die G A P getroffen wurden, war das agrarpolitische Umfeld vollig anders als heute. In der Aufbauphase der E W G waren fast 20% der Erwerbsbevolkerung in der Landwirtschaft beschaftigt und produzierten ungefahr 12% des BIP der EG-Staaten. Heute sind es trotz der EU-Osterweiterung weniger als 7% der Erwerbspersonen, die ein BIP-Anteil von ungefahr 3% produzieren. Hinzu kamen die Nachwirkungen der Versorgungsengpasse in der Kriegs- und Nachkriegszeit, wie die Sorge der unzureichenden Versorgung in der Phase des kalten Krieges. Die ideologische Verherrlichung der Landwirtschaft als Hort der naturlichen Produktion ist ebenfalls nicht zu vernachlassigen. Dies waren Einflussfaktoren, die aus heutiger Sicht der Uberproduktion, der Chemieorientierung grofiindustrieller Produktionsweisen im Agribusiness wenig nachvollziehbar sind. Da in dieser Phase die Einkommen der EU-Burger schneller zunahmen als die Preise der Agrarprodukte, war auch der Widerstand der Burger in dieser Phase gering.
6.1 Ziele der G A P Die G A P dient den im Folgenden erlauterten Zielen der Agrarpolitik, die in dem Artikel 33 des EG-Vertrages festgelegt wurden. Die Gesamtheit aller Regelungen der europaischen Agrarpolitik findet man im Teil II des EG-Vertrages (Artikel 32 - 38). Die Problematik der G A P wird sofort deutlich, wenn man sich die Zielvorgaben des Artikels 33 aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive anschaut und einer rationalen Prlifung unterzieht. Der Artikel beinhaltet fiinf Zielvorgaben: a) Steigerung der Produktivitat, b) Gewahrleistung einer angemessenen Lebenshaltung der landwirtschaftlichen Bevolkerung, c) Stabilisierung der Markte, d) Sicherstellung der Versorgung, e) Belieferung der Verbraucher zu angemessenen Preisen. Unproblematisch ist die Zielvorgabe der Produktivitatssteigerung. Diese ist aber keine spezifische agrarpolitische Vorgabe, sondern betrifft al-
6.1 Ziele der GAP
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le Produktionsbereiche. Es ware z. B. anhand von Marktversagen zu begriinden, warum die Forderung der Produktivitat in der Landwirtschaft besonders notwendig und diese Aufgabe der Gemeinschaft zu iibertragen ist. Die Produktivitatssteigerungen in der Landwirtschaft sind in den letzten Jahren durchaus hoch gewesen. Die Frage ist aber, ob sie dies nicht a u d i ohne die G A P bei geringeren gesellschaftlichen Kosten gewesen waxen. Des Weiteren ist zu prtifen, ob die damit einhergehende Uberproduktion auf Fehlanreizen der G A P beruht und okonomisch ineffizient ist, insbesondere wenn man den hohen Energieverbrauch in der Landwirtschaft und die erzeugten Umweltschaden mitberiicksichtigt. Auch die Zielsetzung der Erhohung des Pro-Kopf-Einkommens zur Sicherung einer angemessenen Lebenshaltung ist unproblematisch, solange sie durch Effizienzverbesserungen realisiert wird. Dies ist aber nicht die primare Intention dieser Zielvorgabe. Es geht vielmehr u m die Legitimierung von Markteingriffen, die - wie wir sehen werden - zu okonomischen Ineffizienzen fuhren und die letztlich eine Einkommensabsicherung auf Kosten der Verbraucher darstellen. Aus Gerechtigkeitserwagungen ist diese Absicherung von Partikularinteressen absolut inakzeptabel. Warum fordert man eine Absicherung der Landwirtschaft, nicht aber die z. B. der Handwerker durch die Gemeinschaft. Waren Beschaftigte in der Landwirtschaft generell arm, was nicht der Fall ist, ware eine solche Zielsetzung vielleicht gerechtfertigt. Armutsvermeidung ist aber nach dem Maastricht-Vertrag primare Aufgabe der Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten. Auch die Zielsetzung der Stabilisierung der Markte kann nur akzeptiert werden, wenn der landwirtschaftliche Sektor intertemporales Marktversagen aufweisen wiirde, es z. B. ohne G A P zu drastischen Preisschwankungen kommen wiirde und die Preise ihre intertemporale Lenkungsfunktion nicht erfiillen konnten. Warum future markets gerade fur landwirtschaftliche Produkte versagen sollen, ist wenig nachvollziehbar. Natiirlich gibt es Ernteschwankungen, die sich aber bei intensiven Handelsverflechtungen weitgehend neutralisieren. Schwankungen werden u m so mehr ausgeglichen, je lagerfahiger Agrarprodukte und je geringer die Transportkosten sind. Von daher wiirde zumindest in der jetzigen Zeit eine weltweite Marktintegration dem Ziel der Stabilisierung des Agrarmarktes dienlicher sein als eine auf Marktabschottung aufbauende interventionistische GAP. Auch die Zielsetzung der Sicherstellung der Versorgung ist keine originare Gemeinschaftsaufgabe. Warum wird sie nicht auch fiir die lebenswichtige Wasserversorgung der EU-Biirger gefordert? Damit konnte man auch die Energieversorgung als Gemeinschaftsaufgabe deklarie-
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6 Agrarpolitik
ren. Gerade in einer Phase, in der die Gemeinschaft durch eine ineffiziente Uberversorgung an Nahrungsmitteln gekennzeichnet ist, macht das historisch zu erklarende Ziel der Sicherstellung der Versorgung wenig Sinn. Dass es Zielsetzung der G A P sein soil, die Verbraucher mit Agrarprodukten zu angemessenen Preisen zu versorgen, ist eigentlich selbstverstandlich. Ohne dass wir uns der G A P im Detail zuwenden, ist offensichtlich, dass die G A P zur Realisierung dieser Zielsetzung wenig geeignet ist. Angemessene Preise erhalt man, indem man den Wettbewerb intensiviert und Markte offnet, nicht aber dadurch, dass man Markte reguliert und den Wettbewerb einschrankt und den Agrarmarkt von der internationalen Konkurrenz abschottet. Dass die G A P nur unzureichend den Interessen der Verbraucher gerecht wird und das Ziel angemessener Preise fur Agrarprodukte nicht verwirklicht, wird an zwei Sachverhalten deutlich. Zum einen liegen die Marktpreise in der EU fur Agrarprodukte zum Teil erheblich uber dem Weltmarktpreis. Zum anderen tragen letztlich die Verbraucher noch zusatzlich die immensen Kosten der GAP, die sich auf immerhin fast 0,4% des BIP der EU belaufen. Wenn man diese 0,4% in Relation zu den 3% BIP-Anteil des landwirtschaftlichen Sektors am BIP der EU setzt, wird die immense Belastung der Verbraucher deutlich. Insgesamt kann m a n schon bei der Zielanalyse kritisch bemerken, dass die Zielvorgaben der G A P wenig legitimiert und stark sektorspezifisch ausgerichtet sind und primar den Partikularinteressen der Landwirtschaft dienen. Dieses Urteil bestatigt sich, wenn wir uns den Marktorganisationen und den Instrumenten der G A P zuwenden.
6.2 I n s t r u m e n t e der G A P Das Instrumentarium der G A P ist kontinuierlich erweitert und verfeinert worden, so dass es erhebliches Fach- und Detailwissen bedarf, um alle Verastelungen der G A P zu beschreiben bzw. zu erklaren und dabei nicht die Gesamttibersicht zu verlieren. Aufgrund der Komplexitat der Materie ist es sinnvoll, nicht die fur die einzelnen P r o d u k t e existierenden gemeinsamen Agrarmarktorganisationen, wie die fur Bananen, Waren des Blumenhandels, Faserflachs und -hanf, Rindfleisch usw., sondern die Instrumente der G A P systematisch darzustellen und zu analysieren. Die Agrarmarktorganisationen fur die einzelnen Agrarprodukte existieren fur liber 20 landwirtschaftliche P r o d u k t e und bestimmen den Instrumenteneinsatz auf dem jeweiligen P r o d u k t m a r k t . Die Gemeinsamen Marktorganisationen (GMO) ersetzen im Sinne der Verge-
6.2 Instrumente der GAP
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meinschaftimg die nationalen Marktordnungen. Fiir ungefahr 90% der landwirtschaftlichen Enderzeugung existieren GMO. F u r Alkohol und Kartoffeln gibt es keine gemeinsamen Marktorganisationen, ohne dass man daraus den Schluss ziehen muss, dass auf diesen beiden Markten die Ziele der G A P schlechter verwirklicht werden. Die GMO sollen eine der folgenden Organisationsformen aufweisen: • • •
gemeinsame Wettbewerbsregeln, bindende Koordinierung der verschiedenen nationalen Marktordnungen oder eine gemeinsame europaische Marktordnung.
Fiir die Ausgestaltung der GMO wurden 1962 folgende drei Grundprinzipien der G A P vorgegeben: •
•
•
E i n h e i t d e s M a r k t e s : freier Verkehr fiir landwirtschaftliche Produkte, wie er fiir den Gemeinsamen Markt charakteristisch ist. Dies verlangt insbesondere den Einsatz gleicher Instrumente und Regulier ungsmechanismen. G e m e i n s c h a f t s p r a f e r e n z : bedeutet nichts anderes als Marktabschottung gegeniiber Drittstaaten und eine Diskriminierung von Agrarprodukten von Nicht-EU-Anbietern. F i n a n z i e l l e Solidaritat: Alle Ausgaben der G A P werden liber den Gemeinschaftshaushalt getragen. Damit wird insbesondere eine Renationalisierung der Agrarpolitik ausgeschlossen.
Den zentralen finanziellen R a h m e n fiir die Agrarpolitik bildet der Europaische Ausrichtungs- und Garantiefonds fiir die Landwirtschaft EAGFL. Dieser 1962 eingerichtete Fonds gliedert sich in zwei Abteilungen: Die Abteilung „Garantie", mit der wir uns zuerst beschaftigen wollen, ist der sowohl nach finanziellem Volumen als a u d i Politikrelevanz wichtigere Teil der E A G F L und dient der Finanzierung der GMO. Die Abteilung „Ausrichtung" stellt hingegen einen Fonds fiir die Strukturreformen in der Landwirtschaft und zur Entwicklung des landlichen Raums dar, auf den wir schon im Kapitel zur Europaischen Kohasionspolitik ansatzweise eingegangen sind. In der Ubersicht in Abb. 6.1 sind die wichtigsten Instrumente, die das Riickgrat der Agrarmarktordnungen darstellen und die alle iiber die Abteilung „Garantie" finanziert werden, skizziert worden. Vereinfachend kann man die Zielsetzung all dieser Instrumente nach Baldwin/Wyplosz (2006, S. 206) dahingehend zusammenfassen, dass sie wenn auch auf unterschiedliche Weise - einen Mindestpreis fiir Agrarprodukte sicherstellen sollen, den wir zunachst vereinfachend als Interventionspreis Pi bezeichnen wollen. Einen solchen Mindestpreis muss
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6 Agrarpolitik Wichtige Instrumente der GAP
aufienwirtschaftlich
binnenwirtschaftlich
Wert- und variabler Zoll Import- ExportPreisKontiSubvention Mengenzoll (Abschopfung) quote erstattung sttitzung gentierung
A b b i l d u n g 6.1. Instrumente der GAP man auf zwei Ebenen absichern. Zum einen muss m a n dafur sorgen, dass auslandische Anbieter, die preiswerter als zum Mindestpreis produzieren, diesen Mindestpreis nicht unterbieten konnen. Um die aufienwirtschaftliche Absicherung zu ermoglichen, kann die EU auf die Instrumente der Wert- und Mengenzolle und der variablen Zolle, der sogenannten Abschopfung, zuriickgreifen. Die auflenwirtschaftliche Absicherung ist aber nur eine notwendige Bedingung zur Durchsetzung von Mindestpreisen. Damit sich die Mindestpreise in der EU durchsetzen, bedarf es des zusatzlichen Einsatzes der binnenwirtschaftlichen Instrumente, sei es als Preisstiitzung, Kontingentierung oder Subventionierung. Mit dem Instrumentarium der Zolle und ihren Wirkungen haben wir uns schon in Abb. 2.5 ausfiihrlich auseinandergesetzt, so dass wir hier nur noch agrarpolitische Erganzungen einfiigen miissen und z. B. die Wohlfahrtseffekte von Mindestpreisen durch Zolle nicht mehr erlautern miissen. Wahrend Zolle, sei es als Wertzoll, bei dem ein prozentualer Aufschlag auf den Wert des importierten Gutes erhoben wird, oder als Mengenzoll bzw. spezifischen Zoll, bei dem ein fester Zoll pro Mengeneinheit erhoben wird, zu den tarifaren Handelshemmnissen gehoren, gilt dies nicht fur variable Zolle. Diese wurden in Form der Abschopfung bei importierten Agrarprodukten von der EU bisher sehr intensiv angewandt und sie gehoren zu den nichttarifaren Handelshemmnissen. In der Uruguay-Runde hat man sich im Rahmen der WTO-Verhandlungen 1994 darauf geeinigt, diese sukzessive aufzugeben. Nur bei Getreide darf die EU das Instrument der Abschopfung noch anwenden. In Abb. 2.5 werden die durchaus gravierenden Unterschiede zwischen Wert- und Mengenzollen sowie variablen Zollen in Form der Abschopfung nicht deutlich. Dies liegt zum einen daran, dass wir in dieser Abbildung vom Fall einer kleinen Volkswirtschaft ausgegangen sind. In diesem Fall konnen wir unterstellen, dass die Nachfrage der
6.2 Instrumente der GAP
165
EU keinen Einfluss auf den Weltmarktpreis hat, so dass die Weltangebotsfunktion in diesem Fall horizontal verlauft. Da bei einem Wertzoll Pzw — (1 + z)Pw u n ( i bei einem Mengenzoll PZM — Pw + z gelten, wobei Pw den Weltmarktpreis darstellt, bedingt eine horizontale Angebotsfunktion, dass sich nach Einrechnung des Zolls in beiden Fallen die Angebotsfunktion parallel nach oben, wie in Abb. 2.5 dargestellt, verschiebt. Gleiches gilt flir eine Abschopfung P4, bei der der Importpreis auf dem Niveau des Interventionspreises Pi fixiert wird. Die Abschopfung vollzieht sich so, dass ein Importeur immer die Differenz zwischen Pi und Pw als Ausgleichsabgabe zu zahlen hat. Allerdings stellt bei Agrarprodukten die EU sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite im weltweiten Handel kein kleines Land dar, so dass die Weltangebotsfunktion flir Importe der EU einen normalen steigenden Verlauf aufzeigt. In diesem Fall bewirkt ein Wertzoll eine Drehung, hingegen ein Mengenzoll eine Parallelverschiebung des Weltimportangebots nach oben. Zum anderen haben wir unterstellt, dass der Gleichgewichtspreis auf dem Weltmarkt konstant bleibt. Die Unterschiede in den betrachteten Alternativen werden aber beziiglich ihrer verzerrenden Effekte erst deutlich, wenn man Veranderungen des Weltmarktpreises betrachtet. Andert sich Pw-> so gilt fur die relativen Preisanderungen:
dPZM PZM
=
dPzw Pzw d(Pw + z) PW + Z
(1 + z)dPw _ dPw (1 + z)Pw Pw dPw Pw dPw PZM PZM P\w
(6.1) (6.2)
Relative Preisanderungen werden daher bei einem Wertzoll voll weitergegeben. Da aber Pw < PZM ist, gilt dies hier nicht flir einen Mengenzoll. Bei ihm werden Weltmarktpreisschwankungen nur eingeschrankt an die Nachfrager in der EU weitergegeben, so dass der Preismechanismus seine Lenkungsfunktion bei Veranderungen der weltweiten Knappheitsverhaltnisse nur eingeschrankt wahrnimmt. Vollig schottet sich die EU vor Veranderungen der Knappheitsverhaltnisse bei der Anwendung der Abschopfung ab. In diesem Fall gilt &PA/PA = 0. Da die EU durch die Abschopfung ihren Agrarmarkt gegen weltweite Schocks immunisiert, induziert sie einen negativen Spill-over-Effekt, indem sie die Instabilitat des weltweiten Agrarmarktes erhoht. Aus dieser Perspektive ist es nur verstandlich, dass die WTO die EU gezwungen hat, das Instrument der Abschopfung nur noch eingeschrankt einzusetzen.
166
6 Agrarpolitik
Um die Uberlegungen noch einmal graphisch zu verdeutlichen, haben wir die Abb. 2.5 fur den Fall einer grofien Volkswirtschaft in Abb. 6.2 modifiziert.
0
X\
X2
XA
X% X4
Abbildung 6.2. Protektionismus in einer grofien VWL Durch die protektionistische Mafinahme geht die Nachfrage nach Agrarprodukten in der EU um X1X4 zuriick. Da die EU eine grofie Volkswirtschaft darstellt, hat dieser nicht unerhebliche Nachfrageriickgang eine Senkung des Weltpreises vom urspriinglichen Wert Pw0 auf Pw1 zur Folge, so dass Protektionismus aufgrund dieses Terms of Trade Effekts - Veranderung des Austauschverhaltnisses von importierten zu exportierten Giitern - fur grofie Volkswirtschaften relativ vorteilhaft ist. Nimmt die EU z. B. eine Abschopfung vor, so flihrt die induzierte Senkung des Weltpreises zu zusatzlichen Einnahmen. Wir sehen an dieser Abbildung auch die Wirkungen der Variation von Pw1 aufgrund exogener Schocks. Die Anderung von Pz in Abhangigkeit der Anderung von Pw1 findet bei einer reinen Abschopfung gar nicht, bei einem Mengenzoll geringer und bei einem Wertzoll starker statt. Eine Kontingentierung von Importen gehort zu den nichttarifaren Handelshemmnissen und ist nach den WTO-Regeln auch bei Agrarprodukten nicht zulassig. Um einen Mindestmarktzugang fur auslandische Agrarprodukte zu gewahrleisten, wurden aber Importquoten als Min-
6.2 Instrumente der GAP
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destnormen vereinbart. Jedes Mitglied der W T O muss fur die einzelnen Agrarproduktgruppen eine Mindesteinfuhr von 5% des Verbrauchs der Bezugsperiode 1986/88 gewahrleisten. Diese Vorschrift gewinnt an Bedeutung, wenn bei einer Produktgruppe ein Land einen Uberschuss produziert, der am Weltmarkt abgesetzt werden muss, und insbesondere wenn sich ein Land zu einer Begrenzung seiner subventionierten Exporte verpflichtet hat. Wie in Abb. 6.3 (a) dargestellt, ist im Falle eines Einfuhrbedarfs, bei dem die einheimische Produktion zur Befriedigung der Nachfrage nicht ausreicht, eine Mindestimportquote relativ unproblematisch und fuhrt nur zu reduzierten Zolleinnahmen. Durch die Importquote verschiebt sich das inlandische Angebot u m die Importquote im Bereich zwischen Pw und Pi nach rechts. Importquoten fiihren zu um die Flache BCDE verringerten Zolleinnahmen, die dann ABEF betragen, je nachdem wie hoch der jeweilige Praferenzzoll t bei der Importquote ist. Auf einem vollkommenen Markt wiirden diese Zollverluste ganz an die Importeure fliefien, da sie die Importe auf dem Weltmarkt zum Preis Pw einkaufen und die Menge #2 — Qi zum Interventionspreis Pi in die EU importieren konnen. Von daher gehen bei den Importquoten die Exportlander, zu denen iiberwiegend bei Agrarprodukten auch die Entwicklungslander gehoren, im Grofien und Ganzen leer aus. (a) im Fall des
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1 #2 3
(b) im Fall eines
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Abbildung 6.3. Wirkung von Mindesteinfuhren
Wesentlich wirksamer sind Importquoten im Falle eines Produktionsuberschusses, den die EU bei vielen Agrarprodukten erreicht hat. In Abb. 6.3 (b) ist diese Situation skizziert.
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6 Agrarpolitik
Beim Interventionspreis Pi belauft sich die EU-Nachfrage auf die Menge q±. Durch die Importquote ^3 — ^2 erhoht sich der EU-Uberschuss von q
6.2 Instrumente der GAP
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gativen Vorzeichen dar, so dass deren Effekte nicht noch einmal en detail dargestellt werden miissen. Bei unserer bisherigen Analyse sind wir vom Interventionspreis Pi als einzigem regulativen Preis ausgegangen, zu dem die EU inlandische Uberschiisse aufkaufen muss. Diese Einkaufsverpflichtung zum Interventionspreis, die ungefahr 70% aller landwirtschaftlichen Produkte betrifft, gilt aber nicht uneingeschrankt. Sie beschrankt sich z. B. bei Getreide zeitlich auf die Monate November bis Mai, so dass aufgrund exogener Schocks der Marktpreis vom Interventionspreis abweichen kann. Hinzu kommt, dass die Inter vent ionspflicht nur bei der Erflillung von vorgegebenen Qualitaten gegeben ist, so dass fur ein Agrarprodukt der Marktpreis fur Durehschnittsqualitat tendenziell unter dem Interventionspreis liegt. Um den EU-Markt vom Weltmarkt abzuschotten, muss dafiir gesorgt werden, dass Importe zumindest marginal teurer als der Interventionspreis sind, so dass der Marktpreis PM eher iiber dem Interventionspreis liegt. Da es die EU vermeiden will, erst Uberschiisse zum Interventionspreis vom Markt zu nehmen und diese teuer einzulagern und spater doch auf dem Weltmarkt hoch subventioniert anzubieten, ist es fur sie sinnvoll, auf Ankaufe zum Interventionspreis zu verzichten und sofort eine Exporterstattung vorzunehmen. Dies ist nur moglich, wenn die Exporterstattung fur die Anbieter giinstiger als die Zahlung des Interventionspreises ist. Diese Uberlegungen verdeutlichen, dass die regulierenden Preisvorgaben der EU komplexer gestalten werden miissen, als dass man fur jedes Aggrarprodukt nur einen Interventionspreis vorgibt. Etwa im April jeden Jahres legt der Rat der Europaischen Union in der Zusammensetzung der Agrarminister den Richtpreis (target price) z. B. fur Getreide fest, der als Richtschnur fur die Ausgestaltung der Preispolitik der G A P dient. Dieser Sollwert bestimmt sich als Grofihandelspreis fur den Standort Duisburg. Der Interventionspreis, der als Grundlage fur den Aufkauf von Uberschiissen im Rahmen der Preisstiitzung dient, auf die wir spater eingehen werden, liegt meist 12 bis 20% niedriger als der Richtpreis. Vom Interventionspreis weicht der sogenannte Schwellenpreis ab, der die Grundlage fur die Abschopfung bei Importen ist. Dieser Schwellenpreis bestimmt sich als Richtpreis abziiglich der Transportkosten fur Getreide, das iiber Rotterdam importiert und dann in Duisburg verkauft wird. Der Schwellenpreis liegt immer oberhalb des Interventionspreises. Aufgrund der W T O Vorschriften darf der Schwellenpreis bei maximal 150% des Interventionspreises liegen. Bisher haben wir Interventions- und Schwellenpreis vereinfachend gleichgesetzt.
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6 Agrarpolitik
Auch wenn sich die Abschopfung nur auf Getreide mit einer Mindestqualitat bezieht, hat die Regulierung ftir diese Agrarproduktgruppe erhebliche Auswirkungen auf den gesamten Agrarmarkt. Verteuert sich z. B. aufgrund der Abschopfung das Getreide, so flihrt diese Preiserhohung zu einer verstarkten Nachfrage nach Substituten wie Mais und Sojabohnen, die sich dann auch entsprechend verteuern. Weil Getreide zur Milch- und Getreideproduktion eingesetzt wird, wirkt sich die Abschopfung auch auf diese Agrarprodukte aus. Umstritten ist die Aufnahme der sanitaren und phytosanitaren Auflagen in den Katalog der aufienwirtschaftlichen Instrumente der G A P . Man kann mit diesem Instrument zwei kontrare Ziele verfolgen, die zu ganz unterschiedlichen Wohlfahrtseffekten fiihren. Dieses Instrument beinhaltet Mindeststandards, die Importe erfullen miissen. Sie beziehen sich aber nicht allein auf Importe, sondern auch auf den Warenverkehr innerhalb der EU. Waren die Standards strenger gegeniiber Importen, so ware dies ein Zeichen, dass die Auflagen primar ein der W T O widersprechendes Handelshemmnis darstellen, das zu Wohlfahrtseinbufien fiihrt. Nur wenn die Standards sowohl ftir den Binnenverkehr als auch fur die Importe gelten, kann man erwarten, dass sie wohlfahrtssteigernde Qualitatsstandards sind. Zu denken ist hier z. B. an das Verbot des Verkaufs hormonbehandelten Fleisches, an genetisch veranderten Reis, das Reinheitsgebot bei Molkereiprodukten usw. Selbst wenn Standards nicht zwischen inlandischer und auslandischer Produktion diskriminieren, ist daraus nicht zwangslaufig abzuleiten, dass kein Handelshemmnis vorliegt. Die Schwierigkeit der Zuordnung wird deutlich, wenn wir an die Auseinandersetzungen zwischen den USA und der EU vor der W T O bezliglich hormonbehandelten Fleisches denken. Der Verzicht auf Hormonbehandlungen in der EU und das damit einhergehende Verbot ist nach der Auffassung der USA ein kiinstliches Handelshemmnis, da nach Ansicht der amerikanischen Produzenten hormonbehandeltes Fleisch vollig gleichwertig zu nicht hormonbehandeltem Fleisch ist. Dem steht die Auffassung der EU und insbesondere einiger Mitgliedstaaten entgegen, dass der Verzehr von hormonbehandeltem Fleisch zu einer gesundheitlichen Beeintrachtigung fiihrt. Die WTO-Regeln lassen sanitare und phytosanitare Import auflagen dann nur zu, wenn wissenschaftlich nachgewiesen wird, dass sie z. B. zum Schutz vor gesundheitlichen Schaden notwendig sind. Das Problem der Zuordnung von entsprechenden Auflagen liegt nun darin, dass es erhebliche wissenschaftliche Kontroversen liber die Notwendigkeit von Auflagen gibt. Dies zeigt sich im Hormonstreit zwischen den USA und der EU.
6.2 Instrumente der GAP
171
Eines der Grundanliegen der EU ist es, die bisherigen intensiven Handelsbeziehungen zu den ehemaligen Kolonialstaaten, aus denen in erheblichem Umfang Agrarprodukte zu giinstigen Preisen importiert wurden, nicht abbreehen zu lassen. Von daher war die G A P darauf ausgerichtet, diese Staaten besonders zu begiinstigen und die protektionistischen Mafinahmen ihnen gegeniiber nicht voll zum Tragen kommen zu lassen. Nun gilt aber auch fur die G A P das Meistbegiinstigungsprinzip bzw. die Meistbegiinstigtenregel. Nach dieser miissen einzelnen WTO-Mitgliedern eingeraumte Handelsvorteile auch uneingeschrankt an andere WTO-Mitgliedstaaten gewahrt werden. Flir die Entwicklungslander gilt dieses Gleichbehandlungsprinzip aber nicht. Bei ihnen ist eine Praferierung zulassig, u m durch die Gewahrung von Handelsvorteilen ihren Entwicklungsriickstand abzubauen. Diese Ausnahmeregelung hat die EU im Bereich der G A P genutzt. So hat sie u. a. 1975 mit einigen ehemaligen Kolonialstaaten Afrikas, der Karibik und des Pazifischen Raums das sogenannte AKP-Abkommen abgeschlossen, das Handelserleichterungen fur Agrarprodukte beinhaltet. Ein weiteres umfassendes Praferenzabkommen, das sogenannte „Everything but Arms" (EBA)-Abkommen, wurde 2001 mit den 49 armsten Entwicklungslandern geschlossen. Dieses Abkommen sieht einen freien Import von Agrarprodukten aufier Bananen, Reis und Zucker vor. Diese Produkte sollen aber auch bis 2009 von alien Handelsbeschrankungen befreit werden. Die bisher aufgezeigten Instrumente dienen letztendlich der Flankierung des Einsatzes der binnenwirtschaftlichen Instrumente, denen wir uns nun zuwenden wollen. Eines der wesentlichen Ziele der G A P ist die Stabilisierung der Einkommen in der Landwirtschaft. Dies wird u. a. iiber die Stabilisierung der Preise flir landwirtschaftliche P r o d u k t e angestrebt. Ziel ist zum einen ein Ausgleich von zufallsbedingten Preisschwankungen. Zum anderen soil iiber die Preisstabilisierung direkt in den Produktionsprozess eingegriffen werden, um bestimmte Produktionsverfahren und Formen der Tierhaltung gezielt zu fordern. Das entscheidende Instrument zur Stabilisierung der Preise ist das der Interventionspreise. Dabei sind die EU-Interventionsstellen verpflichtet, exakt definierte Qualitaten von vorher festgelegten Agrarprodukten unter bestimmten Bedingungen zu garantierten Preisen anzukaufen. F u r Getreide, Zucker, Butter und Magermilchpulver existiert eine obligatorische Aufkaufpflicht. Hingegen ist sie bei Rindfleisch und Schweinen sowie bei Obst und Gemiise nur fakultativ. Durch den Ankauf zum Interventionspreis wird die Nachfrage vollkommen preiselastisch. Die Interventionspflicht kann aber mengenmafiig beschrankt werden. So gibt es flir Milchprodukte eine fest
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6 Agrarpolitik
vorgegebene Interventionsmenge bis zu der zum Interventionspreis aufgekauft wird, so dass man eine wie in Abb. 6.4 dargestellt geknickte Nachfragekurve erhalt. p
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Abbildung 6.4. Preisstiitzung bei Milchprodukten In diesem Fall verpflichtet sich die Interventionsstelle nur bis zum P u n k t K das Restangebot von q vom Markt zu nehmen, so dass sich am Markt ein Gleichgewichtspreis PM herausbildet, der unter dem Interventionspreis liegt. Ein weiteres binnenwirtschaftliches Instrument stellt die Quotierung dar, die besonders auf dem Zucker- und dem Milchmarkt zum Tragen kommt. Dabei erhalt jeder Mitgliedstaat der EU Quoten, die er an die Landwirtschaft verteilt. Fur Milch erhalt z. B. ein Betrieb eine Garantiemenge (Quote), fur die ein fester Abnahmepreis garantiert wird. Liefert ein Landwirt mehr Milch als seine Quote bei seiner Molkerei an, so muss er fur die uberschussige Milch eine extrem hohe Abgabe zahlen. Noch komplexer ist die Quotierung bei Zuckerniben. Fur sie sind drei qualitatsbezogene Preise und Quoten festgelegt worden: die A-Quote fur fette Ruben, die B-Quote fur halbfette und die C-Quote, die sich als Uberschuss liber die B-Quote bestimmt und deren Preis sich am Weltmarktpreis orientiert. Diese Quotierung fuhrt zu einer Marktsituation, wie sie in Abb. 6.5 dargestellt ist. Eine Quotierung bietet sich immer dann an, wenn zum Interventionspreis eine Uberversorgung vorliegt, so dass die Uberschiisse mittels der Exporterstattung teuer auf dem Weltmarkt abgesetzt werden miissen. Durch die Quotierung kann man auf eine kostspielige Exporterstattung verzichten. Die
6.2 Instrumente der GAP
173
w
qA
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A b b i l d u n g 6.5. Preisstiitzung bei Zuckerriiben mit dem 1. Juli 2006 in Kraft getretene Reform des Zuckersektors verdeutlicht die Gestaltungsmoglichkeiten eines Quotierungssystems, das liber 40 Jahre trotz gravierender Ineffizienzen aufgrund von Partikularinteressen nicht geandert worden ist. Die grundlegenden Anderungen sind im Wesentlichen auf Druck der W T O zustande gekommen, fur die der hoch subventionierte Export von Zucker aus der EU inakzeptabel war. Aufgrund der hohen Interventionspreise, bei denen der Zuckerpreis den Weltmarktpreis um das Dreifache iiberstieg, wurde der Interventionspreis um 36% gesenkt. Um aus der Uberschusssituation herauszukommen, wurden die Abnahmequoten zum Interventionspreis ebenfalls reduziert und die A- und B-Quoten zu einer einzigen Quote zusammengefasst. Aufgrund der erwarteten Produktionsriickgange erklarte sich die EU gegentiber der W T O bereit, ab 2009 den Zuckermarkt fiir Importe aus den 49 armsten Landern der Welt vollstandig zu offnen. Zur Kompensation der erwarteten Einkommensverluste von durchschnittlich 64,2% erhalten die Landwirte erhohte produktionsentkoppelte Zahlungen in Form von Betriebspramien, ein neues Instrument der GAP, das wir noch ausfiihrlich darstellen werden. Je nachdem wie die Quotierung ausgestaltet ist, sind mit ihr erhebliche Wohlfahrtsverluste verbunden. Im Allgemeinen wird die Quotierung mehr oder weniger gleichmafiig auf alle Anbieter verteilt, so dass bei ihr die ineffizienten Grenzanbieter nicht ausscheiden, sondern die grofien besonders leistungsfahigen Anbieter ihre Produktion einschranken mlissen, was
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6 Agrarpolitik
zu allokativen Ineffizienzen fiihrt. Dieser negative Effekt wird abgeschwacht, wenn man handelbare Quoten zulasst. Subventionen sind ein weiteres Instrument der GAP. Sie stellen Zahlungen der EU ohne marktmafiige Gegenleistungen dar. Sie werden aber meist mit bestimmten Auflagen verbunden. Bei der G A P existiert ein breites Spektrum von Subventionen. Zu nennen sind u. a.: Flachenpramien, Tierpramien, Preisausgleichszahlungen, Anpassungsbeihilfen, Investitionshilfen, Flachenstilllegungspramien, Dieselolverbilligung und finanzielle Leistungen fiir die Alterssicherung der Landwirte. Subventionen haben im Rahmen der MacSharry-Reform an Bedeutung gewonnen. Im Rahmen dieser Reform erhielten die Landwirte Preisausgleichszahlungen, u m die Einkommensverluste, die sich aus der Senkung der Interventionspreise ergaben, zu kompensieren. Daruber hinaus beinhaltet die in Berlin verabschiedete Agenda 2000, dass die Preisausgleichszahlungen als Direktzahlungen an die genutzte Flache gebunden werden. Die grundlegende Kritik an der Subventionspolitik der EU richtet sich darauf, dass die Subventionen einen starken Erhaltungscharakter haben und den notwendigen Strukturwandel in der Landwirtschaft hemmen. Die entscheidende Schwache der Subventionspolitik ist dabei, dass viele Subventionen nicht produktionsneutral, sondern oft sogar produktionsstimmulierend wirken. Nach den Vereinbarungen mit der W T O sollte sich die G A P auf produktionsneutrale Subventionen konzentrieren. Dies ware z. B. durch verstarkte personengebundene Transfers, die wesentlich gezielter eingesetzt werden konnen, zu bewerkstelligen.
6.3 R e f o r m e n Auch wenn mit der Verabschiedung der Agenda 2000 in Berlin die mit der MacSharry-Reform angestofienen positiven Entwicklungen in der G A P zu einem gewissen Stillstand gekommen und insbesondere die an diese Agenda geknlipften Reformhoffnungen nicht verwirklicht worden sind, da insbesondere Frankreich seine auf Besitzstandswahrung ausgerichtete Politik durchsetzen konnte, sind in den letzten Jahren einige bemerkenswerte Reforminitiativen gestartet und umgesetzt worden. Aufbauend auf der Kritik des britischen Premierministers Blair hat das Europaische Parlament im Friihjahr 2006 bei seinen Verhandlungen mit dem Rat und der Kommission erreicht, dass das fiir den Zeitraum 2007 2013 festgezurrte Agrarbudget, das nur einen moderaten Riickgang des Anteils der Agrarausgaben am Haushalt der EU vorsah, in den nach-
6.3 Reformen
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sten Jahren im Rahmen der Finanziellen Vorausschau einer Revision unterzogen wird. Wesentlich konkreter und in ihren Auswirkungen absehbarer sind die 2003 verabschiedeten Agrarreformen, die ansatzweise einige schwerwiegende Defizite der europaisehen Agrarpolitik behoben haben. Diese Reformen, die in die richtige Richtung gehen, beinhalten zum einen eine Verlagerung der Schwerpunkte im Haushalt der G A P hin zu einer Umschichtung von Mitteln in den Ausgleichsfonds zur Entwicklung des landlichen Raums und zum anderen eine qualitative Neuausrichtung bei der Beihilfepolitik. Bei diesen Reformen war nicht die Erkenntnis der Ineffizienzen der G A P die treibende Kraft. Vielmehr gelangte man zu der Erkenntnis, dass mit der EU-Osterweiterung, bei der Staaten wie Polen mit einem bedeutsamen Agrarsektor aufgenommen worden sind, die Agrarausgaben langfristig nicht mehr finanzierbar sind. Auch gab man mit den Reformen dem Druck der W T O nach. Die Konzessionsbereitschaft der EU in der bisher gescheiterten Doha-Runde ist im Wesentlichen darauf zuruckzufuhren, dass man mit agrarpolitischen Konzessionen Zugestandnisse der Entwicklungslander u. a. im Bereich der Liberalisierung des Dienstleistungssektors erreichen wollte. Wenden wir uns zuerst dem Schwerpunkt der Entwicklung des landlichen Raums zu. Die Relevanz der Entwicklung des landlichen Raumes zeigt sich darin, dass 90% der Flache der erweiterten EU dem landlichen R a u m zuzuordnen sind. U m den Mafinahmen fur die Entwicklung des landlichen Raums mehr Gewicht zu verleihen, werden die im Zeitraum 2005 bis 2012 erzielten Einsparungen bei den Kiirzungen der Direktbeihilfen den Mitgliedstaaten mit der Auflage zur Verfiigung gestellt, diese fur die Entwicklung des landlichen Raums zu verwenden. Des Weiteren wird ab 2006 ein eigener Europaischer Landwirtschaftsfonds fur die Entwicklung des landlichen R a u m s (ELER) geschaffen. Hingegen werden die Beihilfen und die Marktstutzungsmafinahmen ausschliefilich iiber den Europaisehen Garantiefonds fur die Landwirtschaft (EGFL) abgewickelt. Neben der Vereinfachung der G A P soil mit den strukturpolitischen Mafinahmen die Reform der Beihilfepolitik unterstiitzt werden. Da die Beihilfereform strengere Auflagen fur die landwirtschaftlichen Betriebe im Bereich Umwelt, Qualitatserzeugung und Tierschutz vorsieht, sollen dazu erganzend entsprechende Forderprogramme aufgelegt werden. Um die Neuausrichtung zu prazisieren, hat der R a t im Februar 2006 folgende Leitlinien verabschiedet: 1. Verbesserung der Wettbewerbsfahigkeit der Land- und Forstwirtschaft, 2. Verbesserung von Umwelt und Landwirtschaft,
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6 Agrarpolitik
3. Verbesserung der Lebensqualitat im landlichen R a u m und Forderung der Diversifikation, 4. Aufbau lokaler Kapazitaten fiir Beschaftigung und Diversifizierung, 5. Umsetzung der Prioritaten in Programme, 6. Komplementaritat zwischen den Gemeinschaftsinstrumenten. Diese Leitlinien machen noch einmal eine f u n d a m e n t a l Schwache der Politik, iiber Ziele der EU zu steuern, deutlich, auf die wir spater noch ausfuhrlich bei der Offenen Methode der Koordinierung in K a p . 9 eingehen werden. Die Leitlinien beinhalten nur konsensfahige Aussagen und dienen damit nicht zur Selektion von Handlungsoptionen. Insbesondere bleibt offen, wie diese recht vagen Vorgaben umgesetzt werden sollen. Von daher sind sie recht beliebig und wenig handlungsleitend. Ihnen zuzustimmen, kostet einen Mitgliedstaat nichts. Mit den Reformen der G A P wurde auch die Beihilfepolitik grundlegend geandert und wesentlich verbessert. Eine entscheidende und schon lange von der Wissenschaft, aber auch von der W T O geforderte Anderung war dabei die Entkopplung der Beihilfen von der Produktion, u m die Fehlanreize der G A P zu einer wohlfahrtsmindernden Uberproduktion einzuschranken. Wesentliches Instrument zur Verwirklichung dieser Zielsetzung ist die Einheitliche Betriebspramie (EBP), die jeder Landwirt seit 2005 beantragen kann. Sie stellt eine jahrliche Einkommensbeihilfe dar. Fiir die alten Mitgliedstaaten bestimmt sich fiir einen Betrieb die Hohe der Pramie anhand der Zahlungen im Referenzzeitraum 2000 - 2002. Die E B P muss bis 2007 in alien Staaten der EU15 (bis 2009 in der EU10) eingefiihrt werden. Bei der Verteilung dieser Direktbeihilfe konnen die Mitgliedstaaten zwischen zwei Verfahren optieren bzw. diese kombinieren. Bei dem traditionellen Verfahren werden die Beihilfen an die Betriebe anhand der im Referenzzeitraum gewahrten unterschiedlichen Erzeugung und der unterschiedlichen Pramien im Sinne eine Fortschreibung verteilt. Bei dem alternativen pauschalierten Verfahren werden die Beihilfen einer Region nach den Betriebsflachen verteilt, wobei zwischen Ackerland und Grlinland differenziert werden kann. Die Mitgliedstaaten miissen die Entkopplung aber nicht sofort vollstandig realisieren. So ist den Mitgliedstaaten eine erzeugungsspezifische Forderung als Option fiir Tierpramien bei Rindern und Schafen eingeraumt worden, da hier die Verteilungseffekte der Entkopplung am starksten sind. Die E B P sind als gebundene Transfers ausgestaltet und verpflichten die Empfanger zur Einhaltung von Umwelt-, Lebensmittelsicherheitsund Tierschutznormen (Cross Compliance). Bei Nichteinhaltung dieser Normen kann es zu Kiirzungen der E B P kommen. Dariiber hinaus dienen die E B P zur Modulation, zur schrittweisen Reduzierung der Di-
6.4 Ausblick
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rektzahlungen. Folgende Regelungen sind dazu beschlossen worden. In 2005 werden die E B P urn 3%, in 2006 urn 4% und in den nachfolgenden Jahren bis 2012 urn jeweils 5% gekiirzt. Uber diese Einsparungen konnen die Mitgliedstaaten mit der Auflage verfiigen, sie fiir die Entwicklung des landlichen Raums zu verwenden. Das System der E B P wird fiir eine Anzahl von Agrarprodukten durch besondere Stiitzungsregeln weiter eingeschrankt. Vorgesehen sind sie u. a. fiir Hartweizen, Eiweifipflanzen, Reis, Schalenfriichte, Energiepflanzen, Kartoffelstarke, Milcherzeugnisse, Saatgut, landwirtschaftliche Kulturpflanzen, Schafund Ziegenfleisch, Rindfleisch, Kornerleguminosen, Baumwolle, Tabak, Hopfen sowie fiir Landwirte, die Olivenhaine erhalten. Dariiber hinaus erhalten die Milcherzeuger ab 2007 zusatzlich zur E B P Erganzungszahlungen. Diese breite Palette von Sonderregelungen macht deutlich, dass es mit den E B P nur eingeschrankt gelungen ist, die G A P zu vereinfachen. Mit der Reform von 2003 wurde dariiber hinaus der mit der Agenda 2000 eingeschlagene Weg der Reduzierung der Marktstiitzung fortgesetzt.
6.4 Ausblick Wenn man die Reformbemiihungen zur G A P riickwirkend bewertet, so muss man feststellen, dass sich die Reformbemiihungen - wenn auch langsam - in die richtige Richtung bewegen. Dies schlagt sich nicht nur in einem kontinuierlich geringeren Anteil der Agrarausgaben am EUHaushalt nieder, sondern es hat auch einige grundlegende qualitative Verbesserungen im Bereich der agrarpolitischen Regulierung gegeben. So ist das allokativ ineffiziente und den internationalen Wettbewerb einschrankende Instrument der Abschopfung weitgehend aufgegeben worden. Das Niveau des agrarpolitischen Protektionismus ist durch Zollsenkungen usw. reduziert worden und mit dem Instrument der Einheitlichen Betriebspramie ist die G A P vereinfacht und effizienter geworden. Dennoch bleiben einige grundlegende Systemfehler der GAP, aufgrund derer die Reformbemiihungen verstarkt fortgesetzt werden miissen. Dass von der G A P weiterhin sowohl weltweite negative allokative als auch distributive Effekte ausgehen, wird in Abb. 6.6 deutlich. Die Relevanz dieser in der Abbildung skizzierten Uberlegungen wird deutlich, wenn man sich vor Augen halt, dass die EU weltweit der grofite Importeur und der zweitgrofite Exporteur von Agrarprodukten ist. In Abb. 6.6 sind die Nachfrage- N und die Angebotsfunktion A auf dem Weltmarkt fiir Importe von Agrarprodukten fiir den Fall dargestellt worden, dass die EU auf jegliche Regulierung des Agrarmark-
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6 Agrarpolitik
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Abbildung 6.6. Auswirkungen der GAP auf den Weltmarkt tes sowie entsprechende protektionistische Mafinahmen verzichtet. Auf dem Weltmarkt wiirde der Gleichgewichtspreis Pw1 realisiert. Wenn die entsprechenden Bedingungen fur das I. Fundamentaltheorem der Wohlfahrtstheorie dariiber hinaus erfiillt waxen, wiirde Paretooptimalitat vorliegen. Durch die G A P wird aber diese Effizienz reduziert. Durch den Einsatz der aufienwirtschaftlichen Instrumente der G A P kommt es zu einer Abschottung des europaischen Agrarmarktes von auslandischen Importen. Dieser Protektionismus fiihrt zu einer Verschiebung der weltweiten Nachfrage nach Agrarimporten von N nach NGAP-> SO dass der Weltmarktpreis von Pw1 auf Pw2 sowie die weltweiten Importe und damit auch die Exporte von q\ auf #2 sinken. Von diesen negativen Effekten des Protektionismus der EU sind besonders die Entwicklungslander betroffen, da sie oft nur beim Export von Agrarprodukten wettbewerbsfahig sind. Durch den Protektionismus der EU leiden sie in doppelter Hinsicht. Sie erzielen nur noch einen niedrigeren Preis pro Exporteinheit und konnen bei der verscharften Konkurrenz beim Absatz von Uberschiissen auf dem Weltmarkt nur noch weniger absetzen. Durch die Praferenzabkommen werden diese negativen Effekte nur zum Teil reduziert. Aber auch der Einsatz der binnenwirtschaftlichen Instrumente der G A P wirkt sich negativ auf den Weltmarkt aus. Durch die Fehlanreize, insbesondere der Preisstiitzungspolitik, kommt es zu einer Produktionsausweitung in der EU. Diese fiihrt entweder zu einer Verdrangung
6.4 Ausblick
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der EU-Importe oder zu einer Ausweitung des EU-Angebots auf dem Weltmarkt. Beide Effekte schlagen sich in einer entsprechenden Verschiebung der Importangebotsfunktion von A nach AQAP nieder. A u d i hier kommt es zu einer weiteren Preisreduktion von Pw2 a u ^ Pw3 und die Absatzmengen des Welthandels erhohen sich von #2 auf q%. Dies bedeutet aber fur die Anbieter aufierhalb der EU eine Verschlechterung ihrer Absatzchancen. Denn die kiinstliche Ausweitung des EUAbsatzes von A nach AQAP ist grofier als die Strecke #2#i5 so dass sich die Absatzsituation der EU-Konkurrenten verschlechtert. Wir konnen so zusammenfassend das Fazit ziehen, dass unter den Ineffizienzen der G A P nicht nur die EU-Biirger zu leiden haben, sondern dass die G A P zu weltweiten Ineffizienzen fuhrt, so dass es nur ein legitimes Interesse der W T O sein kann, gegen diese Ineffizienzen anzugehen. Marktineffizienzen konnte man hinnehmen, wenn diese tatsachlich zu mehr Gerechtigkeit fuhren wiirden. Aufgabe dieser rationalen G A P ware es dann, durch Reformen den Trade off zwischen allokativer Effizienz und Gerechtigkeit abzubauen, wie dies mit dem Instrument der E B P angestrebt wurde. Wie eingangs schon ausgefiihrt, ist die Sicherung des ProKopf-Einkommens in der Landwirtschaft als Durchschnittsgrofie keine sinnvolle, insbesondere unter Gerechtigkeitsaspekten keine akzeptable Umverteilungszielsetzung. Dass in der Vergangenheit die Einkommen der Landwirte geringer gestiegen sind als die anderer Bezugsgruppen, kann nicht per se Anlass flir kostspielige Umverteilungsmafinahmen sein. Landwirte sind nicht generell arm und hilfsbedurftig. Schaut man sich aus der Armutsvermeidungsperspektive die Umverteilungspolitik der G A P detaillierter an, so stellt man sogar fest, dass sie ein umfassender Umverteilungsmechanismus von Arm zu Reich ist und dass sich deshalb einige Regierungen der Mitgliedstaaten wie die Bundesrepublik vehement dagegen wehren, den Blirgern die Subventionsstrome mitzuteilen, weil dies zu einer Fundamentalkritik an der G A P fuhren wlirde. Zu einem Grofiteil wird die Umverteilung zugunsten der Landwirtschaft von den Konsumenten liber hohere Preise finanziert. Der relative Anteil der Ausgaben flir Grundnahrungsmittel usw. ist aber bei den Haushalten mit niedrigem Einkommen relativ hoch, so dass sie iiberproportional an der Finanzierung beteiligt sind und ein regressives Finanzierungssystem vorliegt. Schauen wir uns die Verteilung der Mitt el der G A P an, so stellt man fest, dass die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe, bei denen das Einkommen der Landwirte meist gering ist, relativ wenig vom grofien Kuchen erhalten. Es gilt die Faustregel, dass in den Mitgliedstaaten die grofien Agrarbetriebe mit einem Anteil von 20% ungefahr 80% der Zuwendungen erhalten.
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6 Agrarpolitik
Dieser verteilungspolitische Misstand wird leider audi durch die EBP nicht abgestellt, denn sowohl bei dem traditionellen, als auch bei dem pauschalierten Verteilungssystem der EBP werden die Grofien bevorzugt, sei es weil sie immer schon viel bekommen haben, sei es, weil sie liber grofie Flachen verfiigen. Bei der EBP kommt em neues Gerechtigkeitsproblem hinzu. Mit der EBP wird der Faktor Boden und nicht der Landwirt subventioniert. Da das Angebot an Boden fast vollig unelastisch ist, werden die Landeigentiimer sich diese Rente langfristig aneignen, so dass Pachter bei der EBP leer ausgehen werden. Pachter sind aber im Allgemeinen finanziell schlechter als die Landwirte gestellt, die ihren eigenen Grand und Boden bewirtschaften. Von daher ist es nur angebracht, dieses allokativ relativ vorteilhafte System der EBP kontinuierlich im Finanzvolumen zu reduzieren. Gerade die EBP macht deutlich, wie schwierig der Konflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit fur eine rationale Wirtschaftspolitik ist. Die Ineffizienz der agrarpolitischen Umverteilung wird noch dadurch verstarkt, dass ein Grofiteil der Mittel nicht in den Landwirtschaftssektor fliefit, sondern von multinationalen Lebensmittelkonzernen abgeschopft wird.
Literatur •
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Baldwin, R./Wyplosz, Ch. (2006): The Economics of European Integration, 2. Aufl., London u. a., Kapitel 9: The Common Agricultural Policy. Europaische Kommission (2005): GAP - Die Gemeinsame Agrarpolitik erklart, Briissel. Europaische Kommisson (2006): Vereinfachung der Gemeinsamen Agrarpolitik, Briissel. Kosters, U. (2005): Grundzlige der landwirtschaftlichen Marktlehre, 3. Aufl., Miinchen, Kapitel 7: Instrumente der EU-Agrarmarktpolitik. Kosters, U./El-Agraa, A. M. (2004): The Common Agricultural Policy, in: A. M. El-Agraa (Hrsg.), The European Union, Economics and Policies, 7. Aufl., Harlow u. a., S. 354 - 390. Wagener, H.-J./Eger, Th./Fritz, H. (2006): Europaische Integration - Recht und Okonomie, Geschichte und Politik, Miinchen, Kapitel 12: Agrarpolitik - eine Altlast?
7
Koordination der Finanzpolitik — Stabilitatsund Wachstumspakt
7.1 Koordination der Politikbereiche Schauen wir uns die einzelnen Politikbereiche in der EU an, so stellen wir fest, dass einige zentrale Politikbereiche vergemeinschaftet worden sind. Die Mitgliedstaaten haben diese Bereiche in die Verfugungsgewalt der Gemeinschaft iibertragen. Dies gilt u. a. fin* die einheitliche Geldpolitik im ESZB und fur die europaische Agrarpolitik. In anderen Politikfeldern, wie die Beschaftigungs-, Steuer- und Finanzpolitik, sind die Mitgliedstaaten relativ autonom. Aber auch diese nicht vergemeinschafteten Politikbereiche haben eine europaische Dimension. Da zwischen unterschiedlichen Politikbereichen meist wechselseitige Interdependenzen existieren, entsteht zwischen diesen ein Koordinationsproblem beim Instrumenteneinsatz. Dabei konnen wir zwischen einer vertikalen und einer horizontalen Koordination bei den Politikfeldern der EU differenzieren. Bei der vertikalen Koordination geht es um die Abstimmung der Politik zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten. Bei diesem Aspekt werden wir uns im Wesentlichen auf die Koordination der einheitlichen Geldpolitik mit der Finanzpolitik der Mitgliedstaaten konzentrieren, wenn wir uns dem Stabilitats- und Wachstumspakt zuwenden. Aber auch in den Politikbereichen, in denen die Mitgliedstaaten ihre Autonomic gewahrt haben, kann es aufgrund von Interdependenzen zwischen den Politiken der Mitgliedstaaten einen Koordinationsbedarf geben, wobei oft umstritten ist, ob dieser Koordinationsbedarf tatsachlich gegeben ist. Wenn es um die Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten innerhalb eines Politikbereiches geht, dann wollen wir von einer horizontalen Koordination sprechen. Paradebeispiel fur diese Form der Koordination ist die europaische Beschaftigungspolitik.
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7 Koordination der Finanzpolitik - Stabilitats- und Wachstumspakt
Horizontale und vertikale Koordinationsaufgaben konnen simultan auftreten. Dies wird offensichtlich, wenn wir die nationalen Wirschaftspolitiken und die einheitliche Geldpolitik betrachten. Hier gibt es nicht nur Abstimmungsprobleme im Bereich der Wirtschaftspolitik zwischen den Mitgliedstaaten (horizontale Koordination), sondern a u d i zwischen den Politikbereichen Geldpolitik und den nationalen Wirtschaftspolitiken (vertikale Koordination). Bei der Konzipierung der Europaischen Wahrungsunion standen zwei kontrare Auffassungen im R a u m . Nach der Kronungstheorie sollte man solange mit der Realisierung einer einheitlichen Geldpolitik warten, bis die horizontale Koordination im Bereich der Wirtschaftspolitik - im Extremfall durch eine Vergemeinschaftung dieses Bereiches - gewahrleistet ist. Dem stand die Lokomotivtheorie gegeniiber, die sich durchgesetzt hat und nach der auch ohne ausreichende horizontale Koordination eine einheitliche Geldpolitik verwirklicht werden sollte, da liber die Notwendigkeit einer vertikalen Koordination eine horizontale Koordination erzwungen wird. Diese Uberlegung hat im Stabilitats- und Wachstumspakt ihren Niederschlag gefunden.
7.2 D a r s t e l l u n g des Stabilitats- u n d W a c h s t u m s p a k t s Der Stabilitats- und Wachstumspakt (SWP) wurde vom Europaischen Rat 1996 beschlossen und dann im Vertrag von Amsterdam mit dem Artikel 104 sowie im Protokoll iiber das Verfahren bei einem libermafiigen Defizit rechtlich verankert. Mit ihm sollen iibermafiige Haushaltsdefizite in der Eurozone verhindert werden, u m das Vertrauen in die Stabilitat der Eurozone zu starken und eine solide und dauerhafte Konvergenz der Volkswirtschaften in der Eurozone zu gewahrleisten. Um diese Ziele zu verwirklichen, sind mit dem Pakt zwei Saulen geschaffen worden. Zum einen soil die m u l t i l a t e r a l Uberwachung der Haushalte eine Koordination der Finanzpolitiken in der EU ermoglichen. Zum anderen soil mit dem Verfahren bei iibermafiigen Haushaltsdefiziten ein Sanktionspotenzial geschaffen werden, das eine stabilitatswidrige Finanzpolitik in der Eurozone verhindert. Fur die Durchfiihrung des Stabilitats- und Wachstumspaktes ist die Europaische Kommission zustandig. Bevor der Stabilitats- und Wachstumspakt im Einzelnen dargestellt wird, soil zunachst auf die Frage eingegangen werden, warum eine Koordination der einheitlichen Geldpolitik und der nationalen Verschuldungspolitiken notwendig ist. Geht man von der monetaristischen The-
7.2 Darstellung des Stabilitats- und Wachstumspakts
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se aus, dass Inflation langfristig ein rein monetares P h a n o m e n ist und durch die Steuerung der Geldmenge kontrolliert werden kann, so ist im Prinzip eine Koordinierung mit den nationalen Verschuldungspolitiken nicht zwingend notwendig. Dennoch gibt es einige gute Argumente, die fur eine Koordination in diesem Bereich sprechen. Durch eine die Geldpolitik konterkarierende Verschuldungspolitik konnen die Mitgliedstaaten in erheblichem Umfang die gesellschaftlichen Kosten der stabilitatsorientierten Geldpolitik vergrofiern und so die Verfolgung dieser Geldpolitik im politischen Prozess der Gemeinschaft gefahrden. Bei unvollstandiger Information des privaten Sektors hangt der Erfolg der Stabilitatsbemuhungen der EZB von ihrer Glaubwiirdigkeit ab. Je grofier die Glaubwiirdigkeit der EZB ist, u m so schneller und u m so starker wird der private Sektor auf die Anklindigungen der monetaren Instanzen reagieren. Insbesondere schliefit eine hohe Glaubwiirdigkeit verfestigte Inflationserwartungen aus, die eine restriktive Geldpolitik nur bei Inkaufnahme holier Arbeitslosigkeit durchbrechen kann. Wird aber durch die Verschuldungspolitik seitens der Mitgliedstaaten dokumentiert, dass sie die Stabilitatsbemuhungen der EZB nicht unterstiitzen bzw. sogar zu unterlaufen versuchen, so ist die Glaubwiirdigkeit der EZB als eine strenge Hiiterin des Euro gefahrdet. Die Kosten der monetaren Stabilisierung durch die EZB werden auch schon dadurch reduziert, dass bei einer unterstiitzenden Verschuldungspolitik der Instrumenteneinsatz (z. B. Zinsen) nicht so stark dosiert werden muss. Die bis jetzt angestellten Argumente sind nicht neu. Sie galten schon in der Situation der einzelnen Mitgliedstaaten, als diese vor der Wahrungsunion eine eigenstandige Geldpolitik betrieben. Vor der Wahrungsunion existierte aber in keinem Mitgliedstaat der EU etwas Analoges zum S W P auf der nationalen Ebene. Mit der einheitlichen Geldpolitik hat es aber einen fundamentalen Wandel in den Anreizstrukturen bei den Entscheidungstragern fur die Finanzpolitik gegeben, der die Absicherung der einheitlichen Geldpolitik durch einen S W P erforderlich macht. Liegt die Geldpolitik in der Hand der nationalen Zentralbank, so kann sie anders als die EZB direkt ihre Geldpolitik auf die jeweilige Verschuldungspolitik des eigenen Staates ausrichten. Dies ist fur die EZB nicht moglich, die mit ihrer einheitlichen Geldpolitik nur auf die Gesamtverschuldungspolitik aller Mitgliedstaaten der Eurozone reagieren kann. Von daher ist u. U. ihr Sanktionspotenzial geringer. Dass die EZB auf die Verschuldungspolitik eines einzelnen Mitgliedstaates nicht reagieren kann, ist u. U. auch eine Starke der EZB. Eine nationale Zentralbank ist im Allgemeinen einem grofieren Druck aus-
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7 Koordination der Finanzpolitik - Stabilitats- und Wachstumspakt
gesetzt, die nationale Verschuldungspolitik zu alimentieren. Bei einer nationalen Geldpolitik gibt es aber Mechanismen, die im Falle der Alimentierung der Verschuldungspolitik diese abstrafen. Zum einen gerat die jeweilige W a h r u n g unter Abwertungsdruck. Zum anderen verliert der Staat bei holier Verschuldung und laxer Geldpolitik an Kreditwiirdigkeit, so dass auf dem Zinssatz eine Risikopramie aufgeschlagen wird, die die Kreditkosten erhoht und so den Schuldner abstraft. Es liegen so selektive Anreize bei einer nationalen Geldpolitik vor, die die Attraktivitat einer expansiven Verschuldung langfristig ausschliefien und so einen S W P auf nationaler Ebene iiberflussig machen. Dies gilt erst recht, wenn die nationale Zentralbank - wie die deutsche Bundesbank - eine ausreichende Unabhangigkeit besitzt und die Verschuldungspolitik nicht alimentiert. Dann wird eine zu starke Verschuldung direkt mit hoheren Nominalzinsen abgestraft, was insbesondere den Staat in seiner Schuldnerposition trifft. Betrachten wir die neuen Anreize bei der Verschuldungspolitik eines Staates der Eurozone. Zum einen muss ein einzelner teilnehmender Staat davon ausgehen, dass die EZB nicht bei einer Schuldenausweitung die Geldmenge ausreichend erhoht, da kein teilnehmender Staat geldpolitisch eine dominante Position in der EU hat, auf die die EZB zwingend reagieren muss. Dies hat aber gleichzeitig fur den teilnehmenden Staat den Vorteil, dass die Zinseffekte in der Eurozone gering sind, da alle teilnehmenden Staaten von den monetaren Auswirkungen der Verschuldungspolitik betroffen sind. Wir stellen so einen externen Effekt fest, den alle teilnehmenden Staaten - und auch diejenigen, die kein ubermafiiges Defizit zu verantworten haben - tragen miissen. Es liegt so eine Sozialisierung von Kosten vor, die die anderen teilnehmenden Staaten iiber den Crowding-out-Effekt auch beschaftigungspolitisch zu spiiren bekommen. Zum anderen reduziert das zunehmende Defizit nicht nur die Kreditfahigkeit des verursachenden Staates, sondern auch die aller teilnehmenden Staaten. Insbesondere kann durch ein ubermafiiges Defizit einzelner Teilnehmer aufgrund hoher Zinsen der Euro unter Aufwertungsdruck geraten, was bei den Teilnehmern, die schon mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu kampfen haben, zu einer nachfrageseitig bedingten zusatzlichen Arbeitslosigkeit ftihren kann. Mit dem S W P wird eine Internalisierung dieser negativen externen Effekte liber selektive Anreize in Form von Strafen geschaffen. Dabei ist man sich bewusst, dass das Externalitatenproblem nicht allein dadurch gelost wird, dass kein Mitgliedstaat fur die Schulden eines anderen aufkommen muss. Diese in Artikel 103 verankerte no-bail-out-Klausel verhindert wohl eine exzessive Verschuldung auf Kosten der anderen Mit-
7.2 Darstellung des Stabilitats- und Wachstumspakts
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gliedstaaten, raumt aber nicht die oben aufgezeigten Externalitaten aus. Des Weiteren ist zu befiirchten, dass die im EG-Vertrag verankerte no-bail-out-Klausel im Zweifelsfall nicht durchsetzbar ist, weil die negativen Externalitaten fiir die anderen Mitgliedstaaten so grofi sind, dass sie sich veranlasst sehen, fiir den hoch verschuldeten Mitgliedstaat ein Entschuldungsprogramm aufzulegen. Im Sinne der im Abschn. 7.1 skizzierten Kronungstheorie kann man den S W P als eine minimale Harmonisierung der europaischen Finanzpolitik interpretieren. Eine einheitliche Geldpolitik wird urn so schwieriger, je disparater die Finanzpolitiken der teilnehmenden Staaten sind. Wenden wir ims den beiden Saulen des S W P zu. Einmal geht es urn die m u l t i n a t i o n a l Uberwachung der Haushaltsplanungen im Rahmen der Koordination der Wirtschaftspolitik gemafi Art. 99 des EG-Vertrages. Alle teilnehmenden Mitgliedstaaten miissen dem Rat und der Kommission jahrlich ein Stabilitatsprogramm vorlegen, in dem dargelegt wird, wie und unter welchen Pramissen ein ausgeglichener Haushalt bzw. ein Uberschuss verwirklieht werden soil. Die nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten stellen ein analoges Konvergenzprogramm auf. Im R a h m e n der multilateralen Uberwachung werden diese Programme von der Kommission und dem Ecofin bewertet und der Europaische Rat priift, inwieweit die Programme ein libermafiiges Defizit ausschliefien. Der Rat kann in diesem Fruhwarnsystem im Fall unzureichender Programme nach Artikel 99, Abs. 4 des EG-Vertrages Empfehlungen (blauer Brief) aussprechen und zu Programmanpassungen auffordern. Dabei kann der Rat gegen den Willen des betroffenen Mitgliedstaates, dies gilt auch fiir die nichtteilnehmenden, mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission beschliefien, die Empfehlungen zu veroffentlichen, u m Druck auf den jeweiligen Mitgliedstaat auszuiiben, da ein echtes Sanktionspotenzial im R a h m e n der multilateralen Uberwachung fehlt. Um die Koordination der Wirtschaftspolitik zu intensivieren und eine starker stabilitatsorientierte Haushaltsplanung zu erzielen, haben sich 2002 die teilnehmenden Mitgliedstaaten darauf verstandigt, dass jeder teilnehmende Mitgliedstaat einen mittelfristig ausgeglichenen Haushalt oder einen Uberschuss ausweisen soil. Staaten, die noch ein strukturelles Haushaltsdefizit aufweisen, sollen dieses jahrlich um 0,5% reduzieren. Wenden wir uns der anderen Saule, dem Verfahren bei einem iibermafiigen Defizit, zu. Bei der Ausgestaltung des Defizitverfahens standen zwei wirtschaftspolitische Strategien zur Verftigung. Zum einen konnte man das Verfahren als eine rein diskretionare Politik ausgestalten, bei
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7 Koordination der Finanzpolitik - Stabilitats- und Wachstumspakt
der von Fall zu Fall festgestellt wird, ob em iibermafiiges Defizit vorliegt und bei der man rein fallbezogen Empfehlungen und Sanktionen ausspricht, so dass der Entscheidungstrager einen erheblichen Entscheidungsspielraum besitzt und sehr flexibel auf Veranderungen sowie neue Erkenntnisse reagieren kann. Zum anderen kann m a n eine regelgebundene Politik bei dem Defizitverfahren anwenden. Dabei wird erstens ein eindeutiges operationales Kriterium fur ein iibermafiiges Defizit vorgegeben. Dann muss ein Messverfahren fur die Zielabweichung definiert werden sowie eindeutig festgelegt werden, welche Sanktionen in Abhangigkeit von der Zielabweichung automatisch in Kraft treten. Bei einer regelgebundenen Politik muss nur einmal iiber den Regelmechanismus selbst entschieden werden. Sodann ist der Handlungsspielraum des Entscheidungstragers gleich null und Sanktionen werden automatisch wirksam. Regelgebundene Politik hat den wesentlichen Vorteil, dass sie vorhersehbar und berechenbar und - was fur die europaische Stabilitatspolitik besonders bedeutsam ist - glaubwiirdig ist, da hier eine Selbstbindung des Entscheidungstragers vorliegt. Wenn wir uns die Ausgestaltung des Defizitverfahrens anschauen, so stellen wir leider fest, dass dieses eine in sich widerspruchliche Kombination beider Strategien beinhaltet. Dies wird schon deutlich, wenn m a n die Definition eines ubermafiigen offentlichen Defizites naher betrachtet. Im Sinne einer regelgebundenen Politik liegt ein iibermafiiges Defizit vor, wenn a) die Nettokreditaufnahme 3% des Bruttoinlandproduktes u n d / o d e r b) der Schuldenstand 60% des Bruttoinlandprodukts iibersteigen. Diese eindeutigen Vorgaben werden aber relativiert, indem der Kommission ein zusatzlicher Ermessungsspielraum eingeraumt wird. So liegt bei einem Defizit iiber 3% keine Verletzung der Haushaltsdisziplin vor, wenn die prozentuale Uberschreitung erheblich und laufend zuriick gegangen ist oder die 3% nur ausnahmsweise und voriibergehend geringfiigig iiberschritten wird. Im Sinne eines Regelmechanismus wird dann der Begriff der ausnahmsweisen und voriibergehenden Uberschreitung als dann gegeben angesehen, wenn eine Naturkatastrophe eingetreten oder das reale Bruttoinlandprodukt innerhalb eines Jahres u m mindestens 2% zuriick gegangen ist. Ein geringerer Riickgang des BIP zwischen 0,75% und 2% kann angesichts weiterer relevanter Umstande auf Initiative des betreffenden Mitgliedstaates von dem Rat der europaischen Union (Ecofin) als ein Ausnahmetatbestand einer ausnahmsweisen und voriibergehenden Uberschreit u n g interpretiert werden. Letztlich entscheidet aber der R a t der EU (Ecofin) iiber das Vorliegen eines iibermafiigen Defizits. Noch grofier ist der dem Ecofin eingeraumte diskretionare Spielraum bei dem 60%
7.2 Darstellung des Stabilitats- und Wachstumspakts
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Schuldenstands-Kriterium. Ein Uberschreiten der 60% Marge ist auch dann zulassig, wenn nach Ansicht des Ecofin die Uberschreitung hinreichend riicklaufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert von 60% nahert. Der diskretionare Spielraum wird ebenfalls offensichtlich, wenn man das Sanktionspotenzial im Falle eines iibermafiigen Defizits betrachtet. Es reicht von der Verpflichtung, vor der Emission von Schuldverschreibungen und sonstiger Wertpapiere vom Rat vorgegebene Angaben zu veroffentlichen, iiber unverzinsliche Einlagen in angemessener Hohe, bis zu Geldbufien in angemessener Hohe. Dabei wird aber in der entsprechenden Verordnung 1467/97 die Hohe der Einlage bzw. der endgiiltigen Strafe im Sinne eines Regelmechanismus exakt festgelegt. Sie besteht bei einem iibermafiigen Defizit aus einer festen Komponente von 0,2% des BIP sowie zusatzlich von 0,1 mal der Abweichung des Defizits von der 3% Vorgabe. Insgesamt darf die Einlage bzw. Strafe aber 0,5% des BIP nicht uberschreiten. Die mit der Einlage verbundenen Einnahmen bzw. die Strafe werden bezogen auf das BIP anteilig an die anderen teilnehmenden Mitgliedstaaten, die kein iibermafiiges Defizit vorweisen, verteilt und fliefien nicht wie sonstige Strafen in den EU-Haushalt. Beim Verfahren, das bei einem iibermafiigen Defizit in Kraft tritt, liegt aber kein automatischer Sanktionsmechanismus vor. Vielmehr wird in einem komplizierten Entscheidungsverfahren zwischen Kommission und R a t festgelegt, ob erstens ein Defizit vor liegt. Sodann wird zweitens beim Vorliegen bestimmter Tatbestande entschieden, ob Sanktionen beschlossen werden. Dieser mehrstufige Entscheidungsprozess soil in seinen Grundziigen skizziert werden (siehe Abb. 7.2). Die Initiative bei der Eroffnung eines Defizitverfahrens geht von der Kommission aus. Ihr miissen die teilnehmenden Mitgliedstaaten nicht nur ihr Stabilitatsprogramm vorlegen, sie miissen ihr auch zum 1. Marz und 1. September jedes Jahres die erwarteten und tatsachlichen Defizit- und Schuldenstande („Maastricht-Meldung") mitteilen. Wird von einem Mitgliedstaat eine Verletzung des 3% bzw. 60% Referenzwertes mitgeteilt, so priift die Kommission, ob ein iibermafiiges Haushaltsdefizit vorliegt und erstellt einen Bericht. Sieht sie die Gefahr, dass ein iibermafiiges Defizit vorliegt, so entscheidet der Ecofin mit qualifizierter Mehrheit auf Grundlage u. a. der Stellungnahme und Empfehlung der Kommission, ob ein Defizit vorliegt. Stellt der Ecofin fest, dass ein iibermafiiges Defizit vorliegt, so spricht er dem jeweiligen Mitgliedstaat Empfehlungen zur Beseitigung des iibermafiigen Defizites aus. Dabei setzt der Ecofin eine Prist von hochstens 6 Monaten fur das Ergreifen wirksamer Mafinahmen sowie eine Prist zum Abbau des iibermafiigen Defizits. Setzt der Mitgliedstaat die Empfehlungen um,
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7 Koordination der Finanzpolitik - Stabilitats- und Wachstumspakt
so kann der Ecofin beschliefien, das Verfahren ruhen zu lassen. Sodann beurteilt der Ecofin die ergriffenen Mafinahmen des Mitgliedstaates. Kommt der Ecofin zu einer negativen Beurteilung, so kann er seine Empfehlungen veroffentlichen und so Druck auf den Mitgliedstaat ausiiben. Wahrend bei dem Fruhwarnsystem schon praventiv Empfehlungen beschlossen werden, wenn es u m zu erwartende iibermafiige Defizite geht (Ex-ante-Koordination), kommen im Defizitverfahren hingegen die tatsachlichen Uberschreitungen der Referenzwerte zum Tragen (Expost-Koordination), die entsprechend korrigiert werden miissen. Innerhalb von zwei Monaten nach der negativen Beurteilung kann nun der Ecofin das Strafverfahren in Gang setzen, indem er den Mitgliedstaat mit der Mafigabe in Verzug setzt, innerhalb von vier Monaten Mafinahmen zur Beseitigung des iibermafiigen Defizits zu ergreifen. Leistet der Mitgliedstaat nicht Folge, so kann der Ecofin mit qualifizierter Mehrheit die oben skizzierten Sanktionen beschliefien, wobei der betroffene Mitgliedstaat kein Stimmrecht hat. Dabei wird zunachst eine Strafe in Form einer unverzinslichen Einlage bei der EZB ausgesprochen. Kommt der Rat zu dem Schluss, dass nach zwei Jahren nach Erhebung der Einlage das Defizit nicht beseitigt ist, so wird die Einlage in eine Geldbufie umgewandelt. Nicht teilnehmende Mitgliedstaaten sind von dem Strafverfahren in dem Defizitverfahren nicht betroffen. Sie konnen weder in „Verzug gesetzt" werden, noch konnen gegen sie Strafen verhangt werden. Sie diirfen sich deshalb auch nicht an den Entscheidungen liber das In-Verzug-Setzen sowie der Verhangung von Strafen beteiligen.
7.3 N a t i o n a l e r Stabilitatspakt Der S W P definiert ein iibermafiiges Defizit anhand des Gesamtdefizits eines Mitgliedstaates. Die Gemeinschaft richtet sich ausschliefilich an den jeweiligen Mitgliedstaat. Er ist fur die Erftillung der Kriterien verantwortlich und alleiniger Adressat fur Vertragsstrafen. Diese Ausrichtung auf die nationale Ebene der Mitgliedstaaten schafft Koordinationsbedarf in foderalen Mitgliedstaaten, wie der Bundesrepublik Deutschland, in der die Lander eine relativ hohe Autonomic bei ihrer Haushaltspolitik haben. Bei dem S W P stellen wir so eine Diskrepanz zwischen Haftung und Entscheidung in foderativen Mitgliedstaaten fest, die in der Bundesrepublik besonders ausgepragt ist und die Fehlanreize beinhaltet. Die Lander haben kein besonderes Interesse an der Erfiillung der Defizitkriterien, da die Gemeinschaft weder ihnen gegeniiber irgend welche Entscheidungskompetenzen noch Sanktionsmoglichkeiten besitzt. Von daher ist die Verhandlungsposition der
7.3 Nationaler Stabilitatspakt
191
Lander gegeniiber dem Bund bei der Umsetzung des S W P besonders stark und ihr Interesse an institutionellen Reformen relativ gering. Das den Referenzwerten des S W P zugrunde liegende Defizit umfasst sowohl das Defizit des Bundes, der Lander und Gemeinden als a u d i der Sozialversicherungen (letztere bezuglich ihrer expliziten Schuld). Bei der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung ist per Gesetz ein ausgeglichener Jahreshaushalt vorgesehen. Die Pflegeversicherung kann zur Zeit ihr Haushaltsdefizit durch Riickgriffe auf ihr Vermogen noch ausgleichen. Die Rentenversicherung und die Krankenversicherung haben im Umlageverfahren die Verpflichtung, iiber Beitragsanpassung einen ausgeglichenen Haushalt herzustellen. F u r kurzfristige Defizite der Rentenversicherung, die nicht mehr durch die Schwankungsreserve (Nachhaltigkeitsriicklage) gedeckt werden konnen, kommt der Bund in Form von Krediten auf. Haushaltsdefizite der Bundesagentur fur Arbeit muss der Bund ausgleichen. Von daher ist es sinnvoll, die Defizite der Sozialversicherungen dem Bund zuzuweisen. Der Verschuldungsspielraum der Kommunen ist aufgrund restriktiver kommunaler Haushaltsregeln relativ gering. Dies gilt aber nicht fur den Verschuldungsspielraum der Lander und des Bundes. Fur sie gilt die „Goldende Regel", nach der die Nettokr edit aufnahme nicht hoher als die Investitionsausgaben sein darf, damit sich die Nettovermogensposition nicht verschlechtert. Diese flexible Goldene Regel ist aber mit der starren 3% Regel des S W P nicht kompatibel, da die Goldene Regel eine erhebliche Uberschreitung der 3% Grenze zulasst, so dass es einer zusatzlichen innerstaatlichen Regelung zur Umsetzung des S W P bedarf. Solange die Defizitkriterien von Bund und Landern problemlos eingehalten worden sind, bestand fur den Bund kein Anlass, sich auf eine konfliktreiche Auseinandersetzung mit den Landern einzulassen, innerstaatliche Defizitregeln zu vereinbaren. Akuter Handlungsbedarf entstand aber spatestens 2002, als ein „Blauer B r i e f der Kommission zu erwarten war und die 3% Verschuldungsgrenze iiberschritten wurde. Wie relevant eine innerstaatliche Regelung war, wird deutlich, wenn man das Verschuldungsverhalten bei Bund und Lander naher betrachtet. Insbesondere macht der Verschuldungsanteil der Lander von 40% deutlich, dass die Erfiillung der 3% Vorgabe nur mit Unterstutzung der Lander und nicht vom Bund allein verwirklicht werden kann. Bei einer innerstaatlichen Umsetzung des S W P sind folgende Aufgaben zu losen. Erstens miissen die 3% konformen Defizitobergrenzen von Bund und Landern auf der vertikalen Ebene festgelegt werden. D a n n miissen zweitens auf horizontaler Ebene die Obergrenzen zwischen den Landern bei ihrer Verschuldung festgelegt werden. Sodann
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7 Koordination der Finanzpolitik - Stabilitats- und Wachstumspakt
muss drittens ein wirksames Sanktionspotenzial geschaffen werden, das die Regelerfiillung gewahrleistet. Und abschliefiend muss viertens geklart werden, wie die Strafen der Gemeinschaft bei Vertragsverletzung auf den Bund und die einzelnen Lander verteilt werden. Durch die Einfugung des § 51a in das Haushaltsgrundsatzegesetz wurde eine innerstaatliche Umsetzung des S W P als ein nationaler Stabilitatspakt auf den Weg gebracht. Der § 51a beinhaltet, dass Bund u n d Lander eine Ruckfuhrung der Netto-Verschuldung mit dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts anstreben. Dazu stellt der mit dem Stabilitats- und Wachstumsgesetz eingerichtete Finanzplanungsrat, in dem u. a. die Finanzminister von Bund und Landern vertreten sind, Empfehlungen zur Haushaltsdisziplin und zur Vermeidung eines libermafiigen Defizits auf. Zur Konkretisierung des nationalen Stabilitatspaktes beschloss der Finanzplanungsrat, dass im Zeitraum 2002 - 2006 der Bund seine Ausgaben u m jahrlich 0,5% zuriickfahren soil und dass die Lander und Gemeinden den jahrlichen Anstieg auf 1% beschranken. Das Defizit des Bundes und der Sozialversicherungen soil nicht mehr als 45% der 3% Grenze, also 1,35% des BIP uberschreiten. Der entsprechende Anteil der Lander und Kommunen soil sich hochstens auf 55%, d. h. 1,65% des BIP belaufen. Eine Beurteilung dieses nationalen Stabilitatspaktes muss sehr kritisch ausfallen. Er ist in den letzten vier Jahren nicht annahernd eingehalten worden. Im Zeitraum 2002 - 2006 wies Deutschland standig iibermafiige Defizite auf, was die Funktionsmangel des nationalen Stabilitatspaktes offenbart. Bei dieser kooperativen Strategie fehlen u. a. verbindliche Sollvorgaben. Die entscheidende Frage, wie der 1,65% Defizit anteil der Lander und Gemeinden auf diese zu verteilen ist, ist vollig ungeklart. Dies ist aber zur Verhaltenssteuerung unbedingt notwendig und aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Situation in Westund Ostdeutschland enorm schwierig zu bestimmen. Insbesondere existiert kein sinnvoller allgemein akzeptierter Verteilungsschliissel. Verteilt man die Verschuldungsraten nach dem BIP-Anteil, so ist dies fur die neuen Bundeslander aufgrund ihrer geringen Wirtschaftskraft und ihres Nachholbedarfs bei offentlichen Investitionen inakzeptabel. Wurde man aber die Verschuldung der letzten Jahre als Bedarfsindikator zugrunde legen, ware dies fur die alten Lander nicht hinnehmbar und wiirde verschwenderische Lander belohnen. Die grofite Akzeptanz wurde wahrscheinlich eine Verteilung nach der Einwohnerzahl erreichen. Noch gravierender ist das Fehlen eines ausreichenden Sanktionspotenzials. Der Finanzplanungsrat kann nur Empfehlungen aussprechen, die vollig unverbindlich und wirkungslos sind. Der Bindungsgrad von Ver-
7.4 Reform des Stabilitats- und Wachstumspakts
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einbarungen in diesem Gremium ist gleich Null; disziplinierende Strafen fehlen.
7.4 R e f o r m des Stabilitats- u n d W a c h s t u m s p a k t s Betrachtet man die Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten der EU, so muss man feststellen, dass die disziplinierende Wirkung des S W P nicht besonders grofi war. Aufierdem kam es bei der Auslegung des S W P zu einem Konflikt zwischen der Kommission und dem Ecofin. Dieser war 2002 nicht bereit, der Empfehlung der Kommission zu folgen und Deutschland eine fruhzeitige Warnung vor der Gefahr eines ubermafiigen Defizits (blauer Brief) auszusprechen. Dabei wurde eine Inkonsistenz des S W P deutlich. Zum einen wurden mit den Referenzwerten klare Regeln vorgegeben, zum anderen wurden diese Vorgaben durch relativ vage Formulierungen verwassert und interpretierbar. Neben dem Reformbedarf wurde von - insbesondere keynesianisch orientierten Okonomen eine fundament ale Kritik geaufiert, dass der S W P mit seinem 3% Kriterium eine stabilitatswidrige Parallelpolitik induziere, so dass die Haushaltskonsolidierungsanstrengungen konjunkturverscharfende und wachstumshemmende Effekte bewirken und das ubermafiige Defizit durch die Konsolidierungsbemuhungen noch verstarkt wurden. Aus dieser Uberlegung heraus wurde eine Lockerung des 3% Wertes gefordert, um den Mitgliedstaaten einen grofieren Handlungsspielraum zu verschaffen. Diese Argumentation ist aber nur liberzeugend, wenn ein Mitgliedstaat mit einem an der Grenze von 3% liegenden Defizit in einen konjunkturellen Abschwung gerat. Deshalb miissen nach Ansicht der Kommission und des Ecofin die Anstrengungen der Mitgliedstaaten verstarkt werden, die strukturellen Haushaltsdefizite runterzufahren, damit die Mitgliedstaaten mit ausgeglichenen Budgets bzw. mit Haushaltsuberschussen einer sich abzeichnenden Rezession begegnen konnen. Dies ist nach Ansicht der Kommission und des Ecofin die bessere Alternative, die mit der Reform des S W P verwirklicht werden sollte. Beide Saulen des S W P wurden im Fruhjahr durch einen Beschluss des Ecofin einer Reform unterworfen. Was den praventiven Teil des SWP, die Kontrolle der Haushaltsplanung, betrifft, so sollten insbesondere die Konsolidierungsbemuhungen gestarkt werden. Die einzelnen Reformmafinahmen sind in Tabelle 7.1 dargestellt. Mit der Reform der praventiven Saule in Form eines starker landerspezifischen Haushaltszieles sowie eines konjunkturabhangigen Anpassungspfades wurden die Flexibilitat und auch die Effizienz des Fruhwarnsystems erhoht, wodurch der S W P durchaus an Glaubwiirdigkeit
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7 Koordination der Finanzpolitik - Stabilitats- und Wachstumspakt
Tabelle 7.1. Geltende und kiinftige Regelungen des Stabilitats- und Wachstumspakts Geltende Regelung
Kiinftige Regelungen
Haushaltsausgleich oder -iiberschuss
Landerspezifische Ziele zwischen - 1% des BIP (bei hohen W a c h s t u m s r a t e n und niedrigem Schuldenstand) und Haushaltsausgleich oder -iiberschuss
Mittelfristiges Haushaltsziel
Abweichungen Anpassungspfad zum mittelfristigen Haushaltsziel
R-echtfertigung einer O b e r s c h r e i t u n g des 3%Fteferenzwertes Aufiergewohnliche und voriibergehende Einfliisse
Sonstige Faktoren
F r i s t e n fur Deflzitkorrektur
F r i s t e n i m Defizitverfahren Feststellung eines ubermafiigen Defizits Ergreifen wirksamer Mafinahmen In-Verzug-Setzen nach Feststellen unzureichender Mafinahmen Ergreifen wirksamer Mafinahmen nach In-Verzug-Setzen P r i i f u n g der Korrekturfristen
Anmerkung: Wegen Messungenauigkeiten werden Ab-weichungen um 0,5% des BIP akzeptiert. Keine Abweichungen bei b e s t i m m t e n Strukturreformen Im P a k t nicht geregelt, aber Haushaltskonsolidierung um 0,5% des BIP, Selbstverpflichtungen des Rates wenn mittelfristiges Ziel nicht erreicht ist. Starkere Konsolidierung in „ guten Zeiten", geringe in „schlechten Zeiten". Abweichungen bei b e s t i m m t e n Strukturreformen. Keine Sanktionen bei Fehlentwicklungen.
- Naturkatastrophen - BIP-Riickgange um mindestens 2% - BIP-Riickgange zwischen 0,75% und 2% im J a h r des Ratsermessen
- Naturkatastrophen - Negative W a c h s t u m s r a t e n - Wachstumsraten unter dem Potenzialwachstum mit erheblichen kumulativen Produktionsverlusten
- Entwicklung des Wachstumspotenzials - Herrschende Konjunkturlage - Umsetzung der Lissabon-Strategie - Ausgaben fur Forschung, Entwicklung und Innovation - Friihere Haushaltskonsoldierung in „ guten" Zeiten - Tragfahigkeit des Schuldenstandes - Offentliche Investitionen - Qualitat der offentlichen Finanzen - Belastungen aus Finanzbeitragen zu Gunsten der internationalen Solidaritat - Belastungen aus Verwirklichung der Ziele der europaischen Politik, insbesondere den europaischen Einigungsprozess - Rentenreformen Im J a h r nach Festlegung, wenn Grundsatzlich im J a h r nach Festlegung. nicht „besondere U m s t a n d e " vor- Bei Vorliegen „besondere Umstande", die liegen. durch „sonsige Faktoren" definiert sind, zwei Jahre nach Festlegung. Anmerkung: Anmerkungen: - „Besondere U m s t a n d e " sind - Bei Korrekturempfehlungen nach nicht definiert. In-Verzug-Setzen diirfte der R a t weiterhin - Bei Korrekturempfehlungen frei sein bei der Fristsetzung. nach In-Verzug-Setzen ist der R a t frei bei der Fristsetzung.
Drei Monate nach halbjahrlicher Vier Monate nach halbjahrlicher HaushaltsHaushaltsmeldung meldung Vier Monate Sechs Monate Ein Monat
Zwei Monate
Zwei Monate Bei „unerwarteten Ereignissen" Verfahrensschleifen, das heifit Wiederholung der ersten Empfehlungen zur Defizitkorrektur sowie der Empfehlungen bei In-Verzug-Setzen.
Quelle: Deutsche Bundesbank (2005), S. 17
7.4 Reform des Stabilitats- und Wachstumspakts
195
gewinnt, da es bei landerspezifischeren Empfehlungen den Mitgliedstaaten schwerer fallen wird, eine unzureichende Umsetzung zu rechtfertigen. Dies ist besonders deshalb wichtig, da bei der praventiven Saule keine Sanktionen seitens der Gemeinschaft vorgesehen sind. Kritischer fallt hingegen das Urteil iiber die Reformen der korrigierenden Saule des S W P aus. So wird kritisiert, dass die Vorgabe fester Referenzwerte sowohl bei den Werten, den Fristen fur die Korrektur der Zielabweichung als auch die Kontrollfrist der Gemeinschaft gelockert worden sind, so dass ein teilnehmender Mitgliedstaat im Extremfall iiber fiinf J a h r e straffrei ein iibermafiiges Defizit ausweisen kann. Die Kritik an der Reform der korrigierenden Saule relativiert sich aber, wenn man die Fiktion aufgibt, dass der S W P eine funktionsfahige regelgebundene Politik darstellt, die durch die Reform aufgeweicht worden ist. Der S W P enthalt - wie oben ausgefiihrt - einen sehr grofien Interpretationsspielraum und an sehr vielen neuralgischen P u n k t e n stark diskretionare Elemente. Wohlwollend kann man die Reform auch dahingehend interpretieren, dass so vage Kriterien wie: „aufiergew6hnliche und voriibergehende Einfllisse" und „besondere Umstande" durch eine Aufzahlung von konkreten Tatbestanden prazisiert worden sind. Ob aber der S W P erfolgreich sein wird, hangt letztlich von einem Mindestmafl an Bereitschaft der Mitgliedstaaten ab, eine stabilitatskonforme Finanzpolitik zu verfolgen. Fehlt diese Bereitschaft, dann sind Reformen des Regelwerkes des S W P relativ nutzlos und wirkungslos, da die Kommission eine stabilitatskonforme Finanzpolitik nicht erzwingen kann.
Liter at ur •
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• •
Deutsche Bundesbank (2005): Defizitbegrenzende Haushaltsregeln und nationaler Stabilitatspakt, in: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, H. 4, 57. Jg., S. 23 - 38. Deutsche Bundesbank (2005): Die Anderungen am Stabilitats- und Wachstumspakt, in: Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, H. 4, 57. Jg., S. 16 - 22. Europaische Zentralbank (1999): Die Umsetzung des Stabilitatsund Wachstumspakts, in: Monatsbericht der EZB, H. 5, S. 49 68. Europaische Zentralbank (2005): Die Reform des Stabilitats- und Wachstumspakts, in: Monatsbericht der EZB, H. 8, S. 63 - 80. Schwarze, U./Snelting, M. (2002): Der Nationale Stabilitatspakt, in: Wirtschaftsdienst, 82. Jg., S. 272 - 277.
196 •
7 Koordination der Finanzpolitik - Stabilitats- und Wachstumspakt
Siebert, H. (2003): Weshalb die Europaische Wahrungsunion den Stabilitatspakt braucht, in W. Franz, K. G. Adam (Hrsg.), Instrumente der Finanzpolitik, Frankfurt a. Main, S. 170 - 181. • Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2003): Stellungnahmen: Verbesserungsvorschlage fiir die Umsetzung des Deutschen Stabilitatspaktes.
8
Europaische Beschaftigungspolitik und die Offene Methode der Koordinierung
Eines der wiehtigsten Kriterien zur Beurteilung der EU ist das Ziel der Vollbeschaftigung. Nun ist aber die Beschaftigungspolitik originare Aufgabe der Mitgliedstaaten. Erst mit der Aufnahme des Titels „VIII Beschaftigung" in den Vertrag von Amsterdam hat sich ein gewisser Wandel vollzogen. So sieht der Artikel 125 die Entwicklung „einer koordinierten Beschaftigungsstrategie" vor und im Artikel 126 wird explizit betont, dass „die Forderung der Beschaftigung als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse" betrachtet wird und dass nach Artikel 127 die Gemeinschaft zu einem hohen Beschaftigungsniveau beitragt. Dabei wird aber die Zustandigkeit der Mitgliedstaaten beachtet.
8.1 Begriindung der Europaischen Beschaftigungspolitik Bevor wir auf die Ausgestaltung der Europaischen Beschaftigungsstrategie (EBS) eingehen, ist es sinnvoll, zu klaren, weshalb es zur Entstehung einer EBS kam. Der europaische Arbeitsmarkt ist durch immense Heterogenitat gekennzeichnet. Dies gilt nicht nur fur seine institutionelle Ausgestaltung und fur die Arbeitsmarkt- und Beschaftigungspolitik der Mitgliedstaaten, sondern auch bezuglich der Performance auf dem Arbeitsmarkt. So finden wir eine hohe Varianz in den Arbeitslosenraten der Jugendlichen, der Langzeitarbeitslosen sowie der Beschaftigungsraten. Aufgrund dieser Heterogenitat macht eine einheitliche EBS eigentlich keinen Sinn. Dass sich dennoch die Mitgliedstaaten auf eine EBS einigen konnten, liegt zum einen an ihrer Ausgestaltung, bei der die Autonomie der Mitgliedstaaten im Bereich der Beschaftigungspolitik weitgehend gesichert blieb. Zum anderen hatte sich die Beschaftigungssituation in alien EU-Mitgliedslandern zu Beginn der 90er Jahre verschlechtert, so
198
8 Europaische Beschaftigungspolitik und die OMK
dass man einen gemeinsamen Handlungsbedarf auf europaischer Ebene feststellte. Mit dem Maastricht-Vertrag liber die Wahrungsunion wurde aufgrund der Konvergenzkriterien eine konzertierte Haushaltskonsolidierungsstrategie bei den Mitgliedstaaten induziert, was zu mehr Preisniveaustabilitat fiihrte, aber mit durchaus negativen Auswirkungen auf den europaischen Arbeitsmarkt verbunden war. Die Notwendigkeit einer EBS ergibt sich nach Ansicht der Kommission aber nicht nur in der Einfiihrungsphase der Wahrungsunion. Auch mit der einheitlichen Geldpolitik steht die Beschaftigungspolitik der Mitgliedstaaten vor neuen Herausforderungen. Zum einen kann die einheitliche Geldpolitik nicht gezielt auf die jeweiligen Besehaftigungsprobleme eines Mitgliedstaates ausgerichtet werden. Zum anderen wird durch den Stabilitats- und Wachstumspakt der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten eingeschrankt. Mit der Einfiihrung der Europaischen Wahrungsunion geht eine Verschiebung in der grundlegenden Zielsetzung der EU in dem Sinne einher, dass dem Ziel der Geldwertstabilitat eine iibergeordnete Rolle eingeraumt wird und die EZB nur diesem Ziel verpflichtet ist. Von daher fiihrte nach Meinung der Anhanger einer EBS die Wahrungsunion zu einer sozialpolitischen Schieflage, indem mehr wirtschaftliche Aspekte in den Vordergrund und soziale Fragen und die Kohasion in der EU in den Hintergrund riickten. Um diese Schieflage zu beseitigen, wurde mit dem Beschaftigungskapitel dem Ziel der Vollbeschaftigung ein zentraler Stellenwert eingeraumt. Mit der Realisierung des Gemeinsamen Marktes und der anstehenden Wahrungsunion wuchs die Furcht, dass der schon durch den Globalisierungsprozess induzierte verstarkte Wettbewerb zu einem Sozialdumping unter den Mitgliedstaaten fiihren wurde. Durch Sozialkiirzungen u. A. konnten einige Mitgliedstaaten so die grofie Sorge - versuchen, ihre Wettbewerbsposition und damit auch ihre Beschaftigungssituation zu verbessern. Aus okonomischer Perspektive gibt es aber nur schwache Argumente, die fur eine koordinierte Beschaftigungspolitik sprechen. Betrachtet m a n die beiden Zentralisierungsargumente: EU-weite identische Praferenzen sowie Externalitaten, so kann m a n durchaus von relativ homogenen Praferenzen ausgehen, wenn es um das abstrakte Ziel der Vollbeschaftigung geht. Anders stellt sich die Situation dar, wenn es u m die Existenz von EU-weiten Externalitaten auf dem europaischen Arbeitsmarkt geht. Solange die Mobilitat des Faktors Arbeit in Europa gering ist und keine erheblichen Strukturfondsmittel fur mit hoher Arbeitslosigkeit konfrontierte Regionen vorgesehen sind, existieren auch keine bedeutsamen Externalitaten, die eine EU-weite Koordination erfordern.
8.1 Begrundung der Europaischen Beschaftigungspolitik
199
Natiirlich existieren durchaus schwache indirekte Externalitaten. Hohe Arbeitslosigkeit wirkt sich z. B. iiber eine verringerte Nachfrage auf die Absatzchancen anderer Regionen aus. Weiter kann man argumentieren, dass eine schlechte Beschaftigungsentwicklung in einigen Regionen der EU eine konsequente auf Preisniveaustabilitat ausgeriehtete einheitliche Geldpolitik gefahrden kann. Dies kann m a n am Konzept der naturlichen Arbeitslosigkeit erlautern, das man durchaus als das grundlegende theoretische Paradigma der EBS bezeichnen kann. Den Ausgangspunkt dieses Konzeptes bildet die Phillipskurve, wie sie in Abb. 8.1 dargestellt ist. Die Phillipskurve gibt die empirische wP
4
wPl
EwP = 0 Abbildung 8.1. Phillipskurve Beziehung zwischen Inflationsrate wp und Arbeitslosenrate U wieder. Sie verlauft konvex und gibt eine kurzfristige Beziehung zwischen den beiden Grofien wieder. W a h r e n d man in den 70er Jahren die Phillipskurve als eine stabile Beziehung interpretierte, die einen Trade-off zwischen dem Ziel der Vollbeschaftigung und dem der Geldstabilitat wiederspiegelt, hat sich das Konzept der natiirlichen Arbeitslosenrate (NAIRU=Non-Accelerating Inflation R a t e of Unemployment) durchgesetzt. Versucht man z. B. mit einer expansiven Geldpolitik ausgehend von der Phillipskurve Ewp = 0, bei der die Akteure eine Inflationsrate Ewp = 0 erwarten, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, indem man eine Inflationsrate wp1 zulasst, so wird die Arbeitslosigkeit nur kurzfristig auf das Niveau U\ gesenkt. Die Wirtschaftssubjekte, die bisher von einer Inflationsrate von 0 ausgegangen sind, werden durch die ho-
200
8 Europaische Beschaftigungspolitik und die OMK
here Inflationsrate getauscht und passen ihre Erwartungen an die neue Inflationsrate wp1 an, so dass sich die Phillipskurve von Ewp = 0 nach Ewpx verschiebt. Nur durch ein weiteres Anheizen der Inflation kann eine Arbeitslosigkeit realisiert werden, die geringer als Unat ist. Diese natiirliche Arbeitslosenrate ist dadurch gekennzeichnet, dass sie immer dann realisiert wird, wenn die erwartete Inflationsrate mit der tatsachlichen iibereinstimmt. Die natiirliche Arbeitslosenrate spiegelt das Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt wieder und gilt als eine stabile Grofle, von der nur durch eine expansive Konjunkturpolitik kurzfristig abgewichen werden kann. Die entscheidenden Determinanten fur die Hohe der natiirlichen Arbeitslosenrate sind nach Friedman (1968) Grofien wie die Macht der Tarifparteien, Inflexibilitaten des Arbeitsmarktes, Informationsdefizite, aber auch ein verkrusteter Gutermarkt usw. Will man Arbeitslosigkeit langfristig beheben, so muss die EBS an diesen Marktunvollkommenheiten ansetzen. Schauen wir uns aus der Perspektive dieser theoretischen Konzeption den europaischen Arbeitsmarkt an, so zeigt eine Studie von Eichhorst u. a. (2001), dass, wie in Tabelle 8.2 dargestellt, die natiirlichen Arbeitslosenraten erheblich divergieren. Dies erschwert ungemein die einheitliche Geldpolitik, da Lander mit einer hohen Arbeitslosenrate Druck auf die EZB ausiiben werden, die Geldpolitik zu lockern, u m den Arbeitsmarkt einen Beschaftigungsimpuls zu geben. Noch schwieriger wird die einheitliche Geldpolitik, wenn wir uns in der Gemeinschaft die Abweichungen von der jeweiligen natiirlichen Arbeitslosenrate anschauen. Es existieren, siehe Tabelle 8.3, Mitgliedslander, deren Arbeitslosenrate hoher ist als die natiirliche, so dass sie eine expansive Geldpolitik benotigen, und solche, in denen das Gegenteil gegeben ist. Die einheitliche Geldpolitik wird aufgrund von Diskrepanzen in den Inflationserwartungen in den einzelnen Mitgliedstaaten zusatzlich erschwert. Diese sind z. B. auf unterschiedliche Reagibilitaten auf dem Arbeitsmarkt, auf Produktivitatsunterschiede usw. zuriickzufiihren. Gelingt es der EBS, die natiirlichen Arbeitslosenraten in der EU auf einem niedrigem Niveau anzugleichen und die Rigiditaten auf dem Arbeitsmarkt abzubauen, so wiirde sie damit die Effizienz der einheitlichen Geldpolitik verbessern und so eine EU-weite positive Externalitat bewirken.
8.1 Begriindung der Europalschen Beschaftigungspolitik
F
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201
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Die Berechnung bezieht sich fur die meisten Lander auf die von den L a n d e r n ausgewiesenen Arbeitslosenquoten. F u r Belgien und D a n e m a r k w u r d e n die s t a n d a r d i s i e r t e n Arbeitslosenquoten verwendet. Quelle:
Eichhorst
u. a. (2001),
S. 87
Abbildung 8.2. Strukturelle Arbeitslosenquote in %, 1999
-1.5 -1.5 -2.0 D
FIN
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G B USA DK IRL NL
Die Berechnung bezieht sich fur die meisten Lander auf die von den L a n d e r n ausgewiesenen Arbeitslosenquoten. F u r Belgien und D a n e m a r k wurden die s t a n d a r d i s i e r t e n Arbeitslosenquoten verwendet. Quelle:
Eichhorst
u. a. (2001),
S. 87
Abbildung 8.3. Differenz zwischen der tatsachlichen und der strukturellen Arbeitslosenquote in Prozentpunkten, 1999
202
8 Europaische Beschaftigungspolitik und die OMK
8.2 D a r s t e l l u n g u n d E n t w i c k l u n g der Europaischen B e s c h a f t i g u n g s p o l i t i k Die EBS beinhaltet eine jahrliche Analyse der Beschaftigungslage der Gemeinschaft in Form eines Jahresberichtes des Ministerrats und der Europaischen Kommission. Anhand des Berichts priift der Europaische Rat die Beschaftigungslage in der EU. Nach dem Vertrag von Amsterdam ist die Europaische Kommission die Agenda-Setting-Institution der EBS. Sie schlagt aufbauend auf den Schlussfolgerungen des Europaischen Rates dem Ministerrat beschaftigungspolitische Leitlinien vor, die vom Rat nach Anhorung des Europaischen Parlaments, des Ausschusses der Regionen sowie des im R a h m e n der EBS neu geschaffenen Beschaftigungsausschusses mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Die Leitlinien der Kommission werden dann von den Mitgliedstaaten in ihrer Beschaftigungspolitik berlicksichtigt, liber die diese jahrlich einen Bericht erstellen. Anhand der Berichte und der Stellungnahme des Beschaftigungsausschusses nimmt der Europaische Rat eine Evaluierung vor. Er kann auf Empfehlung der Kommission mit qualifizierter Mehrheit Empfehlungen an die Mitgliedstaaten aussprechen. Die Gemeinschaft verfiigt aber nicht uber ein Sanktionspotenzial bei der EBS. Diese recht vagen Prinzipien der EBS wurden in sogenannten Prozessen schrittweise konkretisiert und umgesetzt. Im Luxemburg-Prozess wurden vom Europaischen Rat beschaftigungspolitische Leitlinien aufgestellt, die auf vier Saulen aufbauen: • • • •
Verbesserung der Beschaftigungsfahigkeit, Forderung des „Unternehmensgeistes", Verbesserung der Anpassungsfahigkeit von Unternehmen und Arbeitnehmern, Forderung der Chancengleichheit von Mannern und Frauen (Gender Mainstreaming).
Diese Leitlinien werden von den Mitgliedslandern durch Nationale Aktionsplane (NAP) umgesetzt. Diese werden dann durch einen gemeinsamen Beschaftigungsbericht der Kommission und des Europaischen Rates evaluiert und es werden von ihnen - wenn notwendig Empfehlungen fur die Mitgliedslander ausgesprochen. Mit der Konkretisierung im Luxemburg-Prozess wurden die Eckpfeiler fur die „Offene Methode der Koordinierung (OMK)" geschaffen, die auf dem Gipfel von Lissabon in das Gemeinschaftsrecht ubernommen wurde und die wir spater ausfuhrlich darstellen werden. Im Cardiff-Prozess von 1998 wurde eine Erweiterung der EBS vorgenommen. Will man mehr Beschaftigung, dann reicht es nicht aus, die
8.2 Darstellung und Entwicklung der Europaischen Beschaftigungspolitik
203
Reformen allein auf den Arbeitsmarkt zu konzentrieren. Die Arbeitsnachfrage der Unternehmen bestimmt sich als abgeleitete Nachfrage, wie im Abschn. 2.4.1 dargestellt, uber die vorgelagerte Giiternachfrage. Von daher kommt der Wettbewerbssituation auf den Gliter- und Finanzmarkten eine zentrale Stellung zu. Reformdefizite auf den Gliterund Finanzmarkten lassen sich nicht vollstandig mittels Arbeitsmarktreformen kompensieren. Bei den im Cardiff-Prozess angestofienen Reformen geht es u m so grundlegende Aufgaben wie: Erhohung der Marktflexibilitat, Offnung des offentlichen Auftragswesens, Verbesserung der Rahmenbedingungen fiir KMU. Eine weitere Vertiefung der EBS wurde mit dem Koln-Prozess von 1999 verwirklicht, in dem ein makrookonomischer Dialog angestofien wurde. Bei dieser korporatistischen Politik sollen sich die zentralen Akteure: Rat, Kommission, EZB und die Tarifparteien in ihren wirtschaftspolitischen Strategien absprechen. Es geht dann nicht mehr nur u m eine koordinierte Beschaftigungspolitik in der EU, sondern auch u m eine Koordination der Beschaftigungs- mit der Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik auf der EU-Ebene. Als ein Meilenstein in der Entwicklung der EBS wird der Gipfel des Europaischen Rates in Lissabon 2000 bezeichnet. Mit der LissabonStrategie wurde die „Offene Methode der Koordinierung" (OMK) nicht nur rechtlich verankert, sondern diese spezifische Methode der EBS wurde dahingehend verallgemeinert, dass sie auch in anderen Politikbereichen der Gemeinschaft angewandt werden kann. Der Europaische Rat definierte auf dem Lissabon-Gipfel die Offene Methode der Koordinierung wie in Tabelle 8.1. Mit der Lissabon-Strategie wurde die langfristige Orientierung der EBS verstarkt, indem sehr anspruchsvolle Zielvorgaben fiir 2010 vereinbart wurden. Neben der generellen Zielsetzung „der wettbewerbsfahigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden", wurde konkret beschlossen, dass die allgemeine Beschaftigungsquote von 6 1 % bis 2010 auf 70% und die der Frauen von 5 1 % auf 60% erhoht werden sollen. Zentraler Ansatz zur Realisierung dieser Zielvorgaben ist dabei die Steigerung der ProKopf-Investitionen in Humanressourcen in einer wissensbasierten Gesellschaft. Auf dem Gipfel von Stockholm in 2001 wurden die langfristigen Zielvorgaben durch drei Zwischenziele konkretisiert: Bis 2005 soil die allgemeine Beschaftigungsquote 67%, die von Frauen 57% und die der alteren Arbeitnehmer bis 2010 den Wert von 50% erreichen. Die mit der Lissabon-Strategie ermoglichte Ausweitung der OMK auf andere Poli-
204
8 Europaische Beschaftigungspolitik und die OMK Tabelle 8.1. Definition der OMK
Definition der OMK gemaB den Schlussfolgerungen des Europaischen Rats von Lissabon 2000: LFestlegung von Leitlinien fur die Union mit einem jeweils genauen Zeitplan fur die Verwirklichung der von ihnen gesetzten kurz-, mittel- und langfristigen Ziele; gegebenenfalls Festlegung quantitativer und qualitativer Indikatoren und Benchmarks im Vergleich zu den Besten der Welt, die auf die in den einzelnen Mitgliedstaaten und Bereichen bestehenden Bediirfnisse zugeschnitten sind, als Mittel fiir den Vergleich der bewahrten Praktiken; Umsetzung dieser europaischen Leitlinien in die nationale und regionale Politik durch Vorgabe konkreter Ziele und den ErlaB entsprechender Mafinahmen unter Berlicksichtigung der nationalen und regionalen Unterschiede; regelmafiige Uberwachung, Bewertung und gegenseitige Pruning im Rahmen ernes Prozesses, bei dem alle Seiten voneinander lernen."
tikbereiche wurde sukzessive genutzt. Folgende weitere Politikbereiche wurden in die OMK iiberfuhrt: • • • • • •
Ausgrenzung und Diskriminierung, Alterssicherung, Asyl- und Migrationspolitik, Jugendpolitik, Bildungspolitik, Gesundheitspolitik.
In 2005 wurde eine Anpassung der Lissabon-Strategie vorgenommen und die EBS iiberarbeitet. Zielsetzung der Reform ist es, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen zu verbessern. Aufgrund der unzureichenden Umsetzung der LissabonStrategie einigte man sich auf sogenannte Integrierte Beschaftigungspolitische Leitlinien fiir den Governance-Zyklus 2005 - 2008, um die drei grundlegenden Ziele der EBS „Vollbeschaftigung, Arbeitsplatzqualitat und Arbeitsproduktivitat, sozialer Zusammenhalt und soziale Eingliederung" zu verwirklichen. Um die Koordination zwischen den Politikbereichen zu verbessern, entwickelte die Kommission „Integrierte Leitlinien fiir Wachstum und Beschaftigung (2005 - 2008)", in denen die makrookonomischen, mikrookonomischen und die beschaftigungspolitischen Leitlinien zusammengefiihrt wurden (siehe Tabelle 8.2), deren Bewertung wir uns zuwenden.
8.2 Darstellung und Entwicklung der Europaischen Beschaftigungspolitik
205
Tabelle 8.2. Integrierte Leitlinien fiir Wachstum und Beschaftigung (20052008) iMakrookonomische Leitlinien (1) Wirtschaftliche Stabilitat sichern. (2) Wirtschaftliche Nachhaltigkeit gewahrleisten. (3) Eine effiziente Ressourcenallokation for der n. (4) Eine grofiere Koharenz zwischen makrookonomischer Politik und Strukturpolitik herstellen. (5) Sicherstellen, dass die Lohnentwicklung zur makrookonomischen Stabilitat und zum Wachstum beitragt. (6) Dynamik und Funktionieren der WWU verbessern. Mikrookonomische Leitlinien (7) Den Binnenmarkt, einschliefilich der Dienstleistungen, erweitern und vertiefen. (8) Die Markte offen und wettbewerbsorientiert gestalten. (9) Das Unternehmensumfeld attraktiver machen. (10) Unternehmerische Kultur fordern und das Wirtschaftsumfeld KMU-freundlicher gestalten. (11) Die europaische Infrastruktur ausbauen und verbessern und vereinbarte prioritare grenziiberschreitende Projekte durchfiihren. (12) Mehr und efflzienter in FuE investieren. (13) Innovation und IKT-Integration fordern. (14) Eine nachhaltige Ressourcennutzung begunstigen und die Synergien zwischen Umweltschutz und Wachstum starken. (15) Zur Schaffung einer soliden industriellen Basis beitragen. Beschaftigungspolitische Leitlinien (16) Die Beschaftigungspolitik ausrichten auf Vollbeschaftigung, Steigerung der Arbeitsplatzqualitat und Arbeitsproduktivitat und Starkung des sozialen und terretorialen Zusammenhalts. (17) Einen lebenszyklusorientierten Ansatz in der Beschaftigungspolitik fordern. (18) Arbeitssuchende und benachteiligte Menschen besser in den Arbeitsmarkt integrieren. (19) Den Arbeitsmarkterfordernissen besser gerecht werden. (20) Flexibilitat und Beschaftigungssicherheit in ein ausgewogenes Verhaltnis bringen und die Segmentierung der Arbeitsmarkte verringern. (21) Die Entwicklung der Lohnkosten und der sonstigen Arbeitskosten beschaftigungsfreundlich gestalten. (22) Die Investitionen in Humankapital steigern und optimieren. | Quelle: Europaische Kommission (2005)
206
8 Europaische Beschaftigungspolitik und die OMK
8.3 D e r M e h r w e r t der E u r o p a i s c h e n Beschaftigungspolitik u n d der Offenen M e t h o d e der K o o r d i n i e r u n g Die durch die EBS initiierte und getragene OMK baut nach Ansicht der Kommission auf fiinf Schliisselelementen auf, die den Mehrwert dieser Methode ermoglichen. S u b s i d i a r i t a t : Nach dem Vertrag von Maastricht verfiigen die Mitgliedstaaten im Bereich der Beschaftigungspolitik iiber vollstandige Souveranitat. Mit der OMK wird diese Souveranitat gewahrt und dennoch iiber die Festlegung von gemeinsamen Zielen in Form von Leitlinien eine ausreichende Koordination verwirklicht. Dabei konnen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Leitlinien iiber die N A P eine eigenstandige Beschaftigungspolitik verwirklichen. Es muss aber kritisch gefragt werden, ob dieses neue Politikinstrument, das auf soft law beruht, langfristig tragfahig ist oder nur von transistorischem Charakter ist. Die OMK baut letztlich auf Freiwilligkeit auf und ist eine Politik der moral suasion, die z. B. in Deutschland in Form der konzertierten Aktion mehr oder weniger gescheitert ist. Bei der OMK kann die Kommission durch „naming, blaming, shaming" bei Zielabweichungen einen gewissen Druck auf die Mitgliedstaaten ausiiben. Da aber die OMK auf der nationalen Ebene keinen hohen politischen Stellenwert besitzt, wird dieser Druck nicht ausreichen. Effektiver ist die Strategie der Kommission, die Erfullung der Zielvorgaben der EBS mit der Mittelvergabe aus den Strukturfonds zu verkniipfen. Entspricht der N A P eines Mitgliedstaates nicht den beschaftigungspolitischen Vorstellungen der Kommission, so kann sie iiber die erforderliche Genehmigung der Entwicklungsprogramme fur die Strukturfonds, insbesondere fiir den beschaftigungsrelevanten ESF, Kompromisse erzwingen. Dieser Spielraum, Druck ausiiben zu konnen, ist fiir die Kommission durch die „leistungsgebundene Reserve" der Strukturfondsmittel verstarkt worden, die ab 2003/04 nach Leistungskriterien im Sinne von best practice vergeben wird. Sind erst einmal die Entwicklungsprogramme, die eine Laufzeit von sieben Jahren haben, von der Kommission genehmigt worden, so besitzt die Kommission fiir eine geraume Zeit kein Sanktionspotenzial. Dies gilt nicht fiir die leistungsgebundene Reserve. Mit der HalbzeitevaluierungindexHalbzeitevaluierung der Entwicklungsprogramme und der damit verbundenen Moglichkeit der Programmanpassung wird der Sanktionsspielraum der Kommission erweitert. Diejenigen, die eine Starkung der EBS fordern, vertreten deshalb auch die Auffassung, dass die OMK ihr Sanktionspotenzial ausweiten und sie mit hartem Recht gestarkt werden sollte,
8.3 Der Mehrwert der Europ. Beschaftigungspolitik und der OMK
207
damit sie ihre Zwitterstellung als dritten Weg zwischen dem Gemeinschaftsrecht in Form von Richtlinien und Verordnungen und der intergouvernementalen Zusammenarbeit verliert. Diese Entwicklung ist aber mit dem Subsidiaritatsprinzip der Gemeinschaft nicht vereinbar. Konvergenz: Von Konvergenz kann man auf drei Ebenen sprechen, Zielvorgabe, Instrumenteneinsatz und Zielrealisation. Alle drei Ebenen werden von der OMK beeinfiusst. Zum einen beschliefit der Europaische Rat einheitliche Leitlinien der EBS. Dabei muss aber gefragt werden, ob diese Einheitlichkeit nicht durch Beliebigkeit und Vagheit erkauft wird. Schaut man sich z. B. den umfangreichen Katalog von Leitlinien in Tabelle 8.2 an, so sind sie alle ohne weiteres konsensfahig. Wer ist schon nicht fur wirtschaftliche Stabilitat oder effiziente Ressourcenallokation usw. Auf der Ebene des Instrumenteneinsatzes miissen zwei Pragen aufgegriffen werden. Erstens, gibt es eine Konvergenz im Instrumenteneinsatz im Rahmen der EBS? Diese ist bei den Mitgliedstaaten empirisch nicht festzustellen und aufgrund der Unterschiede in der Ausgestaltung der Arbeitsmarktbeziehungen und sozialen Sicherungssysteme auch nicht zu erwarten. Daraus ergibt sich zweitens die Prage, ob ein harmonisierter Instrumenteneinsatz tiberhaupt erwtinscht ist? Auch hier wird die Antwort eher nein sein. Diese Uberlegungen haben aber zur Folge, dass oft die mit grofiem Enthusiasmus gelobten Steuerungsinstrumente wie bench marking und best practice kritischer gesehen werden miissen. Konvergenz macht auf der dritten Ebene der Zielrealisation im Sinne der wirtschaftlichen und sozialen Kohasion Sinn, da beziiglich des Ziels der Vollbeschaftigung ein EU-weiter Konsens existiert. Von daher ist die EBS im Gegensatz zu anderen Politikbereichen, bei denen schon die Definition, an welchem Ziel Konvergenz gemessen werden soil, strittig ist, fur die OMK geeignet. Gegenseitiges Lernen: Die obigen Ausftihrungen deuten schon an, dass es nicht unbedingt gerechtfertigt ist, die optimistische Einschatzung der Kommission bei der Bewertung der OMK zu teilen. Ob die praktischen Erfahrungen einzelner Mitgliedstaaten bei der EBS ohne weiteres iibertragbar sind, muss bezweifelt werden. Dies ist besonders dann fraglich, wenn sie sich nicht auf einen einzigen theoretischen Ansatz der Erklarung der Arbeitslosigkeit bezieht, sondern - wie im kritischen Rationalismus - von konkurrierenden, aber bisher gut bewahrten Theorien ausgeht. Auch wenn die neoklassische Theorie im Rahmen der EBS auf breite Akzeptanz stofit, so ist damit nicht gesagt, dass sie die einzig richtige Theorie darstellt, auch wenn sie in vielen
208
8 Europaische Beschaftigungspolitik und die OMK
Bereichen konkurrierenden Theorieansatzen iiberlegen ist. Die Unterstellung einer einzig wahren theoretischen Erklarung und der damit einhergehenden best practice kann durchaus zur Aushebelung des demokratischen Diskurses auf der EU-Ebene flihren. Sie impliziert, dass andere keine guten Ergebnisse realisiert haben, weil sie nicht bereit sind, die best practice anzuwenden. Dieser Ansatz fuhrt schnell zu Verschworungstheorien - im Sinne von nicht lernen wollen oder konnen - , die demokratiefeindlich sind und zur Losung des Beschaftigungsproblems wenig beitragen. Hinzu kommt, dass das Konzept der best practice u. U. nicht den politischen Realitaten gerecht wird. Zum einen kann es sein, dass eine Regierung wohlbegriindet auf die Umsetzung von best practice verzichtet, da der gesellschaftliche Widerstand die Realisierung nicht zulasst. Dieser klugen Regierung dann mangelnde Lernfahigkeit zu unterstellen, ist nicht angemessen. Zum anderen kann der Erfolg von best practice von besonderen Gegebenheiten eines Mitgliedstaates abhangen, die in anderen Landern nicht gegeben sind, was aufgrund der Heterogenitat in der EU nicht unwahrscheinlich ist. E i n i n t e g r i e r t e s K o n z e p t : Die Erkenntnis der Kommission und des Europaischen Rates, dass die hohe Arbeitslosigkeit in der EU nicht ausschliefilich ein Problem des Arbeitsmarktes, sondern auch auf Defizite in anderen Politikbereichen zuriickzufuhren ist, muss begriifit werden. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass diese umfassende Herausforderung im Rahmen der OMK nur durch eine integrierte Politik aller Bereiche zu bewaltigen ist, wie dies in dem integrierten Konzept fur Wachstum und Beschaftigung geaufiert wird, ist problematisch. Zum einen passt dieser holistische Ansatz, der die Kenntnis aller Interdependenzen zwischen den Politikbereichen voraussetzt, nicht zu einem iterativen Prozess des kontinuierlichen Lernens durch Erfahrungsaustausch. Es besteht auch bei diesem umfassenden Ansatz die Gefahr, dass sich die Gemeinschaft verzettelt, da sie alle beschaftigungsrelevanten Probleme gleichzeitig angehen will. Eine Konzentration auf das Wesentliche ist hier anzuraten. F i i h r e n n a c h Zielen: Greift m a n auf die klassische Definition rationaler Politik im Sinne: „vorgegebener Ziele mit einem optimalen Instrumenteneinsatz zu maximieren" zuriick, so muss man diese Zielorientierung der OMK nur gut heifien. Insbesondere die Vorgabe quantifizierter Ziele erleichtert die Evaluierung der EBS. Ob aber damit, wie die Kommission unterstellt, die Politik transparenter gemacht und offener fur die Bewertung durch die Offentlichkeit wird, muss bezweifelt werden. Die offentliche Resonanz auf die OMK war bisher sehr bescheiden. Die Bevolkerung interessiert sich nicht fur einen Wust von 80
8.3 Der Mehrwert der Europ. Beschaftigungspolitik und der OMK
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Indikatoren im Rahmen der OMK, die oft sehr abstrakt sind, immenses Detailwissen voraussetzen und nur wenig Bezug zu ihren konkreten Alltagsproblemen haben. Hier stellt die OMK eher eine intellektuelle Uberforderung dar. Selbst ausgewiesene Experten haben grofie Schwierigkeiten, anhand der Vielzahl von Indikatoren nachvollziehbare Aussagen zur best practice zu machen, da die unterschiedliche Gewichtung der vielen Indikatoren zu recht unterschiedlichen Bewertungen fiihren kann. Von daher suggerieren das bench marking und best practice eher Pseudoob j ekti vit at. Benotigt die EBS iiberhaupt eine Fiihrung nach Zielen? Zum einen muss man sich fragen, ob wir zur Koordinierung im Gegensatz zu einer Harmonisierung von Politik (siehe dazu ausfuhrlich Kap. 12) ein einheitliches Zielsystem von Leitlinien benotigen, wenn die OMK recht heterogene NAP zulasst. Ware es nicht sinnvoller, auf der EU-Ebene einen beschaftigungspolitischen Konsens zu finden, indem man sich bei unterschiedlichen Zielsetzungen direkt auf konkrete Mafinahmen einigt, anstatt sich auf recht vage Ziele zu einigen, die von jedem Mitgliedstaat in seinem Sinne interpretiert und realisiert werden konnen? Selbst wenn der hier angesprochene Mehrwert der OMK gegeben ist, so entscheidet letztlich liber die Uberlebensfahigkeit der OMK ihre Effektivitat und Effizienz. Schauen wir uns die beschaftigungspolitische Bilanz der OMK an, so ist die Bilanz mehr als bescheiden. Mit der Einfuhrung der OMK ist die Arbeitslosigkeit in vielen Landern gestiegen und hoher als zum Zeitpunkt ihrer Einfuhrung. Im Sinne von best practice ist der Abstand zu den USA in dem letzten Jahrzehnt eher grofier geworden. Schaut man sich die Zwischenbilanz zur Lissabon-Strategie an, so kann man mit Sicherheit nicht von einer Erfolgsgeschichte der OMK sprechen. Die hier skizzierte Diskussion soil aufzeigen, dass die von vielen als neue Form der governance titulierte OMK bestimmt kein Allheilmittel ist. Sie bietet durchaus eine Plattform fur gute Politiken. Dabei muss aber eine weitere essenzielle Voraussetzung erfiillt werden. Legit imitat: Um die Akzeptanz der OMK bei den Burgern der EU zu erhohen, mussen klarere Verantwortungen und Adressaten fur Kritik und Lob geschaffen werden. Es sind immer die Regierungen der Mitgliedstaaten, die letztlich zur Verantwortung herangezogen werden und nicht die Kommission. Diese Diskrepanz muss abgebaut werden. Des Weiteren ist die OMK mit einer Entpolisierung in Richtung von Expertenherrschaft verbunden. Die Aufstellung der NAP vollzieht sich eher im Bereich der internen Politik. Die Quantifizierung von Zielen und die Steuerung iiber Indikatoren verlangt immenses Fachwissen, iiber das nur Experten verfiigen. Hier ist ein Kurswechsel notwendig. Besonders
210
8 Europaische Beschaftigungspolitik und die OMK
problematisch an der OMK ist, dass sowohl die nationalen Parlamente als auch das Europaparlament nur unzureichend an dem Entscheidungsprozess der OMK beteiligt sind. Auch sie werden letztlich an einer Politik beurteilt, die sie selbst nicht zu verantworten haben.
Literatur • • • • • •
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9
Europaische Lohnpolitik
Bevor wir uns mit der Lohnpolitik auf der Ebene der EU beschaftigen, ist es sinnvoll, kurz auf die Ausgangssituation in Deutschland einzugehen und dann unsere Uberlegungen um die europaische Perspektive zu erweitern. In den letzten Jahren ist die Lohnpolitik in Deutschland mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert worden. Die wohl grofite Herausforderung stellt die kontinuierlich gestiegene Arbeitslosigkeit in Deutschland dar. Auch die Tarifautonomie selbst ist unter Druck geraten. Zum einen wird die Tarifautonomie im Rahmen der Deregulierung von politischer Seite in Frage gestellt, zum anderen reagieren die Tarifparteien selbst auf die neuen Herausforderungen, indem sie die etablierten Lohnfindungsprozesse in Frage stellen und verandern. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Phanomen der Auflosung des Flachentarifvertrages zu, das wir besonders in Ostdeutschland vorfinden. Dabei stellen wir eine Verlagerung von Branchenvertragen hin zu betrieblichen Ubereinkunften zwischen dem jeweiligen Unternehmen und seinem Betriebsrat fest. Damit einher geht die Abnahme der Tarifbindung, so dass immer weniger Unternehmen an durch Arbeitgeber und Gewerkschaften ausgehandelte Tarifvertrage als Mindestnormen gebunden sind. Insgesamt stellen wir einen Prozess der Dezentralisierung der Lohnverhandlungen in Deutschland fest, sei es iiber Offnungsklauseln in Flachentarifvertragen, Nichteinhaltung und Umgehung von Tarifvertragen sowie durch den Abschluss von Firmentarifvertragen bis hin zum Verzicht auf jegliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgeberverband bzw. Arbeitgeber und Gewerkschaft. Damit stellt sich ein ganz neues Koordinationsproblem auf nationaler Ebene. Wie stimmen sich die Akteure bei dezentralen Vereinbarungen so ab, dass sie das Ziel der Vollbeschaftigung realisieren? Dieses
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9 Europaische Lohnpolitik
nationale Koordinationsproblem, das in ahnlicher Form a u d i in den anderen Landern der EU existiert, wollen wir hier nicht aufnehmen, sondern uns auf die europaische Ebene begeben, wo diese Koordinationsproblematik in den letzten Jahren durch einige Entwicklungen an Bedeutung gewonnen hat, die wir kurz skizzieren wollen. Solange Volkswirtschaften von einander abgeschottet sind, der Warenaustausch (Offenheitsgrad der jeweiligen Volkswirtschaften) gering ist und die Arbeitskrafte sowie der Faktor Kapital immobil sind, haben die Tarifparteien auf der nationalen Ebene eine relative Autonomic in ihren Lohnverhandlungen und mussen die lohnpolitischen Entwicklungen ihrer Nachbarlander nicht berucksichtigen. Diese Situation ist aber in der EU nicht gegeben. Mit dem Gemeinsamen Markt sind die vier Grundfreiheiten - freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr, Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizugkeit - realisiert und intensiviert worden. Von daher stehen alle Mitgliedslander der EU in einem starken Wettbewerb. Da die Lohnpolitik entscheidend die Wettbewerbsfahigkeit zwischen den Mitgliedslandern beeinflusst, kommt ihr bei der Verbesserung der Absatzchancen der Unternehmen eine zentrale Stellung zu. Durch Lohnkonzessionen konnen die Gewerkschaften dem Unternehmen einen preislichen Spielraum verschaffen. Der europaische Wettbewerb wurde aber nicht nur durch die Schaffung des Gemeinsamen Marktes, sondern auch durch die Globalisierung intensiviert. Im Gegensatz zu den Agrarprodukten konnen wir bei den Industriegutern und Dienstleistungen nicht von einer Festung Europa sprechen, die sich dem internationalen Wettbewerb entzieht. Lohnpolitik hat auch einen nicht zu vernachlassigenden Einfluss auf die internationale Wettbewerbsfahigkeit. Europaische Unternehmen stehen schliefilich nicht nur untereinander im Wettbewerb, sie stehen auch im globalen Wettbewerb. Diese Intensivierung des internationalen Wettbewerbs wirkt sich liber den Gutermarkt auf den Arbeitsmarkt aus, indem die abgeleitete Arbeitsnachfrage der Unternehmen elastischer wird. Je elastischer aber die Arbeitsnachfrage wird, um so wichtiger wird eine beschaftigungskonforme Lohnpolitik. Abweichungen vom Gleichgewichtslohn flihren bei einer elastischen Arbeitsnachfrage zu deutlichen Abweichungen vom Vollbeschaftigungsniveau, d. h. die Auswirkungen zu hoher Lohnforderungen auf die Arbeitslosigkeit sind erheblich. Je unelastischer die Arbeitsnachfrage in den einzelnen Branchen und zwischen den Mitgliedslandern der EU ist, um so unproblematischer ist eine fehlende Abstimmung der Lohnpolitik auf nationaler und EU-Ebene.
9.1 Der institutionelle Rahmen
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Die Elastizitat der Arbeitsnachfrage nimmt nicht allein aufgrund des verstarkten globalen Wettbewerbs zu. Hinzu kommen die weltweite Expansion und die gestiegene Effizienz des Kapital- und Kreditmarktes. Kapital kann heute weltweit mehr oder weniger risikolos angelegt werden und Finanzkapital ist immens reagibel und mobil geworden. Marginale Renditedifferenzen konnen zu erheblichen Kapitalstromen fiihren. Diese Einfllisse schlagen sich in einer grofieren Elastizitat der Arbeitsnachfrage nieder. Als weitere markante Herausforderung fur eine europaische Lohnpolitik ist die Europaische Wahrungsunion anzufiihren. Durch die einheitliche Geldpolitik ist den nationalen Zentralbanken die Chance genommen worden, Koordinationsfehler in der Lohnpolitik zwischen den Mitgliedslandern zu korrigieren. Vereinbarten die Tarifparteien stabilitatswidrige Lohne, so konnte die Zentralbank die unerwiinschten Beschaftigungseffekte vor der Wahrungsunion durch eine gezielte Geldpolitik korrigieren. Bezuglich ihres negativen Reallohneffektes konnte sie zu hohe Nominallohne prinzipiell durch Inflation mittels expansiver Geldpolitik kompensieren. Verzichtete sie darauf, so konnte die internationale Wettbewerbssituation iiber eine Wechselkursanpassung mehr oder weniger automatisch verbessert werden. Diese Moglichkeit der kompensatorischen Geldpolitik sowie die der Wechselkursanpassung stehen jedoch nicht mehr zur Verfiigung, so dass bei der einheitlichen Geldpolitik der EZB eine Koordination der Lohnpolitik auf EU-Ebene notwendig erscheint.
9.1 D e r institutionelle R a h m e n Zur Analyse der europaischen Lohnpolitik ist es nicht nur wichtig, sich die neuen Herausforderungen vor Augen zu halt en, sondern es ist auch zu klaren, in welche institutionellen Regelungen die Lohnpolitik - sowohl auf nationaler als auch europaischer Ebene - eingebettet ist. Betrachtet man die nationalen Ebenen, so wird sofort deutlich, dass die institutionelle Ausgestaltung der Lohnpolitik zwischen den Mitgliedslandern stark divergiert. Man findet Lander wie Osterreich und Schweden, in denen wir eine stark zentralistisch ausgerichtete Tarifpolitik vorfinden. Dem stehen Lander wie Grofibritannien, Luxemburg u n d Frankreich gegeniiber, die nur einen schwachen Zentralisierungsgrad vorweisen. Aus diesem bestimmt sich meist auch die Tarifverbandsebene. Tarifvertrage konnen wie in Belgien, Irland und Finnland brachentibergreifend, wie in den meisten Mitgliedslandern auf Branchenebene und wie in Grofibritannien allein auf Unternehmens- bzw. Betriebsebe-
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9 Europaische Lohnpolitik
ne abgeschlossen werden. Wie Tabelle 9.1 zeigt, haben sich in den Mitgliedstaaten der EU die Tarifparteien nicht auf eine Ebene beschrankt. T a b e l l e 9 . 1 . Tarifvertragssysterne, Tarifbindung und Allgemeinverbindlichkeitsregeln in der EU a m Beginn des 21. J a h r h u n d e r t s Tarifverhandlimgsebenen A A = wichtigste Tarifverhandlungsebene X= dariiber hinaus bestehende Tarifverhandlungsebenen Branchen- Branche iibergreifend I Belgien AA X X AA Irland AA AA Finnland AA Osterreich Schweden AA Italien AA Niederlande X AA Portugal X AA X Danemark AA X AA Spanien AA Deutschland Griechenland X AA Frankreich X AA AA Luxemburg X GroBbrit annienL
Unternehmen/ Betrieb X X X X X X X X X X X X AA AA AA
Tarifbindung (Anteil der Beschaftigten in %)
Moglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklarung
>90 k.A. >70 98 >90 90 88 87 83 81 67 k.A. 90-95 58 36
Ja Ja Ja Ja Nein Ja Ja Ja Nein Ja Ja Ja Ja Ja Nein
Die Angaben beziehen sich im Zeitraum 1998-2002 auf den jeweils aktuellsten verfugbaren Wert Quelle: Schulten (2004), S. 171
Dariiber hinaus besteht die Moglichkeit, dass ein Unternehmen iiberhaupt nicht tarifgebunden ist. Wie die Tabelle 9.1 verdeutlicht, existiert bei den Tarifvertragssystemen in der EU eine sehr heterogene Struktur. Diese Heterogenitat verstarkt sich, wenn wir weitere institutionelle Faktoren wie die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifvertragen, die Tarifbindung, die Geltung des Giinstigkeitsprinzips, die Existenz von Mindestlohnen, das Streik- und Aussperrungsrecht usw. heranziehen. Wichtig ist die Feststellung, dass keine EU-weit homogenen Strukturen bestehen. Die Frage nach einer Zentralisierung der Lohnpolitik im Sinne ihrer Vergemeinschaftung kann, wie bereits auf nationaler, auch auf EUEbene aufgeworfen werden. Welchen Rahmen stellt dazu das Recht
9.2 Strategien einer europaischen Lohnpolitik
215
der Gemeinschaft bereit? Kniipfen wir am Subsidiaritatsprinzip des Maastricht-Vertrages an, befinden wir uns sofort in einer interessanten Diskussion, die wir bereits im Rahmen der europaischen Beschaftigungspolitik angesprochen haben. Nach dem Subsidiariatatsprinzip sollen nur solche Aufgaben vergemeinschaftet werden, die von den Mitgliedslandern nicht allein bewaltigt werden konnen. Nun gibt es sowohl unter den Okonomen als auch unter den Akteuren der Tarifpolitik recht kontroverse Auffassungen liber die Notwendigkeit einer Vergemeinschaftung der Lohnpolitik. Noch weniger Konsens ist beim T h e m a der konkreten Ausgestaltung der Lohnpolitik auf EU-Ebene festzustellen. Bevor wir uns dieser komplexen Themenstellung zuwenden, fragen wir uns zunachst, welche konkreten Regelungen das EU-Recht im Bereich der Lohnpolitik vorsieht. Der Artikel 137(5) macht deutlich, dass die Frage, ob wir eine Vergemeinschaftung der Lohnpolitik wollen, eine rein akademische ist. Dieser Absatz 5 besagt eindeutig, dass der Gemeinschaft bei den zentralen Aspekten des Arbeitsentgelts, des Koalitions-, des Streik- sowie des Aussperrungsrechts keine Kompetenzen eingeraumt werden. Damit fehlt jegliche rechtliche Grundlage einer durch die Gemeinschaft gesteuerten europaischen Lohnpolitik. Auch die Hoffnung vieler Anhanger einer europaischen Lohnpolitik, die in einer Vergemeinschaftung die Chance sehen, liber den sozialen Dialog eine EU-weite gemeinsame Lohnpolitik zu verwirklichen, um einen race to the bottom zu verhindern, muss enttauscht werden. Artikel 139 sieht explizit vor, dass die Sozialpartner - also die Tarifparteien - auf der Ebene der EU Vereinbarungen treffen konnen. Diese werden zum Gemeinschaftsrecht, wenn sie als Antrag von der Kommission ubernommen werden und der Rat ihnen im Gesetzgebungsverfahren zustimmt, wobei die Zustimmung des europaischen Parlaments nicht notwendig ist. Auch dieser Weg der Vergemeinschaftung scheitert aber am oben erwahnten Artikel 137(5), der den Lohnfindungsbereich von solchen Vereinbarungen im sozialen Dialog ausschliefit.
9.2 S t r a t e g i e n einer europaischen Lohnpolitik Zentrale Determinanten fur die Lohnpolitik sind die Arbeitsproduktivitat
bzw. die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivitat
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9 Europaische Lohnpolitik
p- 2 '
«(i)
und die Infiationsrate wp. Den Ausgangspunkt der Uberlegungen bildet die Lohnquote (I • L)/(P • Y) == l/P • Y/L, wobei die Lohnquote dem Produkt aus Reallohn und Arbeitsproduktivitat entspricht. Fiir die Lohnquote LQ gilt in Wachstumsraten ausgedruckt: WLQ = wi~wp
+ wY-wL
= w( — )+wl
— ) .
(9.3)
Die produktivitatsorientierte Lohnpolitik verlangt, dass die Wachstumsrate der Nominallohne folgender Gleichung geniigen soil: wi = w(-)+wp.
(9.4)
Welche Auswirkungen ergeben sich aus dieser Politik fiir die Ziele der Lohnpolitik? Wenn keine Inflation vorliegt, bleiben die nominalen Lohnstuckkosten (I • L)/Y = l/((Y/L)) konstant, da dann w(l • L)/Y = wi — w • Y/L) = 0 ist. Von dieser Lohnpolitik geht keine Gefahrdung des Ziels der Geldwertstabilitat aus, da die Lohnpolitik die Kostensituation der Unternehmen nicht verschlechtert. Dariiber beeintrachtigt diese Politik auch nicht die Wettbewerbsfahigkeit der Unternehmen, so dass man sie als beschaftigungskonform bezeichnen kann. Liegt eine Inflation in Hohe von x% vor, steigen in diesem Fall die nominalen Lohnkosten u m genau diese Infiationsrate, da I-L w(-TF-) = wi~
Y Y (T) = W(T) + wp~
W
Y
w
(j^)
= WP g ^
(9-5)
Aus Sicht der Gewerkschaften liegt das entscheidende Defizit der produktivitatsorientierten Lohnpolitik darin, dass sie mit der Verfolgung dieses Konzeptes faktisch auf alle Umverteilungsbestrebungen verzichten mussten. Sie konnten bei dieser Konzeption Verschlechterungen in der Verteilung zwischen Gewinnen und Lohnen, die in der Vergangenheit aufgrund einer zu konzessionsbereiten Lohnpolitik oder aufgrund unerwartet hoher Inflationsraten zustande gekommen waren, im Nachhinein nicht mehr korrigieren. Denn fiir die Lohnquote (I • L)/(P • Y) gilt bei einer produktivitatsorientierten Lohnpolitik: I• L w(——)
Y = wi-
w
{j)
-wP
= 0 .
(9.6)
Sowohl von Arbeitgeberseite als auch vom Sachverstandigenrat, der in seinen Gutachten eine „moderate Lohnpolitik" einfordert, wird an
9.2 Strategien einer europaischen Lohnpolitik
217
dieser Form der produktivitatsorientierten Lohnpolitik hingegen kritisiert, dass der Beitrag der Lohnpolitik zur Verbesserung der Beschaftigungssituation nicht ausreiche. Sie fordern, dass die Gewerkschaften ihren Verteilungsspielraum nicht voll nutzen. Halt en sich die Gewerkschaften lohnpolitisch zuriick, so sinken die realen Lohnstlickkosten und die Wettbewerbssituation der Unternehmen verbessert sich. Der Sachverstandigenrat begrtindet seine Position u. a. mit dem Argument, dass die statistisch ausgewiesene Veranderung der Arbeitsproduktivitat iiberzeichnet ist, da die Steigerung der Arbeitsproduktivitat zum Teil beschaftigungsbedingt ist. Werden die unproduktiveren Arbeitskrafte entlassen, so steigt automatisch die durchschnittliche Arbeitsproduktivitat. Die Gewerkschaften argumentieren dagegen, dass bei dieser Modifikation einseitig auf die Kostenseite geschaut wird und dass dabei die negativen Nachfrageeffekte fur die Beschaftigung nicht ausreichend berucksichtigt werden. Dieser Aspekt wird von gewerkschaftlicher Seite - so vom Mitglied des Sachverstandigenrates Bofinger (2004) - betont. Bei einer einheitlichen Geldpolitik bewirkt eine zurlickhaltende Lohnpolitik, die den durch die produktivitatsorientierte Leitlinie vorgegebenen Spielraum nicht nutzt, einen negativen Nachfrageeffekt bei den Konsumenten aufgrund niedrigerer Einkommen sowie einen Ruckgang der Investitionsnachfrage aufgrund gestiegener Realzinsen. Denn die Lohnzuriickhalt u n g hat einen erheblichen Effekt auf das jeweilige inlandische Preisniveau und den entsprechenden Realzins. Hingegen ist der Effekt der Lohnzuruckhaltung auf das EU-weite Preisniveau - relativ zur Grofie des jeweiligen Landes - recht gering, so dass die EZB, die sich an der EU-weiten Inflationsrate orientiert, die Lohnzuruckhaltung nur marginal mit einer Senkung der EU-weit einheitlichen Nominalzinsen honoriert. Aufgrund dieses negativen Realzinseffektes ist eine zuriickhaltende Lohnpolitik fur die Tarifparteien unattraktiv, da der erkaufte Wettbewerbsvorteil gegenuber Konkurrenten, der auch von der jeweiligen Exportquote abhangt, durch einen starkeren negativen Nachfrageeffekt kompensiert, wenn nicht sogar iiberkompensiert werden kann. Aufierdem miisste mit lohnpolitischen Gegenreaktionen der anderen Mitgliedslander gerechnet werden. W a r e die EU ein optimaler Wahrungsraum, so ware die einheitliche Geldpolitik nicht mit hohen Divergenzen zwischen den Inflationsraten der Mitgliedslander konfrontiert. In der EU existieren aber immer noch erhebliche Divergenzen in den Inflationsraten. Deshalb stellt sich fur eine produktivitatsorientierte Lohnpolitik auf der EU-Ebene die Frage, an welcher Inflationsrate sich die nationalen Lohnpolitiken orientieren
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9 Europaische Lohnpolitik
sollen. Orientieren sich die Tarifparteien bei ihrer produktivitatsorientierten Lohnpolitik an den nationalen Inflationsraten, so stabilisieren sich damit sowohl ihre nominalen Lohnstlickkosten als auch die Inflationsrate ihres Landes, da von der Kostenseite keine korrigierenden Einfltisse auf die nationale Inflationsrate ausgehen. Eine Ausrichtung der produktivitatsorientierten Lohnpolitik auf die nationale Inflationsrate wiirde so die Divergenzen in den nationalen Inflationsraten stabilisieren, was aus der Sicht einer einheitlichen Geldpolitik unerwiinscht ist. Hingegen wiirde eine Ausrichtung der produktivitatsorientierten Lohnpolitik auf die EU-weite Inflationsrate zu einer Konvergenz der nationalen Inflationsraten fiihren. In Landern mit hohen Inflationsraten wiirden die Lohnstlickkosten relativ sinken und so einen positiven Beitrag zur Geldwertstabilitat des jeweiligen Landes leisten. Lander mit niedrigen Inflationsraten wiirden aber bei dieser Politik Inflation importieren. Die Attraktivitat der Orientierung an der EU-weiten Inflationsrate liegt fiir Lander mit unterdurchschnittlicher Inflationsrate darin, dass mit dieser Politik der Konflikt zwischen der nationalen Lohnpolitik und der einheitlichen Geldpolitik abgeschwacht wird. Orientieren sich relativ inflationsfreie Mitgliedslander bei ihrer produktivitatsorientierten Lohnpolitik an der EU-weiten Inflationsrate, so geht von ihrer Lohnpolitik kein Impuls mehr in Richtung hoherer Realzinsen aus. Auch unter dem Kohasionsziel ist die produktivitatsorientierte Lohnpolitik nicht unumstritten. Geht man vom Balassa-Samuelson-Theorem aus, das wir im 4. Kapitel behandelt haben, so sind die riickstandigen Lander und Regionen durch relativ hohe Inflationsraten gekennzeichnet. Eine produktivitatsorientierte Lohnpolitik, die sich an der nationalen Inflationsrate orientiert, wiirde diese hohen Inflationsraten - wie oben ausgefiihrt - stabilisieren. Unter Kohasionsgesichtspunkten ist dies fiir die riickstandigen Lander nicht nachteilig. Aufgrund ihrer ungiinstigen Kapitalausstattung sind diese mit einer relativ hohen Kapitalrentabilitat gekennzeichnet, so dass durch die lohnpolitisch induzierten niedrigen Realzinsen bei einer einheitlichen Geldpolitik diese Lander im Aufholprozess gestarkt werden. Wiirden sich die riickstandigen Lander an der EU-weiten Inflationsrate orientieren, so wiirden sie diesen Wachstumsimpuls verlieren. Dennoch spricht auch fiir die weniger fortgeschrittenen Lander einiges dafiir, sich lohnpolitisch an der durchschnittlichen Inflationsrate der EU zu orientieren. Annahme des Ballassa-Samuelson-Theorems ist es, dass die im internationalen Wettbewerb stehenden Branchen wesentlich hohere Produktivitatssteigerungen als die Branchen mit lokalen Giitern realisieren. Die Tarifverhandlungen werden sich aber primar an
9.2 Strategien einer europaischen Lohnpolitik
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der Produktivitatsentwicklung der Branchen mit handelbaren Giitern orientieren, so dass es zu Lohnstlickkostensteigerungen bei den lokalen Giitern kommt und ein inflationarer Druck von der Lohnseite ausgeht, der zu einer weiteren Divergenz der Inflationsraten in der EU fiihrt. Dieser Effekt wiirde abgeschwacht, wenn sich die Lander mit hohen Inflationsraten an der EU-weiten Inflationsrate orientierten. Uberlegenswert ware es, ob Lander, die mit erheblichen Strukturanpassungen konfrontiert sind, sich im Aufholprozess nicht starker an der jeweiligen sektoralen Produktivitatsentwicklung anstelle der gesamtwirtschaftlichen orientieren sollten. Dies ware flir sich dynamisch entwickelnde Sektoren mit Produktivitatssteigerungen liber dem gesamtwirtschaftlichen Trend nicht vorteilhaft. Andererseits wiirde eine sektorale Orientierung die Uberlebenschancen weniger produktiver Unternehmen fur einen gewissen Zeitraum verlangern und zunachst Arbeitsplatze sichern. Welcher der optimale Mix beider Optionen ist, hangt entscheidend von der Geschwindigkeit des Strukturwandels und der Mobilitat der Produktionsfaktoren, insbesondere der der Arbeitskrafte ab.
Liter at ur •
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Bofinger (2004): Minderheitsvotum, in: Jahresgutachten des Sachverstandigenrates 2004/2005: Erfolge im Ausland - Herausforderungen im Inland, Ziff. 717 - 736. DIW (1997): Rahmenbedingungen fur den Arbeitsmarkt in einer erfolgreichen Wirtschafts- und Wahrungsunion der EU-Mitgliedstaaten (Kurzfassung), Berlin. D I W (2005): Auswirkungen von landerspezifischen Differenzen in der Lohn-, Preisniveau- und Produktivitatsentwicklung auf Wachst u m und Beschaftigung in den Landern des Euroraums, Berlin. Hallwirth, V. (2005): Beschaftigungsorientierte Lohnpolitik, in: Wirtschaftsdienst, 85. Jg., S. 295 - 303. Schulten, Th. (2004): Solidarische Lohnpolitik in Europa, Hamburg.
10
Koordination der Fiskalpolitik
Im Kap. 7 liber den Stabilities- und Wachstumspakt haben wir schon sehr ausfiihrlich den vertikalen Aspekt der Koordination der Fiskalpolitik behandelt, indem wir uns mit der Abstimmung zwischen der einheitlichen Geldpolitik und der Finanzpolitik auseinandergesetzt haben. Die Finanzpolitik ist mit der Fiskalpolitik sehr eng verwoben. Bei der Koordination der Fiskalpolitik wollen wir uns im Wesentlichen auf den Nachfrageeffekt fiskalpolitischer Mafinahmen konzentrieren. Die Fiskalpolitik wird hier aus der keynesianischen Perspektive der Nachfragesteuerung betrachtet. Diese Perspektive hat durch die Realisierung des ESZB erheblich an Bedeutung gewonnen. Durch die einheitliche Geldpolitik haben die an der Wahrungsunion teilnehmenden Mitgliedstaaten auf ein Instrument zur gezielten Beeinflussung ihrer nationalen Nachfrage verzichtet. Insbesondere richtet sich die einheitliche Geldpolitik nicht an der landesspezifischen Nachfrageentwicklung eines Mitgliedstaates aus. Von daher kommt der Fiskalpolitik fur die Mitgliedstaaten eine kompensatorische Aufgabe zu. Das, was man bisher mittels der eigenen Geldpolitik steuern konnte, muss nun allein durch die Fiskalpolitik beeinflusst werden. Wenn die Fiskalpolitik eine zentrale Stellung im policy mix der Mitgliedstaaten gewonnen hat, so stellt sich sofort die Frage, ob eine autonome Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten effizient ist und ob sie eventuell durch eine horizontale Koordination oder auch Kooperation verbessert werden kann. Die Frage der Notwendigkeit der Koordination stellt sich dann, wenn Externalitaten in Form von Spill-over-Effekten zwischen den Mitgliedstaaten vorliegen, der en Exist enz und Relevanz im Folgenden hinterfragt werden soil. Bei unserer Analyse der moglichen Nachfrageeffekte fiskalpolitischer Mafinahmen steht die kurze Frist im Vordergrund. Gemafi keynesianischer Tradition unterstellen wir deshalb
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10 Koordination der Fiskalpolitik
konstante Preise, so dass bei exogenen Schocks primar Anpassungen der Mengen angenommen werden. Betrachten wir dabei den Staatsausgabenmultiplikator fiir das einfachste keynesianische Modell einer kleinen offenen Volkswirtschaft, so liegen diesem bei dessen Ableitung die Komponenten der Nachfrage gemafi der Formel Y = C + I + G + E — I zugrunde. Die Nachfrage Y setzt sich hier aus dem Konsum C, fiir den C = CA + c • Y gilt, den Investitionen / , den Staatsausgaben G sowie dem Exportiiberschuss E — I zusammen. Dabei hangt der Export von der Weltnachfrage Y* ab, die fiir eine kleine Volkswirtschaft eine exogene Grofie darstellt. Hingegen gilt vereinfachend fiir die Importe I = q-Y, wobei q analog zur Konsumneigung c die Importneigung darstellt. Fiir eine offene Volkswirtschaft erhalt m a n bei einer Variation der Staatsausgaben und konstantem Investitionsvolumen den Staatsausgabenmultiplikator: dY/dG = 1/(1 — c + q), der fiir 0 < q < 1 nicht so grofi und damit nicht so wirksam wie der einfache Multiplikator 1/(1 — c) fiir eine geschlossene Volkswirtschaft ist. Betrachten wir diesen Multiplikator einer offenen Volkswirtschaft, so stellen wir einen ungiinstigen Sicker- bzw. Spill-over-Effekt fest. Erhoht ein Mitgliedstaat seine Ausgaben, so fliefit der Grofiteil dieses zusatzlichen Einkommens in den heimischen Markt fiir Konsumgiiter. Je grofier aber q ist, u m so mehr fliefit vom zusatzlichen Einkommen iiber die Importe ins Ausland ab. Die durch zusatzliche Staatsausgaben induzierten Importe bewirken eine Nachfragebelebung im Ausland. Steigt aber das auslandische Einkommen Y*, so nimmt die Nachfrage zu, es kommt zu mehr Exporten und so zu einer inlandischen Nachfragebelebung. Diese Aufwartsspirale wird aber von den einzelnen Mitgliedstaaten nicht ausreichend gewiirdigt. Die Regierungen sehen nur den inlandischen Nachfrageeffekt und vernachlassigen die induzierten Nachfrageeffekte iiber das Ausland. W a h r e n d der Nachfrageeffekt je nach Offenheitsgrad einer Volkswirtschaft mehr oder weniger diffundiert, gilt dies nicht fiir die mit der Nachfrageausweitung verbundene Kreditaufnahme. Diese muss allein der aktive Mitgliedstaat selbst tragen. Die Streuung des Nachfrageeffekts auf einen Grofiteil der Mitgliedstaaten und die Konzentration der Schulden auf einen einzigen Staat, stellen einen Fehlanreiz dar, so dass der Spill-over-Effekt zu einem suboptimalen Aktivitatsniveau bei der Fiskalpolitik fiihren kann. Jeder Mitgliedstaat soil eine Vorreiterrolle spielen, aber keiner will die Lokomotivaufgabe bei der Konjunkturbelebung iibernehmen. Bei dem hier unterstellten sehr einfachen Modellansatz tauchen nur positive Externalitaten bei den anderen Mitgliedstaaten auf. Das Bild stellt sich aber ganz anders dar, wenn wir von vollkommener Kapital-
10 Koordination der Fiskalpolitik
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mobilitat ausgehen. Diese Annahme findet Unterstiitzung, wenn wir uns den Gemeinsamen Markt und seine vier Grundfreiheiten anschauen. Innerhalb der EU ist der Kapitalmarkt liberalisiert und die Markte sind vollkommen off en. Von daher fiihren schon geringfligige Zinsdifferenzen zu Kapitalstromen und zu einem einheitlichen Zinsniveau. Diese Tendenz finden wir nicht nur in der EU, sondern als Folge der Globalisierung im weltweiten Markt. Beriicksichtigen wir die voile Kapitalmobilitat, so mussen wir im IS-LM-Modell das Zahhmgsbilanzgleichgewicht explizit beriicksichtigen. Denn jeder Exportliberschuss bewirkt einen Kapitalzufluss und im Gleichgewicht muss das Leistungsbilanzsaldo immer dem Kapitalbilanzsaldo entsprechen. Unterstellen wir vollkommene Kapitalmobilitat, dann verliert die Fiskalpolitik fur einen Mitgliedstaat ihre Attraktivitat als Steuerungsinstrument, weil ihre Wirksamkeit dann nicht mehr gegeben ist. Eine staatliche Nachfragebelebung hat dann keinen Einfluss auf die Nachfrage Y des Mitgliedstaates. Die durch die expansive Fiskalpolitik bewirkte zusatzliche Nachfrage fiihrt zunachst zu einem hoheren inlandischen Einkommen und, je nachdem wie elastisch die Geldnachfragekurve und die Alimentationsbereitschaft der monetaren Instanzen ist, zu einem - wenn auch geringen - Anstieg des Zinses. Der hohere Zins im Inland bewirkt eine erhohte Nachfrage nach der inlandischen Wahrung, so dass es bei flexiblen Wechselkursen zu einer Aufwertung der inlandischen W a h r u n g kommt und die internationale Wettbewerbsfahigkeit des Mitgliedstaates sinkt. Bei vollkommener Kapitalmobilitat kompensieren sich die inlandische Nachfragebelebung und die Importzunahme, so dass per Saldo von einer expansiven Fiskalpolitik keine Effekte auf die Produktion und damit auf die Beschaftigung ausgehen. Dieser Zusammenhang wird im Mundell-Fleming-Modell deutlich. Im i — F - D i a g r a m m sind die IS- und LM-Kurven eingetragen. Da bei vollkommener Kapitalmobilitat nur ein Zinssatz im Gleichgewicht moglich ist, muss im Gleichgewicht der inlandische Zinssatz i dem Weltzinssatz i* entsprechen (siehe Abb. 10.1). Die durch i* verlaufende Gerade stellt dabei das Zahlungsbilanzgleichgewicht dar. Bei einer expansiven Fiskalpolitik verschiebt sich die IS-Kurve nach rechts. Es kommt zunachst zu einer Ausweitung der Produktion Y und zu einem Anstieg des Zinses mit i > i*. Darauf reagiert aber sofort der Kapitalmarkt. Aus dem Ausland wird Kapital angelockt und so eine Aufwertung bewirkt. Durch die Aufwertung verliert das Land an internationaler Wettbewerbsfahigkeit. Die Importe nehmen zu und die Exporte gehen zuriick. Insgesamt kehrt die Produktion auf ihr ursprtingliches Niveau zuriick und die IS-Kurve verschiebt sich wieder nach links hin zur urspriingli-
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- Y A b b i l d u n g 10.1. Ineffizienz der Fiskalpolitik
chen Lage. Ziehen wir das Fazit aus den Uberlegungen, so haben die erhohten Staatsausgaben keinen positiven Beschaftigungseffekt bewirkt. Die erhohte Staatsnachfrage wird letztendlich durch die auslandische Produktion befriedigt. Es lohnt sich fur den einzelnen Mitgliedstaat nicht, liber die Fiskalpolitik eine Konjunkturbelebung zu bewirken. Bei den anderen Mitgliedstaaten kann sich die Politik sogar negativ auf deren Produktion und Beschaftigung auswirken. Sie werden aufgrund des gemeinsamen Euro genauso wie der betrachtete Mitgliedstaat, der die Initiative ergriffen hatte, durch die aufwertungsbedingte Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfahigkeit getroffen. Da aber die marginale Konsumneigung c wesentlich grofier ist als die marginale Importneigung g, ist bei ihnen der inlandische Nachfrageimpuls wesentlich geringer, so dass es per saldo zu einem Rlickgang der Produktion und der Beschaftigung kommt. Ausschlaggebend fur dieses pessimistische Urteil iiber die Fiskalpolitik ist die Annahme vollkommener Kapitalmobilitat. Diese ist in der EU nicht vollkommen und insbesondere in den Aufienbeziehungen der EU nicht einmal annahernd erreicht. Bei unvollkommener Kapitalmobilitat sind aber Zinsdifferenziale zwischen inlandischem Zinssatz und Weltzinssatz moglich, so dass es nicht zu einer starken Wechselkurskorrektur kommen muss und die internationale Wettbewerbsfahigkeit bei einer expansiven Fiskalpolitik in geringerem Umfang beeintrachtigt wird. Sinkt die Kapitalmobilitat, so verbessert sich die Wirksamkeit der Fiskalpolitik, wahrend die der Geldpolitik zuruckgeht. Bei einer expansiven Geldpolitik kommt es zu einer Zinssenkung, die eine Abwertungstendenz und damit verbesserte internationale Wettbewerbsfahigkeit sowie eine gestiegene Nachfrage nach Importgutern be-
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wirkt. Dieser im Gegensatz zur expansiven Fiskalpolitik positive Effekt schwacht sich bei einer eingeschrankten Kapitalmobilitat ab. Der Verlust an internationaler Wettbewerbsfahigkeit verliert mit zunehmender Integration im Gemeinsamen Markt an Bedeutung. Je enger die Wirtschaftsbeziehungen in der EU und umso schwacher die Aufienbeziehungen (Festung Europa) sind, urn so geringer sind die negativen Beschaftigungseffekte einer Aufwertung. Das Ergebnis unserer Analyse wird entscheidend von drei Akteuren bestimmt: von den Fiskalpolitik betreibenden Mitgliedstaaten, von den anderen von der Politik betroffenen Mitgliedstaaten und von der EZB. Bisher haben wir uns aber allein auf die horizontale Ebene der Mitgliedstaaten beschrankt. Die Wirksamkeit der Fiskalpolitik wird aber erheblich durch die Politik der EZB beeinflusst. Erganzt z. B. die EZB eine expansive Fiskalpolitik eines Mitgliedstaates, indem sie diese mit einer moderaten Ausweitung der Geldmenge alimentiert und so das Zinsniveau stabilisiert, so verschlechtert sich die internationale Wettbewerbsfahigkeit durch die expansive Fiskalpolitik nicht. Da wir bisher implizit beim Euro von flexiblen Wechselkursen ausgegangen sind, steht der EZB diese Option durchaus zur Wahl. Anders in einem Regime fester Wechselkurse. In diesem Szenario wiirde bei vollkommener Kapitalmobilitat kein Spielraum fur die Geldpolitik existieren, da fur die EZB der Zins eine exogene Grofie darstellte, die, u m Wechselkursschwankungen auszuschliefien, dem Weltmarktzins entsprechen miisste. Bei festen Wechselkursen miisste sich die EZB auf die Stabilisierung des Wechselkurses konzentrieren und geriete so ins Schlepptau der Fiskalpolitik. Induzierte die Fiskalpolitik Zinssteigerungstendenzen, so miisste die EZB zur Stabilisierung der Wechselkurse diese durch eine Parallelpolitik unterstiitzen. Betrachten wir aus der Perspektive alternativer Wechselkursregime den Euroraum, so gilt innerhalb des Eurosystems aufgrund des Euro ein Regime fester Wechselkurse. Hingegen finden wir in den Aufienbeziehungen des Euroraums ein Regime flexibler Wechselkurse. Betreibt in diesem Regime-Szenario ein an der Wahrungsunion teilnehmender Mitgliedstaat eine expansive Fiskalpolitik, so gilt fur die Import-Export-Beziehungen zu einem anderen Teilnehmerstaat aufgrund des gemeinsamen Euro der einfache Multiplikator
Dieser positive Effekt wird in den anderen Mitgliedstaaten - wie oben ausgefuhrt - durch den Verlust an internationaler Wettbewerbsfahigkeit iiberkompensiert, so dass der eine expansive Fiskalpolitik betrei-
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bende Mitgliedstaat eine „beggar-thy-neighbour"-Politik betreibt. Diese ist umso starker ausgepragt, je grofier die Kapitalmobilitat ist, je schwacher die EZB diese Politik unterstutzt, je geringer die Handelsbeziehungen eines anderen Teilnehmerstaates mit dem die expansive Fiskalpolitik betreibenden Mitgliedstaates und je starker die anderen Teilnehmerstaaten im internationalen Handel integriert sind. Aus dieser Perspektive muss man davon ausgehen, dass die negativ betroffenen Mitgliedstaaten der EU ihre Koordinationsbemiihungen auf eine Einschrankung der expansiven Fiskalpolitik konzentrieren sollten. Dies gilt aber nicht fiir den Fall asymmetrischer Schocks. Hier wirkt eine beggarthy-neighbour-Politik durchaus stabilisierend und kann erwiinscht sein, wenn eine Koordination zustande kame. Diese ware aufgrund der iibereinstimmenden Interessen durchaus moglich und wurde die einheitliche Geldpolitik sinnvoll erganzen. Vollig anders stellt sich die Situation bei einem symmetrischen Schock dar. Hier spricht vieles fiir eine einheitliche Geldpolitik. Aber auch hier sind einige Relativierungen notwendig. Die Fiskalpolitik ist immer dann gefordert, wenn die Geldpolitik beim Abbau der Arbeitslosigkeit versagt. Dies ist u. U. bei hoher Immobilitat des Faktors Kapital, bei zinsunelastischer Investitionsnachfrage und in der Extremsituation, dass sich die Geldpolitik im Bereich des herrschenden Weltzinsniveaus in einer Liquiditatsfalle befindet, gegeben. In diesen Konstellationen kann die Fiskalpolitik gefordert sein und eine Koordination notwendig werden. K o m m t es zu einem abgestimmten Verhalten, das zu einem star ken fiskalischen Impuls flihrt, wurde damit die Wirksamkeit der Fiskalpolitik verbessert werden. Wenn ein einzelner Staat im Euroraum eine aktive Fiskalpolitik betreibt, so gilt hier das Modell einer kleinen Volkswirtschaft, die keinen Einfluss auf den Weltzins hat. Anders stellt sich die Situation dar, wenn der gesamte Euroraum eine expansive Fiskalpolitik betreibt. Dies hat sehr wohl einen Einfluss auf den Weltzins, so dass hier das Modell einer grofien Volkswirtschaft zur Anwendung kommt. Bei einer grofien Volkswirtschaft fallt die Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfahigkeit mit zunehmender Grofie geringer aus. Steigt der Zins im E u r o r a u m an, so ist der Wettbewerbseffekt u m so geringer, je starker der induzierte Anstieg des Weltzinssatzes ist. Ware die EU im Weltgeschehen so dominant, dass A i = Ai* ware, so wiirde eine konzentrierte Aktion einer expansiven Fiskalpolitik nicht durch eine Beeintrachtigung der internationalen Wettbewerbsfahigkeit konterkariert.
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Literatur •
Buti, M. (2003): Interactions and coordination between monetary and fiscal policies in EMU: what are the issues?, in: - (Hrsg.) Monetary and Fiscal Policies in the EMU, Cambridge, S. 1 - 25. • Calberg, M. (2004): Policy Competition and Policy Cooperation in a Monetary Union, Berlin u. a., Kapitel 9. • Wagner, H. (1992): Stabilitatspolitik, 2. verbesserte und erganzte Aufl., Miinchen, S. 90 - 97.
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Koordination der Steuerpolitik
Ein wesentliches Charakteristikum des Nationalstaates ist seine Steuerhoheit. Dieses Privileg behalten die Mitgliedstaaten auch in der EU. In der EU besteht dennoch keine vollstandige Steuerautonomie. Die Mitgliedstaaten stehen in einem Steuerwettbewerb. Auch wenn sie im Prinzip ihre Steuersatze autonom festlegen konnen, so stehen sie doch in einem enormen Wettbewerb um ihre Steuerbasis, d. h. um die Steuerquellen. Mit der Integration der EU im Rahmen des Gemeinsamen Marktes nimmt auch dieser Wettbewerb um die Steuerzahler zu, da die Produktionsfaktoren bis auf den Faktor Boden immer mobiler werden. Aus dieser zunehmenden Verflechtung und der faktisch eingeschrankten Steuerautonomie ergibt sich die Aufgabe der horizontalen Koordination in der EU. Mit der Vergemeinschaftung von Aufgaben in der EU tritt eine Kompetenzverlagerung hin zu den Institutionen der EU ein. Die Agrarpolitik ist fast vollstandig in die Kompetenz der EU iibertragen worden. Neben diesen groBten Ausgabenposten im Haushalt der EU steht als zweitgrofiter Ausgabenposten der Kohasionsfonds. All diese Ausgaben mussen von den Mitgliedstaaten in irgendeiner Form finanziert werden. Damit sind wir bei der Frage der vertikalen Koordination, auf die wir zuerst kurz eingehen wollen.
11.1 Vertikale Koordination der Steuerpolitik Um den Haushalt der Gemeinschaft zu finanzieren, konnte man ihr eine eigene Steuerhoheit einraumen, indem man Steuern ausweist, liber deren Ausgestaltung die Gemeinschaft beschliefit und deren Aufkommen ausschliefilich an sie fliefit. Die Mitgliedstaaten waren aber nicht bereit, der Gemeinschaft eine so umfassende Finanzautonomie zuzugestehen. Vielmehr finanziert sich der EU-Haushalt hauptsachlich uber
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die Eigenmittel der Gemeinschaft (vgl. Abschn. 3.3). Dies sind Mittel, die von den Mitgliedstaaten zur Verfligung gestellt werden. Die Eigenmittel, die vom Rat festgelegt werden, ermoglichen den Mitgliedstaaten jedoch nur eine eingeschrankte Steuerung des EU-Haushaltes. Um die Position der Mitgliedstaaten im Rahmen der vertikalen Koordination zu starken, wurden zwei weitere Restriktionen fur die Haushaltspolitik festgelegt. Dies ist zum einen das Verbot der Kreditaufnahme durch die Gemeinschaft. Nach Artikel 268 des EG-Vertrages sind die Ausgaben der EU durch die Einnahmen zu bestreiten. Zum anderen haben die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft neben dem fehlenden Verschuldungsrecht eine Obergrenze fur die Eigenmittel in Hohe von 1,24% des BNE festgelegt. Zusammenfassend kann man sagen, dass wir bei der vertikalen Koordination der Steuerpolitik faktisch ein System von Finanzbeitragen haben und die Mitgliedstaaten liber ein immenses Steuerungspotenzial liber die Finanzierungsseite gegenliber alien anderen Institutionen der Gemeinschaft verfligen.
11.2 Horizontale K o o r d i n a t i o n der S t e u e r p o l i t i k Der Interessenausgleich zwischen den Mitgliedstaaten gestaltet sich in der Frage der Koordination der Steuerpolitik sehr schwierig. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass in diesem Bereich die Bereitschaft, auf Autonomic zu verzichten und gemeinsame Absprachen zu treffen, sehr gering ist. Bevor man diese mangelnde Bereitschaft kritisiert, sollte man prlifen, ob in der EU liberhaupt ein horizontaler Koordinationsbedarf besteht. Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Steuerarten in der EU werden wir uns exemplarisch auf die Mehrwertsteuer, die Kapitalbesteuerung und die Einkommensteuer beschranken, da wir die Grundprobleme an diesen gut veranschaulichen konnen. M e h r w e r t s t e u e r : Die Mehrwertsteuer ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht auf nationalem, sondern auf dem Gemeinschaftsrecht des EG-Vertrages durch die Mehrwertsteuerrichtlinie von 1967 fufit und so versucht wurde, sie von vornherein europatauglich zu gestalten. Die Mehrwertsteuer ist als eine allgemeine Steuer auf den Konsum konzipiert und stellt eine Wertsteuer dar, bei der die Steuer als Prozentsatz (Mehrwertsteuersatz) auf den Preis erhoben wird. Sie wird stufenweise bei jedem Verkauf bei dem Steuerpflichtigen erhoben. Dabei gilt der Vorsteuerabzug, wobei der Steuerpflichtige (das jeweilige Unternehmen) nur die Differenz zwischen der von seinem Kunden zu zahlenden Mehrwertsteuer und der bisher geleisteten Mehrwertsteuer zu zahlen hat. Da der Konsument auf der letzten Stufe die Mehrwertsteu-
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er zu zahlen hat und Investitionsgiiter nicht besteuert werden, stellt die Mehrwertsteuer eine allgemeine Konsumsteuer und eine indirekte Steuer dar. Auch wenn die Mehrwertsteuer auf dem Gemeinschaftsrecht aufbaut, sind die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Steuerhoheit frei in der Wahl ihres Mehrwertsteuersatzes, obgleich sie an zwei EU-Vorgaben gebunden sind. Der normale Mehrwertsteuersatz muss mindestens 15% und der ermafiigte Mehrwertsteuersatz (dazu gibt es ein erschopfendes Verzeichnis der EU, das Grundnahrungsmittel usw. umfasst) mindestens 5% betragen. Einen Uberblick iiber die Ausgestaltung der Mehrwertsteuersatze in der Gemeinsehaft findet man in Tabelle 11.1. Bei der Ausgestaltung der Mehrwertsteuer stehen zwei alternative Gestaltungsprinzipien zur Verfligung, u m im innereuropaischen Verkehr die Problematik unterschiedlicher Mehrwertsteuersatze der Mitgliedstaaten zu losen. Nach dem Bestimmungslandprinzip gilt der Steuersatz des Landes, in dem das Gut bzw. die Dienstleistung konsumiert werden und das Steueraufkommen fliefit dann dem Bestimmungsland zu. Beim Ursprungslandprinzip gilt der Steuersatz des Mitgliedstaates, in dem das Gut bzw. die Dienstleistung erstellt wurden, wobei die Steuereinnahmen an diesen Mitgliedstaat fliefien. Aufgrund des unterschiedlichen Steuerzuflusses bei beiden Prinzipien existiert ein starker Interessengegensatz innerhalb der Gemeinsehaft, der zu einer Blockadepolitik bei den Reformen geflihrt hat. Mit der Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes 1993 fielen die Steuerkontrollen an den Binnengrenzen weg, so dass das bisher gliltige Bestimmungslandprinzip, das auf einer Steuerbefreiung von Giitern, die in ein anderes EU-Land exportiert wurden, sowie auf einer entsprechenden Einfuhrumsatzsteuer aufbaute, in der bisherigen Form nicht mehr angewandt werden konnte. Deshalb beschloss man 1993 das Ursprungslandprinzip einzufiihren, bei dem der Mehrwertsteuersatz des Staates des Leistungserbringers innerhalb der EU angewandt wird, so dass die Steuergrenzen innerhalb der EU wirklich beseitigt waren, da man dann nicht mehr kontrollieren muss, ob das Produkt im jeweiligen Mitgliedstaat selbst oder einem anderen konsumiert wird. Dieser Beschluss kann aber nur verbindliches Recht werden, wenn sich die Mitgliedstaaten auf einen Verteilungsschlussel fur das Mehrwertsteueraufkommen einigen. Solange diese Einigung nicht zustande kommt, gilt eine komplizierte Ubergangsregelung, die eigentlich nach einer bis Ende 1996 vorgesehenen Einigung auslaufen sollte und die durch folgende Elemente gekennzeichnet ist. 1. Lieferungen in das EU-Ausland werden generell von der Mehrwertsteuer befreit (Nullsatzbesteuerung),
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11 Koordination der Steuerpolitik Tabelle 11.1. Mehrwertsteuersatze in den Mitgliedstaaten der EU
Mitgliedsstaaten
Abk.
Belgien Bulgarien Tschechische Republik Danemark Deutschland Estland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Zypern Lettland Litauen Luxemburg Ungarn Malta Niederlande Osterreich Polen Portugal Rumanien Slowenien Slowakisehe Republik Finnland Schweden Vereinigtes Konigreich
BE BG CZ DK DE EE EL ES FR IE IT CY LV LT LU HU MT NL AT PL PT RO SI SK FI SE UK Quelle: Europaische
ErmaBigter Satz 6 5 7 5 9 7 5,5 13,5 10 5/8 5 5/9 6 5/15 5 6 10 7 5/12 11 8,5 8/17 6/12 5 Kommission
Normalsatz 21 20 19 25 19 18 19 16 19,6 21 20 15 18 18 15 20 18 19 20 22 21 22 20 19 22 25 17,5
11.2 Horizontale Koordination der Steuerpolitik
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2. Lieferungen, aus dem EU-Ausland werden gemafi dem Bestimmimgslandprinzip mit dem Steuersatz des Mitgliedstaates besteuert, in das der Import erfolgt. 3. Fur Lieferungen an ein Unternehmen oder eine juristische Person (Verkauf an Steuerpflichtige) innerhalb der EU gilt das Bestimmungslandprinzip (Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb), wobei die Vorsteuererstattung grenzuberschreitend zum Tragen kommt. Um diese EU-weit durchzufiihren, werden alle Unternehmen fur die Mehrwertsteuer registriert und erhalten eine Ident ifikationsnummer. 4. Beim Verkauf an Privatpersonen gilt hingegen das Ursprungslandprinzip. Dies gilt aber nicht fur den Kauf von neuen Fahrzeugen und beim Versandhandel ab einem bestimmten Volumen, wobei die jeweiligen mitgliedstaatlichen Schwellen zwischen 35.000 E U R und 100.000 E U R liegen. 5. Noch komplizierter ist die Mehrwertsteuerregelung fur den Interneterwerb von elektronischen Dienstleistungen durch Private. Ist der Verkaufer in der EU niedergelassen, so gilt nach dem Herkunftslandprinzip der Mehrwertsteuersatz des Mitgliedstaates der Niederlassung. Hat der Verkaufer keinen Sitz in einem Mitgliedstaat der EU, so gilt das Bestimmungslandprinzip. Leider ist nicht zu erwarten, dass dieses unsystematische Mehrwertsteuergeflecht in absehbarer Zeit aufgehoben wird. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass aufgrund neuer zu regelnder Tatbestande das uneinheitliche Mehrwertsteuersystem noch unubersichtlicher wird. So soil fur grenziiberschreitende Dienstleistungen von Immobilienagenturen sowie fur die grenziiberschreitende Vermietung von Autos das Bestimmungslandprinzip eingefiihrt werden, wenn diese fur Private erbracht werden. Damit sich Internetdienstleister nicht mehr in dem Mitgliedstaat mit dem niedrigsten Mehrwertsteuersatz niederlassen, u m so einen Wettbewerbsvorteil zu realisieren, soil generell fur diesen Bereich das Bestimmungslandprinzip gelten. Diese Uberlegungen verdeutlichen ein Kernproblem des Mehrwertsteuersystems, das sich aus den unterschiedlichen Regelungen und den unterschiedlichen Mehrwertsteuersatzen (vgl. Tabelle 11.1) ergibt: allokative Verzerrungen in Form einer Produktionsineffizienz. Das jetzige Mischsystem beeinflusst die Wahl des Produktionsstandortes bzw. bei Internetanbietern des Niederlassungsortes. Dies wiirde offensichtlich nicht gelten, wenn m a n konsequent das Bestimmungslandprinzip anwendet. Nun mochte aber die Europaische Kommission, u m unnotige Verwaltungskontrollen im innereuropaischen Handel zu vermeiden, konse-
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quent das Ursprungslandprinzip einfiihren, wie dies 1993 im Grundsatz auch schon beschlossen worden ist. Von daher ist zu priifen, ob unter Allokationsaspekten die generelle Einfuhrung des Ursprungslandprinzips iiberhaupt Sinn macht. In Anlehnung an Homburg (2007, S. 317 ff.) soil aufgezeigt werden, dass unter allokativen Aspekten Bestimmungsland- und Ursprungslandprinzip aquivalent sind und zu keinen Produktionsverzerrungen fuhren. In dem sehr einfachen Modell gehen wir von zwei reprasentativen Landern (i = 1,2) der EU aus. Ni ist die Zahl der immobilen Beschaftigten, d das jeweils in den beiden Landern produzierte Konsumgut. Es gilt fur beide Lander eine identische lineare Produktionsfunktion mit der Arbeitsproduktivitat a und dem einzigen Inputfaktor Ni, so dass Ci = a • Ni(i = 1,2) gilt. Es sei pi der Nettopreis und qi der Bruttopreis inklusive Mehrwertsteuer. Der jeweilige Mehrwertsteuersatz sei U mit t\ > £2- Dann gilt unabhangig vom gewahlten Steuersystem q± = (1 + ti)pi (i — 1, 2). Bei vollstandiger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wird der Faktor Arbeit nach seinem Wertgrenzprodukt Pi- a = Wi entlohnt. Schauen wir uns nun die beiden Steuersysteme an. Bestimmungslandprinzip: Betrachten wir einen Konsumenten aus dem Land 1, der immer dem Mehrwertsteuersatz von t\ unterliegt. Kauft er im Land z, so zahlt er den Bruttopreis (1 + t\)p%- Nach dem Gesetz von Jevons muss deshalb im Marktgleichgewicht p\ — P2 sein, was bei den Bruttopreisen zur Folge hat, dass q\ — (1 + t\)p > q
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fachen und unter sehr restriktiven Modellannahmen abgeleiteten Annahmen gilt also - im Gegensatz zu einer spezifischen Verbrauchsteuer - , dass bei beiden Steuerprinzipien keine Produktionsverzerrungen bewirkt werden. Nun konnte man einwenden, dass die hier gemachten Aussagen nicht verallgemeinerungsfahig sind und so keine sinnvolle Grundlage fur wirtschaftspolitische Empfehlungen beinhalten. Weiterfiihrende Arbeiten haben - worauf Homburg (2007, S. 323) hinweist - aber aufgezeigt, dass die hier angestellten Uberlegungen durchaus verallgemeinerungsfahig und sehr robust sind. Entscheidend ist aber, dass im Gegensatz zu einem reinen Bestimmungsland- bzw. Ursprungslandprinzip von dem jetzigen ineffizienten Ubergangssystem in Form eines Mischsystems nicht zu vernachlassigende allokative Effekte ausgehen. Dies ist im Wesentlichen darauf zuruckzufiihren, dass die Einzelregelungen fiir die Mehrwertsteuer oft wie spezifische Verbrauchsteuern wirken, so dass der kompensatorische Nominallohneffekt bei Preisanderungen wegfallt und es zu Verzerrungen der relativen Preise kommt. Neben den allokativen Fehlanreizen wird weiter an dem Mischsystem kritisiert, dass es durch den Vorsteuerabzug zu Steuerbetrug im innergemeinschaftlichen Warenverkehr fiihrt. Man spricht hier vom sogenannten Mehrwertsteuerkarussell, das kurz erlautert werden soil. Ein auslandisches Unternehmen EX exportiert in die EU eine Ware und verkauft diese zum Nettopreis von 1000 E U R an den Importeur IM. Der Importeur verkauft die Ware zum Preis von 1160 E U R an das Handelsunternehmen i7, fiihrt die Mehrwertsteuer illegalerweise nicht ab (1. Alternative). Im Rahmen der Vorsteuererstattung bekommt aber das Handelsunternehmen die nicht von IM abgefiihrte Mehrwertsteuer erstattet. Im Karussell exportiert das Handelsunternehmen H steuerfrei an den EX im Ausland zum Nettopreis 1000 EUR, so dass das Karussell von neuem beginnen kann. Eine andere Moglichkeit liegt darin, dass der IM die importierte Ware falschlicherweise mit dem Nettowert von 1000 E U R als innergemeinschaftlichen Handel deklariert und b r u t t o als 862,07 E U R + 137,93 E U R (16% Mehrwertsteuer) ausweist (2. Alternative). Der Mehrwertsteuerbetrag von 137,93 E U R wird IM dann als Vorsteuer erstattet. Bevor aber das illegale Verhalten von IM aufgedeckt wird und die erstattete Vorsteuer vom Finanzamt zuruckgefordert werden kann, sind diese Unternehmen schon aufgelost und konnen nicht in Regress genommen werden. Die Unternehmen H und EX, die dabei mitgespielt haben, haben sich dabei formal korrekt verhalten. Ein grenzuberschreitender Handel ist bei diesen Geschaften sinnvoll, weil dadurch die Kontrolle durch die nationalen Finanzamter erschwert
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11 Koordination der Steuerpolitik
wird. Die 1. Alternative ist sogar allein im innergemeinschaftlichen Handel moglich. K a p i t a l b e s t e u e r u n g : Wahrend bei der Mehrwertsteuer der Druck in Richtimg einer starkeren Harmonisierung in der EU relativ schwach ausfallt, wird die Diskussion urn die Harmonisierung der Kapitalbesteuerung in der EU - insbesondere nach der EU-Osterweiterung recht intensiv gefuhrt. Durch die EU-Osterweiterung hat die Varianz in den Grenzsteuersatzen bei der Kapitalbesteuerung zugenommen, da die neuen Mitgliedstaaten relativ niedrige Steuersatze haben, und die durchschnittliche Steuerbelastung divergiert erheblich (siehe Abb. ii.i). Die EU15 befiirchtet, dass die neuen Mitgliedstaaten die Steuersatze strategisch nutzen, um mit niedrigen Steuersatzen Kapital zu attrahieren. Der Konflikt hat sich durch Vorwurfe der EU15 im Rahmen der Kohasionspolitik weiter verscharft. Den neuen Mitgliedslandern wird vorgeworfen, dass sie die zufliefienden Kohasionsmittel aus der EU15 zur Finanzierung ihres Haushaltes verwenden und so die Steuerausfalle niedriger Kapitalsteuersatze kompensieren konnen. Die EU15 mutmafit daher, dass sie die Abwanderung von Kapital finanzieren und sich damit selbst das Wasser abgraben. Diese im Ansatz korrekte Kritik und die zum Teil polemisch gefuhrt e Diskussion sollen hier nicht vertieft werden, sondern es soil die grundsatzliche Problematik, die sich aus der unterschiedlichen Besteuerung des Produktionsfaktors Kapital ergibt, dargestellt werden. Dabei wollen wir - u m das Kernproblem besser herausarbeiten zu konnen von einer sehr einfachen Modellwelt ausgehen und dann diese Modellaussagen aus einer realistischeren Perspektive ein wenig relativieren. Ausgangspunkt unserer Uberlegungen bildet ein kleines Land, das mit seiner Politik nur einen geringen Einfluss auf den weltweiten Kapitalmarktzins hat, so dass wir diese Grofie aus der Sicht eines einzelnen Mitgliedstaates der EU als exogen ansehen. Des Weiteren unterstellen wir, dass der Produktionsfaktor Arbeit - was den Gegebenheiten in der EU entspricht - grenziiberschreitend immobil ist, dass hingegen der Faktor Kapital - besser Finanzkapital - vollkommen mobil ist. Entscheidend fur unsere Argumentation ist die Annahme, dass die zu analysierende Kapitalsteuer als Quellensteuer, also im Lande des Kapitaleinsatzes erhoben wird. Eine Kernaussage der Finanzwissenschaft ist folgendes Dilemma: In dem oben aufgezeigten Szenario entzieht sich der mobile Faktor Kapital bei isoliertem Vorgehen eines EU-Mitgliedstaates bei der Kapitalbesteuerung vollig der Besteuerung. Eine einseitige Reduzierung der Kapitalbesteuerung (des Grenzsteuer-
11.2 Horizontale Koordination der Steuerpolitik 0%
5%
237
10% 15% 20% 25% 30% 35% 40%
Quelle: ZEW (2004)
Abbildung 11.1. Effektive Durchschnittsbesteuerung der Unternehmen in der EU10 satzes) erhoht hingegen das Einkommen des immobilen Faktors Arbeit. Dabei wiirde der damit einhergehende Riickgang der Steuereinnahmen aus der Kapitalbesteuerung durch die Einkommenszuwachse der einheimischen Arbeitnehmer iiberkompensiert. Aufgrund dieser Anreizstrukt u r existiert bei der Kapitalbesteuerung ein race to the bottom. Um das Einkommen der Einheimischen zu erhohen, ist es im Steuerwettbe-
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11 Koordination der Steuerpolitik
werb unter den EU-Mitgliedstaaten attraktiv, die Kapitalbesteuerung zu senken, urn so mehr Kapital in das eigene Land umzulenken. Es sei L das Arbeitsangebot in unserem EU-Mitgliedstaat. Die Lohne sind vollkommen flexibel und sorgen fiir Vollbeschaftigung. Wir unterstellen eine neoklassische Produktionsfunktion Y = f(K,L). Bei einem Weltmarktzins r wird solange in ein Land, das den Faktor Kapital nicht besteuert, investiert, bis die Grenzleistungsfahigkeit des Faktors Kapital dem Weltmarktzins entspricht:
df(K,L) dK
(11.1)
wobei der Preis von Y 1 sei. Wie beeinflusst nun eine Kapitalbesteuerung das Investitionsverhalten? Es sei r der Steuersatz, so dass sich die Nettogrenzproduktivitat des Faktors Kapital nach Steuern auf fx — T belauft. An dieser Grofie orientieren sich die weltweit agierenden Investoren, fur sie muss mindestens JK~^ — ^ gelt en, damit sich eine Investition lohnt. In Abb. 11.2 ist in Anlehnung an Sinn (1995b) der sich daraus ergebende Sachverhalt dargestellt.
€ TA
r+ T
0
K2
Kx
K
Abbildung 11.2. Die Erosion der Quellensteuern im Steuerwettbewerb Die durch AG fallend verlaufende Linie spiegelt die mit steigendem Kapitaleinsatz einhergehende niedrigere Kapitalproduktivitat wieder. Ohne Besteuerung wurde der paretooptimale Kapitaleinsatz K\ realisiert, da bei K\ das Grenzwertprodukt dem Zinssatz r entspricht. Das
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dazu gehorende Volkseinkommen ist dann J fx(K) • dK das der Flao che OAGKi entspricht. Von diesem Volkseinkommen fliefien r-K\ bzw. die Flache OEGK\ als Zinseinnahmen an den Faktor Kapital. Hingegen erhalt der Mitgliedstaat den Rest des Volkseinkommens in Hohe von EAG. Wie andert sich das Szenario, wenn eine Kapitalbesteuerung mit dem Steuersatz r eingefiihrt wird? Da dann das Grenzwertprodukt nach Steuern sinkt, wird in das Land solange der Kapitalzufluss reduziert, bis gilt: fx — T — r so dass das niedrigere Kapitalvolumen K^ in das Land fliesst. Folgende Konsequenzen ergeben sich aus der Kapitalbesteuerung: Das Volkseinkommen geht von der Flache OAGK\ auf die Flache OACK2 zurlick. Das betrachtete Land erzielt ein Kapitalsteueraufkommen von T-K2, was mit der Flache LCFE tibereinstimmt. Das Einkommen der Inlander geht von der Flache EAG auf die Flache ALC zuruck. Selbst wenn wir ein Land unterstellen, dessen Regierung als wohlmeinender Diktator das Steueraufkommen in irgendeiner Form den Einwohnern zugute kommen lasst, so kann das Steueraufkommen den Einkommensverlust durch die Besteuerung nicht kompensieren, sondern es verbleibt ein Wohlfahrtsverlust der Kapitalbesteuerung in Hohe des Dreiecks FCG fur den betrachteten Mitgliedstaat, u m den sich dieses Land insgesamt schlechter stellt. U m diesen Wohlfahrtsverlust zu vermeiden, empfiehlt es sich fur jeden Mitgliedstaat der EU, seine Kapitalbesteuerung zu senken. Machen sich alle Staaten diese Strategic zu eigen, so kommt es zum race to the bottom und der Faktor Kapital wird tiberhaupt nicht mehr besteuert. Schaut man sich dieses aus der Sicht der immobilen Faktoren deprimierende Ergebnis an, konnte man iiberlegen, ob man den Faktor Kapital nicht doch ohne EfAzienzeinbufien besteuern kann. Viel eher sollte man aber die Robustheit des Modells hinterfragen und prlifen, wie die Modellaussagen unter realistischeren Annahmen zu modifizieren sind. Bei unseren Modelliiberlegungen haben wir nur einseitig die Fehlanreize, die sich aus der Erhebung der Kapitalsteuer fur die Financiers ergeben, betrachtet. Unter allokativen Gesichtspunkten ist aber auch die Verwendungsseite bedeutsam. Unter dem Hinweis auf die Regierung als wohlmeinenden Diktator haben wir implizit eine effiziente Verwendung des Kapitalsteueraufkommens im Sinne der Burger unterstellt. Diese Annahme ist aber unrealistisch. Wir mussen uns deshalb konkret fragen, was mit den Mitteln passiert. Bei der Mittelverwendung steht eine Vielzahl von Moglichkeiten zur Verfiigung. Der Staat kann die Mittel in die Infrastruktur fliefien lassen, sei es fur die offentliche
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Realkapitalbildung, sei es iiber offentliche Bildungsmafinahmen in die Humankapitalbildung. Beriicksichtigt man diese Verwendungsseite, so ist fur den Gesamteffekt der Kapitalbesteuerung liber die Einnahmeund Ausgabeneffekte die Rendite bei den staatlichen Investitionen mit zu beriicksichtigen. Je hoher die Rendite der staatlichen Ausgaben im investiven Bereich ist, urn so starker verschiebt sich die Linie der Grenzproduktivitat nach aufien. Verschiebt sie sich z. B. - wie in Abb. 11.3 - von AG nach A'G*, so fiihrt die Kapitalbesteuerung sogar zu einer Wohlfahrtssteigerung. € A' A
r+T B E
0
\ .
^ \C
\ G * Gi
\ .
K2 KXKZ K Abbildung 11.3. Wohlfahrtsgewinn bei einer Quellensteuer
Wenn durch die Besteuerung Kapital in rentablere offentliche Investitionen umgelenkt wird, fiihrt die Kapitalbesteuerung zu einer Erhohung des Kapitalzustromes von K\ auf K^. Gerade fiir die neuen EU-Mitgliedstaaten scheint dieses Szenario durchaus realistisch zu sein, leiden diese doch unter einem erheblichen Defizit im Bereich der offentlichen Infrastruktur. Man sollte aber vorsichtig sein, aus dieser Uberlegung weitreichende Konsequenzen zu ziehen. Es macht wenig Sinn, den neuen EU-Mitgliedstaaten relativ hohere Kapitalsteuersatze zu empfehlen. Uberzeugender ist die Strategic der EU, die versucht, iiber die Kohasionspolitik den neuen Mitgliedstaaten ausreichendes Kapital fiir offentliche Infrastruktur zur Verfugung zu stellen. Bisher wurde von der Asymmetrie der Mobilitat der beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital ausgegangen. Diese Annahme kann nicht uneingeschrankt aufrecht erhalten werden. Zum einen wird auch der Faktor Arbeit in der EU kontinuierlich mobiler, so dass der Staat
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nicht einfach von der Besteuerung des mobilen Faktors Kapital auf den immobilen Faktor Arbeit umschichten kann. Insbesondere die hoher qualifizierten Arbeitskrafte mit guten Sprachkenntnissen werden in der EU immer mobiler und wandern in andere Steuergebiete ab. Auch kann es als Ausweichreaktion auf eine zu starke Besteuerung der Arbeit zu einem Riickgang der privatfinanzierten Humankapitalinvestitionen kommen. Insgesamt stellt sich die Problemlage fiir den Staat in weitem Ausmafi ahnlich wie beim Faktor Kapital dar, worauf wir spater noch ausfiihrlich eingehen werden. Auch stellt sich die Frage, ob man im Steuerwettbewerb mit niedrigeren Steuersatzen Infrastrukturdefizite kompensieren kann. Dies mag vielleicht bei verlangerten Werkbanken der Fall sein, nicht aber bei High-Tech-Technologien. So wie der Faktor Arbeit nicht vollig immobil ist, so ist auch der Faktor Kapital nicht vollig mobil. Hier differenziert man insbesondere zwischen Finanz- und Realkapital. Bei der Finanzierung eines Investitionsobjektes kann man von sehr mobilem Kapital ausgehen, das sehr sensibel auf Nettozinsdifferenziale reagiert. Anders stellt sich die Situation ex post nach der Realisierung des Investitionsobjektes fiir das Realkapital dar. Dann ist das geschaffene Realkapital oft standortgebunden und relativ immobil. Aus dieser Transformation von vollkommen mobilem Finanzkapital ex ante in immobiles Realkapital ex post ergibt sich die Frage der Glaubwlirdigkeit von staatlichen Zusagen, die unter dem Begriff der Zeit-Inkonsistenz in der okonomischen Theorie diskutiert wird. Danach ist nicht allein die Zusage niedriger Steuersatze fiir eine Investition entscheidend, sondern auch, ob diese langfristig aufrecht erhalten wird. Denn ist erst einmal die Investition zustande gekommen, so kann der jeweilige Staat die Abhangigkeit des Investors strategisch nutzen, seine Zusage brechen und den Steuersatz ex post heraufsetzen. Aus dieser Sicht ergeben sich fiir glaubwiirdige Staaten steuerpolitische Spielraume, insbesondere dann, wenn man bei Staaten mit relativ hohen Kapitalsteuersatzen vermutet, dass diese im Steuerwettbewerb die Steuern tendenziell eher senken, man hingegen bei denen mit niedrigen vermutet, dass sie diese Strategie nicht durchhalten und gezwungen werden, die Steuersatze nach oben anzupassen. Dariiber hinaus ist zu priifen, ob der Faktor Kapital tatsachlich so mobil ist, wie in der neoklassischen Theorie unterstellt wird. So haben Feldstein/Horioka (1980) in einer umfassenden Untersuchung aufgezeigt, dass eine signifikante Beziehung zwischen den Spar- und den Investitionsquoten der Nationalstaaten existiert, was andeutet, dass das Finanzkapital primar im jeweiligen Land angelegt wird und nicht nach
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dem Renditeausgleichstheorem dorthin wandert, wo weltweit die hochste Rendite erwirtschaftet wird. Bei dieser Relativierung sollte man aber beriicksichtigen, dass die Praferenz, sein Kapital im eigenen Land zu investieren, bei Kleinanlegern und KMU durchaus gegeben ist, dies aber nicht fiir global agierende institutionelle Anleger und multinationale Unternehmen gilt, an denen sich die Steuerpolitik der Mitgliedstaaten der EU immer starker ausrichtet. Die Relevanz des Steuersatzes als ein dominantes Investitionskriteriu m relativiert sich weiter, wenn man beriicksichtigt, dass die zu zahlende Steuerschuld durch Steuersatz und Bemessungsgrundlage bestimmt wird. Nun variiert letztgenannte innerhalb der EU sehr stark. Sie ist unterschiedlich kompliziert zu bestimmen und - was besonders wichtig ist - sie kann in einem gewissen Umfang steuergiinstig gestaltet werden. Insbesondere EU-weit agierende Unternehmen sind in der Lage, iiber die Gestaltung von Verrechnungspreisen fiir Giiter, die zwischen den Tochtern bzw. mit der Mutter ausgetauscht werden, gezielt Gewinne in ein EU-Mitgliedstaat mit einer niedrigen Besteuerung zu transferieren. Als Adressat fiir diese Strategie ist z. B. Irland bekannt. Unter Mafigabe dieser unternehmerischen Strategie der Gewinnverlagerung bewirkt eine niedrige Kapitalertragsteuer u. U. keine hoheren Investitionen und keine erhohte Beschaftigung vor Ort. Aber der Anreiz des race to the b o t t o m bleibt weiter bestehen, da jeder EU-Mitgliedstaat ein grofies Interesse an einer hohen Kapitalertragsteuer hat. In diesem Zusammenhang spricht die Europaische Kommission in Anlehnung an Uberlegungen der O E C D von einem schadlichen Steuerwettbewerb. Auf den Vorschlagen der Kommission aufbauend hat der Ministerrat (ECOFIN) 1997 einen Verhaltenskodex zur Koordinierung der Steuerpolitik beschlossen, der folgende schadliche Steuerpraktiken ausschliefien soil: 1. steuerliche Anreize fiir Aktivitaten, die von der inlandischen Wirtschaft losgelost sind, so dass sie keine Auswirkungen auf die innerstaatliche Steuerbemessungsgrundlage haben, 2. Gewahrung von Vorteilen fiir nicht vorhandene Wirtschaftstatigkeiten und fiir solche, die keine ausreichende Prasenz in dem Mitgliedstaat beinhalten, 3. Nichterfiillung der O E C D Grundsatze fiir die Gewinnermittlung bei Aktivitaten innerhalb multinationaler Unternehmen, 4. unzureichende Transparenz der Steuersysteme als auch seiner Anwendung. Auch wenn dieser Verhaltenskodex letztlich nur eine gemeinsame E m p fehlung beinhaltet, so hat die Kommission die Moglichkeit, diesen schadlichen Steuerwettbewerb zu unterbinden, indem sie vor dem E u G H
11.2 Horizontale Koordination der Steuerpolitik
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klagt. Nach dem EG-Vertrag miissen die Steuersysteme der Mitgliedstaaten so ausgestaltet werden, dass sie mit den vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes vereinbar sind und den Nichtdiskriminierungsgrundsatz einhalten. Selbst wenn durch diesen Verhaltenskodex sowie die Regelungen des EG-Vertrages schadlicher Steuerwettbewerb ausgeschlossen werden konnte, so steht immer noch die Gefahr im Raum, dass es zu einem race to the bottom bei der Festlegung der Steuersatze in den Mitgliedstaaten kommt. Um diesen zu verhindern, haben Frankreich und die Deutschland in Anbetracht der EU-Osterweiterung eine gewisse Harmonisierung der Steuersatze dahingehend vorgeschlagen, dass man sich EU-weit - wie bei der Mehrwertsteuer - auf einen Mindeststeuersatz einigt, um den race to the bottom zu stoppen. Diese Position konnte sich bisher nicht durchsetzen. E i n k o m m e n s t e u e r : Anstelle einer Harmonisierung haben sich die EU-Mitgliedstaaten gemafi Artikel 94 des EG-Vertrages auf eine verstarkte Koordinierung geeinigt, u m die vier Grundfreiheiten - insbesondere den freien Kapitalverkehr - zu ermoglichen, indem man sich weitgehend auf die Anwendung des Wohnsitzlandprinzips bei der Gewinnund der Einkommensbesteuerung einigte. Wendet man das Wohnsitzlandprinzip konsequent an, so fliefit die Steuer an den Staat des Wohnsitzlandes. Dieses Wohnsitzlandprinzip schliefit allokative Verzerrungen z. B. bei Kapitalanlagen aus. F u r einen Investor ist es dann irrelevant, wo er sein Kapital anlegt, er wird immer zum gleichen Steuersatz unabhangig von der Standortwahl besteuert. Von daher ist das Wohnsitzlandprinzip durchaus kompatibel mit den vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes. Gemafi dem sogenannten Welteinkommensprinzip ist den Heimatlandern des Steuerbiirgers das Besteuerungsrecht bei Kapitaleinkiinften zugeordnet. Um dieses Prinzip in der EU umzusetzen, bieten sich zwei Wege an. Zum einen kann die Europaische Kommission im R a h m e n des Gemeinschaftsrechts initiativ werden und durch Richtlinien und Verordnungen eine Koordination im Sinne des Wohnsitzlandprinzips bei den Mitgliedstaaten bewerkstelligen. Zum anderen konnen die Mitgliedslander selbst liber bilaterale Vereinbarungen die Anwendung des Wohnsitzlandprinzips verwirklichen. Letzteren Weg haben die Mitgliedstaaten in Form von Doppelbesteuerungsabkommen eingeschlagen, wobei sie sich aber bei der Einkommensteuerlast ausschliefilich gemafi OECD-Vorgaben den Grundsatz der Besteuerung im Arbeitsland (Beschaftigungsland) gewahlt haben, nach dem das Wohnsitzland zugunsten des Beschaftigungslandes auf sein Steuerrecht verzichtet. Hingegen beinhaltet die OECD-Regelung fur Renten und Sozi-
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alleistungen das Wohnsitzlandprinzip, fiir staatliche Pensionen aber das Quellenlandprinzip. Diese OECD-Regeln sind aber nicht eins-zu-eins in den Doppelbesteuerungsabkommen ubernommen worden. Dies gilt insbesondere fiir die Besteuerung der Arbeitseinkommen von Grenzgangern, bei der beide Prinzipien in den bilateralen Abkommen zum Tragen kommen. Die landesspezifischen Vereinbarungen, von denen es in der EU iiber hundert gibt, zeigen im Detail erhebliche Unterschiede auf, so dass diese Regelungen im einzelnen nicht dargestellt werden konnen. Insbesondere muss gesagt werden, dass sich das Wohnsitzlandprinzip bei diesen Vereinbarungen nicht durchgesetzt hat. Fiir unsere sozialpolitischen Ausfuhrungen im nachsten Kapitel soil ein Problemfeld besonders aufgezeigt werden. Die Doppelbesteuerungsabkommen fiihren dazu, dass wir Diskrepanzen zwischen den sozialrechtlichen und den steuerrechtlichen zwischenstaatlichen Regelungen in der EU feststellen. Dies gilt in erster Linie fiir Grenzganger und gebietsfremde Beschaftigte (Wanderarbeitnehmer) und deren Familienangehorige (Zur Definition siehe Abschn. 2.4.3). Fiir all diese hat die EU mit der Verordnung 1408/71 einheitliche sozialrechtliche Regelungen fiir grenziibergreifende Aspekte geschaffen, die naturgemafi nicht immer kompatibel mit den heterogenen landerspezifischen Regelungen in den Doppelbesteuerungsabkommen sein konnen. Bei Anwendung des Wohnsitzlandprinzips ergibt sich fiir den Steuerzahler die Moglichkeit der Steuerhinterziehung, indem er seine Vermogensverwaltung ins Ausland verlagert, er sein steuerpflichtiges Einkommen aus dem Ausland bei seinem Finanzamt am Wohnort nicht deklariert und sich so der Besteuerung durch den heimischen Fiskus entzieht. Um die Wirksamkeit des Wohnsitzlandprinzips dennoch zu gewahrleisten, bieten sich zwei Alternativen an. Uber Kontrollmitteilungen informiert das Land, in dem die Einkiinfte erzielt werden, das Wohnland iiber die Einkiinfte, die dann im Wohnland gemafi Wohnsitzlandprinzip versteuert werden. Als second best Losung bietet sich die Alternative an, dass das Land, in dem die Einkiinfte erzielt werden, gemafi Quellensteuerprinzip eine Steuer erhebt und diese zu einem gewissen Prozentsatz an das Wohnsitzland ohne Kontrollmitteilung abfiihrt. Diese zweite Alternative wahrt das Bankgeheimnis, hat aber den gravierenden Nachteil, dass sie bei unterschiedlichen Steuersatzen zu allokativen Verzerrungen fiihrt, Steuerhinterziehung nicht voll unterbindet und bei ausreichendem Anteil des Quellensteuerlandes am Steueraufkommen den race to the bottom nicht aufhebt. Da iiber die Doppelbesteuerungsabkommen das Wohnsitzlandprinzip nur unzureichend realisiert und die Steuerhinterziehung ungeniigend
11.3 Die Gefahrdung des Sozialstaates durch Mobilitat
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eingedammt wurde, hat die Europaische Kommission nach langen Anlaufschwierigkeiten mit der 2005 umgesetzten Richtlinie 2003/48 zur Besteuerung von Zinsertragen die Anwendung des Wohnsitzlandprinzips ausgeweitet. In dieser Richtlinie kommen beide oben erwahnten Alternativen zum Tragen. Zum einen verpflichten sich 22 der EU25Mitgliedstaaten zu Kontrollmitteilungen bei den Zinseinkiinften. Fur die drei Mitgliedstaaten, Belgien, Osterreich und Luxemburg, gilt die Regelung, dass sie eine Quellensteuer erheben und diese zu 75% an die jeweiligen Wohnsitzlander abfiihren. Der Steuersatz der Quellensteuer steigt von 15% bis 2011 auf 35%. Eine wesentliche Schwache dieser Richtlinie liegt darin, dass sie viele Schlupflocher offen lasst, so dass das Wohnsitzlandprinzip nur eingeschrankt zum Tragen kommt. Die Richtlinie erfasst nur Zinseinkunfte, nicht aber Dividenden und sonstige Kapitalertrage, so dass mit der Richtlinie nur eine Umschichtung in den Vermogensanlagen bei den Steuerhinterziehern induziert wird. Um auch bei der Unternehmensbesteuerung das Wohnsitzlandprinzip zu starken, wurde mit der Richtlinie 2003/49 zur Besteuerung grenziiberschreitender Zinsen und Lizenzgebiihren fiir verbundene Unternehmen die Quellensteuer aufgehoben. Die bisherigen Ausfiihrungen zeigen, dass das Wohnsitzlandprinzip in der EU nur recht eingeschrankt zum Tragen kommt. Schon von daher ist nicht zu er wart en, dass die verzerrenden Effekte mit den realisierten Reformen vollig beseitigt werden und der race to the bottom gestoppt ware. Selbst wenn man eine perfekte Losung zur Umsetzung des Wohnsitzlandprinzips verwirklicht hat, ist damit das Kernproblem beim race to the bottom nicht annahernd gelost. Solange die zu besteuernden Produktionsfaktoren mobil sind, wird der Prozess des race to the b o t t o m nicht gestoppt werden, wie dies ausfuhrlich am Beispiel der Wanderung von EU-Biirgern, die in Artikel 18 des EG-Vertrages als Option garantiert ist, aufgezeigt wird.
11.3 D i e G e f a h r d u n g des Sozialstaates durch M o b i l i t a t Wenn Kapital und Arbeit in der EU vollkommen mobil sind, so werden sie in die Mitgliedstaaten wandern, in denen die Rendite bzw. der Nettonutzen am hochsten sind, so dass es zur Nivellierung dieser Grofien in der EU kommt. Unter Berucksichtigung von Mobilitatskosten, Informationsdefiziten, beschrankter Rationalitat usw. kann man dieses Ergebnis relativieren. Die Kernaussage ist aber - zumindest langfristig - unumstofilich. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus fiir den Steuer- und insbesondere fiir den Sozialstaat? Existieren aufgrund die-
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ser Nivellierimgstendenz faktisch keine nationalstaatlichen Handlungsspielraume in der EU? Betrachten wir die wichtigsten wirtschaftspolitischen Aufgaben eines Nationalstaates (Stabilisierung, Versorgung mit offentlichen Giitern [Allokationsfunktion], Sozialer Ausgleich [Distributionsfunktion]) und die entsprechenden Instrumente, die dem Staat zur Erfiillung dieser Aufgaben zur Verfiigung stehen. Die Stabilisierungsfunktion, die sich auf Ziele wie Geldwertstabilitat und Vollbeschaftigung bezieht, haben wir schon in anderen Kapiteln behandelt. Die Versorgung mit offentlichen Giitern durch den Staat begriinden wir mit dem Marktversagen bei solchen Giitern. Reine offentliche Giiter sind dadurch gekennzeichnet, dass sie keine Rivalitat im Konsum beinhalten, da sie von mehreren gleichzeitig genutzt werden konnen, ohne dass es dabei zu wechselseitigen Nutzeneinbufien kommt. F u r sie gilt nicht das Exklusionsprinzip, welches besagt, dass ein Dritter von der Nutzung eines einmal produzierten Gutes ausgeschlossen werden kann. Klassische Beispiele fur offentliche Giiter sind Rechtssicherheit und Landesverteidigung. Was wir unter offentlichen Giitern verstehen, ist in gewissem Sinne auch eine politische Entscheidung. Ob Rivalitat im Konsum gegeben ist, ist letztlich eine Frage der vorhandenen Kapazitat, liber die z. B. im Bildungs- und Gesundheitswesen politisch entschieden wird. Ob das Exklusionsprinzip faktisch anwendbar ist, wird in grofiem Umfang ebenfalls auf diese Weise entschieden. Grundvoraussetzung fiir private - anders als fiir offentliche - Giiter, bei denen per definitionem das Exklusionsprinzip anwendbar ist, sind wohldefinierte Eigentumsrechte deren Zuweisung der Politik iiberlassen bleibt. Da z. B. ein Arzt sittlich und rechtlich verpflichtet ist, im Notfall einen Kranken zu behandeln, kann er fiir solche Leistungen das Exklusionsprinzip nicht anwenden. Diese kurzen Ausfiihrungen sollen deutlich machen, dass mit der Kategorie „6ffentliche Giiter" keine objektive Abgrenzung zwischen staatlichen und privaten Aufgaben moglich ist. Warum ist die Erstellung offentlicher Giiter iiberhaupt eine originar staatliche Aufgabe? Dies wird mit dem Marktversagen bei offentlichen Giitern begriindet. Wenn ein privates Unternehmen ein offentliches Gut produzieren und anbieten wiirde, so wiirde es niemals seine Kosten verdienen konnen, da niemand dieses Gut kaufen wiirde. Alle werden es nutzen, aber niemand wird dafiir bezahlen. Von daher wird kein privates Unternehmen ein offentliches Gut am Markt anbieten. Da offentliche Giiter nicht iiber marktliche Entgelte finanziert werden und fiir den Staat die Finanzierung iiber Schulden langfristig nicht tragfahig ist, bieten sich zur Finanzierung nur Gebiihren und Steuern an. Wer-
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den offentliche Gtiter in Form von Gebiihren finanziert, bei denen das Aquivalenzprinzip zum Tragen kommt, stellen sich im internationalen Steuerwettbewerb keine spezifischen Schwierigkeiten. Bei dieser Losung wird im Prinzip eine Marktlosung genutzt, bei der durch staatlichen Zwang jeder fur die in Anspruch genommenen Leistungen seinen Preis zahlen muss. Schwierigkeiten im internationalen Wettbewerb treten aber auf, wenn offentliche Gliter dariiber hinaus ein natlirliches Monopol beinhalten. Im einfachsten Fall des natlirlichen Monopols liegen fallende Durchschnittskosten vor. Unter Kostengesichtspunkten ist es dann sinnvoll, dass nur ein Unternehmen dieses Gut produziert. Denn je weniger Unternehmen das Gut produzieren, um so geringer sind die Durchschnittskosten. Standig sinkende Durchschnittskosten implizieren aber das Problem, dass die Grenzkosten immer unterhalb der Durchschnittskosten verlaufen. Der Staat sollte als wohlmeinender Diktator in diesem Fall die Gebiihren in Hohe der Grenzkosten festlegen, so dass eine paretooptimale Nachfrage realisiert wird und bei dieser marktkonformen Losung im internationalen Wettbewerb keine Verzerrungen entstehen. Diese Losung ist aber fur den Staat nicht tragbar, weil die Gebiihren keine Deckung der gesamten Kosten ermoglichen. Der Staat mlisste in diesem Fall den nicht durch Gebiihren abgedeckten Kostenteil liber Steuern finanzieren. Bei dieser Restfinanzierung durch Steuern kann es nach Ansicht einiger Finanzwissenschaftler zu einem ruinosen Wettbewerb u m mobile Faktoren als Nachfrager kommen. Verzichtet der Staat auf eine voile Kostendeckung, so setzt er flir mobile Blirger aus Staaten mit voller Kostendeckung ineffiziente Anreize einzuwandern, u m die besonders vorteilhafte Versorgung mit offentlichen Glitern in Anspruch zu nehmen, worauf u. U. der abgebende Staat mit einem reduzierten Angebot an offentlichen Glitern reagiert, was zu einem race to the bottom in der EU flihren kann. Diese umstrittene These soil hier nicht vertieft werden, sondern wir wollen uns in diesem Kontext einem wesentlich schwerwiegenderem Problem zuwenden: dem sozialen Ausgleich in Form einer gerechten Einkommensverteilung. Gehen wir dabei von der optimistischen, aber durchaus realistischen A n n a h m e aus, dass bei alien Blirgern ein gewisses Interesse an einer gerechten Einkommensverteilung existiert, ohne hier zu problematisieren, wie sie genau definiert wird. Wlirden wir hingegen von der kontrafaktischen Annahme ausgehen, dass alle Menschen reine Egoist en waren, so konnten wir solche Institutionen wie Familie, Gesellschaft, Treue oder Spendenbereitschaft kaum erklaren. Wenn Menschen flir ihre Mitblirger Sympathie und Solidaritat zeigen,
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so lasst sich dieses Verhalten anhand einer altruistischen Nutzenfunktion der Person i mit Ui = U(x\,... , x^, W) mit j e B, B ist die Gesellschaft, zu der sich Person i zugehorig flihlt, darstellen. B kann der Partner, die Familie, die Dorfgemeinschaft, die Firma, eine religiose Gruppe, die Nation und im Extremfall die Weltgemeinschaft sein. Zeigen Gesellschaftsmitglieder ein Interesse an Solidaritat und halten sie eine gerechte Einkommensverteilung fiir wertvoll, so konnen sie doch eigentlich selbst ohne staatliche Aktivitaten ihren Altruismus verwirklichen. Brauchen wir dazu staatlichen Zwang liber eine Besteuerung der Burger, u m iiber staatliche Umverteilungsmafinahmen eine gerechte Einkommensverteilung zu realisieren? Die Notwendigkeit staatlicher Distributionspolitik kann man damit begrunden, dass eine gerechte Einkommensverteilung jenseits kleiner Gruppen wie der Familie und kleiner Sozialverbande mit engen Beziehungen ein offentliches Gut darstellt, das vom Staat garantiert werden sollte. Mochte man eine gerechte Einkommensverteilung in Deutschland verwirklichen, so ist der einzelne Beitrag fiir mehr Gerechtigkeit in Deutschland marginal, so dass ein altruistischer Burger, der sich durchaus rational verhalt, zu dem Schluss kommen konnte, dass es sich nicht lohne. Das Dilemma offentlicher Giiter kommt auch hier zum Tragen. Jeder mochte eine gerechte Einkommensverteilung, aber fiir den Einzelnen lohnt sich ein Engagement nicht. Der Sozialstaat kann dieses Dilemma aufheben, indem er simultan alle iiber die Steuererhebung zur Finanzierung distributiver Mafinahmen heranzieht. Von daher ist die oft vorgetragene oberflachliche Argumentation nicht zwingend, dass die Burger mit der Umverteilung nicht einverstanden waren, da sie vom Staat dazu gezwungen werden miifiten. Wenden wir uns der Ausgangshypothese vollkommen mobiler EUBiirger zu, so stofit auch der Staat bei seinen Umverteilungsbemuhungen schnell an seine Grenzen. Gehen wir von der kontrafaktischen A n n a h m e aus, dass alle Deutschen ideale EU-Biirger sind und aus Altruismus eine gerechte Einkommensverteilung in der EU verwirklichen mochten. Solange das angestrebte Wohlfahrtsniveau in Deutschland hoher ist als in anderen Regionen der EU, werden EU-Biirger nach Deutschland kommen, um das hohere Wohlfahrtsniveau in Anspruch zu nehmen. Dieser Zuwanderungsprozess wird anhalten, bis alle EU-Biirger mindestens das hohe, in Deutschland angestrebte Wohlfahrtsniveau realisiert haben. Diese Zustrome von EU-Biirgern werden schnell die finanziellen Umverteilungsgrenzen Deutschlands aufzeigen und deutlich machen, dass ein isoliertes Vorgehen eines Mitgliedstaates keine EU-weit gerechte Einkommensverteilung realisieren kann, da
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hier ein EU-weites offentliches Gut vorliegt. Von daher liegt - wie im R a h m e n der Kohasionspolitik angesprochen - ein europaweites Koordinationsproblem vor. Die Uberforderung des Einzelstaates wird durch die Abwanderung der Leistungstrager weiter verstarkt, die annahmegemafi durchaus altruistisch eingestellt sind, fiir die aber - wie fur jeden Altruisten - ein Trade off zwischen Eigennutzen und vollkommenem Altruismus existiert. Wandern diese ab, weil sie in anderen EU-Staaten einen besseren Mix realisieren konnen, dann werden die Grenzen isolierter nationalstaatlicher Umverteilung deutlich, so dass wir a u d i hier einen race to the bottom bei den auf Umverteilung ausgerichteten Sozialstaaten sehen. Der Prozess des race to the b o t t o m wird durch ein anderes P h a n o men gestarkt. Selbst wenn die Annahme plausibel ist, dass alle Mitglieder eine gewisse altruistische Grundeinstellung haben, so ware es vollig unrealistisch zu unterstellen, dass diese bei alien gleich stark ist. Gehen wir von einem Kontinuum altruistischer Einstellungen aus, so stellen wir einen Prozess der optimalen Zuordnung in einer mobilen Gesellschaft fest. Besonders altruistisch Eingestelite werden in die EU-Mitgliedstaaten abwandern, in denen sie ihre altruistischen Einstellungen am besten verwirklichen konnen. Diejenigen EU-Blirger, die nur ein geringes Interesse an Altruismus haben, werden sich in EUMitgliedstaaten ansiedeln, die auf distributive Mafinahmen weitgehend verzichten. Damit findet ein Segregationsprozess der Interessen statt, der gleichzeitig von einem bedarfsorientierten Segregationsprozess begleitet wird. Bediirftige wandern in die EU-Staaten mit dem hochsten Versorgungsniveau ab. Dies iiberfordert die aufnehmenden Mitgliedstaaten, die daraufhin das Umverteilungsniveau senken. Es tritt wieder ein race to the bottom auf, da die Wanderung im Extremfall erst dann gestoppt wlirde, wenn das Umverteilungsniveau auf das des Mitgliedstaates mit dem niedrigsten Niveau gesenkt ware. Damit wlirde sich die Grenzmoral unter den EU-Mitgliedstaaten durchsetzen. Nun ist Altruismus meist nicht universell. Solidarische Einstellungen sind meist um so starker, je enger und je weniger anonym die sozialen Beziehungen sind. Unterstellen wir vereinfachend, dass es nur Altruismus gegeniiber den eigenen Staatsangehorigen gibt. Auch in diesem Fall entstehen fiir den einzelnen Mitgliedstaat bei der Realisierung von Einkommensumverteilungen immense Schwierigkeiten. Um dies zu erlautern, betrachten wir den Fall der Senkung der Steuerlast fiir einfache Arbeit, wie dies z. B. mit den 400 Euro-Jobs verwirklicht wird, in einem einzelnen Mitgliedstaat. Durch diese Mafinahme steigt der Nettolohn von Geringverdienern. Diese giinstigen Beschaftigungsbedingun-
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gen fiihren bei voller Mobilitat zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots im Niedriglohnbereich, indem im Sinne einer wohlfahrtsbedingten Wanderung (siehe a u d i Migrationsabschnitt 2.4.2) Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten zuwandern. Da fur diese Arbeitskrafte nach der Verordnung 1612/68 ein absolutes Diskriminierungsverbot herrscht, kann Deutschland Zuwanderer nicht benachteiligen. Das erhohte Angebot im Niedriglohnbereich bewirkt solange eine Anpassung der Bruttolohne nach unten, bis sich die Nettolohne zwischen Deutschland und den anderen Mitgliedstaaten wieder auf das ursprungliche Nettoniveau angeglichen haben, so dass es ebenfalls zu einem race to the bottom kommt. Nationalstaatlich orientierter Altruismus kann in der EU in einem Mitgliedstaat nur dann reale Einkommensumverteilungseffekte bewirken, wenn entweder die Mobilitat eingeschrankt oder eine Diskriminierung zwischen Einheimischen und Zuwandernden moglich ist, worauf wir am Schluss des Kapitels eingehen werden. Gegen die bis hier angestellten Uberlegungen konnte m a n einwenden, dass diese lediglich auf die problematische Annahme altruistischer Einstellungen der EU-Bxirger zuriickzufuhren sind. Man miisse nur auf ein Sozialmodell verzichten, dann gabe es keine Probleme. Macht man sich diese wenig liberzeugende Position zu eigen, so definiert man - wie oft in der okonomischen Theorie - Probleme einfach weg. Aber auch fiir den Extremfall eines vollig rationalen Egoisten ergibt sich ein analoges Koordinationsproblem, da Individuen ein bestimmtes Mafi an Risikoscheu zeigen und daher einen Bedarf an Absicherung haben. Diese Tatsache kann fiir den Grofiteil der EU-Burger als empirisch gesichert angesehen werden. Bisher haben wir den Aspekt der Einkommensumverteilung und der damit einhergehenden Besteuerung als reine Gerechtigkeitsangelegenheit angesehen. Aufbauend auf den Uberlegungen von Harsanyi (1955), Buchanan/Tullock (1962) sowie Rawls (1979), der dieses Konzept am umfassendsten ausformuliert hat, kann m a n einen Umverteilungsstaat auch als einen Versicherungsstaat interpretieren. Durch die Versicherung aller Lebensrisiken bewirkt der Staat nach diesem Konzept einen positiven Wohlfahrtseffekt im Sinne einer Paretoverbesserung, der im Prinzip alle risikoaversen Burger zustimmen, auch wenn ihnen dabei jeder Altruismus fehlt. Den Konsens zu einem alle Risiken abdeckenden Umverteilungsstaat leitet Rawls aus der Situation des Urzustandes ab, bei dem sich die Burger unter dem Schleier des Nichtwissens auf der Verfassungsebene liber die grundlegenden Prinzipien der Einkommensverteilung einigen mlissen. Da jeder bei Verteilungsfragen in dem Sinne parteiisch ist, dass er zum Mafistab seiner Beurteilung die Aus-
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wirkungen einer Verteilungskorrektur auf seine eigene Situation wahlt, sieht Rawls die Chance, in sogenannten unpersonlichen Entscheidungen einen allgemeinen Verteilungskonsens zu finden. Entsprechend wird von ihm der Urzustand, in dem entschieden wird, modelliert. Unter einem Urzustand versteht Rawls eine fiktive Situation im Sinne eines Gedankenexperiments, in der die Individuen nichts liber ihre eigene zukiinftige gesellschaftliche Position wissen. Insbesondere ist ihnen nicht bekannt, ob sie in Zukunft arm oder reich, d u m m oder klug usw. sein werden. In dieser „original position" sollen unsere Individuen zwischen zwei zukiinftigen Entwicklungspfaden der Einkommen aller Individuen entscheiden. Bei der Alternative A greift der Staat nicht korrigierend in die Entwicklung der individuellen Einkommen ein, so dass, wie in Abb. 11.4 (a) dargestellt, die Varianz der Markteinkommen relativ grofi ist. Bei der
Alter Abbildung 11.4. Entwicklung der Markteinkommen
Alter
Alternative B greift der Staat korrigierend in die Einkommensentwicklung ein, sichert insbesondere das Existenzminimum und nivelliert die Einkommensverteilung, so dass die Varianz der Einkommen erheblich, das erwartete Durchschnittseinkommen E(Y) aber nur geringfugig sinken. Dieses zentrale Problem der Ausgestaltung der Anreize im Steuersystem ist in Abb. 11.4 (b) dargestellt. Werden beide Alternativen im Urzustand, in dem der Einzelne nicht weifi, ob er zu den Gewinnern oder Verlierern gehort, zur Wahl gestellt, so werden sich die ausreichend risikoaversen Individuen einstimmig fur die Alternative B aussprechen. Wir sehen, dass auch fur reine Egoisten ein Sozialstaat, der einen sozialen Ausgleich verfolgt, durchaus efhzient im Sinne des Paretokriteriums sein kann. Entscheidend ist dabei die Hohe der Risikoaversion, der Riickgang in der Varianz der Einkommen sowie der Trade off zwischen hoherer Sicherheit und einem moglichen Riickgang des erwarteten
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Durchschnittseinkommens aufgrund von Fehlanreizen der Besteuerung. Jedoch kann mehr Sicherheit a u d i zu hoherer Risikobereitschaft und damit zu einem hoheren Einkommen fiihren. Stellt sich bei diesen allokativ erwiinschten staatlichen Umverteilungsaktivitaten noch das Problem des race to the bottom? Um dieser Frage nachzugehen, muss zunachst gepriift werden, ob diese effiziente Umverteilung nicht besser iiber den Markt mittels privater Versicherungen realisiert werden sollte. Die reine Marktlosung scheitert schon daran, dass die Burger zu einem Zeitpunkt ihre Risikoversicherung abschliefien miissen, zu dem sie nicht wissen, welche gesellschaftliche Position sie in Zukunft einnehmen werden. Selbst wenn sie direkt nach ihrer Geburt einen Vert rag abschliefien konnten, so liegt schon keine unpersonliche Entscheidung mehr vor, weil aufgrund ihrer Genanlagen sowie ihrer Herkunft (Status und finanzielle Situation der Eltern) ihre zukiinftige Einkommensposition bereits in einem gewissen Umfang determiniert ist. Mussten sie erst entscheiden, wenn sie selbstverantwortlich als miindige Burger entscheiden konnen, dann ist ihre individuelle Entwicklung schon weitgehend determiniert. Diejenigen, die dann wissen, dass sie auf der Gewinnerseite sind, werden dann eine staatliche Korrektur der Einkommensverteilung als Egoist en ablehnen. Nun konnte man vertragstheoretisch argumentieren, dass legitimiert iiber eine - wenn auch nur hypothetisch - einstimmige Entscheidung der Gesellschaft im Urzustand, jedes Individuum in diesen gesellschaftlichen Vertrag hinein geboren wird und ihn akzeptieren muss. Selbst wenn man diese nicht unproblematische Argumentation akzeptiert, stellt sich die Frage, ob dann nicht der Staat diese Aufgabe erfullen miisste, um weitere Komplikationen zu vermeiden und das Verfahren zu legitimieren. Wiirden wir auf privatrechtlicher Ebene den Gesellschaftsvertrag realisieren, so miisste den privaten Versicherungen und insbesondere den Versicherten das Recht eingeraumt werden, den Vertrag zu kiindigen. Auf privatrechtlicher Ebene dies generell auszuschliefien, ware fur einen Rechtsstaat schwer vorstellbar. R a u m t man aber zumindest den Versicherten das Recht ein, aus dem Versicherungsvertrag auszusteigen, so sind mit Sicherheit ZeitInkonsistenzen zu erwarten. Selbst wenn wir eine staatliche Zwangsversicherung haben, so ist auch diese mit der Zeit-Inkonsistenz konfrontiert. Der Staat kann auf seinem Territorium aufgrund seiner Hoheitsgewalt die Vertragserfiillung erzwingen. In einem Rechtsstaat hat ein Burger aber immer das Recht, sich seinen Verpflichtungen zu entziehen, indem er den Staat verlasst. Diese Option steht insbesondere jedem EU-Biirger zu. Damit ware aber selbst eine effiziente staatliche
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Versicherung in ihrer Stabilitat gefahrdet und es konnte in der EU zu einem ineffizienten race to the bottom aufgrund der Zeit-Inkonsistenz des Versicherungs vert rages kommen. Betraehten wir dazu zwei Mitgliedslander der EU, in denen aufgrund der individuellen Praferenzen und Ressourcenausstattungen das eine Land eine effiziente Umverteilung auf hohem Niveau und das andere eine effiziente Umverteilung auf niedrigem Niveau verwirklichen. Auch wenn ex ante alle Burger ihr jeweiliges System als effizient angesehen haben, so wandelt sich ihre Beurteilung u. U. enorm, wenn sie spater wissen, welche gesellschaftliche Position sie eingenommen haben. Gewinner in einem System mit hohem Umverteilungsniveau mochten genauso gerne in das andere System abwandern wie die Verlierer in dem System mit niedrigem Umverteilungssystem. Wird diese Abwanderung zugelassen, kommt es u. U. in beiden Systemen zu einer ineffizienten Nivellierung der Sozialen Sicherung. Wie immer wir auch den sozialen Ausgleich in den Sozialstaaten begriinden, stellen wir zusammenfassend fest, dass sich als Kern in alien Systemen das Problem des race to the bottom bei voller Mobilitat der Burger herausschalt. Um die Stabilitat der Sozialstaaten zu sichern, bieten sich zwei unbefriedigende Losungen an. Zum einen konnte man die Mobilitat einschranken. Dieser Losungsweg ist in der EU weitgehend indiskutabel. Er kommt zum Tragen, wenn ein Burger nur seinen Wohnsitz in der EU wechseln will, u m hohere Wohlfahrtsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu erhalten. Der aufnehmende EU-Mitgliedstaat kann einen langfristigen Aufenthalt verwehren, wenn der Burger keine Beschaftigung sucht und keine Krankenversicherung sowie keine Absicherung seines Existenzminimums nachweisen kann. Deutschland schiitzt sich vor unerwiinschter Inanspruchnahme seines Sozialsystems durch Zuwanderung aus einem anderen Mitgliedstaat dadurch, dass derjenige, der in die Bundesrepublik einreist, u m Sozialhilfe zu beanspruchen, alle Ansprliche auf Sozialhilfe verliert. Alle nationalstaatlichen Einschrankungen, u m unerwiinschte Zuwanderung aus der EU zu verhindern, sind aber nur eingeschrankt wirksam, da ein EU-Blirger immer angeben kann, in einem anderen EU-Mitgliedstaat eine selbst nur geringfiigige Beschaftigung aufnehmen zu wollen, so dass ihm die Zuwanderung aufgrund der Grundfreiheiten nicht verweigert werden kann. Der andere Losungsweg, mit dem eine ineffiziente wohlfahrtsbedingte Abwanderung in einen anderen EU-Mitgliedstaat verhindert wird, ist der Vorschlag von Sinn (1995b), das Heimatlandprinzip anzuwenden. Danach muss sich jeder Burger definitiv fur ein System des sozialen Ausgleichs entscheiden. Dies gilt insbesondere fur die Absicherung des
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Existenzminimums, also die Sozialhilfe. Wechselt ein EU-Blirger in ein anderes Mitgliedsland, erhalt er im Notfall nicht die Leistungen des Staates, in dem er sich nun aufhalt, sondern weiter die seines von ihm urspriinglich gewahlten Heimatlandes. Durch den Wechsel des Wohnsitzes konnte auf diese Weise kein Burger mehr in ein fur ihn giinstigeres System der sozialen Absicherung wechseln. Die Anwendung des Heimatlandprinzips ist aber nicht unproblematisch. Es wiirde dazu fiihren, dass Hilfebediirftige in einem Land, j a sogar in einer Kommune ganz unterschiedliche Absicherungsanspruche haben wiirden. Dies wiirde als Diskriminierung interpretiert und wiirde dem sozialen Zusammenhalt und der Integration in der EU nicht forderlich sein. Hinzu kame ein immenser Verwaltungsaufwand. Jeder Trager fur die soziale Absicherung miisste alle komplizierten sozialen Absicherungssysteme in der EU kennen. Konzentrieren sich in einem relativ armen Mitgliedstaat viele EU-Biirger mit hohen Absicherungsanspriichen aus ihrem Heimatland, auf die sie auch in dem relativ armen Mitgliedstaat im Notfall Anspruch haben, so kamen eventuell auf diesen Staat erhebliche Leistungsverpflichtungen zu, die er u. U. nicht finanzieren kann und fur die er einen EU-weiten Risikostrukturausgleich unter den Mitgliedstaaten fordern wiirde. Ordnet man einem EU-Biirger nicht automatisch die soziale Absicherung seines Geburtslandes zu, sondern lasst ihn wahlen, so tritt bezuglich des Zeitpunktes seiner definitiven Entscheidung ein Konflikt zwischen Miindigkeit und Gewissheit der sozialen Position auf. Des Weiteren wird bei den aufnehmenden Mitgliedstaaten - wenn kein perfekter Risikostrukturausgleich vorliegt der Anreiz geschaffen, EU-Biirger anzuwerben, die sich fur Systeme mit einem niedrigen Absicherungsniveau entschieden haben, da fur sie die im Notfall zu erbringenden Leistungen geringer ausfalien wiirden. Dies konnte ebenfalls eine Diskriminierung beinhalten. Schon diese wenigen Uberlegungen machen deutlich, dass auch die Anwendung des Heimatlandprinzips keine perfekte Losung darstellt. Deshalb wird z. B. als praktikablere Losung vorgeschlagen, nur fur eine Ubergangszeit fur die das Heimatland aufgebenden EU-Biirger dieses Prinzip anzuwenden. Wenn sie dann einige Jahre im aufnehmenden Mitgliedstaat verbracht haben, werden sie mit den Inlandern vollig gleich gestellt.
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Literatur • • •
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Koordination der Sozialpolitik
Das, was wir imter Sozialpolitik verstehen, ist recht umstritten. Es gibt sehr enge Definitionen der Sozialpolitik, bei denen sie auf ihren Kernbereich, der Sozialversicherung in Form der Alters- und Kranken- sowie der Arbeitslosenversicherung, beschrankt wird. In diesem Bereich der Sozialpolitik dominiert das Ziel der Sozialen Sicherung. Ein zweites Ziel der Sozialpolitik, das der sozialen Gerechtigkeit, findet auch in der Sozialen Sicherung seinen Niederschlag, es hat aber einen zentralen Stellenwert in den vielen und nicht zu vernachlassigenden speziellen Politikbereichen der Sozialpolitik: Sozialhilfe, Wohnungs-, Familienpolitik, Jugendhilfe und Vermogenspolitik, um nur einige Bereiche zu nennen. Es ist schon immens schwierig, diese speziellen Politikbereiche auf nationaler Ebene kurz und prazise darzustellen. Vollig unrealisierbar wird diese Aufgabe, wenn wir uns den nationalen Ausgestaltungen dieser Politikbereiche in mehreren oder gar alien Mitgliedstaaten zuwenden. Aufgrund der historischen Entwicklung in den Sozialsystemen als auch aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen divergieren diese Sozialsysteme gravierend. Von daher werden wir uns im Folgenden auf die Soziale Sicherung beschranken. Wir finden im Bereich der Sozialen Sicherung auf drei Ebenen immense Unterschiede in den Sozialsystemen der EU. Dies gilt fur die Ziele der jeweiligen Sozialpolitik, insbesondere bezuglich des Stellenwertes des Ziels der sozialen Gerechtigkeit, fur die Trager, wenn zwischen staatlicher und privater Versicherung zu entscheiden ist, und fur die Instrumente beim Thema der konkreten Ausgestaltung der Sozialpolitik auf nationaler Ebene. In Tabelle 12.1 zeigt sich, wie unterschiedlich die Sozialsysteme sind, wenn man sich allein auf ihren Umfang und ihre Finanzierung beschrankt. So divergieren die Sozialquoten, die den Anteil der Ausgaben
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12 Koordination der Sozialpolitik Tabelle 1 2 . 1 . Sozialsysteme in Europa Sozialbeitrage ArbeitInsgesamt Arbeitgeber nehmer
Lander
SozialStaatsleistungs- anteil quote 2001
Belgien Tschechische Republik Danemark Deutschland Estland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Zypern Lettland Litauen Luxemburg Ungarn Malta Niederlande Osterreich Polen Portugal Slowenien Slowakei Finnland Schweden Vereinigtes Konigreich
27,7 (p) 19,5
25,3 23,3
72^5 75,4
50^4 50,8
22^1 24,6
29,2 (p) 29,3 13,6 27 19,4 (p) 29,5 15 25,6 15,2 (p) 14,3 14,7 21,3 19,8 17,7 26,5 28,6 21,5 22,8 25,3 19,1 25,5 31,5 27,5
62,6 32,4 27 27,8 26,6 30,4 60,3 41 45,3 (p) 25,2 38,6 42,4 33,2 27,4 16,3 33 46,4 37,8 32,6 32,5 42,7 45,3 48,5
30,4 65,6 78,2 62 69,3 66,7 38,3 57,5 37,7 (p) 74,8 59,9 52,7 58,7 70,3 66,9 65,3 53,1 54,4 65,8 65,1 50,3 52,4 49,7
9,3 37,9 78,2 38,5 53 45,9 24,4 42,8 9,5 (p) 74,8 53,7 27,4 45,6 48,5 31,5 38,5 29,7 36,4 26,5 46,6 38,8 43,1 30,2
21,1 27,7 0 23,5 16,3 20,8 13,9 14,7 28,2 (p) 0 6,2 25,3 13,1 21,8 35,4 26,8 23,4 18 39,3 18,5 11,5 9,3 19,5
(p) - Vorlaufiger Wert Quelle: Eurostat/ESSOS
12.1 Die rechtlichen Grundlagen der Sozialpolitik in der EU
259
fur Sozialleistungen am Sozialprodukt messen, zwischen 15% in Irland und 29,5% in Frankreich. Auch in der Finanzierung der Sozialleistungen treten erhebliche Unterschiede auf. So existieren Mitgliedstaaten, deren Sozialausgaben iiberwiegend liber Steuern finanziert werden, wie dies z. B fur Danemark mit 62,6% gilt, und solche, die durch Versicherungsbeitrage von Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Sozialausgaben finanzieren, wie z. B. Belgien mit 72,5% und Estland mit sogar 78,2%. Dabei finden wir erhebliche Unterschiede in dem Finanzierungsanteil beider Gruppen.
12.1 Die rechtlichen Grundlagen der Sozialpolitik in der EU Schon der BegrifF der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft macht deutlich, dass bei der Griindung der EWG wirtschaftliche Interessen im Vordergrund standen. Sozialpolitik hatte in den ersten Jahren der heutigen EU mehr instrumentalen Charakter. Sie sollte in erster Linie dazu dienen, die okonomische Effizienz zu erhohen. Echte sozialpolitische Zielsetzungen waren sparlich im EWG-Vertrag vorhanden und beschrankten sich im Wesentlichen auf den Titel VIII des Vertrages: „ Sozialpolitik, allgemeine und berufliche Bildung und Jugend". So findet man im EWG-Vertrag das Recht auf gleiches Entgelt fur Manner und Frauen sowie das Recht auf bezahlte Arbeit. Bedeutsamer sind die Regelungen zur Freizligigkeit der Arbeitnehmer. Um die Mobilitat der so genannten Wander arbeitnehmer zu erhohen, sah der Vertrag spezifische Leistungen der Sozialen Sicherung fur diesen besonderen Typus von Arbeitnehmern vor. Nach Artikel 42 des EG-Vertrages beschliefit der Rat im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens einstimmig auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit die notwendigen Mafinahmen fur die Herstellung der Freiziigigkeit der Arbeitnehmer. Diese Rechte wurden im Laufe der Jahre systematisch ausgeweitet, indem sowohl der anspruchsberechtigte Personenkreis als auch der Inhalt der Ansprliche systematisch ausgeweitet worden sind. Auch der Sozialfonds der EU, der im EWG-Vertrag vorgesehen war, diente durchaus primar wirtschaftlichen Interessen. Wie schwierig es ist, eine einheitliche Sozialpolitik in der Gemeinschaft zu verwirklichen, verdeutlichen die Verhandlungen iiber den Maastricht-Vertrag von 1992. Schon 1989 hatten die Mitgliedstaaten aufier Grofibritannien der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer zugestimmt. Aber mit dem Maastricht-Vertrag
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12 Koordination der Sozialpolitik
gelang keine EU-weite Umsetzung der Charta. Es wurde mit der Verabschiedung des Protokolls iiber die Sozialpolitik, das dann im Abkommen iiber die Sozialpolitik umgesetzt wurde, erne Ausweitung der sozialpolitischen Kompetenzen fur die EU vereinbart, die aber nicht flir Grofibritannien und Irland giiltig war. Diese zwei Geschwindigkeiten in der Sozialpolitik der Gemeinschaft wurden mit dem Vertrag von Amsterdam beendet, mit dem Grofibritannien das Sozialabkommen iibernahm. Aus sozialpolitischer Sicht sind insbesondere zwei Aspekte des Maastricht- Vertrags bedeutsam. Zum einen wurde im Vertrag das Subsidiaritatsprinzip verankert. Nach diesem Prinzip ist Sozialpolitik in erster Linie Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Nur wenn diese nicht in der Lage sind, ihre sozialpolitische Aufgabe zu erfullen, soil die Gemeinschaft aktiv werden. Zum anderen schlug sich dieses Prinzip in den Entscheidungsregeln der Gemeinschaft zur Sozialpolitik nieder. Ausgangspunkt bildet dabei die Auffassung, dass der Vielfalt der einzelstaatlichen Ausgestaltung der Sozialpolitik Rechnung zu tragen sei, so dass der nationale Spielraum in den Staaten der Gemeinschaft auch nach dem Vertrag von Maastricht sehr grofi ist. Im Artikel 137 des Titels XI: Sozialpolitik, Allgemeine und berufliche Bildung und Jugend werden die Kompetenzen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Sozialpolitik abgegrenzt. Danach unterstiitzt und erganzt die Gemeinschaft die Mitgliedstaaten in folgenden Aufgabenbereichen: a) Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer, b) Arbeitsbedingungen, c) soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, d) Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags, e) Unterrichtung und Anhorung der Arbeitnehmer, f) Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschliefilich der Mitbestimmung, g) Beschaftigungsbedingungen der Staatsangehorigen dritter Lander, die sich rechtmafiig im Gebiet der Gemeinschaft aufhalten, h) berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen, i) Chancengleichheit von Mannern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz, j) Bekampfung der sozialen Ausgrenzung, k) Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes.
12.1 Die rechtlichen Grundlagen der Sozialpolitik in der EU
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In diesen Aufgabenbereichen wird im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens mit qualifizierter Mehrheit entschieden. Dies gilt aber nicht fur die Bereiche c, d, f und g, in denen der Rat einstimmig beschliefien muss. Der Rat kann aber auf Vorschlag der Kommission nach Anhorung des Parlaments generell beschliefien, in alien Bereichen das Mitentscheidungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat anzuwenden. Davon ausgenommen ist der Bereich „Soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitsnehmer". Hier ist immer Einstimmigkeit im Rat notwendig. Vollig autonom sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 137(5) in den Bereichen Arbeitsentgelt, Koalitions-, Streik- sowie Aussperrungsrecht. In diesen Bereichen ist jeder Ansatz von Kompetenziibertragung an die Gemeinschaft ausgeschlossen. Entscheidend hat die Rechtsprechung des E u G H nicht nur die e u r o paische, sondern auch die nationalstaatliche Sozialpolitik beeinflusst. Insbesondere hat sich der E u G H in einigen grundlegenden Urteilen zum Verhaltnis der vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes zu den nationalstaatlichen sozialpolitischen Regelungen geaufiert. Wahrend die EU-Sozialpolitik sehr stark auf die Forderung der Freizligigkeit der Arbeitnehmer ausgerichtet war, hat der E u G H aufgezeigt, dass nationalstaatliche Regelungen im Bereich der Sozialpolitik die vier Grundfreiheiten gefahrden konnen, und er hat entsprechend diese Regelungen in Frage gestellt. Insbesondere hat der E u G H nachgewiesen, dass das besonders fur das Gesundheitswesen kennzeichnende - Territorialprinzip nationalstaatlicher sozialer Sicherungssysteme, nach dem sich sozialpolitische Leistungsanspriiche auf das Territorium des jeweiligen Sozialsystems beschranken, mit der Dienstleistungsfreiheit kollidieren kann, da dieses zur Diskriminierung auslandischer Anbieter fiihren kann. Dartiber hinaus hat der E u G H gepriift, ob nicht auch staatliche oder halbstaatliche soziale Sicherungssysteme Kartelle und Monopole darstellen, die mit dem Wettbewerbsrecht der EU nicht zu vereinbaren sind. Der E u G H sieht aber hier einen wettbewerbspolitischen Ausnahmebereich, sofern u. a. die Institutionen nicht gewinnorientiert sind und dem sozialen Ausgleich dienen, was u. a. die Pflichtmitgliedschaft eines grofien Personenkreises voraussetzt. Problematisch werden nach Auffassung des E u G H sozialpolitische Aktivitaten, wenn sie zu Wettbewerbsverzerrungen fiihren. Dies ist z. B. bei Lohnkostensubventionen und der Ubernahme von Defiziten von Krankenhausern durch die offentliche Hand durchaus moglich.
262
12 Koordination der Sozialpolitik
12.2 K o o r d i n i e r u n g versus H a r m o n i s i e r u n g Wir haben darauf hingewiesen, dass die Sozialsysteme in der EU extrem disparat sind. Die nationalstaatlichen Sozialsysteme unterscheiden sich nicht nur in ihrer institutionellen Ausgestaltung, ihrem Leistungsniveau, in ihrer Effizienz und ihren Zielsetzungen, sondern sie differenzieren sich weiter aus. Insbesondere ist keine Konvergenz der Sozialsysteme in der EU festzustellen. Mit der Aufnahme der 12 neuen Mitglieder durch die Osterweiterung kommt hinzu, dass der wirtschaftliche und soziale Entwicklungsstand zwischen den EU15 und den neuen Mitgliedern stark divergiert und sich eine neue Herausforderung fur die EU bei dem Ziel der wirtschaftlichen und sozialen Kohasion stellt. Von daher stellt sich mit der EU-Osterweiterung umso dringender die Frage, wie die Sozialpolitik dieser Herausforderung begegnen soil. Bei der Frage, wie die europaische Sozialpolitik gestaltet werden soil, konnen wir zwei ordnungspolitische Extrempositionen gegenuberstellen. Nach der einen Position soil die europaische Sozialpolitik vollig dezentral von den Nationalstaaten verwirklicht werden, so dass diese autonom ihre nationalstaatliche Sozialpolitik betreiben. Die Gegenposition wurde eine europaweite zentralistische Sozialpolitik darstellen, bei der die Gemeinschaft - wie bei der einheitlichen Geldpolitik der EZB - fur die Mitgliedstaaten die Sozialpolitik nach einheitlichen Zielen und Instrumenten durchfuhrt. Beide Extrempositionen sind politisch nicht durchsetzbar. Eine zentralisierte Sozialpolitik wiirde auf ein energisches Veto der Nationalstaaten in der EU stofien, die darin nicht nur einen Kompetenzverlust sehen, sondern die eine solche Ausrichtung auch fur ineffizient halten. Aber auch die Gegenposition vollig dezentraler Strukturen ist nicht sinnvoll, bedlirfen doch die Sozialsysteme zumindest einer gewissen Abstimmung, wenn es u m mobile Burger in der EU geht, bei denen das Territorialprinzip der nationalen Sozialsysteme auf seine Grenzen stofit. Betrachten wir die Ausgestaltung der EU, so stellen wir fest, dass keine der Extrempositionen im Recht der Gemeinschaft verwirklicht worden ist. Vielmehr hat die Gemeinschaft im Vertrag von Maastricht mit dem Subsidiaritatsprinzip eine Zwischenposition bezogen. Nach dem Subsidiaritatsprinzip liegt die originare sozialpolitische Verantwortung bei den Mitgliedstaaten. Nur wenn diese ihre sozialpolitische Aufgabe nicht erfullen konnen, soil die Gemeinschaft - sofern sie dazu in der Lage ist - die Aufgabe iibernehmen. Mit dem Subsidiaritatsprinzip, das durchaus eine sinnvolle Richtschnur darstellt, ist aber noch nicht inhaltlich exakt geklart, welche Aufgaben und Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten bleiben und wel-
12.2 Koordinierung versus Harmonisierung
263
che der Gemeinschaft zuzuordnen sind. Bei der theoretischen Reflexion dieser Zuordnungsfrage existieren zwei kontrare Philosophien: die neoliberale Position, die auf den Wettbewerb der Sozialsysteme setzt, und die zentralistische, die auf Harmonisierung der Sozialsysteme setzt. Das Credo der neoliberalen Position ist der Glaube, dass wirtschaftliches Wachstum der beste Garant fur die Verbesserung der sozialen Verhaltnisse ist. Von daher wird ein P r i m a t der Wirtschafts- vor der Sozialpolitik gefordert. Popular wird dies mit der These verbunden, dass man erst dann den Kuchen verteilen kann, wenn er auch von der Wirtschaft bereitgestellt worden ist. Von daher muss die Politik darauf gerichtet sein, die Marktkrafte uber mehr Wettbewerb zu fordern und sie vor sozialpolitischen Eingriffen zu schutzen. Da die nationalstaatlichen Politikinstanzen schnell den sozialpolitischen Partikularinteressen erliegen, sehen die Anhanger der neoliberalen Position im Wettbewerb der Sozialsysteme einen Losungsweg, u m gesellschaftlich effiziente Arrangements der nationalen Sozialsysteme zu generieren. Insbesondere lehnt diese Richtung eine Harmonisierung der Sozialsysteme als ineffizient ab, da sie den spezifischen sozialpolitischen Zielsetzungen und den unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstanden in der Gemeinschaft nicht gerecht wird. Die zentralistische Richtung sieht die Notwendigkeit der Korrektur von Fehlentwicklungen im wirtschaftlichen Prozess. Sie geht von Markversagen aus, aus dessen Existenz sie die Notwendigkeit von Inter vent ionen ableitet. Von daher stellt sie die Efflzienz des Wettbewerbs der Sozialsysteme in Frage. Es ist fur diese Richtung unlogisch auf den Wettbewerb der Sozialsysteme zu setzen, wenn die Sozialsysteme gerade deshalb geschaffen wurden, u m die Ineffizienzen des Wettbewerbs, wie unzureichende Produktion von Sozialkapital, sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit, zu korrigieren. Hinzu kommt, dass die neoliberale Position den Wettbewerb zum Wert an sich erhebt. Die Wirtschaft ist aber nur ein Subsystem der Gesellschaft und sie muss sich von daher an den gesellschaftspolitischen und damit auch den sozialpolitischen Zielen ausrichten. Das P r i m a t hat die Gesellschaft. Des Weiteren wird die optimistische Position der Neoliberalen in Frage gestellt, dass mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in der EU eine Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung einhergeht. Wie die Berichte der Kommission zur wirtschaftlichen und sozialen Kohasion zeigen, kann man diesen Optimismus nicht teilen. Vielmehr stellen wir fest, dass sich die Kohasion trotz der vielen Aktivitaten der Gemeinschaft immer noch unzureichend entwickelt und sie mit der vollzogenen Osterweiterung noch schwieriger wird.
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12 Koordination der Sozialpolitik
Aus sozialpolitischer Sicht ist dabei besonders die damit einhergehende Divergenz in den Sozialstandards in der EU besorgniserregend. Damit wird zum einen das Ziel gleichwertiger Lebensverhaltnisse in der Gemeinschaft verletzt. Die Divergenz fiihrt zum anderen zu sozialen Spannungen in der EU und damit zu politischen Instabilitaten. Existiert ein Wohlfahrtsgefalle in der EU, so ist mit einer ineffizienten WanderungV zu rechnen. Wohlfahrtsempfanger in Sozialstaaten mit niedrigem Wohlfahrtsniveau wandern in solche mit hohem Niveau ab. Dies fiihrt zu Abschottungsstrategien der Lander mit hohem Niveau, was dem Konzept des Gemeinsamen Marktes mit der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizligigkeit widerspricht. Der wohl wichtigste Einwand gegen das neoliberale Konzept des Wettbewerbs der Sozialsysteme ist die These, dass dieser Wettbewerb zu einem ruinosen Wettbewerb entartet, der zu einem race to the bottom fiihrt, in dessen Zuge soziale Standards im Konkurrenzkampf um bessere Marktpositionen systematisch abgebaut werden. Dagegen wenden die Neoliberalen ein, dass dieses race to the bottom wohlfahrtssteigernd wirkt, da wir eine Uberexpansion des Sozialen in Europa haben. Dies ist eine normative Aussage, die einer wissenschaftlichen Bewertung schwer zugangig ist. Uberzeugender ist der Hinweis der Neoliberalen, dass in der Realitat in der Europaischen Gemeinschaft kein permanenter Abbau Sozialer Sicherung stattfindet. Dies ist auch nicht verwunderlich, da der Wettbewerb der Sozialsysteme im Sinne neoliberaler Visionen in Reinkultur nicht stattfindet. Es gibt zwischenstaatliche Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere eine Koordination sowie Mindestnormen durch die Europaische Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik, die ein race to the bottom ver hinder n. Die zentrale Frage, die in der aktuellen Diskussion von Relevanz ist, ist nicht der Grundsatzstreit beider Positionen, sondern die Auseinandersetzung um die Art und Weise der Koordination und u m die Hohe von Mindeststandards der Sozialen Sicherung in der EU. Wie schwierig diese praktischen Probleme der europaischen Sozialpolitik sind, kann m a n gut am Beispiel von Mindeststandards der Sozialen Sicherung aufzeigen. Bei ihrer Bestimmung sind einerseits die Staaten mit einem hohen Niveau an Sozialer Sicherung daran interessiert, hohe Standards durchzusetzen, um wohlfahrtsbedingte Zuwanderung in ihre Staaten sowie ein race to the bottom auf die fiir sie zu niedrigen Sozialstandards zu verhindern. Andererseits werden insbesondere die riickstandigen Staaten auf niedrige Sozialstandards drangen, da sie bei hohen Standards in eine Finanzierungskrise geraten und sie ihre niedrigen Sozialstandards
12.2 Koordinierung versus Harmonisierung
265
als Wettbewerbsvorteil nutzen, urn trotz niedriger Produktivitat aufgrund niedriger Lohne und Sozialabgaben wettbewerbsfahig zu werden. Wenn man sich die Sozialpolitik in der EU und die Regelungen des Vertrags von Maastricht anschaut, so kann man zu dem Urteil kommen, dass die EU zwischen diesen beiden Extrempositionen eine mittlere Position einnimmt. Sie versucht nicht, die Sozialsysteme in der EU gemafi des Konzepts der best practice zu harmonisieren. Der Artikel 137(2)a lasst einerseits sozialpolitische Aktivitaten der Gemeinschaft nur zu, wenn jegliche Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften dabei ausgeschlossen sind. Nach Artikel 137(2)b ist aber andererseits eine gewisse Harmonisieurng durch den Erlass von Mindestvorschriften iiber Richtlinien vorgesehen. Von dieser Moglichkeit hat die Kommission bei einer Vielzahl von Aufgabenbereichen Gebrauch gemacht, indem sie entsprechende Richtlinien erlassen hat. Zu nennen sind hier die Bereiche: • • • • • • • • •
Massenentlassungen, Zahlungsunfahigkeit des Arbeitgebers, Befristete Arbeitsverhaltnisse, Sicherheit und Gesundheitsschutz, Individuelle Beschaftigungsbedingungen, Teilzeitarbeit, Entsendung von Arbeitnehmern, Ubergang von Unternehmen, Jugendarbeitsschutz.
Hinzu kommen die Richtlinien im Bereich Mitbestimmung: • • • •
Europaische Aktiengesellschaft, Europaischer Betriebsrat, Europaische Genossenschaft, Unterrichtung und Anhorung.
Am starksten finden wir eine Harmonisierung im Bereich der Gleichstellung von Mann und Frau. Nach Artikel 141 stellt jeder Mitgliedstaat die Anwendung des gleichen Entgelts fur Manner und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher. Das Hauptaugenmerk legt die Kommission darauf, die nationalen Sozialsysteme mit dem Konzept des Gemeinsamen Marktes kompatibel zu machen, so dass insbesondere die vier Grundfreiheiten gewahrleistet sind. Dies versucht sie nicht mit dem Konzept der Harmonisierung, sondern mit dem der Koordinierung zu ermoglichen. Der Verordnung 883/2004, die im Wesentlichen eine Aktualisierung der ursprunglichen Verordnungen 1408/71 und 574/72 darstellt und fur
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12 Koordination der Sozialpolitik
die aber noch fur ihre Anwendung die entsprechende Durchftihrungsverordnung fehlt, kommt im Rahmen der Koordinierung eine zentrale Stellung zu. Ihr personlicher Geltungsbereich umfasst u. a. alle sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer und Selbstandige sowie deren mitversicherte Familienangehorige. Der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung ist explizit in der Verordnung aufgefuhrt und erstreckt sich u. a. auf die grundlegenden Sicherungssysteme: Renten-, Krankenund Arbeitslosenversicherung. Die Verordnung umfasst nicht die unterschiedlichen Formen der Absicherung des Existenzminimums, wie die Sozialhilfe und das Arbeitslosengeld II in Deutschland. Wenn man die zentralen Regelungen der Verordnung erlautern will, ist es sinnvoll, auf einige wesentliche Prinzipien der Verordnung einzugehen, die im Wesentlichen fur alle unterschiedlichen Sicherungssysteme gelten. Zentrale Zielsetzung der Verordnung ist die Verwirklichung des Gleichbehandlungsprinzips. EU-Biirger sollen gegeniiber anderen EUBiirgern nicht dadurch schlechter gestellt werden, dass sie innerhalb der EU mobil sind. Wenn ein Arbeitnehmer ein neues Beschaftigungsverhaltnis in einem anderen EU-Staat aufnimmt, so stellt sich die Frage, welchem Sozialsystem er zuzuordnen ist und insbesondere, in welchem Land er versichert ist und Sozialbeitrage zahlen muss. Zwei Prinzipien kommen zur Anwendung: Nach dem Territorialprinzip gelten fiir den Arbeitnehmer die Rechtsvorschriften nur eines Sozialsystems; nach dem Beschaftigungslandprinzip, das eine Umsetzung des Territorialprinzips darstellt, ist dieses das System, in dem der Arbeitnehmer dauerhaft beschaftigt ist. Nun kann es aber vorkommen, dass ein Arbeitnehmer fiir seinen bisherigen Arbeitgeber nur voriibergehend in einem anderen EU-Staat beschaftigt ist. Damit dann ein Arbeitnehmer nicht dem immensen biirokratischen Aufwand unterliegt, standig seine Sozialversicherung zu wechseln, gilt fiir entsandte Arbeitnehmer, das sind Arbeitnehmer, die von ihrem Arbeitgeber fiir hochstens zwei Jahre im EU-Ausland eingesetzt werden, dass sie weiter - nach dem Herkunftslandprinzip - in dem urspriinglichen Staat versichert sind, aus dem sie entsandt worden sind. Diese Regelung, die unter Praktikabilitatsaspekten durchaus sinnvoll ist, kann zwischen den EU-Staaten bei stark divergierenden Lohnnebenkosten im Bereich der Sozialen Sicherung zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen fuhren. Insbesondere wurde von Arbeitnehmerseite befurchtet, dass mit dem Herkunftslandprinzip ein ruinoser Wettbewerb bei den Sozialstandards und der Entlohnung in Gang gesetzt wird. Um dieses Gefahrenmoment von vornherein auszuschliefien, wurde 1971 die Entsenderichtlinie
12.2 Koordinierung versus Harmonisierung
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96/71 verabschiedet. Durch sie werden das Herkunftslandprinzip eingeschrankt und explizite Schutzvorschriften des Gastlandes - dem Land, in dem die Dienstleistung erbracht wird - garantiert. Diese Schutzvorschriften betreffen: • • • • • •
Hochstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten, den bezahlten Mindestjahresurlaub, die Mindestlohnsatze, die Bedingungen fur die Uberlassung von Arbeitskraften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen, die Sicherheit, den Gesundheitsschutz und die Hygiene am Arbeitsplatz, Schutzmafinahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschaftigungsbedingungen von Schwangeren und Wochnerinnen, Kinder n und Jugendlichen.
Bei diesen Schutzbestimmungen gilt das Gunstigerprinzip. 1st z. B. die Entlohnung im Herkunftsland fur die Arbeitnehmer giinstiger als der Mindestlohn im Gastland, so haben sie einen Anspruch auf Entlohnung nach den Vorgaben ihres Herkunftslandes. Die Richtlinie bedingt aber nicht, dass auslandische Dienstleister ihre Arbeitnehmer in Deutschland nach Tarifvertrag entlohnen miissen. Dies wiirde eine Diskriminierung auslandischer Anbieter in zweierlei Hinsicht darstellen. Erstens sind nur die deutschen Arbeitgeber an den Tarifvertrag gebunden, die dem Tarifvertrag abschliefienden Arbeitgeberverband angehoren, und zweitens miissen sie nur den Arbeitnehmer n den Tariflohn zahlen, die der den Tarifvertrag abschliefienden Gewerkschaft angehoren. Auch durch die Allgemeinverbindlichkeitserklarung nach § 5 Tarifvertragsgesetz stellt der Tariflohn nicht automatisch einen Mindestlohn fur alle dar. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Tarifvertrag bundesweite Geltung hat und so alle deutschen Unternehmen durch die Allgemeinverbindlichkeitserklarung den Tariflohn zahlen miissen. Da die Allgemeinverbindlichkeitserklarung die Zustimmung sowohl der Arbeitgeberseite als auch der Gewerkschaftsseite verlangt und diese nur schwer zu bekommen ist, hat die Bundesregierung mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) einen anderen Weg eingeschlagen und Mindestlohne fur die Baubranche eingefuhrt. Mit dem Entwurf einer Dienstleistungsrichtlinie versucht die Europaische Kommission das Herkunftslandprinzip voll durchzusetzen. Dabei sollte die Kontrolle der Schutzbestimmungen der Entsenderichtlinie den entsprechenden Behorden des Herkunftslandes zugewiesen werden.
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12 Koordination der Sozialpolitik
Die Intention des Entwurfes war es, das Primat der Dienstleistungsfreiheit vor den sozialen Schutzbestimmungen durehzusetzen. Dies wurde insbesondere von gewerkschaftlicher Seite abgelehnt. Nachdem das Europaische Parlament sich diese Kritik zu eigen gemacht und den Entwurf zuriickgewiesen hatte, wurde 2006 ein Kompromiss verabschiedet, der aus sozialpolitischer Sicht drei grundlegende Verbesserungen beinhaltet: • • •
keine Einschrankung der Schutzbestimmungen der Entsenderichtlinie, Ersetzung des Herkunftslandprinzips durch das Diskriminierungsverbot, Einschrankung des sachlichen Geltungsbereichs der Dienstleistungsrichtlinie (Ausnahmebereiche: Gesundheits- und Pflegedienstleistungen, soziale Dienstleistungen und Dienstleistungen mit sozialpolitischer Zielsetzung, Dienstleistungen von Leiharbeitsagenturen und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse).
Das wichtigste Prinzip der Verordnung 883/2004 bzw. 1408/71 ist der Gleichbehandlungsgrundsatz, nach dem Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedstaat in dem Beschaftigungsland nicht schlechter als einheimische Beschaftigte gestellt werden durfen. Dieses Antidiskriminierungsprinzip impliziert u. a. die Moglichkeit der Zusammenlegung von Versicherungsanspruchen aus alien Mitgliedstaaten. Wenn z. B. ein polnischer Arbeitnehmer, der schon seit Jahren in Polen sozialversichert war, in der Bundesrepublik eine Beschaftigung aufnimmt, so muss er vom ersten Tag an Beitrage in die deutsche Arbeitslosenversicherung zahlen, h a t t e aber, wenn ausschliefilich deutsches Sozialrecht angewendet wurde, erst nach einem Jahr Anspruch auf Arbeitslosengeld, auch wenn er schon seit Jahren kontinuierlich Beitrage zur Arbeitslosenversicherung in Polen gezahlt hat. Gerade bei Arbeitnehmern, aber auch bei vielen Rentnern liegt der Fall vor, dass sie nicht in dem Staat versichert sind, in dem sie zur Zeit wohnen. F u r diese Falle sieht die Verordnung die Aufhebung der Wohnortklausel vor, nach der man nur im jeweiligen Staat (Territorialprinzip) Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung hat. Hingegen sieht die Verordnung einen Leistungsexport von Anspruchen in den Mitgliedstaat vor, in dem der Versicherte wohnt. Daher konnen sich deutsche Rentner, die in Mallorca wohnen, ihre deutsche Rente nachsenden lassen.
12.3 Koordinierung der Sozialen Sicherung
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12.3 K o o r d i n i e r u n g der Sozialen Sicherung Im Gegensatz zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung beinhaltet die Rentenversicherung nicht nur die Abdeckung eintretender Risiken, wie das des fruhzeitigen Todes und der Erwerbsunfahigkeit, sondern a u d i eine Vorsorge fur die Zukunft in Form der finanziellen Absicherung im Alter, die aufgrund der sinkenden Leistungsfahigkeit eines Arbeitnehmers notwendig wird. Von daher ist es fiir die Alterssicherung in der EU von existenzieller Bedeutung, dass Altersicherungsanspriiche, die in einem Mitgliedstaat erworben worden sind, beim Wechsel des Beschaftigungs- bzw. Wohnsitzlandes mitgenommen (Portabilitat) werden konnen und nicht verloren gehen. Die Ubertragung von Rentenversicherungsanspruchen ware EU-weit relativ leicht zu koordinieren, wenn alle Alterssicherungssysteme nach dem Kapitaldeckungsverfahren aufgebaut und aktuarisch fair in dem Sinne waren, dass im Prinzip der Barwert der erwarteten Zahlungen der Rentenversicherung dem Barwert der erwarteten Einzahlungen in die Rentenversicherung entspricht. Beim Kapitaldeckungsverfahren zahlt man Beitrage in das Alterssicherungssystem, die am Kapitalmarkt angelegt werden, so dass im Alter die eingezahlten Beitrage einschliefilich der Zinsen und Zinseszinsen an den Versicherten im Alter ausgezahlt werden. Waren alle Alterssicherungssysteme in der EU nach dem Kapitaldeckungsverfahren aufgebaut, so benotigte m a n zur Koordination nur eine EU-weite Clearingstelle. Kennzeichnend fur die Alterssicherungssysteme in der EU ist aber das Umlageverfahren. Beim Umlageverfahren werden die Beitrage idealiter ausschliefilich zur Finanzierung der auszuzahlenden Renten der jeweiligen Periode verwendet. Es findet also im Gegensatz zum Kapitaldeckungsverfahren kein Ansparprozess statt. Im Umlageverfahren werden die Beitrage sofort verausgabt, so dass eine direkte Mitnahme eigener Beitrage wie im Kapitaldeckungsverfahren beim Landeswechsel nicht ohne weiteres moglich ist. Beim Umlageverfahren zahlt der Versicherte Beitrage, u m damit einen Anspruch auf Leistungen gegeniiber den nachfolgenden Generationen zu erhalten. Dieser Anspruch gegeniiber den nachfolgenden Generationen muss in der EU beim Landeswechsel iibertragbar werden. Dies ware noch relativ einfach, wenn alle Alterssicherungssysteme in der EU beitragsbezogen waren. In der EU existieren jedoch zwei vollig unterschiedlich konzipierte Alterssicherungssysteme. Zum einen finden wir in Landern wie Deutschland und Osterreich das Bismarck-System der Alterssicherung, das durch Beitrage finanziert wird, in dem sich die Hohe der Rente im Wesentlichen iiber die Hohe der Beitrage und Lange
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des Beitragszeitraums bestimmt und das primar der Absicherung des bisherigen Arbeitseinkommens im Alter dient. Zum anderen existiert in Landern wie Groflbritannien das Beveridge-System, das steuerfinanziert ist, primar der Vermeidung von Altersarmut dient und jedem Burger einen Rechtsanspruch auf eine bestimmte Rente einraumt. Betrachtet man die einzelnen Alterssicherungssysteme der Mitgliedstaaten im Detail, so stellt man zusatzlich fest, dass sie meist keinem der beiden Systeme eindeutig zuzuordnen sind, sondern eine Mischung beider Systeme in unterschiedlichem Umfang darstellen. In vielen Mitgliedstaaten sieht das jeweilige Alterssicherungssystem Mindestversicherungszeiten bzw. Wohnzeiten vor, die erfiillt sein miissen, um tiberhaupt einen Alterssicherungsanspruch zu bekommen. Nun waren Versicherte, die oft ihre Beschaftigung in der EU wechseln und in einzelnen Landern der EU nur weniger als die jeweilige Mindestzeit versichert sind, benachteiligt, da sie nicht in alien Landern die Mindestzeiten erfullen, so dass sie in diesen Landern keine Alterssicherungsanspriiche geltend machen konnen. Um eine Diskriminierung mobiler Versicherter auszuschliefien, werden bei der Bestimmung der Erfiillung von Mindestzeiten auch die Zeiten der versicherungspflichtigen Beschaftigung in anderen EU-Staaten berucksichtigt. Sehr schwierig gestaltet sich die konkrete Berechnung der Leistungen der Rentenversicherungen in der EU. Die Rentenversicherungen jedes Mitgliedstaates, in dem der Versicherte beschaftigt bzw. gewohnt hat, prlifen in mehreren Schritten, welchen Leistungsanspruch der Versicherte hat. Hat der Versicherte schon nach rein nationalem Recht des jeweiligen Landes Anspruch auf eine Alterssicherung, so wird zuerst diese autonome Leistung in der Weise berechnet, dass nur die nationalen Rechtsvorschriften des jeweiligen Landes berucksichtigt werden. Hat z.B. ein 63 Jahre alter polnischer Arbeitnehmer nur vier Jahre in der Bundesrepublik, aber 33 J a h r e in Polen gearbeitet, so erfiillt er nicht die nationale deutsche Vorschrift einer Wartezeit von fiinf Jahren und hat so keinen autonomen Rentenanspruch gegeniiber dem deutschen Alterssicherungssystem. Im Gegensatz zu diesem innerstaatlichen Rentenanspruch in der Bundesrepublik werden bei der sich anschliefienden zwischenstaatlichen Rentenberechnung in Form der theoretischen Rentenleistung alle Versicherungs- u n d / o d e r Wohnzeiten in den Mitgliedstaaten mitberlicksichtigt. Bei der Berechnung des theoretischen Rentenanspruches wiirde die deutsche Rentenversicherung nun eine Wartezeit von 37 Jahren zugrunde legen, so dass der Versicherte die Wartezeit von 35 Jahren
12.3 Koordinierung der Sozialen Sicherung
271
fur eine vorzeitige Rente mit 63 Jahren erfiillt und unter Zugrundelegen der vier Beitragsjahre seine Rente anteilig berechnet wird. Versicherte, der en Rentenanspruch sich in einem oder mehreren Mitgliedslandern unabhangig von der Dauer der Versicherungs- bzw. Wohnzeit bestimmt, waren bei dieser grofiziigigen Berechnungsweise u. U. mit Leistungsanspriichen besser als diejenigen Versicherten gestellt, die nur Anspriiche in einem nationalen Alterssicherungssystem haben, auch wenn sie gleiche Versicherungszeiten vorweisen konnten. Um dies zu verhindern, wird flir Rentensysterne, bei denen sich die Leistung unabhangig von den Versicherungs- bzw. Wohnzeiten bestimmt, der tatsachliche Betrag der Rente wie folgt berechnet. Der theoretische Betrag wird mit dem relativen Anteil der im jeweiligen nationalen Rentensystem erworbenen Zeiten zu den EU-weit zu beriicksichtigenden Zeiten gewichtet. Der Versicherte erhalt aber mindestens den autonomen Betrag. Ein Versicherter, der in mehreren Landern beschaftigt war bzw. seinen Wohnsitz hatte, erhalt nach dem obigen Verfahren mehrere Renten aus unterschiedlichen nationalen Alterssicherungssystemen, wobei das Berechnungsverfahren sicherstellt, dass der Versicherte nicht schlechter als ein Versicherter gestellt wird, der das gleiche Rentenanspruchsprofil besitzt und der sich nur in einem Staat der EU aufhielt bzw. beschaftigt war. Das obige Berechnungsverfahren kann aber auch dazu fiihren, dass ein mobiler Versicherter ausschliefilich aufgrund seiner Mobilitat besser als ein ortsgebundener Versicherter gestellt wird und seine Mobilitat die Alterssicherungssysteme zusatzlich belastet. So ist es moglich, dass bei dem angewandten Berechnungsverfahren ein Versicherter ungerechtfertigt eine Invaliditatsrente von mehreren Versicherungen in der EU erhalt. Um diese Besserstellung mobiler Versicherter zu verhindern, sieht die Verordnung 883/2004 bzw. 1408/71 Antikumulierungsvorschriften vor, die insbesondere verhindern sollen, dass ein mobiler Versicherter Anspriiche erwirbt, die den hochsten theoretischen Leistungsbetrag iibersteigen. Mit den Antikumulierungsvorschriften soil ausgeschlossen werden, dass die Gesamtrente hoher als jede einzelstaatliche Rente ist, die als theoretischer Betrag flir den Fall berechnet worden ist, dass er fiktiv seine Anspriiche nur in diesem Staat erworben hat. Dieser Fall ist besonders bei Leistungen der Rentenversicherung, die aufgrund derselben Versicherungs- bzw. Wohnzeiten von den einzelnen Rentenversicherungen berechnet oder gewahrt werden, zu erwarten. Zur Regelung solcher Falle sieht die Verordnung recht komplizierte Regeln zur Doppelleistungsbestimmung vor.
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12 Koordination der Sozialpolitik
Im Gesundheitswesen, das den ambulanten (Arztbehandlung usw.) und den stationaren Bereich (Krankenhaus) umfasst, unterseheiden wir zwischen Sachleistungen und Geldleistungen, die in der EU ganz unterschiedlich koordiniert werden. Bei den Sachleistungen, wie die bis auf die Selbstbeteiligung kostenlos zur Verfiigung gestellten Medikamente und die arztliche Behandlung, gelten im Allgemeinen die Rechtsvorschriften des Landes, in dem man sich aufhalt bzw. wohnt. Hingegen erhalt m a n Geldleistungen (z. B. Krankengeld) prinzipiell nach den Vorschriften des Landes, in dem man versichert ist, so dass sich bei einem Aufenthalt im EU-Ausland bei den Versicherten bezuglich der Geldleistungen im Krankheitsfall kein besonderer Koordinierungsbedarf ergibt. Bei den Sachleistungen im EU-Ausland existieren fur einen Versicherten und seine Familienangehorigen abgestufte Rechtsanspruche im Krankheitsfall. Wohnt ein Versicherter bzw. seine Familienangehorigen in einem anderen Land als dem, in dem er versichert ist, so gelten fur ihn uneingeschrankt bei Sachleistungen die Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung des Wohnlandes. Der im EU-Ausland Wohnende wird bei den Sachleistungen mit einem im jeweiligen Land Krankenversicherten vollig gleichgestellt. Ein besonderes Wahlrecht besteht fur Grenzganger. Grenzganger die in einem anderen Land als in dem sie beschaftigt sind, wohnen und taglich bzw. mindestens einmal wochentlich pendeln, konnen Sachleistungen nach den jeweiligen Rechtsvorschriften im Wohnland als auch im Beschaftigungsland in Anspruch nehmen. Halt man sich nur vorubergehend, z. B. als Tourist, in einem Mitgliedstaat auf, der nicht das Versicherungsland ist, so hat m a n nur den eingeschrankten Anspruch auf die medizinisch notwendigen Sachleistungen nach den Rechtsvorschriften des Aufenthaltlandes. Dazu benotigt man in einigen Landern noch u. a. das Formular E 111, das aber in vielen Landern von den Leistungserbringern nicht anerkannt wird. In der Praxis sieht es dann so aus, dass man bei einem Auslandsaufenthalt die Leistung selbst bezahlen muss und eine Kostenerstattung von der eigenen Krankenkasse nach den Rechtsvorschriften des Versicherungslandes erhalt. In alien EU-Landern, in denen die Versicherten wie schon in Deutschland liber eine Krankenversicherungskarte verfiigen, wird der Auslandskrankenschein E 111 durch die European Health Insurance Card (EHIC) ersetzt, die seit dem 01. Juni 2004 giiltig ist und eine Auslandsbehandlung wesentlich vereinfachen soil. Da aber Personen, die sich nur vorubergehend im EU-Ausland aufhalten, keinen vollkom-
12.3 Koordinierung der Sozialen Sicherung
273
menen Versicherungsschutz iiber die Verordnung erhalten, dies betrifFt z. B. den Riicktransport in ihr Wohnland, empfiehlt es sich, fur den voriibergehenden Aufenthalt im EU-Ausland eine AuslandsreiseKrankenversicherung abzuschliefien. Begibt sich ein Versicherter in einen anderen Mitgliedstaat, urn dort ambulante oder stationare Leistungen in Anspruch zu nehmen, so hat er nach der Verordnung nur dann einen Leistungsanspruch, wenn eine vorherige Genehmigung seiner Krankenversicherung vorliegt. Im Fall einer Genehmigung einer Auslandsbehandlung gelten fiir ihn in dem behandelnden Mitgliedstaat die gleichen Rechtsvorschriften wie fiir die Versicherten, die in diesem Land wohnen. Mit dieser Vorschrift der Verordnung ist ein EU-weiter Gesundheitstourismus eigentlich ausgeschlossen. Aufgrund eines Urteils des E u G H miissen die Krankenkassen eine Auslandsbehandlung genehmigen, wenn die Behandlung durch Vertragspartner im Inland in angemessenem Zeitraum nicht moglich ist. Nach der Rechtssprechung des E u G H , insbesondere im Fall Kohll/Decker, konnen sich Gesundheitstouristen auf die Dienstleistungsfreiheit des Gemeinsamen Marktes berufen. Aufgrund der Dienstleistungsfreiheit diirfen Anbieter aus Mitgliedstaaten nicht diskriminiert werden. Eine generelle Genehmigungspflicht bei Auslandsbehandlungen stellt aber nach Ansicht der E u G H eine Diskriminierung und damit eine Beschrankung des freien Handels in der EU dar. Diese ist nach der Rechtssprechung des E u G H - sofern verhaltnismafiig - nur im stationaren Bereich gerechtfertigt. In diesem Fall wiirde eine Aufgabe des Territorialprinzips moglicherweise zu einer Unterversorgung weniger dicht besiedelter Regionen und zu einem finanziellen Ungleichgewicht bei der jeweiligen Krankenkasse aufgrund von Uberkapazitaten, die nicht schnell abgebaut werden konnen, fiihren. Anders beurteilt der E u G H die Inanspruchnahme von ambulant en Leistungen im EU-Ausland. Hier konnen Versicherte ohne Genehmigung ihrer Krankenkasse Leistungen im EUAusland in Anspruch nehmen. Sie haben dann aber nur einen Anspruch auf Kostenerstattung nach den Rechtsvorschriften ihres Versicherungslandes und tragen so ein gewisses finanzielles Risiko. Um den europaischen Wettbewerb im Gesundheitswesen zu intensivieren und Kosteneinsparungen zu realisieren, sieht das Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung von 2003 vor, dass ambulante Leistungen gegen Kostenerstattung nach den Rechtsvorschriften der Gesetzlichen Krankenkasse sowie abzuglieh einer Verwaltungskostenpauschale auch ohne Zustimmung der Krankenkasse im Ausland in Anspruch genommen werden konnen.
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12 Koordination der Sozialpolitik
Des Weiteren sieht das Gesetz vor, dass die Krankenkassen Versorgungs vert rage mit Leistungsanbietern aus der EU abschliefien konnen. Diese Option ist gerade fur Grenzregionen interessant, da so eine bessere Versorgung der Versicherten im ambulanten und stationaren Bereich ermoglicht wird und Versorgungsengpasse abgebaut werden konnen. Ist ein Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat beschaftigt, so ist er in diesem Land - anders als entsandte Arbeitnehmer - gemafi den Rechtsvorschriften des Beschaftigungslandes arbeitslosenversichert. Er erhalt im Prinzip die gleichen Leistungen wie ein versicherter Inlander. Um die Mobilitat der Arbeitnehmer zu gewahrleisten und eine faktische Diskriminierung von Beschaftigt en zu verhindern, gibt es einige Sonderregelungen fur Beschaftigte in einem anderen Mitgliedstaat. In den meisten Landern hat man nur Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn eine Mindestversicherungszeit im Beschaftigungsland vorliegt, die von Beschaftigt en, die ihr Beschaftigungsland wechseln, oft nicht erfullt wird. Deshalb gilt fur sie, dass auch die vorherigen Versicherungszeiten aus anderen EU-Landern mitberucksichtigt werden, u m einen Leistungsanspruch wie Inlander zu erhalt en. Bei der Berechnung der Hohe der Leistungen bei Arbeitslosigkeit legen einige Lander das Arbeitsentgelt iiber einen grofieren Zeitraum zugrunde. Bei in einem anderen Land Beschaftigten wird aber nur das Entgelt in dem jeweiligen Beschaftigungsland zugrunde gelegt, was sowohl zu einer Besser- als auch Schlechterstellung gegeniiber Inlandern fiihren kann. Dies gilt auch fur Grenzganger, die im Falle der Arbeitslosigkeit in ihr Wohnland zuriickkehren. Zielsetzung aller Arbeitslosenversicherungen ist es, nicht nur Leistungen zu gewahren, sondern auch die missbrauchliche Inanspruchnahme von Leistungen zu verhindern und dafiir zu sorgen, dass Arbeitslose schnell wieder in ein Beschaftigungsverhaltnis vermittelt werden. Um dies zu erreichen, mlissen Arbeitslose der Vermittlung der jeweiligen Arbeitslosenversicherung zur Verfiigung stehen, sich dort regelmafiig melden und zumutbare Arbeitsangebote annehmen usw. Die Kontrolle und die Vermittlung von Arbeitslosen wird aber erschwert, wenn sich ein Arbeitnehmer nicht mehr in dem Land aufhalt, aus dem er Leistungen der Arbeitslosenversicherung bezieht. Deshalb wird bei der Arbeitslosenversicherung das Prinzip, dass Geldleistungen unabhangig davon, in welchem Land man wohnt, vom jeweiligen zustandigen Trager zu leisten sind, eingeschrankt. Wenn ein Arbeitsloser das Land, in dem er bisher Arbeitslosengeld bezogen hat, verlasst, so hat er unter folgenden Bedingungen auch in einem anderen Mitgliedstaat weiter Anspruch auf finanzielle Leistungen
12.3 Koordinierung der Sozialen Sicherung
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der Arbeitslosenversicherung. Er muss vor dem Verlassen des jeweiligen Landes mindestens vier Wochen nach seiner Arbeitslosigkeit bei der zahlenden Arbeitslosenversicherung gemeldet sein und der Vermittlung zur Verfugung gestanden haben, sofern die zustandige Stelle keinen fruheren Zeitpunkt des Verlassens des Landes genehmigt. Der Arbeitslose muss sich dann bei der Arbeitslosenversicherung seines neuen Aufenthaltes melden und die Leistungsvoraussetzungen dieser Einrichtung erflillen. Der Leistungsanspruch besteht aber in der Regel nur noch fur drei Monate in dem neuen Aufenthaltsland gegeniiber der urspriinglichen Arbeitslosenversicherung. Kehrt der Arbeitslose in diesen drei Monaten in das Land seiner vorherigen Beschaftigung zurlick, so hat er weiter die gleichen Anspruche wie ein Inlander. Uberschreitet er die 3-Monate-Frist, so verfalien seine Anspruche bei der Riickkehr in der Regel vollstandig. Hat der Arbeitslose in einem anderen Land gewohnt als dem Land, in der er vor seiner Arbeitslosigkeit beschaftigt war, dann gelten fur ihn einige besondere Regelungen. Bei Kurzarbeit muss er wie ein Inlander der Arbeitslosenversicherung seines bisherigen Besehaftigungslandes voll zur Verfugung stehen, er wird also einem Inlander vollig gleich gestellt. 1st er aber vollarbeitslos, so muss er sich der Arbeitslosenversicherung seines Wohnlandes zur Verfugung stellen. Er kann sich zusatzlich der Arbeitslosenversicherung seines vorherigen Beschaftigungslandes zur Vermittlung zur Verfugung stellen. Er muss aber dann auch den entsprechenden Verpflichtungen des Beschaftigungslandes nachkommen. Ein Arbeitsloser, der in sein Wohnland zuriickkehrt, erhalt Leistungen nach den Vorschriften der Arbeitslosenversicherung seines Wohnlandes. Dies gilt uneingeschrankt fur Grenzganger. F u r Nicht-Grenzganger gilt in den ersten drei Monaten die Regeln fur Arbeitslose, die sich in einem anderen Land aufhalten. Sie erhalten also zunachst Leistungen von ihrer Arbeitslosenversicherung des bisherigen Beschaftigungslandes nach den jeweiligen Leistungsvorschriften des Beschaftigungslandes. Die Komplexitat der Materie der Sozialen Sicherung ist hier nur angedeutet worden. Es ist offensichtlich, dass ein Wanderarbeitnehmer vollig iiberfordert ist, sich in diese schwierige Materie einzuarbeiten. Er wird deshalb schnell resignieren und u. U. auf ein Beschaftigungsverhaltnis in einem anderen Mitgliedstaat verzichten. Um die Mobilitat der Arbeitnehmer zu fordern, hat die Gemeinschaft zur besseren Information das Projekt European Employment Services (EURES) gestartet,
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12 Koordination der Sozialpolitik
indem neben den nationalen Institutionen ein Netzwerk von iiber 400 Beratern die Arbeitnehmer informiert und berat.
Literatur • • •
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13
Perspektiven des Europaischen Sozialmodells
Im letzten Kapiteln haben wir uns ausflihrlich mit der Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in der EU besehaftigt. Dabei haben wir die Vielfalt in der Ausgestaltung der nationalen Sozialsysteme dargestellt und aufgezeigt, dass sich die Gemeinschaft mit der Entscheidung fur eine Koordination der Sozialsysteme im Sinne des Subsidiaritatsprinzips fiir ein dezentrales System Sozialer Sicherung ausgesprochen hat. Auch die Ausweitung der Sozialpolitik der Gemeinschaft durch die Offene Methode der Koordinierung hat zu keiner substanziellen Vereinheitlichung der Sozialsysteme in der EU gefiihrt. Da von keiner Konvergenz der sozialen Sicherungssysteme gesprochen werden kann und ihre Ausdifferenzierung und Unterschiedlichkeit enorm ist, kann man in Frage stellen, ob uberhaupt ein europaisches Sozialmodell existiert. Arbeitet man die Unterschiede zu anderen Sozialmodellen heraus, kommt man einer Antwort naher. Hier ist ein Vergleich mit den USA naheliegend. Bei diesem Vergleich mit dem europaischen Sozialmodell wird meist implizit angenommen, dass das europaische Sozialmodell die bessere Alternative darstellt, auch wenn einige Fakten wie die hohere Arbeitsproduktivitat und die niedrige Arbeitslosigkeit in den USA diese normative Sicht in Frage stellen. Im Vergleich mit den USA findet man einige Gemeinsamkeiten, die das europaische Sozialmodell charakterisieren. Deutliche Unterschiede zeigen sich beispielsweise in der umfassenderen Absicherung des Exist enzminimums, im starker auf Einkommensangleichung ausgerichteten Steuersystem, im umfassenderen sozialen Sicherungssystem bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter sowie in starker korporatistischen Beziehungen zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen sowie den staatlichen Instanzen.
278
13 Perspektiven des Europ. Sozialmodells
In gleiche Richtung definiert die europaische Kommission das europasiche Sozialmodell durch die gemeinsamen Werte: Demokratie, individuelle Freiheit, sozialer Dialog, gleiche Chancen fur alle, ausreichende Soziale Sicherung und Solidaritat gegeniiber den sozial Schwachen in unserer Gesellschaft. Nun sagen solche allgemeinen Zielvorgaben wenig daruber aus, inwieweit diese in der Gemeinschaft auch realisiert werden. Schaut man sich deshalb ein wenig genauer die dazu verfolgten Politiken und ihre institutionelle Absicherung an, so kommt man zu einem differenzierten Bild des europaischen Sozialmodells. Aufgrund der Heterogenitat der Sozialsysteme bietet sich anstelle einer Definition iiber Gemeinsamkeiten eine Definition an, in der das europaische Sozialmodell nicht durch seine Faktizitat, sondern als normatives Leitbild abgegrenzt wird. Bei dieser perspektivischen Sicht sieht man als Nukleus der sozialen Systeme in der EU ein sich abzeichnendes Leitbild im Sinne von best practice an, das bisher mehr oder weniger realisiert wurde. Vertieft man diese normative Ausrichtung, so kann man auch das europaische Sozialmodell als einen Prozess des Wandels, der Anpassung und der Modernisierung des Sozialraums Europas verstehen. Wenn man zu dem Urteil kommt, dass einiges dafiir spricht, von einem europaischen Sozialmodell auszugehen, so ware es denkbar, dass dieses Modell nur einen transistorischen Charakter besitzt und nicht uberlebensfahig ist, sondern sich langfristig in ein anderes - z. B. neoliberales - Modell transformieren wird. Damit ist die Frage der Nachhaltigkeit des europaischen Sozialmodells angesprochen. Die Frage der Nachhaltigkeit des europaischen Sozialmodells gewinnt an Bedeutung, wenn man sich die vier Phanomene: • • • •
Globalisierung, Integration der Markte, Osterweiterung der EU, Alterung,
die alle erheblichen Einfluss auf die Stabilitat des europaischen Sozialmodells haben, vor Augen halt. Alle vier Phanomene sind schon in fruheren Kapiteln mehr oder weniger intensiv angesprochen worden, so dass in diesem abschliefienden Kapitel nur noch einige grundsatzliche Bemerkungen notwendig sind. Bisher haben wir in den Ausfiihrungen primar untersucht, wie die Akteure in der EU auf diese Herausforderungen - siehe z. B. die Ausfiihrungen zur europaischen Beschaftigungspolitik - reagiert haben. Im Folgenden soil der Akzent der Diskussion anders gesetzt werden. Es geht um die Frage, inwieweit diese Phanomene einen race to the bottom
13 Perspektiven des Europ. Sozialmodells
279
in dem europaischen Sozialmodell induzieren. Welche Herausforderungen damit verbunden sind und wie man ihnen begegnen kann, haben wir in den einzelnen Politikfeldern detailliert aufgezeigt. Darauf aufbauend sollen mittels einiger zusatzlicher Argumente aufgezeigt werden, dass das europaische Sozialmodell durchaus iiberlebensfahig und ein race to the bottom weder zwangslaufig noch sehr wahrscheinlich ist, obwohl durch die Osterweiterungen die Spannungen im europaischen Sozialmodell stark angestiegen sind. Wenn wir das Modewort race to the bottom verwenden, so miissen wir klaren, auf welchen sozialpolitischen Bereich sich diese Abwartsspirale bezieht und wer der entscheidende Akteur ist, der diese Spirale in Gang setzt. Soziale Absicherung kann sich z. B. aus der Regulierung des Arbeitsmarktes ergeben. Zu denken ist hier zum einen an arbeitsrechtliche Regelungen, wie Kiindigungsschutz oder Arbeitsschutzbestimmungen und zum anderen an im Rahmen des Kollektivrechts vereinbarte Regelungen, wie Bundnisse fur Arbeit, Qualifizierungsvereinbarungen oder Rationalisierungsschutzabkommen sowie freiwillige Zusagen der Arbeitgeber als auch arbeitsvertragliche Regelungen. Soziale Absicherung bieten aber auch die Sozialversicherungen und die vielfaltigen sozialen Einrichtungen des Staates wie Sozial-, Jugendund Familienhilfe in Form von finanziellen Transfers oder Realleistungen, die in der EU ganz unterschiedlich ausgestaltet sind. Des Weiteren muss man sich fragen, wer der Trager des race to the bottom ist. Dies konnen die staatlichen Institutionen, die Vertragsparteien auf dem Arbeitsmarkt, die Unternehmen selbst und die europaische Kommission sein. Schaut man sich die empirischen Arbeiten zum race to the bottom an, so stellt man fest, dass in den Untersuchungen nicht nach den unterschiedlichen Interessenkonstellationen differenziert wird und oft als einzige Bestimmungsgrofie die Entwicklung der Sozialquote, die den Anteil der Sozialausgaben am BIP widerspiegelt, herangezogen wird. Von daher ist die Aussagekraft dieser Untersuchungen, in denen qualitative Entwicklungen im Bereich der Sozialen Sicherung nur unzureichend berucksichtigt werden, vorsichtig zu interpretieren. Dabei ist es wichtig, nicht nur empirische Untersuchungen, sondern auch theoretische Uberlegungen anzustellen, ob dieser race to the bottom tatsachlich zwangslaufig ist, wie manche Untersuchungen suggerieren. Wie die Ablehnung der europaischen Verfassung durch die franzosischen und niederlandischen Burger gezeigt hat, raumen die europaischen Burger der sozialen Dimension der EU einen sehr hohen Stel-
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13 Perspektiven des Europ. Sozialmodells
lenwert ein, so dass ein Sozialabbau politisch nur schwer gegen den Burgerwillen durchsetzbar ist. Die Faktoren Globalisierung, Gemeinsamer Markt und Osterweiterung, die den Prozess des race to the bottom induziert haben, erhohen gleichzeitig die Nachfrage nach sozialer Absicherung. Denn diese drei Faktoren bewirken mehr Unsicherheit aufgrund verscharfter Konkurrenz und das Bediirfnis der Burger, diese Unsicherheit durch soziale Sicherungsmafinahmen zu beherrschen, nimmt entsprechend zu. Das mit der Alterung der Gesellschaft die Nachfrage nach Sozialleistungen eher steigt - dies gilt besonders fur die Gesundheitsleistungen - ist offensichtlich. Entscheidend ist aber, inwieweit sich diese Nachfrage nach sozialer Sicherheit politisch durchsetzen kann. Es kommt darauf an, ob nur einflusslose Randgruppen in der Gesellschaft mehr Soziale Sicherung fordern oder die Wahlerschicht u m den Medianwahler politischen Druck ausiibt. Ruft m a n sich die Uberlegungen zu dem Kap. 2 uber Migration und Marktintegration in Erinnerung, so sind es meist die gering Qualifizierten und schwer organisierbaren Burger, die die negativen Auswirkungen zu tragen haben. Von daher ist der Druck auf die nationalen politischen Entscheidungstrager nicht sehr stark. Anders verhalt es sich bei der Europaischen Kommission, die oft vorschnell als alleiniger Verursacher dieser Abwartsspirale gebrandmarkt wird. Diese hat schon aus Legitimationsgriinden ein grofies Interesse, ein hohes soziales Sicherungsniveau aufrecht zu erhalten. Dies zeigte sich z. B. bei ihren Kohasionsvorschlagen zur sozialen Abfederung der EU-Osterweiterung. Beim Prozess des race to the bottom kann es auch zu einer Verschiebung von Verantwortungen zwischen dem staatlichen und privaten Sektor kommen. Zur Entlastung des Sozialstaates konnen die Mitgliedstaaten versuchen, Aufgaben der Sozialen Sicherung auf die Unternehmen zu verlagern. Das ist besonders im Bereich der Regulierung der Arbeitsbeziehungen relevant, bei denen meist die Arbeitgeber die Kosten tragen miissen. Um sich selbst zu entlasten, haben die Unternehmen aus dieser Sicht im Globalisierungsprozess durchaus ein Interesse an einem hohen Sicherungsniveau, das vom Staat angeboten wird. Dies gilt z. B. fur die Finanzierung von Altersteilzeit, Vorruhestandsregeln und die Finanzierung von betrieblichen Anpassungsmafinahmen durch die Arbeitslosenversicherung. Des Weiteren praferieren sie eine Substitution von hohen Kundigungsstandards durch hohe Lohnersatzraten bei der Arbeitslosenversicherung, insbesondere dann, wenn sie nur einen geringen Finanzierungsanteil zu tragen haben. Von daher ist die Einstellung
13 Perspektiven des Europ. Sozialmodells
281
der Unternehmen zum Sozialabbau in vielen Bereichen durchaus ambivalent. Das Sozialmodell wird nicht nur durch die nationalen Politiken der Mitgliedslander, sondern auch durch die soziale Dimension, die wir im Gemeinschaftsrecht der EU finden, gestiitzt, so dass die Gemeinschaft - insbesondere die Kommission als treibende Kraft - einen gewissen Spielraum besitzt, im Prozess des race to the bottom gegenzusteuern. Diesen Handlungsspielraum sollte man nicht iiberbewerten. Die Kommission kann in einigen Bereichen der Sozialen Sicherung Mindeststandards setzen, die aber der Zustimmung im Ministerrat bediirfen. Da sich die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritatsprinzip fur die Strategic der Koordination anstelle der der Harmonisierung ausgesprochen hat, ist auch hier der Spielraum recht eng. Auch die Bestrebungen von Arbeitgeberverbanden und Gewerkschaften iiber einen sozialen Dialog Mindeststandards durchzusetzen, waren nicht besonders erfolgreich. Bleibt die Chance der Anwendung der Offenen Methode der Koordinierung in den unterschiedlichen Bereichen der Sozialen Sicherung. Auch hier kann man nicht von einem wirkungsvollen Ansatz sprechen. Insbesondere muss man skeptisch sein, ob mit dem Konzept des „best practice" ein „race to the top" initiiert werden kann, wie es sich die Anhanger des europaischen Sozialmodells erhoffen. Die Verfechter der These des race to the bottom sehen den Globalisierungsprozess und teilweise auch den Gemeinsamen Markt kritisch, da sie beflirchten, dass sich im Wettbewerb verstarkt okonomische Effizienz auf Kosten des Sozialen durchsetzt. Diese Sicht ist aber einseitig. Unumstritten ist, dass mit der Globalisierung durch den intensiveren Wettbewerb die Marktrisiken steigen, was sich z. B. in einer elastischeren Arbeitsnachfrage niederschlagt. Dem stehen aber die Effizienzvorteile der Globalisierung und des Gemeinsamen Marktes gegeniiber. Diese erhohte Effizienz schlagt sich in mehr Wachstum und einem hoheren Volkseinkommen nieder und dieser Zuwachs reicht aus, um auch die Verlierer der Globalisierung zu kompensieren, und schafft Spielraum fur eine kompensatorische Ausweitung der Sozialen Sicherung. Kommt es im Prozess der Globalisierung und der Intensivierung des Gemeinsamen Marktes als auch der EU-Osterweiterung tatsachlich zu einem race to the bottom, so ist dies nicht kausal auf diese Faktoren zuriickzufuhren, sondern auf Politikversagen im europaischen Sozialmodell. Dies macht insbesondere deutlich, dass ein race to the bottom nicht zwangslaufig ist. Nun kann man aber die These vertreten, dass gerade das europaische Sozialmodell verhindert, die Effizienzchancen der Globalisierung,
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13 Perspektiven des Europ. Sozialmodells
des Gemeinsamen Marktes und der Osterweiterung zu nutzen, und dass das europaische Sozialmodell selbst zur Eurosklerose gefiihrt hat. Dafiir werden als Beleg die erheblichen Unterschiede in der Entwicklung der Produktivitat in den USA und der EU in den letzten Jahren angefiihrt. Dieser Argumentation liegt die neoliberale Auffassung zugrunde, dass es einen unliberwindbaren Trade off zwischen okonomischer Effizienz und den Zielen des Sozialstaates gibt. Dieser unterstellte Trade off vernachlassigt aber, dass Soziale Sicherung gestaltbar ist und dazu dienen kann, die Effizienz einer Wirtschaft zu erhohen, indem sie die Risikobereitschaft bei der Humankapitalbildung, die Akzeptanz des wirtschaftlichen Wandels, die Sicherheit von Eigentumsrechten usw. verbessert. Die Intensivierung des Wettbewerbs kann durchaus bewirken, dass sich im Wettbewerb der Sozialsysteme die Systeme durchsetzen, in denen der Trade off am weitesten abgebaut worden ist. Zusammenfassend kann m a n das Fazit Ziehen, dass insbesondere die Globalisierung nicht zwingend zu einem race to the bottom fuhren muss und ein ausreichender Spielraum existiert, das europaische Sozialmodell effizient zu gestalten und eine Abwartsspirale zu verhindern. Damit ist aber die Nachhaltigkeit des europaischen Sozialmodells nicht per se gesichert. Es gibt andere Gefahrdungspotenziale. Zu denken ist hier exemplarisch an die Alterung der europaischen Gesellschaft, die in erheblichem Umfang das europaische Sozialmodell von der Finanzierungsseite gefahrden kann.
Abbildungsverzeichnis
1.1
Internationaler Warenhandel
11
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10
Transformationskurve Ricardotheorem Aggregiertes relatives Kaseangebot Alternative Marktgleichgewichte Protektionismus Auswirkungen des Beitritts der Tiirkei zur EU Handelsschaffung und Handelsdiversifikation Umverteihmgseffekt Kosten und Nutzen der Handelsliberalisierung Integration des gesamten Marktes und der wettbewerbsfordende Effekt Marktgleichgewicht unter monpolistischem Wettbewerb . . Wohlfahrtssteigerung durch Produktvielfalt Break even point bei alternativen Produktionsverfahren. . Arbeitsnachfrage, Produktion und Verteilung Neoklassisches Arbeitsmarktmodell der Integration Agglomerationseffekt des integrierten Arbeitsmarktes . . . . Zuwanderung gering qualifizierter Arbeit Zuwanderung qualifizierter Arbeit Wohlfahrtsbedingte Wanderung Migration bei starren Lohnen
20 22 24 25 30 33 35 40 42
2.11 2.12 2.13 2.14 2.15 2.16 2.17 2.18 2.19 2.20 3.1 3.2 3.3
46 49 50 52 57 58 61 63 65 68 69
Die Organe der Europaischen Union 83 Mitentscheidungsverfahren, zusammenfassendes Schema . 98 Mitentscheidungsverfahren, zusammenfassendes Schema (Fortsetzung) 99
284
Abbildungsverzeichnis
4.1 4.2 4.3
Asymmetrische Schocks Wachstum der Geldmenge M3 in der E W U Notenbankzinsen und Tagesgeldsatz
113 134 139
5.1 5.2
Instrumente der Kohasionspolitik BIP pro Kopf
142 150
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
Instrumente der G A P Protektionismus in einer grofien V W L Wirkung von Mindesteinfuhren Preissttitzung bei Milchprodukten Preisstiitzung bei Zuckerriiben Auswirkungen der G A P auf den Welt mar kt
164 166 167 172 173 178
7.1
Das Verfahren nach Art. 104 E G V
189
8.1 8.2 8.3
Phillipskurve Strukturelle Arbeitslosenquote Differenz zwischen der tatsachlichen und der strukturellen Arbeitslosenquote
199 201 201
10.1
Ineffizienz der Fiskalpolitik
224
11.1
Effektive Durchschnittsbesteuerung der Unternehmen in der EU10 237 Die Erosion der Quellensteuern im Steuerwettbewerb . . . . 238 Wohlfahrtsgewinn bei einer Quellensteuer 240 Entwicklung der Markteinkommen 251
11.2 11.3 11.4
Tabellenverzeichnis
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 2.1 2.2
Bevolkerung der EU im internationalen Vergleich Pro-Kopf-Einkommen in Kaufkraftstandards (KKS) im internationalen Vergleich Arbeitslosenquoten Wachstumsraten des realen BIP Anteil des EU-Binnenhandels am Gesamthandel
6 8 9 10 12
2.3 2.4
Wirtschaftspolitische Konsequenzen des Ricardo-Modells . 26 Handelspolitik und ihre Auswirkungen auf Beschaftigung und Zusammenhalt 38 Freiziigigkeit 72 Freiziigigkeit, Erlauterungen 73
3.1 3.2 3.3 3.4
Finanzierung nach Art der Einnahmen Ausgaben im Haushalt der EU Nettozahler und -empfanger in den EU-Haushalt Finanzrahmen 2007-2013
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Maastricht-Kriterien 117 Indikatoren fur die Referenzwerte des Maastricht-Vertrages 122 Indikatoren der wirtschaftlichen Konvergenz 124 Maastricht-Kriterien zweier EUlO-Staaten 125 Abweichung der jahrlichen HVPI-Teuerungsraten vom Durchschnitt des Euroraumes 128 Ubersicht der monetaren Variablen 133 Geldpolitische Ziel- und Zwischenzielgrofien in der EU . . . 135 Geldpolitische Geschafte 137
4.6 4.7 4.8
92 93 95 103
286 5.1
Tabellenverzeichnis Kohasion 2007-2013: Von der Kommission vorgeschlagene Ziele und Instrumente Kohasionspolitik 2007-2013
148 152
Geltende und kiinftige Regelungen des Stabilitats- und Wachstumspakts
194
8.1
Definition der OMK
204
8.2
Integrierte Leitlinien fur Wachstum und Beschaftigung. . . 205
9.1
Tarifvertragssysteme
214
11.1
Mehrwertsteuersatze in den Mitgliedstaaten der EU
232
12.1
Sozialsysteme in Europa
258
5.2 7.1
Index
Aquivalenzprinzip 247 Ubergangsregeln 28, 52f., 60f., 70-79 Uberwachung, multilaterale 182, 185 Abschopfung 164ff., 169,177 Absicherung, aufienwirtschaftliche 164 Acquis communautaire 52, 71 AdR siehe Ausschuss der Regionen AentG siehe ArbeitnehmerEntsendegesetz Agenda 2000 16,174,177 Agglomerationszentren 39, 54, 64 Agrar -abschopfung 91 -ausgaben 92, 94,103,105,141, 159,174f.,177 -budget 174 -politik 3,13,87,107,146, 159-181,229 AKP -Abkommen 14,171 -Staaten 14,90 Allgemeinverbindlichkeitserklarung 267 Altruismus 248ff. Anhorungsverfahren 96f. Antidiskriminierungsprinzip 268 Antikumulierungsvorschriften 271
Anwerbestopp 74,76 Anwerbestoppausnahmeverordnung 76 Arbeitnehmer, gebietsfremde 74 Arbeitnehmer-Entsendegesetz 267 Arbeitnehmerfreizugigkeit 2, 5,16, 28,52,58,61,63,69,71f.,74f., 77,212,264 Arbeitserlaubnis 74, 76f., 79 Arbeitslosengeld 70, 75, 268, 274 Arbeitslosengeld II 62, 76, 266 Arbeitslosenrate 9,197,199 naturliche 199f. Arbeitslosenversicherung 5, 9,191, 257,266,268f.,274f.,280 Arbeitslosigkeit 2, 9, 9*, 37, 42, 53ff., 57, 62-65,69, 71, 77,116, 154,183f.,198f.,201*,207ff., 211f.,226,274f.,277 Arbeitsmarktintegration 2,41, 52-79 Arbeitsmarktpolitik, aktive 144 Artikel 137(5) 215, 261 Artikel 94 243 ASAV siehe Anwerbestoppausnahmeverordnung Assoziierungsabkommen 12,14, 52 Aufkaufpfiicht 171 Auflagen, sanitare, phytosanitare 170
288
Index
Aufwertungsdruck 184 Ausfuhrsubventionierung 168 Ausgaben nichtobligatorische 104ff. obligatorische 104f. Ausgleichsfonds 175 Ausgleichspolitik, regionale 154 Ausgleichszahlungen 93,174 Auslandskrankenschein 272 Ausnahmebereich, wettbewerbspolitischer 261 Ausrichtung, horizontale 142 Ausschuss der Regionen 88, 202 Autarkie 14, 23, 25, 29, 32, 34, 36 Balassa-Samuelson-Theorem 129, 218 Beggar-thy-neighbour-Politik 226 Begleitausscfmsse 143 Beihilfepolitik 13, 87,175f. Beitrittsvertrag 61, 71, 74, 79, 83 Bemessungsgrundlage 91, 242 Beschaftigung, illegale 54, 77 Beschaftigungsausschuss 202 Beschaftigungskapitel 198 Beschaftigungsland 74, 243, 268, 272, 274f. Beschaftigungslandprinzip 266 Beschaftigungspolitik 4, 86,142, 155,181,197-210,215,278 Best practice 206-209,265, 278, 281 Bestimmungslandprinzip 231-234 Betriebspramie 173,176f. Beveridge-System 270 Bismarck-System 269 Blauer Brief 185,191,193 Budget der EAGFL 146 CardifT-Prozess 202 Cost-push-Inflation 134 Cross Compliance 176 Crowding-out-Effekt 184 Deflzit -kriterien
120f., 190f.
-obergrenzen 191 -verfahren 186f., 190 iibermafiiges 87,182,184-187, 190,192f.,195 Demand-pull-Inflation 134 Desintegrationsprozess 116 Dezentralisierung 5,211 Dialog, sozialer 15, 215, 278, 281 Dienstleistungsfreiheit 16,28,52, 72,78,212,261,268,273 Dienstleistungsrichtlinie 28,107, 267 Directly Unproductive Profit-Seeking Activities 31 Direktbeihilfen 92,175f. Direktzahlungen 174,177 Diskretionare Politik 185 Diskriminierung 54, 77,126,144, 163, 204, 250, 254, 261, 267, 270, 273f. Diskriminierungsverbot 70,100, 250, 268 Disparitaten 145,153 Divergenzen bei monetaren Impulsen 127 im Transmissionsprozess 126f. Inflations- 126,128,217 realwirtsehaftliche 126 Doha-Runde 88,168,175 Doppelbesteuerungsabkommen 243f. Doppelleistungsbestimmung 271 DUP siehe Directly Unproductive Profit-Seeking Activities Durchfuhrungsbericht 143 EAGFL siehe Europaischer Ausrichtungs- und Garantiefonds fiir die Landwirtschaft EBP siehe Betriebspramie EBS siehe Europaische Beschaftigungsstrategie Ecofin 84,185-190,193,242 Effekt
Index allokativer 29f., 52, 55, 57ff., 70, 177,235 distributiver 52,55, 57ff., 70,177 externer 4,184 fiskalischer 66,69f. statistischer 149,151 Effizienz 4, 7, 20,27,40,43,106£, lll,115,126,147,153f.,156f., 178ff., 193,200, 209,213,259, 262f.,281f. EFRE siehe Europaischer Fonds fiir regionale Entwicklung EG siehe Europaische Gemeinschaft EGFL siehe Europaischer Garantiefonds fiir die Landwirtschaft EGKS siehe Europaische Gemeinschaft fiir Kohle und Stahl EHIC siehe European Health Insurance Card EIB siehe Europaische Invest it ionsbank Eigenmittel 90ff.,230 Eigenmittelobergrenze 93,102,105 Ein-Zwolftel-Regelung 105 Einheitliche Betriebspramie siehe Betriebspramie Einheitliche Europaische Akte 15 Einheitliches Programmplanungsdokument 142 Einkommensteuer 4, 230, 243 Einkommensverteilung, gerechte 247f. Einlagefazilitat 138 Einstimmigkeit 7, 96,100,106, 261 ELER siehe Europaischer Landwirtschaftsfonds fiir die Entwicklung des landlichen Raums Entscheidungsverfahren 96-106, 187 Entsenderichtlinie 74,266ff. Entwicklungslander 11,167,171, 175,178
289
Entwicklungsprogramme 141,206 EPPD siehe Einheitliches Programmplanungsdokument Equal 144 Erasmus 15 Erganzungszahlungen 177 Erweiterter Rat 130,132 ESF siehe Europaischer Sozialfonds Esprit 15 ESZB siehe Europaisches System der Zentralbanken EuGH siehe Europaischer Gerichtshof Euratom siehe Europaische Atomgemeinschaft EURES siehe European Employment Services EuRH siehe Europaischer Rechnungshof Europaische Atomgemeinschaft 13, 82 Europaische Beschaftigungsstrategie 149,197-200,202ff., 206-209 Europaische Gemeinschaft 15,81, 264 Europaische Gemeinschaft fiir Kohle und Stahl 13, 81 Europaische Investitionsbank 89 Europaische Kohasionspolitik 141-158,163 Europaische Kommission 12f., 17f., 28,37,61,71,75,77,84-89, 96ff., 100-108,110,120,123, 131,141,143,146f., 149,151, 153,156ff., 174,182,185ff., 191, 193,195,198, 202ff., 206-209, 215, 233, 242f., 245, 261, 263, 265,267,278-281 Europaische Lohnpolitik 211-219 Europaische territoriale Zusammenarbeit 147,149,151 Europaische Wahrungsunion 109, lllf., 115f., 119,122,125,182, 198,213
290
Index
Europaische Wirtschaftsgemeinschaft 13fT.,82,159f.,259 Europaische Zentralbank 16, 89, 122,125,130ff., 136,138,183f., 190,198,200,203,213,217, 225f.,262 Europaischer Ausrichtungs- und Garantiefonds fur die Landwirtschaft 144,146,163 Europaischer Fonds fur regionale Entwicklung 92,143ff., 147, 151 Europaischer Garantiefonds fur die Landwirtschaft 34,175 Europaischer Gerichtshof 87ff., 106, 130f.,242,261,273 Europaischer Landwirtschaftsfonds fur die Entwicklung des landlichen Raums 175 Europaischer Rat 15ff., 85f., 100ff., 106,147,182,185, 202f.,207f. Europaischer Rechnungshof 14, 89 Europaischer Sozialfonds 92,144, 147,151,206,259 Europaischer Wirtschafts- und Sozialausschuss 88 Europaisches Parlament 14f., 17f., 28, 82-86,92, 96fL, 100-105, 107f., 130,147,174, 202, 215, 261,268 Europaisches System der Zentralbanken 89,109-140,181, 221 Europaisches Wahrungssystem 119, 122 Europarat 86 European Employment Services 275 European Health Insurance Card 272 Euroraum 117f., 123,126-129,225f. Eurosystem 122,125-131,136,138, 225 Eurozone 182ff.
Everything-but-Arms-Abkommen 171 EWG siehe Europaische Wirtschaftsgemeinschaft, siehe Europaische Wirtschaftsgemeinschaft EWS siehe Europaisches Wahrungssystem EWSA siehe Europaischer Wirtschafts- und Sozialausschuss Existenzminimum 5,251, 253f., 266, 277 Exklusionsprinzip 246 Exporterstattung 168f., 172 Export mengenbeschrankung 168 Externalitaten 67,155f., 185,198f., 221f. EU-weite 155f., 198, 200 fiskalische 155 raumliche 155 EZB siehe Europaische Zentralbank Foderalismustheorie, okonomische 156 Forderfahigkeit 147,149 Forderkulisse 147 For der mitt el 141f. Familienangehorige 5, 74, 244, 266, 272 Fazilitaten, standige 136,138 Feinsteuerungsoperationen 136 Festung Europa 28, 212, 225 FIAF siehe Finanzinstrument fiir die Ausrichtung der Fischerei Finanzbeitrag 230 Finanzielle Vorausschau 18, 101-105,175 Finanzierungssystem 179 Finanzinstrument fiir die Ausrichtung der Fischerei 144, 146 Finanzplanungsrat 192
Index Finanzpolitik 3f., 85,115,120,129, 134,181-196,221 Finanzrahmen 102f., 103*, 147,153, 157 Finanztransfer 157 Fiskalpolitik 3f., 115, 203, 224*, 221-227 Fleisch, hormonbehandeltes 170 Fondsverwalter 143 Fruhwarnsystem 185,190,193 Freihandel 25-43 Fundament alt heor em der Wirtschaftstheorie, I. 26f., 178 Fusionskontrolle 87 Giinstigkeitsprinzip 214 Giiter offentliche 155,246ff. handelbare 24,129, 219 lokale 78,129, 218f. private 246 Giiterverkehr, freier 16, 28 GAP siehe Gemeinsame Agrarpolitik Garantiemenge 172 Geldleistung 272,274 Geldmengensteuerung 126,183 Geldmengenziel 125,132ff. Geldnachfragefunktion 135 Geldpolitik 16,89,115f., 132,182ff., 199f.,213,221,224ff. einheitliche 3,109f., 112,118, 125-130,181ff., 185,198ff., 213, 217f.,221,226,262 Instrumente 126,136ff. restriktive 131,183 Strategien 132-135 Trager 109 Ziele 125,132-135 Geldpolitische Instrumente 126 Geldwertsicherung 115 Geldwertstabilitat 112,116f., 120, 132,198,216,218,246 Gemeinsame Agrarpolitik 13f., 16, 164*,178*,159-180
291
Gemeinsame Marktorganisation 162f. Gemeinsamer Markt 11,14ff., 27f., 32,48, 51f., 71,90,100,107,154, 159,198, 212, 223, 225, 229, 243, 261,264f.,273,280ff. Gemeinsamer Standpunkt 98,100 Gemeinschaftlicher Besitzstand siehe Acquis communautaire Gemeinschaftlich.es Forderprogramm 142 Gemeinschaftsinitiativen 144,149 Gemeinschaftspraferenz 163 Generaldirektion 86 Geringqualifizierte 41, 62f., 63*, 64ff.,78 Gesetz von Jevons 24, 111, 128, 234 Gesundheitstourismus 273 Gesundheitswesen 28, 246,261, 272f. Gewinnverlagerung 242 GFK siehe Gemeinschaftliches Forderprogramm Gleichbehandlung 260 -grundsatz 268 -prinzip 171,266 Gleicheits- und Fairnessprinzip 154 Gleichstellung 265 Globalisierung 29, 43, 212, 223, 278, 280ff. GMO siehe Gemeinsame Marktorganisation Goldene Regel 191 Grenzganger 53f., 76f., 244, 272, 274f. Grenzregion 54f., 76, 274 Grenzsteuersatze 236f. Grundfreiheiten 16, 28, 52, 71f., 100,107, 212, 223, 243, 253, 261, 264f. Grundprinzipien GAP 163 Grundsatz der Spezialitat 104 Halbzeitbewertung Handel
143
292
Index
interindustriell 47 intraindustriell 47 Handelsdiversifikation siehe Trade Diversion, 34 Handelseffekt 30 Handelshemmnisse, nichttarifare 14,29,164,166 Handelshemmnisse, tarifare 29,164 Handelsliberalisierung 2, 23, 27, 29, 32, 34, 37-40,42*, 91 Handelspolitik, strategische 47 Handelsschaffung siehe Trade Creation Handelsschranken 32 Handelsumlenkungseffekt 36 Harmonisierter Verbraucherpreisindex 128,128*,132 Harmonisierung 5,185, 209, 236, 243,262-268,281 Hauptrefinanzierungsgeschafte 136, 138 Haushalt, EU 16, 33, 84f., 87, 89-93, 93*, 95*, 104f., 107,146,155, 157,159,163,174,177,187, 229f. Haushaltsdefizit 87,123,182,185, 187,191,193 Haushaltsgrundsatzegesetz 192 Haushaltskonsolidierung -anstrengungen 193 -strategie 198 Haushaltskriterium 121 Haushaltsplan 90,101,103ff. Haushalt svorentwurf 104 Heimatlandprinzip 253f. Heranfiihrungshilfe 92,145 Herkunftsland 67, 69, 76, 267 Herkunftslandprinzip 233,266ff. Hormonstreit 170 HVPI siehe Harmonisierter Verbraucherpreisindex Importquote 166ff. indirekte Steuer 231 Inflation
-differenzen 128 -differenziale 128 -divergenzen 126,128, 217 -erwartungen 119,183, 200 -gemeinschaft 115,118 -kriterium 118 -neigung 115 Inflationsziel, direktes 132,134 Informationsasymmetrien 41 f. Initiativrecht 87, 96,107 Instrumente der GAP aufienwirtschaftliche 170,178 binnenwirtschaftliche 164,171f., 178 Integration 2, 5f., 11,13, 37, 39, 41-45,57, 59ff., 70,115,128, 225,229,254,278 Integrationsgrad 12,110,117,128 Interbankensektor 125 Interdependenzen 63,181,208 Interinstitutionelle Vereinbarung 101,103f.,147 Internalisierung 156,184 Interreg III 144,149 Interventionismus 107,154 Interventionspflicht 119,131,169, 171 Interventionspreis 91,163,165, 167ff., 171-174 IS- und LM-Kurven 223 IS-LM-Modell 127,223 ISPA 145 Jahrlichkeitsprinzip
104
Koln-Prozess 203 Kapital -besteuerung 5, 230, 236-240 -deckungsverfahren 269 -ertragsteuer 242 -verkehr, freier 16, 28, 212, 243 Kapitalmobilitat 224,226 eingeschrankte 225 unvollkommene 224 vollkommene 223ff.
Index Kapitalsteuer 236,239 Knappheitsrente 58,64 Kofinanzierimg 90,143ff., 157 Kohasion 148* -berichte 153 -fonds 144f., 147,149,151,157, 229 -politik 3, 7,15, 87,142*, 152*, 141-158,163,236,240,249 Kolonialstaaten 14,171 Kommissar 86, lOOf. Kompensation 39,41,173 Konjunkturverbund 126 Konsolidierungsbemtihungen 193 Konsumentenrente 30, 33, 35, 46 Kontingentierung 164,166 Kontrollmitteilung 244f. Konvergenz 124*, 147,149,151, 153,182, 207, 218, 262f., 277 -bericht 123 -kriterien 3,109,116-123,126, 198 -programm 185 Koordination -problem 115,181, 211f., 249f. der Fiskalpolitik 4, 221-227 der Sozialpolitik 257-276 der Steuerpolitik 4, 229-255 horizontale 4,181f., 221, 229f. vertikale 4,181f.,229f. Koordinierte Beschaftigungsstrategie 197 Kosten-Nutzen-Bewertung 42 Kostenerstattung 272f. Kostenvorteile absolute 2 If. komparative 19, 2If., 47 Kronungstheorie 115,182,185 Krankenversicherung 5,191, 253, 272f. -karte 272 Kreditvergabe 90,126 Laissez-faire 107 Leader 144
293
Lebensverhaltnisse, gleichwertige 154,264 Legitimist 14f.,209 Leistung ambulant e 273 autonome 270 stationare 273 Leitlinien beschaftigungspolitische 86,202, 204,207 der GAP 175f. fur Wachstum und Beschaftigung 147, 204, 205* produktivitatsorientierte 217 Leitzinssatz 136,138 Liquiditatsbereitstellung 136 Lissabon Gipfel von 17, 202f. Strategie 203f.,209 Lobbyarbeit 31 Lohn-Preis-Spirale 114 Lohnbildungsprozess 129 Lohnpolitik 4,129, 203, 211-219 beschaftigungskonforme 212 moderate 216 produktivitatsorientierte 129, 216ff. Zentralisierung der 214 Lohnquote 216 Lohnzuruckhaltung 111,217 Lokomotivtheorie 182 Luxemburg-Prozess 202 Miinzgewinn siehe Seigniorageeffekt Maastricht Kriterium 116f., 117*, 119,121, 123,125,125*,144 Meldung 187 Vertrag 5,16, 83, 88f., 97,109, 117,120ff., 122*, 125f., 161,198, 206, 215, 259f., 262, 265 MacSharry-Reform 174 Marktintegration 39, 41f., 44,46f., 50ff., 59,161,280
294
Index
Marktmacht 27, 44,129 Marktversagen 39,154f., 161, 246 Mehrheit, qualifizierte 15, 75, 84f., 88,96f.,100f.,104f.,185,187, 190,202,261 Mehrwertsteuer 4, 230f., 232*, 233-236,243 -karussell 235 -richtlinie 230 Meistbegiinstigtenregel 171 Meistbegiinstigtigungsprinzip 171 Mengenzoll 29,164ff. Migration 69*, 53-71,280 Mindestbietungssatz 136,138 Mindesteinfuhr 167,167* Mindestpreis 163f. Mindestreserve 126,136 Mindeststandard 4,170, 264, 281 Ministerr at 75,84f. ,202,242,281 Misstrauensantrag 86,101 Mitentscheidungsverfahren 96f., 98f.*, 100, 259 Mittelfristige Finanzplanung 16 Mobilitat 5, 52f., 72, 75,198, 219, 240, 245-254,259, 271, 274f. Modulation 176 Monopol 44f.,125,261 natiirliches 247 Multinationales Unternehmen 27, 44, 242 Mundell-Fleming-Modell 223 Nachfrageeffekt 30,217,221f. Nachfragekurve, aggregierte 112, 114 Nachfragesteuerung 221 NAIRU 113,199 NAP siehe Nationale Aktionsplane Nationale Aktionsplane 202, 206, 209 Nationale Zentralbanken 125, 130ff., 136 Nettokreditaufnahme 120,123,186, 191 Kriterium 120
Nettoprinzip 104 Nettozahler 93f., 95*, 146,157 Netz, transeuropaisches 90,103, 155 Neue Aufienhandelstheorie 2, 43-52 Neue Politische Okonomie 39f.,43 Niederlassungsfreiheit 2,16, 72 No-bail-out-Klausel 184f. Nominallohn 234 Nonaffektionsprinzip 104 Nullsatzbesteuerung 231 NZB siehe Nationale Zentralbanken Offene Methode der Koordinierung 4,204*,197-210 Offenmarktgeschafte 136,138 OMK siehe Offene Methode der Koordinierung OP siehe Operationelle Programme Operationelle Programme 142 Ordnungsprinzip 106 Parallelpolitik 193,225 Phare 145 Phasing-in 151 Phasing-out 149 Phillipskurve 199,199*, 200 Politik potenzialorientierte 134 regelgebundene 134,186,195 Politikversagen 39, 41, 60, 281 Portability 269 Praferenzabkommen 171,178 Pramien Flachen- 174 Flachenstilllegungs- 174 Tier- 174,176 Preventive Saule 193,195 Preisausgleichszahlungen 174 Preisstiitzung 164,169,172f.*, 178 Produktionsiiberschuss 167 effekt 30
Index faktoren 20,31, 37,155, 219, 229, 236, 240, 245 struktur 26,112,117,126 Produzentenrente 30,33ff.,46 Protektionismus 2, 30*, 26-43,166, 166*, 177f. Protokoll liber die Sozialpolitik 260 Qualifizierte [AN] 55, 61-65,65*, 66,78 Quantitatsgleichung 133 Quellenlandprinzip 244 Quellensteuer 236, 238*, 240*, 244f. Quoten, handelbare 174 Quotierung 172f. Romische Vertrage 13,15,159 Race to the bottom 5, 215, 237, 239, 242-245,247, 249f., 252f., 264, 278-282 Race to the top 157, 281 Rat der Europaischen Union 16,18, 84-88, 91ff., 96ff., 100-108,121, 123,130,147,169,174f., 185ff., 190, 202f., 215, 230, 259, 261 Rat fur gegenseitige Wirtschaftshilfe 23 Referenzwert 121,122*, 123,132f., 187,190f.,193,195 Region, periphere 39 Regionale Wettbewerbsfahigkeit und Beschaftigung 147,149,151 Renationalisierung 156ff., 163 Renditeausgleichstheorem 242 Rentenversicherung 5,121,191, 269ff. Reputation 41,116 Reserve, leistungsgebundene 143, 151,206 Reziprozitat 22,75 Reziprozitatsprinzip 75 Ricardo-Modell 2, 26*, 19-27,47 Richtlinie 13, 86f., 96,132, 207, 243, 245, 265, 267 Richtpreis 169
295
Suderweiterung 141 Sachleistung 272 Saisonarbeitnehmer 76f. Sanierung, passive 39 Sanktionspotenzial 182f., 187,192, 202, 206 SAPARD 145 Schattenwirtschaft 77 Schocks, asymmetrische 112,113*, 114,117,226 Schuld explizite 120f.,191 implizite 121 Schuldenkriterium 120f. Schuldenstand, offentlieher 120 Schuldenstandskriterium 121,123 Schwankungsreserve 191 Schwellenpreis 169 Seigniorageeffekt 111 Selbstbeschrankungsabkommen, freiwillige 29 Sicherung, soziale 3, 5, 66, 75, 253, 257,259,264,266,269-282 Sieherungssystem, soziales 5, 66, 207,254,261,277 Soft law 206 Solidaritatsfonds 145 Sozialabgaben 77f.,265 Sozialabkommen 260 Sozialdumping 198 Sozialhilfe 253f., 257, 266 Sozialisierung von Kosten 184 Sozialmodell 5, 9, 250, 277-282 Sozialpolitik, zentralistische 262 Sozialquote 257,279 Sozialraum 9,13, 278 Sozialtransfer 68f. Spannungen, soziale 15, 68, 71, 264 Spezialisierung 21,23,25,50 Spill-over-Effekt 62f., 65,165,221f. Spitzenrefinanzierungsfazilitat 138 Staat Umverteilungs- 250 Versicherungs- 250 Staatsausgabenmultiplikator 222
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Index
Stabilisator, aromatischer 113f. Stabilitats- und Wachstumspakt 4, 87,107,120,144,194*, 181-196, 198,221 Stabilitatspakt, nationaler 190-193 Stabilitatsprogramm 185,187 Steuer -hinterziehung 244 -hoheit 229,231 -politik 4,229-255 -praktiken, schadliche 242 -satz 231,233,238f., 241ff., 245 -schuld 242 -wettbewerb 229, 238, 238*, 241ff.,247 Stillhalteklausel 74 Stockholm, Gipfel von 203 Stresa, Konferenz in 159 Strukturelle Operationen 136 Strukturfonds 3, 90, 97,141-144, 146f.,206 Strukturfondsmittel 34,142f., 147, 157,198,206 Strukturwandel 37,147,174, 219 Subsidiarity 143,206 -prinzip 5,16,155, 207, 215, 260, 262, 277, 281 Subventionen 92,157,174 pro duktionsneut rale 174 Subventionierung 164,168 Subventionspolitik 174 SWP siehe Stabilitats- und Wachstumspakt Tabakanbau 159 Tagesgeldsatz 136,139* target price siehe Richtpreis Tarifpolitik 111,213,215 Terms-of-Trade-Effekt 166 Territorialprinzip 261f., 266, 268, 273 Teuro 116 Time lag 93,127f. Top-down-Ansatz 156 Trade Creation 35*, 36
Trade Diversion 33f., 35* Transfer gebundene 157,176 personengebundener 174 ungebundener 157f. Tr ansformat ionskosten 116 Transmissionsmechanismus 127 Trennsystem 127 Umlageverfahren 121,191, 269 Umstellungskosten 116 Umverteilungseffekt 30,40, 40* Unabhangigkeit finanzielle 131 funktionelle 131 institutionelle 131 personelle 131 Ungleichheit der Wahler 43 Universalbankensystem 127 Unternehmensbesteuerung 245 Urban II 144 Ursprungslandprinzip 231, 233ff. Uruguay- Runde 164,168 Urzustand 250ff. variabler Zoll 164 Verbindliches Gemeinschaftsrecht siehe Acquis communautaire Verbrauchsteuer 235 Vereinigte Konigreich Rabatt 94 Verfassung 17f., 81f., 101,106, 279 Vergemeinschaftung 3, 6, 85,115, 156,159,163,182, 214f., 229 Verhaltenskodex 242f. Vermittlungsverfahren 76, 96,100, 108 Verpflichtungsermachtigung 90f., 102 Verschuldungskriterium 120f. Verschuldungspolitik 182ff. Verschworungstheorie 208 Versicherungsland 272f. Versorgungs vert rage 274 Vertrag von Amsterdam 16, 83, 182,197, 202, 260
Index Vert rag von Maastricht 5,16, 83, 88f.,97,109,117,120ff.,125f., 161,198, 206, 215, 259f., 262, 265 Vertrag von Nizza 17, 82, 88 Volkswirtschaft geschlossene 222 grofie 166,166*,226 kleine 32,164,222,226 offene 222 Vollbeschaftigung 63, 69,113, 197ff., 204,207, 211, 234, 238, 246 Vorsteuerabzug 230,235 Vorsteuererstattung 233,235 Wahrungsraum, optimaler 3,109, 112,117,217 Wahrungsunion 3,15,109-123, 125f.,144,182f.,198,213,221, 225 Zinseffekt, positiver 111 Wanderarbeitnehmer 100, 244, 259, 275 Wanderung ineffiziente 2, 53, 68, 253, 264 wohlfahrtsbedingte 67ff., 250, 264 Wechselkurs -anpassung lllf., 114,119, 213 -korrektur 114,224 -kriterium 119,122 -risiko 11 Of. -schwankungen 111,122,225 -stabilitat 119 -ziel 135 fester 119,131,225 flexibler 113f., 118f., 223, 225 Wechselkursmechanismus II 122f. Welteinkommensprinzip 243 Weltmarktzins 225,238 Werkvertragsabkommen 76 Werkvertragsarbeitnehmer 76f. Wert auBerer 132,135 inner er 132
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Wertzoll 29f.,164ff. Wettbewerb, ruinoser 66, 247, 264, 266 Wettbewerbsvorteil 78, 217, 233, 265 WKM II siehe Wechselkursmechanismus II Wohlfahrts -effekt 2, 6, 25f., 31, 34, 36f., 39, 41, 44,48, 59f., 164,170, 250 -gefalle 264 -gewinn 2,5,23,47,60,115 -verlust 31, 36, 59,115,173, 239 Wohnsitzlandprinzip 243ff. World Trade Organization 27, 29, 88,165,167,170,173-176,179 WTO siehe World Trade Organization Zahlungsbilanzeffekt 30 Zahlungsbilanzgleichgewicht 223 Zahlungsermachtigung 90, 93f., 102, 104 Zahlungsmittel, gesetzliches 125 Zeit-Inkonsistenz 241, 252f. Zentralisierung 5f., 156, 214 Zentralisierungsargumente 198 Ziel Geldmengen- 125,132-135 Preis- 135 Wechselkurs- 135 Ziel 1 142,147 Ziel 2 142,147 Ziel 3 142,147 Ziel-1-Gebiet 142ff., 146,149,151 Ziel-2-Gebiet 142ff. Zinseffekt 184 Zinsmechanismus 127 Zinsniveau-Kriterium 119,123 Zinstender 136,138 Zoll Mengen- 29,164ff. variabler 164 Wert- 29f.,164ff. Zolleinnahmeeffekt 30
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Index
Zolleinnahmen 30, 33-36,91,167f. Zollunion 14, 32fL, 36, 86 Zuckerabgabe 91 Zusammenarbeit, intergouvernementale 15
Zusammenarbeit, intergovernment a l 207 Zustimmungsverfahren 96f. Zuteilungssatz, marginaler 138 Zwei-Saulen-Strategie 132